Kritische Gesamtausgabe: Band 13 Predigten 1832 9783110364293, 9783110364095

The third section of the Critical Complete Edition includes all existing sermons preached by Friedrich Schleiermacher (1

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Kritische Gesamtausgabe: Band 13 Predigten 1832
 9783110364293, 9783110364095

Table of contents :
Inhaltsverzeichni
Einleitung des Bandherausgebers
I. Historische Einführung
1. Schleiermachers Predigttätigkeit im Jahr 1832
2. Die Auswahl der Predigttexte
3. Liturgie und Lieder
4. Das Dankfest für die Befreiung von der Cholera
5. Begräbnisreden
a) Die Trauerfeier für Karl Friedrich Zelter
b) Tod und Begräbnis von Karl Christian Wolfart
c) Werdegang, Tod und Bestattung von Ludwig August Heegewaldt
6. Schleiermachers Predigtdrucke und ihre literarische Rezeption
II. Editorischer Bericht
1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen
A. Allgemeine Regeln
B. Manuskripte Schleiermachers
C. Predigtnachschriften
D. Sachapparat
E. Editorischer Kopftext
2. Druckgestaltung
A. Seitenaufbau
B. Gestaltungsregeln
3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen
A. Schleiermacher-Texte
B. v. Oppen-Nachschriften
C. Woltersdorff-Nachschriften
D. Zabel-Nachschriften
E. Nachschriften der Begräbnisrede für Karl Friedrich Zelter
Predigten 1832
Am 01.01. vorm. (Neujahrstag) Röm 14,7–8
Am 08.01. früh (1. SnE) Mk 2,23–3,5
Am 15.01. vorm. (2. SnE) Joh 1,47–51
Am 22.01. früh (3. SnE) Mk 3,6–12
Am 29.01. vorm. (4. SnE) Joh 4,25–26
Am 05.02. früh (5. SnE) Mk 3,13–21
Am 12.02. vorm. (6. SnE) Joh 9,35–38
Am 19.02. früh (Septuagesimae; Dankfest Cholerabefreiung)Hebr 12,11–12
Am 26.02. vorm. (Sexagesimae) Lk 19,5–10
Am 04.03. früh (Estomihi) Mk 3,22–30
Am 11.03. vorm. (Invocavit) Lk 24,25–26
Am 18.03. früh (Reminiscere) Mk 3,31–35
Am 25.03. vorm.(Oculi) Joh 14,30–31
Am 01.04. vorm. (Laetare; Vakanzpredigt) Joh 16,32
Am 08.04. vorm. (Judica) Joh 16,33
Am 15.04. früh (Palmarum) Mk 4,1–9
Am 19.04. mitt. (Gründonnerstag; Konfirmation) Phil 4,4
Am 20.04. vorm. (Karfreitag) Röm 5,7–8
Am 23.04. vorm. (Ostermontag) Lk 24,1–3
Am 13.05. früh (Jubilate) Mk 4,10–25
Am 16.05. vorm. (Bußtag) Spr 14,34
Am 18.05. früh (Begräbnis Zelter)
Am 20.05. früh (Cantate) Mk 4,26–34
Am 21.05. nachm. (Begräbnis Wolfart)
Am 27.05. vorm. (Rogate) Joh 14,9
Am 28.05. nachm. (Begräbnis Heegewaldt)
Am 03.06. vorm. (Exaudi) Apg 1,21–22
Am 10.06. früh (Pfingstsonntag) Joh 16,7
Am 11.06. vorm. (Pfingstmontag) Joh 16,13–14
Am 17.06. früh (Trinitatis) Mk 4,35–41
Am 24.06. vorm. (1. SnT) Apg 5,38–39
Am 01.07. früh (2. SnT) Mk 5,1–20
Am 08.07. vorm. (3. SnT) Apg 6,1–5
Am 22.07. vorm. (5. SnT) Apg 7,59
Am 29.07. früh (6. SnT) Mk 5,21–34
Am 05.08. vorm. (7. SnT) Apg 8,36.38
Am 12.08. früh (8. SnT) Mk 5,35–43
Am 19.08. vorm. (9. SnT) Apg 9,5
Am 26.08. früh (10. SnT) Mk 6,1–6
Am 02.09. vorm. (11. SnT) Apg 10,31
Am 09.09. früh (12. SnT) Mk 6,7–11
Am 16.09. vorm. (13. SnT) Apg 11,17
Am 23.09. früh (14. SnT) Mk 6,12–29
Am 30.09. vorm. (15. SnT; Erntedank) Mt 6,31
Am 07.10. früh (16. SnT) Mk 6,30–34
Am 14.10. vorm. (17. SnT) Apg 11,27–30
Am 21.10. früh (18. SnT) Mk 6,35–44
Am 28.10. vorm. (19. SnT) Apg 12,19–23
Am 04.11. früh (20. SnT) Mk 6,45–56
Am 11.11. vorm. (21. SnT) Apg 16,16–18
Am 18.11. früh (22. SnT) Mk 7,1–5
Am 25.11. vorm. (23. SnT; Totensonntag) Joh 11,16
Am 02.12. früh (1. SiA) Mk 7,6–13
Am 09.12. vorm. (2. SiA) Hebr 4,15
Am 16.12. früh (3. SiA) Mk 7,14–23
Am 23.12. vorm. (4. SiA) Hebr 3,5–6
Am 25.12. früh (1. Weihnachtstag) Gal 4,4
Am 26.12. vorm. (2. Weihnachtstag) Gal 3,27–28
Am 30.12. früh (SnW) Mk 7,24–30
Verzeichnisse
Editionszeichen und Abkürzungen
Literatur
Namen
Bibelstellen

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe III. Abt. Band 13

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenczka

Dritte Abteilung Predigten Band 13

De Gruyter

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Predigten 1832

Herausgegeben von Dirk Schmid

De Gruyter

ISBN 978-3-11-036409-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036429-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038577-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach 앝 Printed on acid-free paper 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung des Bandherausgebers . . . . . . . . . . . . . . .

IX

I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X 1. Schleiermachers Predigttätigkeit im Jahr 1832 . . . X 2. Die Auswahl der Predigttexte . . . . . . . . . . . . . XIV 3. Liturgie und Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX 4. Das Dankfest für die Befreiung von der Cholera . . XX 5. Begräbnisreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXV a) Die Trauerfeier für Karl Friedrich Zelter . . . . XXVIII b) Tod und Begräbnis von Karl Christian Wolfart XXXII c) Werdegang, Tod und Bestattung von Ludwig August Heegewaldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIII 6. Schleiermachers Predigtdrucke und ihre literarische Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVIII II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . . C. Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Sachapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Editorischer Kopftext . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Druckgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Seitenaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gestaltungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen . . . . . . . . . . . A. Schleiermacher-Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . B. v. Oppen-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . C. Woltersdorff-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . D. Zabel-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Nachschriften der Begräbnisrede für Karl Friedrich Zelter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XLII XLII XLII XLIII XLVI XLVII XLVII XLVIII XLVIII XLIX L LI LII LII LIII LVI

VI

Inhaltsverzeichnis

Predigten 1832 Am 01.01. vorm. (Neujahrstag) Röm 14,7–8 . . . . . . . . Am 08.01. früh (1. SnE) Mk 2,23–3,5 . . . . . . . . . . . . Am 15.01. vorm. (2. SnE) Joh 1,47–51 . . . . . . . . . . . Am 22.01. früh (3. SnE) Mk 3,6–12 . . . . . . . . . . . . . Am 29.01. vorm. (4. SnE) Joh 4,25–26 . . . . . . . . . . . Am 05.02. früh (5. SnE) Mk 3,13–21 . . . . . . . . . . . . Am 12.02. vorm. (6. SnE) Joh 9,35–38 . . . . . . . . . . . Am 19.02. früh (Septuagesimae; Dankfest Cholerabefreiung) Hebr 12,11–12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 26.02. vorm. (Sexagesimae) Lk 19,5–10 . . . . . . . . Am 04.03. früh (Estomihi) Mk 3,22–30 . . . . . . . . . . . Am 11.03. vorm. (Invocavit) Lk 24,25–26 . . . . . . . . . Am 18.03. früh (Reminiscere) Mk 3,31–35 . . . . . . . . . Am 25.03. vorm.(Oculi) Joh 14,30–31 . . . . . . . . . . . . Am 01.04. vorm. (Laetare; Vakanzpredigt) Joh 16,32 . . Am 08.04. vorm. (Judica) Joh 16,33 . . . . . . . . . . . . . Am 15.04. früh (Palmarum) Mk 4,1–9 . . . . . . . . . . . . Am 19.04. mitt. (Gründonnerstag; Konfirmation) Phil 4,4 Am 20.04. vorm. (Karfreitag) Röm 5,7–8 . . . . . . . . . . Am 23.04. vorm. (Ostermontag) Lk 24,1–3 . . . . . . . . Am 13.05. früh (Jubilate) Mk 4,10–25 . . . . . . . . . . . . Am 16.05. vorm. (Bußtag) Spr 14,34 . . . . . . . . . . . . . Am 18.05. früh (Begräbnis Zelter) . . . . . . . . . . . . . . Am 20.05. früh (Cantate) Mk 4,26–34 . . . . . . . . . . . . Am 21.05. nachm. (Begräbnis Wolfart) . . . . . . . . . . . Am 27.05. vorm. (Rogate) Joh 14,9 . . . . . . . . . . . . . Am 28.05. nachm. (Begräbnis Heegewaldt) . . . . . . . . . Am 03.06. vorm. (Exaudi) Apg 1,21–22 . . . . . . . . . . . Am 10.06. früh (Pfingstsonntag) Joh 16,7 . . . . . . . . . . Am 11.06. vorm. (Pfingstmontag) Joh 16,13–14 . . . . . . Am 17.06. früh (Trinitatis) Mk 4,35–41 . . . . . . . . . . . Am 24.06. vorm. (1. SnT) Apg 5,38–39 . . . . . . . . . . . Am 01.07. früh (2. SnT) Mk 5,1–20 . . . . . . . . . . . . . Am 08.07. vorm. (3. SnT) Apg 6,1–5 . . . . . . . . . . . . . Am 22.07. vorm. (5. SnT) Apg 7,59 . . . . . . . . . . . . . Am 29.07. früh (6. SnT) Mk 5,21–34 . . . . . . . . . . . . Am 05.08. vorm. (7. SnT) Apg 8,36.38 . . . . . . . . . . . Am 12.08. früh (8. SnT) Mk 5,35–43 . . . . . . . . . . . . Am 19.08. vorm. (9. SnT) Apg 9,5 . . . . . . . . . . . . . . Am 26.08. früh (10. SnT) Mk 6,1–6 . . . . . . . . . . . . . Am 02.09. vorm. (11. SnT) Apg 10,31 . . . . . . . . . . . .

3 16 25 39 49 62 70 85 99 112 121 134 142 154 164 178 187 192 204 216 224 237 242 250 255 266 269 283 291 303 311 325 334 346 357 367 379 389 402 411

Inhaltsverzeichnis

Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

09.09. 16.09. 23.09. 30.09. 07.10. 14.10. 21.10. 28.10. 04.11. 11.11. 18.11. 25.11. 02.12. 09.12. 16.12. 23.12. 25.12. 26.12. 30.12.

VII

früh (12. SnT) Mk 6,7–11 . . . . . . . . . vorm. (13. SnT) Apg 11,17 . . . . . . . . . früh (14. SnT) Mk 6,12–29 . . . . . . . . . vorm. (15. SnT; Erntedank) Mt 6,31 . . . früh (16. SnT) Mk 6,30–34 . . . . . . . . . vorm. (17. SnT) Apg 11,27–30 . . . . . . früh (18. SnT) Mk 6,35–44 . . . . . . . . . vorm. (19. SnT) Apg 12,19–23 . . . . . . früh (20. SnT) Mk 6,45–56 . . . . . . . . . vorm. (21. SnT) Apg 16,16–18 . . . . . . früh (22. SnT) Mk 7,1–5 . . . . . . . . . . vorm. (23. SnT; Totensonntag) Joh 11,16 früh (1. SiA) Mk 7,6–13 . . . . . . . . . . . vorm. (2. SiA) Hebr 4,15 . . . . . . . . . . früh (3. SiA) Mk 7,14–23 . . . . . . . . . . vorm. (4. SiA) Hebr 3,5–6 . . . . . . . . . früh (1. Weihnachtstag) Gal 4,4 . . . . . . vorm. (2. Weihnachtstag) Gal 3,27–28 . früh (SnW) Mk 7,24–30 . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

424 432 444 453 466 475 486 495 509 517 530 537 549 557 566 573 587 596 609

. . . .

. . . .

. . . .

619 623 631 634

Verzeichnisse Editionszeichen Literatur . . . . Namen . . . . . Bibelstellen . .

und ... ... ...

Abkürzungen .. ............. ............. .............

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Einleitung des Bandherausgebers Die Kritische Gesamtausgabe der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Friedrich Schleiermachers1, die seit 1980 erscheint, ist gemäß den Allgemeinen Editionsgrundsätzen in die folgenden Abteilungen gegliedert: I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente. Die III. Abteilung dokumentiert Schleiermachers gesamte Predigttätigkeit von seinem Ersten Examen 1790 an bis zu seinem Tod 1834. Die Predigten werden chronologisch nach ihrem Vortragstermin angeordnet. Nur die von Schleiermacher absichtsvoll geordneten sieben „Sammlungen“, alle im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung bzw. im Verlag von G. Reimer erschienen (Berlin 1801–1833), bleiben in dieser Anordnung erhalten und stehen am Anfang der Abteilung. Demnach ergibt sich für die Abteilung „Predigten“ folgende Gliederung: 1. Predigten. Erste bis Vierte Sammlung (1801–1820) 2. Predigten. Fünfte bis Siebente Sammlung (1826–1833) 3. Predigten 1790–1808 4. Predigten 1809–1815 5. Predigten 1816–1819 6. Predigten 1820–1821 7. Predigten 1822–1823 8. Predigten 1824 9. Predigten 1825 10. Predigten 1826–1827 11. Predigten 1828–1829 12. Predigten 1830–1831 13. Predigten 1832 14. Predigten 1833–1834 sowie Gesamtregister Der vorliegende Band 13 enthält 59 Predigten, die Schleiermacher 1832 gehalten hat. Grundlage der Edition sind ein Autograph und Drucktexte Schleiermachers sowie gedruckte bzw. ungedruckte Nachschriften. Zwei der hier gebotenen Predigten werden zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht.2 1

2

Sofern sich aus dem Zusammenhang nicht etwas anderes ergibt, beziehen sich im Folgenden Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Es handelt sich um die Predigten am 10. Juni (Pfingstsonntag) und am 25. Dezember (1. Weihnachtstag).

X

Einleitung des Bandherausgebers

Der Band dokumentiert die gesamte Predigttätigkeit Schleiermachers im Jahr 1832, sofern sie sich derzeit mit überlieferten Texten belegen lässt.3 Keinerlei Textzeugen existieren nach gegenwärtigem Kenntnisstand für die Predigten im Frühgottesdienst am Ostersonntag, dem 22. April, im Frühgottesdienst am Himmelfahrtstag, dem 31. Mai, und im Gottesdienst zur Stadtverordnetenwahl am Dienstag, dem 26. Juni, ferner für Ansprachen sämtlicher Gottesdienste zur Vorbereitung auf das Abendmahl sowie der zahlreichen Trauungen und Taufen und der meisten Begräbnisse4.

I. Historische Einführung 1. Schleiermachers Predigttätigkeit im Jahr 1832 Seit Juni 1809 hatte Schleiermacher das Amt eines Predigers an der von reformierter und lutherischer Gemeinde simultan genutzten Berliner Dreifaltigkeitskirche inne,5 zunächst für die dortige reformierte Gemeinde, seit der Union der beiden Gemeinden im Frühjahr 1822 – die feierliche Begehung der Vereinigung fand am 31. März 1822 statt6 – als Prediger der vereinigten evangelischen Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche.7 Für gewöhnlich fanden in der Dreifaltigkeitskirche an Sonn- und Feiertagen drei Gottesdienste statt, der Hauptgottesdienst um 9 Uhr sowie ein Frühgottesdienst um 7 Uhr und ein Nachmittagsgottesdienst um 14 Uhr. Neben den zahlreichen anderen pfarramtlichen Tätigkeiten8 gehörte es zu Schleiermachers mit seinem Predigtamt verbundenen Pflichten, jeweils einen dieser Gottesdienste zu halten und darin zu predigen. Schleiermacher teilte sich im Jahr 1832 die Predigtverpflichtungen mit Philipp Konrad Marheineke (1780–1846), der seit 1811 sein 3

4 5 6 7 8

Sofern nicht ausdrücklich etwas anderes genannt ist, beruhen hier und im Folgenden sämtliche Angaben zu Predigten und Predigtterminen Schleiermachers auf dem von Günter Meckenstock erarbeiteten „Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers“ (KGA III/1, S. 769–1033, hier bes. 1008–1021). Zu den Begräbnisreden vgl. unten Einleitung I. 5. Vgl. KGA III/1, S. XLIf Vgl. KGA III/1, S. XLVII; KGA III/7, S. 87–104 Vgl. zur Gemeindeunion KGA III/7, S. X–XVI (dort weitere Hinweise) Vgl. vor allem Andreas Reich: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, SchlA 12, Berlin/New York 1992; auch Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, S. 212–215

I. Historische Einführung

XI

Kollege als Professor an der Theologischen Fakultät der Berliner Universität war und ab Oktober 1820 auch die erste lutherische Pfarrstelle an der Dreifaltigkeitskirche inne hatte. Beiden stand seit Januar 1824 auf der dritten, durch die Gemeindeunion von 1822 nunmehr weder lutherischen noch reformierten, sondern evangelischen Hilfspredigerstelle Adolf August Kober (1798–1877) zur Seite. Schleiermacher und Marheineke hielten jeweils abwechselnd den Hauptgottesdienst am Vormittag; an den jeweils anderen Sonntagen übernahm Schleiermacher den Frühgottesdienst. Diesen regelmäßigen Rhythmus von Haupt- und Frühgottesdiensten pflegte Schleiermacher bereits seit Jahresbeginn 1821, während er davor in der Regel neben den Hauptgottesdiensten die Nachmittagsgottesdienste versehen hatte. Berücksichtigt man, dass neben den Sonntagen auch Karfreitag, Ostermontag, Bußtag, Himmelfahrt und Pfingstmontag in den Wechsel von Haupt- und Frühgottesdiensten einbezogen waren, dann wurde dieser Rhythmus im Jahr 1832 nur an einer einzigen Stelle gestört: Zwischen den Hauptgottesdiensten an den Sonntagen Oculi (25. März) und Judica (8. April) hielt Schleiermacher am Sonntag Laetare (1. April) keinen Frühgottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche, sondern einen Hauptgottesdienst in der Parochialkirche. Das war der Tatsache geschuldet, dass auch Schleiermacher dazu verpflichtet war, sich an der Vakanzvertretung zu beteiligen, die durch das Gnadenjahr für den verstorbenen Prediger an der Parochialkirche Friedrich Philipp Wilmsen (1770–1831) nötig geworden war. Den Frühgottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche an diesem Tag übernahm für Schleiermacher der Kandidat der Theologie Heinrich Adolf Geißler (1807–1877). Schleiermacher kam seiner Predigtverpflichtung im Jahr 1832 in einem ganz erstaunlichen und beeindruckenden Ausmaß nach. Abgesehen von diesem einen besonderen Fall, dass er sich vertreten ließ, um woanders eine Vakanzpredigt zu halten, gab es nur drei Sonntage, an denen er überhaupt nicht predigte: Am 29. April, dem Sonntag Quasimodogeniti, ließ er sich im Frühgottesdienst durch den Kandidaten der Theologie Ludwig Otto Heinrich Oberheim (1808–1863), eine Woche später, am 6. Mai, dem Sonntag Misericordias Domini, im Hauptgottesdienst durch den Berliner Militärgeistlichen Adolf Sydow (1800–1882) vertreten. Zu diesem Zeitpunkt waren auch Schleiermachers Vorlesungen an der Universität aus dem Wintersemester 1831/ 32 bereits beendet; er hatte bis zum 29. März fünfstündig Einleitung in das Neue Testament und bis zum 31. März ebenfalls fünfstündig über Theologische Enzyklopädie gelesen.9 Den Urlaub nutzte Schlei9

Vgl. Andreas Arndt/Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, SchlA 11, Berlin/New York, 1992, S. 328

XII

Einleitung des Bandherausgebers

ermacher zu einer Reise nach Dresden und in die Lausitz: Nachdem er am Ostermontag, den 23. April, noch im Hauptgottesdienst gepredigt hatte, brach er am Nachmittag gemeinsam mit seinem Freund und Verleger Georg Reimer (1776–1842) und dem Kandidaten der Theologie Friedrich August Eyssenhardt (1798–1879) auf; am 10. Mai kehrte er von Lübben kommend nach Berlin zurück.10 Am 13. Mai stand er im Frühgottesdienst wieder auf der Kanzel; einen Tag später nahm er seine drei fünfstündigen Kollegs im Sommersemester über den Kolosser-, Epheser- und Philipperbrief, über das Leben Jesu und zur Philosophischen Sittenlehre auf.11 Schließlich übernahm am 15. Juli, dem 4. Sonntag nach Trinitatis, abermals Sydow einen Frühgottesdienst für Schleiermacher, der bereits einen Tag zuvor, nachdem er um neun Uhr noch eine Beerdigung gehalten hatte, um elf Uhr zu einer „kleine[n] Landparthie nach der sogenannten märkischen Schweiz“ aufgebrochen war,12 von der er noch am Sonntag von Müncheberg kommend heimkehrte.13 Das war Schleiermachers letzter predigtfreier Sonn- oder Feiertag im Jahr 1832. Das ist insofern auffällig, als Schleiermacher für gewöhnlich in Spätsommer und Herbst, zwischen dem Ende seiner Vorlesungstätigkeit im Sommersemester und dem Beginn der neuen Lehrveranstaltungen im Wintersemester, einen meist längeren Urlaub nahm und auf Reisen ging. Eine solche Unterbrechung fehlt im Jahr 1832. Seine beiden exegetischen Kollegs zum Leben Jesu und zum Kolosser-, Epheser- und Philipperbrief beendete er am 24. August, die Philosophische Ethik am 8. September; die drei fünfstündigen Vorlesungen des Wintersemesters 1832/33 über Hermeneutik und Kritik, über das Matthäusevangelium und zur Ästhetik begannen am 23. Oktober.14 Aber während seine Ehefrau Henriette (1788–1840), geborene von Mühlenfels, verwitwete von Willich, mit der Tochter Elisabeth (1810– 1881) und der Pflegetochter Luise Fischer bereits seit Mitte Juli15 in 10 11 12

13 14 15

Vgl. die Eintragungen im Tageskalender (SN 452) Vgl. Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 328f Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd.1–4, Berlin 1863, Bd. 2, S. 462; das Schreiben Schleiermachers an seinen Stiefsohn Ehrenfried von Willich (1807–1880), dem das Zitat entnommen und das dort nur unbestimmt dem Juli 1832 zugeordnet ist, kann präzise auf den 14. Juli datiert werden. Vgl. die Eintragungen im Tageskalender (SN 452) Vgl. Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 328f; KGA II/4, S. XXIX Am 14. Juli schrieb Schleiermacher an Ehrenfried von Willich: „Ich habe nemlich um neun ein Begräbniß und um elf mache ich für heute und morgen eine kleine Landparthie nach der sogenannten märkischen Schweiz. Unterdessen aber reist Mutter mit Luise und Elsbeth nach Salzbrunn. Du kannst Dir also den Zustand im Hause denken!“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 462) Im Tageskalender (SN 452) ist unter dem 18. Juli der erste Brief an seine Frau verzeichnet: „An Jette in Salzbrunn“.

I. Historische Einführung

XIII

die schlesischen Bäder Salzbrunn und Warmbrunn verreist war, verweigerte sich Schleiermacher allen Versuchen seiner Frau, ihn dazu zu bewegen, nachzukommen. „Mit Deinem Wunsch“, schrieb er ihr am 11. August, „daß ich Euch abholen möchte, weiß ich noch nicht zusammenzustimmen, mein liebstes Herz. Eher als heute über 4 Wochen kann ich gewiß nicht schließen und glaube kaum, daß ich dann werde fertig sein. Demnächst brauche ich die Ferien ganz nothwendig, um meine Bücher in Ordnung zu bringen, die in einer schrecklichen Verwirrung sind, und um meine Winterarbeiten einzuleiten; sonst komme ich den ganzen Winter zu keiner ruhigen Existenz.“16 Henriette ließ sich nicht so leicht von der Idee eines gemeinsamen Urlaubs abbringen. „Aber Du liebes Vaterherz“, antwortete sie am 15. August, „so gelinde kommst Du nicht davon; als Deinen Quälgeist wirst Du Deine Frau wieder vornehmen und wieder erkennen. – Wir haben uns so in den Gedanken hineingeträumt, es ist uns ein so süßer, köstlicher Gedanke, Dich noch in Schlesien mit uns zu haben und mit Dir zurückzureisen, daß wir unmöglich davon lassen können. Wenn Du auch erst gegen Mitte September kommst (freilich wäre früher schöner), so könnten wir ja doch bis Ende September dann noch zusammenbleiben.“17 Schleiermacher blieb bei seiner Ablehnung. Am 25. August entgegnete er seiner Frau: „Aber liebes Herz, es macht mir ordentlich Schmerz, daß Du den Gedanken, daß ich Euch nachkommen soll, so festhältst, nachdem ich Dir doch die ganze Lage der Sache auseinandergesezt. Es läßt sich wirklich nicht thun. Ich würde, wenn ich die Ferien verreiste, in einer solchen Confusion in den Winter hineinkommen, daß mir dies, was meine Kräfte und meinen Gesundheitszustand betrifft, weit mehr Nachtheil bringen würde, als die Reise nuzen könnte.“18 Schleiermachers Bedenken gegen eine Ferienreise dürften sich wohl nicht ausschließlich, ja vermutlich nicht einmal in erster Linie auf die zu erwartende Arbeitsbelastung durch die Vorbereitung der Vorlesungen für das Wintersemester bezogen haben; schließlich las er keines der drei angekündigten Kollegs zum ersten Mal: Vorlesungen zu Hermeneutik und Kritik hatte er zuvor bereits achtmal19, über das Matthäusevangelium vier- und zur Ästhetik immerhin auch schon zweimal gehalten.20 Vermutlich hatte Schleiermacher vor allem literarische Ziele im Sinn; er verwies ja selbst im Brief vom 11. August auf seine „Bücher“. Bereits 1829 hatte er seinem Schüler und späteren 16 17 18 19 20

Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 466 Ebd. A. a. O., S. 469 Vgl. KGA II/4, S. XXIX Die Angaben folgen Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 293–330.

XIV

Einleitung des Bandherausgebers

Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl für Theologie August Twesten (1789–1876) gegenüber sein „Gefühl“ mitgeteilt, er habe „nur noch eine kleine Anzahl frischer Jahre“ vor sich, und damit die Absicht verbunden, die verbleibende Lebenszeit „zum Schreiben zu verwenden, damit es noch eine Erndte gebe“.21 Im unmittelbaren Zusammenhang dieser Äußerung war dabei zunächst und vor allem an die Neubearbeitung der ‚Glaubenslehre‘ gedacht. Nachdem diese Arbeit erfolgreich abgeschlossen war,22 beabsichtigte er auch die ‚Christliche Sittenlehre‘ und die ‚Dialektik‘ nach dem Vorbild seiner Dogmatik in der Gestalt von Paragraphenleitsätzen mit ausführlichen Erläuterungen für den Druck auszuarbeiten.23 In der Tat versuchte Schleiermacher nachweislich, in den Jahren 1832/33 vornehmlich Hand an die Einleitung zur ‚Dialektik‘ zu legen.24 Der Entschluss, auf eine Ferienreise im Herbst zu verzichten, brachte im Blick auf Schleiermachers literarische Pläne nicht die erhofften Erfolge.25 Der Entschluss brachte es aber mit sich, dass Schleiermacher seit dem 22. Juli bis zum Ende des Jahres 1832 ausnahmslos – und in makellosem Wechsel zwischen Haupt- und Frühgottesdienst – jeden Sonn- und Feiertag auf der Kanzel der Dreifaltigkeitskirche stand und predigte.

2. Die Auswahl der Predigttexte Schleiermacher hielt seine Predigten in der Regel über von ihm frei gewählte biblische Texte. Das entsprach reformierter Tradition. Das 21

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Brief vom 31. August 1829; zitiert nach Georg Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, S. 412 – Schleiermachers Gefühl einer gewissen Lebensknappheit bestätigt auch die Erinnerung seines Stiefsohns Ehrenfried von Willich. Anläßlich der Nachricht vom Tod Schleiermachers schreibt er: „Er selbst hatte [...] sich mit dem Gedanken des nahen Todes längst vertraut gemacht. Ich erinnere mich, daß er still zwischen uns auf dem Sopha sitzend meiner Mutter mit unbeschreiblicher Innigkeit die Hand reichte und sagte: ‚Kinder, genießt mich nur noch recht, ich werde wohl nicht mehr lange unter euch sein!‘“ (Ehrenfried von Willich: Aus Schleiermachers Hause. Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes, Berlin 1909, S. 161) Vgl. Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Zweite umgearbeitete Ausgabe, Bd. 1–2, Berlin 1830– 1831; KGA I/13,1–2 Vgl. den Brief an Ludwig Jonas vom 18. Dezember 1831, SBB, Nachlass Ludwig Jonas, Mappe 7, Bl. 30r–31v, hier: 31v; KGA II/10,1. S. XLII Vgl. KGA II/10,1, S. XLIIf; Nowak: Schleiermacher, S. 285; die Frucht dieser Arbeit ist das, was als „Vorarbeiten zur Einleitung in die Dialektik“ und als „Einleitung (Reinschrift)“ in KGA II/10,1, S. 355–426 ediert ist. Im Tageskalender notierte Schleiermacher im Dezember 1832 bilanzierend: „An der Dialektik ist in den Ferien sehr wenig geschehen“. (SN 452)

I. Historische Einführung

XV

Recht zur freien Wahl des Predigttextes war auch durch die Gemeindeunion von Reformierten und Lutheranern an der Dreifaltigkeitskirche zur vereinigten evangelischen Gemeinde nicht beschränkt worden. „Sämtliche Prediger der Gemeine“, hieß es im Unionsstatut, „können nach ihrem Gutfinden entweder über die Perikopen oder über freie Texte predigen.“26 Für Schleiermacher hatte sich hierin auch nichts geändert, als nach langwierigen und harten Auseinandersetzungen am 12. April 1829 die neue Agende27 in den Berliner Kirchen eingeführt worden war.28 Zu den Freiheiten, die er sich gegenüber dem Konsistorium der Provinz Brandenburg im Umgang mit der Agende vorbehalten hatte und die ihm seitens des Ministeriums für Geistliche- und Schulangelegenheiten weitgehend zugebilligt worden waren, gehörte auch der freie Umgang mit biblischen Lektionen und Predigttexten.29 Von dieser Freiheit hat Schleiermacher bei seinen Predigten im Jahr 1832 reichlich Gebrauch gemacht. Nur ein einziges Mal, am 30. September, dem 15. Sonntag nach Trinitatis, der als Erntedankfest begangen wurde, orientierte er sich bei der Auswahl seines Predigttextes (Mt 6,31) zumindest grob an der von der Perikopenordnung30 vorgesehenen Evangeliumslesung (Mt 6,24–34). Allerdings kam er in den Predigten des Hauptgottesdienstes, denen er einen anderen Text zu Grunde gelegt hatte, hin und wieder, wenn auch eher beiläufig, kurz auf die Epistellesung des jeweiligen Sonn- oder Feiertags31, einmal auch auf das Evangelium32 zu sprechen. Solche Bezugnahmen sind in den Predigten der Frühgottesdienste signifikant seltener. Lediglich in zwei Fällen, am 15. April und am 2. Dezember, ging Schleiermacher jeweils ziemlich zu Beginn seiner Rede auf das Evangelium des Sonntags ein.33 In beiden Fällen dienten 26

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32 33

Statut für die vereinigte evangelische Gemeine der Dreifaltigkeitskirche [§ 11], GStA PK, X. HA, Rep. 40, Nr. 876, Bl. 86r–90v, hier: Bl. 87r; Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 482–488, hier: S. 484 Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen. Mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Brandenburg, Berlin 1829 (KGA III/3, S. 1017–1140) Vgl. Erich Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten, Bd. 2, Tübingen 1907, S. 55–210; Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 171–219; KGA I/9, S. X–CXII Vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 212–214; KGA III/12, S. XIIIf In Berlin galten, wie in den älteren Teilen Preußens, die sog. altkirchlichen Perikopen; vgl. die Übersicht in: Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland. Amtsblatt des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes 39 (1890), S. 576–599. Vgl. Predigten von Dr. F. Schleiermacher, [Reihe 3, Berlin 1832], S. 113, 152; Predigten von Dr. F. Schleiermacher, [Reihe 4, Berlin 1833], S. 30, 51, 75f, 92, 109f, auch 116; unten S. 282, 323, 438, 485, 504, 524, 528 Vgl. Predigten von Dr. F. Schleiermacher, [Reihe 2, Berlin 1832], S. 163f; unten S. 103 Vgl. SW II/5, S. 184 und 362; unten 178f und 550

XVI

Einleitung des Bandherausgebers

Schleiermachers Hinweise dazu, den mit dem jeweiligen Sonntag gegebenen Kasus und die damit verbundene Hörererwartung angemessen zu berücksichtigen. Bei beiden Sonntagen nämlich handelte es sich um markante Punkte des Kirchenjahres: um Palmarum, also den Beginn der Karwoche, und um den ersten Adventssonntag, also den Beginn eines neuen Kirchenjahres und der Vorbereitungszeit auf Weihnachten, „auf das Fest der Geburt des Erlösers“34. Ein einziges Mal, am 16. Mai, legte Schleiermacher seiner Rede einen alttestamentlichen Text zu Grunde. Das geschah am Buß- und Bettag. Er predigte über Spr 14,34: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.“ Eine Predigt über diesen Text hatte er bereits einmal, vor sechsunddreißig Jahren, am 20. April 1796 in Landsberg gehalten35 und sie 1799 als erste Predigt überhaupt zum Druck gebracht36. Schleiermacher war sich der Besonderheit in der Wahl eines alttestamentlichen Predigttextes sehr wohl bewusst. „Diejenigen unter Euch“, sprach er seine Zuhörer gleich nach Verlesung des Textes darauf an, „die sich öfter hier mit mir zu versammeln pflegen, wissen es wol, daß ich selten etwas anderes als Worte aus unseren im engeren Sinn christlichen heiligen Büchern, Worte aus den Schriften des neuen Bundes, zum Grunde unserer Betrachtungen lege“. Dass er es diesmal anders machte, führte er auf den besonderen Charakter des staatlich verordneten Buß- und Bettages zurück: „[...] es hat in dieser Hinsicht eine besondere Bewandtniß mit einem Tage wie der heutige. Er ist ein festlicher Tag nicht aus der inneren Geschichte der christlichen Kirche, nicht aus einem besonderen Bedürfniß des christlichen Glaubens, welches sich an eine bestimmte Zeit knüpfte, hervorgegangen: sondern ein festlicher Tag, eingesezt von christlicher Obrigkeit für ein christliches Volk; und eben diese Richtung desselben auf den Verein, welchen wir unter einander als ein Volk bilden, macht daß die Bücher des alten Bundes für einen solchen Tag reicheren Stoff enthalten und angemessener sind, weil jene älteren heiligen Schriften sich ganz und gar auf das gemeinsame Leben desjenigen Volkes, welches Gott zu einer besonderen Bestimmung auserwählt hatte, beziehen.“37 Man wird diese Begründung Schleiermachers für eine besondere Affinität von Bußtag und alttestamentlichen Predigttexten freilich nicht überbewerten dürfen: Schon ein Jahr später predigte er wieder über einen Vers des Neuen Testaments (2Tim 1,7), und von den insgesamt gut dreißig nachweisbaren 34 35 36 37

SW II/5, S. 362; unten S. 549 Vgl. KGA III/3, S. 498f Vgl. KGA III/3, S. 591–606 Predigten von Dr. F. Schleiermacher, [Reihe 3, Berlin 1832], S. 57f; unten S. 224f

I. Historische Einführung

XVII

Bußtagspredigten hielt Schleiermacher mit Sicherheit sechs über alttestamentliche, aber dreimal so viele, nämlich achtzehn, über neutestamentliche Texte; in den übrigen Fällen wissen wir nicht, über welchen Text Schleiermacher gepredigt hat. Von dieser einen Ausnahme abgesehen, entstammten sämtliche von Schleiermacher ausgesuchten Predigttexte im Jahr 1832 dem Neuen Testament. Das entsprach ganz der Auffassung, die Schleiermacher einerseits von dem Wesen der christlichen Religion und ihrer Eigentümlichkeit im Bewusstsein der durch Jesus von Nazareth vollbrachten Erlösung,38 andererseits von der besonderen Bedeutung der kanonischen Schriften des Urchristentums,39 denen gegenüber die alttestamentlichen Bücher keine vergleichbare normative Geltung beanspruchen konnten,40 vertrat. Wenn denn die „heiligen Schriften des neuen Bundes“ nicht lediglich „das erste Glied in der seitdem fortlaufenden Reihe aller Darstellungen des christlichen Glaubens“, sondern zugleich „die Norm für alle folgenden Darstellungen“ waren,41 dann konnte nur aus ihnen die Grundlage auch für diejenigen gegenwärtigen Darstellungen des christlichen Glaubens genommen werden, die sich in Gestalt jeder Predigt vollzogen. Bei der Auswahl der neutestamentlichen Predigttexte ließ Schleiermacher sich von verschiedenen Gesichtspunkten leiten. Für die markanten Abschnitte des Kirchenjahres, wie Weihnachts- und Passionszeit, Ostern und Pfingsten, bestanden von vornherein inhaltliche Vorgaben, an denen er sich orientierte. In den anderen Zeiten verfolgte er wie schon in früheren Jahren häufig42 über mehrere Sonntage hinweg ein bestimmtes Thema und bildete auf diese Weise eine Reihe zusammenhängender Predigten. So widmete er sich zwischen Weihnachts- und Passionszeit, vom 2. Sonntag nach Epiphanias am 15. Januar bis zum Sonntag Sexagesimae am 26. Februar, in vier Hauptpredigten der Art und Weise, wie der Erlöser ein persönliches Verhältnis zu dem Einzelnen anknüpfte.43 38

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40 41 42 43

Vgl. Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Zweite umgearbeitete Ausgabe, Bd. 1–2, Berlin 1830– 1831 (KGA I/13,1–2), bes. Bd. 1, S. 74 (Leitsatz § 11), KGA I/13,1, S. 93, 15–19 Vgl. vor allem Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen, zweite umgearbeitete Ausgabe, Berlin 1830, S. 40. 48– 64 (§§ 84. 103–148), KGA I/6, S. 358. 365–379 Vgl. Kurze Darstellung, S. 53 (§ 115) und 62 (§ 141), KGA I/6, S. 369 und 377; Der christliche Glaube, Bd. 2, S. 378–383 (§ 132), KGA I/13,2, S. 337–341 Der christliche Glaube, Bd. 2, S. 357 (§ 129 Leitsatz), KGA I/13,2, S. 320 Vgl. die Übersicht in KGA III/1, S. L–LII Die beiden übrigen Predigten dieser Themenreihe fanden am 29. Januar und 12. Februar statt.

XVIII

Einleitung des Bandherausgebers

Zwischen dem 3. Juni und dem 11. November predigte Schleiermacher im Hauptgottesdienst elfmal über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte. Auf diesen Zusammenhang wies er selbst seine Hörer erst spät ausdrücklich hin, nämlich in der vorletzten Predigt am 28. Oktober;44 ein weiterer Hinweis erfolgte dann in der letzten Predigt.45 Man kann diesen Hinweisen entnehmen, dass diese Zusammenstellung von Texten aus der Apostelgeschichte offensichtlich mit Absicht und Bedacht geschah und man sich das tatsächlich so vorzustellen hat, dass Schleiermacher die Apostelgeschichte durchlas, bis er auf einen interessanten und bedeutsamen Text stieß, den er dann als Predigttext auswählte.46 Unter welchem Gesichtspunkt diese Zusammenstellung erfolgte, darüber äußerte sich Schleiermacher allerdings nicht. Es ist zu vermuten, dass er hierbei nicht so sehr eine sozusagen bewusst lückenhaft konzipierte Homilie zur Apostelgeschichte im Sinn hatte, sondern sich von einem thematischen Motiv leiten ließ: Alle Texte wurden von ihm so ausgelegt, dass die darin enthaltenen Begebenheiten aus der Zeit der ersten Kirche als beispielhaft und leitend für das Leben der christlichen Kirche erschienen. Der Blick auf die vorbildliche Art und Weise, wie damals mit bestimmten Fragen und Herausforderungen umgegangen worden war, und auf die Gesinnungen, mit denen die christliche Gemeinde ihre eigenen Angelegenheiten und ihr Leben in der Welt gestaltet hatte, dürfte für Schleiermacher die inhaltliche Klammer dieser Predigtreihe gewesen sein. In den Frühgottesdiensten setzte Schleiermacher regelmäßig seine Homilie über das Markusevangelium fort, die er am 14. August 1831 begonnen hatte. Bis zum Jahresende 1831 war er bis Mk 2,22 gekommen. 1832 behandelte er in insgesamt zweiundzwanzig Predigten den Abschnitt Mk 2,23 bis 7,30. Nur in Fällen, in denen der Sonntag durch eine ganz besondere inhaltliche Prägung ausgezeichnet war, hielt Schleiermacher es offensichtlich für geraten, in den Frühgottesdiensten sein homiletisches Unternehmen zu unterbrechen. Das geschah 1832 lediglich dreimal: am Dankfest für die Befreiung von der Cholera (19. Februar), am Pfingstsonntag (10. Juni) und am 1. Weihnachtstag (25. Dezember). 44 45 46

Vgl. Predigten von Dr. F. Schleiermacher, [Reihe 4, Berlin 1833], S. 78; unten S. 495f Vgl. a. a. O., S. 100; unten S. 517 „Es wird vielleicht Vielen von Euch, ohne daß ich es ausdrükklich vorher gesagt habe, bemerklich geworden sein, daß ich seit dem Ende unserer diesjährigen Festzeiten zu unseren Versammlungen um diese Stunde den Stoff immer aus den Geschichten der Apostel genommen habe. So war ich denn in dem Lesen derselben zu diesem Behuf über das Kapitel, aus welchem unser Text genommen ist, schon hinweggegangen und wollte weiter gehen, als ich doch meine Gedanken auf einmal bei diesem Ende desselben festgehalten fühlte.“ (A. a. O., S. 78; unten S. 495f)

I. Historische Einführung

XIX

3. Liturgie und Lieder Nach langwierigen harten Auseinandersetzungen, an denen nicht zuletzt auch Schleiermacher in vielfältiger Weise beteiligt gewesen war,47 war am 12. April 1829 die neue „Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen. Mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Brandenburg“ in den Berliner Kirchen eingeführt worden.48 Schleiermacher hatte der Einführung erst zugestimmt, nachdem ihm seitens des Ministeriums für Geistliche- und Schulangelegenheiten am 3. März 1829 diejenige Freiheit im Umgang mit den agendarischen Vorgaben weitgehend zugebilligt worden war, die er sich gegenüber dem Konsistorium der Provinz Brandenburg ausdrücklich vorbehalten hatte.49 Wie man sich den Gottesdienstablauf vorzustellen hat, in dem Schleiermacher seine Predigten im Jahr 1832 hielt, davon gibt Schleiermachers „Gehorsamster Bericht über den Gebrauch der Agende“ an seinen Vorgesetzten, den Superintendenten Friedrich Samuel Pelkmann, vom 31. Oktober 183250 ein recht genaues Bild.51 Dieser Bericht bestätigt zudem im Wesentlichen die Angaben, die Schleiermacher bereits in seinen beiden Briefen an Joachim Christian Gaß aus dem Frühjahr 182952 und an Ludwig Gottfried Blanc vom 5. Mai 183053 gemacht hatte. Demnach hatte ein von Schleiermacher gehaltener Predigtgottesdienst in etwa folgende Gestalt:54 Nach einem Gemeindegesang eröffnete Schleiermacher mit dem Eingangsvotum nach Ps 124,8 „Unsere Hülfe sey im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“, dem sogenannten Adjutorium. Dem schloss sich ein kurzes Sündenbekenntnis an, das Schleiermacher übergangslos, also ohne abschließendes „Amen“, mit dem deutschen Kyrie „Herr 47 48 49 50

51 52 53 54

Vgl. Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche, Bd. 2, S. 55–210; Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 171–219; KGA I/9, S. X–CXII Vgl. KGA III/12, S. XIV; Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 214; die Agende ist als Anhang in KGA III/3 (S. 1017–1140) veröffentlicht. Vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 211–214 Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin (ELAB), Ephoralarchiv Friedrichswerder I, Nr. 162, Bl. 114r–v; abgedruckt bei Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 490f; Bernhard Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, SchlA 20, Berlin/New York 2002, S. 327; KGA III/1, S. XLVIII Anm. 131. Vgl. Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 321–334 Vgl. Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hg. v. W. Gaß, Berlin 1852, S. 211–213, bes. 212f Vgl. Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 397–400, bes. 398f Ich folge hier im wesentlichen der textlichen Rekonstruktion, die Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 328–332, aufgrund der Äußerungen Schleiermachers und der entsprechenden Textpartien der „Agende“ von 1829 vorgenommen hat.

XX

Einleitung des Bandherausgebers

erbarme Dich unser, und erhöre uns gnädiglich“ verband, dem er wiederum unmittelbar das Kollektengebet folgen ließ, das er aus zwei in der Agende vorgesehenen Varianten zusammenzog, wie es die Agende ausdrücklich gestattete55. Von den sich anschließenden biblischen Lesungen hielt Schleiermacher in der Regel lediglich eine, Epistel oder Evangelium, und beendete sie mit dem Votum aus 1Thess 5,23f „Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar, und euer ganzer Geist, Seel’ und Leib, werde unsträflich bis auf die Zukunft unseres Herren Jesu Christi behalten. Getreu ist der euch ruft, der wird’s auch thun“. Es folgten ein Predigtlied, die Predigt und das allgemeine Kirchengebet, das Schleiermacher in der alten Form von 1713, die auch die Agende von 1829 noch gestattete56, und wohl meistens nur in Auszügen benutzt hat57. Das „Unser Vater“, der Aaronitische Segen und ein Lied schlossen den Predigtgottesdienst ab. Die Lieder, deren Nummern in den erhaltenen Predigten des Jahres 1832 angegeben sind, entstammen dem sogenannten Berliner Gesangbuch von 1829,58 an dessen Konzeption und Gestaltung Schleiermacher selbst maßgeblichen Anteil gehabt hatte.59 Gut 150 der 876 Lieder gingen in ihrer Bearbeitung auf Schleiermacher zurück.60

4. Das Dankfest zur Befreiung von der Cholera Am 19. Februar 1832 fanden in den Kirchen Berlins Dankgottesdienste für die Befreiung von der Cholera statt. Schleiermacher gab seine zu diesem Anlass im Frühgottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche gehaltene Predigt 1833 in den Druck.61 55

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Es handelt sich um die Nummern 7 und 8 der vorgeschlagenen Kollektengebete; vgl. Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen, S. 67f (KGA III/3, S. 1053f). Vgl. Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen, Zweiter Theil, S. 65–70 (KGA III/3, S. 1094–1096) Vgl. Briefwechsel mit Gaß, S. 213: „Nach der Predigt nehme ich, wie ich auch sonst immer that, einen Auszug aus dem auch in den Nachtrag [scilicet: der „Agende“ von 1829] aufgenommenen alten Kirchengebet.“ Vgl. Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 333 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen. Mit Genehmigung Eines hohen Ministerii der geistlichen Angelegenheiten, Berlin [1829]; dieses sog. ‚Berliner Gesangbuch‘ wird als Anhang in KGA III/2 veröffentlicht. Vgl. Ilsabe Seibt: Friedrich Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, Göttingen 1998; Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 312–315; Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 173–263. 518–745; KGA I/9, S. CXII–CXIV; KGA III/ 12, S. XVII Vgl. Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 723–745 Vgl. Predigt am Sonntage Septuagesimä 1832 als am Dankfest nach der Befreiung von der Cholera in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen, Berlin 1833, unten S. 85–98

I. Historische Einführung

XXI

Die sogenannte Asiatische Cholera62 hatte sich seit 1817 von ihrem indischen Ursprungsgebiet aus epidemisch auch Richtung Europa verbreitet und 1830 Rußland, im September Moskau erreicht. Von dort war sie weiter nach Westen vorgedrungen, seit Frühjahr 1831 waren auch Teile Deutschlands betroffen gewesen, vor allem die Städte und Großstädte. Im März 1831 war Danzig infiziert worden, im Juli Pillau und Königsberg. Die ersten Berliner Verdachtsfälle auf Cholera hatte es am 28. August in Charlottenburg und am 30. August im Zentrum der Stadt gegeben; am 1. September 1831 war Berlin offiziell als infiziert erklärt worden. Bereits die in verschiedenen Publikationsorganen veröffentlichte „Allerhöchste Bekanntmachung, wegen der gegen die Verbreitung der Cholera zu treffenden Maßregeln“ vom 6. September 183163 enthielt einen, wenn auch zunächst noch vagen, Hinweis des Königs Friedrich Wilhelms III. darauf, dass er daran dachte, das erhoffte und erwünschte Ende der Choleraepidemie durch Dankgottesdienste begehen zu lassen: „Mögen Meine treuen und geliebten Unterthanen die Schickung, die jetzt über uns verhängt ist, sich dienen lassen zur Demüthigung vor Gott und zur Erweckung, zu verdoppelter Bruderliebe, gegenseitiger Hülfsleistung und Aufopferung. Dann wird sich die schwere Prüfung selbst in einen bleibenden Segen für uns verwandeln, und wir werden bald vereinigt Dankgebete zu Gott, unserm Herrn, richten können, wie wir jetzt in gläubigem Vertrauen zu seiner Gnade das Gebet um Hülfe und Abwendung der Gefahr zu seinem Throne schicken.“64 Als sich für die als erste preußische Großstadt befallene Stadt Danzig ein Ende der Epidemie abzeichnete, konkretisierte Friedrich Wilhelm seine Absichten in der Kabinettsorder vom 14. September 1831 an den zuständigen Staatsminister für Geistliche, Schul- und Medizinalangelegenheiten, Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840): „Nach dem Ueberstehen schwerer Uebel muß Allen, die davon verschont bleiben, der Dank gegen die Vorsehung die erste Pflicht sein: Ich will daher: daß in Danzig und an allen Orten, wo die Cholera aufgehört hat, die Feier des Gottesdienstes durch das Te Deum erhöhet werde, und veranlasse Sie, deshalb das Weitere anzuordnen.“65 Altensteins Anordnungen schlugen sich nie62

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Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf der Darstellung bei Barbara Dettke: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 89, Berlin/New York 1995, bes. S. 102f. 124. 177–180. 209. Annalen der Preußischen innern Staats-Verwaltung, hg. v. Karl Albert von Kamptz, Bd. 15, Berlin 1831, S. 609–612 A. a. O., S. 610f GStA PK, I. HA, Rep. 76, VIII C, Nr. 5, Bl. 282r. Bei diesem Aktenstück handelt es sich um eine Abschrift für die Akten der Immediat-Commission zur Abwehrung der Cholera.

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Einleitung des Bandherausgebers

der in der „Circular-Verfügung an sämmtliche Superintendenten der Provinz Brandenburg“ vom 3. Oktober 1831, in der das Königliche Konsistorium der Provinz Brandenburg den Beschluss Friedrich Wilhelms III. zur näheren Ausgestaltung an die Geistlichen weitergab: „Des Königs Majestät haben, in preiswürdiger Rücksicht, daß nach dem Ueberstehen schwerer Uebel allen denen, die davon verschont geblieben oder errettet worden sind, der Dank gegen die göttliche Vorsehung die erste Pflicht seyn müße, durch die Allerhöchste Cabinetsordre vom 14ten September d. J. anzuordnen geruht, daß in Danzig und an allen Orten, wo die Cholera aufgehört hat, die Feier des Gottesdienstes durch das Te Deum erhöht werde. Hiernach beauftragen wir Sie, die Geistlichen Ihres Sprengels von dieser allerhöchsten Bestimmung in Kenntniß zu setzen, mit der Anweisung, nach vorgängigem Vernehmen mit der Sanitäts-Behörde des Orts, an einem der nächsten Sonntage, nachdem die Cholera aufgehört hat, und solches von der betreffenden Königlichen Regierungs-Behörde anerkannt worden, eine angemessene kirchliche Danksagung zu veranstalten.“66 Die Situation, dass man an die Umsetzung dieser Verfügung denken konnte, trat für Berlin erst im neuen Jahr ein. Gleichwohl schrieb Schleiermacher schon am 18. Dezember 1831 an Ludwig Jonas: „Ich rüste mich schon dazu wenn das Dankfest kommt ihr“ – nämlich der „Thätigkeit gegen die Cholera“ – „eine schöne Lobrede zu halten.“67 Nachdem die Epidemie in Berlin bereits ab der zweiten Oktoberhälfte 1831 deutlich zurückgegangen war, galt die Stadt seit Ende Januar 1832 inoffiziell wieder als cholerafrei. Am 9. Februar wurde sie vom zuständigen Gesundheitskomitee offiziell „für rein und unverdächtig“ erklärt.68 Einen Tag später, am 10. Februar, gab der Oberpräsident der Provinz Brandenburg bekannt: „Des Königs Majestät haben mittelst Allerhöchster Kabinetsordre vom 14. September v. J. anzuordnen geruhet, daß an allen Orten, wo die Cholera aufgehört hat, die Feier des Gottesdienstes durch das Te Deum erhöht werde, und das Königliche Konsistorium der Provinz Brandenburg hat in Folge dessen die Herren Superintendenten unterm 3. Oktober v. J. beauftragt, die Herren Geistlichen ihrer Sprengel anzuweisen, nach vorgängigem Vernehmen mit der Sanitätsbehörde des Orts, an einem der nächsten Sonntage, nachdem die Cholera aufgehört hat, und solches von der betreffenden Königlichen Regierungs-Behörde anerkannt worden, eine angemessene kirchliche Danksagung zu veranstalten. 66 67 68

ELAB 29/96 unfoliiert SBB, Nachlass Ludwig Jonas, Mappe 7, Bl. 30r–31v, hier: 31v Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jahrgang 1832, Potsdam 1832, S. 58

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Diese wird daher da, wo sie noch nicht stattgefunden hat, annoch gehalten werden.“69 Diese Ankündigung wurde ein paar Tage später in der Allgemeinen Staats-Zeitung einer breiteren Öffentlichkeit weitergegeben: „Da nunmehr die Cholera in der ganzen Provinz Brandenburg aufgehört hat, so soll nach einer Bekanntmachung des Königl. Ober-Präsidiums vom 10ten d. M., an all’ den Orten, wo, der Allerhöchsten Kabinets-Ordre vom 14. Sept. v. J. gemäß, die Feier des Gottesdienstes noch durch ein Te Deum für die Befreiung von der Krankheit erhöht worden, die desfallige kirchliche Danksagung an einem der nächsten Sonntage erfolgen.“70 Am 10. Februar 1832, demselben Tag, an dem der Oberpräsident die bevorstehenden Dankgottesdienste in der Provinz Brandenburg ganz allgemein für einen der nächsten Sonntage angekündigt hatte, legte das Königliche Konsistorium der Provinz Brandenburg bereits den genauen Termin für die Kirchen in der Stadt Berlin fest: „Da, zufolge der in den heutigen Zeitungen befindlichen Bekanntmachung des Gesundheits-Comité vom gestrigen Tage, die Residenzstadt Berlin wiederum von Cholera rein und unverdächtig erklärt worden ist, so soll nunmehr am Sonntage, als den 19. d. M. das, nach der CircularVerfügung vom 10. Octbr. v. J.71 durch die Allerhöchste Cabinetsordre vom 14. Septbr. v. J. angeordnete und durch das Te Deum zu erhöhende Dankfest gefeiert und solches am Sonntage als den 12. d. M. von den Kanzeln angekündigt werden.“72 Die Lektüre dieses Schreibens, das an den für Schleiermacher zuständigen Superintendenten Peter Heinrich Wilhelm Hoßbach (1784–1846) mit dem Auftrag, die Geistlichen davon in Kenntnis zu setzen, gerichtet war, hat Schleiermacher mit seiner Unterschrift bestätigt.73 Oberbürgermeister, Bürgermeister und Rat der königlichen Residenz Berlin planten, in ihren Patronatskirchen sämtliche Stadtverordneten, Kommunalbeamten und Vertreter und Mitglieder der Schutzkommisionen gegen die Cholera zu den Dankgottesdiensten einzuladen und ihnen dafür prominente Plätze in den Altarräumen der Kirchen zur Verfügung zu stellen. Da die Plätze dafür in den Patronatskirchen der Stadt nicht ausreichten, wandte sich der Magistrat auch an die Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche, mit dem Antrag, „daß die innerhalb des Parochie-Bezirks der Dreifaltigkeits-Kirche wohnenden Beamten pp. der Feier in dieser Kirche beiwohnen und 69 70 71 72 73

A. a. O., S. 57 Allgemeine Preußische Staatszeitung, vom 18. Februar 1832 (S. 200) Hierbei muss es sich um ein Versehen handeln; das Zirkularschreiben an die Superintendenten datiert vom 3. Oktober 1831. ELAB 10400/39, Bl. 22r Ebd.

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Einleitung des Bandherausgebers

zwar wie in den Kirchen unsers Patronats, in dem Raume zunächst am Altare“. Schleiermacher notierte auf dem Antrag: „Mir scheint gegen diesen Vorschlag keine Einwendung zu machen“, es würde nur der Kirchendiener „zu instruiren sein den Plaz mit Stühlen zu besezen um diese den genannten Personen vorzubehalten“.74 Das Königliche Konsistorium der Provinz Brandenburg billigte im Schreiben an die Dreifaltigkeitsgemeinde vom 16. Februar dieses Vorhaben: „Gegen das Verfahren des Magistrates, die sämmtlichen Stadt-Verordneten, Kommunal-Beamten und Vorsteher und Mitglieder der Schutz-Commissionen zur Theilnahme an dem, den nächstfolgenden Sonntag zu feiernden, kirchlichen Dankfeste wegen Befreiung der Stadt von der Cholera, einzuladen, und die Eingeladenen Plätze in den Räumen der Kirche des Altars [sic!] in den Kirchen der Stadt, soweit sie magistratualischen Patronats sind, nehmen zu lassen, auch solches wegen der großen Zahl der Einzuladenden, auf die Dreifaltigkeits-Kirche auszudehnen, haben wir durchaus nichts einzuwenden, und haben, was die zuletzt genannte Kirche betrifft, das geistliche Ministerium derselben mittelst Abschrift dieser Verfügung hiervon in Kenntniß gesetzt.“75 Auf dem Rand dieses Schreibens teilte Schleiermacher seinen Amtskollegen und den Kirchenvorstehern mit, er habe, da die Zeit zur Abstimmung gefehlt habe, dem Bürgermeister geschrieben, „daß Sorge getragen werde daß Jeder qualificirte an seinen Plaz kommen könne. Dazu scheint nöthig daß entweder an jeder Kirchthüre Jemand stehe der die Herren, die sämmtlich in schwarzer Kleidung erscheinen werden an ihren Plaz führe oder daß an den Kirchthüren ein Anschlag gemacht werde, die Herren Communalbeamten u. Mitglieder der Schuz Commissionen möchten ihren Weg durch die Sakristei nehmen. Wissen Sie noch ein besseres Mittel so soll mir das noch lieber sein.“76 Der Kirchenvorsteher Ludwig von Mauderode schlug daraufhin in seiner Randnotiz vor, an jeder der drei Kirchtüren einen Zettel anbringen zu lassen, der die eingeladenen Ehrengäste auf die für sie vorgesehenen Plätze im Altarraum hinwiese, und mit dem Kirchendiener abzusprechen, „daß er auf dem Raum vor dem Altar zwei Reihen von 12. Stühlen setze, so daß von allen Seiten der Zugang zum Altar, besonders wegen der nachherigen Kommunion, frei bleibe“.77 Die Berliner Dankgottesdienste für die Befreiung von der Cholera fanden in einem besonders festlich gestalteten Rahmen und unter großer Beteiligung der Bevölkerung statt. Am 20. Februar berichtete die 74 75 76 77

ELAB 10405/465, Bl. 96r; vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 337 ELAB 10405/465, Bl. 97r Ebd.; vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 337f ELAB 10405/465, Bl. 97r; vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 338

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Allgemeine Preußische Staatszeitung: „Berlin, 19. Febr. Das kirchliche Dankfest wegen des Aufhörens der Cholera in hiesiger Residenz ward heute auf das feierlichste begangen. Der Choral: ‚Nun danket alle Gott!’ von den Kirchtürmen geblasen, verkündete am Morgen die Feier des Tages, und in frommer Freudigkeit wallten die Bewohner in zahlreicher Menge nach den Kirchen, um dem Herrn der Heerscharen die Gefühle dankbarer Verehrung darzulegen.“78 Unter „Vermischte Nachrichten“ meldete die sogenannte Vossische Zeitung, ebenfalls am 20. Februar: „Berlin, den 19ten Februar. Heut fand in den hiesigen Kirchen die Feier des Dankfestes wegen des Aufhörens der Cholera statt; für Viele gewiß ein Fest voll erhebender Gefühle, wenn gleich für manche auch mit herben Erinnerungen gemischt. Alle Kirchen der Residenz waren ungewöhnlich gefüllt. In der Domkirche fand zuerst feierlicher Gottesdienst statt welchen der Hr. Bischof Neander abhielt, und wobei ein mit Posaunen begleitetes Tedeum gesungen wurde.“79 Vermutlich kam man dem in der Kabinettsorder vom 14. September 1831 geäußerten Willen des Königs, den schuldigen Dank gegen die Vorsehung durch das Te Deum zum Ausdruck zu bringen, nicht überall in der besonderen musikalischen und festlichen Form wie im Berliner Dom nach, sondern sang in den Gottesdiensten einen oder mehrere der Choräle aus dem Gesangbuch, die als deutsche Bearbeitungen des dem Heiligen Ambrosius (um 340–397) zugeschriebenen lateinischen Hymnus gelten konnten.80 Ob dies auch für den Frühgottesdienst am 19. Februar 1832 in der Dreifaltigkeitskirche zutraf, wissen wir nicht. Entgegen vieler Fälle, in denen Schleiermacher bei der Veröffentlichung seiner Predigten auch die Nummern der gesungenen Lieder mitteilte, verzichtete er beim Druck seiner Predigt zum Dankfest nach der Befreiung von der Cholera auf eine solche Angabe.

5. Begräbnisreden In seiner praktisch-theologischen Theorie pastoraler Tätigkeit hat Schleiermacher kirchliche Begräbnisse und die damit zusammenhängenden religiösen Reden als Übergangserscheinung zwischen kulti78 79 80

Allgemeine Preußische Staatszeitung, vom 20. Februar 1832 (S. 212) Königlich privilegirte Zeitung Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitungs-Expedition, vom 20. Februar 1832 In Frage kommen vor allem Berliner Gesangbuch Nr. 651: „Herr Gott, dich loben wir“ (in eigener Melodie), das eine Bearbeitung von Luthers Verdeutschung des altkirchlichen „Te Deum laudamus“ darstellt, und Nr. 857: „Herr Gott, dich loben wir“ (Melodie von „Nun danket alle Gott“).

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Einleitung des Bandherausgebers

schem und seelsorgerlichem Handeln verstanden.81 Da die Kirchenbücher in der Regel den Namen des Predigers nicht nennen, der ein Begräbnis hielt, wissen wir nicht, wie oft Schleiermacher selbst diesen Teil seiner pfarramtlichen Tätigkeit wahrnahm.82 Für das Jahr 1832 ist für sieben Begräbnisse sicher bezeugt, dass Schleiermacher sie durchführte.83 So wenig wir den Umfang von Schleiermachers Beerdigungstätigkeit einschätzen können, so wenig lässt sich über die Zahl der Fälle sagen, in denen er die Begräbnisfeier mit einer eigenständigen Rede verband. Aus seiner gesamten Amtszeit als Prediger von 1790 bis 1834 sind überhaupt nur elf Begräbnisreden zweifelsfrei belegt, zehn von ihnen auch durch vorhandene Textzeugen dokumentiert.84 Drei davon entfallen allein auf das Jahr 1832. Dabei handelt es sich um die Trauerreden für Karl Friedrich Zelter am 18. Mai, für Karl Christian Wolfart am 21. Mai und für Ludwig August Heegewaldt am 28. Mai. Die im Blick auf Schleiermachers gesamte Predigeramtszeit geringe Anzahl erhaltener Begräbnisreden wird kaum den Umfang sei81

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Vgl. Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 (SW I/13), S. 321– 326, bes. 323; in den veröffentlichten Manuskripten Schleiermachers zur Praktischen Theologie wird die Kasualie Begräbnis nur an einer einzigen Stelle und ohne erhellende Erläuterung erwähnt (vgl. a. a. O., S. 844). Vgl. Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 387–431, bes. 401–410 und 429–431; KGA III/1, S. 784 Die Begräbnisse fanden statt am 1. April, 18., 21., 22. und 28. Mai, am 14. Juli und 24. Oktober. – Ein Detailproblem ergibt sich für das Begräbnis von August Ferdinand Burghalter am 14. Juli. Unter diesem Datum notiert Schleiermacher in seinen Tageskalender (SN 452) „Burghaltisches Begräbniß“. Der Verstorbene ist nach den Angaben im Totenbuch der Dorotheenstadtgemeinde um 5 Uhr früh beigesetzt worden (vgl. ELAB 10/88; Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, KGA III/1, S. 1015). Was die Uhrzeit der Beerdigung angeht, besteht eine Spannung zu Schleiermachers eigenen Angaben in seinem Brief an Ehrenfried von Willich aus dem Juli 1832. Dort heißt es: „Ich habe [...] um neun ein Begräbniß und um elf mache ich für heute und morgen eine kleine Landparthie nach der sogenannten märkischen Schweiz“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 462). Auf Grund dieser Reiseerwähnung kann das Schreiben ohne genaue Datumsangabe auf den 14. Juli datiert werden (vgl. oben Einleitung I. 1.) Dass es sich bei der Beerdigung um eine andere als die Burghalters handeln sollte, dürfte eher unwahrscheinlich sein; jedenfalls gäbe es für ein solches weiteres Begräbnis keinerlei Belege und wäre es sehr unwahrscheinlich, dass Schleiermacher nicht beide Begräbnisse erwähnt haben sollte, ging es ihm doch gerade darum, den „größten Trubel“ zu schildern, unter dem er diesen Brief an Ehrenfried verfasste (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 462). Das Manuskript von Schleiermachers Brief ist nicht mehr erhalten, so dass sich nicht mehr überprüfen lässt, ob ein Lesefehler vorliegen könnte. Die Trauerrede für General Anton Wilhelm von L’Estocq vom 8. Januar 1815 ist lediglich durch ein Predigtverzeichnis von Adolf Sydow (vgl. SAr 121, Bl. 4v) belegt, ohne dass sich Textzeugen erhalten hätten.

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ner tatsächlich gehaltenen Ansprachen widerspiegeln. Insbesondere in den Fällen, in denen die Verstorbenen eine Rolle im öffentlichen Leben gespielt hatten, wird Schleiermacher ihnen eine religiöse Würdigung in der Gestalt einer ausdrücklichen Grabrede zukommen lassen haben, ohne dass sich das dokumentieren ließe. Für das Jahr 1832 ist das stark zu vermuten im Fall des Geheimen Oberfinanzrats und Direktors der Königlichen Porzellanmanufaktur Friedrich Philipp Rosenstiel (geboren 1754), dessen Beerdigung am 22. Mai stattfand.85 Schleiermacher hatte wenige Monate zuvor, am 28. Oktober 1831, noch die Goldene Hochzeit des Ehepaars Rosenstiel mit Kasualansprache, Gebet und Segen feierlich begangen,86 und nur wenige Wochen vorher, am 1. April 1832, bereits die Gattin, Louise Elisabeth Rosenstiel (geboren 1764) bestattet.87 Insgesamt aber dürfte die geringe Anzahl sicher überlieferter Begräbnisreden kein Zufall, sondern vielmehr der Tatsache geschuldet sein, dass in vielen Fällen gar keine eigenständige Ansprache gehalten wurde. Das geht deutlich auch aus Schleiermachers Bericht über den 85

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In seinem Tageskalender (SN 452) notierte Schleiermacher für Dienstag, den 22. Mai: „weg[en]. Rosenstiels Begräbniß die erste Stunde ausgesezt.“ Seit dem 14. Mai las Schleiermacher fünfmal wöchentlich von 7–8 Uhr über Philosophische Ethik, von 8–9 Uhr über das Leben Jesu und von 9–10 Uhr über die neutestamentlichen Kolosser-, Epheser- und Philipperbriefe; demnach dürfte die Begräbnisfeier für Philipp Rosenstiel um 7 oder, wie wenige Tage zuvor die Beisetzungsfeier für Zelter, bereits um 6 Uhr stattgefunden haben. – Am Tag des Begräbnisses erschien im Berliner Intelligenz-Blatt (S. 3512) die Todesanzeige der Familie: „Am 18ten d. Mts., Nachmittags 3 Uhr, entschlief an Entkräftung im 78sten Lebensjahre unser innig geliebter Vater und Großvater, der Königliche Geheime Ober-Finanzrath, Director der Königlichen Porzelan-Manufactur, Ritter des rothen Adler-Ordens 2ter Klasse mit Eichenlaub, Friedrich Philipp Rosenstiel. Die Vorsehung erfüllte – für die Hinterbliebenen leider zu früh – seinen sehnlichen Wunsch, mit seiner ihm kürzlich vorangegangenen Gattin, der länger als 50 Jahre geliebten Gefährtin seines Lebens, wieder vereint zu seyn. Berlin, den 19ten May 1832. Die Hinterbliebenen.“ Ebenfalls am Tag der Beerdigung, am 22. Mai, brachte die sog. Vossische Zeitung unter „Wissenschaftliche und Kunst-Nachrichten“ eine Würdigung Rosenstiels (vgl. Königlich privilegirte Zeitung Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitungs-Expedition, vom 22. Mai 1832); dieser Artikel ist unterzeichnet mit „L. R.“, er stammt vermutlich von Ludwig Rellstab (siehe unten Anm. 94). Ein Bericht über die Trauerfeier folgte nicht. Vgl. KGA III/12, S. 754–758 Vgl. die Eintragung unter dem 1. April, dem Sonntag Laetare, in Schleiermachers Tageskalender: „Begräbniß d[er]. Frau Rosenstiel“ (SN 452). Die Reihenfolge der Einträge lässt vermuten, dass die Beerdigung vor dem Hauptgottesdienst um 9 Uhr stattfand, wann genau, ließ sich nicht ermitteln. Beigesetzt wurden die verstorbenen Eheleute Rosenstiel in der Erbgrabstelle der Familie auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde vor dem Potsdamer Tor (vgl. Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, KGA III/1, S. 1010f. 1012f; die Angaben dort beruhen auf dem Totenbuch der Dreifaltigkeitsgemeinde im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin).

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Einleitung des Bandherausgebers

Gebrauch der Agende hervor, den er unter dem 31. Oktober 1832 seinem Vorgesetzten, dem Superintendenten Friedrich Samuel Pelkmann, lieferte. Darin äußerte er sich kurz auch über die Art, wie er Begräbnisse liturgisch zu gestalten pflegte: „[...] bei Begräbnissen schalte ich wenn keine besondere Grabrede gehalten worden ist dem liturgischen Gebet die individuellen Beziehungen ein.“ 88 Man kann dieser Bemerkung entnehmen, dass Begräbnisse ohne eigentliche Grabreden für Schleiermacher offensichtlich eine ganz übliche Form der Bestattungsfeier darstellten. Was die liturgische Ausgestaltung anbelangt, scheint Schleiermacher ansonsten im Wesentlichen den Vorgaben der Agende89 gefolgt zu sein:90 Er eröffnete, wie in der Regel auch im normalen Predigtgottesdienst, mit dem Eingangsvotum nach Ps 124, 8, dem sogenannten Adjutorium: „Unsere Hilfe sei im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Amen.“ Unmittelbar daran schloss sich fakultativ die Grabrede an. Beim dreimaligen Erdwurf am Grab verwendete er das an Gen 3,19 angelehnte und um die christliche Auferstehungshoffnung erweiterte „Von der Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du wieder werden, der Herr aber wird dich auferwecken am jüngsten Tag. Amen“. Beim anschließenden Gebet orientierte Schleiermacher sich offensichtlich nur grob an dem agendarisch vorgesehenen Text; für den Fall, dass keine eigene Grabrede vorangegangen war, war für ihn hier, wie wir sahen, der Ort, biographische Bezüge einfließen zu lassen. Vater Unser und der im Anschluss an Num 6,24–26 formulierte Aaronitische Segen beendeten das Begräbnis. In vielen Fällen dürfte dieser Ablauf zu Beginn und am Ende durch Gesang der Trauergemeinde eingerahmt gewesen sein. a) Die Trauerfeier für Karl Friedrich Zelter Am 15. Mai 1832 war der langjährige Direktor der Berliner SingAkademie und Musikprofessor an der Königlichen Akademie der Künste und an der Universität, Karl Friedrich Zelter, gestorben.91 Schleiermacher, der selbst bis zu seinem Tod Mitglied der Sing-Akade88

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Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin (ELAB), Ephoralarchiv Friedrichswerder I, Nr. 162, Bl. 114v; Reich: Schleiermacher als Pfarrer, S. 491; Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 327; KGA III/1, S. XLVIII Anm. 131. Vgl. Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen, Zweiter Theil, S. 16–18 (KGA III/3, S. 1073f) Die folgenden Angaben orientieren sich an der Begräbnisrede für Wolfart am 21. Mai 1832, in der Schleiermacher selbst den liturgischen Ablauf mit veröffentlicht hat; vgl. unten S. 250–254. Zur Biographie Zelters vgl. die Erläuterungen im Sachapparat zu Schleiermachers Grabrede, unten S. 237–241

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mie war, war als Geistlicher maßgeblich an der Trauerfeier beteiligt, die am 18. Mai für diesen berühmten Berliner Bürger stattfand. Unter dem 18. Mai notierte er in seinen Tageskalender „Zeltersches Begräbniß“; bereits für den 17. Mai verzeichnete er seinen Besuch bei Zelters zu Hause und die „Vorbereit[ung]. Begräbniß“.92 Zelters Begräbnis ging weit über das hinaus, was sonst im Rahmen von Begräbnissen üblich war. Es war eine aufwendig und künstlerisch hochwertig gestaltete Trauerfeier für ein prominentes Mitglied der gebildeten Berliner Welt. Das belegen und zeigen nicht zuletzt die beiden ausführlichen Berichte, die nur einen Tag später, am 19. Mai, in Berliner Zeitungen erschienen. Sie vermögen einen anschaulichen Eindruck von Ablauf und Atmosphäre der Begräbnisfeier zu vermitteln: „Heute (18ten) in der Frühe fand die feierliche Bestattung des Direktors der Sing-Akademie, Professor Dr. Zelter, statt. Um 6 Uhr versammelten sich die Mitglieder der Sing-Akademie in dem großen Saale, in welchem der geschlossene Sarg aufgestellt war. Hinter dem Sarge stand auf erhöhtem Postamente die Marmorbüste Zelters, umgeben von den Büsten derer, die ihm im Leben und in der Kunst am engsten verbunden waren. Zu seiner Rechten stand das Bildniß seiner verstorbenen Gattin, einer geborenen Papperitz, deren seelenvoller Gesang ihn noch auf seinem Sterbebette in schöner Erinnerung tröstlich umschwebte, und das Bildniß seines treuen Lehrers und Vorgängers Fasch; zu seiner Linken stand zunächst Göthe’s und neben diesem Sebastian Bach’s Bildniß zwischen hohen Cypressen und Lebensbäumen. Zu beiden Seiten des Sarges waren die beiden goldenen Fest-Pokale der älteren und jüngeren Liedertafel, zu Füßen des Sarges eine goldene Lyra aufgestellt; auf dem Sarge lagen eine in Sammet gebundene Bibel, der ihm durch Königliche Huld als Anerkennung seiner Verdienste verliehene Rothe Adler-Orden und ein Lorbeerkranz, von der liebenden Hand einer Schülerin darauf gelegt; mit einem zweiten Kranze, mit gleicher Liebe von einer andern Schülerin geflochten, wurde dem Meister das edle Haupt umwunden. Auf sinnige Weise war durch die Rosen neben den Cypressen, der heiligen Schrift neben dem Fest-Pokal angedeutet, wie der Verewigte den Ernst mit der Heiterkeit des Lebens zu vereinigen und zu verbinden wußte. – Außer den Mitgliedern der Sing-Akademie hatten sich des Fürsten Radziwill Durchlaucht, der General-Intendant der Königl. Schauspiele, Graf Redern, der General-Musik-Direktor Spontini nebst vielen Mitgliedern der Königlichen Kapelle, der Direktor in dem Ministerium der geistlichen Angelegenheiten und des Unterrichts, Herr 92

SN 452

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Einleitung des Bandherausgebers

Geh. Ober-Regierungsrath Nicolovius, der Rektor der Universität, Prof. Marheineke, der Direktor und die Mitglieder der Akademie der Künste und eine große Anzahl von Freunden und Verehrern des Verstorbenen eingefunden. Die Ehrenwache bei dem Sarge thaten vier und zwanzig Marschälle, Studenten der hiesigen Universität. Die Todtenfeier wurde mit dem Choral von Graun: ‚Wen hab ich sonst als dich allein‘, eröffnet. Hierauf hielt der Prediger, Herr Prof. Schleiermacher, eine alle Herzen tief ergreifende, zugleich aber auch zu dem Urquell wahrhafter Beruhigung hinführende Rede, in welcher er uns ein treues Bild des Lebens und der Wirksamkeit dieses ausgezeichneten Mannes in kräftigen Zügen vorüberführte. Von den Verhältnissen des Verewigten in seiner persönlichen Bedeutendheit ging er dann dazu fort, uns an das zu erinnern, was er als ein bleibendes Vermächtnis hinterläßt, das Institut der Sing-Akademie, welche seit so vielen Jahren in Berlin einen Damm gegen das Andrängen frivolen Modegeschmacks gebildet und den Sinn für das Aechte und Wahre erhalten und befestigt hat. Hierbei ließ der Redner nicht unberührt, welche Anforderungen an denjenigen gemacht werden dürften, welcher künftig an die Spitze dieser Anstalt treten [sic!], wobei wir uns Glück zu wünschen haben, daß seit vielen Jahren schon mit aufopfernder Liebe und Treue ein tüchtiger Gehülfe dem Meister zur Seite stand, der sich durch seinen Eifer und seine Kenntnisse eben so sehr, als durch seinen edlen Charakter, die Achtung aller Mitglieder erwarb, und dem wir nur gönnen, daß, wie er einst den vorangegangenen Meister mit Jugendkraft unterstützte, nun auch wiederum ihm eine jugendliche Hülfe beigesellt werden möge. – Nach der Rede wurde der Choral: ‚Wenn ich einmal soll scheiden‘ aus der großen Passion von Seb. Bach gesungen. Hierauf setzte sich der Zug nach dem Sophieen-Kirchhofe in Bewegung, wohin die Trauer-Versammlung zu Fuß folgte. Am Grabe wurden noch zwei Choräle gesungen und von dem Prediger, Hrn. Prof. Schleiermacher, ein Gebet und der Segen gesprochen. Später wird, wie wir vernehmen, eine besondere Todtenfeier zu Zelters Gedächtniß von der Akademie veranstaltet werden.“93 Unter der Rubrik „Wissenschaftliche und Kunst-Nachrichten“ erschien in der sogenannten Vossischen Zeitung ebenfalls am 19. Mai 1832 eine weitere ausführliche Darstellung der Trauerfeier: „Berlin, den 18ten Mai. Diesen Morgen wurden Zelters sterbliche Ueberreste in ernster aber erhebender Feier bestattet. Um sechs Uhr hatten sich im Saale der Sing Akademie die sämmtlichen Mitglieder dieses Instituts, außerdem die zahlreichen Verehrer, Freunde und Schüler des Ver93

Allgemeine Preußische Staatszeitung, vom 19. Mai 1832, S. 566; der Artikel ist unterzeichnet mit „– r. –“.

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storbenen und diejenigen, welche in amtlichen oder collegianischen Verhältnissen zu ihm standen, versammelt. Ein schöner Zug war es, daß das löbliche Maurergewerk sich der Bestattung angeschlossen hatte, ein Zeichen, daß auch von dieser Seite der Dahingegangene in bürgerlich ehrenhaftem Andenken gehalten wurde. Es fehlte in der trauernden Versammlung fast keiner der bedeutenderen Vertreter der Kunst in unsrer Hauptstadt; die ausgezeichneten Verwalter der künstlerischen Anstalten, endlich auch ein fürstlicher, kunstsinniger Freund ehrten das Gedächtniß des Todten durch ihre Gegenwart. Inmitten des Saales stand der Sarg, zu Füßen mit einer Leier, zu Häupten mit einem Lorbeerkranz geschmückt. Blumen bildeten eine freundliche Umgebung, aus der sich fünf Postamente mit Büsten erhoben. Die mittlere war die des Verstorbenen selbst; zur Rechten stand die seiner Gattin, zur Linken die seines großen ihm kurz voran gegangenen Freundes, so daß er von denen, die ihm im Leben die Theuersten gewesen, zunächst umgeben war. An den beiden äußersten Enden waren Fasch und Sebastian Bach, mit sinnvollem Verständniß als diejenigen großen Künstler aufgestellt, denen der Verstorbene unstreitig die Hauptrichtung seines Lebens verdankt. Zu beiden Seiten des Sarges standen die Fest-Pokale beider hiesiger Liedertafeln. Zwar hatte der Verstorbene nur die ältere gestiftet, allein die jüngere, von Ludwig Berger und Bernhard Klein gegründete, hatte ihn von Anbeginn zu ihrem Ehren-Mitgliede erwählt, als welches er derselben bis an sein Ende eben so getreu anhing und fleißig beiwohnte, wie dem Vereine, dessen Schöpfer er war. – Ein von dem ganzen Chor der SingAkademie ernst angestimmter Choral ‚Wen hab’ ich sonst als dich allein‘ begann die Feier. Hiernächst sprach Hr. Professor Schleiermacher eine kurze, aber inhaltreiche Rede, in welcher er mit wenigen Zügen das bedeutsame Lebens [sic!] des Verstorbenen entwarf, und namentlich dessen letzte Lebensaugenblicke, in denen sich gewissermaßen die Summe seiner Bestrebungen als Endresultat zusammendrängte, auf ergreifende Weise berührte. Nach dem Schluß der Rede sang der Chor den Choral: ‚Wenn ich einmal soll scheiden’. – Hierauf wurde der Sarg, von vier und zwanzig Leichen-Marschällen begleitet, hinabgetragen, und der Zug der Folgenden bildete sich in der Ordnung, daß zunächst hinter den Verwandten die vier Vertreter der Institute, denen der Verstorbene im Leben angehört hatte, sich anschlossen. Nämlich: als ältester Vorsteher der Sing-Akademie der Hr. Geheimrath Köhler; als Direktor der Akademie der Künste Hr. Prof. Schadow; als Rektor der Universität Hr. Prof. Marheineke, und als ältester Meister des Maurer-Gewerkes (da Herr Altmeister Siegel verhindert war) Herr Mauermeister Einsiedler. Demnächst schlossen sich die Anwesenden in freier Ordnung Paarweise an. Das Geleite

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Einleitung des Bandherausgebers

geschah zu Fuß, die Wagen folgten in unabsehbarer Reihe hinter den Fußgängern. Der Zug bewegte sich hinter dem Gießhause vorbei über die Friedrichsbrücke nach dem Sophien-Kirchhofe. Das schönste Frühlingswetter verlieh der ernsten Feier eine rührende Milde. Namentlich ward dies auf dem Kirchhofe von Vielen empfunden, wo die im frischesten Grün stehenden Bäume, der heitre Himmel, und der muntre Gesang der Vögel, dem trauernden Zuge ein auf ganz eigene Weise bewegendes Bild des Lebens gegenüberstellten. Nach dreimaligem Accord der Posaunen stimmte der Männerchor der Singakademie an der Gruft den Choral: ‚Jesus meine Zuversicht‘ an. In dem Augenblick wo der Sarg eingesenkt war, und Herr Professor Schleiermacher die segnenden Worte sprach, ertönte von dem Glockenstuhle herab in langsam feierlichen Schlägen die achte Stunde. Selbst das Zufällige scheint in solchen Augenblicken eine ernste Bedeutsamkeit zu gewinnen. – Nachdem Herr Professor Schleiermacher noch einige tief empfundene und darum tief eindringende Worte gesprochen, hob der Männerchor noch einmal den Gesang an: ‚Wenn ich einmal soll scheiden.‘ – Mit den letzten verklingenden Tönen war die wehmüthige Feier geschlossen. Die ernsten Klänge die das Leben des Dahingegangenen geleiteten, trugen und verschönten, wehten ihm auch jenseits der Gruft nach.“94 b) Tod und Begräbnis von Karl Christian Wolfart Am 21. Mai 1832 fand das Begräbnis für den Berliner Praktischen Arzt und Professor der Heilkunde an der Berliner Universität Dr. med. Karl Christian (auch Christian Carl) Wolfart statt. Geboren am 2. Mai 1778 in Hanau, war Wolfart nach längerer Krankheit am 17. Mai verstorben.95 Nachschlagewerke geben häufiger den 18. Mai als Todesdatum an.96 Das Verzeichnis der Verstorbenen der Dreifaltigkeitsgemeinde indes nennt ebenso den 17.,97 wie auch Schleierma94

95 96 97

Königlich privilegirte Zeitung Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitungs-Expedition, vom 19. Mai 1832; der Artikel ist unterzeichnet mit „L. R.“, wohinter sich vermutlich Ludwig Rellstab (1799–1860) verbirgt, der seit 1825, vor allem als Musikkritiker, für die Vossische Zeitung arbeitete. Den Hinweis auf Rellstab verdanke ich Hermann Patsch: Schleiermachers Grabrede auf Carl Friedrich Zelter. Eine kommentierte kritische Edition, Wolfgang Virmond zum 60. Geburtstag, in: Schleiermacher’s „To Cecilie“ and other writings by and about Schleiermacher, ed. Ruth Drucilla Richardson, New Athenaeum/Neues Athenaeum, vol. 6, Lewiston u. a. 2001, S. 58–76, hier: S. 76 Anm. 34. Zu einigen biographischen Details vgl. die Erläuterungen im Sachapparat zu Schleiermachers Grabrede für Wolfart, unten S. 250–254 Vgl. etwa Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 43, S. 789f, hier: 789; dort weitere Artikel zu Wolfart Vgl. Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, KGA III/1, S. 1012

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cher für Donnerstag, den 17. Mai, in seinem Tageskalender „Wolfarts Tod“ notierte.98 Schließlich belegt auch die Traueranzeige der Familie, die erst eine Woche nach Wolfarts Tod und drei Tage nach seinem Begräbnis im Berliner Intelligenz-Blatt erschien, die Richtigkeit dieses Todesdatums: „Am 17ten dieses Monats, Vormittags um 10 Uhr, starb unser geliebter Bruder, der Königl. Professor der Medicin an der hiesigen Universität, Doctor Christian Karl Wolfart, am Nervenschlage, nach vorhergegangenem siebenmonatlichen Krankenlager. Alle hiesige und auswärtige Freunde des Verstorbenen werden unsern unaussprechlichen Schmerz theilen. Berlin, den 20sten May 1832. Wolfart, Geheimer Justiz- und Kammergerichts-Rath. Zugleich im Namen seines Bruders, des Regierungs-Präsidenten Wolfart zu Arnsberg.“99 Bei den Unterzeichneten handelte es sich um die beiden Brüder Wolfarts, die Juristen Johann Heinrich Wolfart (gestorben vermutlich 1836) und Philipp Ludwig (Philip-Ludwig) Wolfart (1775– 1855), der 1831 von Berlin als Regierungspräsident nach Arnsberg in der preußischen Provinz Westfalen berufen worden war. Wolfart wohnte zuletzt in der Taubenstraße 7, gehörte also zur Parochie der Dreifaltigkeitsgemeinde. Anders als bei Zelter gibt es auch sonst keinerlei Hinweise darauf, dass es sich bei Wolfarts Bestattung um etwas anderes als ein ganz normales Begräbnis gehandelt hat. Zeitungsberichte wie im Fall Zelters scheint es nicht gegeben zu haben, obwohl auch Wolfart zeitweilig, nicht zuletzt als prominenter Vertreter des von Franz (auch Friedrich) Anton Mesmer (1734–1815) begründeten und vertretenen sogenannten animalischen Magnetismus, eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte.100 Schleiermacher notierte für Montag, den 21. Mai, in seinem Tageskalender „NM [= Nachmittags] Wolfarts Begräbniß“.101 Der Verstorbene wurde auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde vor dem Potsdamer Tor in einem Familiengrab beigesetzt.102 c) Werdegang, Tod und Bestattung von Ludwig August Heegewaldt Nach einem längeren Lungenleiden verstarb am 25. Mai der Theologe und designierte Berliner Prediger Ludwig August Heegewaldt.103 Die Beisetzung erfolgte drei Tage später, am 28. Mai. 98 99 100 101 102 103

SN 452 Berliner Intelligenz-Blatt, vom 24. Mai 1832 (S. 3577) Zu Details und Belegen vgl. die Erläuterungen im Sachapparat zu Schleiermachers Grabrede, unten S. 250–254 SN 452 Vgl. Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, KGA III/1, S. 1012 Vgl. a. a. O., S. 1013

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Einleitung des Bandherausgebers

Geboren am 20. September 1797 in Berlin als Sohn des späteren Geheimen Hofrats Johann David Heegewaldt (1773–1850), hatte Heegewaldt zunächst die Laufbahn als Kaufmann eingeschlagen, sich dann aber entschlossen, Theologie zu studieren. Zum Sommersemester 1821 oder Wintersemester 1821/1822 nahm er das Studium an der Universität Bonn auf.104 Am 7. Mai 1823 immatrikulierte er sich dann an der Universität in Berlin; am 30. März 1825 erfolgte, unter dem Hinweis „rite abgegangen“, die Exmatrikulation.105 Nach Beendigung seines Studiums begab sich Heegewaldt zur weiteren praktischen Ausbildung an das zu diesem Zweck von Friedrich Wilhelm III. 1816 eingerichtete106 und 1817 feierlich eröffnete Predigerseminar in Wittenberg.107 Vom Königlichen Konsistorium der Provinz Brandenburg wurde Heegewaldt 1830 durch öffentliche Bekanntmachung im Amtsblatt „für wahlfähig zum Predigtamte“ erklärt.108 Die Möglichkeit einer Anstellung als Pfarrer in Berlin eröffnete sich für Heegewaldt, nachdem der erste Prediger der Jerusalemskirche August Christian Wilhelm Grunow (1764–1831) verstorben war.109 Zu seinem Nachfolger wählte der Magistrat der Stadt Berlin in seiner Eigenschaft als Patron der Kirche am 18. Oktober 1831 den bisheri104

105 106 107

108 109

Das gedruckte „Verzeichniss der auf der Universität Bonn immatriculirten Studirenden im Winter-Semester 1821–1822“ führt ihn als „Hägewald“ und nennt als Datum der Immatrikulation den 13. Juli 1821. Vgl. Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1810–1850, bearbeitet v. Peter Bahl, Bd. 1–3, Berlin/New York 2010, Bd. 1, S. 233 Vgl. die Kabinettsorder vom 27. Mai 1816, abgedruckt bei Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche, Bd. 1, S. 423–428, hier: S. 424 Vgl. Johannes Hennig: Ein junger Freund Schleiermachers und Neanders, in: Theologische Studien und Kritiken N. F. 106 (1934/35), S. 403–405, hier: S. 403. Hennig konnte auf einen eigenhändig geschriebenen Lebenslauf zurückgreifen, den Heegewaldt 1829 beim Konsistorium – mit hoher Wahrscheinlichkeit der Provinz Brandenburg – eingereicht hatte und der sich 1934/35 in privatem Besitz der Familie Heegewaldt in Hamburg befand; der Verbleib dieses Lebenslaufs konnte nicht aufgeklärt werden. Eine Personalakte zu Heegewaldt existiert weder im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin noch im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin. Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jahrgang 1830, Potsdam 1830, S. 288 Bis 1830 hatten Jerusalems- und Neue Kirche einen Verbund unter einem gemeinsamen geistlichen Ministerium aus zwei lutherischen, zwei reformierten Predigern sowie einem lutherischen Frühprediger gebildet. Nachdem 1829 die Union aus lutherischer und reformierter Gemeinde eingeführt worden war, wurde 1830 der Verbund der beiden Kirchen aufgelöst. Die Jerusalemskirche erhielt die bisherige erste lutherische und zweite reformierte, die Neue Kirche die bisherige erste reformierte und zweite lutherische Pfarrstelle. Die Stelle eines Früh- und Hilfspredigers blieb beiden Kirchen gemeinsam. Vgl. Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, hg. vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband, Bd. 1: Verzeichnis der Pfarrstellen und der Pfarrer, bearbeitet v. Otto Fischer, Berlin 1941, S. 23

I. Historische Einführung

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gen zweiten Prediger August Deibel (1790–1858) und zugleich den bisherigen Früh- und Hilfsprediger an der Jerusalems- und Neuen Kirche Karl Gottlob Bräunig (1801–1859) zum zweiten Prediger an der Jerusalemskirche.110 Während die Wahl Deibels keinerlei Verwicklungen nach sich gezogen zu haben scheint, musste der Magistrat am 14. November das Königliche Konsistorium der Provinz Brandenburg ausdrücklich um Bestätigung der Wahl Bräunigs und um Veranlassung seiner Einführung bitten.111 Weitere Auseinandersetzungen zwischen Magistrat und Konsistorium folgten und ließen das Besetzungsverfahren zunächst nicht zu einem erfolgreichen Abschluss kommen. Gleichwohl berief der Magistrat, in der Auffassung, durch seine Wahl Bräunigs sei die Stelle, die dieser bisher innegehabt hatte, frei geworden, am 23. März 1832 Heegewaldt zum Früh- und Hilfsprediger an der Jerusalems- und Neuen Kirche: „Ein Hochehrwürdiges Ministerium und den Vorstand der Jerusalems- und Neuen Kirche benachrichtigen wir, daß zu der durch den Tod des Herrn Predigers Grunow und die Ascension der Herren Prediger Deibel und Bräunig erledigten Früh- und Hilfs-Prediger-Stelle, der Kandidat des Predigt-Amts Herr Ludwig August Heegewaldt von uns gewählt und die für denselben heut ausgefertigte Vokation, ihm mit der Aufforderung übersandt worden ist, solche dem Königlichen Konsistorium der Provinz Brandenburg mit der Bitte um Bestättigung schleunig einzureichen, auch zugleich seine Ordination und die Einführung in das Amt nachzusuchen. Herr p. Heegewaldt ist übrigens durch Krankheit bisher verhindert gewesen, die § 329 Tit. 11. Theil 2. des Allgemeinen Landrechts vorgeschriebene Gastpredigt zu halten, und wird deren Abhaltung aus demselben Grunde auch jetzt noch etwas verschoben werden müssen. Berlin, den 23. März 1832. Oberbürgermeister, Bürgermeister und Rath hiesiger Königlichen Residenzien.“112 Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 1794 bestimmte in dem genannten Paragraphen: „Das von dem Patrone ausgewählte Subjekt muß der Gemeine vorgestellt, und zur Haltung einer Probepredigt und Catechisation angewiesen werden.“113 Über den Status der Wahl und Berufung durch den Magistrat ist das Besetzungsverfahren bis zu Heegewaldts Tod offensichtlich nicht hinausgelangt. Weitere Dokumente scheinen sich nicht erhalten zu haben; aber aus Sicht des Konsistoriums gab es gleich zwei gute Gründe, 110 111 112 113

Vgl. ELAB 14/4114, unfoliiert Vgl. ELAB 14/4114, unfoliiert; ELAB 10408/520, Bl. 109r ELAB 10408/520, Bl. 111r–v Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 [Zweyter Theil, Eilfter Titel: Von den Rechten und Pflichten der Kirchen und geistlichen Gesellschaften, §. 329], Textausgabe, Frankfurt a. M./Berlin 1970, S. 554

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Einleitung des Bandherausgebers

keine weiteren Schritte zu unternehmen. Zum einen blieb Heegewaldt durch seine Krankheit bis zu seinem Tod am 25. Mai daran gehindert, die obligatorische Probepredigt zu halten. Zum andern sah das Konsistorium wegen des schwebenden Besetzungsverfahrens Bräunig die Stelle eines Früh- und Hilfspredigers an der Jerusalems- und Neuen Kirche als gar nicht vakant an: als es Bräunigs Wahl und Berufung auf die zweite Pfarrstelle der Jerusalemskirche durch den Magistrat nach langen Auseinandersetzungen am 20. August 1832 – knapp drei Monate nach Heegewaldts Tod – endlich bestätigte, galt diese Bestätigung immer noch dem bisherigen Früh- und Hilfsprediger an der Jerusalems- und Neuen Kirche.114 Zwischen Heegewaldt und Schleiermacher gab es verschiedene biographische Berührungspunkte. Während seiner Berliner Studienzeit besuchte Heegewaldt regelmäßig in jedem Semester mindestens eine Vorlesung Schleiermachers: im Sommersemester 1823 die über den Römerbrief, im Wintersemester 1823/24 die zur Dogmatik, im Sommersemester 1824 die über das Matthäusevangelium und zur Praktischen Theologie, im Wintersemester 1824/25 schließlich das Kolleg zur Christlichen Sittenlehre. Der Besuch dieser Vorlesungen ist durch Nachschriften Heegewaldts dokumentiert.115 Am 31. Juli 1831 hielt er als Kandidat des Predigtamtes für Schleiermacher die Frühpredigt in der Dreifaltigkeitskirche.116 Heegewaldt war nicht nur als Theologiestudent und Kandidat des Predigtamtes beruflich mit Schleiermacher verbunden; er verkehrte auch privat im Hause Schleiermacher und war verlobt mit Luise Fischer, der Tochter der mit Schleiermachers Ehefrau befreundeten Karoline Fischer, die als eine Art Pflegetochter im Hause Schleiermacher lebte.117 Angesichts dieser nahen Beziehungen verwundert es nicht, dass Schleiermacher nur einen Tag nach Heegewaldts Tod einen kurzen Kondolenzbrief an den Vater des Toten, den Geheimen Hofrat Johann David Heegewaldt schrieb, in dem auch sein eigenes enges Verhältnis zum Verstorbenen zur Sprache kommt: „Sie wissen es wohl, mein theurer Herr Hofrath, wie tief ich Ihren und der lieben Mutter Schmerz mit empfinde und wie ich selbst mit betroffen bin von diesem Schlage. Es wird mir ein schweres Geschäft sein, dem ich mich aber 114 115

116 117

Vgl. ELAB 14/4114, unfoliiert Die Nachschriften befinden sich im Schleiermacher-Nachlass im Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin (vgl. SN 531, 538, 549, 553 und 563). Vgl. die Eintragung in Schleiermachers Tageskalender (SN 451); Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, KGA III/1, S. 1002 Vgl. Ehrenfried von Willich: Aus Schleiermachers Hause, Berlin 1909, S. 116–121

I. Historische Einführung

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doch um keinen Preis entziehen möchte, unseres Entschlafenen Hülle zum Grabe zu begleiten.“118 Das ‚schwere Geschäft‘ fand zwei Tage später statt. Unter Montag, dem 28. Mai, notierte Schleiermacher in seinen Tageskalender: „NM [= Nachmittags] Heegewaldts Begräbniß“.119 Die Beisetzung erfolgte auf dem alten Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde vor dem Halleschen Tor.120 Am Tag der Beerdigung erschien auch eine öffentliche Todesanzeige des Familie in der sogenannten Vossischen Zeitung: „Nach mehrwöchentlichen schweren Leiden vollendete gestern Vormittag Ludwig Heegewaldt, designirter Prediger an der hiesigen Jerusalems- und Neuen Kirche, in seinem 35sten Jahre seine irdische Laufbahn. Ueberall, wo man ihn kannte, erwarben ihm sein heller Geist und sein reiches Gemüth theils ausgezeichnetes Wohlwollen, theils die herzlichste Freundschaft: darum werden seine zahlreichen Gönner und Freunde nah und fern ihm gewiß ein liebevolles Andenken schenken; uns aber, seinen aufs tiefste gebeugten Eltern und Geschwistern wird er unvergeßlich seyn. Berlin, den 26sten Mai 1832.“121 Mit der Bestattung war die Trauerangelegenheit für Schleiermacher nicht erledigt und beendet. Der Vater Heegewaldts suchte, vermutlich kurz nach der Beerdigung seines Sohnes, Schleiermacher zuhause auf, traf dort offensichtlich aber nur die Familie an. Am 30. Mai schrieb Schleiermacher ihm: „Es that mir außerordentlich leid, daß ich Sie neulich verfehlt habe; ich trat fast in dem Augenblick in den Garten, nachdem Sie sich entfernt hatten. Aber es freute mich innig, von den Meinigen zu hören, wie erbaulich Ihr Schmerz sich gestaltet und geäußert habe. Habe ich dazu auch nur ein weniges beitragen können: so versichern Sie Sich, daß das zu meinen liebsten Amtsfreuden gerechnet wird. Sie haben so gerechte Ursache, um den Verlust dieses Sohnes zu trauern, daß wohl niemand, am wenigsten aber wer so tief mitfühlt als wie wir, daran denken kann, Ihnen eine Empfindelei zuzuschreiben. Wie unvergessen der liebe Entschlafene in meinem Hause bleiben wird, brauche ich nicht zu versichern. Gott stärke und tröste ferner Sie beide, und lasse Sie in der Mitte der Lieben, die Sie noch umgeben, immer mehr Ihren heiteren Sinn wiederfinden, neben dem der Schmerz doch immer seine Rechnung behalten kann, wie ich 118 119 120

121

Hennig: Ein junger Freund Schleiermachers und Neanders, S. 404 SN 452 Vgl. Meckenstock: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, KGA III/1, S. 1013; die Angaben dort beruhen auf dem Totenbuch der Dreifaltigkeitsgemeinde im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin. Königlich privilegirte Zeitung Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitungs-Expedition, vom 28. Mai 1832

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Einleitung des Bandherausgebers

das täglich an mir selbst erfahre. Meine herzlichen Grüße an die liebe Mutter und meinen Dank für die zärtliche Liebe, die sie dem lieben Freunde bis zu seiner letzten Stunde erwiesen hat. Schleiermacher.“122

6. Schleiermachers Predigtdrucke und ihre literarische Rezeption 34 Predigten aus dem Jahr 1832 ließ Schleiermacher selbst publizieren. Dazu gehörten sämtliche Reden, die er in den Hauptgottesdiensten am Vormittag gehalten hatte. Sie wurden noch 1832 in den sogenannten Reihen 2 und 3 bzw. 1833 in der Reihe 4,123 ohne Angabe von Ort, Jahr und Verlag, von seinem Freund und Verleger Georg Andreas Reimer gedruckt. Da Schleiermachers eigene schriftliche Vorbereitung seiner Predigten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit lediglich die Gestalt einer Disposition hatte, wie sie aus dem Jahr 1832 nur für die Predigt am 8. April erhalten ist,124 war er für die Publikation auf die Verwendung von Predigtnachschriften angewiesen, die er dann einer stilistischen und inhaltlichen Überarbeitung unterzog. Im Fall der Reihen 2 bis 4 stellte ihm vermutlich Friedrich Wilhelm Zabel Nachschriften zur Verfügung. Zabel studierte von Dezember 1827 bis Februar 1832 in Berlin Theologie und war regelmäßiger Predigthörer Schleiermachers. Nach eigenen Angaben hat er „im Verein mit einem Freunde die Nachschriften angefertigt, aus welchen der verstorbene Verfasser [scilicet: Schleiermacher] die seit dem Jahr 1830 erschienenen Hauptpredigten edirt hat“125. Sechs der in den Reihen 2 bis 4 bereits veröffentlichten Hauptpredigten aus dem Jahr 1832 nahm Schleiermacher überdies in seine „Christlichen Festpredigten“126 auf und überarbeitete sie abermals stilistisch für diese erneute Drucklegung.127 122 123

124 125 126 127

Hennig: Ein junger Freund Schleiermachers und Neanders, S. 404f Eigentlich hatte Schleiermacher es bei den ersten drei Reihen belassen wollen. An seinen Schüler, Freund und Amtsbruder Ludwig Jonas schrieb er am 18. November 1832: „Lieber Freund, hier erhältst Du [...] das dritte Duzend Predigten. Ich wollte – aller guten Dinge drei – damit schließen, um die Zeit für die Dialektik zu gewinnen, ich habe mich aber doch durch Knobloch wieder breit schlagen lassen, wie es denn am Ende schwer ist sich einem solchen Wunsche rund heraus zu weigern.“ (SBB, Nachlass Ludwig Jonas, Mappe 7, Bl. 40r–41v, hier: 40r) Vgl. unten S. 164f Predigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser, hg. v. Friedrich Zabel, Erster Theil, Berlin 1835 (SW II/5), S. IIIf Christliche Festpredigten, Bd. 2 [Nebentitel: Predigten, 7. Sammlung], Berlin 1833 (s. KGA III/2) Es handelt sich um die Predigten am 25. März (Oculi), 16. Mai (Bußtag), 11. Juni (Pfingstmontag), 25. November (Totensonntag), 23. Dezember (4. Sonntag im Advent) und 26. Dezember (2. Weihnachtstag).

I. Historische Einführung

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Als Einzeldruck ließ Schleiermacher, ebenfalls bei Georg Reimer, die Predigt erscheinen, die er am 19. Februar anlässlich des von König Friedrich Wilhelm III. anberaumten Dankgottesdienstes für die Befreiung von der Choleraepidemie im Frühgottesdienst gehalten hatte.128 Drei Kasualansprachen aus dem Jahr 1832 schließlich wurden 1834 im „Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, als: Abendmahls-, Beicht-, Confirmations-, Einweihungs-, Grab-, Tauf-, Trau- und Verlobungsreden“ gedruckt. Dabei handelte es sich um die Konfirmationspredigt vom 19. April (Gründonnerstag)129 sowie die Begräbnisreden für den Arzt und Medizinprofessor Karl Christian Wolfart vom 21. Mai130 und für den Theologen Ludwig August Heegewaldt vom 28. Mai131. Vom „Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden“ wurden zwischen 1829 und 1842 in unregelmäßigen Abständen acht Bände im Verlag von (Gotthelf Theodor) Wilhelm (von) Heinrichshofen (1782–1881) in Magdeburg publiziert. In der Regel lieferten die an einem Band beteiligten Verfasser nicht nur einen Beitrag, sondern gleich eine kleinere Anzahl von Kasualansprachen und erschienen alle auf dem Titelblatt als Herausgeber des jeweiligen Bandes. So erklärt sich, dass auch Schleiermacher für den vierten Band aus dem Jahr 1834 als Herausgeber genannt wird. Er steuerte für diesen Band insgesamt fünf Kasualansprachen bei. Neben den drei genannten aus dem Jahr 1832 waren dies eine weitere Konfirmationsrede, nämlich vom 30. März 1833132, sowie die berühmte Predigt beim Begräbnis seines eigenen Sohns Nathanael vom 1. November 1829133. Der vierte Band vom „Magazin“ erschien erst am 19. September 1834,134 also etwa sieben Monate nach Schleiermachers Tod. Direkte 128

129 130 131 132 133

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Predigt am Sonntage Septuagesimä 1832 als am Dankfest nach der Befreiung von der Cholera in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen von Dr. Fr. Schleiermacher, Berlin 1833; siehe oben Einleitung I. 4. Confirmationsrede, in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 268–272 Rede am Grabe des Professor Dr. K. W., in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 276–279 Rede am Grabe, in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 273–275 Confirmationsrede, in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 263–267 (s. KGA III/14) Rede an Nathanaels Grabe den 1. November 1829, in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 280–285 (s. KGA III/11) Vgl. Wichmann von Meding: Bibliographie der Schriften Schleiermachers, nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, SchlA 9, Berlin/New York 1992, S. 85

XL

Einleitung des Bandherausgebers

Zeugnisse darüber, wie es zur Veröffentlichung dieser Kasualreden gekommen ist, liegen nicht vor. Weder lässt sich eine Ausarbeitung der Ansprachen durch Schleiermacher selbst belegen, noch gibt es irgendwelche Indizien für die Beteiligung Dritter am Zustandekommen dieser Publikation. Eine verlegerische Beziehung Schleiermachers zu Heinrichshofen bestand seit langem: Im Vorgängerorgan des „Magazin“, dem „Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden“135, hatte Schleiermacher zwischen 1823 und 1829 zahlreiche Predigten drucken lassen. Schon dies könnte für die Vermutung sprechen, er selbst habe auch in diesem Fall die Veröffentlichung in die Wege geleitet. Einen weiteren Hinweis auf Schleiermachers unmittelbare Autorschaft kann man vielleicht in der Tatsache erblicken, dass das Titelblatt des Magazinbandes von 1834 ihn selbst ohne jeden Zusatz als Herausgeber nennt; dass Schleiermacher zwischenzeitlich verstorben ist, geht nirgends hervor. Ein letztes indirektes Indiz dafür, dass Schleiermacher selbst für die Publikation verantwortlich gewesen sein dürfte, lässt sich vermutlich einem Brief entnehmen, den Friedrich Zabel am 4. September 1835 an Schleiermachers literarischen Nachlassverwalter Ludwig Jonas schrieb: „Euer HochEhrwürden, beehre ich mich anliegend einige Confirmationsreden des seeligen Schleiermacher für das Heinrichshofensche Magazin oder sonstigen beliebigen Gebrauch zu stellen. Die von 1832 empfehle ich namentlich Ihrer gefälligen Durchsicht und nachbessernden Hülfe, da ich mir bewußt bin, sie schlecht nachgeschrieben zu haben; ich selbst aber habe die Abschrift jetzt umso weniger einer Feile unterwerfen wollen, als es mehr als unbescheiden sein würde, Ihnen hierin vorgreifen zu wollen. – Auf Hrn. Heinrichshofen’s Schreiben habe ich übrigens nicht geantwortet, u[nd]. würde ich es daher gern sehen, falls es Ihnen nicht unangenehm wäre, wenn Sie ihm mit wenigen Worten andeuteten, daß er sich mit seinem Gesuch an Sie zu wenden hätte. Mit unbegrenzter Hochachtung Euer HochEhrwürden ergebenster F. Zabel“.136 Leider ließen sich weder das erwähnte Schreiben Heinrichshofens noch eine sich anschließende Korrespondenz zwischen ihm und Jonas ermitteln; man bleibt daher auf Vermutungen angewiesen. Demnach hätte sich Heinrichshofen an Zabel gewandt mit der Frage, ob Zabel über Predigten Schleiermachers verfüge, die zur Veröffentlichung im „Magazin“ geeignet sein könnten. Wäre nun die Publikation aus dem Jahr 1834 nicht von Schleiermacher selbst, sondern bereits von seinem literarischen Nachlassverwalter Jonas in die Wege geleitet worden, hätte Heinrichshofen wissen müssen, dass 135 136

Bd. 1–6, Magdeburg 1823–1829 SBB, Depositum 3 (Ludwig Jonas), Kasten 1, Mappe 89, Nr. 101

I. Historische Einführung

XLI

Jonas die richtige Adresse für seine Anfrage gewesen wäre. Die Annahme, nicht Jonas, sondern Zabel habe die Veröffentlichung von 1834 initiiert, ist ausgeschlossen, schickte er doch mit seinem Brief an Jonas unter anderem seine Nachschrift der Konfirmationspredigt von 1832, die ja gerade zu den Kasualreden Schleiermachers gehörte, die im Magazinband von 1834 bereits publiziert worden waren. Man könnte erwägen, der Brief an Jonas sei von Zabel selbst irrtümlicherweise falsch datiert worden und stamme in Wirklichkeit vom 4. September 1834, sei also gerade dasjenige Dokument, das die Publikationsgeschichte der Kasualreden aufkläre. Gegen diese Erwägung spricht Zweierlei: Wenn Zabel seine Materialien tatsächlich am 4. September 1834 an Jonas zur weiteren Überarbeitung und Verwendung überstellt hätte, hätte der Magazinband vermutlich kaum bereits am 19. September der Öffentlichkeit fertig vorliegen können; vor allem aber hätte es im Jahr 1834 für Heinrichshofen überhaupt keine Veranlassung gegeben, sich mit seiner Anfrage an Zabel zu wenden; eine solche Veranlassung bot nämlich erst die Edition, die Zabel auf der Grundlage eigener Predigtnachschriften von Schleiermachers Homilien zum Kolosserbrief und zum Markusevangelium veranstaltete und die eben im Jahr 1835 erschien.137 Ganz wasserdicht freilich ist diese indirekte Argumentation für Schleiermachers unmittelbare Autorschaft der Magazinveröffentlichungen von 1834 nicht: Man kann die Möglichkeit nicht völlig ausschließen, dass Jonas als Nachlassverwalter für die Publikation verantwortlich war, Heinrichshofen sich aber gleichwohl nicht an ihn, sondern ganz bewusst an Zabel wandte, denn schließlich hatte Zabel seine Schleiermacher-Homilien zunächst an den Herausgebern der ‚Sämmtlichen Werke‘ vorbei veranstaltet, gab also einem Verleger Anlass zur Vermutung, hier sei möglicherweise eine weitere Quelle veröffentlichungsfähiger Nachlassmaterialien. – Eine literarische Rezeption der von Schleiermacher selbst publizierten Predigten aus dem Jahr 1832 lässt sich für die Zeit bis zu seinem Tod derzeit nicht nachweisen. Die postum von Friedrich Zabel herausgegebenen Homilien Schleiermachers über das Markusevangelium sind 1836 besprochen worden.138

137 138

Vgl. Predigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser (SW II/5) Vgl. Theologisches Literaturblatt, Jahrgang 1836, hg. v. Georg Zimmermann, Darmstadt 1836, Sp. 388–390; Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1836, Bd. 4. Die Ergänzungsblätter dieses Jahrgangs enthaltend, Halle/Leipzig 1836, Sp. 236–239

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Einleitung des Bandherausgebers

II. Editorischer Bericht Der editorische Bericht informiert über die einheitlich für alle Bände der III. Abteilung geltenden Grundsätze139 zur Textgestaltung (1.) und zur Druckgestaltung (2.), außerdem über die Quellentexte des vorliegenden Bandes und die spezifischen Verfahrensweisen angesichts der jeweiligen Textbeschaffenheit (3.).

1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen Die allgemeinen Regeln der Textgestaltung für alle Textzeugen werden für Manuskripte spezifiziert und zwar in einem abgestuften Verfahren. Die von Schleiermachers Hand geschriebenen Predigtentwürfe und Predigtverschriftungen werden mit ausführlichen Nachweisen zum Entstehungsprozess versehen. Die Nachschriften von fremder Hand erhalten in einem vereinfachten Editionsverfahren nur knappe Apparatbelege. A. Allgemeine Regeln Für die Edition aller Gattungen von Textzeugen (Drucke und Manuskripte) gelten folgende Regeln: a. Alle Textzeugen werden in ihrer letztgültigen Gestalt wiedergegeben. b. Wortlaut, Schreibweise und Zeichensetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise und Zeichensetzung, wo häufig nicht entschieden werden kann, ob eine Eigentümlichkeit oder ein Irrtum vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung und Abfolge von Zeichen (z. B. für Abkürzungen oder Ordnungsangaben), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, in der Regel stillschweigend vereinheitlicht. Verweiszeichen für Anmerkungen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben. Nach Ziffern und Buchstaben, die in einer Aufzählung die Reihenfolge markieren, wird immer ein Punkt gesetzt. Sekundäre Bibelstellennachweise, editorische Notizen und Anweisungen an den Setzer werden stillschweigend übergangen. Dasselbe gilt für Kustoden, es sei denn, dass sie für die Textkonstitution unverzichtbar sind. 139

Vgl. KGA III/1, S. IX–XX

II. Editorischer Bericht

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c. Offenkundige Druck- oder Schreibfehler und Versehen werden im Text korrigiert. Im textkritischen Apparat wird – ohne weitere Angabe – der Textbestand des Originals angeführt. Die Anweisungen von Druckfehlerverzeichnissen werden bei der Textkonstitution berücksichtigt und am Ort im textkritischen Apparat mitgeteilt. Bei den Predigtnachschriften fremder Hand gilt generell die Regel C.g. d. Wo der Zustand des Textes eine Konjektur nahelegt, wird diese mit der Angabe „Kj ...“ im textkritischen Apparat vorgeschlagen. Liegt in anderen Texteditionen bereits eine Konjektur vor, so werden deren Urheber und die Seitenzahl seiner Ausgabe genannt. e. Sofern beim Leittext ein Überlieferungsverlust vorliegt, wird nach Möglichkeit ein sekundärer Textzeuge (Edition, Wiederabdruck) oder zusätzlich ein weiterer Zeuge unter Mitteilung der Verfahrensweise herangezogen. f. Liegt ein gedruckter Quellentext in zwei oder mehr von Schleiermacher autorisierten Fassungen (Auflagen) vor, so werden die Textabweichungen in einem Variantenapparat mitgeteilt. Dessen Mitteilungen sollen in der Regel allein aus sich heraus ohne Augenkontakt mit dem Text verständlich sein. Zusammengehörige Textveränderungen sollen möglichst in einer Notiz erfasst werden. Leichte Ersichtlichkeit von einzelnen Textveränderungen und deutliche Verständlichkeit von neuen Sinnprofilierungen sind für den Zuschnitt der Notizen maßgeblich. Der Variantenapparat wird technisch wie der textkritische Apparat gestaltet und möglichst markant mit dem Text verknüpft. g. Hat Schleiermacher für die Ausarbeitung eines Drucktextes eine Predigtnachschrift genutzt, so wird diese Nachschrift, falls sie im Textbestand deutlich abweicht, zusätzlich geboten. Für die beiden Textzeugen gelten die jeweiligen Editionsregeln. B. Manuskripte Schleiermachers Für die Edition der eigenhändigen Manuskripte Schleiermachers gelten folgende Regeln: a. Abbreviaturen (Kontraktionen, Kürzel, Chiffren, Ziffern für Silben), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) in der üblichen Schreibweise ausgeschrieben. Die Abbreviaturen mit ihren Auflösungen werden im textkritischen Apparat oder im Editorischen Bericht mitgeteilt. Die durch Überstreichung bezeichnete Ver-

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Einleitung des Bandherausgebers

doppelung von m und n, auch wenn diese Überstreichung mit einem U-Bogen zusammenfällt, wird stillschweigend vorgenommen. Abbreviaturen, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird gegebenenfalls im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. In allen Fällen, wo (z. B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei verkürzten Endsilben) aufgrund von Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abbreviatur zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. b. Geläufige Abkürzungen einschließlich der unterschiedlichen Abkürzungen für die biblischen Bücher werden im Text belassen und im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. Für die Abkürzungen in Predigtüberschriften (zu Ort und Zeit) erfolgt die Auflösung im editorischen Kopftext der Predigt, in den Apparaten oder im Abkürzungsverzeichnis. Der oftmals fehlende Punkt nach Abkürzungen wird einheitlich immer gesetzt. c. Unsichere Lesarten werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: PnochS) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: PauchS] oder PnochS) vorgeschlagen. d. Ein nicht entziffertes Wort wird durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. e. Überlieferungslücken. Weist ein Manuskript Lücken im Text oder im Überlieferungsbestand auf und kann die Überlieferungslücke nicht durch einen sekundären Textzeugen gefüllt werden (vgl. oben A.e.), so wird die Lücke innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Eine größere Lücke wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. f. Auffällige Textgestaltung wird im Editorischen Bericht oder bei Bedarf im textkritischen Apparat beschrieben (beispielsweise Lükken in einem fortlaufenden Satz oder Absatz). g. Belege für den Entstehungsprozess (wie Zusätze, Umstellungen, Streichungen, Wortkorrekturen, Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. Wortkorrekturen, Streichungen und Hinzufügungen werden,

II. Editorischer Bericht

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wenn sie zusammen eine komplexe Textänderung ausmachen, durch die Formel „geändert aus“ zusammengefasst. h. Zusätze, die Schleiermacher eindeutig in den ursprünglichen Text eingewiesen hat, werden im Text platziert und im textkritischen Apparat unter Angabe des ursprünglichen Ortes und der Formel „mit Einfügungszeichen“ nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der ursprüngliche Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. i. Sind im Manuskript Umstellungen von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen und Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. j. Streichungen. Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern mitgeteilt und dabei der Ort im Manuskript relativ zum Bezugswort angegeben (z. B. durch die Formel „folgt“). Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen. k. Korrekturen Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). l. Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare Entstehungsstufen vor, so werden sie in der Regel jeweils vollständig aufgeführt. m. Fehlende Wörter und Zeichen werden in der Regel im Text nicht ergänzt. Fehlende Wörter, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im textkritischen Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ vorgeschlagen. Fehlende Satzzeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern hinzugefügt. Sofern das besonders gestaltete Wortende, das Zeilenende, das Absatzende oder ein Spatium innerhalb der Wortfolge offensichtlich

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Einleitung des Bandherausgebers

ein bestimmtes Interpunktionszeichen (Punkt, Komma, Semikolon, Gedankenstrich, Doppelpunkt) vertritt, werden solche Zeichen stillschweigend ergänzt. Genauso ergänzt werden fehlende Umlautzeichen sowie bei vorhandener Anfangsklammer die fehlende Schlussklammer. n. Sofern Schleiermacher bei seiner Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand vereinzelt offenkundige Schreibfehler und Versehen der Nachschrift nicht korrigiert oder irrtümlich eine Streichung falsch vorgenommen hat, wird stillschweigend der intendierte Textbestand geboten. Anweisungen zur Textgestaltung, die Schleiermacher bei der Überarbeitung notiert hat, werden stillschweigend berücksichtigt. C. Predigtnachschriften Für die Edition der nicht von Schleiermacher stammenden Predigtnachschriften gelten folgende Regeln: a.–f. Die vorangehend unter Nr. B. a.–f. genannten Editionsregeln gelten unverändert. g. Offenkundige Schreibfehler und Versehen werden im Text stillschweigend im Sinne der üblichen Schreibweise und ohne Apparatnachweis korrigiert, entweder wenn die Korrektur durch einen zuverlässigen Paralleltext bestätigt wird oder wenn es sich, falls kein Paralleltext überliefert ist, um Verdoppelung von Silben, Worten oder Wortgruppen, um falsche Singular- bzw. Pluralbildung, falsche Kleinschreibung oder Großschreibung von Wörtern, falsches Setzen oder Fehlen von Umlautzeichen, falsche graphische Trennung von Wortbestandteilen oder Verknüpfung von Wörtern, Fehlen des Konsonantenverdoppelungsstrichs, um unvollständige Zitationszeichen (fehlende Markierung des Zitatanfangs oder Zitatendes), unvollständige Einklammerung und Ähnliches handelt. Sind offenkundig bei Streichungen und Korrekturen versehentlich Fehler unterlaufen, so wird der intendierte Textbestand stillschweigend geboten. h. Einzelheiten des Entstehungsprozesses (Streichungen, Zusätze, Korrekturen, Umstellungen und Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat nicht nachgewiesen, auch nicht der Wechsel von Schreiberhänden und die Unterschiede in der graphischen Gestaltungspraxis. Nicht einweisbare Zusätze oder Anmerkungen auf dem Rand werden in Fußnoten mitgeteilt. i. Fehlende Wörter und Zeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern ergänzt.

II. Editorischer Bericht

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j. Hervorhebungen bleiben unberücksichtigt. Die thematische Gliederungsübersicht innerhalb einer Predigt wird in der Regel als Block eingerückt. k. Textüberarbeitungen Schleiermachers. Bei einer von Schleiermacher markant und ausführlich bearbeiteten Nachschrift wird sowohl der von Schleiermacher hergestellte Text als auch der zugrunde liegende Text der Nachschrift ediert. Hat Schleiermacher in einer Nachschrift nur vereinzelt Korrekturen, Ergänzungen oder Kommentierungen vorgenommen, so werden diese möglichst gebündelt als Fußnoten mitgeteilt. D. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen. a. Zitate und Verweise werden im Sachapparat nachgewiesen. Für die von Schleiermacher benutzten Ausgaben werden vorrangig die seiner Bibliothek zugehörigen Titel berücksichtigt.140 b. Zu Anspielungen Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist. c. Bei Bibelstellen wird ein Nachweis nur gegeben, wenn ein wortgetreues bzw. Worttreue intendierendes Zitat gegeben wird, eine paraphrasierende Anführung von biblischen Aussagen vorliegt oder auf biblische Textstellen förmlich (z. B. „Johannes sagt in seinem Bericht …“) Bezug genommen wird. Geläufige biblische Wendungen werden nicht nachgewiesen. Für den einer Predigt zugrunde liegenden Bibelabschnitt werden in dieser Predigt keine Einzelnachweise gegeben. Andere Bibelstellen, auf die in einer Predigt häufiger Bezug genommen wird, werden nach Möglichkeit gebündelt nachgewiesen. Weicht ein ausgewiesenes Bibelzitat vom üblichen Wortlaut ab, so wird auf diesen Sachverhalt durch die Nachweisformel „vgl.“ hingewiesen. E. Editorischer Kopftext Jeder Predigt – ausgenommen sind die gedruckten ‚Sammlungen‘ (vgl. KGA III/1–2) und die Manuskripthefte ‚Entwürfe‘ (vgl. KGA III/3) – wird ein editorischer Kopftext vorangestellt. 140

Vgl. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, in: KGA I/15, S. 637–912

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Einleitung des Bandherausgebers

a. Bestandteile. Der editorische Kopftext informiert über den Termin, den Ort, die ausgelegten Bibelverse, den Textzeugen sowie gegebenenfalls über Parallelzeugen und Besonderheiten. Die Textzeugen werden durch das Genus, die Archivalienangabe und gegebenenfalls den Namen der Autoren/Tradenten von Nachschriften charakterisiert. Sind Autoren und Tradenten verschiedene Personen und namentlich bekannt, werden beide mitgeteilt. b. Verfahrenshinweise. Bei Nachschriften wird gegebenenfalls über vorhandene Editionen des vorliegenden Textzeugen, bei Drucktexten gegebenenfalls über Wiederabdrucke Auskunft gegeben. Bei Wiederabdrucken von Druckpredigten werden keine Auszüge oder Referate berücksichtigt, sondern nur vollständige Textwiedergaben bibliographisch mitgeteilt. Wenn von einer in der jetzigen Publikation als Textzeuge genutzten Predigtnachschrift bereits eine leicht abweichende Version desselben Tradenten ediert worden ist, so wird diese frühere Publikation unter dem Stichwort „Texteditionen“ aufgeführt und als „Textzeugenparallele“ charakterisiert. Wird zu einem Drucktext Schleiermachers eine vorhandene Predigtnachschrift nicht als Textzeuge ediert, so wird diese Nachschrift unter dem Stichwort „Andere Zeugen“ genannt. Die Angaben zum editorisch ermittelten Bibelabschnitt können von den Angaben des Textzeugen abweichen.

2. Druckgestaltung Die Druckgestaltung soll die editorische Sachlage bei den unterschiedlichen Gattungen von Textzeugen möglichst augenfällig machen. A. Seitenaufbau a. Satzspiegel. Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals gegebenenfalls mit Fußnoten, gegebenenfalls Variantenapparat, textkritischer Apparat, Sachapparat. Text, Fußnoten und Variantenapparat erhalten eine Zeilenzählung auf dem Rand. b. Die Beziehung der Apparate auf den Text erfolgt beim textkritischen Apparat und beim Variantenapparat dadurch, dass unter Angabe der Seitenzeile die Bezugswörter aufgeführt und durch eine eckige Klammer (Lemmazeichen) von der folgenden Mitteilung abgegrenzt werden. Beim Sachapparat wird die Bezugsstelle durch Zeilenangabe bezeichnet; der editorische Kopftext samt vorangestellter Überschrift wird als Zeile Null gezählt.

II. Editorischer Bericht

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B. Gestaltungsregeln a. Schrift. Um die Predigtnachschriften fremder Hand graphisch von den Drucktexten Schleiermachers sowie von seinen eigenhändigen Manuskripten abzuheben, werden erstere in einer serifenlosen Schrift (Myriad) mitgeteilt. Dies gilt auch für die Fälle, in denen eine Predigtnachschrift nur in Gestalt eines nicht von Schleiermacher autorisierten Drucktextes als sekundärer Quelle vorliegt. Der Text des Originals wird einheitlich recte wiedergegeben. Bei der Wiedergabe von Manuskripten wird deutsche und lateinische Schrift nicht unterschieden. Graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ordinalzahlen, die durch Ziffern und zumeist hochgestellten Schnörkel oder Endung „ter“ (samt Flexionen) geschrieben sind, werden einheitlich durch Ziffern und folgenden Punkt wiedergegeben. Sämtliche Zutaten des Herausgebers werden kursiv gesetzt. b. Die Seitenzählung des Textzeugen wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich (|) markiert; im Lemma des textkritischen Apparats und des Variantenapparats wird diese Markierung nicht ausgewiesen. Müssen bei Textzeugenvarianten zu derselben Zeile zwei oder mehr Seitenzahlen notiert werden, so werden sie nach der Position der Markierungsstriche gereiht. Wenn bei poetischen Texten die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im fortlaufenden Zitat. c. Unterschiedliche Kennzeichnung von Absätzen (Leerzeile, Einrücken, großer Abstand in der Zeile) wird einheitlich durch Einrücken der ersten Zeile eines neuen Absatzes wiedergegeben. Abgrenzungsstriche werden – außer bei den gedruckten ‚Sammlungen‘ und ‚Reihen‘ – nur wiedergegeben, wenn sie den Schluss markieren; versehentlich fehlende Schlussstriche werden ergänzt. Die Gestaltung der Titelblätter wird nicht reproduziert. d. Hervorhebungen Schleiermachers (in Manuskripten zumeist durch Unterstreichung, in Drucktexten zumeist durch Sperrung oder Kursivierung) werden einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht. e. Der zitierte Bibelabschnitt einer Predigt, der samt Stellenangabe in den Drucken und Manuskripten vielfältig und unterschiedlich gestaltet ist, wird einheitlich als eingerückter Block mitgeteilt, wobei die Bibelstellenangabe mittig darüber gesetzt und in derselben Zeile

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Einleitung des Bandherausgebers

das Wort „Text“, falls vorhanden, gesperrt und mit Punkt versehen wird. Ist die Predigt verbunden mit Gebet, Kanzelgruß oder Eingangsvotum, so werden diese Begleittexte als Block eingerückt wiedergegeben. f. In Predigtentwürfen Schleiermachers und Dispositionen fremder Hand werden die Gliederungsstufen, die optisch unterschiedlich ausgewiesen sind, einheitlich durch Zeileneinrückung kenntlich gemacht.

3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen Den im vorliegenden Band edierten Predigten liegen SchleiermacherTexte (A.), handgeschriebene Nachschriften (B., C. und E.) sowie gedruckte Nachschriften (D. und E.) zu Grunde. Die Angaben der Liednummern aus dem Berliner Gesangbuch141 stehen in den verwendeten Textvorlagen mal linksbündig, mittig oder am rechten Zeilenende. Im edierten Text werden sie, wo sie unmittelbar einer Überschrift folgen, mittig unter die Überschrift gesetzt, in allen anderen Fällen links eingerückt. Das gilt auch für die Drucktexte Schleiermachers, in deren Original die Liedangaben durchgängig mittig erscheinen. Ist einer Gesangbuchnummer das Wort „Lied“ vorangestellt, werden Wort und Nummer in einer Zeile wiedergegeben, auch wenn im Manuskript die Nummer in einer neuen Zeile steht. Ferner sind Sperrungen und Petitdruck bei Liederangaben in gedruckten Texten beseitigt worden. Bei den Bibelstellennachweisen im Sachapparat zeigt die Formel „in Verbindung mit“ an, dass in Schleiermachers Bezug auf die zuerst genannte Bibelstelle eine oder auch mehrere andere Bibelstellen derart mit einander verflochten sind, dass sie eine – von Schleiermacher selbst geschaffene – Einheit bilden. Das einem weiteren Bibelstellennachweis vorangestellte „ferner“ ist wörtlich zu verstehen: Der Wortlaut oder Inhalt der folgenden Bibelstelle oder -stellen entfernt sich in irgend einer Weise weiter von dem Bezugstext bei Schleiermacher als die zuvor genannte Bibelstelle bzw. -stellen, ist aber für den exegetischen oder theologischen Kontext von Interesse.

141

Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen. Mit Genehmigung Eines hohen Ministerii der geistlichen Angelegenheiten, Berlin [1829]; vgl. KGA III/2 (Anhang)

II. Editorischer Bericht

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A. Schleiermacher-Texte Der einzige Autograph Schleiermachers, der in diesem Band ediert ist, ist Bestandteil folgenden Archivbestands: ABBAW, SN 71: Der archivalische Titel lautet „Eig[en]h[ändiges]. M[anu]s[cript]. – Notizen zu Studien über die Lehren Jesu o[hne]. D[atum]. 20 Bl. verschiedenen Formats“. Beim letzten Blatt (Bl. 20), auf dessen Vorderseite sich die mit schwärzlicher Tinte geschriebene Predigtdisposition befindet, handelt es sich um einen ausgeschnittenen Zettel von 20,5 cm Höhe und ca. 7 cm Breite. Die Rückseite (Bl. 20v) trägt eine exegetische Notiz zu Mt 4. Folgende Abbreviaturen sind stillschweigend aufgelöst worden: daß der, die, das dieser, diese, dieses durch -heit

dß d. dser, dse, dses dh. -ht

-keit -lich nicht und ver-

-kt o u. v-

In den von Schleiermacher selbst autorisierten Drucken der sog. ‚Reihen‘ 2, 3 und 4 werden die einzelnen Predigten mit mittig und fett gesetzten römischen Ziffern durchgezählt. Diese Ziffern sind in der vorliegenden Textedition weggelassen worden; die Nummerierung wird im Predigtkopf unter „Textzeuge“ mitgeteilt. Bei Eingriffen in den Text erscheint im textkritischen Apparat gelegentlich der Hinweis „so auch SW“ (mit nachfolgender Band- und Seitengabe); mit dieser Formel soll zum Ausdruck gebracht werden, dass, wie der Editor des gegenwärtigen Bandes, so bereits diese erste Edition glaubte, in den Text eingreifen zu sollen, es sich aber bei dem SW-Text selbstverständlich nicht um einen eigenen Textzeugen handelt. An folgenden Terminen basiert die Edition der Predigten auf von Schleiermacher selbst verfassten oder autorisierten Texten: 01.01.1832 15.01.1832 29.01.1832 12.02.1832 19.02.1832 26.02.1832 11.03.1832 25.03.1832

vorm. vorm. vorm. vorm. früh. vorm. vorm. vorm.

01.04.1832 08.04.1832 19.04.1832 20.04.1832 23.04.1832 16.05.1832 21.05.1832 27.05.1832

vorm. vorm. mitt. vorm. vorm. vorm. nachm. vorm.

LII

28.05.1832 03.06.1832 11.06.1832 24.06.1832 08.07.1832 22.07.1832 05.08.1832 19.08.1832 02.09.1832

Einleitung des Bandherausgebers

nachm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

16.09.1832 30.09.1832 14.10.1832 28.10.1832 11.11.1832 25.11.1832 09.12.1832 23.12.1832 26.12.1832

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

B. v. Oppen-Nachschriften Die Elisabeth von Oppen zugeordneten Nachschriften, die für den vorliegenden Band berücksichtigt wurden, sind Teil der folgenden Archivbestände: ABBAW, SN 596/1–5: Die Archivalie enthält 49 Blatt im Quartformat, auf denen sich fünf Nachschriften unterschiedlicher Nachschreiber von Predigten über das Lukasevangelium zwischen 1819 – auf dem Archivdeckblatt irrtümlich als 1815 angegeben – und 1832 befinden. Bei der letzten, v. Oppen zugehörigen Nachschrift 596/5 handelt es sich um ein Doppelblatt im Format von 26 cm Höhe und 21,5 cm Breite; es trägt die Überschrift „Ganz kurzer Ueberblick der Schleiermacherschen Predigt über die Worte: O ihr Thoren und trägen Herzens zu glauben allem dem, das die Propheten geredet haben warum mußte erst Christus solches leiden um zu seiner Herrlichkeit einzugehen?! gehalten am 11. März 1832“. ABBAW, SN 606: Das Nachlassstück besteht aus drei in einander gelegten Doppelblättern im Format von 21 cm Breite und 25 cm Höhe. Es enthält auf Bl. 1–5 die in Tinte verfasste „Abschrift einer Frühpredigt unsers verehrten Schleiermacher. Ev. Marcus. C. 6. v. 30– 34.“; Bl. 6 ist leer. Es handelt es sich um die Predigt am 7. Oktober 1832, einen Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium. C. Woltersdorff-Nachschriften Die dem ‚Fräulein‘ Woltersdorff zugeordneten Nachschriften, die für den vorliegenden Band berücksichtigt wurden, sind Teil folgenden Archivbestands: SBB, SAr 71: Die Mappe enthält Nachschriften von drei Predigten aus dem Jahr 1832 und umfasst 22 Blatt in losen Einzel- und Doppelblättern (Bl. 1–4. 15–22) im Format von 20 cm Breite und 24 cm Höhe bzw. gehefteten Doppelblättern (5–14) im Format von 17 cm Breite und 20,5 cm Höhe. Die in Tinte beschriebenen Blätter weisen unterschiedliche Handschriften auf: die Woltersdorffs (Bl. 1–4),

II. Editorischer Bericht

LIII

die Crayens (Bl. 4r, Zeile 4–5) und eine unbekannte dritte (Bl. 5–22). Die Nachschriften Bl. 1–4. 15–22 sind von Sydow durch Randnotiz „Woltersdorff“ als Tradentin zugeordnet (vgl. Bl. 1r. 15r). Der Strich über Konsonanten, der deren Verdoppelung anzeigt, fehlt gelegentlich; in eindeutigen Fällen ist die doppelte Schreibung stillschweigend vorgenommen worden. Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): christlich der, die, das durch Erlöser evangelisch Fleisch Gegenwart -heit Herr

χtl. d d Erl evangl Fl Gegenw h Hr

irdisch -lich Mensch Pfingsten selbstständig sich selbst und Versammlung

ird M P selbstst ss u Versamml

An folgenden Terminen beruht der edierte Text auf einer Predigtnachschrift von Woltersdorff: 10.06.1832 früh 25.12.1832 früh D. Zabel-Nachschriften a. Zabels Edition der Markushomilien Schleiermachers große vom 14. August 1831 bis zum 2. Februar 1834 reichende Homilie über das Markusevangelium, von der in diesem Band 22 Predigten zu Mk 2,23–7,30 enthalten sind, hat der ehemalige Berliner Student der Theologie Friedrich Zabel 1835 unter dem Titel „Predigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser, gehalten von Friedrich Schleiermacher“142 in zwei Bänden im Berliner Verlag Friedrich August Herbig veröffentlicht.143 Eine vermutlich nach Drucklegung des Textteils auf einer unpaginierten 142 143

Die 16 Predigten der Homilie zum Kolosserbrief vom 13. Juni 1830 bis zum 17. Juli 1831 finden sich in KGA III/12. Die letzten beiden Predigten der Mk-Homilien vom 26. Januar und 2. Februar fehlen in der Edition Zabels (vgl. Predigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser, Bd. 2, S. 190). Sie sind in von Schleiermacher autorisierten Drucken erschienen, denen vermutlich ebenfalls die Nachschriften Zabels zu-

LIV

Einleitung des Bandherausgebers

Seite im Anschluss an das Vorwort eingefügte Mitteilung besagte: „Der Herausgabe der nachfolgenden Predigten haben die Schleiermacherschen Erben und der von dem verewigten Prof. Dr. Schleiermacher mit der Edition seines literarischen Nachlasses beauftragte Prediger Jonas ihre Genehmigung ertheilt.“144 Der zweite Band erhielt dann ein zusätzliches Titelblatt, das ihn als „Friedrich Schleiermacher’s Literarischer Nachlaß. Predigten. Zweiter Band“ auswies. Damit war die Übernahme der Zabelschen Edition in die ‚Sämmtlichen Werke’ vollzogen.145 Im Gegensatz zu einigen anderen Predigtbänden der ‚Sämmtlichen Werke’ handelt es sich bei Zabels ediertem Text mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um das Resultat einer Kompilation verschiedener Textzeugen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass Zabel ausschließlich eigene Nachschriften für den Druck benutzt hat. In der „Vorrede“ des ersten Bandes schreibt er: „Unterzeichneter hat sich zu der selbstständigen Herausgabe der nachfolgenden Predigten nicht eher entschlossen, als bis er die Gewißheit erhalten, daß diese sonst gar nicht oder doch nicht auf genügende Weise würden dem Publikum mitgetheilt werden. Er ist nämlich, wie er weiß, im alleinigen Besitz vollständiger und treuer Nachschriften der von dem seligen Schleiermacher [...] gehaltenen Frühpredigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser; von Andern sind diese Predigten entweder nur theilweise, oder höchst mangelhaft nachgeschrieben worden; die meisten aber von einzelnen derselben hiesigen Ortes [scilicet: Berlin] circulirenden Nachschriften sind von den seinigen entnommen, und also auch als ihm zugehörig zu betrachten.“ In der „Vorrede“ zum zweiten Band spricht Zabel schlicht von den „von ihm nachgeschriebenen Predigten“ und zieht eben diese Tatsache, dass es sich um von ihm nachgeschriebene Predigten handelt, als Erklärungs- und Entschuldigungsgrund dafür heran, dass er sich für berechtigt gehalten hatte, sie ohne Zustimmung von Jonas und Schleiermachers Witwe zu veröffentlichen.146 Die von Zabel publizierten Markushomilien werden daher im vorliegenden Band editorisch als gedruckte Zabel-Nachschriften behandelt.

144 145 146

grunde lagen. Das lässt sich aus dessen Mitteilung entnehmen, er habe „im Verein mit einem Freunde die Nachschriften angefertigt, aus welchen der verstorbene Verfasser [scilicet: Schleiermacher] die seit dem Jahr 1830 erschienenen Hauptpredigten edirt hat” (a. a. O. Bd. 1, S. IV). Zumindest die Homilie vom 26. Januar 1834 fand tatsächlich im Vormittagsgottesdienst statt, war also eine ‚Hauptpredigt‘. A. a. O., Bd. 1, nach S. VIII (Sperrung der Eigennamen beseitigt) Sie werden, wie üblich, im Folgenden als SW II/5 und SW II/6 gezählt. SW II/6, unpaginierte erste Seite der „Vorrede“

II. Editorischer Bericht

LV

b. Editorische Besonderheiten Für die gedruckten Nachschriften Zabels gelten die Grundsätze für die editorische Behandlung von Nachschriften. So sind Hervorhebungen im Text und in der Gestalt von Fußnoten gebotene Bibelstellennachweise getilgt worden. Die einzelnen Predigten der Homilienreihen sind im Druck mit mittig gesetzten römischen Ziffern durchgezählt; diese Ziffern sind im edierten Text weggelassen worden; sie werden im Predigtkopf unter „Textzeuge“ aufgeführt. Umfasst ein Bibelstellenzitat zwei oder mehrere Absätze, wird im Druck ein Absatz mit Anführungsstrichen abgeschlossen und der folgende Absatz erneut mit Anführungszeichen eröffnet; diese zeittypische Kenntlichmachung des Zitats ist im edierten Text beseitigt worden. Zabel hat sich bei der Edition seiner Nachschriften vorgenommen, „nicht nur den ursprünglichen Schleiermacher’schen Inhalt, sondern auch die von ihm gebrauchten Redewendungen und Worte so treu und genau als möglich wiederzugeben. Es war hierbei nicht zu vermeiden, daß manche Ungenauigkeiten und Unebenheiten im Ausdrucke, wie sie der freigesprochenen Rede fast unvermeidlich unterlaufen, und die dem Zuhörer auch weniger bemerklich und störend sind als dem Leser, stehen blieben, auch selbst solche, welche sonst leicht hätten hinweggeschafft werden können.“147 Dazu gehören etwa Anakoluthe, die hin und wieder begegnen. In solchen Fällen hat auch die vorliegende Edition in der Regel nicht in den Text eingegriffen. c. Leittext-Termine An folgenden Terminen liegt dem edierten Text eine gedruckte Nachschrift von Zabel zu Grunde: 08.01.1832 22.01.1832 05.02.1832 04.03.1832 18.03.1832 15.04.1832 13.05.1832 20.05.1832 17.06.1832 01.07.1832 29.07.1832 147

früh früh früh früh früh früh früh früh früh früh früh

SW II/5, S. Vf

12.08.1832 26.08.1832 09.09.1832 23.09.1832 07.10.1832 21.10.1832 04.11.1832 18.11.1832 02.12.1832 16.12.1832 30.12.1832

früh früh früh früh früh früh früh früh früh früh früh

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Einleitung des Bandherausgebers

E. Nachschriften der Begräbnisrede für Karl Friedrich Zelter Von der Rede, die Schleiermacher am 18. Mai 1832 bei der Trauerfeier für den Direktor der Berliner Sing-Akademie Karl Friedrich Zelter gehalten hat, lassen sich weder im Archiv der Sing-Akademie noch im Nachlass Zelter – beide befinden sich in der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz – Ab- oder Nachschriften nachweisen, obwohl man das eigentlich vermuten würde. Erhalten haben sich nach derzeitigem Kenntnisstand vermutlich drei Nachschriften, von denen zwei innerhalb des Familienkreises von Zelter tradiert wurden. Diese Nachschriften könnten auf eine von Schleiermacher selbst bearbeitete und insofern dann sozusagen autorisierte Fassung zurückgehen. Jedenfalls findet sich in Schleiermachers Tageskalender für Sonnabend, den 1. Februar 1834, der Eintrag „Predigt Zelter“148. Es ist also zu vermuten, dass Schleiermacher nachträglich einen Text seiner Begräbnisrede erstellt hat, sehr wahrscheinlich dergestalt, dass er eine ihm vorliegende Nachschrift, möglicherweise unter Hinzuziehung weiterer Nachschriften, redigierte und überarbeitete. Ob er dabei sogar an eine Veröffentlichung, etwa im „Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden“149, dachte oder den Text lediglich der Familie Zelters zugänglich machen wollte, bleibt ungewiss. Außer der genannten Tageskalendernotiz gibt es keine weiteren Zeugnisse. Dem edierten Text der Begräbnisrede für Zelter liegt folgende Nachschrift als Leittext zu Grunde: SBB, Depositum 5, Nachl. Runge-DuBois-Reymond, Nr. 33 Bl. 36r–37v: Es handelt sich um ein Doppelblatt feinen Velinpapiers mit Wasserzeichen im Format von 23 cm Breite und 26,9 cm Höhe. Die letzte Seite (37v) ist leer. Der Text ist mit dunkelbrauner Tinte geschrieben. Die Nachschrift weist eine Reihe nachträglicher Korrekturen auf. Besonders auffällig sind die zahlreichen Ausrufungszeichen, die an die Stelle ursprünglicher Kommata gesetzt wurden. Soweit der geringe Umfang der korrigierenden Einträge ein Urteil zulässt, gibt es keine Indizien dafür, dass die Korrekturen nicht von gleicher Hand stammen wie die Nachschrift insgesamt. Sie sind daher nach den editorischen Grundsätzen der Predigt-Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe als Endstufe des Textes anzusehen. An Stellen, an denen der ursprüngliche, nicht-korrigierte Text eine Entsprechung in anderen Textzeugen aufweist, wird abweichend von den editorischen Grund148 149

SN 454 Vgl. oben Einleitung I. 6.

II. Editorischer Bericht

LVII

sätzen im textkritischen Apparat die ursprüngliche Textfassung mit der Formel „korr. aus“ und dem Verweis auf den oder die weiteren Textzeugen geboten; davon ausgenommen bleiben die bereits erwähnten Ausrufungszeichen. Über die Identität des Nachschreibers lassen sich lediglich begründete Vermutungen anstellen. Das Manuskript stammt aus dem Besitz von Paul Emil Henry (1792–1853).150 Bei Henry lassen sich biographische Bezüge sowohl zu Zelter als auch zu Schleiermacher nachweisen. Seine Mutter war mit Zelter freundschaftlich verbunden;151 er selbst hatte daher nach eigenen Angaben bereits als Jugendlicher die Bekanntschaft Zelters gemacht und war Mitglied der SingAkademie geworden.152 Seit 1810 hatte er an der neu gegründeten Berliner Universität Theologie studiert; seine Immatrikulationsurkunde vom 26. Oktober 1810 ist von Schleiermacher in seiner Eigenschaft als Dekan unterzeichnet153. Anlässlich des dreihundertjährigen Reformationsjubiläums verlieh ihm die Universität Kopenhagen 1830 den Titel eines Doktors der Theologie.154 Seit 1822 war er Prediger an der Französischen Kirche in der Friedrichstadt,155 also Amtsbruder Schleiermachers in unmittelbarer Nachbarschaft. Henry hat die Nachschrift 1852 publiziert156 und dies am Ende des Manuskripts nachträglich handschriftlich vermerkt.157 Hermann Patsch hat in seiner kritischen Edition der Begräbnisrede für Zelter vermutet, die Nachschrift stamme von August Eduard 150

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Vgl. auch Hermann Patsch: Wie aus Claudius Goethe wurde. Ein apokryphes Claudius-Zitat in Schleiermachers Grabrede auf Karl Friedrich Zelter, in: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 10 (2001), S. 38–49, hier: bes. S. 47 Anm. 9 Vgl. Der Sing-Akademie gewidmet. Worte gesprochen in der Sing-Akademie an dem Sarge des Herrn Direktors Carl Friedrich Rungenhagen am 24. December 1851 morgens von dem Prediger Dr. Henry, mit einigen Beilagen und der von Schleiermacher am 18. Mai 1832 zum Gedaechtniss Zelter’s in der Sing-Akademie gehaltenen Rede, Berlin 1852, S. 26 Vgl. Der Sing-Akademie gewidmet, S. 26 Vgl. SBB, Depositum 5, Nachl. Runge-DuBois-Reymond, Nr. 20 Vgl. Gelehrtes Berlin im Jahre 1845. Verzeichniss im Jahre 1845 in Berlin lebender Schriftsteller und ihrer Werke, hg. v. Wilhelm David Kroner, Berlin 1846, S. 144 Vgl. Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, hg. vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband, Bd. 2: Verzeichnis der Geistlichen in alphabetischer Reihenfolge, bearbeitet v. Otto Fischer, T. 1, Berlin 1941, S. 320; Henry war zunächst Hilfsprediger an der Friedrichstadtkirche, rückte 1825 auf die zweite, schließlich 1845 auf die erste Pfarrstelle auf. Am Sarge Carl Friedrich Zelter’s, gesprochen im grossen Saale der Sing-Akademie von Dr. Friedr. Schleiermacher am 18. Mai 1832, in: Der Sing-Akademie gewidmet, S. 24–26 „Diese Rede habe ich in meiner Schrift über die Sing-Akademie u[nd] Rungenhagen drucken laßen.“ (Bl. 37r)

LVIII

Einleitung des Bandherausgebers

Grell (1800–1886).158 Grell, selbst Schüler Zelters und nach dessen Tod 1832 zum Vizedirigenten der Sing-Akademie gewählt, wurde 1852 nach dem Tod von Zelters Nachfolger Karl Friedrich Rungenhagen (1778–1851) seinerseits Direktor der Sing-Akademie. Für Grell könnte zunächst der archivalische Zusammenhang sprechen. In demselben Nachlassstück finden sich neben der Grabrede auf Zelter Materialien zu Rungenhagen, die Grell in zwei Briefen an Henry vom 23. bzw. 30. Januar 1852 zur Verfügung stellte für die offensichtlich von Henry geplante Publikation.159 Allerdings ergeben sich sofort auch Einwände gegen eine Herkunft der Grabrede von Grell: Der archivalische Zusammenhang ist nicht unmittelbar vorhanden, andere, nicht von Grell stammende Dokumente unterbrechen ihn; die Handschrift der Briefe Grells weicht von der Handschrift der Nachschrift ab; Grell erwähnt die Grabrede in seinen beiden Briefen an Henry nicht. Der Handschriftenvergleich ist freilich nicht völlig eindeutig. Sieht man sich über die beiden Briefe hinaus weitere Manuskripte Grells an, dann zeigt sich insgesamt ein solches Schriftbild, das eine Identifizierung mit der Handschrift der Zelter-Grabrede nicht völlig ausschließen würde, wenn man unterstellt, dass zwischen der Predigtnachschrift und den beiden Briefen von 1852 möglicherweise fast zwanzig Jahre liegen können. Es bleiben im Detail charakteristische Unterschiede in der Schreibung einzelner Buchstaben, die eine solche Identifizierung wiederum unsicher erscheinen lassen. Patschs Hauptindiz für Grell als Tradent der Nachschrift ist eine nicht zum Text der Predigt gehörige und wieder gestrichene editorische Randnotiz,160 die unzweifelhaft von derselben Hand stammt wie die Nachschrift und die mit einem Kürzel unterschrieben ist, das Patsch als „Gr.“ entziffert. Diese Entzifferung ist allerdings unsicher; es könnte vom Buchstabenvergleich innerhalb der Nachschrift her auch als „Hr.“ gelesen werden, was wiederum ein möglicher Hinweis auf Henry wäre. Dessen unzweifelhafte Schlussnotiz „Diese Rede habe ich in meiner Schrift über die Sing-Akademie u[nd] Rungenhagen drucken laßen“ (Bl. 37r) sowie zwei weitere gestrichene editorische Randbemerkungen, die vermutlich ebenfalls von Henry stammen,161 lassen sich indes vom Gesamtschriftbild ebensowenig wie andere Manuskripte Henrys ohne Weiteres der Handschrift der Pre158

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Vgl. Hermann Patsch: Schleiermachers Grabrede auf Carl Friedrich Zelter. Eine kommentierte kritische Edition, Wolfgang Virmond zum 60. Geburtstag, in: Schleiermacher’s „To Cecilie“ and other writings by and about Schleiermacher, ed. Ruth Drucilla Richardson, New Athenaeum/Neues Athenaeum, vol. 6, Lewiston u. a. 2001, S. 58–76, hier: S. 62 Vgl. SBB, Depositum 5, Nachl. Runge-DuBois-Reymond, Nr. 33, Bl. 3r–9v Vgl. Bl. 37v Bl. 36v am unteren Rand

II. Editorischer Bericht

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digtnachschrift zuordnen; andererseits zeigen sie ein charakteristisches kleines -r, das auch die Nachschrift an den meisten Stellen aufweist. Wollte man also Henry als Urheber der Nachschrift annehmen, müsste man, wie im umgekehrten Fall bei Grell auch, die unzweifelhaft bestehenden Unterschiede in den Handschriften mit dem vermutlich großen zeitlichen Abstand von zwanzig Jahren zwischen Nachschrift und editorischen Randnotizen erklären. Alles in allem bleibt die Identifizierung des Nachschreibers unsicher. Der Druck der Nachschrift, den Henry 1852 veranstaltet hat, weist gegenüber dem Manuskript einige orthographische Abweichungen auf, die mit ziemlicher Sicherheit auf den Setzer zurückgehen: aus „sey“ wird „sei“, aus „unsre“ „unsere“, -ß ist durchgängig durch -ss ersetzt. Als eigener Textzeuge kommt der Druck nicht in Betracht,162 gleichwohl wird im textkritischen Apparat in den beiden Fällen, in denen der Drucktext gemeinsam mit einem anderen Textzeugen von der Nachschrift abweicht, darauf mit der Formel „so auch Der SingAkademie gewidmet“ hingewiesen. Für die vorliegende Edition der Begräbnisrede für Zelter sind des Weiteren die folgenden beiden Nachschriften berücksichtigt worden: Freies Deutsches Hochstift, Hs–1101: Es handelt sich um drei in einander gelegte Doppelblätter im Format von 21 cm Breite und ca. 35 cm Höhe. Die Blätter sind unfoliiert; für die Edition ist von mir eine Foliierung virtuell vorgenommen worden. Die Archivalie trägt auf dem Deckblatt (1r) den Vermerk: „Eing[ang]. 22/X. 1881. Geschenk der Frau Elisabeth Ponge geb. Grundmann Zelter’s Enkelin Fiddichow (Pommern)“. Dabei handelt es sich um eine Tochter aus der Ehe von Zelters Tochter Angelica Auguste (1795–1863) mit dem Amtmann von Fiddichow (bei Greifenhagen in Pommern) Carl Grundmann (1791–1854). Die Nachschrift stammt also aus dem Familienbesitz Zelters. Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um das Original, das sicherlich bei der Familie verblieb, sondern um die Abschrift einer Nachschrift. Im Zuge des Abschreibens könnte eine Reihe kleinerer Versehen entstanden sein („Geit“ statt „Geist“, 162

Das gilt auch für die unter dem Titel „Rede am Sarge Zelter’s, gehalten am 18. Mai 1832 von Dr. Friedrich Schleiermacher“ publizierte Fassung bei Martin Blumner: Geschichte der Sing-Akademie zu Berlin, eine Festgabe zur Säcularfeier am 24. Mai 1891, Berlin 1891, S. 193–195; hierbei handelt es sich entweder um einen (leicht korrigierten) Wiederabdruck des Drucks von 1852 oder, mir wahrscheinlicher, um eine (leicht bearbeitete) Edition des dem Druck von 1852 zu Grunde liegenden Manuskripts. Der Text von Blumner findet sich mit kleineren Versehen auch bei Walther Sattler: Vergessene Dokumente aus dem musikalischen Leben Schleiermachers, Zeitschrift für Musikwissenschaft 7 (1925), S. 535–544, hier: S. 539–541. Vgl. zum Ganzen Patsch: Wie aus Claudius Goethe wurde, S. 47 Anm. 7; ders.: Schleiermachers Grabrede auf Carl Friedrich Zelter, S. 64f

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Einleitung des Bandherausgebers

„wem“ statt „wen“, „diesem“ statt „diesen“); insbesondere ließe sich eine auffallende Textkorruption am leichtesten als Ausfall einer ganzen Zeile beim Abschreiben erklären.163 Die Rückseite des Deckblatts (1v) ist leer; die eigentliche Predigt findet sich auf Bl. 2r–3v; Bl. 4r–v enthält Abschriften von Eintragungen Zelters aus dem „Academienbuch“; Bl. 5–6 vacant. Zelter S. 300–304: Hierbei handelt es sich um eine gedruckte Fassung der Trauerrede, die Zelters Enkel, der Arzt und Sanitätsrat Dr. Wilhelm Rintel (1818–1899),164 als Anhang seiner Ausgabe von Zelters Autobiographie veröffentlicht hat.165 Da Rintel ausweislich des Titelblatts und seines Vorworts166 bei seiner Ausgabe selbständig auf Manuskripte zurückgegriffen hat und sein Text in vielen Details sowohl von der 1852 publizierten Fassung als auch von der im Familienbesitz befindlichen Nachschrift, auf die das Manuskript im Freien Deutschen Hochstift zurückgeht, abweicht, muss damit gerechnet werden, dass seiner Ausgabe möglicherweise eine weitere Nachschrift zu Grunde gelegen hat. Seine Textfassung wird daher editorisch als gedruckte nichtidentifizierte Nachschrift behandelt. Alle drei genannten Nachschriften weisen – bei allen Abweichungen im Zeichenbestand – einen hohen Grad an wörtlicher Übereinstimmung untereinander auf; es gibt nur wenige echte inhaltliche Varianten. Diese werden im textkritischen Apparat angeführt. Nicht dokumentiert sind Abweichungen rein orthographischer Art (sey – sei, Hülfe – Hilfe, bloß – blos, Seeligkeit – Seligkeit), der Großoder Klein-, Getrennt- oder Zusammenschreibung sowie der Zeichensetzung; auch fehlendes oder zugefügtes -e als Dativendung (Geist – Geiste) oder Bindevokal (mühvoll – mühevoll, unseres – unsres) ist nicht verzeichnet worden.

* * * Den vorliegenden Band habe ich seit 2013 im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Angestellter der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen an der Schleiermacher-Forschungsstelle der 163 164 165

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Die fehlende Passage ist im textkritischen Apparat des edierten Textes ausgewiesen. Rintel war ein Sohn aus der Ehe von Zelters Tochter Johanna Urania Adelheid (1789–1870) mit Ludwig Wilhelm Rintel (1773–1861). Rede am Sarge Zelters. Gehalten von Schleiermacher. Am 18. März [sic!] 1832, in: Carl Friedrich Zelter. Eine Lebensbeschreibung, nach autobiographischen Manuscripten bearbeitet von Dr. Wilhelm Rintel, Berlin 1861, S. 300–304 Rintel schreibt (Carl Friedrich Zelter, S. VII): „Erst vor wenigen Jahren fand ich zufällig in der Bodenkammer eines Gutes in Pommern das Material zur Biographie meines Großvaters.“

II. Editorischer Bericht

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Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel bearbeitet. Ich konnte dabei auf die umfangreichen Vorarbeiten zurückgreifen, die seit 2003, von der Akademie gefördert, an der Forschungsstelle in Angriff genommen worden sind. Beim Korrekturlesen, beim Erstellen der Verzeichnisse und bei der Recherche nach zeitgenössischen Rezensionen unterstützten mich tatkräftig und zuverlässig Merten Biehl, Ronja Hallemann, Tobias Heymann, Judith Ibrügger und Sven Rehbein. Vielfachen Rat und kollegialen Austausch gewährten mir die regelmäßigen Editionsbesprechungen mit Elisabeth Blumrich, Kirsten Kunz, PD Dr. Michael Pietsch, Patrick Weiland und dem Projektleiter der Predigtedition Prof. Dr. Dr. Günter Meckenstock. Wichtige Hilfe und Anregung in einigen Detailfragen leisteten außerdem Dr. Simon Gerber und Dr. Martin Rößler. Allen Genannten gehört mein herzlicher Dank. Dirk Schmid

Predigten 1832

Am 1. Januar 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Neujahrstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 14,7–8 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 2) 1832, S. 75–94, Nr. V SW II/3, 1835, S. 143–155; 21843, S. 148–160. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 236–246 Keine Keine

Am Neujahrstage 1832.

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Text. Röm. XIV, 7. 8. „Denn unser Keiner lebt ihm selber, und Keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ M. a. Fr. Der unmittelbare Zusammenhang, in welchem der Apostel diese Worte geschrieben hat, steht in gar keinem Bezug mit der besondern Abzwekkung des heutigen Tages. Er redet in diesem Abschnitte jenes Briefes von dem Unterschied der Christen in Absicht auf die größere Freiheit des Geistes oder die größere Aengstlichkeit und Gebundenheit des Gewissens; und indem er hierüber nur die Regel giebt, daß Beides recht sei und gut, wenn nur jeder das, was er thut, thue mit Rükksicht auf den Herrn, welchem wir Alle angehören, so faßt er dies hernach zusammen in diesem großen, allgemeinen Ausspruch, welchen wir | mit einander vernommen haben. Das, m. a. Z., beweiset recht die besondere Kraft der heiligen Schrift, daß sie so oft von dem, was einzeln ist und unbedeutend erscheint, unmittelbar übergeht zu 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 832: „Hilf, Herr Jesu, laß gelingen“ (Melodie von „Unser Herrscher, unser König“); Nr. 632: „Was ist’s, daß ich mich quäle?“ (Melodie von „Nun ruhen alle Wälder“) 10–15 Vgl. Röm 14,1–6

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dem größten, schwersten und inhaltsreichsten. Aber so gebührt es auch einem solchen Werk des göttlichen Geistes; denn wie vor Gott selbst es keinen Unterschied giebt zwischen groß und klein, so auch hier. In dem Maaße als wir durch den Geist Gottes erleuchtet die menschlichen Dinge sehen, verschwindet dieser Unterschied auch für uns, und von dem kleinsten können wir zu dem größten, von dem größten zu dem kleinsten in demselben Sinn und Geist mit Leichtigkeit übergehen. Indem nun der Apostel dort geredet hatte von zwei verschiedenen Handlungsweisen der Christen noch dazu in Beziehung auf äußerliche und minder bedeutende Dinge, und doch nun seiner Rede die Krone dieses eine so allgemeine Anwendung zulassenden Ausspruches aufsezt: wie sollten wir diesen nicht eben mit einander betrachten können als unseren Wahlspruch bei dem Eintritt in dieses neue Jahr unseres Lebens. Ja daß wir dem Herrn leben oder sterben, das sei unser Wahlspruch, den wir immer im Auge haben sowohl in Beziehung auf das, was uns begegnen kann in diesem neuen Abschnitt unseres Lebens, und das sei der erste Theil unserer Betrachtung, als auch in Beziehung auf dasjenige, was uns vorhanden kommt zu thun, und das sei der zweite.

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I. Wenn wir, m. a. Fr., sagen, diese Worte des Apostels, daß, wir mögen leben oder sterben, beides dem Herrn | geschehe, soll unser Wahlspruch sein in Beziehung auf Alles dasjenige, was uns begegnen kann: so meine ich damit zum Unterschied von dem, was ich als den zweiten Theil unserer Betrachtung im voraus angezeigt habe, alles was in unserm Leben, sei es nun überhaupt nicht von menschlicher Thätigkeit abhängt, oder doch wenigstens nicht von der unsrigen. Und wir mögen wohl sagen, wie der Apostel hier Leben und Sterben einander gegenüberstellt, so befaßt dieses beides alles, was uns von dieser Art begegnen kann; denn das eine und das andere hängt nicht ab von unserem eigenen Willen und Thun. Die Fortdauer unseres Lebens, wie lang oder kurz, sie hängt an den ewigen Ordnungen Gottes, wie sie sich in dem einzelnen Leben von seinem ersten Keime an entwikkeln. Wenn es zu Ende geht, so ist das ebenfalls nichts anderes als auch ohne unser eigenes Thun die Vollendung des göttlichen Rathschlusses an unserm zeitlichen Leben. Und so können wir denn unter diesem Wahlspruch alles, was uns die Zukunft im eigentlichen Sinne bringen kann, getrost zusammenfassen. Was ist aber nun in diesem Umfang gedacht der Sinn dieser Worte des Apostels, daß, wir mögen leben oder sterben, solches dem Herrn 11 zulassenden] zulassendem

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geschieht? Kein anderer wol als der, daß eben jene göttlichen Ordnungen in dem gesammten Gebiet der menschlichen Dinge ganz und gar auf Christum gestellt sind, auf dieses Heil, welches Gott den Menschen durch ihn gegeben hat. Unsere heutige Sonntagsepistel1, m. a. Fr., ist gewiß deswegen für diesen | heutigen Tag gewählt, um uns das recht zur Anschauung zu bringen, denn da sezt der Apostel auseinander, wie der gemeinsame frühere Zustand der Menschen, alles was darin groß und wichtig gewesen, seine Beziehung gehabt habe auf den, der da kommen sollte. Das Gesez, sagt er, ist unser Zuchtmeister gewesen auf Christum, darunter sind wir beschlossen gewesen, damit hernach die Verheißung käme durch den Glauben, der da sollte geoffenbaret werden, und alles, was dem voranging, das hatte nur den Sinn und die Bedeutung, wie er an einem anderen Orte desselben Briefes2 sagt, daß die Zeit erfüllet werden sollte auf die von Gott bestimmte Weise, in der er seinen Sohn senden wollte geboren von einem Weibe und unter das Gesez gethan. Hat sich nun vorher Alles auf den bezogen, der da kommen sollte: wie sollte sich nun nicht Alles beziehen auf den, der da gekommen ist? wie sollte nicht der Vater im Himmel nun Alles leiten, damit das Reich Gottes am besten gedeihe, welches er seinem Sohne verliehen hat, damit immer allgemeiner nicht nur sondern auch immer vollkommener die Herrlichkeit dessen erkannt werde, und in allen menschlichen Dingen erscheine, der allein als das ewige himmlische Licht die Finsterniß durchdringen konnte, der allein bestimmt war der Welt das Leben zu bringen? Das, m. th. Fr., ist der rechte Inhalt des christlichen Glaubens an eine göttliche Vorsehung, welche über den menschlichen Dingen waltet. Wir bleiben weit hinter dem geistigen Gehalt desselben sowol als auch hinter der rechten Kindlichkeit der Zuversicht zurükk, wie sie denen, welche nun | Christum angezogen haben, und durch den Glauben an ihn Kinder Gottes sind, geziemt, wenn wir, wie es so oft geschieht, denken, alles habe so kommen müssen, damit dies oder jenes einzelne erfolge. So oft wir so bei einzelnem stehen bleiben, als ob irgend solches an und für sich gut wäre und nicht lediglich um des Reiches Gottes willen, machen wir nur einen eben so vorwizigen als geringfügigen und untergeordneten Gebrauch von diesem Glauben. Und nun laßt uns bedenken, daß alles, was uns in diesem irdischen Leben noch begegnen kann, unter dem, was der Apostel hier 1 2

Gal. 3, 23–29. Gal. 4, 4.

9–10 Vgl. Gal 3,24 Gal 3,26

10–12 Vgl. Gal 3,23

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29–30 Vgl.

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aufstellt, zusammengefaßt ist. Denn das muß jedem einleuchten, daß alles, auch das scheinbar gleichgültige, was uns begegnen kann nicht ausgeschlossen, entweder zu einer Förderung in der Art und Weise unseres Lebens ausschlägt, und also eine Erhöhung desselben ist, oder auf der anderen Seite eine Verringerung desselben in sich schließt, und sich also als eine Annäherung an den Tod beweist. Auf welcher von beiden Seiten nun Alles, was uns bevorsteht in jeder Zukunft, sich auch befinden möge, sagt der Apostel, es geschieht nicht sowol uns als dem Herrn. Wohlan, m. g. Fr., was in dem Lauf des Jahres, welches wir heute antreten, uns selbst als eine Bereicherung oder als ein neuer Schmukk unseres Lebens, als eine Erweiterung des Kreises unserer Thätigkeit erscheinen wird, dieses freudig und dankbar entgegen zu nehmen, dazu bedarf es keiner Zusprache, keiner Ermunterung. Aber, wenn es uns geziemt, uns auch auf das nachtheilige gefaßt zu machen: wie sollen wir nicht gern auch leiden, wie sollen wir nicht gern auch entbehren, wenn wir doch fest an dem Glauben halten, auch das geschehe dem Herrn und auch | darin werde, wie unerreichbar uns das auch sei, da wir so wenig vermögen in den Zusammenhang der Dinge einzudringen, dennoch ein göttlicher Rathschluß erfüllt, der sich auf das Reich Christi bezieht. Wenn doch bei allem, was uns vorkommt zu thun, dieses unser einziges Ziel ist, daß wir als solche, die ihm angehören, sein Reich so viel an uns ist erhalten und fördern: wie sollten wir nicht gern auch an dem, was uns geschieht, uns als die seinigen beweisen, nicht nur dann wenn wir leben, sondern auch dann, wenn wir sterben? Warum sollten wir uns dessen weigern, wovon wir, überzeugt von der väterlichen Liebe und von der ewigen Weisheit Gottes, doch wissen, daß es uns auch nur zum Besten dieses Reiches des Herrn widerfährt, daß es auch mit zu dessen Entwikkelung in unserm Kreise gehört, und mit dem ganzen göttlichen Rathschluß zusammenhängt, der auf nichts anderes abzielt als auf die Verherrlichung Gottes in seinem Sohne und auf die Verklärung und Verherrlichung des menschlichen Geschlechtes durch ihn! Und wenn wir, m. th. Fr., an die große Ungleichheit in diesem irdischen Leben denken, wie der Eine hervorgezogen erscheint, so daß weit umher Alle die Bedeutung seines Daseins fühlen und verstehen, der Andere hingegen ganz in das Dunkel zurükkgedrängt ist und auf den kleinsten Kreis menschlicher Wirksamkeit beschränkt, so daß nur Wenige wahrnehmen, ob er noch da ist oder nicht mehr: sollen wir, die wir in diese Ordnung Gottes gestellt sind mit Christo und durch ihn, irgend einem unserer Brüder Vorzüge dieser Art beneiden, wenn wir doch wissen, alle innere und äußere Gaben, wie sie Gott austheilt, haben | keinen anderen Zwekk und keine andere Regel in diesem Reiche Gottes, als daß durch sie der gemeinsame Nuzen soll gefördert

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werden? wenn wir doch wissen, Alle, die noch so ungleich erscheinen, sind doch Glieder an dem Leibe Christi, und die äußerlich nicht scheinen zu Ehren gemacht zu sein, tragen doch dieselbe Kraft des göttlichen Lebens in sich, und wirken nach dem Maaße dessen, was ihnen Gott anvertraut hat, auch zur Verherrlichung und Förderung seines Reiches mit? O m. G. in dem Herrn, wie oft stellt der Herr das selbst als die Regel seiner göttlichen Haushaltung auf, als etwas das gar oft vorkommen muß in dem täglichen Verkehr seines Reiches, daß die Lezten werden die Ersten sein! Wie oft hat er, wo irgend die Rede ist in seinen Gesprächen von der Rechenschaft, welche den Menschen abgefodert wird, das große Wort wiederholt, Ei du frommer und getreuer Knecht, der du bist getreu gewesen über Weniges, gehe nun ein zu deines Herrn Freude! Wenn wir das überlegen, g. Fr., wie sollen wir nicht Alles, was uns in diesem Leben entgegenkommen kann, immer mit freudigem und dankbarem Herzen annehmen, wohl wissend daß, wie es sich auch zu uns allein genommen verhalte, wie wir auch dadurch zu Andern einzelnen zu stehen kommen, alles in einem großen und unendlich weisen Zusammenhang das Reich Gottes fördert, welches ja der einzige Gegenstand unserer Liebe ist! Ja, m. G., das ist das feste Vertrauen und die Weisheit des Christen in Beziehung auf das, was uns in diesem irdischen Leben begegnen kann; es geschieht Alles, so wie es geschieht, zur Förderung des Reiches Christi, Alles ist in seiner uns oft so verwirrenden Mannigfaltigkeit | in seinem uns unübersehbaren Gedränge von wechselndem Wohl und Weh, Fortgang und Rükkschritt nur dieser Einen göttlichen Ordnung unterworfen. Lasset uns einen Blikk rükkwärts werfen auf den Inhalt des nunmehr abgeschlossenen Jahres unseres Lebens, wie Vieles ist da leichter an uns vorübergegangen als wir glaubten, wie oft hat uns Verderben von außen gedroht, wie oft sind wir in Besorgniß gewesen um die Erhaltung des allgemeinen Friedens und der Ruhe unter den christlichen Völkern, wie hat uns von ferne gedroht und ist uns näher gekommen und wir haben die Schläge einer weit verbreite8–9 Vgl. Mt 19,30; ferner Mk 10,31 11–13 Vgl. Mt 25,21.23; ferner Lk 19,17 31–1 Gemeint ist die sog. Asiatische Cholera, die sich seit 1817 epidemisch von ihrem indischen Ursprungsgebiet aus auch Richtung Europa verbreitete. 1830 hatte sie Russland, im September Moskau, erreicht und drang von dort weiter nach Westen vor. Seit Frühjahr 1831 waren dann auch Teile Deutschlands betroffen, vor allem die Städte. Im März 1831 war Danzig infiziert, im Juli Pillau und Königsberg. Die ersten Berliner Verdachtsfälle auf Cholera gab es am 28. August in Charlottenburg und am 30. August im Zentrum; am 1. September wurde die Stadt offiziell als infiziert erklärt. Ab der zweiten Oktoberhälfte ebbte die Epidemie in Berlin deutlich ab; gleichwohl erlag ihr noch am 14. November mit Hegel das wohl berühmteste deutsche Opfer. Vgl. oben Einleitung I. 4.

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ten Geißel Gottes gefühlt; aber so Vieles von dem, was wir gefürchtet hatten, ist nicht geschehen, was gekommen ist, wir fangen schon an die Güte und Barmherzigkeit Gottes zu preisen, der es so weit unter dem Maaßstab unserer Furcht vorübergeführt hat. Wenn wir uns versezen in Gedanken außerhalb des Reiches Gottes, in welches wir gestellt sind, und überlegen den natürlichen Troz und die natürliche Verzagtheit des menschlichen Herzens: ach! wie würde aus solchen Erfahrungen des vergangenen Jahres auf der einen Seite der Leichtsinn der Menschen sich nur aufs neue befestigen, daß sie dächten, nach diesem Maaß der Gelindigkeit in der göttlichen Zucht, der Vergeblichkeit menschlicher Sorge, der Unmöglichkeit kluger Vorkehrungen werde es immer weiter gehen auch in der Zukunft, und wir wollen nur darin weiser werden, daß wir uns weniger mühen und härmen um das, was noch nicht da ist. Und auf der andern Seite das verzagte Herz, wie würde es immer tiefer in Aengstlichkeit versinken! Wissen wir doch schon immer, das ist seine Sprache, was aufgeschoben ist, ist deswegen | nicht aufgehoben! Hatten wir bei unserer Furcht das Gefühl der göttlichen Gerechtigkeit; mußten wir gestehen, was wir besorgten, sei nur was wir verdient haben mit unserem Thun und Lassen: so stehen wir auch noch unter demselben Bann. Sind seine Strafen nicht gekommen, sie werden uns ereilen, ehe wir es uns versehen – und immer bänger und bänger wird der Blikk solcher Menschen in die Zukunft. Menschliche Weisheit sucht hiergegen allerlei Arznei zu bereiten nach der besonderen Natur eines Jeden, wie der Eine so sein Gemüth in Zaum und Zügel halten soll, und der Andere auf andere Weise sich allmählig erheben kann oder erhoben werden zu immer größerer Freiheit des Geistes, zu einem festeren Gleichmuth, welcher die Dinge dieser Welt richtiger zu beurtheilen vermag: aber eine allgemeine Arznei gegen diese Uebel, gleich gut und dieselbe für Alle die daran leiden, giebt es nur in dem Reiche Christi, in diesem Glauben, daß wir mit Allem, was uns begegnet, immer des Herrn sind. Aber wenn wir so Alles, was uns geschehen kann, auf das Reich Christi und den großen Zusammenhang seiner Entwikkelung beziehen; vergessen wir dabei nicht gänzlich uns selbst, und stellen uns zu sehr in den Hintergrund? soll etwa in dieser Regel des Apostels auch das andere tröstliche Wort verloren gehen, was er in demselben Briefe ausgesprochen hat, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten gereichen und zum Guten mitwirken sollen? Es wäre nur unser eigenes Unrecht, wenn wir dies beides von einander trennen wollten! es wäre nur ein Mangel an richtigem Verstand in den Dingen des Reiches Gottes. Das ist das Geheimniß seiner Weisheit, daß das Beste | des 37–38 Vgl. Röm 8,28

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Einzelnen und das Wohl des Ganzen darin auf eine unzertrennliche Weise verbunden sind. Was so oft in menschlichen Dingen uns entgegentritt, dieser gewaltige Streit zwischen den Wünschen und dem Wohl des Einzelnen, der nur auf das Begehren seines Herzens hört, und zwischen dem, was das allgemeine Wohl fordert, wo immer er uns entgegenkommt, da sei er uns nur ein Beweis, daß die menschliche Weisheit noch nicht übergegangen ist in die göttliche, daß wir uns mit unseren gemeinsamen Angelegenheiten noch nicht ganz eingefügt haben in dieses geistige Reich Gottes. Denn in dem Leibe Christi giebt es keinen solchen Streit und Gegensaz, da besteht alles Einzelne nur durch das Wohl des Ganzen, durch den freien Umlauf der geistigen Kräfte des einen göttlichen Lebens, welche von dem einen Mittelpunkt ausgehend das Ganze durchströmen, und das Ganze besteht nur durch die Liebe, mit welcher alle Einzelnen das Ganze umfassen, mitfühlen, was ihm begegnet, mittheilen von ihrer gesunden Lebenskraft, wo ihm etwas zugestoßen ist, was die gemeinsame Einheit des Lebens stören könnte oder bedrohen. Einen solchen Streit also, m. Th., giebt es hier nicht: was irgend für uns geschieht, das geschieht auch dem Herrn. Kommt uns also in der Zukunft durch den göttlichen Rathschluß etwas, was uns eine Verringerung des Lebens scheint, was uns, indem uns ein Theil unseres Wirkungskreises entzogen wird, indem unsere Kräfte nicht ihren freien Gebrauch haben wie bisher, als eine Annäherung an den Tod erscheint: so mag es uns wohl demüthigen, wenn wir denken, das gemeinsame Wohl des Reiches Gottes fodert izt von dir nicht einen höheren Grad von mitwirkender Thätigkeit nach außen; | aber demüthigt uns das, so soll es uns wieder aufrichten, daß wir wissen, wenn es nicht durch uns gefördert wird in einem höheren Grade, so ist doch alle Förderung, welche von Anderen ausgeht, auch die unsrige, so soll und darf das unsere Freude an dem Reiche Gottes nicht verringern, sondern wir sollen wissen, daß wir unsere Theilnahme an demselben auch beweisen können, indem wir leiden. Auch indem wir zurükkgedrängt erscheinen und uns nicht nach gewohnter Weise frei bewegen, kann doch und soll der Geist Gottes in unserm Ertragen sich offenbaren. Auch in solchen Zuständen soll das Bild Christi an uns deutlich sein; und wo wir ihn den Menschen vergegenwärtigen, wo wir Andere daran erinnern, daß wir sein sind, da fördern wir auch sein Reich. Trägt sich aber mit uns etwas zu von kräftigender und erhebender Art: dann vor allen Dingen laßt uns an das Wort des Apostels denken, Leben wir, so leben wir dem Herrn; damit wir nur nicht gleich uns selbst schaden durch die leere Einbildung, als ob sich das bezöge auf uns selbst. Laßt uns denken, was uns geschieht, das geschieht dem Herrn, damit wir uns nur nicht von dem rechten Gebrauch seiner Gaben durch eine leere und eitle Freude daran abhal-

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ten lassen, daß wir nur nicht, indem wir bei uns selbst verweilen, den Augenblikk versäumen, in welchem wir das neu erworbene Gute in Wirksamkeit sezen können für den Theil des Reiches Gottes, der in dem Bereich unseres Berufs liegt, und für den wir mit verantwortlich sind. Aber ebenso wollen wir uns auch das zu unserem Trost sagen, Wo etwas geschieht für Christum, das geschieht auch für uns, das muß auch unserm geistigen Leben dienen, wenn wir es nur recht zu ergreifen verstehen. | Und wie sehr, m. G., sind wir seit geraumer Zeit in dieser Beziehung gefördert durch einen größeren Reichthum regen Lebens, welches sich in dem Reiche Gottes entwikkelt! wie Vieles gelangt nicht zu unserer Kunde, was in den verschiedensten Theilen der Erde geschieht zur Förderung dieses Reiches! und auch alles dieses, wie weit es auch aus unserem eigentlichen Wirkungskreise herausgerükkt sei, muß doch, weil es dem Herrn geschieht, auch zu unserem Besten dienen! Leben wir dem Herrn, so sollen auch wir dem Herrn leben; und wie sollte auch nicht die herzliche Freude an Allem, was sich in dem Reiche Gottes im großen günstiges ereignet, unsere eigene Seligkeit mehren! wie sollte nicht die heilsame Vergleichung des einzelnen was dabei vorkommt unsere Selbsterkenntniß fördern! Und so mögen wir uns denn dessen getrösten, so innig ist unser Zusammenhang mit dem Ganzen, daß wir überall getrost zuerst uns selbst vergessen können, um nur darauf zu sehen, wie alles, was geschieht, nach der göttlichen weisen Leitung dem Herrn geschieht, das wohl wissend und in unserem Herzen tragend, was ihm geschieht, das geschehe auch uns. Denn nicht nur für die Zukunft, der er damals persönlich entgegenging, sondern auch für die ganze Zukunft seines Reiches auf Erden gilt das Wort, daß Er unter uns ist und wir da sein sollen, wo Er ist. Wenn Er größeren Einfluß auf die Menschen gewinnt, so wird auch unsere Wirksamkeit reicher gesegnet; wo seine Macht und Herrlichkeit sich offenbart, da fällt auch etwas davon auf uns zurükk, und wenn sein Leben in uns kräftiger wird, so wird auch Er dafür gepriesen, durch welchen Gott den Menschen die Macht gegeben hat solche Kinder Gottes zu sein. | II. Und so lasset uns auch zweitens sehen, wie diese Worte des Apostels auch unser Wahlspruch sein sollen für Alles, was uns in der Zukunft vorhanden kommen kann zu thun. Darauf waren unmittelbar seine Worte gerichtet, wenn er in der Beziehung auf jenen Gegenstand, von welchem er eben gehandelt hatte sagt, Leben wir, so 28 Vgl. Mt 28,20

28 Vgl. Joh 17,24

39–40 Vgl. Röm 14,1–6

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leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Was will er den Christen dadurch anderes zu Gemüthe führen, als daß, wenn einer der sich einer größeren Freiheit des Geistes rühmt, sie nur für sich selbst gebraucht um sich in seiner reineren Einsicht wohlzugefallen und dann dadurch aufgebläht wird, ein solcher nicht dem Herrn lebt. Und auf der andern Seite wenn ängstlichen Gewissens einer auch alles das äußerlich treu beobachtet, wozu er verpflichtet gewesen war auf einer früheren Stufe seines geistigen Lebens, aber er thut das nicht um seines Gewissens willen, sondern um zu zeigen, welcher Entsagung er fähig sei, in welchen Schranken er sich zu halten wisse, wie wenig er von der Lust versucht werde, welche diese Schranken sonst zu zerbrechen droht, dann lebt auch der nicht dem Herrn. Das war also seine Absicht bei diesen Worten, daß die Christen lernen sollten bei allem, was ihnen zu thun vorhanden kommt, nur auf den sehen, welcher dazu gestorben ist und auferstanden und lebendig geworden, damit er über Todte und Lebendige ein Herr sei. Dem laßt uns nun folgen, und auch unsrerseits bei allem, was uns obliegt auch in den beschränktesten Verhältnissen, nicht auf uns selbst sehen, sondern immer nur das Reich | Gottes im Auge haben. Denn alles, was wir immer verrichten mögen, hat genau betrachtet auch einen Einfluß auf das Ergehen der Gemeine des Herrn, ob sie sich mehr oder weniger erbaut, ob wenn auch nur wenig Gutes hinzukommt durch uns oder vielleicht gestört wird. So, m. G., sagt der Erlöser ja auch von sich, des Menschen Sohn thut nichts von ihm selbst, nicht aus seiner eigenen persönlichen Lust und Liebe geht irgend etwas hervor, sondern was er den Vater thun sieht, das thut er selbst auch gleich1; und so war also das seine eigene Regel, nur zu handeln in der Uebereinstimmung mit der göttlichen Ordnung, nur in seinen Werken und seinem Thun abzubilden die Werke und das Thun seines Vaters. Ist nun also das unser fester Glaube, von welchem wir nicht weichen wollen noch wanken, daß Gott der Vater alles leitet zur Förderung seines geistigen Reiches in dieser menschlichen Welt: wohlan, so müssen auch wir nach derselben Regel handeln, so müssen auch wir bei allem unserem Thun nichts anderes suchen, als daß auch wir in diese göttliche Ordnung eintreten. Eben dieses nun, m. G., ist auch erst das rechte Trachten nach dem Reiche Gottes, wenn wir überall nach nichts anderem trachten als darnach; und wenn, sobald uns klar geworden ist, was wir selbst dazu zu thun haben, auch alles andere vor unseren Augen verschwin1

Joh. 5, 19.

5 Vgl. 1Kor 13,4

14–16 Vgl. Röm 14,9

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det, so daß wir weder auf uns sehen noch auf Andere, weder rechts noch links, weder was steht noch was fällt, sondern immer nur leben und wirken dem Herrn, der allezeit leben und | wirken wollte für seinen Vater und nach dessen Willen. Und wenn der Erlöser sich hiebei so herabläßt zu dem gewöhnlichen Sinn der Menschen, daß er sagt, Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das andere alles zufallen: was, m. G., kann denn für uns das Andere noch sein, was uns dann noch zufallen soll? Ist das wahr, was der Apostel sagt, Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn: nun wohl so muß auch, was uns zufällt, eigentlich ihm zufallen. Mehre oder mindere sich unser irdisches Dasein, gestalte es sich so oder anders: mit Allem was uns darin begegnet, so wie mit Allem, was uns zu thun auferlegt ist, sind wir dem Herrn angehörig und verpflichtet. Was uns also zufällt, ist nichts anderes als die mannigfaltig wechselnde Art, wie sich während dieses irdischen Lebens der gemeinsame Beruf aller Menschen und der eines jeden Einzelnen gestaltet. Wenn wir nach nichts Anderem trachten sollen als nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit: so fällt uns nie etwas zu zum bloßen Genuß oder Besiz, sondern immer nur zur Verwendung in seinem Dienst. Gleich willkommen also soll uns sein was uns zufällt: laßt uns nur sehen, daß wir es recht verwenden, das heißt, daß wir es wieder ganz und allein auf sein Reich beziehen. Aber freilich was wir uns auch für die nächste Zukunft wünschen müssen, was uns so wie wir uns diese unsere Bestimmung klar vor Augen stellen, schwer aufs Herz fällt, wie wir wohl dazu gelangen mögen, das ist die rechte Weisheit um in jedem Falle richtig zu unterscheiden, was dem Reiche Gottes frommt, damit wir nicht in der besten Absicht von irgend einem falschen Schein verleitet irre ge|hen oder hindern, wo wir fördern wollten. Denn woher kämen, wenn das nicht geschähe, so viele Verwirrungen in der Kirche und in der Gesellschaft überhaupt, die aus Handlungen wohlgesinnter Menschen hervorgehen? Aber dürfen wir uns wol beklagen, daß wir in dieser Beziehung rathlos gelassen wären, und zu dieser heilsamen Erkenntniß nicht gelangen könnten in dem Reiche Gottes, in welches wir gestellt sind? Wohl findet sich manches christliche Gemüth oft hart bedrängt in schwierigen Berathungen und schwankt bald auf diese bald auf jene Seite; aber wissen wir nicht gewöhnlich hintennach wenigstens bald genug, wie wir sollten gehandelt haben? Wovon ist das also ein Zeichen? Doch immer nur davon, daß das Herz noch nicht fest geworden ist; und das Auge noch nicht ganz licht, daß noch verschiedene Gewalten den Menschen die eine dahin die andere dorthin ziehen: und frei6–7 Mt 6,33

39–40 Vgl. Hebr 13,9

40 Vgl. Mt 6,22; Lk 11,34

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lich in solchem Streite verliert sich nur zu leicht die Sicherheit seines Blikks, da ergreift auch den Redlichen und Wohlgesinnten leicht ein Schwindel, indem er nicht mehr erkennt, welches der Weg ist, welchen er einzuschlagen hat, oder wo das Ziel steht, welchem er sich nähern will. Aber daß das Herz fest werde und das Auge licht, wie viele Hilfsmittel sind uns dazu nicht verliehen! wie leuchtet uns darin derjenige vor, auf den wir Alles beziehen sollen, so daß wir uns nur sein Bild vergegenwärtigen dürfen, um gewiß sehr bald zu erkennen, was uns von der Aehnlichkeit mit ihm abziehen würde! wie dürfen wir nur die Bewegungen unseres Gemüthes vergleichen mit dem Eindrukk, welchen sein Bild auf uns macht, um zu wissen, was für ihn sein würde und was wider ihn! wie vernehmlich redet die Stimme | des göttlichen Worts zu einem Jeden, dem es Ernst ist den Willen Gottes zu vollbringen! wie einfach ist doch diese Weisheit, welche uns den Weg zeigt, wie grade und reintönend die Stimme des Geistes in uns, welche uns auf die Gott wohlgefällige Bahn leiten will! Giebt es nicht immer um uns her solche, welche in diesem und jenem mehr Verstand haben von dem Reiche Gottes als wir? ergeht sich die christliche Liebe nicht gern in gemeinsamen Berathungen und Ueberlegungen, damit ein Urtheil das andere schärfe? Wie können wir jemals sagen, daß es uns fehlen könne, Rath zu finden, wo wir dessen bedürfen. Und darum, weil wir so wohl berathen sind, und wir das nicht verkennen können ohne die schreiendste Undankbarkeit gegen Gott, der uns so viel gegeben hat: darum kann und soll auch in dem Jahre, welches vor uns liegt, viel von uns gefodert werden. Mit diesem Bewußtsein lasset uns der Zukunft entgegengehen, wie viel oder wenig davon uns in diesem irdischen Leben noch bevorstehen mag. Was uns begegnet, was uns vorhanden kommt zu thun, dies beides mußten wir in unserer Betrachtung zwar trennen; in dem Leben, das vor uns liegt, entwikkelt sich aber Beides mit einander, und Eines aus dem Andern. Und für beides giebt uns dasselbe Bewußtsein Trost und Kraft, daß sich nämlich zwar schon immer, viel deutlicher aber jezt, nachdem das Reich des Gesezes vorüber ist, alles immer bezogen hat und beziehen wird auf den Einen, welchen Gott den Menschen gesezt hat zum Gnadenstuhl, zum Zeichen seiner huldreichen Gegenwart. Wir können das Bewußtsein nicht haben, daß alles was uns begegnet Ihm geschieht, als nur | indem wir auch alles zu Gut zu machen suchen für sein Reich. Wir können zu dem was uns obliegt zu thun für sein Reich nicht Muth und Kraft behalten, wenn wir nicht zugleich das Bewußtsein haben, daß auch, was uns begegnet, nach 34–35 Anspielung auf Hebr 4,16 vor dem alttestamentlichen Hintergrund von Ex 25,17–22 und Lev 16,2.13f

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Gottes Leitung dazu zusammenstimmt. Und so laßt uns vertrauensvoll beachten, wie aus dem, was Gott uns zuschikkt, uns unsere Pflicht erwachsen wird, und wie wiederum aus unserem eigenen Thun sich wieder das entwikkeln wird, was uns begegnen soll. Wenn je in der Zukunft auch uns trübe Tage entgegentreten, wenn der Einzelne sich in seinem Leben und Wirken gehemmt fühlt: nichts wird ihn hindern bestimmt zu erkennen, wie auch das dem Herrn geschieht, ausgenommen es müßte seine eigene Schuld ihn mahnen; das nöthigt dann Jeden statt von dem, was der Herr uns begegnen läßt, vorwärts zu sehen auf das, was uns obliegt, unsern Blikk rükkwärts zu wenden auf das, wodurch wir es verschuldet haben. Wenn jemals uns erfreuliche Begebenheiten zu einer größeren Wirksamkeit in dem Reiche Gottes rufen; wenn sich in einzelnen Augenblikken unseres Lebens alles vereinigt, um unsere Kräfte zu erfrischen, und uns neue Werke Gottes zu zeigen, die wir zu thun haben: dann kann nur die Eitelkeit, nur der Troz und die Verzagtheit des menschlichen Herzens, welche nicht mehr in das Reich Gottes gehören, uns daran hindern, das Rechte zu finden. Sind wir darin treu, daß wir uns selbst hintenanstellen, und nur suchen, was des Herrn ist; beharren wir dabei lebend oder sterbend nur dem Herrn anzugehören und uns redlich von jeder persönlichen Rükksicht auf uns selbst loszusagen, um für Ihn zu leben: so wird auch jene Unsicherheit verschwinden; immer | heller wird uns das Licht des Lebens leuchten, der göttliche Geist immer vernehmlicher in unserem Inneren reden, und die Liebe, welche Alle durchdringt, die erfahren haben, welches Heil in dem Einen ist, den Gott gegeben hat, unser Herz immer mehr reinigen; und so wird Alles was wir zu thun vermögen zum Wohl und zur wahren Förderung seines Reiches geleitet werden. In dieser Gemeinschaft der Christen, der wir angehören, auf dieser Stufe der Entwikkelung des menschlichen Geistes, an der unser Aller Leben einen so reichen Theil hat, in diesem durch so viele Prüfungen bewährten durch die herzlichste gegenseitige Zuneigung unauflöslich geknüpften Verband menschlicher Ordnungen und Geseze, dem wir angehören: o welche Fülle von Hülfsmitteln hat uns die göttliche Gnade darin gegeben, um auf eine kräftige Weise dem Herrn zu leben in unserer ganzen irdischen Zukunft. Wie könnten wir, indem wir darauf hinsehen, zagen und uns selbst auf eine vergebliche Weise mit Sorgen quälen. Was uns nur geschieht, woran wir keinen Theil und also auch keine Schuld haben können, das kommt ja von dem Einen, der nur sein Reich mehren und fördern will. Was uns zu thun obliegt, wie gering es auch scheine, es ist nichts klein; denn in allem sollen sich bewähren alle die reichen Schäze der göttlichen Gnade, welche uns geöffnet sind. Und wobei die sich zeigen können, das hat aufgehört, ein Geringes zu sein, dessen dürfen wir uns nicht schämen,

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als ob es in der Verborgenheit verschwände; denn es geschieht in der Stadt Gottes, welche auf dem Berge liegt, damit sie von Allen gesehen werde. So lasset uns zu diesem treuen Gebrauch aller der Gnadenmittel, mit welchen Gott uns so reichlich gesegnet | hat, auch für die Zukunft, welche noch vor uns liegt, immer enger zusammenhalten, um den Bund des Glaubens und der Liebe, in welchem wir stehen, so zu bewahren, daß jeder sei das Licht des Andern, der im Dunkeln wandelt, daß jeder sei der Stab des Andern, der grade nicht vermag sich aufrecht zu erhalten, daß jeder suche zu fördern, zu tragen, zu heilen, zu leiten, zu erfreuen, so weit er es um sich her vermag, damit immer herrlicher unter uns sein Reich sich erbaue, und wir es durch die That beweisen, daß es keine größere Weisheit, so wie keine größere Seligkeit giebt als die, lebend und sterbend nicht sein eigen zu sein, sondern des Herrn. Amen. Lied 663, 8–9.

1–3 Vgl. Mt 5,14 15 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 663: „Preis dir, du aller Himmel Gott“ (Melodie von „Triumph, Triumph, es kommt mit Macht“)

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1. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 2,23–3,5 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 119–131, Nr. X; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 22. Tex t . Marcus II, 23. bis III, 5. „Und es begab sich, da er wandelte am Sabbath durch die Saat, und seine Jünger fingen an, indem sie gingen, Aehren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Siehe zu, was thun deine Jünger am Sabbath, das nicht recht ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David that, da es ihm Noth war, und ihn hungerte, sammt denen, die bei ihm waren? Wie er ging in das Haus Gottes, zur Zeit Abjathars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand durfte essen, denn die Priester, und er gab sie auch denen, die bei ihm waren. Und er sprach zu ihnen: der Sabbath ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbaths willen. So ist des Menschen Sohn ein Herr auch des Sabbaths. Und er ging abermal in die Schule. Und es war da ein Mensch, der hatte eine verdorrete Hand. Und sie hielten auf ihn, ob er auch am Sabbath ihn heilen würde, auf daß sie eine Sache zu ihm hätten. Und er sprach zu dem Menschen mit der verdorreten Hand: | Tritt hervor. Und er sprach zu ihnen: Soll man am Sabbath Gutes thun, oder Böses thun? Das Leben erhalten oder tödten? Sie aber schwiegen stille. Und er sah sie umher an mit Zorn, und war betrübt über ihrem verstockten Herzen, und sprach zu dem Menschen: Strecke deine Hand aus. Und er streckte sie aus; und die Hand ward ihm gesund wie die andere.“

1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 22: „Beschwertes Herz, leg ab die Sorgen“ (Melodie von „Die Tugend wird durchs Kreuz geübet“)

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M. a. Fr. Ich habe diese beiden Erzählungen mit einander verbunden, weil sie beide denselben Gegenstand, nämlich den Sabbath betreffen, und so stehen sie auch wol sehr natürlich hinter derjenigen Rede des Erlösers, welche wir zuletzt betrachtet haben, wo er nämlich von seiner eigenen Lehre und dem Reiche Gottes, das er zu stiften gekommen war, das Gleichniß aussprach von dem Most und den neuen und alten Schläuchen; denn es gehört auch dieses Gesetz und dieser Gebrauch von dem Sabbath unter das, was sich in seiner damaligen Gestalt mit dem Reiche Gottes, das er stiften wollte, nicht vertragen konnte. Zuerst also stellten ihn die Pharisäer darüber zur Rede, daß seine Jünger, indem sie durch die Felder wandelten, Aehren ausrauften, und fragten ihn, nicht wie es hier zu lauten scheint, was thun deine Jünger am Sabbath, das nicht recht ist, sondern: „was thun deine Jünger, das nicht recht ist am Sabbath zu thun?“ denn daß, wenn man über seines Nächsten Feld ging, man Aehren ausraufte, um sie zu genießen, das war in dem Gesetz erlaubt, und ebenso, wenn man durch den Weinberg ging, daß man sich Trauben pflückte. Es war also nur von ihrer Auslegung der Gesetze des Sabbaths die Rede, daß sie dieses, so wie es während des Sabbaths geschah, da es doch erlaubt war, einen Sabbather Weg zu gehen, für eine Uebertretung des Gesetzes erklärten. Da hätte | sich nun unser Erlöser mit seinen Jüngern viel leichter und genauer vertheidigen können, wenn er sie auf jene Stelle des Gesetzes hingeführt hätte und gesagt: das Gesetz unterscheidet ausdrücklich Aehren ausraufen mit der Hand, um sie zu genießen – denn anderes ist doch mit einer so geringen Menge nichts zu machen – und Aehren mit der Sichel schneiden, so wie Trauben pflücken mit der Hand und Trauben sammeln und mit nach Hause nehmen. Denn eben das war der Sinn jenes Gesetzes, daß niemand sollte am Sabbath etwas thun, was sich auf den äußeren Gewinn und Erwerb bezöge; aber sie hatten freilich dieses Gesetz mit einer großen Menge von Auslegungen umgeben, woran die Pharisäer Alle binden wollten, und so war es auch mit diesem Aehren ausraufen, daß sie etwas Unerlaubtes darin sahen. Aber der Erlöser hat diesen Weg nicht eingeschlagen, welcher der nähere und leichtere war; sondern was thut er? Er führt ihnen ein Beispiel an von einem anderen Gesetz, welches ebenso ein Gesetz des Moses war wie das Ackergesetz, das David übertreten hatte, der doch der Geliebte Gottes war, und nicht nur er, sondern der Priester selbst war ihm dazu behülflich gewesen und hatte ihn in das Heiligthum geführt, damit er in der Noth das Brot nehmen konnte, 3–6 Vgl. die Predigt am 18. Dezember 1831 über Mk 2,18–22 (KGA III/12, S. 816– 822) 14–17 Vgl. Dtn 23,25f 18–19 Hierbei handelt es sich um eine rabbinische Auslegung von Ex 16,29, bei der man die Entfernung Israels von der Bundeslade während der Wüstenwanderung zum Maßstab der Entfernung heranzog, die offensichtlich zur Anbetung am Sabbat zurückzulegen erlaubt sein musste. 22–26 Vgl. Dtn 23,25f 33–34 Vgl. Lev 24,5–9 34–36 Vgl. 1Sam 21,2–7

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welches dazu bestimmt war, erst in dem Tempel ausgestellt zu werden und dann dem Priester zur Speise zu dienen. Wenn er also hier zu einem anderen Gesetz übergeht und zeigt, wie dieses habe können übertreten werden, ohne daß es geahndet worden wäre: so wollte er etwas Größeres erreichen als bloß die damalige Handlung seiner Jünger vertheidigen, indem er darauf aufmerksam machen wollte, daß Gott kein Gefallen haben könne an solchen äußerlichen Ordnungen und Buchstaben, sondern daß solche Gesetze immer | wieder einem höheren geistigen Gesetze unterworfen wären. Davon macht er auf das Sabbathsgesetz die Anwendung, daß er sagt: „Der Sabbath ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbaths willen; so ist des Menschen Sohn ein Herr auch über den Sabbath." Da fragt sich nun, wie der Erlöser denn diese Worte eigentlich gemeint hat. Wenn wir alle die Stellen, die in den Büchern Mosis vom Sabbath handeln, zusammennehmen: so gab es kein anderes Gesetz darüber als dieses, daß von aller Arbeit an demselben sollte gefeiert werden, aber von einer bestimmten Verwendung der Zeit des Sabbaths zu einem anderen Behufe ist gar nicht die Rede; und also hatte der Erlöser vollkommen recht zu sagen, der Sabbath sei um des Menschen willen gemacht, und er hätte hinzufügen können, auch um des Thieres willen, das dem Menschen dient, denn dieses sollte auch seinen Theil haben am Sabbath und an demselben ruhen. Nun aber wie meint er das Folgende? Das Natürlichste wäre wol gewesen, daß er gesagt hätte, wenn der Sabbath um des Menschen willen ist, d. h. zu seinem Nutzen und Vortheil: so ist auch der Mensch der Herr über den Sabbath, in wie weit er sich will diesen Vortheil zu Nutze machen; aber da muß es uns überraschen, daß er sagt, „des Menschen Sohn" ist ein Herr über den Sabbath; denn das war der Ausdruck, durch welchen er sich am Meisten zu bezeichnen pflegte; und er sagt also nicht, weil der Sabbath um des Menschen willen ist: so ist der Mensch jeder für sich allein Herr über den Sabbath, sondern er, des Menschen Sohn, sei Herr über den Sabbath. Wie, m. g. Fr., ist dieses wol zu verstehen? Das ist gewiß, daß es gar Vieles gibt in menschlichen Dingen, was auf dieselbe Weise, wie jenes Gesetz des Sabbaths, um des Menschen willen, zu seinem Nutzen und Vortheil eingerichtet ist; aber es würde doch übel stehen um | die Zwecke solcher Einrichtungen, wenn jeder Einzelne für sich Herr über dieselben wäre; denn dann würde es tausend Vorwände geben, wodurch der Nutzen, der dabei beabsichtigt wird, immer wieder verloren ginge. Es war auch nicht der Einzelne, jeder für sich betrachtet, um dessentwillen der Sabbath war; sondern es war eine gemeinsame Einrichtung für das Volk, und über alle solche gemeinsame Ordnungen soll der Einzelne nicht Herr sein. Aber der Erlöser konnte sich sehr wol den Herrn darüber nennen, und das ist es, was er hier 19–22 Vgl. Ex 20,10; Dtn 5,14

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hat ausdrücken wollen, daß er der Herr sei über alle Einrichtungen und Verfassungen, welche zu dem Wohl der Menschen, der Einzelnen und der Gemeinschaft, gemacht sind. Und so betrachtet, m. G., ist das ein gar großes Wort, welches auch beständig seitdem die eigentliche innere Regel alles christlichen Lebens geworden ist. Wenn wir nun irgend über menschliche Einrichtungen urtheilen, inwiefern sie vollkommen oder unvollkommen sind: was nehmen wir für einen Maßstab? Wir müssen uns gleich bewußt werden, daß wir einen unvollkommenen und geringen nehmen, wenn wir nicht den Erlöser nehmen, wenn wir nicht fragen, ob es auch so sei, daß es sein Reich, seine Absichten mit den Menschen fördere, ob es auch in seinem Sinne und Geiste auf die Menschen wirke, und was nun von der Art noch nicht ist, daß wir es in dieser Beziehung loben können, darüber macht nun nicht jeder sich selbst allein zum Herrn; denn das würde die Quelle aller Verirrungen sein, und darum hat der Erlöser sich wol gehütet, dieses zu sagen; sondern ihn machen wir zum Herrn, d. h. auf dem Wege, den wir uns alle vorgezeichnet haben, daß jeder sein Licht soll leuchten lassen, daß die Gaben des Geistes in jedem sich bewähren sollen zum gemeinsamen Nutzen, auf diesem von ihm vorgezeichneten Wege hoffen wir, daß Alles gut enden werde, und daß es durch seinen Geist auf eine höhere Stufe der Vollkommenheit werde erhoben werden, wozu | aber jeder das Seinige thun soll, wie der Erlöser hier auch mit den Seinigen das Beispiel gab. Wenn nun, m. g. Fr., wenn nun in jenem Gesetz des Sabbaths über die Verwendung der sabbathlichen Zeit nichts Anderes angeordnet war, als nur dieses Gebot des Ruhens von der Arbeit: so sehen wir gar wol, wie dieses Gesetz mit unserem christlichen Sonntag gar nichts zu schaffen hat. Denn das wird sich wol niemand einbilden, so wie wir gewiß wissen und es aus der heiligen Schrift deutlich sehen, daß die Jünger des Herrn, die dem Gesetz Mosis unterworfen waren, so lange sie in dem Lande blieben, wo es gelten sollte und konnte, den Sabbath nach der alten Weise des Volkes wol gehalten haben, daß sie nun auch sollten den Sonntag, nachdem sie angefangen ihn zu heiligen, ebenso von der Arbeit gefeiert haben; das wäre über ihr Vermögen gegangen. Dieser hat ein anderes Gesetz; nicht das Ruhen von der Arbeit ist die Hauptsache, sondern die Richtung des Herzens auf Gott und die Beschäftigung mit den göttlichen Dingen. Es gab wol eine solche Einrichtung zu der Zeit des Erlösers, wie wir in dem zweiten Theil der verlesenen Worte sehen, daß er in die Schule ging, und wenn er dahin ging, ging er hin um zu lehren; aber das war keine gesetzliche, sondern eine die sich erst später gebildet hatte, und aus der freilich unsere ersten sonntäglichen Einrichtungen entstanden sind. 17–18 Vgl. 1Kor 12,7

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Wenn wir nun unseren christlichen Sonntag betrachten: werden wir sagen können, daß von dem auch gilt, der Mensch sei nicht um des Sabbaths willen gemacht, sondern der Sabbath um des Menschen willen? Ich glaube, wir werden uns leicht entschließen, die Sache hier umzukehren und zu sagen: allerdings ist der Mensch um des Sabbaths willen gemacht. Denn was ist wol anders die höchste Bestimmung des Menschen, als daß er sich ganz in das göttliche Wesen versenke, daß er ganz mit demselben Eins zu werden suche, daß sein | ganzes Leben und Gemüth eine Richtung gewinne von den irdischen Dingen hinweg zu den himmlischen, nicht um sich der irdischen Dinge zu entledigen, sondern sie zu heiligen, nicht um von dem Schauplatz der Erde den Blick abzulenken, sondern ihn in das Himmlische zu verwandeln durch die himmlische Richtung des Gemüths. So mögen wir denn wol freilich sagen, wenn wir unseren christlichen Sonntag betrachten, der Mensch sei um dessentwillen gemacht, um immer mehr zu wachsen und zuzunehmen und sich, wozu er bestimmt war, zu stärken. Aber nur ist dieser christliche Sabbath dann nicht auf Tag und Stunde beschränkt; sondern wenn gleich dieses der Punkt ist, von welchem das gemeinsame geistige Leben der Christen immer wieder ausgeht, an welchem sie sich auf gemeinsame Weise der geistigen Gegenwart des Herrn erfreuen: so soll doch auch diese sabbathliche Stimmung sich immer weiter in das Leben verbreiten, und je geringer in diesem Sinne der Unterschied ist zwischen dem Sabbath und den anderen Tagen, zwischen der Andacht im Gebet an jedem Tage und an allem Anderen, was wir an demselben beginnen: um desto vollkommener ist das Werk der christlichen Heiligung, und um desto mehr kommen wir zu dem Glauben, daß das menschliche Leben ein sabbathliches, ein in der Vereinigung mit Gott zugebrachtes sei. Und nun lasset uns sehen, wie der Erlöser über denselben Gegenstand noch in unserer zweiten Geschichte redet. Wir wissen nicht, ob es zufällig geschehen ist oder ob es eine absichtliche Veranstaltung seiner pharisäischen Gegner war, daß sie dem Erlöser in der Schule diesen Menschen mit der verdorreten Hand vorgeführt; es wird aber ausdrücklich gesagt, sie hätten auf ihn gehalten, ob er ihn heilen würde, damit sie ihn selbst und nicht seine Jünger bloß, einer Verletzung des Sabbaths schuldig erklären könnten. Was that nun der Erlöser, welcher immer wußte, was in den Menschen war? Er legte | ihnen die Frage vor: „soll man am Sabbath Gutes thun oder Böses thun; das Leben erhalten oder tödten?“ Wenn wir nun diese Frage uns wiederholen und uns in die Stelle seiner Gegner, denen er sie vorlegte, versetzen: so könnten wir uns allerdings wol wundern, daß sie geschwiegen haben; denn sie hätten noch eine ganz gute Antwort darauf. Sie hätten ihm nämlich sagen können, wir verlangen ja gar nicht, daß du Böses thun sollst 23 an allem Anderen] Kj allem Anderen oder von allem Anderen hatten noch

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am Sabbath; du sollst nur das Gute, was du thun willst, aufschieben, und sollst denken, daß das mit zu den göttlichen Schickungen gehört. Wenn diesem Menschen doch sein Zustand nur gekommen sein kann durch eine göttliche Schickung: so gehört es mit zu dieser, daß er seinen Zustand wenigstens noch einen Tag trage, damit die Heilung geschehen kann mit unverletztem Gewissen, und er sich auch seinerseits der Genesung auf reine Weise erfreuen könne. Das, sollte man denken, hätten sie dem Herrn wol antworten können, und er muß also auf diese Antwort auch wol vorbereitet gewesen sein. Wir müssen also weiter überlegen, was er darauf würde geantwortet haben. Da können wir nun die Antwort deutlich aus seinen Worten herauslesen. Indem er ihnen die Frage vorlegte: soll man am Sabbath Gutes thun oder Böses, und sie ihm geantwortet hätten, weder das Eine noch das Andere, sondern das Gute nur aufschieben: so würde er ihnen wieder geantwortet haben: dann thue ich aber Böses, denn wenn ich sein Leben nicht erhalte, so würde ich sein Leben tödten; denn die Krankheit ist doch immer ein Theil des Todes; und also ist der eigentliche Sinn seiner Worte dieser, daß er sagt, was Einem Gutes vorhanden kommt zu thun, das muß man frisch weg thun, und nicht erst auf etwas Anderes warten, damit die Gelegenheit Einem nicht ungenutzt verschwinde, wie er sagt: man muß | wirken, so lange es Tag ist, ehe denn die Nacht kommt, da niemand mehr wirken kann; die Nacht ist aber für jeden Einzelnen dann, wann die rechte Stunde und die günstige Gelegenheit zum Wirken vorüber ist. Er kehrt sich also gar nicht an den Sabbath, sondern sagt: wie man nicht soll das Böse thun, so soll man das Gute thun, was Einem vorhanden kommt. Davon, m. g. Fr., lasset uns noch eine Anwendung machen, die uns sehr nahe liegt, in Beziehung nämlich auf die gewöhnliche Verwechselung zwischen unserem christlichen Sonntag und dem Alt-Testamentlichen Sabbath. Wenn wir die Worte des Erlösers betrachten und sehen nun auf das Loos so vieler Menschen in unserem Volke und in unsern Gegenden und überall in diesem so dicht bewohnten Theile der Erde, in welchem die evangelische Lehre am Meisten ausgebreitet ist: so können wir nicht leugnen, es gibt gar viele Menschen, denen ein solches gänzliches Verbot der Arbeit, wie es für den Jüdischen Sabbath gemacht war, an unserem christlichen Sonntage gar drückend sein würde, und statt sie in der sabbathlichen Ruhe des Gemüthes zu fördern, sie nur vielmehr darin stören würde, weil es leider so viele gibt, die an den übrigen sechs Tagen nicht so viel erwerben können, als ihnen und den Ihrigen noth thut, und die oft in den Fall kommen, daß sie einen Theil des Ruhetags dazu nehmen müssen. Wo sich das nun wirklich so verhält und nicht ein bloßer Vorwand ist für die Sucht zu gewinnen: müssen wir nicht sagen, daß die vollkommen recht haben, das Wort des Erlösers auf sich anzuwenden, wenn man ihnen einen Vorwurf machen 19–21 Vgl. Joh 9,4

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wollte, indem sie sagten, wir würden ja in den Fall kommen, Böses zu thun, weil wir unseren Pflichten nicht genügen könnten, wenn wir nicht, nachdem wir dem Sonntag sein Recht haben widerfahren lassen, nun einen Theil des Tages zur Arbeit in unserem Beruf anwenden wollten? Und da würden sie ebenso gut ihre Gott | sei Dank gesunden Hände zur Arbeit ausstrecken können, wie der Erlöser es hier den Kranken thun läßt. Wenn also nun in anderen christlichen Ländern jenes Gesetz des Jüdischen Sabbaths auf eine solche Weise auf den christlichen Sonntag angewendet wird, wie hier die Pharisäer die Jünger des Herrn und den Herrn selbst daran binden wollten: können wir wol sagen, daß das in dem Geist der rechten christlichen Frömmigkeit geschieht? Das glaube ich nicht; und wenn sie nun gar dieses zum Maßstabe der rechten christlichen Frömmigkeit machen, sagend, wer das leidet, daß am Sabbath etwas Anderes geschieht, als wozu er bestimmt ist, der ist kein rechter Christ: so können wir doch nicht anders sagen, als daß sie in einer Verblendung leben, daß sie sich des Wortes und der That des Herrn nicht in dem rechten Geist bemächtigt haben, daß sie in die Verwechselung des Neuen Bundes mit dem Alten gerathen, und daß sie in der größten Gefahr sind, aus der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit in die Gerechtigkeit aus des Gesetzes Werken zu gerathen, so daß wir uns wol hüten müssen, dieses zu unserer Denkungsart zu machen. Aber freilich auf der anderen Seite will ich nicht leugnen, wenn es unter uns so steht, daß Viele in der Nothwendigkeit sind, die dem Menschen nöthige Ruhe sich zu versagen, um ihren Pflichten gegen sich selbst und gegen diejenigen, welche ihnen die Nächsten sind, Genüge zu leisten: so müssen wir das für einen Mangel halten; und wenn es an der Beschaffenheit unserer gemeinsamen Angelegenheiten mit liegt: so müssen wir uns alle dessen schämen als eines Zeichens einer gemeinsamen Unvollkommenheit, die unter uns ist, und schaffen, daß es damit besser werde. Aber wenn nun grade da, wo die größte Ungleichheit ist in dem äußeren Vermögen der Menschen, wo der größte Reichthum und die schrankenloseste Ueppigkeit mit der bittersten Armuth neben einander herrscht, doch ein solches Gesetz geltend gemacht werden soll, ohne daß man danach | trachtet, diese Ungleichheit zu verringern, damit denen, welche von der Last der Arbeit zu Boden gedrückt werden, ihre irdischen Sorgen erleichtert werden: so müssen wir sagen, da ist gewiß der rechte Geist christlicher Frömmigkeit nicht, wo man ohne ein solches Bestreben das äußere Gesetz zu erhalten sucht. Die nun, welche also unter der Unvollkommenheit unserer gemeinsamen Einrichtungen leiden, daß wir sagen müssen, es gehört mit zur Erledigung ihrer Pflichten, daß sie noch einen Theil des Sabbaths der Arbeit widmen, – von denen werden wir sagen, wenn sie es nur thun aus dem tiefen Gefühl ihres Berufs: dann wird auch durch die Arbeit nicht die sabbathliche Ruhe ihres Herzens 18 Vgl. Joh 4,23.24

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gestört werden, und ihr Gemüth wird von dem Bewußtsein erfüllt sein, daß sie, indem sie das Irdische verrichten, doch das Himmlische im Herzen tragen und darnach trachten, daß ihr Herz rein sei vor Gott; und dann geben sie uns grade ein Vorbild von dem Rechten, wie der christliche Sonntag mit seiner himmlischen Ruhe sich nicht auf das Einzelne beschränken, sondern das Ganze umfassen soll. Wenn also auch in Fällen der Noth an diesem dem Geistigen geweihten Tage gearbeitet wird, so dann nur das geistige Leben, die Richtung auf das Göttliche auch in die anderen Tage der Arbeit hineintritt, und sich beides vermischt und ausgleicht: so wollen wir das nicht für einen Mangel, sondern für einen Vorzug halten und sagen, darin zeigt sich der rechte Geist der christlichen Frömmigkeit, welcher ja immer davon ausgeht, daß der christliche Gottesdienst kein äußerer sei, und daß Gott keinen Gefallen habe an äußeren Opfern, sondern daß alle Richtung des Herzens auf Gott ein Gottesdienst ist, und daß es auf die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit ankomme im großen Gebiet der christlichen Frömmigkeit. Dieses nun, m. G., führt uns noch auf ein anderes Wort des Herrn über den Sabbath als das Allerstärkste, was er gesagt hat. Dieses hat uns der Apostel Johannes in seinem | Evangelio aufbewahrt, wo auch die Juden auf den Herrn hielten und ihn wollten der Verletzung des Gesetzes schuldig erklären und als einen solchen richten, weil er am Sabbath einen Kranken geheilt und gesagt, nimm dein Bett und gehe damit heim. Als sie merkten, wie sie deswegen auf ihn hielten, da sprach er zu ihnen: mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch, das heißt, wie er sich nachher selbst erklärt, daß des Menschen Sohn nichts von ihm selber thue, daß das also auch nicht seine willkührliche Einrichtung sei, die er gemacht, sondern was er den Vater thun sehe, das thue er gleich auch. So sagt er, sein Vater wirke immerfort, und das thue auch er. Das war nun ganz dem entgegengesetzt, was ganz deutlich ausgedrückt ist in dem Alten Testament in Beziehung auf den Sabbath, und der Herr hat uns dadurch das vollkommene Recht gegeben, jenes nur für die damalige Zeit gelten zu lassen, das Unsrige aber nach seiner Wahrheit zu messen. Denn was finden wir überall gesagt in den Schriften des Alten Bundes, wo von dem Sabbath die Rede ist? In sechs Tagen, heißt es, hat Gott die Welt geschaffen, aber am siebenten ruhte er, oder, wie es in einer anderen Stelle heißt, am siebenten Tage hat er sich erquickt, als ob er auch ein Bewußtsein von der Anstrengung hätte haben können. Da sagt nun der Erlöser, er habe ein ganz entgegengesetztes Bewußtsein von der göttlichen Thätigkeit, in welcher sei kein Wechsel zwischen Arbeit und Ruhe, sondern sie gehe ununterbrochen fort, seine Arbeit 14–15 Vgl. Joh 4,23.24 19–22 Vgl. Joh 5,1–16 22 Vgl. Joh 5,11; ferner 5,8 23–24 Vgl. Joh 5,17 24–27 Vgl. Joh 5,19 33–34 Vgl. Gen 2,2 35–36 Vgl. Ex 31,17

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bedürfe weder noch ertrage sie Ruhe; und so wie er seinen Vater wirken sehe, so wirke er auch, nur nach menschlicher Weise, so wie ihm Veranlassung dazu werde, ohne sich an eine solche äußere Ordnung zu binden und ohne | eine solche Nothwendigkeit der Ruhe und des Mangels an Thätigkeit anzuerkennen. Und das ist um so angemessener und richtiger, je geistiger, d. h. je Gott ähnlicher diese Thätigkeit ist. Aber alle Thätigkeit des Erlösers war eine geistige, und alle unsere Thätigkeit soll auch eine geistige sein. Auch die Beschäftigung mit irdischen Dingen, die Ausübung unseres Berufs, welcher es auch sei, so wie wir dabei ein Bewußtsein haben von dem Zusammenhang jedes solchen Geschäfts mit den Angelegenheiten des Geistes, daß also dadurch auch die Macht und Gewalt des Geistes aufrecht erhalten werde, so wie wir Alles, was wir thun, in dem Bewußtsein der Pflicht und des Berufes thun: so ist auch alle unsere Thätigkeit eine geistige, dann können wir uns an dieses Wort des Erlösers anschließen, und dann wird auch wahr werden, daß, wie des Menschen Sohn, wir auch Herr über den Sabbath sind – so wie wir nur immer thun, was wir ihn thun sehen, ihn, in welchem wir am Sichersten den Vater schauen und das vollkommenste Abbild göttlicher Thätigkeit in der seinigen finden. So lasset uns denn eingedenk dessen, das wir geistig sind, und daß Alles in unserm Leben geistig sein und werden soll, nach dem Wort des Apostels handeln, indem er sagt: der Geistige kann nur die Geister richten, aber wir, die wir geistig sind, sollen Alles geistig richten: so werden wir uns immer mehr der Freiheit der Kinder Gottes freuen und auch in diesem Gebiet immer mehr frei werden von der verderblichen Herrschaft des Buchstabens, so daß Alles sei ein Anbeten im Geist und in der Wahrheit nach dem Vorbilde Christi, dessen Geist uns in alle Wahrheit leitet und uns frei macht, so daß wir mit ihm dem Sohn Gottes frei sind und handeln als freie Söhne in dem Hause des Vaters. Amen. Lied 20, 2–4.

21–22 Vgl. 1Kor 2,13–15 24–25 Vgl. Joh 4,23.24 25–26 Vgl. Joh 16,13 26– 28 Vgl. Joh 8,35f 29 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 20: „Wer auf seinen Heiland trauet“ (Melodie von „O wie selig sind die Seelen“)

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Am 15. Januar 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,47–51 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 2) 1832, S. 95–115, Nr. VI SW II/3, 1835, S. 156–168; 21843, S. 161–174. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 246–257 Keine 1. Teil einer Predigtreihe über die Art, wie der Erlöser ein persönliches Verhältnis zu dem Einzelnen anknüpft, 15. Januar bis 26. Februar 1832

Am 2. Sonntage nach Epiphan. 1832.

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Lied 41. 528.

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Text. Ev. Johannis I, 47–51. „Jesus sah Nathanael zu sich kommen, und spricht von ihm: Siehe, ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennest du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warest, sah ich dich. Nathanael antwortete und spricht zu ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubest, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum; du wirst noch Größeres, denn das sehen. Und spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, von nun an werdet ihr den | Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf und herabfahren auf des Menschen Sohn.“ M. a. Fr. Wenn wir die ganze Thätigkeit unsers Erlösers während seines öffentlichen Lebens ins Auge fassen: so können wir zwei Arten derselben sehr bestimmt unterscheiden. Die eine ist diejenige, die er ausübte ins große und allgemeine hinaus, ohne Berechnung gleichsam 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 41: „Wie lieblich ist doch, Herr, die Stätte“ (Melodie von „O daß ich tausend Zungen hätte“); Nr. 528: „Ich habe den gefunden“ (Melodie von „Aus meines Herzens Grunde“)

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und ohne eine bestimmte Wirkung für sein Reich zu beabsichtigen. So sehen wir ihn häufig unter großen Mengen des Volks, denen er sich offenbarte in der leiblichen Hülfe, welche er ihnen unter allerlei Noth und Leiden dieses Lebens leistete, aber nicht ohne zugleich das Wort zu reden, das ihm anvertraut war. So sehen wir ihn, wo zufällig eine Menge von Menschen sich um ihn sammelte, sie stärken, sie erbauen, sie zu sich einladen durch seine Rede, und oft erst hintennach erklärt er sich darüber und bedauert, daß sein Wort nicht haften wollte unter ihnen, ohne jedoch deshalb mit dieser Uebung aufzuhören. So lehrte er in den Schulen, so zu den festlichen Zeiten in den Hallen des Tempels, bald indem er das Volk warnte gegen die, welche durch Unterhaltung des eitlen Stolzes auf das Gesez als Blinde die Blinden mißleiteten, bald indem er auf sich hinwies, als der gekommen sei ein Arzt für die Kranken, zu suchen was verloren sei, als die sich Allen öffnende Quelle des Lichtes und des Lebens. Aber neben dieser Wirksamkeit finden wir eine andere, stiller, geräuschloser, aber sicherer in ihrem Erfolge, die er nämlich übte auf Einzelne. Auf diesem Wege vorzüglich ist er zu dem kleinen Häuflein seiner Jünger gekommen, welche ihn hernach in dem | ganzen Lauf seines Lebens begleiteten, und in ihrer vereinten Kraft der Fels wurden, auf dem er seine Gemeinde gründen konnte. Dasselbe können wir nun auch jezt noch immer unterscheiden in dem Fortgange des Christenthums. Fragen wir, wie sind so viele Völker, so viele verschiedene Geschlechter der Menschen dazu gekommen, oft plözlich in einem Zeitraum weniger Jahre von den finstern Bahnen des Heidenthums und des Aberglaubens hinweg sich dem Licht des Evangeliums zuzuwenden: so war dies immer die Wirkung solcher allgemeinen, ins Unbestimmte hinausgehenden, an die Menschen überhaupt sich richtenden Verkündigung des Reiches Gottes. Aber freilich, wenn so große Mengen gewonnen waren, so war nicht immer Alles das ächte Gold, was in diesem Licht des Evangeliums glänzte; so muß immer noch die Arbeit an den einzelnen Seelen das weiter führen und gänzlich zur Reife bringen, was durch jene allgemeine Predigt an denen, die sich für das Bekenntniß seines Namens erklärt hatten, begonnen war. Und so gestehen wir auch jezt, diejenigen, welche am meisten in dem unmittelbaren persönlichen Genuß dieser ewigen Kräfte des Evangeliums sind, diejenigen, an denen wir deutlich bemerken die bedeutendsten Fortschritte in der Heiligung, die klarste Einsicht in das Wesen des göttlichen Wortes, und daß sie den Andern vorleuchten, das sind solche, die für sich selbst in einem besonderen persönlichen Verhältniß zum Erlöser ste11–13 Vgl. Mt 15,14; ferner Lk 6,39; vgl. auch Röm 2,17–19 Mk 2,17; Lk 5,31 14 Vgl. Lk 19,10

13–14 Vgl. Mt 9,12;

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hen. Wie nun Beides immer wird neben und mit einander fortgehen, wie eben so auch jezt unter uns nur durch Beides zusammengenommen die christliche Jugend des Namens würdig werden kann, den sie mit uns und nach uns zu führen bestimmt ist: so lehrt | die Erfahrung, daß Jeder am unmittelbarsten und kräftigsten zum Ziel der christlichen Vollkommenheit gefördert wird durch irgend ein einzelnes persönliches Verhältniß, in welchem die Anleitung liegt zu dem stillen innigen Umgang mit dem Erlöser. Darum nun gedachte ich, m. g. Fr., diese Zeit, die vor uns liegt, bis die Tage herannahen, welche ganz besonders dem Andenken an das Leiden des Erlösers gewidmet sind, uns von dieser seiner besonderen Arbeit an einzelnen Menschen zu unterhalten. Aber auch hier ist wieder ein zwiefaches zu unterscheiden; denn ein anderes ist es, wenn einzelne Menschen schon auf irgend eine Weise auf ihn aufmerksam gemacht waren und sich daher selbst an ihn wendeten, wo wir dann die ersten Anfänge nicht so deutlich verfolgen können; ein anderes hingegen sind die Fälle, die uns immer deutlicher zu Tage liegen und also auch lehrreicher und erwekklicher für uns sein müssen, wenn der Erlöser sich selbst zuerst zu einem Menschen wendete, und seine Liebe, das Bestreben die Menschen für das ewige Heil zu gewinnen, auf ihn richtete. Zu diesen gehört nun auch die Begebenheit, an die wir uns so eben mit einander erinnert haben; und so lasset uns jezt unsere Betrachtung darauf richten, wie sich das Verhältniß zwischen dem Erlöser und dem Jünger, der der Gegenstand unsers Textes ist, gestaltete. Es ist uns in einem hohen Grade merkwürdig, und giebt uns bedeutende Aufschlüsse, sowohl wenn wir sehen auf die Art, wie es sich anknüpfte, als auch auf die Art und Weise, und, daß ich mich so ausdrükke, auf die Bedingung, unter welcher es befestigt | wurde; und auf dies Beides laßt uns mit einander unsere Aufmerksamkeit richten. I. Nathanael war zwar allerdings schon aufmerksam gemacht worden auf den Erlöser; Philippus hatte ihn angetroffen und wahrscheinlich als zu einem Bekannten zu ihm gesagt, wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesez und die Propheten geschrieben haben, Jesum Josephs Sohn von Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm, heißt es, was kann von Nazareth Gutes kommen? Da spricht Philippus, komm und siehe! und auf diesem Punkt fängt dann dasjenige an, was wir mit einander gelesen haben. Aber wir sehen, von dem Erlöser war 35–39 Joh 1,45f

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noch keine Wirkung auf ihn ausgegangen, er fühlte sich auch noch auf keine Weise selbst zu ihm hingezogen; vielmehr war seine erste Antwort zweifelnd, und die Art, wie er der Einladung des Philippus folgte, deutet mehr darauf, daß er prüfen wollte, wieviel an jener Rede sei, als daß sich in ihm selbst schon irgend eine Neigung, irgend eine Vorliebe für diesen, der ihm so angekündigt war, entwikkelt gehabt hätte. Darum ist auch dieses wirklich einer von den Fällen, die ich vorher bezeichnete, wobei der Erlöser, daß ich so sage, den ersten Schritt that um ein Verhältniß zwischen einem Einzelnen und sich anzuknüpfen. Was nun der Herr zuerst sagte, das sagte er nicht sowohl zu Nathanael, wie sich unser Evangelist deutlich ausdrükkt, sondern von ihm zu Andern; und durch was für ein vorhergegangenes Gespräch mit jenen dies herbeigeführt wurde, das wissen wir nicht: aber der Erlöser sagt es so, daß Nathanael es hören konnte, und | gewiß auch mit der Absicht, daß er es hören sollte. Da tritt uns nun zuerst dies Merkwürdige entgegen, was für ein großes Lob der Erlöser hier diesem Manne beilegt, und wir verwundern uns wohl, wie ein solches, ausgesprochen aus dem Munde der Wahrheit über einen Menschen, der noch in gar keiner Verbindung mit dem Erlöser stand, und von dessen himmlischer Kraft noch gar nichts erfahren oder in sich aufgenommen hatte, wie solches Lob sich doch vertragen soll mit unsern gemeinschaftlichen Vorstellungen von dem tiefen und allgemeinen Verderben der menschlichen Natur! Ein wahrer Israelit, sagt er, in welchem kein Falsch ist. Wie selten, m. g. Fr., finden wir solchen Menschen, von dem wir das sagen können! Ja, ich will noch genauer und bestimmter reden, wie Viele giebt es, denen wir nicht absprechen können, daß sie auf dem rechten Wege des Heils wandeln, von denen wir nicht leugnen möchten, daß sie keineswegs in eitler Zuversicht auf sich selbst sondern nur in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Erlöser ihr Heil suchen: aber doch, wenn wir das von ihnen sagen wollten, daß kein Falsch in ihnen sei, würden wir sie nur in die Gemüthsverfassung sezen, daß sie beschämt die Augen niederschlagen müßten. Ist die menschliche Seele der Akker, in welchen der göttliche Säemann das Wort Gottes ausstreut: so ist die Unwahrheit ein Unkraut, welches der Feind schon immer vorher in dieselbe Seele ausgestreut hat; und ein so gefährliches und verderbliches, daß wir sagen müssen, es gelingt nicht, es mit allen seinen Wurzeln der Seele zu entreißen, und die kleinste, welche noch darin bleibt, wuchert gleich weiter, so daß ehe wir uns dessen versehen auch das Unkraut selbst wieder an das Licht des | Tages tritt. Wie wenig Menschen, die nicht immer noch zu kämpfen hätten mit der verborgenen Falschheit und Unwahrheit in ihrem Innern! Ich rede nicht davon, m. g. Fr., was wir oft mehr träumend wünschen, als daß wir es ernstlich glauben könn-

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ten, daß nämlich jemals unter den Menschen gegen einander eine allgemeine Offenheit werde herrschen können, daß eine Zeit kommen könne, wo es keiner Behutsamkeit und Vorsicht mehr bedarf weder in der Mittheilung der allgemeinen Wahrheit noch in den Mittheilungen über unsern eignen Zustand, wie wir ihn erkennen! auch davon rede ich nicht, obgleich allerdings das Evangelium uns auch dazu der Weg werden soll, daß wir in dem, was wir innerlich in die Seele aufnehmen und bei uns feststellen, immer mehr frei werden sollen von Irrthum. Denn der unwillkührliche, der sich selbst nicht erkennende Irrthum hindert ja das nicht, daß die Seele ohne Falsch sei. Sondern ich meine es so, wie es ganz eigentlich und genau in den Worten des Erlösers heißt, ein wahrer Israelit, in welchem keine Arglist ist. Denn jede bewußte Unwahrheit ist eine Arglist, weil wir ja damit hintergehen wollen, und wer dürfte sich rühmen, ganz frei davon zu sein, daß er sich bald über sich selbst und seinen innern Zustand, bald über sein Verhältniß zu den Menschen, bald über das alles zusammenfassende Verhältniß, in welchem er steht eben zu der ewigen Wahrheit und Liebe, welche uns leiten soll, und so auch über anderes vielfältig selbst zu täuschen sucht! Wer wäre in diesem Punkt ganz über alles Schwanken hinaus, daß er wol möchte der innersten, tiefsten Stimme Gottes auch ganz und voll Gehör geben, aber daß er doch auch nicht loslassen kann von den schönen Einbildungen, | welche vielleicht einmal seine Wahrheit gewesen sind als unerkannter Irrthum, nun aber, nachdem er tiefer in sein Inneres eingedrungen ist, zur Lüge geworden sind. Und was so Vielen fehlt unter denen, die in dem Licht und der Gnade des Evangeliums wandeln, die einen Antheil haben an dem göttlichen Geist, der uns in alle Wahrheit leiten soll, das schreibt der Erlöser Einem zu, der von diesen himmlischen Kräften noch gar keinen Beistand empfangen hatte, vielmehr alles, was er war, nur aus sich selbst kann geworden sein. Ja, er schreibt es nicht einmal nur ihm zu als einen ganz besonderen persönlichen Vorzug, sondern indem er sagt, Sehet da, ein wahrer Israelit, in welchem kein Falsch ist, spricht er es ja als eine Forderung aus, die er an alle die macht, denen er diesen allgemeinen Namen, daß sie Glieder des alten Bundesvolkes wären, beilegt. Aber selbst dieses, m. g. Fr., daß er doch nur sagt, ein wahrer Israelit, macht keine Aenderung in der Art, wie uns dieser Ausspruch des Erlösers befremdet. Denn wir werden wohl Alle nicht umhin können, dem Apostel Paulus beizustimmen, welcher wo es auf das Verhältniß der Menschen zu Gott ankommt und auf den Ruhm, den sie bei Gott haben sollten, – ach! und welcher andere Ruhm 26–27 Vgl. Joh 16,13

39–40 Vgl. Röm 3,23

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wäre etwas ohne diesen, und welche Befriedigung könnte es geben in dem Verhältniß zu Gott ohne diesen Ruhm! – aber in dieser Beziehung behauptet Paulus, daß die Inhaber des Gesezes, die Glieder des Volkes, welches ein besonderes Heiligthum Gottes zu sein bestimmt war, und die Heiden, die ohne das Licht des göttlichen Gesezes wandelten, vollkommen gleich zu stellen seien. Und so finden wir auch in den allgemeinen einladenden Reden | des Erlösers, daß er überall von dieser Voraussezung ausgeht, daß eine Liebe zur Wahrheit in allen Menschen zu finden sei; und wo diese ist, ja da wird auch die Unwahrheit ausgetrieben. Je stärker wir uns in der menschlichen Seele die Liebe zur Wahrheit denken, desto weniger ist der Mensch im Stande die Unwahrheit in sich zu dulden; und diese Voraussezung spricht ja der Erlöser aus, wenn er sich selbst dadurch den Menschen anpreist, daß er von sich rühmt, er sei die Wahrheit. Denn wozu konnte er dieses gesagt haben, wenn sie die Wahrheit nicht suchten und liebten? Dieselbe Voraussezung spricht er aus, wenn er den Menschen sagt, sie sollten zu ihm kommen, dann würde die Wahrheit sie frei machen; wo nicht, dann würden sie Knechte bleiben. Ueberall also sezt er bei den Menschen Empfänglichkeit und Liebe zur Wahrheit voraus, und es ist nur ein höherer Grad alles dessen, was er bei allen Menschen voraussezt, was er hier an dem Nathanael rühmt. Was werden wir also sagen müssen? Offenbar müssen wir uns entschließen, unsere Vorstellungen von dem Verderben der menschlichen Natur nach dem einzurichten, was der Erlöser hier uns selbst sagt. Wir müssen sonach bekennen, ja dahin kann die menschliche Seele kommen aus eignen Kräften, unerleuchtet von dem Erlöser kann sie doch dahin kommen, daß kein Falsch in ihr sei, daß sie einen Widerwillen habe gegen die Unwahrheit, daß sie überall suche und liebe und sich nur daran erfreue, was wahr ist. Aber demungeachtet wird es dabei bleiben, daß das Verderben der menschlichen Natur ein tiefes und allgemeines ist; und eben so wird auch das wahr bleiben, daß das Bewußtsein der Sünde in dem Menschen lebendig gewor|den sein muß, wenn ein Verhältniß zwischen ihm und dem Erlöser entstehen soll. Wie nun dieses Beides sich mit einander verträgt, m. g. Fr., darüber giebt uns der Apostel Paulus einen deutlichen und sehr bestimmten Aufschluß in dem Briefe an die Römer, indem er in einem sehr bekannten Abschnitt desselben1 den ganzen Zustand des wohlgesinnten natürlichen Menschen darstellt, 1

Cap. 7, 7–23.

2–6 Vgl. Röm 1,18–3,20; bes. 2,12–16 36

14 Vgl. Joh 14,6

17–18 Vgl. Joh 8,31–

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den er so redend einführt, Ich habe ein Wohlgefallen dem innern Menschen nach an dem Willen Gottes; aber was ich will, das bin ich unvermögend zu thun, hingegen muß ich immer das thun, was ich nicht will. Ich finde ein Gesez in den Gliedern, das meinen Willen gefangen nimmt, so daß ich das nicht vollbringen kann, woran ich das innigste Wohlgefallen habe. Ist das nicht die Stimme der Wahrheit, nicht die Stimme eines Menschen, in dem kein Falsch ist? und doch die Stimme eines solchen, der sich bewußt ist, daß er nicht vermag aus eigenen Kräften sich dem Verderben zu entziehen, daß er über dies innere Wohlgefallen als ein doch leeres, nur müßiges, eigentlich thatenloses aus eigenen Kräften sich nicht erheben kann, daß was er vollbringt nur seinen Grund hat in der Gewalt, welche das Gesez in seinen Gliedern über ihn ausübt? Und was wollen wir sagen, wenn Nathanael wirklich eine solche Seele ohne Falsch gewesen ist, eins von diesen seltenen menschlichen Gemüthern, welche das Herz haben in ihr Inneres hineinzuschauen und jede Unwahrheit hinwegzuräumen, die ihnen ihr Inneres verbergen könnte; sollte er nicht zu eben diesem Bewußtsein der Sünde und des Un|vermögens, wie es der Apostel Paulus dort ausspricht, gekommen sein? Das, m. g. Fr., dürfen wir nicht bezweifeln! nicht die Wahrheit ist es, die dem Menschen sein inneres Unvermögen verbirgt, sondern eben nur die Lüge bewirkt dieses, die Unwahrheit welche ihm gleichsam mit Gewalt das Auge verschließt. Denn dem klaren Auge, wodurch der ganze Leib Licht wird, dem hellen Schein der Wahrheit kann das menschliche Verderben, dieses leider nicht abzuschüttelnde Joch, an keinem Tage, zu keiner Stunde verborgen bleiben. Wenn sich also Beides wohl mit einander verträgt, wenn wir nun aus den Worten des Erlösers selbst diesen Ruhm der menschlichen Natur beilegen müssen, daß, wie tief sie auch in das Unvermögen hinabgesunken sei, sie doch noch die Fähigkeit besizt in der Liebe zur Wahrheit auch sich selbst in ihrem Unvermögen und in ihrem Verderben zu erkennen, und durch diese Erkenntniß zur Sehnsucht nach einer Kraft, welche ihr fehlt, erwekkt zu werden; wenn dies Beides so genau mit einander zusammenhängt: nun so können wir uns vollkommen hierüber beruhigen; das Bewußtsein der Sünde, welches dem Nathanael nothwendig war, um ein Jünger des Herrn zu werden, ist, nicht etwa ungeachtet dessen daß er eine Seele ohne Falsch war, sondern nur um so mehr als er dies war, in ihm lebendig gewesen. II. Gehen wir nun weiter, m. g. Fr., und sehen zweitens auf welche Weise dies Verhältniß, was der Erlöser durch solchen lobenden 1–6 Vgl. Röm 7,22.15.18.23

23 Vgl. Mt 6,22; Lk 11,34

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Ausspruch anknüpfte, sich befestigt habe: so finden wir wiederum nicht wenig | Ursache, uns über so Manches dabei zu wundern. Bei dieser Liebe zur Wahrheit, bei dieser Arglosigkeit des Gemüthes, welche der Herr an dem Nathanael rühmt, und da dieser von vorne herein mehr entschlossen war, den Glauben seines Freundes zu prüfen als selbst Christo näher zu treten, müssen wir das freilich wohl von einer Seite angesehen natürlich finden, daß er so unbefangen, so – daß ich es heraussage – dreist und kühn sich dem Erlöser gegenüberstellt, und ihn fragt, Du, der du so von mir redest, woher kennst du mich denn? Nun ist uns hieraus zugleich ganz klar, daß er dies Zeugniß des Erlösers annahm, und es sich zueignete; denn wenn das nicht wäre, so hätte er ihn nicht fragen können, woher Jesus ihn kenne, sondern hätte ja daraus gleich bestimmt ersehen, daß er ihn nicht kenne, und würde ihn auf seinen Irrthum zurükkgeführt und dadurch zugleich den Philippus in seinem Glauben wankend gemacht haben. Er nimmt es also an, und fragt den Erlöser gleichsam um sich dieses Lob bestätigen zu lassen, weil er nämlich eben deswegen, weil kein Falsch in ihm war auch kein unbegründetes Lob von Jemanden annehmen und festhalten wollte, deshalb fragt er den Erlöser nach dem Grunde seines Ausspruchs. Wie es nun mit diesem zusammenhängt, davon wissen wir nichts; wie viel wunderbares, sei es nun nur außerordentlich oder sei es übernatürlich zu nennen, darin war, daß der Erlöser zum Nathanael sagen konnte, Ehe dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warest, sah ich dich; was er da von ihm gesehen hatte, oder was da in ihm und mit ihm vorgegangen war, so daß die Erinnerung daran dem Erlöser zur Rechtfertigung dienen konnte, daß sein Ausspruch | wahr sei und wohlbegründet, das Alles können wir nicht übersehen. Aber nun legt Nathanael sogleich das Bekenntniß seines Glaubens von Jesu ab und sagt, Wahrlich du bist der Sohn Gottes, von dem Philippus mir gesagt hat, du bist der König von Israel, den wir Alle erwarten. – Wenn nun, m. g. Fr., mit diesem Bekenntniß, wie wir das vorher schon vorausgesezt haben in seinem Innern das Bewußtsein seiner Sündlichkeit und seines Verderbens verbunden sein mußte, wenn doch sein Glaube der rechte war: müssen wir nicht ein ganz anderes Betragen von ihm erwarten? Wie, wenn er nun sich gegenüber den, der mit ihm redete, als den Sohn Gottes erkannte, mithin nicht nur als den, der eben deswegen noch in einem ganz andern Sinn und in einer andern Weise die Wahrheit sein mußte, als er ihm das Zeugniß davon gab, sondern auch als den, der für Alle die Quelle eben des höheren Lebens werden mußte, welches in sich selbst hervorzurufen und zu fördern er vermöge seiner Liebe zur Wahrheit sich für völlig unvermögend erkannt haben muß: können wir nicht billig erwarten, daß, ehe er ohne weiteres die Jüngerschaft Christi annimmt,

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er zuerst noch ein ganz anderes Bekenntniß vor dem Erlöser abgelegt, daß er zuerst, wie jener andere Jünger gesagt haben werde, Gehe hinaus von mir, Herr, ich bin ein sündiger Mensch! es ist zwar etwas wahres an dem, was du von mir gesagt, aber weil du doch weißt, wie wenig ich vermögend bin, wie auch in mir das Gesez in den Gliedern lebt, und das Wohlgefallen an dem heiligen Willen Gottes nur ein untüchtiges ist, o so wage ich nicht, dir zu sagen, was gleichwohl die Wahrheit meines Herzens ist, so wage ich nicht als ein sündiger Mensch | solch Verhältniß mit dir anzuknüpfen? Aber nichts davon! sondern ohne alle Spur von Zerknirschung mit der gleichen Unbefangenheit, mit dem gleichen heitern Muth, wie er das Lob des Erlösers hinnahm, legt er nun auch das Bekenntniß seines Glaubens an ihn ab. Widerspricht das nicht allem, was wir bei der Bekehrung des Menschen fordern? – Nun finden wir allerdings in den weitern Worten des Erlösers eine leise Spur von Unzufriedenheit mit dem Nathanael: aber doch nicht so, als ob der Erlöser verlange, er solle ihm mit dem Ausdrukk der Selbstvernichtung oder Verzweiflung eben dieses Unvermögens wegen entgegen gekommen sein. Dies vielmehr scheint er nicht zu vermissen nach seinen Aeußerungen. Hierbei, m. g. Fr., lasset uns einen Augenblikk verweilen und daraus die Folgerung ziehen, daß wir nicht vergeblich sollen die Gemüther der Menschen ängstigen auf eine Weise, wie der Erlöser selbst es nicht that. O es giebt unstreitig Viele, die nicht anders zu einem frohen Genuß des Heils, welches uns in Christo zugesichert ist, kommen mögen, als bis sie durch solchen der Selbstvernichtung nahen Zustand des Gemüthes hindurchgegangen sind; aber daß wir nur das nicht aufstellen als eine allgemeine Forderung, als ein Zeichen, welches Jeder müsse aufweisen können, wenn er selbst seiner Gnadenwahl sicher sein, und wenn Andere in ihm einen Bruder und Genossen ihres Glaubens erkennen sollen! Denn wie nähme sonst der Erlöser hier diesen Einen gleich in den vertrautesten Kreis seiner Jünger auf, ohne daß auch nur die leiseste Spur von etwas Aehnlichem uns entgegenträte. Darum, m. g. Fr., so wie eben jene Liebe zur Wahrheit ein allgemeines Eigenthum des Geistes ist, und von allem Verder|ben doch aus der menschlichen Seele nicht hat ausgetrieben werden können; so wie wir es, wenn gleich in sehr verschiedenem Grade, bei allen Menschen ohne Ausnahme finden, so daß das ganze Leben in allen seinen Verzweigungen darauf ruht, eben so ist es in demselben Verhältniß auch mit dem Bewußtsein der Schuld und Sünde: das Eine wie das Andere sind wesentliche Bedingungen, wenn wir zu dem seligen Verhältniß, Jünger des Herrn zu sein um durch ihn Kinder Gottes zu werden, gelangen wollen. Aber 2 Gemeint ist Simon Petrus (vgl. Lk 5,8).

2–3 Lk 5,8

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heftigere Ausbrüche dieses Leztern bedarf es nicht, damit der Christ sich seines Heils bewußt werde, damit er in ein sicheres und festes Verhältniß zu dem Erlöser trete. Ja ich möchte es noch weiter führen und sagen, je mehr Einer als eine solche Seele zum Erlöser kommt, die ohne Falsch ist, desto leichter wird es ihm werden, das rechte Verhältniß mit ihm anzuknüpfen, ohne durch solche stürmische Kämpfe hindurchzugehen. Aber freilich, je mehr Einer sich noch dessen bewußt ist, daß die Unwahrheit seiner Seele einwohnt, desto weniger hat er Recht zu hoffen, daß, wenn er in dem Erlöser das Licht der Wahrheit erkennt, auch seine erste Annäherung schon ein festes Band sei, und eine innige unzertrennliche Vereinigung stifte, wie es mit Nathanael geschah; sondern ein solcher muß wahrscheinlich noch durch tausenderlei Verwikkelungen seines Inneren hindurchgehen, bis endlich der Boden der Seele geläutert ist. Aber welches war nun die Unzufriedenheit des Erlösers mit dem Nathanael, deren ich vorher schon erwähnte? Er war nicht ganz zufrieden mit dem Grunde seines Glaubens. Denn mit einer solchen Bedenklichkeit fragt ihn der Erlöser, Du glaubest deswegen, weil ich dir gesagt habe, | daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum? Etwas muß nun doch da gewesen sein, was für den Nathanael der Grund seines Glaubens war; etwas überraschendes, treffendes in Bezug auf das vorige Zeugniß des Erlösers muß in dieser Andeutung desselben gelegen haben, was ihn so ergreifen konnte, wenn wir auch nichts genaueres darüber sagen können. Dennoch aber giebt der Erlöser ihm deutlich genug zu verstehen in seinen Worten, daß dieses für sich allein eigentlich nicht der Grund seines Glaubens sein sollte, und weiset ihn auf etwas anderes, du glaubst deswegen, aber du sollst noch größeres sehen. Demungeachtet läßt sich der Erlöser auch diesen unvollkommen begründeten Glauben gefallen, ja er nimmt auf den Grund desselben den Nathanael in den engeren Kreis seiner Jünger auf. Denn also lauten buchstäblich seine Worte, Du glaubest, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum? Du wirst noch größeres denn das sehen. Wahrlich, wahrlich ich sage euch, – und nun richtet er seine Worte über dies größere nicht mehr an ihn allein, sondern an seine vorher schon anwesenden Jünger, und zwar so, daß er diesen Neuling nun schon mit unter sie begreift, ich sage euch insgesammt, dir und ihnen, von nun an werdet ihr dies sehen. So war denn Nathanael aufgenommen in die Zahl der Jünger mit diesem Bewußtsein und Zeugniß, welches der Erlöser von ihm ablegt, daß sein Glaube noch auf einem unsichern Grunde ruhe. Das kann uns im ersten Augenblikk wundern, aber genauer betrachtet werden

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wir es ganz natürlich finden und in der Ordnung. Wenn wir auch gewohnt sind das Wandeln im Glauben und das | Wandeln im Schauen zu unterscheiden, und wol fast immer so, daß wir uns das lezte nur als das Vorrecht eines Zustandes denken, welcher erst auf die Unvollkommenheit dieses irdischen Lebens folgen könne, uns hier aber nicht beschieden sei, vielmehr das ganze irdische Leben immer nur aufgefaßt werden könne als ein Leben im Glauben: so denken wir doch auch dieses niemals als einen Stillstand, sondern haben uns das fest eingeprägt, daß jeder Stillstand schon ein verborgener Rükkschritt sei, daß Jeder vergessen müsse, was dahinten ist und sich strekken nach dem, was vor uns liegt. Auch so betrachtet erscheint uns also der Glaube so, daß er während unsers irdischen Lebens wachsen und zunehmen muß; deswegen kann er auch in seinen ersten Anfängen nicht anders als unzureichend sein. Verfolgen wir nun den Zustand des Nathanael rükkwärts, so war gewiß seine Neugierde erregt durch die Nachricht des Philippus, aber gemischt mit Zweifeln, indem er sprach, Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Aber doch folgt er seiner Einladung, und nun überrascht ihn der Erlöser mit dieser ihm unbegreiflichen Andeutung, und da wurde der Glaube an das, was ihm vorher schon gesagt war, sein eigener in seinem Gemüth. Ist es anders als so mit uns Allen, m. G., daß der Glaube solchen unvollkommenen Anfang hat? In den Jahren der Kindheit hören wir den Namen des Erlösers, wir hören von seinen Wohlthaten, die über das menschliche Geschlecht ausgegossen sind, zu einer Zeit wo wir den Sinn und die Bedeutung derselben noch gar nicht verstehen. Da schon sezt sich ein Eindrukk fest, von dem wir nicht sagen können, daß er eine Wahrheit sei, noch weniger eine Ueberzeugung, | aber er ist doch der erste Keim des Glaubens; und wenn sich hernach Christi Geschichte vor uns entwikkelt, ist es nicht zuerst eben so das seine ganze Erscheinung begleitende Unbegreifliche, welches diesen Keim in der Seele befestigt? Dies Alles ist freilich noch nicht das rechte; aber es ist der natürliche, es ist der nothwendige Anfang. Soll das Leben im Reiche Gottes ein gemeinschaftliches sein; soll sich auf natürlichem Wege die göttliche Kraft desselben verbreiten: so kann es sich nicht anders damit verhalten als so. Müßte Jeder unmittelbar von dem Erlöser die erste Anleitung empfangen ihm zu folgen, dann möchte es anders sein; so wie wir aber erwekkt werden zu dem Glauben durch das gemeinsame Leben, so ist es nicht anders möglich, als daß in den ersten Anfängen unser Glaube unvollkommen und unzureichend erscheinen muß, beruhend auf dem was Andere empfunden haben, ohne 10–11 Vgl. Phil 3,13

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eigene Ueberzeugung und Erfahrung. Aber eben deswegen, weil der Erlöser solch Reich Gottes stiften sollte und wollte, eine geistige Gemeinschaft der Menschen; weil die bisher dem menschlichen Geschlecht nicht eigene, nicht in der ursprünglichen Erscheinung desselben vorliegende höhere Kraft, mit welcher er ausgerüstet war, auf dem natürlichen Wege der menschlichen Gemeinschaft, der Predigt und Ueberzeugung, des Beispiels und der Nachahmung, sich verbreiten soll: so kann es nicht anders sein und wird niemals anders sein können als so. Aber bei dem unvollkommenen Glauben dürfen und sollen wir uns nicht beruhigen; und darum leitet der Erlöser auch gleich in den ersten Anfängen, in diesem bedeutenden Moment, als er den neuen Gläubigen aufnimmt unter die Zahl der Apostel, seinen Blikk auf das größere | künftige hin. Und was ist dies? Das Bildliche in dem Ausdrukk des Erlösers kann hier Niemand verkennen. Wenn er sagt, Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf und herabfahren auf des Menschen Sohn: so können wir das nicht eigentlich und buchstäblich nehmen. Einmal oder keinmal ist etwas, das eine buchstäbliche Erfüllung hievon sein könnte, in dem Leben des Erlösers vorgekommen; und darauf kann er sie hier nicht verwiesen haben. Aber was ist der Sinn des Ausdrukks? Er deutet auf die Verbindung zwischen Himmel und Erde, die auf dem Erlöser ruhte, daß nicht mehr jedes von beiden ein besonderes sein sollte, nicht mehr getrennt das eine von dem andern, sondern eine Gemeinschaft zwischen beiden eröffnet, die nun nicht mehr aufhören durfte, ursprünglich aber ihren Siz in ihm allein hatte, von Andern zunächst nur angeschaut wurde, aber sich doch hernach durch diese immer mehr verbreitete. Tragen die Engel des Himmels hinab zu der Erde Botschaft von des Menschen Sohn, so kommt diese Botschaft zu Allen, die seine Werke sehen; und es ist dasselbe, was der Erlöser anderwärts ausspricht, wenn er seine Jünger auffordert in ihm den Vater zu schauen, weil er nichts von ihm selber thue, sondern nur was ihm der Vater zeige, daher auch nur durch ihn und in ihm die Werke des Vaters recht können erkannt werden. Was ist das anders, m. G, als der vollste Ausdrukk von der vollkommensten und seligsten Erfahrung eines gläubigen Gemüths? Die Gewißheit darüber, daß durch den Erlöser dies Verhältniß zwischen Gott und den Menschen wieder hergestellt ist, diese Erfahrung erst ist der wahre, lebendige, seligmachende 18–20 Vermutlich bezieht Schleiermacher sich auf die Taufe Jesu, bei der sich nach der Formulierung von Mt 3,16 ‚die Himmel öffneten‘. 31–32 Vgl. Joh 14,9; ferner 12,45 32–33 Vgl. Joh 5,19f

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Glaube; ohne diese können | wir uns noch nicht rühmen, daß das Herz fest geworden sei. Aber wie der Herr sagt, diese Festigkeit des Herzens, diese Vollkommenheit des Glaubens fängt an mit jener unvollkommenen, mit jener noch nicht gehörig begründeten Anerkennung des Erlösers; aber nur insofern als sie der Grund ist von einer beständigen Richtung des Gemüths auf ihn, von einer treuen Aufmerksamkeit, mit der wir ihn unermüdet in allen seinen Aeußerungen begleiten, von einem wißbegierigen Blikk, mit dem wir überall von ihm zum Vater im Himmel und von diesem zu dem Sohne hinübersehen, an welchem er Wohlgefallen hatte. – Daß nur auf diesem Wege das Band des Glaubens und der Liebe, des vollkommensten Vertrauens und des treuesten Gehorsams zwischen dem Erlöser und diesem Jünger fest geworden ist, das sehen wir aus dem Erfolg. Wir wissen freilich nichts weiter von seiner eigenen Führung oder von dem, was er späterhin im Dienst des Herrn geleistet hat; nur einmal1 erwähnt Johannes seiner in den Tagen der Auferstehung des Herrn, und nennt ihn unter einer kleinen Anzahl der Jünger, denen sich der Herr in Galiläa, wohin sie auf seinen Befehl gegangen waren, offenbarte. Er ist also in diesem Kreise geblieben, und wahrscheinlich, daß die Verzeichnisse der Apostel, in denen sein Name nicht vorkommt, ihn unter einem andern Namen begreifen; denn wir finden ihn in den Tagen der Auferstehung in der innigsten Gemeinschaft mit den vertrautesten Jüngern des Herrn. So lasset uns, m. g. Fr., daraus die Folgerung ziehen, daß auch wir keines sicherern Anfangs bedürfen, als | der ist, welchen dieser Jünger gemacht hat, daß es keine bessere Vorbereitung giebt, um die rechte Gemeinschaft mit dem Erlöser anzuknüpfen, als die, wenn eine Seele ohne Falsch ist und der Wahrheit ergeben. Sind wir nun Alle dazu berufen, zur Förderung des Reiches Gottes beizutragen; ist uns dazu vor Allem die Jugend anvertraut, die unter uns aufwächst: ach, daß es uns gelingen möchte, sie Alle zu bilden zu solchen Seelen, in denen kein Falsch ist! daß wir die Liebe zur Wahrheit in ihnen Allen recht entzünden könnten, damit sie Feinde würden aller Unwahrheit und Lüge! dann wird der Erlöser in ihr Herz einziehen, dann wird ihnen ihr eigenes Unvermögen nicht verborgen bleiben, sondern von einem Tage zum andern deutlicher werden; und wie ja das Licht der Wahrheit kenntlich aus dem Erlöser leuchtet, zu wem würden sie anders gehen als zu dem, welcher das Licht ist? bei wem 1

Joh. 21, 2.

1–2 Vgl. Hebr 13,9

9–10 Vgl. Mt 3,17; 17,5; Mk 1,11; Lk 3,22

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würden sie bleiben wollen als bei dem, der die Wahrheit ist und die Liebe und der Abglanz des göttlichen Wesens in der Herrlichkeit des eingebornen Sohnes? Amen. Lied 23.

2 Vgl. Hebr 1,3 2–3 Vgl. Joh 1,14 4 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 23: „Der Herr, an dessen Güte“ (Melodie von „Ach bleib mit deiner Gnade“)

Am 22. Januar 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

3. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 3,6–12 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 132–145, Nr. XI; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 788.

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Tex t . Marcus III, 6–12. „Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsobald einen Rath mit Herodis Dienern über ihn, wie sie ihn umbrächten. Aber Jesus entwich mit seinen Jüngern an das Meer; und viel Volks folgte ihm nach aus Galiläa und aus Judäa. Und von Jerusalem und aus Idumäa, und von jenseit des Jordans, und die um Tyro und Sidon wohnen, eine große Menge, die seine Thaten höreten, und kamen zu ihm. Und er sprach zu seinen Jüngern, daß sie ihm ein Schifflein hielten um des Volks willen, daß sie ihn nicht drängeten. Denn er heilte ihrer viele, also, daß ihn überfielen alle, die geplagt waren, auf daß sie ihn anrühreten. Und wenn ihn die unsaubern Geister sahen, fielen sie vor ihm nieder, schrieen und sprachen: Du bist Gottes Sohn. Und er bedrohete sie hart, daß sie ihn nicht offenbar machten.“ Diese Erzählung stellt den Erlöser in sehr verschiedenen Verhältnissen dar, und es ist in derselben mancherlei, was | schwierig ist, es sich klar vorzustellen; nun aber ist grade das, was die That des Erlösers selbst ist, dasjenige, was wir uns am Besten und Deutlichsten erklären können, und so sind wir wol berathen für unsere Belehrung und Erbauung. Zuerst ist gesagt, daß die Pharisäer in Galiläa einen Rath gehalten mit Herodis Dienern über ihn. So zeigte sich schon hier an dem Anfange seiner 20 Pharisäer] Parisäer 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 788: „Auf, auf, den Herrn zu loben“ (Melodie von „Valet will ich dir geben“)

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Laufbahn dieselbe Feindschaft wider ihn, welche späterhin das Ende seines Lebens herbeiführte; ganz gleich waren in diesem Stücke die Pharisäer hier in Galiläa denen später in Jerusalem, als der Herr zum letzten Male dort war. Diese hier verbündeten sich mit den Beamten des Herodes gegen ihn, jene in Jerusalem brachten die Angelegenheiten des Erlösers vor den Römischen Landpfleger. So bestand also eine Verbindung zwischen denen, welchen das Gesetz eigentlich ein geistiges war, so daß sie die menschlichen Angelegenheiten nach dem göttlichen Gesetze zu ordnen hatten, und denen, welche die weltlichen Dinge nach äußeren Gesetzen ordneten. Beide vereinten sich wider den Erlöser und hielten einen Rath, wie sie ihn umbrächten. Wenn es nun die Absicht gewesen wäre, ihn auf eine widergesetzliche meuchlerische Weise aus dem Wege zu räumen: so hätten die Pharisäer nicht nöthig gehabt, sich mit den Beamten des Herodes zu verbinden; und wenn diese, welche der äußeren Ordnung wahrnehmen mußten, einen wahren Grund in seinem Verhalten gefunden hätten, welcher ihnen ein Recht gegen ihn gegeben: so würden sie sich nicht erst mit den Pharisäern vereint haben, um gegen ihn zu handeln. Wie stellt sich also die Sache dar? Ganz deutlich so, daß wir sehen, wie jeder Theil des andern bedurfte, um das auszuführen, was jedem für sich ein Unrecht war und als solches würde erkannt worden sein; dieses Unrecht war in beiden Theilen unvertilgbares Bewußtsein, aber es war ein solches, wobei doch mit zum Grunde lag eine Anhänglichkeit an das, was sie für Gottes Gebot hielten. Diese Anhänglichkeit | trat bei dem überwiegend gegen ihn gerichteten Theil am Schärfsten hervor. Darum ist es wahrscheinlich, daß diese Richtung auch hier schon von den Pharisäern ausging, wie das vorher auch sich gezeigt und in der Folge der Lebensgeschichte des Herrn ebenso war, weil der Erlöser eben sich hinwegsetzte über die Menschensatzungen, welche willkührlich nach und nach dem Gesetz Mose hinzugethan waren, und ebenso ganz Unwesentliches enthielten, daß er sich mußte darüber hinwegsetzen und deshalb sich als Herrn darüber erklärte. Nun ist es schwierig, in solchen Fällen zu beurtheilen, was eigentlich das ist, was nur auf das eigene menschliche Ansehen und dessen Erhaltung oder Erhöhung sich bezieht, oder inwiefern sich eine klare Ueberzeugung von der Richtigkeit und dem Werthe dessen, was den Eifer anfacht, entwikkelt hat in denen, welche nach solcher Ueberzeugung zu handeln scheinen. Das ist schwer zu entscheiden. Zu unergründlich ist das menschliche Gemüth, um so genau jede Regung desselben von der andern zu unterscheiden und richtig zu würdigen. Und wie viele Beispiele von ähnlichen Fällen finden sich selbst in der Geschichte der christlichen Kirche, wo die, denen es oblag, die Wahrheit zu vertheidigen und rein zu erhalten, durch denselben Irrthum wie jene sich verleiten ließen, sich des weltlichen Armes zu bedienen, um durch dessen Strafe diejenigen zum Schweigen zu bringen, die Anderes wollten geltend machen als das, was herkömmlich war und nur

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deshalb noch in Ansehen stand. Das ist auch gewiß oft ein Eifer gewesen, der aus dem tiefen Grunde aber freilich eines unerleuchteten Gemüths herkam, und wir haben gar nicht Ursache zu glauben, daß Alle, die so gehandelt haben, sich schon des Unrechtes, des Widerspruchs dieser Handlungsweise gegen den göttlichen Willen bewußt gewesen wären. Ebenso war es nun wol damals auch, und diese Pharisäer mögen allerdings gemeint haben, wenn man dem Volk, welches ohne dieses die Last des Ge|setzes so schwer drückte in allen seinen Lebensverhältnissen, so weit wie der Erlöser es that und das Beispiel davon gab, den Zügel löste: so würden sie dann ebenso wenig das Wesentliche desselben beobachten, so würden alle heilsamen Schranken aufgehoben sein, und nur die allgemeine Willkühr möchte zu allgemeinem Schaden herrschend werden. Das kann sehr wol ihre Meinung gewesen sein, und deswegen wendeten sie sich auch an diejenigen, welche die Ordnung in weltlichen Dingen zu erhalten hatten, um sie von der Gefahr zu überzeugen, daß sie dann auch nicht würden im Stande sein, die zügellose Menge im Zaum zu halten, und darum hielten sie einen Rath, wie sie den Erlöser freilich unter dem Namen des Gesetzes zur Strafe ziehen und hinwegräumen möchten. „Der Erlöser, heißt es nun, entwich ihnen mit seinen Jüngern bis ans Meer.“ Auf den ersten Anblick kann das ein Widerspruch scheinen gegen das, was der Erlöser nachher that; denn als er zum letzten Male auf das Osterfest kam, war er ebenso unterrichtet von den Entwürfen seiner Widersacher. Wenn er ihnen hier entwich: warum entwich er ihnen da nicht auch und vermied die Stadt, wo sie hernach ihr Werk und ihr Vorhaben ausführten? Aber dieser Schein darf uns wol nicht stören; wir müssen nur auf die Verschiedenheit der Umstände achten. In dieser Zeit, für welche dem Erlöser gegeben war, bald hier bald dort das Reich Gottes zu verkündigen, sich bekannt zu machen als den, der da gekommen war in dem Namen Gottes, und in welchem die göttlichen Verheißungen sollten erfüllt werden, da war es sein Beruf, bald hier bald dort dieses Geschäft zu vollführen, und er sagt oft auch ohne äußere Veranlassung: ich muß nun auch noch in andere Städte ziehen. Hier also blieb er grade auf dem Wege seines Berufes und entwich ihnen ohne diesem zu nahe zu treten. Aber er war für sein ganzes Leben unter das Gesetz gethan, und er hatte keinen gesetzlichen Grund, nicht das | Fest, an welchem eigentlich Alle dem Tempel des Herrn nahen sollten und in der Nähe des allgemeinen Heiligthums des Volks das Osterlamm verzehren, er hatte keinen Grund, sich davon auszuschließen, und er hätte sich selbst müssen untreu werden, wenn er da auch seinen Feinden hätte entweichen wollen. Freilich würde er vielleicht, wenn ein solcher Rath 28 Vgl. Ps 118,26 zitiert in Mt 21,9; Mk 11,9; Lk 19,38; Joh 12,13 31–32 So nicht nachweisbar; vermutlich bezieht Schleiermacher sich auf die insbesondere im Johannesevangelium vorkommenden häufigen, unmotivierten Ortswechsel Jesu.

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nicht über ihn gehalten wäre, länger an eben dem Orte geblieben sein, wo das geschah; aber wo nun Einem eine solche Freiheit gegeben ist wie ihm in diesem Reisen von einer Stadt zur anderen: da sind es auch oft keine anderen als solche äußeren Umstände, welche für das Eine und das Andere entscheiden. Und so mögen wir denn sagen, der Erlöser wollte nicht nur fortwirken, so lange es Tag für ihn war, so lange er es konnte, ohne sich selbst untreu zu werden, ehe denn die Nacht käme, da niemand mehr wirken kann; sondern ebenso wollte er es auch verhindern, so lange es in seinem Vermögen stand, daß nicht ein solches Werk der Finsterniß, des falschen Eifers, der Verwirrung alles göttlichen und menschlichen Rechts und aller Ordnung gegen ihn vollbracht würde. Wenn wir also, m. g. Fr., dieses ganze Verhältniß, wie es sich hier darlegt, noch einmal ins Auge fassen und zugleich das bedenken, wie oft Aehnliches auch in der Geschichte der christlichen Kirche vorgekommen ist: so werden wir wol sagen müssen, auch dieses letzte liegt uns nicht so gar fern, daß wir es in vergangenen Zeiten suchen müßten; sondern Aehnliches, wenn auch nicht grade in Beziehung auf einen solchen Rath, die anders Gesinnten ganz und gar aus dem Wege zu räumen und ihrem Leben ein Ende zu machen, aber doch ihre Wirksamkeit zu beschränken, der Aeußerung ihrer Gedanken zu wehren, daß die, welche sich selbst als Diener der göttlichen Wahrheit betrachten, wie dieses ja Alle sein sollen, mit denjenigen, welche die weltliche Ordnung leiten, sich in Verbindung zu setzen suchen, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, von | welchen sie glauben, daß sie von der christlichen Lehre abweichen, das kommt noch immer auch in unseren Tagen in der christlichen Kirche vor. Wenn wir uns nun die Frage vorlegen, wenn es so oft vorkommt, muß es nicht doch etwas Wahres zum Grunde haben: so können wir das doch nicht anders als aus den Worten und den Thaten des Erlösers entscheiden. Wenn der aber sagt, seine Diener sollten nie mit dem Schwerte für sein Reich kämpfen: wohlan, so 5–8 Vgl. Joh 9,4 20–25 Vermutlich denkt Schleiermacher vor allem an den sogenannten Hallischen Theologenstreit um die Professoren Wilhelm Gesenius und Julius August Ludwig Wegscheider, ausgelöst im Januar 1830 durch einen anonymen Beitrag in der von Ernst Wilhelm Hengstenberg herausgegebenen „Evangelischen Kirchen-Zeitung“. Auch wenn der Staat nicht direkt aufgefordert wurde, gegen die sog. rationalistischen Theologen vorzugehen, beauftragte im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen König Friedrich Wilhelm III. seinen für Geistliche Angelegenheiten zuständigen Staatsminister Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein mit einer strengen Untersuchung, dem Altenstein in einer Denkschrift „über den Zustand der evang. Kirch in dem Preuß. Staate, in Beziehung auf Rechtgläubigkeit der Geistlichen und vorzüglich über die wegen der Bildung dieser Geistlichen auf den Universitäten angeregten Bedenklichkeiten“ nachkam (Text bei Erich Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten, Bd. 2, Tübingen 1907, S. 484– 503) . Tatsächlich erfolgten dann aber keinerlei staatliche Maßnahmen. 28–29 Vgl. vermutlich Joh 18,36, vielleicht in Verbindung mit 18,11

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müssen wir wol sagen, daß er das ganz hat aus der Gemeine seiner Gläubigen verbannen wollen, daß das ganz gegen seinen Sinn ist, wenn die weltliche Obrigkeit mit in das Spiel soll gezogen werden, um denen zu wehren, welche in dem Gebiet der christlichen Lehre oder des christlichen Lebens von dem bisherigen Wege abweichen; sondern da soll es kein anderes Schwert geben, als das des göttlichen Worts; auf dessen Kraft sollen sich Alle verlassen, welche dem Erlöser und seinem Reiche dienen wollen, und in seinen Angelegenheiten nie ihre Zuflucht nehmen zu der Macht, welche den Menschen von Menschen gegeben ist, um die irdischen Dinge in Ordnung zu halten, auf daß jedem bleibe, was ihm gehört, dem Reiche Gottes die Kraft des Geistes, die Macht über die Gewissen, und dem weltlichen Reiche das ganze, volle Ansehen, die Macht der Gesetze. Das Zweite, was uns in den Worten unseres Textes erzählt wird, das ist nun, wie dem Erlöser, als er mit seinen Jüngern an das Meer, d. i. an den See von Galiläa entwich, so viel Volks nachfolgte aus allen den Gegenden, welche namhaft gemacht werden. Allerdings ist auch Manches in der Erzählung, das schwer ist sich klar vorzustellen, wie die Bewohner von den verschiedenen Gegenden des Sees so haben erfahren können, wann der Erlöser nun einen Ort verlassen hatte, um sich an einem anderen aufzuhalten, und wie sie ihre | Wohnsitze verlassen haben, ohne doch sicher zu sein, ob sie ihn da antreffen würden, wo sie ihn suchten. Diesen Zusammenhang können wir uns schwer anschaulich machen; aber das ganz bei Seite gelassen: so müssen wir es wol natürlich finden, daß, wo der Erlöser auch erschien, so weit man eine Kunde davon haben konnte, nach der Erfahrung die man hatte von der Art und Weise, wie er körperliche Uebel heilte, er immer von solchen, die seine Hülfe nachsuchten, wird umgeben gewesen sein. Hier ist nun Mehreres zusammengefaßt, wie das freilich einmal mehr als das andere der Fall gewesen sein kann. Und was wird nun von dem Erlöser gesagt? Daß er mit den Jüngern sprach, sie möchten ihm ein Schiff bereit halten, wie sie es leicht thun konnten wegen ihres ursprünglichen Gewerbes, nämlich Fischerei auf dem See zu treiben, damit ihn das Volk nicht zu sehr bedrängte. So sehen wir denn, wie er bereit gewesen ist, sie von ihren Leiden zu befreien; aber wie er doch auch auf gewisse Weise sich fern von ihnen halten mochte und sich Ruhe verschaffen vor ihnen. Wenn wir uns dieses erklären wollen: so müssen wir überlegen, daß der Erlöser das nicht konnte als seinen Beruf ansehen, von einer solchen Menge leidender Menschen so umgeben zu sein, daß er nun doch einen großen Theil seiner Zeit darauf wenden mußte, das Verlangen ihrer Herzen zu befriedigen, und sie, wie es doch immer nur einzeln geschehen konnte, von ihren Leiden zu befreien. Er hatte zwar das immer im Sinn, daß er gekommen sei als ein Arzt für die Kranken, aber nur für die geistig Kranken, daß er nicht 40–41 Vgl. Mt 9,12; Mk 2,17; Lk 5,31

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dazu eigentlich da sei, der irdischen, leiblichen Noth ein Ende zu machen, sondern nur der, welche aus der Entfernung von Gott hervorgeht. Und so mußte eine solche Menge von Menschen, die nur darauf bedacht waren, wie sie ihrer irdischen Noth los werden wollten, etwas Beengendes für ihn sein, und wenn er sich ein Schiff von seinen Jüngern hatte bereit halten lassen: so konnte er sich mit ihnen | da zurückziehen und sein Werk an ihren Seelen weiter führen. So sehen wir denn hier zweierlei in dem Erlöser mit einander verbunden, auf der einen Seite das herzlichste Mitleid mit dem Leiden und Elend der Menschen und eine Bereitwilligkeit, demselben abzuhelfen; aber auf der anderen Seite ein Unbehagen und einen Mißmuth, daß ich mich so ausdrücke, über diese nur auf das Irdische gerichtete Menge, und ein Bestreben, von dieser loszukommen und sich von ihr nicht so ganz einschließen zu lassen. Wenn wir, so gut wir es vermögen, uns in die Stelle des Erlösers denken, und uns das Aehnliche, was auch in unserem Leben vorkommt, vergegenwärtigen: so werden wir gestehen müssen, daß uns das nichts Fremdes ist. Noch kürzlich haben wir ja die Erfahrung gemacht, daß es Zeiten gibt, wo nach dem göttlichen Rathschlusse sich das Elend besonders häuft und also auch Alle, die es können, hinzutreten müssen und helfen. Auf der anderen Seite ist dann nicht zu leugnen, daß man bei denjenigen, welche am Bereitwilligsten solchen Aufforderungen entgegenkommen, so wie bei denen, welche von dem Leiden der Zeit am Meisten niedergedrückt sind, obgleich sie der Gemeinschaft des Erlösers angehören und ihr ganzes Leben von ihr umschlossen ist, daß man bei ihnen doch so wenig das Bestreben findet, die irdische Noth zum Schweigen zu bringen durch den Genuß des höheren Heils, daß sie ganz von dem Irdischen gefesselt werden und die Richtung auf das Geistige entweder ganz verloren haben oder in so trüben äußeren Verhältnissen nicht im Stande gewesen sind sie zu erwecken. Sollen wir uns da, m. g. Fr., nicht auch daran halten, so zu handeln wie der Erlöser; allerdings die Pflicht anerkennen, nach Vermögen der äußeren Noth abzuhelfen, aber doch so viel es sein kann uns nicht ausschließlich an ein solches Gebiet des Lebens zu knüpfen, wo uns immer nur die irdische Noth entgegenkommt; sondern wie der Erlöser diesem allerdings sein | Recht widerfahren lassen, aber doch Bedacht nehmen, daß wir immer auch uns das Schifflein bereit halten, auf welches wir uns mit denen, welche uns die Vertrautesten sind, zurückziehen können? Wol werden wir sagen können, m. g. Fr., daß unser ganzes Leben nichts Anderes darbietet als ein ähnliches Verhältniß, und daß das Betragen des Erlösers uns die allgemeine Regel für das unsrige verzeichnet. Auf die eine oder die andere Weise haben ja die Meisten von 17–18 Anspielung auf die Choleraepidemie, die Berlin seit Ende August 1831 bis in den Januar 1832 befallen hatte; vgl. KGA III/12, S. XXIf; siehe auch unten die Predigt am 19. Februar 1832.

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uns zu thun mit den irdischen Bedürfnissen der Menschen, die meisten Berufszweige haben darauf eine Beziehung, ja am Ende auch der höchste, der zu regieren und Ordnung zu halten, sieht doch immer auf das Thun und Treiben der Menschen theils wie es von der irdischen Noth und Sorge hervorgebracht wird, theils wie es von dem Streben, sich die irdischen Dinge unterthan zu machen, geleitet wird. So sind wir denn auf demselben Gebiet, und jeder wird die Erfahrung machen, daß unter den Christen immer noch mehr, als zu wünschen ist, die irdische Gesinnung sich herrschend zeigt. Wenn nun der Erlöser sich mit den Leidenden einließ und sie heilte, wenn er von einer so großen Menge derselben umgeben war, und wir fragen, hat er in dieser Zeit nichts Anderes gethan als sich mit ihrer irdischen Noth beschäftigt: so wird uns das von selbst deutlich sein, daß nach dem Maße, als sie für das Höhere empfänglich waren, sie zugleich noch einen anderen Eindruck empfangen mußten, und so konnten sie denn auch noch einen größeren Schatz, einen Samenkorn in ihren Seelen mit fortnehmen, der, wenn sie ihn pflegten, ihnen nachher noch größere Dienste leisten konnte als die wunderthätige Kraft des Erlösers. Und das that der Erlöser, ohne daß er ihnen seine Hülfe entzog, und es geschah nur durch die Art und Weise, wie er ihnen diese leistete. Das möge denn für jeden die Regel sein in seinem Beruf, und es ist allerdings ein Wort der Weisheit, daß wo zwei dasselbe thun, es doch nicht dasselbe ist. Wenn | wir auch in einer Zeit nichts weiter thun, als daß wir uns auf das Irdische richten: so gibt es doch eine Art es zu thun, worin sich das Leben des inneren Menschen ausspricht, und so können wir uns immer als solche geltend machen, welche mit Wort und That das Reich Gottes befördern, und zwar ohne daß wir denen, mit welchen wir umgehen, auf ausdrückliche Weise das Reich Gottes vorhalten; denn das that der Erlöser auch nicht immer; aber es geschieht doch, daß von dem Menschen, der ein geistiges Leben in sich hat, auch ohne besondere Absicht ein solcher Eindruck ausgeht, welcher nicht unfruchtbar bleibt in den Seelen Anderer. Und so mögen wir uns denn dessen getrösten, daß, indem wir einen großen Theil des Lebens den irdischen Sorgen und Bedürfnissen widmen, zugleich das Werk Gottes von uns vollzogen wird. Aber das gehört freilich auch dazu, und das wird uns noch viel nothwendiger sein, als es dem Erlöser war, daß wir uns gleichzeitig zurückziehen, daß wir dem Geistigen für sich Raum geben, und daß wir uns den Dingen dieser Welt nie so ganz hingeben, daß wir den geistigen Zusammenhang mit den Gleichgesinnten, die Mittheilung mit denen, welche denselben Glauben und dieselbe Liebe haben, uns ganz entzögen; und darin ist ja unser Leben auch so geordnet, daß es denen, die es wollen, nie ganz daran fehlen kann. Aber nun ist noch ein Drittes, und das ist gewiß für unser Verständniß das Schwierigste in unserm Text. Da wird nämlich gesagt: „und wenn ihn die unsaubern Geister sahen, fielen sie vor ihm nieder, schrieen und spra-

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chen: du bist Gottes Sohn. Und er bedrohte sie hart, daß sie ihn nicht offenbar machten.“ Was nun hier unter den unsauberen Geistern zu verstehen ist, das wissen wir auf eine gewisse Weise wol, wenn wir nur die äußere Erscheinung davon ins Auge fassen wollen. Es werden nämlich die Menschen, von welchen das die gewöhnliche | Meinung war, daß unsaubere Geister in ihnen ihre Wohnung aufgeschlagen, und es werden uns die Zustände dieser Menschen an mehr als einer Stelle deutlich beschrieben, so daß wir sehen, es waren solche zwar mehr oder weniger unerklärliche aber mit dem innern Kern des Lebens zusammenhangende Krankheitszustände. Diese Meinung nun war so allgemein, daß es mehre Erzählungen in unsern Evangelien gibt, wo sie als die unsaubern Geister und in deren Namen reden; und daher ist denn auch der Ausdruck begreiflich, dessen sich der Evangelist bedient, daß unsaubere Geister seien vor ihm niedergefallen. Zu entscheiden, in wie fern an dieser Meinung etwas Wahres gewesen sei, und wie es mit einer Macht der unsauberen Geister über den Menschen sich verhalten haben könne, das wollen wir bei Seite lassen und nur sehen, was der Erlöser that. Wenn sie sagten, der ist Gottes Sohn: so bedrohte er sie, daß sie ihn nicht offenbar machten. Das müssen wir wol zugestehen, je weniger für solcher Menschen Zustände eine andere Hülfe war und sie nicht davon konnten befreit werden: um so mehr wird der Erlöser die Menschen von dieser Krankheit geheilt haben, mehr als von anderen Krankheiten, welche ihnen ja noch den Gebrauch ihrer Kräfte ließen. Und so haben wir auch mehrere Erzählungen von Heilungen dieser Art. Nun wol, wenn dann der Erlöser den unsauberen Geist ausgetrieben: so konnte er ihn auch nicht mehr bedrohen, und so scheint es, er habe den unsaubern Geistern nur gedroht, daß sie ihn nicht offenbar machen sollten, aber die Menschen doch in ihrer Gewalt gelassen. Wahrscheinlich ist dieser Schein nur in der Kürze des Ausdrucks begründet, und wir können nicht glauben, daß der Erlöser solche Kranke nicht sollte geheilt haben; aber das Gewisse ist dieses, daß er nicht wollte offenbar gemacht werden durch solche Aussprüche von Menschen, welche sich in diesem Zustande befinden. Fragen wir nun, wie kamen die dazu, mit solcher Zuversicht zu sagen, das ist Gottes Sohn: | so führt uns das zurück in dieses unbegreifliche Gebiet, wie doch für solche Menschen, die ihrer Geisteskräfte nicht mächtig sind, ein Zusammenhang Statt findet mit dem, was sie hören und sehen, wenn gleich sie über ihre Willenskraft und Aufmerksamkeit nicht Herr sind. Wenn diese nicht gehört hätten, daß hin und her geredet wurde, ob dieser Jesus der Messias sei oder nicht: so würden sie nicht gesagt haben, das ist Gottes Sohn. Der Erlöser aber bedrohte sie, daß sie schweigen sollten. Insofern nun etwas, was den Namen eines unsauberen Geistes verdient, hier zum Grunde lag: so werden wir sagen müssen, in einem solchen Zustande ist der Mensch ja 6 Wohnung] Wohnug

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nicht fähig, die Wahrheit zu erkennen, und so war das auch nur ein Wiederhall von anderer Menschen Rede und Meinung; aber die Aufmerksamkeit der Menschen ist immer am Meisten auf solche Erscheinungen des Lebens gerichtet, welche am Wenigsten begriffen werden können. Wo uns ein solches entgegentritt; da wenden wir uns auch hin, und nicht eher, als wir die Ueberzeugung erlangt haben, daß wir den Zusammenhang nicht einsehen können, ziehen wir uns davon zurück. So war es denn auch damals. Aber der Erlöser wollte nie, daß ein Glaube an ihn entstände, welcher nicht den rechten Grund hätte. Darum führt er die Menschen auch immer, wenn er sie auffordert, daß sie den Willen Gottes thun sollten, auf seine Worte und seine Werke zurück. Das war der rechte Glaube, wenn aus den Worten und dem Leben des Erlösers seine ganze Herrlichkeit hervorstrahlte; das war die rechte Quelle des Glaubens; alle anderen aber hatten für ihn keinen Werth, am Wenigsten aber wollte er, daß irgend solche Menschen sollten ein Anlaß des Glaubens werden, daß die Aufmerksamkeit, welche man solchen Menschen schenkte, ein Anlaß des Glaubens werden sollte. Aus diesem dunklen Gebiet wollte er heraustreten, und nur aus dem klaren, hellen Gebiete des menschlichen Lebens sollte der Glaube hervorgehen. Darum bedrohte er die unsauberen | Geister, und das ist also von seiner Heilung der Menschen etwas ganz Verschiedenes. Aber auch davon gibt es, m. g. Fr., immer noch Aehnliches. Es gibt einen scheinbaren Glauben an den Erlöser, der ebenso entsteht aus ähnlichen dunklen und unbegreiflichen Erscheinungen, der ebenso auf das sich gründet, was im Zusammenhange mit ihm steht auf der einen Seite, aber aus der Ordnung der menschlichen Dinge gerissen und ihr entgegengesetzt scheint auf der anderen. Und wo ein Glaube an den Erlöser so entsteht, das ist nicht der, welchen er sucht, und welcher die Menschen zum Heile führt; er kann eine Veranlassung dazu werden, aber selbst ist er es noch nicht. Darum, m. Fr., können wir in dieser Angelegenheit zu keiner Zeit etwas Besseres thun als nur das, was der Erlöser that, daß wir alle Zeugnisse suchen zum Verstummen zu bringen, welche nicht von der rechten Art sind, wo wir sagen müssen, es liegt eine Verwechselung zum Grunde des Leiblichen und Geistigen. Und so werden wir sagen müssen, ein Glaube an den Erlöser, der keinen anderen Grund hätte, als die Erzählung von den uns doch unbegreiflichen Hülfsleistungen, der würde auch nicht der rechte heilbringende, die Menschen zu dem Leben in Gott erweckende sein; denn das waren ja doch Wirkungen auf die Natur, welche von dem Erlöser ausgingen, das aber, wobei wir uns festhalten sollen, ist seine Wirkung auf den Geist. Diese können wir erfahren; aber etwas Anderes ist die Wirkung, welche er auf die Seele ausübt, und eine andere, die Gott ihm mitgegeben hatte auf den Weg seines Berufs, und wodurch er sich die Kräfte der Natur zu unterwerfen im Stande war. Nie aber sollen wir die Ordnung so umkehren, daß wir das Irdische über das Geistige setzen; denn das ist die vorzüglichste

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Verwirrung, aus welcher alle anderen entspringen. Wenn wir das als das Größte ansehen, und daraus auf die geistige Kraft des Erlösers schließen, weil er eine solche Gewalt hatte | über die Natur: dann sind wir auf einem unrechten Wege; wenn wir aber aus seinem ganzen Leben erkennen, daß er ein Recht hatte zu sagen, daß der Vater ihn in die Welt gesandt habe zu suchen und selig zu machen was verloren war: dann mögen wir auch auf jene Thaten sehen und Gott preisen darin, daß er den Menschen eine solche Macht gegeben über die irdische Natur. In diesem Sinn und Geist war es, daß der Erlöser die unsauberen Geister bedrohte, daß sie nicht sollten von ihm Zeugniß ablegen; denn das einzige Zeugniß, welches er begehrt, ist das der inneren Wahrheit. So wollen wir denn, wie ja wir alle das Reich Gottes zu fördern haben, es immer auch so halten in diesem unserem schönsten und seligsten Beruf, daß wir gewiß sind, dem Erlöser ist unser Zeugniß angenehm, und er werde uns nicht verbieten, es weiter zu verbreiten; und nur auf diesem Wege kann es dahin kommen, daß dereinst, wie er gesagt hat, nur Eine Heerde sein wird wie Ein Hirte ist. Amen. Lied 6.

5–6 Vgl. Lk 19,10 (ferner Mt 18,11) in Verbindung mit Joh 3,17 15–16 Vgl. Joh 10,16 17 Die einzige Strophe von Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 6 (Melodie von „Nun lob, mein Seel, den Herren“) lautet: „Dein Name werd erhoben, Gott, Vater der Barmherzigkeit! Du, der mir stets von oben auf meine Bitte Kraft verleiht! Mein Wollen und Vollbringen kommt, Höchster, nur von dir; o send in allen Dingen auch ferner Hülfe mir, daß ich das Meine thue im Namen Jesu Christ, bis deines Volkes Ruhe mein Theil auf ewig ist.“

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Am 29. Januar 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

4. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 4,25–26 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 2) 1832, S. 116–134, Nr. VII SW II/3, 1835, S. 169–180; 21843, S. 175–187. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 257–267 Keine 2. Teil einer Predigtreihe über die Art, wie der Erlöser ein persönliches Verhältnis zu dem Einzelnen anknüpft, 15. Januar bis 26. Februar 1832

Am 4. Sonntage nach Epiphan. 1832.

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Lied 44, 1–3. 516.

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Text. Ev. Johannis IV, 25 u. 26. „Spricht das Weib zu ihm: Ich weiß, daß Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn derselbige kommen wird, so wird er es uns Alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin es, der mit dir redet.“ M. a. Fr. Nicht um dieser Worte allein willen, auch nicht einmal um unsere Aufmerksamkeit besonders auf sie zu richten, habe ich sie gelesen; sondern nur als das Ende jenes bekannten Gesprächs Christi mit der Samaritischen Frau, an welchem wir auch ein solches Beispiel haben, wo der Erlöser selbst den Anfang machte, ein persönliches Verhältniß mit einem Einzelnen anzuknüpfen. Es sei also diese ganze Geschichte, welche wir zum Gegenstand unserer Betrachtung machen wollen; und ich denke, ich | kann eine solche Bekanntschaft mit derselben voraussezen, daß es nur dieser oder jeglicher anderen einzelnen Worte aus der Erzählung bedurfte, um sie ganz in Erinnerung zu bringen. Es scheint mir aber nothwendig, daß wir zuerst suchen uns über die Begebenheit selbst ihrem eigentlichen Inhalte 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 44: „Du riefst mich, Vater, aus dem Nichts“ (Melodie von „Herzlich lieb hab ich dich“); Nr. 516: „Christe, mein Leben“ (Melodie von „Lobe den Herren“) 10–11 Vgl. insgesamt Joh 4,5–42, bes. 7–26

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nach gemeinschaftlich zu verständigen; denn wo das nicht der Fall wäre, und der Eine sie anders ansähe als der Andere, so könnten wir dann auch nicht dasselbe als die Belehrung Christi die darin liegt, herausnehmen, und diese zu entwikkeln wird dann der zweite Theil unserer Betrachtung sein.

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I. Um nun den eigentlichen Inhalt der Geschichte zu verstehen, lasset uns zunächst unsere Aufmerksamkeit auf den Gemüthszustand der Frau richten, und dann auf das Verfahren des Erlösers sehen. Wir finden nun allerdings sobald der Erlöser sein Verhältniß zu ihr dadurch anknüpft, daß er sie bat ihm aus dem Brunnen zu trinken zu geben, bei ihr eine gewisse Geneigtheit, sich mit ihm einzulassen. Denn sie hätte dies nicht nöthig gehabt; sie konnte schweigend oder mit wenigen Worten sein Begehren erfüllen, und dann ihr eigenes Geschäft zu Ende bringen und ihres Weges von dannen gehen. Nun wußte sie nichts weiter, als daß sie aus seiner Tracht und Art und Weise sah, er sei ein jüdischer Mann, sie aber war eine Samaritische Frau, und zwischen beiden Theilen war Zwietracht gesezt seit langer Zeit. Der Widerwille war freilich thätiger und stärker ausgeprägt auf der Seite der Juden, aber er blieb wenigstens nicht unerwidert von Seiten der Samariter. Indem also nun jene Frau die Frage an ihn | richtet, Wie bittest du von mir zu trinken, da du ein jüdischer Mann bist, und ich ein Samaritisches Weib? so giebt sie dadurch zu erkennen, daß auch sie über dieses Vorurtheil hinweg sei und an dieser Spaltung ebenfalls nicht theilnehme, indem sie freiwillig mit Jesu ein Gespräch anknüpft und ihm Rede abzugewinnen sucht. Das für sich allein beweist aber wohl nicht viel für sie; denn aus dem, was der Erlöser ihr hernach sagt über ihr bisheriges Leben, können wir, wenn wir es auch nicht genauer zu bestimmen wissen, doch nicht anders urtheilen, als daß doch wenigstens ein gewisser Leichtsinn und mancherlei tadelnswerthes in den vertrautesten und genauesten Verhältnissen des menschlichen Lebens auf ihre Rechnung kommt. Mit einem solchen Sinn verträgt es sich denn sehr leicht, wenn man es einmal mit dem, was das Gewissen fordert, nicht genau nimmt, daß man es auch mit dem nicht genau nehme, was das Gesez und die äußere Sitte fordert, und auf diese Weise über Manches, was in diesen Dingen nur Vorurtheil ist oder Anhänglichkeit an alt hergebrachtes, sich erhebe. Deshalb also dürfen wir noch keine auch nur entfernte Ahndung davon, wer der gewesen sei, den sie da vor sich habe, voraus sezen. Als nun der Erlöser endlich zu ihr spricht, Wenn du die Gabe Gottes 22–23 Joh 4,9

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erkenntest und wüßtest, wer der ist, der zu Dir sagt, gib mir zu trinken: du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser; und sich hernach hierüber noch weiter auf eine solche Weise erklärt, daß sie nicht anders glauben konnte, als diese Worte müßten einen geistigen Sinn haben und wären nicht buchstäblich zu verstehen: so nimmt sie sie doch grade nur in diesem buchstäblichen Sinn auf eine gleichsam scherzende Weise | auf, indem sie dem Erlöser erwiedert, Ei das wäre ja vortrefflich, wenn du mir von diesem Wasser gäbest, so hätte ich nicht mehr nöthig, aus der Stadt heraus an diesen Brunnen zu gehen und zu schöpfen. Daran sehen wir also ebenfalls nur dieselbe äußere Leichtigkeit des Umgangs und des Gesprächs, aber keinesweges eine ernste Richtung auf das Geistige. Wenn diese in ihr gewesen wäre: wie anders würde sie dann gewiß eben diese Rede des Erlösers gefaßt und beantwortet haben! Und wenn das, was er nur in flüchtigen Zügen andeutet von dem wechselreichen in ihren nächsten Lebensverhältnissen, sich doch kaum anders erklären läßt als durch eine vorherrschende Richtung des Gemüths auf das, was uns augenblikklich auf eine sinnliche Weise bewegt, und durch eine nur zu große Leichtigkeit, um deswillen die heiligen Geseze des Lebens und den tieferen Gehalt desselben hintan zu stellen; wenn sie sich also eines solchen Verlangens nur nach dem Aeußeren, Sinnlichen bewußt sein mußte, und der Erlöser sagte, er könne ihr geben, was den Durst ihrer Seele so stillen würde, daß sie nicht mehr nach diesem und jenem zu streben brauchte sondern daran Genüge hätte: was für eine Wirkung müßte das auf sie hervorgebracht, zu welcher ernsten Einkehr müßte es sie aufgefordert haben, wenn sie zu einem klaren Bewußtsein ihres Zustandes gewekkt gewesen wäre! Ebenso hernach, als der Erlöser sich ihr zu erkennen gibt, wies sie doch die Sache mehr von sich hinweg, als daß sie darauf eingegangen wäre, indem sie nun eilend ihres Weges zurükk ging nach der Stadt, um den Männern der Stadt zu sagen, sie möchten doch hinausgehen und sehen, ob dieser Mann nicht Christus sei. Dadurch schob | sie Sorge und Verantwortlichkeit von sich ab auf Andere. Und eben so ist auch wohl schon jene Antwort anzusehen, welche wir mit einander vernommen haben, und welche sie dem Herrn gab, als er sich auf ihre Frage, welches denn die rechte Anbetung Gottes sei, einließ und ihr den großen bedeutungsvollen Bescheid gab, welchen sie auch wenn sie ernster gestimmt gewesen wäre auf eine andere Weise hätte ergreifen müssen, wenn sie hörte von einer Nothwendigkeit, nicht mit äußeren Gebräuchen sondern im Geist und 2–5 Vgl. Joh 4,13f 7–10 Vgl. Joh 4,15 Joh 4,20 39–1 Vgl. Joh 4,23.24

27–32 Vgl. Joh 4,28f

35–36 Vgl.

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in der Wahrheit Gott anzubeten. Denn darauf war ihre Antwort auch abweisend, und sie sucht dem Erlöser auszuweichen, indem sie sagt, Nun das mag ausgesezt bleiben bis auf die Zeit des Messias; wenn der kommt, dann wird er über Alles das uns Aufschluß geben. Und so muß ein ganz besonderer Drang in dem Herrn gewesen sein, daß er sich ihr dennoch als den Messias zu erkennen gab, womit er sonst gar nicht so leicht vorzuschreiten pflegte. Daher haben wir auch wohl die Wißbegierde nicht zu hoch anzuschlagen, welche sie zu erkennen gab, als sie aus der Kenntniß, welche der Herr von ihr hatte, schloß, daß ein prophetischer Geist in ihm sein müsse. Denn die Frage, welche sie an ihn richtete, mußte, wie sie leicht denken konnte, einem Propheten angenehm sein, weil sie sich eine Auskunft über etwas von ihm erbat, was dem Stande eines solchen angemessen war. Es scheint also auch dieses mehr aus jener Leichtigkeit und Angemessenheit in dem Umgange mit den Menschen herzurühren, als daß sie ein wahres Verlangen gehabt hätte, über diesen Streit zwischen den beiden benachbarten Völkerschaften und über das, was der eigentliche Wille Gottes hierin sei, aufs reine | zu kommen. So müssen wir denn freilich gestehen, wenn wir dieses Alles zusammennehmen, scheint die Frau nicht eine solche gewesen zu sein, von welcher der Erlöser große Erwartungen hegen konnte, daß seine persönliche Zusprache auch eine ganz entscheidende, bis in das Innerste ihres Gemüths durchdringende und sie ergreifende, Wirkung auf sie hervorbringen werde. Um desto wichtiger muß es uns nun sein, das Verfahren des Erlösers im Zusammentreffen mit dieser Frau ebenfalls uns genauer vor Augen zu stellen. Freilich wendet er sich an sie und sucht ihr Rede abzugewinnen, während er da allein an dem Brunnen verweilte, als seine Jünger in die Stadt gegangen waren um Speise zu holen; und freilich fügt er seiner Bitte um die Löschung seines Durstes gleich solche Worte hinzu, welche zugleich ebenso eine Einladung enthielten, wie er gewohnt war alle Menschen, indem er zu ihnen redete, einzuladen zu dem Reiche Gottes. Allerdings hatte er sich so an diese Frau gewendet; aber er hätte ja einen Augenblikk versäumen müssen wo er thätig sein konnte in seinem Beruf, wenn er dieses nicht gethan hätte. Das also konnte er nicht anders; und daher sind wir noch nicht berechtigt hieraus zu schließen, daß er es auf eine eben solche Weise persönlich auf sie abgesehen hatte wie auf den Nathanael, dessen Zu25 ebenfalls] ebenfals 3–4 Schleiermacher bezieht sich auf den Predigttext Joh 4,25f. 9–10 Vgl. Joh 4,18f 27–28 Vgl. Joh 4,8 29 Vgl. Joh 4,7 37–2 Vgl. die Predigt am 15. Januar 1832 über Joh 1,47–51

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sammentreffen mit ihm wir neulich zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht haben. Das zeigt sich uns denn noch bestimmter, wenn wir uns daran erinnern, wie, als sie sich mit Christo einließ und ihn bat, er solle ihr von diesem Wasser geben, er freilich in den Sinn, welchen sie damit verknüpfte, nicht weiter einging, aber auch das Miß|verständniß nicht löste, in welchem sie entweder begriffen sein konnte, oder welches sie vorwendete, um dem geistigen Gehalt des Gesprächs, welches ihr unbequem geworden wäre, aus dem Wege zu gehen. Vielmehr wendet er sich von da an gleichsam von ihr ab, indem er sie auffordert, sie solle ihren Mann holen und mit dem wiederkommen, dann wolle er sich weiter über diese Sache erklären. Denn das dürfen wir doch nicht glauben, daß er diese Aufforderung nur zum Schein hinzugefügt, um an ihre Antwort, daß sie keinen Mann habe, das anzuknüpfen, was er aus besonderer Kenntniß ihres Lebensganges ihr sagte; denn das konnte er auch ohne jenen Auftrag thun, und er bedurfte dazu keiner solchen Einleitung. Aber sie schien ihm eben nicht eine solche zu sein, daß eine weitere Erörterung über die geistigen Bedürfnisse der Menschen und über die Art und Weise, wie diese durch ihn sollten für das ganze Leben und für alle Menschen befriediget werden, sie schien ihm nicht eine Solche zu sein, mit der sich hierüber reden ließ, und darum fordert er sie auf, ihren Mann zur Stelle zu bringen, damit er sich mit dem verständige. Seinen Willen also, eine große Wirkung hervorzubringen, erkennen wir deutlich; und so gewinnt es das Ansehen, als ob seine Absicht gleich von Anfang an mehr auf das Ganze jener Stadt und deren Einwohner gerichtet gewesen wäre als auf die einzelne Frau. Das zeigt sich nun noch deutlicher in dem weiteren Verfolg der Geschichte. Denn nachdem Christus die Worte unseres Textes gesprochen, und ihr gesagt hatte, wer er sei, so kamen seine Jünger aus der Stadt zurükk; und der Evangelist erzählt, sie hätten sich zwar gewundert, ihn im Gespräch mit der Frau zu finden, aber | doch hätte keiner ihn gefragt, wie er dazu gekommen wäre. Aber er selbst erklärt sich auch nicht darüber, sondern läßt das ganz fallen, giebt ihnen aber wohl zu erkennen, wie er sich freue einer großen Wirkung, die er im Begriff sei hervorzubringen; und ungeachtet sie des leiblichen Bedürfnisses wegen in die Stadt gegangen waren, um Speise zu kaufen und ihn nun aufforderten zu essen, war er davon fast ganz abgewendet und sagte, er fühle dieses Bedürfniß nicht mehr zu essen, er habe schon eine Speise, von der sie nicht wüßten, nämlich es sei ihm eine Gelegenheit gegeben, etwas 39 ihm] im 9–11 Vgl. Joh 4,16 Joh 4,32.34

29–32 Vgl. Joh 4,27

36–37 Vgl. Joh 4,31

37–1 Vgl.

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Großes zu thun in dem Werke seines Vaters. Und so betrachtet er das ganze Gespräch mit der Frau nur als eine Veranlassung, welche er wohl benuzt hatte zu dem, was sich nachher begab. Und als nachher Männer aus der Stadt kamen und sich mit ihm in ein Gespräch einließen und an ihn glaubten als an den Messias und ihn baten, bei ihnen zu bleiben: so blieb er wie der Evangelist erzählt zwei Tage in der Stadt; aber von der Frau ist weiter gar nicht die Rede, ob sie weiter irgend einen oder gar keinen Antheil an ihm genommen, ob auch für sie persönlich etwas gewonnen worden sei oder nicht. Vielmehr was uns der Evangelist nachher erzählt von der Art, wie die Männer der Stadt mit ihr geredet hätten, das scheint nicht auf eine lebendige Theilnahme an dem Erlöser zu deuten, wenn sie zu ihr sprachen, Wir glauben nun nicht mehr um deiner Rede willen, daß er wirklich Christus der Heiland sei. Hätte die Frau an den weiteren Gesprächen des Erlösers mit den Einwohnern der Stadt Theil genommen: so würde sie dieselbe Erfahrung auch gemacht haben, und es wäre dann ja viel natürlicher gewesen, daß sie | zu ihr gesagt hätten, Nun glaubst du selbst doch wohl nicht mehr nur deshalb an ihn, weil er dir gesagt, was du gethan hast, sondern wegen der unmittelbaren Erfahrung, welche du von ihm gehabt, wegen des Eindrukks, den seine Rede und seine ganze Erscheinung auf dich wie auf uns gemacht hat. Die Art also, wie die Andern zu ihr reden, schließt sie gleichsam aus von einer näheren Theilnahme an dem, was der Erlöser in jener Stadt gewirkt hat; und so finden wir auch in der heiligen Geschichte weiter gar keine Spur von ihr. Unter den Frauen, welche den Erlöser auf seinen Wanderungen begleiteten und ihm dienten, unter diesen finden wir sie nirgend weiter genannt; aber daß der Aufenthalt des Erlösers in dieser Stadt nicht ist vergeblich gewesen, das gibt uns die spätere Geschichte zu erkennen, indem uns die Apostelgeschichte erzählt, nach der Himmelfahrt des Erlösers und als seine Jünger anfingen sich aus Jerusalem zu zerstreuen wegen der auf Veranlassung des Stephanus über sie ergangenen Verfolgung, die Landschaft, zu welcher auch diese Stadt gehörte, das Evangelium mit großer Leichtigkeit aufgenommen habe. Hieraus sehen wir, wie ein Glaube an ihn übrig geblieben, der hernach durch neue Zusprache seiner Jünger wieder angefacht sich auch schnell weiter verbreitete. Das, m. g. Fr., ist das eigentlich geschichtliche der Sache, und das muß uns freilich verlangend machen, das Verfahren des Erlösers in dieser Geschichte zu unserer Belehrung genauer zu erwägen. Denn 12 sprachen,] sprachen. 3–7 Vgl. Joh 4,40

12–14 Vgl. Joh 4,42

29–33 Vgl. Apg 8,1.5f

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wenn wir uns denken sollten, er hätte irgend eine menschliche Seele bloß als Mittel gebraucht, um durch sie auf Andere zu wirken: so glaube ich würde uns das Allen nicht recht in das Bild, | welches wir von ihm haben, zu passen scheinen, weil uns ja keine Spur von der Liebe, welche in ihm als der Abglanz der göttlichen Liebe war, daraus hervorleuchten könnte; und das wäre eine Art von Verdunkelung des Eindrukks, welchen sonst Alles, was er gethan hat, auf uns macht. Darum lasset uns nun das Betragen des Erlösers in Beziehung auf die Frau genauer mit einander erwägen. II. Wenn wir nun auch zugeben, daß er sich bei der Kenntniß, welche er von ihr hatte, nicht mit einer großen Aussicht etwas bleibendes in ihrem Gemüth hervorzubringen an sie gewendet habe, sondern vornehmlich nur weil sie die erste war, die ihm entgegen kam aus jener Samaritischen Stadt, in welcher er einen Samen des göttlichen Worts bei seiner Vorbeireise zurükklassen wollte: so müssen wir doch gestehen, er hat es nicht auf solche Weise gethan, daß er sie selbst dabei vernachlässigt hätte; sondern seine Rede war ganz so eingerichtet, den größten Eindrukk auf sie zu machen, insofern sie für denselben empfänglich gewesen wäre. Das liegt schon in dem, was ich vorher schon aus seiner Rede bemerklich gemacht, wie er zu ihr sagte, Wenn du wüßtest, wer der ist der mit dir redet, und die Gabe Gottes erkenntest; denn diese Worte enthalten schon einen Zweifel daran, ob sie wol die lebendige Erkenntniß habe von der allgemein erwarteten Gabe Gottes, welche ihr Herz ihm aufschließen mußte. Und wenn er hinzufügt, Wenn du das wüßtest, so würdest du mich bitten, daß ich dir das lebendige Wasser gäbe, nach welchem, wer einmal im Besiz desselben ist, nun ewig nicht mehr anderes be|gehrt, sondern welches in jedem selbst eine Quelle wird zur Mittheilung für Andere, so daß sie sich ungemessen in das ewige Leben ergießt und ein ewiges Leben hervorbringt; indem er das sagt, so wollte er ja offenbar ihr Gemüth treffen, wollte ihr sich selbst kenntlich machen als eine solche, der es an dem rechten Verlangen nach dem heilbringenden und Ewigen fehlte. Und diese Andeutung unterließ er nicht, ohngeachtet er, so wie er mit den Schikksalen ihres Lebens bekannt war, eben so auch den Sinn erkannte, der diesen Schikksalen zum Grunde gelegen und von dem sie noch beherrscht war. Also werden wir ihm auch hier das Zeugniß geben müssen, daß er sie keinesweges vernachlässigt, sondern daß er grade so zu ihr geredet habe, wie es die größte Wirkung hätte hervorbringen können. Dieses m. g. F., ist nun eine beständige Regel, welche, 21–22 Vgl. Joh 4,10

26–31 Vgl. Joh 4,10.14

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wie der Erlöser sie beobachtete, auch in dem Reich Gottes immer befolgt werden muß. Es ist ein so lebendiges Ganze, daß niemand darin, keine lebendige Seele, die ihm angehört, nur als Mittel angesehen werden darf auch nicht zu dem heiligsten Zwekk; sondern jede ist zugleich für Alle selbst der Zwekk, sofern ja in jeder die völlige Beseeligung bewirkt werden soll, welche überall in dem Reiche Gottes sein muß. Nun kommen wir Alle freilich oft in den Fall, daß wir die Kräfte Anderer in Anspruch nehmen, um vermittelst ihrer etwas in dem Reiche Gottes auszurichten, grade wie der Erlöser etwas ausrichten wollte durch diese Frau an dem Orte, wo sie wohnte. Aber auch das sollen wir nie thun, ohne uns zugleich den, dessen wir uns bedienen wollen, selbst zum Zwekk zu machen, mithin unsere Thätigkeit zugleich darauf zu richten, daß auch in | Jedem selbst Lust und Liebe zu dem Reiche Gottes entweder erst aufgehe oder durch das gemeinsame Werk in ihm gefördert werde, oder sollte er in irgend einen schlechten Zustand gerathen sein, er aus demselben wieder erhoben werde. Nun aber bedürfen wir überall der Mitwirkung Aller die wir erreichen können, und müssen uns also auch Alle ohne Ausnahme in diesem Sinne zum Zwekk machen. Darüber giebt es nun freilich kein Maaß; und viel wird unter den Christen hin und her gestritten, welches das rechte sei. Die Einen halten schon alles für eine heilige Pflicht, wozu das Herz sie um das Seelenheil Anderer zu fördern treibt; Andere hingegen achten schon alles was jene thun für Zudringlichkeit und unbefugte Einmischung in die geheimsten Angelegenheiten der menschlichen Seele. Wenn wir daher das Maaß entdekken könnten, welches der Erlöser selbst hierin beobachtet hat: so könnte uns das von großem Nuzen sein. Und ich denke, wenn wir sein Verfahren in der Geschichte unseres Textes mit Anderem vergleichen, was wir von dem Erlöser wissen: so würden wir dieses wohl entdekken können. Denn eines fehlt uns nicht, daß wir es nicht Alle recht gut wissen sollten, wäre es uns auch nicht in mehreren einzelnen Zügen aus seinem Leben aufbewahrt, die ich aber jezt nicht ausdrükklich in Erinnerung bringen kann, so wüßten wir es doch aus dem Gesammteindrukk, den sein ganzes Leben und Thun auf uns macht, daß er nämlich die irdischen Dinge auch irdisch behandelt und nicht in alle alltäglichen geselligen Verhältnisse die Angelegenheit seines Berufs erzwungenerweise und gleichsam gewaltsam eingemischt hat. Aber wenn er in einer Thätigkeit in Beziehung auf das Reich Gottes begriffen war, | so konnte er dann auch keinen Menschen bloß als Mittel behandeln; sondern er wußte jeden so zu gebrauchen und aufzufassen, daß, wenn es irgend möglich war zunächst in ihm selbst eine heilsame Wirkung, eine Vermehrung der göttlichen Gnade, eine Kräftigung auf dem rechten Wege erfolgen mußte. Und das, m. g. F., wird auch für

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uns Alle die rechte Regel sein! je genauer dieses oder jenes mit dem Reiche Gottes zusammenhängt und sich darauf bezieht, desto mehr sind wir darauf gewiesen, daß wir jeden, den wir zu irgend einer Mitwirkung auffordern, auch so behandeln, daß daraus hervorgeht, auch seine Seele besonders sei ein Gegenstand unserer Liebe und Sorge, und indem wir ihn auffordern, mit uns thätig zu sein, suchen wir, für ihn thätig zu sein. Und gewiß, was wäre eine größere Freude für den Erlöser gewesen, als wenn er den irdischen Sinn dieser Frau ganz durchbrochen hätte! wenn er durch die Eitelkeit, welche darin lag, daß sie mit ihm, weil sie ihn für einen Propheten erklärte, auch gleich ein Gespräch über geistige Dinge anknüpfte, wenn er durch diese hindurch ihr innerstes Gemüth hätte treffen können! Er hat dazu alles gethan; er machte sie erst aufmerksam auf die Nichtigkeit ihres Bestrebens, er hat sie hernach gefaßt durch die unmittelbare Kenntniß ihres Lebenswandels, er hat sich hernach auf alle ihre Fragen eingelassen, und zulezt noch das hinzugefügt, womit er sonst so sparsam war, ja was er zuweilen seinen Jüngern auszubreiten verbot, indem er ihr eröfnete, er sei Christus der Messias. So erkennen wir also allerdings die treue ernste Liebe, die Richtung auf das Wohl der Seele, welche damit zugleich anfing, daß er sie wollte zu einem Werkzeuge machen, | um auf diese Veranlassung großes bei Anderen auszurichten. Das Zweite aber, was uns in dieser Geschichte als höchst lehrreich und auch wol allgemein geltend auffallen muß, geht auch schon aus derjenigen hervor welche wir neulich miteinander betrachtet haben; wir können es aber dieses Mal stärker herausheben, als es uns damals vergönnt war, nämlich wie der Erlöser nur eine entscheidende Wirkung auf ein einzelnes Gemüth dadurch hervorzubringen trachtet, daß er ihm zur Anschauung bringt, wie er in das Verborgene sieht, und wie das Innere ihm nicht fremd ist. So äußert er sich gegen dem Nathanael und der konnte darauf nicht anders als bekennen, Ja du bist gewiß der Sohn Gottes, der König von Israel; so spricht er auch zu dieser Frau, indem er ihr das wovon sie glauben mußte, daß es ihm verborgen sei, aus ihrem Lebenswandel aufdekkt und ihr zeigt, daß er wohl wußte, wer sie sei, und auch sie kann sich dann des Bekenntnisses nicht enthalten, Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist, und sie lenkte dann gleich das Gespräch von ihrer Persönlichkeit weg auf größere aber doch allgemeinere Gegenstände. War nun dieses nur während der Zeit seines irdischen Lebens die Art und Weise des Erlösers, wenn er ein Verhältniß mit einer einzelnen Seele anknüpfen 24 Vgl. die Predigt am 15. Januar 1832 über Joh 1,47–51 35 Joh 4,19

30–31 Joh 1,49

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wollte? oder ist es nicht noch die Art, wie er an jedem einzelnen Gemüth seine Wirksamkeit beginnt? Wenn wir uns bewußt sind besonders ergreifender Augenblikke, welche uns zum Seegen für unsere Lebensführung gereichen: wie oft haben sie nicht diesen Gehalt, daß ein Wort des Erlösers oder auch das ganze Bild desselben, wie es uns begegnet, etwas Ver|borgenes aus dem Grunde unsers Herzens hervorzieht, und wir aufmerksam werden auf etwas, worüber wir den Schleier der Vergessenheit zu dekken suchten, oder was uns doch in dem Wechsel des Lebens verborgen geblieben ist, oder auf das worüber wir als Seelen, die nicht ganz ohne Falsch sind, uns selbst auf eine oder die andere Weise zu täuschen suchen! Und wenn wir fragen, was ist denn der rechte Grund des festesten Bündnisses der einzelnen Seele mit dem Erlöser: so werden wir sagen müssen, es ist dasselbe Bewußtsein, welches Petrus aussprach als er sagte, Herr du weißt alle Dinge, du weißt daß ich dich liebe; es ist eben dieses, daß ihm nichts verborgen bleibt, daß seine geistige Gegenwart, seine Wirksamkeit in unserer Seele auch das geheimste beherrscht, und es zu rechter Zeit ans Licht bringt. Der eigenthümliche Glaube des Christen an eine göttliche Führung der einzelnen Seele, die Festigkeit unserer Zuversicht, daß der Erlöser die, welche er einmal ergriffen hat, nicht fahren läßt, beruht ganz vorzüglich darauf, daß er uns immer wieder auf das Verborgenste zurükkführt. Und durch jeden Blikk in das innerste Getriebe unseres Herzens wird allemal unser Band mit ihm fester geknüpft; während wir erkennen, daß wir ohne ihn nichts wären, empfinden wir es bestimmter und deutlicher, daß wir bei ihm bleiben müssen, um das lebendige Wasser des Lebens schöpfen zu können, und durch das Licht, welches er uns anzündet, alle Falten unsers Herzens allmählig zu erleuchten, damit das, was unsauber darin ist und seinem Wesen widersprechend, immer noch möge hinweggeschaft werden. | So m. G., hat der Erlöser also auch an dieser Seele das Seinige gethan; aber es scheint wohl, daß wir sagen müssen, ihre Stunde hatte noch nicht geschlagen. Denn das können wir uns nicht bergen, daß wie sie sich ihm entzog, so auch der Erlöser sich ihr nun entzieht. Und so finden wir in den beiden Fällen, wo wir den Erlöser in einem besonderen Verhältniß mit einer einzelnen Seele erblikken, wenn wir beide vergleichen ein bestimmtes Gesez. Wie ganz anders war der weitere Verlauf mit dem Jünger, von welchem wir neulich geredet haben! wie nahm diesen der Herr gleich in seine Gemeinschaft auf, als er ihm 1 wollte] wolte 14–15 Vgl. Joh 21,15 1,47–51)

37 Vgl. die Predigt am 15. Januar 1832 über Nathanael (Joh

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sagte, du bist der Messias! und daß er nun sein Jünger sein und bleiben sollte, wie verpflichtete er ihn dazu gleichsam durch das große Versprechen, welches er ihm und den Andern gab, von nun an würden sie den Himmel offen sehen, und die bisher unterbrochene Gemeinschaft zwischen Himmel und Erde durch ihn wieder hergestellt. In unserem Falle aber, nachdem seine persönlichen Bemühungen an der Frau selbst für den Augenblikk wenigstens gescheitert waren, und ihm nun die große Thür der Verkündigung des Heils in diese Stadt geöffnet wurde, so daß er zwei ganzer Tage da verweilte, um die Gemüther zu erwekken und zu befestigen: so ist von ihr weiter nicht die Rede. Wenn wir nun dieses Ende der Sache für die Person mit dem vergleichen, welches die Unterredung des Herrn mit Nathanael genommen: so müssen wir uns wohl gestehen, es macht einen großen Unterschied, was der Mensch vorher gewesen ist, ehe ihm das persönliche Verhältniß mit dem Erlöser dargeboten wird, ob er es ergreifen kann oder nicht. Die Seele ohne Falsch ließ der Er|löser nicht fahren, die hielt er in dem ersten Augenblikke fest; aber diese noch in den Dingen der Erde verstrikkte ungeachtet mancher schönen Gaben, die auch aus der Art, wie sie sich in dem Gespräch betrug, hervorleuchten, diese ließ er doch für den Augenblikk fahren, weil sie, wie sie war, zu einem Werkzeuge in seinem Geschäft nicht wäre zu gebrauchen gewesen. Dieses, m. Fr., wird aber nur gar zu sehr von vielen Christen übersehen, und deshalb ist es nöthig, daß wir uns diese Lehre aus der Vergleichung dieser beiden Geschichten herausnehmen. Es wird nämlich sehr oft gesagt, Alles, was als menschliche Tugend erscheint, aber nicht aus der Verbindung des Gemüthes mit dem Erlöser hervorgeht, also auch nicht das Werk des göttlichen Geistes ist, sondern nur das Werk der Erziehung, der Sitte, der gemeinschaftlichen Ordnung der innern und äußeren Verhältnisse des Lebens, welche nun den einen oder den andern auf günstige Weise gebildet haben, das Alles, sagt man oft, habe keinen Werth, es sei doch nur falsch und ungenügend; und eben deswegen, weil erst eine gänzliche Veränderung mit dem Menschen durch die Verbindung mit dem Erlöser vorgehen muß, sei es auch völlig gleich, ob er den Menschen in einem solchen Zustande finde als eine Seele ohne Falsch wie den Nathanael, als ein festes, zuverlässiges Gemüth, wie den Petrus, oder ob noch mitten in dem tiefsten Schlamm der Sünde und des Unrechts. Das m. g. Fr, ist eine falsche Meinung, der wir nicht kräftig genug begegnen können. Der göttliche Geist ist freilich an und für sich eine unendliche Kraft, das erkennen wir daraus, daß er als derselbige wie er von dem Erlöser verheißen und über seine Jünger ausgegossen ist, alle Zeit fortwirkt 1 Vgl. Joh 1,49

3–4 Vgl. Joh 1,51

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und am Ende das ganze menschliche Geschlecht um den Erlöser und sein Kreuz vereinigen wird: aber er wirkt doch in der christlichen Kirche überall und in | jeder einzelnen Seele nur als eine dem Gesez der Natur unterworfene Kraft. Mit der Hinwendung des Herzens zu dem Erlöser, wenn auch die Folge davon der lebendige Glaube ist, den Nathanael als den seinigen aussprach, ist doch bei weitem, das wissen wir gar wohl, noch nicht alles gethan; nun beginnt erst das langsame, allmählige, und nach den allgemeinen Gesezen des menschlichen Lebens fortschreitende Werk der Heiligung. Und muß es da nicht einen großen Unterschied machen, ob der Mensch in einer solchen Stimmung und so vorgerichtet unter die Leitung des göttlichen Geistes und in die Verbindung mit dem Erlöser kommt, daß nun seine Fortschritte schneller sein können, seine Gaben sich rascher so weit entwikkeln um zum gemeinsamen Nuzen verwendet werden zu können, daß die Arbeit des göttlichen Geistes gleich eine Arbeit durch ihn sein kann und nicht noch eine große Zeit lang allein eine Arbeit in ihm und an ihm sein muß? das also mußte freilich für den Erlöser einen großen Unterschied machen, dem es ja darauf ankam, so viel, daß der Fortgang seines Werkes gesichert wäre, in der kurzen Zeit seines Lebens zu vollbringen. Aber das ist auch jezt nicht anders, und darum geziemt es uns, nicht gleichgültig zu sein gegen den großen Unterschied der guten und schlechten sittlichen Eigenschaften auch nicht bei denjenigen, von welchen wir sagen müssen daß sie noch nicht zu dem näheren, festen Eigenthum des Erlösers gehören, und noch nicht in dem Verhältniß eines lebendigen Glaubens stehen. Doch sollen wir diesen Unterschied des sittlichen und geistigen Werthes der Menschen überall anerkennen, und in unserm Urtheil hervorheben; wir sollen eine größere Freude haben an Solchen, die wegen ihres ganzen persönlichen Daseins so beschaffen sind, daß sie gleich können als Werkzeuge des göttlichen Geistes in ihrem Lebenskreise gebraucht wer|den. Freilich nicht als ob wir die Andern zurükksezen und ganz sich selbst überlassen sollten. Aber es bleibt eine andere Art der Liebe, die wir nur an denen beweisen können, an welchen noch viel zu arbeiten ist, und auch dieselbe Freude können wir an denen nicht haben, in welchen noch vieles anders werden muß, in welchen eine Menge von nachtheiligen Gewohnheiten zu ertödten ist, ehe der göttliche Geist mit ihnen arbeiten kann für Andere. So hat der Erlöser es gehalten, warum sollten wir es anders halten? dabei bleibt aber das fest, daß Alles, wie schön es auch scheine, wie viel Achtung es auch uns abnöthige, in die rechte Gemeinschaft der Christen nicht eingehen kann, wenn es nicht geheiligt ist durch den Glauben an den Sohn Gottes und durch die Liebe zu seinem Werke, wenn nicht die Ueberzeugung zum Grunde liegt, daß hieraus alles Heil hervorgeht, daß Alles, was wir sollen rüh-

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men können, sein Bild und seine Ueberschrift tragen muß, durch welche es zu einer Münze in seinem Reich geschikkt gemacht wird; doch ist ein Unterschied des edlen und des schlechten Metalls, auf welches dieses Bild geprägt ist und diese Ueberschrift gesezt, und so ist auch unterschieden der größere und der geringere Werth, den jeder hat für das Reich Gottes. Aber um den möglich größesten sicher zu erreichen, was können wir anders, als keinen Augenblikk vernachlässigen, in welchem sich der Erlöser einzeln an unsere Seele wendet, damit wir den Segen desselben ungetheilt genießen, immer tiefer in unser Inneres geführt werden, und sowol immer völliger erkennen die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes, als auch immer fester an ihm hangen in unerschütterlicher Liebe und Treue. Amen. Lied 517.

10–11 Vgl. Joh 1,14 13 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 517: „Dich will ich immer treuer lieben“ (Melodie von „Wie wohl ist mir, o Freund der Seele“)

Am 5. Februar 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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5. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 3,13–21 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 146–157, Nr. XII; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 304. Tex t . Marcus III, 13–21. „Und er ging auf einen Berg und rief zu sich, welche Er wollte; und die gingen hin zu ihm. Und er ordnete die Zwölfe, daß sie bei ihm sein sollten, und daß er sie aussendete zu predigen, und daß sie Macht hätten, die Seuchen zu heilen, und die Teufel auszutreiben. Und gab Simon den Namen Petrus; und Jacobum, den Sohn Zebedäi, und Johannem, den Bruder Jacobi, und gab ihnen den Namen Bnehargem, das ist gesagt: Donnerskinder; und Andream, und Philippum, und Bartholomäum, und Matthäum, und Thomam, und Jacobum, Alphäi Sohn, und Thaddäum, und Simon von Cana; und Judas Ischarioth, der ihn verrieth. Und sie kamen zu Hause; und da kam abermal das Volk zusammen, also, daß sie nicht Raum hatten zu essen. Und da es höreten, die um ihn waren, gingen sie hinaus, und wollten ihn halten; denn sie sprachen: Er wird von Sinnen kommen.“

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Was wir hier in diesem Abschnitte zuerst lesen, m. a. Fr., wie unser Herr und Erlöser sich die Apostel zugeordnet habe, | das kann freilich, wenn man es so liest, wie es hier steht, allerdings wol die Vorstellung veranlassen, als ob er sie damals zuerst aus dem ganzen Haufen, der sich um ihn sammelte, herausgegriffen hätte und in ein näheres Verhältniß zu sich gestellt. Allein wenn wir uns nur erinnern, was wir auch schon in unserm Evangelio in dem ersten Capitel desselben gelesen haben, wo uns erzählt wurde, daß Christus aus der Schule in das Haus Simonis gegangen sei mit dem Jakobus und Johannes: so lehrt uns dieses, daß diese schon damals in seiner Begleitung 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 304: „Gott ist ein Schutz in Nöthen“ (Melodie von „Nun lob, mein Seel, den Herren“) 21–24 Vgl. Mk 1,29

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waren; und so wird es auch mit den übrigen mehr oder weniger der Fall gewesen sein, daß weder so auf einmal noch ohne nähere Kenntniß, sondern, wie es in andern menschlichen Dingen zugeht, aus mancherlei Gründen zwischen dem Erlöser und denen, die er schon kannte, sich dieses Verhältniß bildete, wie es hier beschrieben ist. Wenn wir es so fassen, wie es hier lautet: so hat es auch freilich das Ansehen, als wenn nun diese Wahl so ganz rein eine Sache, daß ich mich so ausdrücke, der Willkühr des Erlösers gewesen wäre, und ein Wort, welches er selbst gesagt hat zu seinen Jüngern späterhin, nämlich ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt, das fällt bei dieser Erzählung gewiß einem Jeden wieder ein. Dessenungeachtet war auch schon in diesen ersten Anfängen die Art und Weise, wie eine nähere und bestimmte Gemeinschaft zwischen dem Erlöser und anderen Menschen anfing, nicht eine solche Sache seiner Willkühr allein. Wir dürfen nur an die Erzählung denken, welche uns der Evangelist Johannes macht von der ersten Bekanntschaft der Jünger des Herrn mit ihm: so sehen wir, wie das Zeugniß Johannis des Täufers ein Anknüpfungspunkt für die ersten wurde, der sie freilich nicht würde zu Gläubigen gemacht haben, wenn sie | diesen nicht so gefunden hätten, wie Johannes ihn beschrieben, wenn er selbst nicht einen solchen Eindruck auf sie gemacht, daß sie nicht von ihm lassen konnten; aber eine äußere Veranlassung war doch immer dabei, denn ohne diese geschieht nichts in der christlichen Kirche; und so war es auch mit dieser Wahl der Apostel. Und das ist die göttliche Ordnung in der christlichen Kirche; und darin erkennen wir denn, was der Erlöser anderwärts sagt, es kann niemand zu mir kommen, es ziehe ihn denn der Vater. Denn in diesen Veranlassungen, welche in dem Leben des Einen mehr oder stärker, in dem des Andern weniger und schwächer liegen, da erkennen wir die Ordnung der göttlichen Rathschlüsse, und wenn der Erlöser zu seinen Jüngern sagt, ihr habt mich nicht erwählt sondern ich euch: so will er damit nur die Ordnung dieses Verhältnisses beschreiben, wie es war zwischen ihm und ihnen; aber keinesweges für dieses Verhältniß eine Ausnahme machen von dem, was er auf eine ganz allgemeine Weise ausspricht, wenn er sagt: des Menschen Sohn thut nichts von ihm selber, sondern nur was er von dem Vater sieht und hört, was ihm dieser aufgibt, und wozu dieser ihn geleitet hat. Unser Verzeichniß der Apostel, welches Marcus uns hier vorlegt, das stimmt nun nicht in Allem überein mit anderen, sondern es gibt deren zwei Verschiedenheiten im Einzelnen. Wie wir uns nun das zu erklären haben, ob es auch hier einen solchen Wechsel gegeben habe, daß in der früheren Zeit ein Anderer mit zu diesen Zwölfen gehört habe als in der späteren, oder ob es nur eine Verschiedenheit ist in der Bezeichnung der Personen, 9–10 Joh 15,16 14–16 Vgl. Joh 1,35–42 24–25 Vgl. Joh 6,44 Joh 15,16 32–34 Vgl. Joh 5,19f; 8,28f 35–36 Vgl. Mt 10,2–4

28–29 Vgl.

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das werden wir schwerlich jemals ausmachen können. Es ist aber noch etwas Besonderes zu merken in diesem Ver|zeichniß, wie es uns Marcus aufstellt. Nämlich wir wissen von anderwärts sowol als auch aus seiner früheren Erzählung, daß Petrus und Andreas ebenso gut Brüder waren als Jakobus und Johannes. Diese beiden stellt er auch neben einander, aber die beiden anderen scheidet er. Es hat dieses keinen anderen Grund, als daß er die zusammenstellt und den übrigen voran, welche in der Gemeinschaft der Jünger einen andern als ihren gewöhnlichen Namen führten, welche irgend einen besonderen Namen von dem Erlöser bekommen hatten, der sich denn doch wol beziehen mußte auf etwas in ihnen, was eine besondere Bedeutung hatte für dieses Verhältniß und diesen Beruf. Nun erzählt uns Johannes, wie Christus dem Petrus diesen Namen gegeben habe und daß das auch schon etwas Früheres gewesen sei, gleich als sich ihre Bekanntschaft zuerst befestigte. Von dem Johannes und seinem Bruder finden wir das nirgend anders erzählt, daß der Erlöser ihnen einen solchen Namen, die Söhne des Donners, gegeben habe, und er scheint uns auch nicht recht zu stimmen mit dem, was wir übrigens sowol aus Erzählungen, die wir von ihm lesen, als auch aus den eigenen Schriften des Johannes wenigstens uns für ein Bild von ihm machen; denn da finden wir nichts als Milde und Liebe in hohem Grade, aber in dem Ausdruck Sohn des Donners liegt doch etwas Gewaltsames und also etwas Entgegengesetztes von dem, was wir von anderwärts her von ihm wissen, und was nicht mit dem Eindruck stimmt, den seine Schriften sonst auf uns machen. Da müssen wir also glauben, mit diesem Namen habe es eine andere Bewandtniß als mit jenem. Jenen Namen gab der Erlöser dem Petrus besonders als eine Mahnung für ihn daran, um welcher seiner persönlichen Eigenschaften willen er ihm einen Platz gegeben unter den Zwölfen; dagegen sollte dieser Name die | Jünger mahnen an die natürlichen Eigenschaften ihres Geistes, welche sie aber sollten in ihre Gewalt bekommen, um geschickt zu werden zu dem Berufe, zu welchem er sie bilden wollte. Es gibt eine Geschichte, daß, als der Herr mit mehreren seiner Jünger durch Samaria ging, er in eine Stadt kam und daselbst übernachten wollte, sie ihn aber nicht aufnehmen wollten als einen Jüdischen Mann und ihn nöthigten vorüberzugehen. Da ergrimmten diese beiden und fragten den Erlöser, ob sie nicht sollten Feuer vom Himmel regnen lassen, um diese Stadt zu zerstören; und da fragte er sie, ob sie nicht wüßten, wes Geistes Kinder sie wären. Da regte sich also in ihnen die Gewaltthätigkeit ihrer Natur, daß sie in die Absicht, ein solches Strafübel zu verhängen, aufbrausten; der Erlöser aber ermahnte sie, wie das dem Geiste ganz fremd sei, von welchem sie sollten getrieben sein. Und so haben sie denn auch, und das sehen wir eben in dem Johannes, diese ihre natürliche Gewaltthätigkeit immer mehr unter die Gewalt des Geistes gebracht, und 3–5 Vgl. Mt 4,18.21; Mk 1,16.19

11–14 Vgl. Joh 1,42

30–36 Vgl. Lk 9,51–55

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später würde es wol dem Johannes nicht mehr möglich gewesen sein, so aufzubrausen gegen die, welche den Erlöser nicht aufnehmen wollten, sondern nur ein herzliches Mitleid und eine anfassende Liebe, um sie wo möglich zum Glauben zu bringen, würde die Folge solcher Wahrnehmung gewesen sein. Diese Benennungen also bezogen sich die einen auf solche natürlichen Eigenschaften, wodurch Einer oder der Andere besonders tüchtig wurde für den Dienst des Herrn, die anderen aber auf das, was die Jünger erst dämpfen mußten durch den Geist der Liebe, um zu werden, wie er sie wünschte, und er wollte sie durch diese Benennung daran erinnern. Und das, m. G., führt uns darauf, wie es mit einem Jeden in Beziehung auf die Gemeinschaft mit dem Erlöser steht. Dasselbe, was sich hier zertheilt findet in Mehreren, das | findet jeder von uns in sich selbst. Jeder einzelne Mensch bringt seine natürliche Ausstattung mit in das Leben, und die verschiedenen Eigenschaften und Richtungen des Gemüths, die der menschlichen Natur alle wesentlich sind, sind in jedem Einzelnen auf besondere Weise gemischt. Aber das Reich Gottes in Christo, wie es eben ein Reich der Güte und Liebe ist, das verträgt nicht alle diese Mischungen auf die gleiche Weise, sondern in diesen natürlichen Eigenschaften ist immer Einiges, das nur geweckt zu werden braucht, zu einem kräftigen Werkzeug des Geistes ausgebildet, und immer mehr gestärkt und befestiget, wie es eben der natürliche Muth des Petrus war. Anderes das bedarf, in gewisse Schranken gebannt zu werden, damit es nicht der Wirksamkeit des Geistes hinderlich sei, und so wird es auch in jedem von diesen gewesen sein, aber in dem Einen hebt der Erlöser dieses, in dem Andern jenes hervor. Da kann es denn für Keinen etwas Besseres geben, als daß er sich selbst nicht einen, sondern, daß ich mich so ausdrücke, zwei solcher Namen gebe, damit er sich beständig dessen erinnere und Gott dafür danke, wodurch er weiß und aus der Erfahrung immer mehr inne wird, daß er ein lebendiges und kräftiges Glied werde an dem Leibe des Herrn, aber auch das nie aus den Augen lasse, was erst muß auf ein anderes Maß zurückgeführt werden, und als mehr zu den Auswüchsen des menschlichen Lebens und Seins gehörig in eine andere Ordnung gebracht, damit die Wirksamkeit des Geistes nicht weiter gestört werde, sondern Alles als ein gemeinsamer Wohllaut hervortrete und durch seine Uebereinstimmung wirke für den, dessen Diener wir alle sind. Nun lasset uns aber auch Eines, m. g. Fr., nicht übersehen. Indem nun diese so vorangestellt, besonders bezeichnet und hervorgehoben werden: so treten die übrigen, welche bloß durch ihren Namen bezeichnet werden, gleichsam in den Schatten hinter jene zurück; und diese Verschiedenheit, wie sie uns hier | gleich in der Aufzählung der Apostel entgegentritt, bewährt sich auch in der Geschichte. Die Geschichte der Apostel, die Briefe der Jünger des Herrn, welche zusammen mit unsern Evangelien das Neue Testament bilden, bringen uns auf mancherlei Weise die Namen dieser drei

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ins Gedächtniß, aber von den meisten der Uebrigen wissen wir wenig oder nichts zu sagen, was sie in der Sache des Herrn gethan haben, und dabei fällt uns denn gleich ein ein Wort des Apostels Paulus, welches wol wahr muß gewesen sein und richtig – denn wenn es nicht allgemein bekannt gewesen wäre, würde er es nicht gesagt haben – daß er nämlich von sich sagt, er hätte mehr gearbeitet als alle die Anderen, und doch waren sie auch von dem Herrn in die Zahl seiner beständigen Lebensbegleiter aufgenommen. Und nun von wie vielen christlichen Gemeinen wissen wir, daß der Apostel Paulus sie gegründet hat; von Petrus, Johannes und Jakobus wissen wir, daß sie immer gegolten haben für die Säulen der christlichen Kirche, und daß sie am Meisten die inneren Verhältnisse derselben geordnet haben und sie vertreten vor jeder Gewalt, mit welcher sie auf irgend eine Weise zusammenkamen. Aber wie Vieles gibt es nicht, was für die Verbreitung des Evangeliums muß geschehen sein, wovon die Geschichte schweigt. Was nun da Einer oder der Andere dieser Apostel gethan, wir wissen es nicht; aber daß sie sich nicht müssen besonders im Einzelnen hervorgethan haben, das können wir mit Recht schließen aus jenem Worte des Apostels Paulus, und so können wir annehmen, was auch in den Nachrichten von der Wirksamkeit des Petrus und Johannes und Jakobus liegt, daß sie zu der Verbreitung des Christenthums nicht so wirksam gewesen sind als der Eine. Aber die uns so sehr unbekannt geblieben sind in Beziehung auf ihr Werk, und die, welche hervorragen, waren doch als | solche, die zu der Zahl der Zwölfe gehörten, einander ganz gleich; und das ist es, was auch der Apostel Paulus, indem er den Sinn der Christen als Glieder an Einem geistigen Leibe beschreibt, uns auf eine andere Weise deutlich macht, wo er sagt, daß die Glieder, welche zu Ehren gemacht sind, welche vor den anderen hervorscheinen und leuchten, und die, bei denen das nicht der Fall ist, deren Dasein und Wirksamkeit sich mehr verbirgt, daß die alle von gleichem Werth und von gleicher Nothwendigkeit sind, und keiner sagen könne, daß er des Andern entbehren könne. Und so, m. g. Fr., muß es immer in der christlichen Kirche sein und bleiben. Es darf uns immer nur erscheinen als etwas mehr Zufälliges und nicht den inneren Werth des Menschen Bestimmendes, wenn es die Führung seines Lebens mit sich bringt, auf eine besondere Weise vor Andern hervorzutreten. Ja wir mögen noch weiter gehen und sagen, mit der christlichen Kirche hat es eine solche Beschaffenheit, daß das Meiste in ihr geschehen muß durch den gemeinsamen Geist, der Alle belebt, und das Zusammentreffen der Wirksamkeit derer, welche so von Einem Geiste beseelt sind; 19 Johannes] Johannrs 6 Vgl. 1Kor 15,10; ferner 2Kor 11,23 1Kor 12,12–27, bes. 23.21

9–11 Vgl. Gal 2,9

26–30 Vgl.

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daß aber, so oft irgend Einzelne auf besondere Weise sich auszeichnen und hervortreten müssen, dieses nicht anzusehen ist als etwas, was ihnen besonders zur Ehre und zum Ruhme gereicht, sondern als etwas, das dem Ganzen nicht zur Ehre, nicht zum Ruhme gereicht, sondern nur auf einen Mangel desselben hinweist. Als die Jünger versammelt waren an dem großen Tage der Pfingsten, und es noth that, die Menge, welche zusammengekommen war, über das Wesen dessen, worüber sie erstaunt waren, zu belehren, da mußte Einer vor den Andern hervortreten und das Wort nehmen; aber was er da sagt, das war so, wie der Geist es ebenso gut jedem Anderen hätte eingeben | können; es ist nichts Anderes als das klare, einfache Wort der Verkündigung, es ist da keine Spur von einer besonderen Kraft, von einer besonderen Geschicklichkeit, von einer eigenthümlichen Wendung des Gedankens und der Rede, die etwa nur dem Petrus eigen gewesen wären, sondern es erscheint zufällig, daß er grade hervorgetreten. Und wenn ich vorher sagte, von vielen Orten wissen wir gar nicht, durch wen das Evangelium dahin gekommen ist: da wird wol die natürliche Antwort sein, wenn wir nach dem Grund davon fragen, daß es gar nicht durch Einen geschehen, sondern daß es die Wirkung des gemeinsamen Geistes gewesen ist. Wo das Christenthum einmal im Schwange geht: da ragt gar nicht Einer so vor den Anderen hervor; und nur in Zeiten des Verderbens, wo es verdunkelt ist: da ist es eine Sache der Noth, daß Gott einzelne besondere Rüstzeuge sich auserwählt, um hervorzutreten und die Anderen an sich zu ziehen, und dadurch eine neue Verbreitung und Umlauf des Geistes zu veranlassen; aber der göttliche Zweck ist dann auch nicht eher erreicht, als bis dieses wirklich geschehen und die Gleichheit des geistigen Lebens wiederhergestellt ist. Darum ist das der größte Ruhm der christlichen Kirche, wenn keiner besonders hervortritt, und das ist das Ziel, was ihr schon vorgesteckt ist, noch ehe der Erlöser erschien; denn das ist eine der schönsten, gewichtigsten Weissagungen des Alten Bundes, wenn es heißt: es wird eine Zeit kommen, da wird Gott einen neuen Bund mit den Menschen machen, da das Gesetz nicht mehr wird geschrieben sein auf Stein oder Erz, sondern der göttliche Geist und Sinn wird geschrieben sein ins Herz der Menschen, und Keiner wird nöthig haben, daß sein Bruder ihn lehre, also auch nicht sich auszeichne vor den Andern, ihnen voranleuchte, sondern jeder wird von Gott gelehrt sein. | Nun aber haben wir in unserm Abschnitte noch zu betrachten die letzten ziemlich dunklen Worte desselben, wo nämlich erzählt wird, nachdem der Herr diese Ordnung gemacht und sich die Zwölfe zugeordnet 13 Gedankens] Gedankans 5–8 Vgl. Apg 2, bes. 14 29–35 Vgl. Jer 31,31.33f in Verbindung mit 2Kor 3,3 und Joh 6,45 (darin Jes 54,13)

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hatte, um bald, wie es ihm gut dünkte, mit ihnen zu sein und sie als Vermittler zwischen ihm und dem großen Haufen zu gebrauchen, dann aber auch um sie alle oder theilweise auszusenden, um das Wort der Verkündigung auszubreiten – als er nun diese erste Ordnung in Beziehung auf die Angelegenheiten seines öffentlichen Lebens festgesetzt, und er wieder nach Hause kam: da wäre eine solche Versammlung des Volkes zusammengeströmt, daß sie nicht Raum hatten und Ruhe zu der gewöhnlichen Führung des Lebens; und, heißt es dann weiter, als seine Angehörigen das vernahmen, wie er auf solche Weise aufgetreten, daß er eine eigene Gesellschaft stiftete, und wie eine so große Masse des Volks wieder hier zu ihm strömte: so wären sie ausgegangen, um ihn zu halten, um ihn näher zu umgeben als die, welche er sich ausgewählt, um ihn aus diesem Gewirre herauszuziehen und in den früheren stillen Lebenskreis zurückzuführen. Und wenn sie hernach sagen, „er ist nicht bei Sinnen:“ so ist nicht deutlich, ob dieses die eigene Meinung der Verwandten des Erlösers gewesen sei, oder ob sie dazu veranlaßt waren, weil das die Rede der Leute war. Wie dem aber auch sei: so sehen wir, daß grade in Verbindung damit, daß der Erlöser eine solche auf jeden Fall weise, nothwendige Ordnung gemacht und in dem Verhältnisse zwischen sich und den Menschen solche Abstufung geordnet hatte, wie es nothwendig war, wenn sein Werk nach menschlicher Ordnung fortgehen sollte, gerade von dieser Zeit fing das an, daß auch die, unter denen er aufgewachsen war, denen er angehörte – denn es werden nachher als die, welche zu ihm kamen, seine Mutter und Brüder genannt – daß die ihn also verkannten, daß sie glaubten, es sei nothwendig, daß sie ihn aus diesem Kreise, | welchen er sich selbst gewählt, in das vorige Leben zurückzögen. Und das, m. g. Fr., auch das hat sich freilich seitdem oft in der Gemeinschaft der christlichen Kirche wiederholt, und so dürfen wir uns nicht wundern, – denn das ist ja das beständige Verhältniß zwischen dem Erlöser als dem Haupt und der ganzen Gemeine der Christen als seinem Leib, daß es mit dem Einen geht wie mit dem Andern, daß in ihm und dieser seiner ganzen Gemeine nur Ein gemeinsames Leben ist, – daß dann das nachtheiligste Gericht ergeht über die christliche Kirche, wenn sich in ihr eine feste und bessere Ordnung gestalten will, wenn neue Entwickelungen eintreten, die aber zu nichts Anderm als einer sicherern Fortpflanzung des Wortes Gottes und zu der Ordnung gehören, welche nothwendig ist, wenn das Werk des Herrn fortgehen soll. Aber wie sehr er selbst von denen, welche ihm doch so nahe standen, verkannt wurde, wie es möglich war, daß unter ihnen eine Meinung sich verbreiten konnte, es sei wol Gefahr, daß er aus der rechten Ordnung seines Gemüths, aus der besonnenen Leitung seiner selbst herausfallen möchte, das ist kaum zu begreifen; aber es ist 22–23 Vgl. Mk 3,31

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doch die natürliche Art, wie der Unglaube über den Glauben urtheilt. Denjenigen, welche ich will nicht sagen ganz und gar in dem Sinnlichen und Nichtigen des irdischen Lebens verloren waren, aber welche doch noch hingen an der schon so sehr verfallenen, ihren Zweck nicht erreichenden Ordnung des Alten Bundes, denen mußte das erscheinen als etwas ganz aus der Regel des Lebens Hinausgehendes und als von einer Verworrenheit des Geistes Zeugendes. Und so sind immer die beurtheilt worden, welche in solchen Zeiten der Noth Gott sich zu besonderen Rüstzeugen auserwählt; so ist es gegangen zu der Zeit der Kirchenverbesserung, und so wird es immer wiederkehren, wenn solche Zeiten der Verdunkelung wiederkommen sollten. Denen, welche verharren an dem, was ehedem gut gewesen war, aber nun nicht länger fortdauern kann, erscheint immer die Rich|tung, welche das Neue, was schon da ist, in eine feste Gestalt bringen will, als etwas Verderbliches und Ausschweifendes; aber das ist dann nur die natürliche Folge von dieser großen Ungleichheit. Daher je schneller diese wieder aufgehoben wird, je mehr der gemeinsame Geist sich verbreitet, je weniger es nöthig ist, daß auf irgend eine Weise wieder Söhne des Donners auftreten und mit einer gewissen Gewaltthätigkeit zugreifen, um zu ordnen, was auseinander fallen will, um das Licht wieder zu erwecken aus der Finsterniß, je mehr dieses mit strahlendem Glanze das Ganze erleuchtet: um desto ungetheilter kann Gott gepriesen werden in der Gemeine des Herrn. Aber damit das geschehe, müssen auch Alle leicht erkennen, was Noth thut und heilsam ist für die Ordnung des Ganzen; denn je mehr das zu jeder Zeit geschieht: um desto schneller verliert sich die Ungleichheit, um desto mehr werden die, welche zuerst aufgestanden, den Andern gleich, um desto mehr vertheilt sich, was geschehen muß, als ein gemeinsames Werk, und um desto mehr ist es auch der gemeinsame Geist, der Alles ordnet, der in Allem hervorscheint und als solcher erkannt und verherrlicht wird. Und so möge denn immer mehr aus einer solchen Ungleichheit zu einer Gleichheit der Ordnung und Liebe unter allen Umständen des Lebens und allen Entwicklungen der Geschichte die Gemeine des Herrn geführt werden nach seiner Weisheit und Gnade. Amen. Lied 313.

1 Glauben] Glanben 33 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 313: „Seht, was der Herr der Kirche thut“ (Melodie von „Ich bin ja, Herr, in deiner Macht“)

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Am 12. Februar 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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6. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 9,35–38 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 2) 1832, S. 135–157, Nr. VIII SW II/3, 1835, S. 181–194; 21843, S. 188–202. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 267–279 Keine 3. Teil einer Predigtreihe über die Art, wie der Erlöser ein persönliches Verhältnis zu dem Einzelnen anknüpft, 15. Januar bis 26. Februar 1832

Am 6. Sonntage nach Epiphan. 1832. Lied 49. 536. Text. Ev. Johannis IX, 35 ff.: „Es kam vor Jesum, daß sie ihn ausgestoßen hatten. Und da er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubest du an den Sohn Gottes? Er antwortete und sprach: Herr, welcher ist’s, auf daß ich an ihn glaube? Jesus sprach zu ihm: du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist es. Er aber sprach: Herr, ich glaube; und betete ihn an.“

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M. a. Fr. Was ich jezt vorgelesen habe, ist wiederum nur das Ende einer ausführlicheren Erzählung von einem ähnlichen Beispiele, wie die, welche wir bisher mit einander betrachtet haben, wo nämlich der Erlöser der erste war, um ein Verhältniß mit einem einzelnen Menschen anzuknüpfen, indem er sich zuerst an ihn wendete. Unsere | Textesworte sind nämlich das Ende jener Geschichte von dem durch Christum geheilten Blindgebornen, welche der Evangelist Johannes 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 49: „O Gott, wir ehren deine Macht“ (Melodie von „Es woll uns Gott genädig sein“); Nr. 536: „Lebst du in mir, o wahres Leben“ (Melodie von „Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen“) 3–9 Der abgedruckte Predigttext umfasst Joh 9,35–38; tatsächlich bezieht sich Schleiermacher in der Predigt auf die ganze Erzählung Joh 9,1–38. 12 Vgl. die Predigten am 15. und 29. Januar 1832 über Joh 1,47–51 bzw. Joh 4,25–26 15–1 Vgl. Joh 9,1–41

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mit einer so großen Ausführlichkeit erzählt, daß es deshalb nicht thunlich war sie von Anfang bis zu Ende vorzulesen. Was aber der Erlöser an diesem Einzelnen that, hatte einen leiblichen Anfang, indem Er nämlich seine Augen dem Licht öffnete, dessen er sich noch niemals in seinem Leben erfreut hatte, und ein geistiges Ende, indem Er den Glauben an Ihn als den Sohn Gottes in seiner Seele erwekkte; beides aber war für den Erlöser gleich von Anfang an nur eins und dasselbe. Denn das waren seine ersten Worte, nachdem Er den Jüngern Bescheid ertheilt auf ihre Frage, wer denn die Sünde gethan, dieser oder seine Eltern, um derentwillen er blind geboren sei, Dieweil ich in der Welt bin, sagt er, bin ich das Licht der Welt, und muß wirken die Werke dessen, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist.1 Wenn Er sich nun hier das Licht der Welt nennt, so that Er das freilich nicht ohne Anspielung auf die leibliche Gabe, welche Er eben mittheilen wollte; aber Er konnte es doch nur verstanden wissen wollen in dem höheren geistigen Sinn und mit weiterer Hinaussicht auf das große Werk seines Berufs unter den Menschen. So lasset uns denn, wie Er seinen Jüngern auf ihre Frage die Antwort giebt, das was diesem Menschen begegnet sei, sei nicht die Schuld der Sünde, sondern es sei so, damit die Werke Gottes offenbar würden an ihm, diese ganze Geschichte so mit einander erwägen, daß wir sehen, wie denn nun durch unsern | Herrn und Erlöser die Werke Gottes an diesem seien offenbar geworden. I. Das Erste aber, m. a. Fr., was ich glaube hier beseitigen zu müssen, ist dieses, daß wir uns recht mit einander verständigen über den Anschein des Zufälligen, welcher auf dieser ganzen Begebenheit ruht. Der Zusammenhang der Erzählung ergiebt nämlich sehr deutlich, daß dieser Blindgeborne irgendwo in der Nähe oder am Eingang oder in einem von den Höfen des Tempels das Mitleiden der Vorübergehenden in Anspruch nahm, indem er nicht im Stande war, für seinen Unterhalt selbst zu sorgen. Der Erlöser, der, wenn er in Jerusalem war, den Tempel täglich zu besuchen pflegte, nicht nur in den Stunden des Gebetes sondern auch sonst um im Tempel zu lehren, mochte wohl schon oft an ihm vorübergegangen sein; denn die Jünger kannten ihn ja, nicht nur als einen Blinden, was sie freilich hätten sehen können, sondern als einen, der blind geboren sei, wozu sie ja schon seine Geschichte wissen mußten. Hätten sie nun aber nicht diese Frage an 1

Joh. 9, 4. 5.

8–10 Vgl. Joh 9,2f

10–11 Joh 9,5

11–12 Joh 9,4

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ihren Herrn und Meister gerichtet, noch dazu eine Frage, die in einer falschen Ansicht von der göttlichen Führung ihren Grund hatte, welche der Erlöser daher zu berichtigen suchte – hätten sie diese Frage nicht gethan: so würde der Erlöser auch wohl dieses mal an dem Unglükklichen vorübergegangen sein; und wenn dieser auch eine milde Gabe von Ihm empfangen hätte, so würde es nicht das Licht der Augen gewesen sein, diese köstliche Gottesgabe, mit der Er ihn wieder ausstattete. Und so ist es | denn allerdings! in allem, sei es kleiner oder auch größer als dies war, aber in allem, was zu unserm äußern irdischen Leben gehört, finden wir solche Abhängigkeit des Einzelnen von dem allgemeinen Zusammenhang der menschlichen Dinge, und dann dem Anschein nach natürlicher Weise auch wieder von Einzelnen, so daß uns dieser Zusammenhang als etwas Zufälliges erscheint. Bleiben wir nun auch nur hiebei stehen, und bedenken nur zugleich, wie beide so genau durch einander bedingt sind, die irdischen Uebel und die irdischen Wohlthaten, so daß die einen nicht können anderer Art sein oder auf andere Weise entstehen als die anderen: so müssen wir uns daraus allein schon überzeugen, daß das eine schiefe Frage war, welche die Jünger an den Erlöser richteten, indem sie dabei von einer ganz irrthümlichen Voraussezung ausgingen, als ob nämlich jedes einzelne Leiden, jedes einzelne Unglükk eines Menschen seinen Grund haben müsse in der Sünde, wenn nicht in seiner eigenen, denn doch in einer früheren die er als Erbe zu vertreten hat. Darum nun widerlegt auch der Erlöser dies, und sagt seinen Jüngern, so wäre es nicht; weder in der Sünde dieses Menschen selbst, und das war ja unmöglich, weil er blind gewesen war, ehe er irgend etwas gethan hatte weder gutes noch böses, noch in der Sünde der Eltern habe dieses besondere Unglükk seinen Grund, sondern es sollten an ihm die Werke Gottes offenbar werden. Nun erscheint uns das sehr richtig in dem gegenwärtigen Fall, denn eben durch diese Frage wurde der Erlöser aufgefordert, seine wunderthätige Kraft auf diesen Menschen zu richten und ihn durch dieselbe aus seinem Zustande zu erretten. Aber die Frage der Jünger, die freilich | auf den einzelnen Fall gerichtet war, ging doch von einer allgemeinen Voraussezung aus; und so wie der Erlöser überall die Werke dessen wirken mußte, der Ihn gesandt hatte, so durfte Er auch diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne seinen Jüngern zu der über den einzelnen Fall auch noch eine allgemeine Belehrung zu geben. Und so finden wir es denn auch, sobald wir den ganzen vollen Sinn seiner Worte erkennen. Denn ganz 33 die freilich] dief reilich 35–36 Vgl. Joh 9,4

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im allgemeinen können wir das behaupten, alle Unvollkommenheiten des menschlichen Lebens, die uns unser Sein und Wirken auf dieser Erde beschränken und verkümmern, mögen sie nun von dem Verhältniß ausgehen, in welchem wir gegen einander stehen, oder von denen zu den natürlichen Dingen und Kräften dieser Welt, alle Unvollkommenheiten und alle Uebel dieses Lebens sind dazu da, damit die Werke Gottes offenbar werden. Hatte dies einen besonderen Sinn in jenem Fall, wo der Erlöser durch seine ihm eigenthümliche Kraft das Uebel aufhob: so gilt es doch auf natürliche Weise im allgemeinen, daß alle Uebel des Lebens früher oder später sollen aufgehoben und, bis sie aufgehoben sind, gemildert werden durch die uns Allen gemeinsamen geistigen Kräfte, welche dem Menschen dazu verliehen sind, daß er vermöge derselben werde, wozu ihn Gott gesezt hat, nämlich zum Herrn über alles, was auf Erden ist. Denn sofern er an den Uebeln dieses Lebens leidet, sofern sein Dasein sich noch als ein unbefriedigtes und den natürlichen Kräften dieser Erde untergeordnetes darstellt, zeigt er sich nicht als den Herrn derselben: aber dazu ist das alles, um seine geistigen Kräfte zu wekken und ihnen immer neue Gegenstände vorzuhalten, worauf | sie sich richten. Daß aber alles was wir thun vermöge dieser geistigen Kraft, mit welcher Gott das menschliche Geschlecht ausgerüstet hat, ein Werk Gottes ist, von dem die Gabe kommt, wer wollte das leugnen! ein Ausfluß von ihm ist diese Kraft des menschlichen Geistes; wer wollte also leugnen, daß auch die Werke Gottes sind? nicht die unsrigen, sondern seine, welche er verrichtet durch uns? Aber eben deswegen, m. a. Fr., giebt es doch noch einen wenn gleich anderen Zusammenhang der äußern Uebel dieses Lebens mit der Sünde, welcher sich eben hieraus erklärt. Denn wenn es wahr ist, daß alles Uebel dazu ist, damit die Werke Gottes sollen offenbar werden: so verkündigt ja die Fortdauer aller dieser Uebel und Unvollkommenheiten, daß die geistigen Kräfte des Menschen noch nicht gehörig gewekkt sind, daß er auf der ihm bestimmten Laufbahn noch verhältnißmäßig geringe Fortschritte gemacht hat, daß es vermöge dieses Sporns, welchen Gott in den natürlichen Lauf der Dinge gelegt hat, ihm noch nicht gelungen ist, den Kräften des Geistes einen höheren Schwung zu geben. Da müssen wir denn gestehen, ja es ist unsere Sünde, vermöge deren die menschlichen Uebel noch so gewaltig erscheinen, und den Einzelnen noch so tief niederbeugen, wie wir es vor uns sehen; es ist unsere Trägheit, der unrichtige Gebrauch unserer 23–24 daß auch die Werke Gottes sind?] Kj daß auch dies Werke Gottes sind? 13–14 Vgl. Gen 1,26–28

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Kräfte, der Mangel an lebendigem Eifer, wenn nicht überall durch uns die Werke Gottes offenbar werden. Wäre dieser Eifer größer, wäre das Auge des Geistes lichter, wäre die Kraft des Willens geübter: weit schneller würden diese Uebel unter unsern Händen verschwinden, weit schneller | würde sich das menschliche Geschlecht dem Ziele der Vollkommenheit nähern, das ihm gestekkt ist. Diesen Zusammenhang nun hat der Erlöser durch seine Rede nicht aufheben wollen; Er sagt nur, das einzelne Uebel habe seinen ersten Grund nicht in der Sünde des Einzelnen, es sei nicht in Folge der Sünde entstanden, und damit bezeugt er, es habe seinen Grund in der Natur. Zugleich aber zeigt er durch sein Beispiel, daß überall, so wie Er durch seine außerordentliche Kraft, so wir durch die gewöhnlichen Kräfte, die Gott in jeden Menschen gelegt hat, an diesen Uebeln das Werk Gottes verrichten sollen; und thun wir dies nicht, so dauern sie fort durch die Schuld der menschlichen Trägheit und menschlicher Sünde. Allein m. g. Fr., auf das geistige dürfen wir eben dies nicht anwenden; da giebt es auch nicht einmal jenen Schein des Zufälligen. Wenn die Jünger nicht ihre Frage an den Erlöser gerichtet hätten, als sie wieder diesen Blindgebornen am gewohnten Orte sahen: so wäre er diesmal gewiß nicht, – denn auch des Erlösers Aufmerksamkeit würde nicht auf ihn gelenkt worden sein – zum Licht seiner Augen gelangt; aber wenn er nicht dem ohnerachtet zum Glauben an den Sohn Gottes gelangt wäre, das wäre immer seine Schuld gewesen. Jesus konnte ihm nicht verborgen geblieben sein, da er täglich in den Tempel ging, da Er täglich in seiner Nähe auf die Menschen einwirkte, nicht vermöge des Sinnes, der ihm fehlte, sondern vermöge des andern, der ihm geöffnet war; und so scheint Er ihm auch nicht unbekannt gewesen zu sein. Wäre also sein Verlangen nach dem Licht, welches dem Menschen innerlich leuchten muß, eben so stark gewesen | als er gewiß schmerzlich das äußere Licht entbehrte: so würde es ihm nicht gefehlt haben, Christi Wort vernehmen zu können. Hätte er seine Worte nicht vernommen: so wäre es seine eigne Schuld gewesen, und er hätte mit zu denen gehört, von denen der Erlöser am Ende seiner Laufbahn mit vollem Rechte sagen konnte, Wie oft habe ich euch versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, ihr habt aber nicht gewollt!1 wie oft habe ich euch gesagt, was zu eurem Frieden dient, ihr habt aber nicht gehört! Dieser Vorwurf hätte selbst den Blindgebornen treffen müssen, und auch seine so höchst nachtheiligen äußern Umstände hätten ihm nicht zur 1

Matth. 23, 37.

36–37 Vgl. Lk 19,42

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Rechtfertigung gereichen können. Hier auf dem Gebiet des menschlichen Willens gilt keine Abhängigkeit; sobald nur das Wort Gottes in den Bereich eines Menschen gekommen ist, sobald nur der Ruf von dem zu ihm gelangt, der das Licht der Welt ist, und er wendet sich ihm nicht zu, strebt nicht nach Vermögen von ihm zu empfangen: so ist das seine Schuld; denn es hat seinen Grund nur darin, daß er so ist, wie er ist. II. Nun aber, m. a. Fr., laßt uns zweitens mit einander darauf achten, wie denn nun, soviel wir aus dem, was vor uns liegt, urtheilen können in eben dieser Beziehung, nämlich der Richtung auf das geistige dieser beschaffen war, an den sich der Erlöser hernach demungeachtet noch auf so besondere Weise wendet. Ich kann | hier nicht umhin, m. chr. Z., das bemerklich zu machen, wie es großentheils um diejenigen steht, die durch den bedeutenden Antheil von den Uebeln dieses Lebens, welchen sie zu tragen haben, auf eine gleichsam ausschließende Weise an die Wohlthätigkeit der Andern gewiesen sind. Ach! das ist eine gefährliche Lage, die gar zu viel der menschlichen Trägheit, dem Mangel an gutem Willen Vorschub leistet! Wenn wir als Christen, ja schon als Menschen nicht umhin können und auch nicht dürfen, die gewöhnlichen Werke der Wohlthätigkeit an denjenigen zu üben, die, sei es nun aus Schuld der Natur oder durch die Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft, in solche Lage gekommen sind, daß sie auch für die ersten und wesentlichsten Bedürfnisse eines menschlichen Daseins sich selbst nicht genügen können; wenn wir, sage ich, nicht umhin können, immer aufs neue diese Werke zu verrichten: wie oft müssen wir nicht bedauern, daß es uns eben so wenig gelingen will, die rechte gewünschte Wirkung hervorzubringen als dabei eine falsche und verkehrte zu vermeiden! wie oft haben wir nicht Ursache, es zu beklagen, daß diejenigen immer mehr in gleichgültige Trägheit, unthätige Sorglosigkeit zu versinken pflegen, die so an die Hülfe Anderer gewiesen sind! In dieser Beziehung nun bemerken wir hier an dem Erlöser etwas besonderes, von seiner sonstigen Handlungsweise in ähnlichen Fällen verschiedenes, wodurch Er gewiß nur ans Licht bringen wollte, was für eine Gesinnung in dieser Hinsicht in jenem Menschen war. Denn wenn Er zu einem, dessen Arm vertrokknet war, und in Folge dessen ganz bewegungslos, dennoch sagen konnte, Strekke die Hand aus, und er that es; wenn Er | zu einem, der gichtbrüchig viele Jahre da gelegen hatte, nicht einmal im 36–37 Vgl. Mt 12,10 Joh 5,2–7

38 Vgl. Mt 12,13

38–2 Vgl. Mt 9,2 in Verbindung mit

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Stande, eine ihm sehr nahe liegende Hülfe sich zu rechter Zeit anzueignen, wenn Er zu dem sagen konnte, Stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim! und er that es: warum sollte Er nicht eben so durch sein bloßes Wort auch diesem haben sein Gesicht geben können? Aber was that Er? Er nahm seine Zuflucht zu etwas, das an und für sich selbst diese Wirkung nicht hervorbringen konnte; nachdem Er mit seinem Speichel einen Koth gemacht, wie es in unserer deutschen Bibel heißt, und ihn auf des Blinden Augen gestrichen hatte, sprach Er zu ihm, Gehe hin zu dem Teich Siloha und wasche dich. Wenn es aber, wie das überwiegend wahrscheinlich ist, um die Stunde des Gebets war, wo gar viele Fromme immer in der Nähe des Tempels wandelten, und es für ein gutes und göttliches Werk hielten, den Dürftigen und Gebrechlichen, die sich da aufhielten, dann milde Gaben mitzutheilen; und wenn der Blinde da bei sich überlegt hätte, wie unwahrscheinlich das sei, daß ihm dies zum Licht seiner Augen verhelfen könnte: wie leicht hätte er da zu sich selbst sagen können, Das ist ja doch vergeblich, daß du zu dem Teich hingehest, und du versäumst unterdessen die beste Gelegenheit, etwas zu erwerben; und dann wäre er da geblieben. Der Erlöser wollte also etwas auf den Willen des Leidenden, ja auf seinen Glauben und Vertrauen rechnen, darum richtete Er es so ein und sprach das zu ihm. Da nun jener hinging und sich wusch, und so wie er sehen konnte, dann sich gleich unter die Menschen mischte und nicht an seiner vorigen Stelle blieb: so sehen wir deutlich, daß er jene sträfliche Denkungsart, jenes sich Ver|lassen auf die allgemeine Wohlthätigkeit nicht an sich hatte, und daß sich wenigstens ein Funken von Glauben an das, was der Erlöser that, ein Keim von Vertrauen auf das, was Er sagte, schon in seiner Seele entwikkelt hatte. Aber laßet uns nun auch aus dem Verfolg der Geschichte uns des Zweiten erinnern, woraus wir erkennen können, wie es im Innern seines Gemüths beschaffen gewesen. Die Geschichte kam nämlich vor diejenigen, die das Volk leiteten, indem viele Menschen diesen kannten als einen Blindgebornen, und als sie ihn nun unter den übrigen fanden im Tempel wandeln, natürlich fragten, wie es denn zugegangen sei, daß er sein Gesicht erlangt habe? Nun war es aber wieder am Sabbath gewesen, und wie das nun vor die Pharisäer kam, wurde es der Grund zu einer neuen feindlichen Aufregung wider den Erlöser, weil sie meinten, Er hielte den Sabbath nicht, und sprachen, wie der Evangelist sagt, Der Mensch ist nicht von Gott, dieweil er den Sabbath nicht hält. Deshalb nun ließen sie jenen vor sich kommen und 2–3 Mt 9,6; vgl. Joh 5,8 15 38–39 Joh 9,16

6–8 Vgl. Joh 9,6

9 Joh 9,7

30–34 Vgl. Joh 9,13–

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befragten ihn, was denn vorgegangen sei mit ihm, und was er von dem hielte, der ihm die Augen aufgethan? Da sprach er denn und leugnete nicht, ohnerachtet er ihre Widrigkeit gegen den Erlöser wohl kannte, und wohl auch wußte, was uns der Evangelist bei dieser Gelegenheit erzählt, daß sie schon öffentlich hatten ausgehen lassen, so jemand ihn für den Messias bekennte, daß derselbige in den Bann gethan würde; er bekannte aber dennoch auf ihre Frage und sprach, Ich glaube, er ist ein Prophet. Und nachdem er das gesagt, und sie dabei blieben, daß er ein sündiger Mensch sei: so wollte er sich auf eine weitere freundliche | oder unterwürfige Weise nicht mehr mit ihnen einlassen, sondern wies sie von sich weg. Als sie nun noch neue Versuche machten, um eine andere Rede von ihm zu gewinnen, und ihn aufs Neue fragten, Was that er? wie that er dir die Augen auf? da sagte er, Ich habe es euch ja schon gesagt; habt ihr es noch nicht gehört? wozu wollt ihr es abermahls hören? wollt ihr auch seine Jünger werden? Und so schied er denn in Unfrieden, und wie es nicht anders zu erwarten war, es wird uns erzählt, daß sie ihn herausstießen, das heißt, daß sie jenes Urtheil an ihm vollzogen und ihn in den Bann thaten, so daß er also nicht mehr in den Versammlungen des Volks, die zur Erklärung der Schrift gehalten wurden, durfte gesehen werden, und er ausgeschlossen war von diesen gottesdienstlichen Uebungen. Dieses giebt uns allerdings den Eindrukk, daß er eine kräftige Natur war, fähig seine Ueberzeugung, wie er sie gewonnen hatte, geltend zu machen. Und worauf er sich in diesem Streit berief, das war dies, daß er sagt, Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen thun? Von der Welt an, sprach er, ist es nicht erhöret, daß jemand einem geborenen Blinden die Augen aufgethan habe. Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts thun. Indem aber nun die Pharisäer von Jesus gesagt hatten, er sei ein Mensch ganz in Sünden, doch aber nicht leugnen konnten, daß das eine That sei, welche die menschlichen Kräfte überstieg: so wollten sie also eigentlich, wie sie das ja öfter von Jesus sagten, daß er die Teufel austriebe durch den Obersten der Teufel, daß die Schuld zwar sollte einer andern, übermenschlichen, aber bösen Macht beigelegt werden; und das war es eben, worüber dieser Mensch seine | ganz entgegengesezte Ueberzeugung nicht verleugnen wollte. Und wir können doch nicht anders als dieser Ueberzeugung wegen ihn loben; aber zu gleicher Zeit auch ihn loben wegen des Maaßes, 1 vorgegangen] vor gegangen 4–7 Vgl. Joh 9,22 8 Vgl. Joh 9,17 13 Joh 9,26 14–16 Joh 9,27 17 Vgl. Joh 9,34 25 Joh 9,16 25–28 Vgl. Joh 9,32f 31–32 Vgl. Mt 12,24; Mk 3,22; Lk 11,15

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das er darin hielt. Denn, m. th. Fr., was natürlich ist oder übernatürlich, was ein Wunder ist oder kein Wunder, das liegt ja so sehr an den Grenzen der menschlichen Erkenntniß, daß wir schwerlich im Stande sind, ein Urtheil darüber von uns zu geben, welches hinlänglich begründet wäre. Aber das konnte wohl jeder Mensch mit Gewißheit sagen, wer seine Kraft auf solche Weise gebraucht, wie der Erlöser sie da gebrauchte, wer sie gebraucht zum Wohlthun, zur Erwekkung menschlicher Kräfte, zur Linderung des Unglükks und der Leiden ohne daß er etwas anderes dabei beabsichtigen konnte, als die Sache selbst, ohne immer für sich selbst etwas zu suchen oder zu begehren, – denn der Erlöser hatte sich ja gar nicht weiter um ihn bekümmert, nachdem Er gesagt, Nun gehe hin zum Teich Siloha und wasche dich – der könne nicht mit dem Bösen in Verbindung stehen, sondern der Geist, der ihn trieb, müsse ein guter Geist sein; und so ihm eine Kraft gegeben sei, so sei das ein Zeugniß Gottes für ihn, wie alles was sich als eine auf das Gute gerichtete Kraft in dem Menschen offenbart. Darum sagte nun jener, Ein sündiger Mensch kann das nicht thun, womit er nur sagen wollte, weil diese Kräfte nur von Gott kommen können, so können sie auch nur sein in Einem, der ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens ist, und müssen in Verbindung stehen mit dem, was Gott durch solche Menschen ausrichten will; und darum sprach er, Ich glaube, daß er ein Prophet ist, als sie ihn fragten, was | er von ihm hielte. Nun konnte er ihn nicht schon deswegen für einen Propheten halten, weil Er ihm die Augen aufgethan, denn das war, wenngleich ein Erweis einer höhern Kraft, doch nicht das Werk eines Propheten. Aber er wußte wohl, Jesus sei ein Lehrer, und in dieser Beziehung sagt er, jezt halte ich ihn nun für einen von Gott gesandten Lehrer, weil Er solche Thaten ausrichtet. Wenn ich daher sage, ich lobe ihn wegen des Maaßes, das er in seiner Denkungsweise beobachtet, so meine ich das so, daß er auf dieses Wunder hin in Verbindung mit dem Geschäft des Lehrens, welches der Erlöser trieb, ihn für einen Propheten hielt, aber deswegen noch nicht für den Messias. Dieses, meine ich, ist an ihm billig zu loben, daß er durch das, was ihm selbst widerfahren war, nicht zu schnell gläubig wurde. Denn grade weil das Wunderthun als etwas angesehen wurde, wodurch sich jeder Prophet bewähren könne und müsse: so konnte es auch nicht angesehen werden als eine besondere Unterscheidung des Messias, der ja über alle Propheten war. Denn Blindgebohrene sehend machen war zwar etwas unerhörtes; aber sobald wir etwas für Wunder erklären müssen, können wir auch keinen Unterschied weiter machen zwischen größeren und kleineren; und daher konnte auch der Messias nicht von 12 Vgl. Joh 9,7

17 Vgl. Joh 9,25 in Verbindung mit 16

22 Vgl. Joh 9,17

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einem andern Propheten unterschieden werden aus den Wundern, die der Eine oder der Andere that. Soviel also sehen wir, m. g. Fr., dieser Mensch war ein solcher, der gern mit seinen Kräften den Beruf des Menschen auf der Erde erfüllen wollte; und daher, als ihm die Hülfe dargeboten wurde, lieber aus der Zahl derer | heraustrat, die nur von der Milde und Wohlthätigkeit Anderer ihr Leben fristen, um nun in rechter Thätigkeit sich selbst zu genügen und den Beruf, den Gott dem Menschen gegeben, zu erfüllen. Aber nicht nur dies rechtliche und löbliche müssen wir anerkennen; sondern auch eine Empfänglichkeit müssen wir ihm zuschreiben für die Wahrheit und einen Muth, seine Ueberzeugung, so wie sie in ihm entstanden war, vor der Welt zu bekennen. Seine Eltern fürchteten sich, als sie gefragt wurden, wie es mit ihrem Sohn zugegangen sei? weil sie wußten, was die Pharisäer über Jesus beschlossen hatten; und deshalb sprachen sie, Daß er unser Sohn ist, das wissen wir, blindgeboren ist er auch, aber wie er sehend geworden, das wissen wir nicht; fragt ihn selber, er ist ja alt genug! und so zogen sie sich aus der Sache, ohnerachtet sie wohl die ersten gewesen sein werden, denen ihr Sohn sich mit seinem wiedererlangten Gesicht gezeigt hat, und sie eben so gut hätten Rechenschaft geben können, wie er. Aber in ihm war ein Geist des Muthes, und er scheute die Folgen nicht, die daraus entstehen konnten, sondern er hielt es für die erste Pflicht des Dankes, nun seine Ueberzeugung auszusprechen, und leugnete nicht, sondern sagte, Er ist ein Prophet! Wenn daher auch der Erlöser sich nicht weiter um ihn bekümmert hätte: dürften wir dennoch wol vermuthen, daß auch dieser erste Grad des Glaubens an ihm nicht würde ungesegnet geblieben sein, und daß er selbst immer mehr würde Veranlassung gesucht haben, um von dem, den er als Propheten erkannt hatte, den Weg Gottes zu erkunden und seiner Lehre zu folgen. | III. So hätte denn der Erlöser ihn füglich seine eigenen Wege können weiter gehen lassen. Wie kam es also dahin, und das sei nun das dritte und lezte Stükk unserer Betrachtung, daß der Erlöser sich an denselben noch einmal wendete, und noch einmal den ersten Schritt that ein Verhältniß mit ihm anzuknüpfen? Der Apostel erzählt uns, es sei vor Jesum gekommen, daß sie jenen Blindgebohrnen ausgestoßen hätten. Das war ihm doch um seinetwillen widerfahren und um des Bekenntnisses willen, das er von ihm abgelegt hatte; und deshalb glaubte der Erlöser, eine Verpflich12–15 Vgl. Joh 9,22

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tung gegen ihn zu haben, damit er nicht als ein von der Gesellschaft Ausgestoßener des Segens frommer Gemeinschaft entbehre. Dies ist die Absicht, in welcher Er sich an ihn wandte, und einen Versuch machte ihn in die seinige hinüber zu ziehen. Ja, wenn nun der Apostel erzählt, als Er ihn fand, sprach Er zu ihm: so dürfen wir das nicht so ansehen, als hätte Christus ihn zufällig angetroffen; sondern Er muß gewünscht haben ihn zu treffen, Er muß ihn gesucht haben, weil Er ihn nachher fand. So ging denn ein anderes Wort des Erlösers an diesem in Erfüllung, welches Er nämlich, wie uns der Apostel Matthäus1 erzählt, nach Vollendung der Anweisung, die er seinen Jüngern zur Führung ihres Berufs gab, zu ihnen sagte, Wer einen Propheten aufnimmt, der wird eines Propheten Lohn empfahen; wer einen Jünger aufnimmt, der wird eines Jüngers Lohn empfahen. Dieser nun hatte den Erlöser aufge|nommen in seinem Gemüth als einen Propheten, dafür hatte er ihn erkannt, verkündigte ihn als solchen und hielt auf ihn wie auf einen gottgesendeten Lehrer. Nun empfing er deshalb auch von ihm den Lohn, den ein Prophet geben konnte. Denn wozu anders waren diese von Gott gesandt, wozu erwekkte er solche Männer unter seinem Volke, als um allen denen den Weg zu Gott zu zeigen, die darnach verlangten, als um seine Gebote geltend zu machen, um das Geheimniß der Regierung seines auserwählten Geschlechtes, so weit sie es selbst in den Stunden höherer Erleuchtung sahen, vor dem Volk aufzudekken? Dieses Hingewiesenwerden auf den rechten Weg ist der Lohn eines Propheten, und den empfing dieser. Aber ehe wir dies näher erwägen, lasset uns noch einen Augenblikk bei dem Bewegungsgrund des Erlösers stehen bleiben. So stand es damals. Die einzelnen Lehrer, die in unsern heiligen Büchern mit dem Namen der Schriftgelehrten bezeichnet werden, hatten solche Schulen, wo sich wißbegierige, jüngere und ältere, um sie sammelten, welche sie im Gesez unterwiesen; außerdem gab es allgemeinere Versammlungshäuser, Synagogen genannt, für größere Gesellschaften, in welchen sich diese an den Tagen des Sabbaths, welche ohne dies keine irdische Arbeit gestatteten, zu dem Behuf versammelten, um die Schrift erklären zu hören. Aber die Vorsteher von allen diesen bildeten unter sich wieder gewissermaßen eine geschlossene Gesellschaft, und handelten in Uebereinstimmung mit einander. Und so hatten sich denn diese Leiter der gottesdienstlichen Uebungen beredet, jeden auszuschließen, welcher bekennen würde, Jesus von Nazareth sei der Christus. Der Erlöser aber war nicht in ihrem | Bunde, Er war nicht bei ihren Schulen hergekommen, sondern auch in dieser Hinsicht seines Weges gegangen für sich. Wir können seine Gesellschaft, wie sie damals war, als eine jenen 1

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ähnliche ansehen, zumahl wenn Er in Jerusalem war, ging Er in die Hallen des Tempels und lehrte daselbst, wie jene auch lehrten, und es versammelte sich um ihn, wer wollte. Nur wollte Er von Anfang an, seine Gesellschaft solle eine freie Gesellschaft sein, ein solches Richteramt über den Einzelnen nicht üben, und Keinen ausschließen, der hören wollte, wie Er lehrte. Und so, m. th. Fr., soll die christliche Kirche nach der Absicht des Erlösers auch immer in der Welt stehen als eine solche freie Gesellschaft, die sich nicht anmaßt jemals irgend einen abzuweisen, wo es darauf ankommt Theil zu nehmen an der Lehre und dem Gebet und an der Erklärung des göttlichen Wortes. Derjenige, der die Sünder zu sich rief, der mit den Zöllnern aß, der konnte keine Gesellschaft stiften wollen, welche irgend einen ausschloß; und wenn Er allerdings an einer Stelle seinen Jüngern sagt, Wenn einer im Streit mit seinem Bruder weder diesen hört, noch seine Brüder, noch die Aeltesten der Gemeinde, sondern bleibet bei seinem streitsüchtigen Sinn, so haltet ihn für einen Sünder und Zöllner:1 so hat Er damit nicht gesagt, daß um irgend einer Meinung, eines Irrthums willen einer solle ausgeschlossen werden, sondern Er meint den ungeselligen Sinn, der eigentlich sich selbst ausschließt. Also auch deshalb soll doch Keiner ausgeschlossen werden von der Gemeinschaft der Christen, von der Anhörung des göttlichen | Worts und der christlichen Lehre; denn wie könnte sonst ihm diese ans Herz gelegt werden, wie könnte er überzeugt werden, daß Christus gestern und heute und für immer gekommen ist, um die Sünder selig zu machen? aber eine solche in der Liebe unbegrenzte, nichts von sich stoßende, Alles ans Herz drükkende, Alles an sich ziehende Gesellschaft sollte die seinige sein, und war es von Anfang an; und als einer um seines Bekenntnisses willen von Jenen ausgestoßen wurde, ja da konnte er nicht anders als ihn an sich ziehen, und versuchen, ob Er ihn nicht könne zu einem Gliede seiner Gemeinde machen. Was that Er nun hiezu? Als dieser gewürdigt worden war, ungeachtet er ihn nur erkannte als einen Propheten, das heißt als einen solchen, der zwar in einem göttlichen Auftrag rede und handle, aber doch Viele seines Gleichen gehabt – wenn gleich damals die Stimme der Propheten seit lange verstummt war – also als dieser ungeachtet seiner noch sehr mangelhaften Erkenntniß gewürdigt worden war, für Ihn zu leiden: da konnte der Erlöser nicht anders als sich einzeln an ihn wenden. Und dies m. g. Fr., ist auch immer der Segen des Leidens um Christi willen gewesen. Wenn wir auf frühere Zeiten zurükkgehen, wo das öfter geschah: so müssen wir gestehen, es war oft nicht die reine christliche Wahrheit, nicht immer der ungefärbte Glaube, den 1

Matth. 18, 15–17.

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die bekannten, welche gewürdigt wurden zu leiden; aber immer ist aus diesem Leiden eine innigere Verbindung der Christen, und aus dieser Verbindung eine stärkere Erleuchtung des Geistes hervorgegangen, und es ist kein Leiden vergeblich gewesen in der Kirche, sondern aus allen sind neue Seegnungen hervorgegangen. Dies ist ei|gentlich der Weg des Kreuzes, auf welchem der Erlöser das menschliche Geschlecht geführt hat und immer noch führt, wenn gleich auf andere Weise; immer sind diese Leiden dazu da, damit die Werke Gottes offenbar werden. Aber damit der Erlöser diesen Ausgeschlossenen aufnehmen konnte unter die Seinigen, war das freilich nicht genug, daß er ihn für einen Propheten hielt: denn das konnte ihn nicht auf den Gedanken einer solchen Anschließung bringen, weil Propheten dazu nicht Beruf und Auftrag hatten eine innigere bestimmte Gemeinschaft unter den Menschen zu errichten. Darum fragte Er ihn, Glaubest du an den Sohn Gottes? denn der sollte eine solche, ein Reich Gottes, unter den Menschen gründen. Und das war die Frucht seines Glaubens, daß Jesus ein Prophet sei, daß er nun gleich bei sich selbst beschloß, wenn der mir einen als den Messias bezeichnet, so will ich ihm glauben; denn da Er ein Prophet ist, so muß Er auch in diesem Stükk die Wahrheit kennen; wogegen wenn auch der Prophet den Messias nicht kannte, so konnte um so mehr er sich dabei beruhigen, daß er auch für ihn nicht zu erkennen sei. Darum antwortete er auf jene Frage, Zeige mir nur, welcher es ist, so will ich an ihn glauben; wenn du mir sagst, wer der Messias ist, so will ich ihn auch dafür halten. So wie die ersten Jünger ähnliches von Johannes hörten, und als der sagte: dieser ist das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt, auch zu ihm gingen und die Erfahrung davon an ihrem eigenen Herzen machten. Dieser nun hatte schon eine Erfahrung von dem Erlöser, und zwar nicht erst in dem Augenblikk gewonnen, als Er ihm das Licht der Augen wiedergab; sondern er mußte schon | eine Erfahrung von ihm als Lehrer gehabt, mußte schon mit eingestimmt haben in das Urtheil, welches immer schon das Volk von ihm fällte, Jesus rede viel anders und gewaltiger als Andere. Daß Jesus nun ein Prophet war, darin war er bestätigt durch die That, die Er an ihm selbst gethan; und darum sagt er nun, Wenn du mir sagst, welcher der Messias ist, so glaube ich an ihn. Und das, m. g. Fr., wird auch immer das eigentliche wahre Kennzeichen der Gemeinschaft der Christen bleiben. Auf gar vielfache Weise wird von ihnen die ausgezeichnete Wirksamkeit des Erlösers 25–29 Vgl. Joh 1,35–37 Lk 4,32.36

27 Vgl. Joh 1,29

33–34 Vgl. vermutlich Mt 7,28f;

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erklärt, und wir wollen uns darüber nicht wundern und noch weniger es tadeln, sondern uns freuen, wenn es jeder möglichst genau damit nimmt nach dem Maaß seiner Einsicht. Keiner will dem, der das Licht der Welt gewesen, zu wenig zuschreiben, Keiner aber will auch etwas aufnehmen, was ihm die Einheit des göttlichen Wesens aus den Augen rükken könnte; und daß es darüber viele Verschiedenheit giebt der Ausdrükke und der Meinungen, darüber wollen wir uns freuen, denn in dem allen regt sich das Leben des Geistes. Wenn nur das feststehet, – und anders kann die christliche Gemeinschaft nicht bestehen mit Fug und Recht, – wenn nur das feststehet, daß Er allein und kein Anderer mit Ihm, neben Ihm, nach Ihm das Licht der Welt ist; wenn nur das feststehet, daß wir in Ihm allein und in keinem Andern mit Ihm, neben Ihm, nach Ihm den Vater schauen, daß wir durch Ihn allein und durch keinen Andern mit Ihm, neben Ihm, nach Ihm, den freudigen Zugang haben zum Vater: das ist der unbewegliche Grund der christlichen Gemeinschaft, und Keiner kann einen andern legen, auf diesem wird sie | sich fortbauen und nichts wird sie überwältigen können, wie viel Verschiedenheit der Meinungen sich auch innerhalb derselben finde. Aber diejenigen, welche auf solche Weise anders vom Erlöser halten, daß sie Ihn Andern gleichsezen oder ungewiß sind, ob nicht noch Andere kommen könnten, die über Ihn emporragen: ja die halten sich nur mit halben Herzen und nur gleichsam vorläufig zu der Gemeinschaft der Christen. Denn wenn Er Mehrere seines Gleichen haben kann: warum sollte es nicht auch mehrere solche wirklich geben? warum soll Er als der einzige Name aufgeführt werden, in welchem Gott den Menschen Heil giebt? Der Ausdrukk, dessen sich der Erlöser hier bedient, wenn er fragt, Glaubest du an den Sohn Gottes, und hernach sagt, Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist es, ich brauche ihn dir nicht erst zu zeigen – dieser Ausdrukk war auch ein vieldeutiger, und der Eine dachte mehr, der Andere weniger darunter. Doch fragte Christus nicht darnach, was der Blindgebohrne selbst dabei dachte, sondern als er sagte, Herr, ich glaube! und vor Jesu niederfiel, welches das höchste Zeichen der Verehrung war, das er ihm geben konnte, da war des Herrn Werk an ihm vollendet und Er nahm ihn unter seine Jünger auf, so daß das Wort an ihm in Erfüllung ging, Wer um meinetwillen verlassen muß, sei es nun Vater und Mutter, oder wie dieser eben vermöge seines freien Bekenntnisses aus der Gemeinde verstoßen wurde, der findet Alles tausendfältig wieder im Reiche Gottes. Und dieser Segen des Bekenntnisses wird auf uns Allen ruhen, und immer mehr werden wir erkennen, wie im Reiche Gottes alle Bande der Gemeinschaft tausendfältig fester sind und | 36–39 Vgl. Mt 19,29; Mk 10,29f; Lk 18,29f

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schöner und edler, und nirgend anderswo der Mensch die volle Ruhe für seine Sehnsucht nach Gott, den vollen Frieden für seine Seele findet, als bei dem, durch den uns Gott gesammelt hat zu seinem Volk, und bei dem uns Gott erhalten wolle durch den lebendigen Glauben bis ans Ende der Tage. Amen. Lied 31, 4–5.

6 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 31: „Herr, es ist der Tag erschienen“ (Melodie von „Ach, was soll ich Sünder machen“); Strophen 4–5 lauten: „Gieb, daß mich dein Wort durchdringe, steh mit deinem Geist mir bei, daß es in mir kräftig sey. Wenn ich bete, wenn ich singe, siehe du mich gnädig an, und laß mich dein Heil empfahn. // Laß mich nicht in Sünde fallen, laß mich fest im Glauben stehn, voll Vertrauen auf dich sehn. Lieber Vater, hilf uns Allen, daß der Ruhe Heilger Tag uns ein Segen werden mag.“

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Septuagesimae, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 12,11–12 Drucktext Schleiermachers; Predigt am Sonntage Septuagesimä 1832, Berlin 1833 SW II/4, 1835, S. 209–222; 21844, S. 284–297. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 170–181 Keine Predigt im Dankgottesdienst für die Befreiung von der Choleraepidemie

Predigt am Sonntage Septuagesimä 1832 als am Dankfest nach der Befreiung von der Cholera in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen von Dr. Fr. Schleiermacher. Berlin, 1833. Gedruckt bei G. Reimer. | Text. Hebr. XII., 11 und 12. Alle Züchtigung, wenn sie da ist dünkt sie uns nicht Freude sondern Traurigkeit zu sein: aber darnach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen die dadurch geübt sind. Darum richtet wieder auf die lässigen Hände und die müden Kniee. M a. Fr. Die Schrekkensgestalt der verheerenden Krankheit, welche so lange in dieser großen Stadt umhergetobt, hat uns nun verlassen, und wir sehen ihr nach, nicht mit einer vollen Zuversicht als ob sie nicht wiederkehren könne, denn es wäre nicht das erste Beispiel daß sie an einem so eng mit Menschen angefüllten Ort zum zweiten Mal erschiene, um ihre Verheerungen zu wiederholen; aber wohl mit Recht benuzen wir die wahrscheinliche Ruhe, welche uns durch die gütige Fügung Gottes geworden ist, um ihm unsern Dank darzubringen – dafür daß die Züchtigung vorübergegangen ist? Aber nein! das würde die Worte des heiligen Schriftstellers, die wir eben vernommen haben, nicht erschöpfen. Wenn auch diese Krankheit eine solche | Züchti2 Vgl. oben Einleitung I. 4.

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gung gewesen ist, aus der eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit hervorgeht, sofern wir sie uns nur haben zur Uebung gereichen lassen: so gebührt uns ja wol nicht nur dafür zu danken, daß sie vorübergegangen, sondern auch dafür daß sie da gewesen ist. So redet der Verfasser auch vorher von den göttlichen Züchtigungen, indem er sagt1 wenn wir ganz ohne dieselben blieben, da doch alle Kinder Gottes derselben theilhaft geworden wären, so dürften wir uns selbst nicht für Söhne achten, sondern für unächte. Darum gebührt uns wol bei einer Gelegenheit wie diese, die göttlichen Fügungen, auf die es hiebei ankommt, in ihrem ganzen Zusammenhang zu betrachten. Doch will ich dies freilich nicht so verstanden wissen, m. a. Z., als müßten wir einsehn und begreifen können, warum grade diese oder irgend eine andere einzelne Züchtigung derselben oder einer anderen Art nothwendig gewesen sei: aber daß wir nicht ohne Züchtigung bleiben dürfen, und – da freilich schon wenig Selbsterkenntniß hinreicht um uns hiervon im allgemeinen zu überzeugen – daß auch eben deshalb der mannigfaltige Wechsel von Gestalten der Züchtigung, welche izt in diesem dann in jenem Stükk christlicher Gottseligkeit uns zu üben bestimmt sind, von dem Vater der Geister aus seiner väterlichen Liebe für uns alle so geordnet ist, wie wir es im Verlauf unseres Lebens erfahren, das ist die Ueberzeugung, welche unsere Gemüther zum Dank gegen Gott stimmen soll, sobald die Züchtigung so weit vorüber ist, daß wir freier aufathmen und uns zu ruhigen Betrachtungen erheben können. | So angesehen, m. th. Fr., sind die Worte unseres Textes gleichsam eine Erklärung und Anwendung jener Worte des Apostel Paulus, die wir so oft in unser gemeinschaftliches Gebet verflechten, auf die auch nicht selten in unsern Betrachtungen hingewiesen wird, daß denen die Gott lieben, und das sind doch nur die, welche alles was von ihm kommt als zu ihrer Uebung und Erziehung von ihm gesendet nicht nur ansehn sondern auch benuzen, daß diesen alles mitwirken muß zum Guten2. Und eben so verwandt ist unser Text jenen andern Worten desselben Apostels, in denen er die Christen auffordert, in allen Dingen, mögen sie nun, wenn sie da sind, Freude zu sein scheinen oder Traurigkeit, Danksagung vor Gott zu bringen3; und zwar Danksagung mit Gebet und Flehen, von dem Bewußtsein ausgehend, daß wir immer noch so wie neuer Gnadenbezeugungen so auch neuer 1 2 3

V. 8. Röm. 8, 28. Phil. 4, 6.

19 Vgl. Hebr 12,9

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Züchtigungen als Erziehungsmittel bedürfen werden. Damit wir also auch unsere heutige Danksagung m. a. Z. so vor Gott bringen, wie es seinen Kindern geziemt: so laßt uns sehen, was die Worte unsres Textes uns darstellen als das Gute, welches aus dieser Züchtigung uns hervorgeht. Dessen erwähnt er aber zweierlei; zuerst wird gesagt, es erwachse daraus hernach eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit, und dann werden wir auch zweitens ermuntert, und wer wollte das nicht ebenfalls für ein großes Gut achten? nach überstandener Züchtigung wieder aufzurichten die lassen Hände und die müden Knie, das heißt uns wieder zu erheben zu ungeschwächtem Muth und freudiger Thätigkeit. | I. Was nun das erste betrifft, m. a. Z., wenn der Verfasser unseres Briefes sagt, die Züchtigung, wenn sie da ist, dünke sie uns nicht Freude zu sein, sondern Traurigkeit, hernach aber bringe sie hervor eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit: so laßt uns doch zuerst einen Augenblikk dabei verweilen, wie natürlich auch er es findet und es keinesweges verwirft, daß die Züchtigung uns dünkt Traurigkeit zu sein. Wenn bisweilen starke Geister die Forderung aufstellen, der Mensch solle unerschütterlich sein, auch das schwerste solle ihn nicht beugen, auch das herbste und bitterste solle keine Spur in seinen Gesichtszügen zurükklassen: die Schrift verlangt das nicht von uns! Unterbricht irgend ein schweres ungewohntes Uebel den ruhigen Lauf des menschlichen Lebens; machen wir unerwartete, verlustreiche Erfahrungen davon, wie ohnmächtig alle Kunst und Wissenschaft sich noch immer zeigt gegenüber den unerforschten Kräften der Natur; will es uns gemahnen, als ob der edlen Herrschaft über die Erde, zu der uns Gott berufen hat, gleichsam alle Sehnen durchschnitten wären, und als werde sich der Geist von einer großen Niederlage die er im Kampf mit der Natur erlitten hat nur langsam erholen können: die Schrift begehrt nicht, daß uns das solle Freude dünken; sondern, wie das in der menschlichen Natur liegt, es darf uns Traurigkeit sein. Nur dürfen wir die Worte unseres Textes auch nicht so beschränkt verstehen, als ob die friedsame Frucht der Gerechtigkeit nicht eher zum Vorschein kommen könne, bis die Traurigkeit ganz vorüber sei. Das könnte nur gelten von schnell vor|übergehenden Leiden, wie sie freilich oft den Einzelnen treffen, nicht von solchen die längere Zeit hindurch, sei es auch von einem zum andern wandernd auf derselben 32 Natur liegt] Naturliegt 27–28 Vgl. Gen 1,26.28

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Gesellschaft von Menschen lasten, und die Traurigkeit sich also täglich erneuert. So ist es uns ergangen in diesen Monaten! Wenn wir in den öffentlichen Blättern die tägliche Zahl der Erkrankten, der Gestorbenen lasen, und von ganz geringem anfangend nur sehr allmählig sich mehrend die Liste der Genesenen, das große Mißverhältniß erregte uns Traurigkeit; hatte uns schon ein Schimmer von Hofnung gedämmert, die Gewalt der Krankheit werde sich brechen, und sie griff dann aufs neue mit verstärkter Wuth um sich, das beugte uns in tiefer Traurigkeit: aber die friedsame Frucht der Gerechtigkeit keimte schon zwischen dieser wechselnden Traurigkeit auf und nährte sich an ihr. Ich rede nicht besonders von denjenigen Gliedern der christlichen Gemeinen dieser Stadt, welche die traurige Bekanntschaft dieser gräßlichen Krankheit in der Nähe gemacht, denen einzelne Glieder ihres häuslichen Kreises – und wie oft häuften sich nicht auch die Leichen in demselben Hause – durch den Tod sind entrissen worden. Schon am Ende des Jahres, als wir unsern gewohnten Gedenktag feierten, schwebte dieses Bild in ängstlicher Klarheit vor unsern Augen, war dieses der Schmerz den wir am innigsten theilten mit den Betroffenen, und des tiefsten Mitgefühles voll schweifte unser Blikk umher in dem Kreise dieser Verherungen. Jezt laßt uns vielmehr, so viel wir können, den ganzen kaum zu übersehenden Umfang unseres gemeinsamen Lebens ins Auge fassen, wie es sich je länger je mehr gestaltet hat; dann werden wir inne werden, welches dann vor|züglich die friedsame Frucht der Gerechtigkeit ist, die aus solcher Traurigkeit hervorgeht, ja die sich bei einem länger dauernden öffentlichen und allgemeinen Leiden immer schon während desselben zeigen, und in demselben Maaß wachsen und reifen muß, als wir genöthigt sind mit dem zu ringen was uns drükkt. Es giebt keine große göttliche Züchtigung, m. a. Z., sei es eine verherende Krankheit, sei es ein verwüstender Krieg, sei es daß die Natur sich einmal ungewöhnlich karg beweist und nicht Früchte genug hervorbringen will zur Erhaltung großer in engen Raum zusammengedrängter Menschenmassen, oder was es sonst sei, alle ähnliche Uebel, welche wirklich drükkend werden, erscheinen uns in einem natürlichen und genauen Zusammenhang mit der Gestaltung der menschlichen Gesellschaft. Theils würden sie sich milder ausbilden, theils würden sie leichter ertragen werden, wenn sich nicht aus dem 16 Durch Kabinettsordre vom 24. April und 17. November 1816 hatte König Friedrich Wilhelm III., veranlasst durch die zahlreichen Toten der Befreiungskriege, in Preußen ein „Allgemeines Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen am letzten Sonntag des Kirchenjahrs“ eingeführt. Im Jahr 1831 war dieser sog. Totensonntag am 20. November, dem 25. Sonntag nach Trinitatis, begangen worden; Schleiermacher hielt den Frühgottesdienst.

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gegenwärtigen so verwikkelten Gang unsers Lebens immer wieder ja sogar immer stärker eine so große Ungleichheit der äußeren Verhältnisse erzeugte. Das ist es, wovon wir unter solchen Umständen besonders tief ergriffen werden, der große Unterschied zwischen denen, welche nicht nur alles, was überhaupt von dem Menschen abhängt und in seinen Kräften steht, für sich selbst zur Abhülfe bereit haben, sondern auch vielen Anderen sich hülfreich erzeigen können, wenn sie kaum hie und da etwas von dem Ueberfluß ausstreichen und sich um ein weniges zusammenziehen wollen, und denen welche, weil sie auch in dem gewöhnlichen Laufe des Lebens alle ihre Kräfte anstrengen müssen, um nur die ersten und dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen, solchen Zeiten ungewöhnlicher Noth und Leiden nicht kön|nen gewachsen sein. Dieses Unterschiedes werden wir in solchen Zeiten auf besonders schmerzliche Weise inne; denn wir bedauern mit Recht unsere Brüder weniger deshalb, weil sie in gewöhnlichen Zeiten sich nicht desselben edeln und verfeinerten Lebensgenusses wie wir erfreuen können, als deshalb, daß sie in ungewöhnlichen sich des Drukkes der Noth nicht zu erwehren vermögen. Und je mehr wir an den Vortheilen unseres gesellschaftlichen Zustandes Antheil haben, je mehr wir uns bewußt werden, wie auch die geistigen Hülfsmittel die uns zu Gebote stehen mit diesen äußeren Vorzügen zusammenhängen: um desto ängstlicher fühlen wir uns durch diese Ungleichheit gedrükkt. Aber daraus entsteht uns dann auch um so gewisser die Frucht des Leidens und der Züchtigung, welche ist die Gerechtigkeit. Diese Tugend nämlich, m. gel. Fr., hat überall nur Raum in dem gesellschaftlichen Zustand der Menschen; wäre dieser nicht vorhanden, so gäbe es auch keine Gerechtigkeit. Wenn jeder von uns nur von seinem eignen Thun und Lassen abhinge, auch nur für sich und den engsten Kreis der seinigen zu sorgen hätte: so würden wir von einer solchen Tugend, von den mannigfaltigen Pflichterfüllungen die daraus hervorgehen, so gut als gar nichts wissen. Was ist also Gerechtigkeit? Nichts anders wol, m. Th., als das richtige leitende Bewußtsein von dem Verhältniß des Einzelnen zu der menschlichen Gesellschaft der er angehört, das Bestreben diesem Zusammenhang in allen Stükken zu genügen, und durch eine aus seinem freien Willen hervorgehende dem was die Verhältnisse fodern angemessene Verwendung aller Güter, die er diesem Zustand vereinigter menschlicher Kräfte verdankt, den Strom | des Wohlseins dahin zu leiten, wo am wenigsten von selbst gedeiht, und wo sich am deutlichsten die Unzulänglichkeit der Einzelnen offenbart, mit seiner Wirksamkeit zuzutreten, damit die dennoch übrig bleibende Ungleichheit das Auge des Wohlwollens eher erfreue als verleze, und alles an seinem Ort des Ganzen würdig erscheine und den Geist desselben ausspreche. Die Zeiten der Ruhe, mögen wir sie

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nun mehr aus dem Gesichtspunkt der Thätigkeit oder aus dem des Genusses betrachten, bringen eher mancherlei Versuchungen zur Ungerechtigkeit mit sich, und sind, das lehrt die Erfahrung, nicht vorzüglich dazu geeignet, eine richtige Schäzung unserer Verhältnisse gegen Andere und unserer Pflichten gegen das Ganze zu begünstigen. So lange Alle um uns her sich wenigstens in einem leidlichen Zustand befinden, glaubt jeder mehr begünstigte nur zu leicht, daß ihm alles, was er besizt und genießt, auch mit ganzem vollen Recht gebühre, und daß er damit ohne im geringsten Andern verhaftet zu sein ganz nach seinem Gutdünken zur Erfüllung seiner eigenen Wünsche schalten könne. Das ist der Anfang der Ungerechtigkeit; und wie leicht kann sie, wenn nichts dazwischen tritt, von diesem Anfang an zu einer drohenden gefährlichen Höhe emporwachsen. Darum führt der Höchste von Zeit zu Zeit durch unbekannte und unbeherrschte Kräfte der Natur oder vermöge der Keime der Zwietracht, die immer in der menschlichen Gesellschaft vorhanden sind oder aus einem allgemeinen Aufglimmen der Leidenschaften scharfe in weitem Umfang fühlbare Züchtigungen herbei; und wohl kann man dann mit Recht sagen, wen er lieb hat den züchtiget er. Dann verflüchtigen sich jene Güter oft plözlich in Dunst und Rauch; dann stürzt | im Augenblikk das festeste Gebäude zusammen; und so erfährt dann Jeder, was er besize und genieße sei nicht sein eignes Werk, sondern auf alle Weise abhängig von vielem was nicht in seiner Gewalt steht vor allen Dingen aber von der Gewährleistung und dem Schuz des Gemeingeistes und des Wohlwollens. Und daraus lernt dann jeder auch sich mehr ansehn als Verweser eines Gemeingutes, und giebt, so überzeugt, die falsche Ansicht auf, als sei er ein sich selbst genügender Eigenthümer und ein so vollkommen berechtigter Besizer, daß er Ersaz zu fordern habe, wie ihm auch immer ein Schade geschehen sei. Und ähnliches gilt selbst von dem herbesten Verlust, den solche Zeiten der Züchtigung dem Einzelnen bringen können. Denn wenn die Liebe einen theuern Gegenstand verloren hat, so liegt auch in dem Schmerz den wir empfinden das Bewußtsein einer Kraft, die nicht gebrochen ist aber ruht; und schon zwischen dem Schmerz hindurch regt sich das Verlangen und mahnt uns, diese Kraft sei ein anvertrautes Pfund, ein gemeines Gut; und wir erkennen es mit Dank, wenn dieselbe Züchtigung uns nicht eben einen Ersaz bietet für das verlorene, aber doch eine Befriedigung dem Triebe, wirksam zu sein durch die Liebe. Wenn nun so jeder nicht nur sich in seinem äußeren Besiz als einen Verwalter gemeinsamen 16 sind] SW II/4, S. 214: sind, 19 Vgl. Hebr 12,6 (darin Spr 3,12); ferner Offb 3,19

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Gutes betrachtet, sondern auch in dem Bewußtsein lebt, wie er sich selbst dem Ganzen schuldig ist: das wird ein neuer Anfang, ein frischer Keim der Gerechtigkeit unter einem Volk. Und diese Frucht, m. Gel., nennt unser Text eine friedsame. Dieser Ausdrukk des heiligen Schriftstellers steht im genauesten Zusammenhang mit dem unmittelbar vorherge|henden, daß jede Züchtigung in dem Augenblikk, wenn sie uns ergreift, uns nicht Freude dünkt sondern Traurigkeit. Freude und Traurigkeit, der Wechsel dieser entgegengesezten Zustände, hängt mit unserer sinnlichen Natur auf das genaueste zusammen. Wo die Freude sich so stark und lebhaft äußert, daß sie ein gewisses Maaß, das uns vorschwebt fast überschreitet, und eben so, wo wir den Menschen einhergehen sehn gedrückt und niedergebeugt vor Traurigkeit, da ahndet uns, daß es für den Augenblikk wenigstens übel ja fast gefährlich stehe um die Gewalt des Geistes über das Fleisch; da sehen wir wie leicht die Seele hinausgerükkt werden kann aus dem rechten Gleichgewicht, welches ihr doch nothwendig ist, wenn der Geist die Zügel festhalten soll, und seine waltende Stellung behaupten gegen das Fleisch. Aber alle Wechsel des Lebens, mögen sie uns nun aus der Freude in das Leid stürzen oder umgekehrt, sollen uns eben durch die Uebung, durch das vorsichtige Bestehen der Gefahr, immer mehr über dieses Schwanken erheben, so daß wir uns vor dem Uebermaaß bewahren, und der Gleichmuth in unserm ganzen Leben herrschend werde. Aber wir bestehen sie nur, wenn das Bewußtsein des geistigen Wohlergehens, welches nicht von den Veränderungen des sinnlichen Lebens abhängt, unser eigentliches Selbstgefühl, der wahre Gehalt und die Kraft unseres Lebens geworden ist. Dann werden diese wechselnden Bewegungen des Gemüths immer mehr zurükktreten, und das sich gleichbleibende höhere Leben wird vorwalten; das Oel des Friedens wird die unruhige Oberfläche immer mehr glätten und ebnen, und das Beruhen in dem göttlichen Willen wird uns unter allen Stürmen so sicher stellen wie | in dem verschlossensten Hafen. Aber vorzüglich ist es dieselbe Gerechtigkeit, zu welcher die göttlichen Züchtigungen uns auffordern, die auch diesen Frieden in uns hervorruft und befestigt. Denn wie können wir von Gewinn und Verlust äußerer Güter noch heftig bewegt werden, wenn 30 Beruhen] Berufen 29 Vgl. vermutlich Hebr 1,9 (darin Bezug auf Ps 45,8); auch Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 315: „Uns bindet, Herr, dein Wort zusammen“ (Melodie von „Mein Jesu, dem die Seraphinen“), Strophe 4: „Ja, uns liebt Gott als seine Kinder, schenkt uns den Geist, der Vater! schreit, des Sohnes Treue schmückt uns Sünder mit ewiger Gerechtigkeit. Und tritt der Geist mit seinem Oele des Friedens und der Freud hinzu: o, dann erquickt uns Trost und Ruh und neue Kraft stärkt Leib und Seele.“

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wir uns nur als Verwalter derselben ansehn, die ja für das was ihnen genommen ist, auch weiter keine Rechenschaft abzulegen haben? Und wenn wir in Leid und Freude gleich sehr das Bedürfniß fühlen, Glauben zu halten und Liebe zu üben an denen, unter die uns Gott gesezt hat: wie sollte dann nicht auch schon während der väterlichen Züchtigung Gottes sein Friede vorwalten in einer so geübten Seele! Das, m. a. Z., ist ja die segensreiche Erfahrung, die wir schon gemacht haben in der jezt vorübergegangenen Zeit, als jene herbe Züchtigung wahrlich schwer und drükkend genug auf uns lag. Ja, was ich eben ausgesprochen, das war die Ansicht und Gemüthsstimmung, welche im ganzen angesehn überall herrschte! und wie haben wir uns gefreut, diesen Samen der Gerechtigkeit überall nicht nur keimen zu sehen, sondern so gedeihen, daß wir bis auf wenige leicht zu vergessende Augenblikke einer vorübergehenden Aufwallung, welche sich vielleicht hie und da zeigte, überall in unserm Lande bewahrt geblieben sind vor allerlei Frevelthaten, wie sie häufig genug aus großen allgemeinen Leiden hervorzugehen pflegen. Und das sind gewiß Viele zu ihrem Segen inne geworden, es sei nur der, wenngleich im gewöhnlichen Leben sich oft verbergende, überhaupt nicht überall äußerlich hervortretende aber doch durch Gottes Gnade unserm Volk tief eingeprägte, | und in dessen Sinn und Geist wohl unterhaltene und gepflegte Sinn der Frömmigkeit und der Ergebung in den göttlichen Willen, der uns in dieser schweren sorgenvollen Zeit von allem frei gehalten hat, was uns hindern würde, izt im reinen Gefühl der Dankbarkeit auf die Züchtigung zurükkzusehen, die Gott von uns genommen hat. Ach! wenn sich zu allem Elend, das wir gesehen und mitgetragen haben, auch das Verbrechen gesellt hätte! wenn Ungehorsam gegen die Geseze, sei es nun gegen die welche immer unser Leben beherrschen, oder gegen die Anordnungen, die in dieser schweren Zeit für nöthig erachtet wurden, um die verderbliche Verbreitung der Krankheit zu beschränken, wenn dieser Ungehorsam in gewaltthätige Handlungen ausgebrochen wäre, so daß innerer Friede und Sicherheit wäre gestört worden: wie gewaltig würde der Vorwurf, der auf unserm gemeinen Wesen dann lastete, uns niederdrükken, daß wir nicht vermöchten Gebet und Flehen wohlgefällig vor Gott zu bringen! und wie wenig würden wir mithin auch im Stande sein, die lassen Hände und die müden Knie wieder aufzurichten! Also wohl uns, und laßt uns Gott dafür besonders danken, daß mitten unter der Trauer und den Leiden dieser schweren Zeit die friedsame Frucht der Gerechtig29 Anordnungen] Anordungen 34–35 Vgl. Phil 4,6

33 worden] werden

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keit unter uns gewachsen ist, daß der Sinn für christliche Milde und Wohlthätigkeit sich so regsam bewiesen hat, daß selbst die, welche bei unserm verwikkelten gesellschaftlichen Zustande am meisten zu kurz kommen, doch mit Freude und Dank eingestehen mußten, ihre Mitbürger seien nicht unwürdige Verwalter der zeitlichen Güter, und seien ihnen getreu zu Hülfe gekommen in der Zeit der Noth. So hat sich denn auch durch diese Prüfung jedes schöne | Band der Eintracht und des Vertrauens fester geknüpft. Laßt uns nur nicht von irgend etwas, was der Augenblikk bringt, zu stark bewegt, der Züchtigung die Gott über uns gebracht und nun uns wieder abgenommen hat, leichtsinnig vergessen: so dürfen wir hoffen, daß der Baum der Gerechtigkeit von einer Zeit zur andern noch reichere und schönere Früchte tragen wird, daß wir uns immer reichlicher schmükken werden mit allen bürgerlichen und christlichen Tugenden, und daß wir uns durch Gesezlichkeit und Gemeingeist, durch Rechtschaffenheit und reines Wohlwollen würdig zeigen werden der göttlichen Züchtigung. Denn der Vater züchtiget die er lieb hat, und will sie durch seine Züchtigung üben in der Gottseligkeit. II. Nun aber, m. a. Z., laßt uns auch das zweite Wort unseres Textes beherzigen! So richtet nun wieder auf, sagt der h. Schriftsteller, die lässigen Hände und die müden Knie. Das nämlich, Ihr werdet es gestehen müssen, ist die Natur aller solcher Züchtigungen, daß auf mehr als eine Weise die Menschen dadurch gehemmt werden in ihrer gewohnten Thätigkeit. Wir haben uns vieler heilsamen Werke brüderlicher Liebe zu erfreuen, welche diese Zeit unter uns ans Licht gebracht hat: aber laßt uns nur auch nicht vergessen, wie dringend die Aufforderung dazu war; und dann werden wir wol gestehen müssen, wie rühmlich sich auch im allgemeinen das Mitgefühl ausgesprochen hat während dieser Noth, das ist immer noch kein Beweis, daß unsere Hände nicht wären laß geworden und unsere | Knie müde; nur daß man diese Wirkung oft erst später empfindet! Waren wir nicht alle weit über das gewöhnliche hinaus erfüllt mit dem Bewußtsein der Unsicherheit aller menschlichen Dinge? und daß eben dieses nicht anders kann als Lust und Eifer zu allen den ineinandergreifenden Thätigkeiten und gesellschaftlichen Bewegungen, denen doch das gemeinsame Wohlergehn immer wieder gleichsam aufs neue entsprießen muß, auf mancherlei Weise schwächen, 36 gesellschaftlichen] gesellschaflichen 11–12 Vgl. wohl Jes 61,3

17 Vgl. Hebr 12,6 (darin Spr 3,12); ferner Offb 3,19

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das ist die allgemeine Erfahrung, so daß nur zu oft während solcher allgemeinen Plagen und nach denselben gar Viele sich in dem frevelhaftesten und gewagtesten Spiel mit den irdischen Gütern verderben. Aber thun dieses nur die leichtsinnigeren: so bemerken wir verwandte Veränderungen fast bei Allen, und nur Wenige werden sich dadurch auszeichnen, daß sie ganz dieselben bleiben. Und gehen wir auf die Ursache zurükk, welche solche Wirkungen hervorbringt: so ist offenbar, daß dieser Zuruf unseres Textes unmittelbar gegen sie gerichtet ist. Schon als diese Seuche unsren an Kunst und Wissenschaft so reichen Welttheil zu verheeren anfing, wie lebhaft haben wir es empfunden, daß doch alle unsere Kenntniß von den Kräften der Natur, unsere Geschiklichkeit eine der andern gegenüberzustellen, eine durch die andere zu überwinden, sich doch immer wieder unzureichend zeigt, sobald ein unbekanntes Uebel plözlich hereinbricht, so daß diese Schrekkensgestalt unentlarvt und unergriffen einen Welttheil nach dem andern durchzogen hat! Und als sie in unsere Mitte getreten war, wie fühlbar ward es da Allen, auch abgesehen von der Art, wie man bei uns das Uebel abzuschneiden und zurükkzudrängen suchte, daß der gewöhnliche Gang des Lebens und der | Geschäfte auf gewaltsame Weise zerrissen war! Tritt uns das nun überall entgegen, wenn wir das große Feld der mannigfaltigsten Thätigkeit in unserm bürgerlichen Leben mit unsern Blikken durchlaufen: wie natürlich, daß sonach, auch wenn das Uebel vorübergezogen ist, Jeder bei sich selbst sagt, Was wird denn nun die Frucht aller Mühen und Sorgen sein, in welche du dich jezt aufs neue hinein begeben willst? Das ist gewiß, gebrauchst du auf gewohnte Weise deine Kräfte: so wirst du dich auch bald wieder dem Zustande nähern, in welchem du dich in der früheren freien und fröhlichen Zeit wohlbefandest. Deine Werke werden wieder fortgehen durch deine Hand, und der Preis derselben wird dir wieder zukommen wie sonst; Fleiß und Treue, Einsicht und Geschikk werden wieder wenn auch nicht allein doch großentheils das Maaß bestimmen, in welchem du an den Gütern dieses Lebens in deinem Kreise Antheil haben wirst: aber wie nichtig ist doch dieses ganze Treiben! wie fehlt es doch noch immer diesem großen Gebäude menschlichen Wirkens an einem haltbaren Grunde! Ja wenn es keine andere Gefahr gäbe als die in der Menschen Hände zu fallen, keine andern Störungen als die aus dem Zusammenstoß menschlicher Leidenschaften aus den Verwiklungen menschlicher Verhältnisse entstehen! da giebt es noch Wahrscheinlichkeiten zu berechnen; da läßt sich auch aus dem ungünstigen noch günstiges hervorlokken. Aber wenn die Natur uns mit ganz neuen furchtbaren Uebeln aus ihrem Schooße 25 gewiß] geweiß

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überschüttet, daß allen Vorsichtsmaaßregeln und aller Kunst der Aerzte zum Troz das menschliche Leben in großen Massen dahin welkt: was lohnt es denn bei solcher Unsicherheit der menschlichen Dinge über | die wir längst hinweg zu sein glaubten, sich aufs neue in ein Leben zu stürzen, das nichts ist als Mühe und Arbeit? mit welcher Lust kann auch das einfachste eingeleitet werden, wenn so schnell der Tod zwischen Anfang und Ende treten kann! wozu säen, pflanzen und begießen wir, wenn wir so wenig wissen, ach, nicht ob wir selbst aber auch nur einer entfernt von den Unsrigen jenem schnell hinwegraffenden Uebel entgehen wird um zu erndten? warum nicht zurükkehren zu dem möglichst einfachen Leben ohne so viele Zurüstungen, die doch so oft vergeblich sind, ohne soviel Anstrengungen, die doch so leicht auf Spott gezogen werden können? Durch solche Gedanken bekundet sich die Lähmung der Thätigkeit, die wol leider bei Vielen von der göttlichen Züchtigung zurükkbleibt. Sind da nicht alle Sehnen des Muths zerschnitten, wo wir solche Worte vernehmen? sind da nicht gewiß die Hände lässig geworden, und die Knie müde? Aber wo die friedsame Frucht der Gerechtigkeit wahrhaft gereift ist unter der Hize der Züchtigung, da werden auch solche Reden nicht gehöret, sondern frischere Stimmen lassen sich vernehmen. Wir deren Ziel nicht der Genuß ist, und die wir nicht ringen nach dem Besiz um des Genusses willen, warum sollten wir inne halten und zurükgehen? etwa weil wir auf das kräftigste freilich überzeugt worden sind von der Unsicherheit des Genusses und der Trüglichkeit des Besizes? Der Besiz ist nicht der Sporn unseres Eifers, der Genuß nicht der Lohn unserer Arbeit! Unser Lohn ist bei unserm Vater im Himmel, der ins Verborgene sieht, und dieses Verborgene ist der Geist in dem, die Treue mit der wir theilnehmen an dem gesammten | Beruf der Menschen auf der Erde. Sollen wir Herrschaft auf derselben üben und diese immer mehr ausbilden und vervollkommnen: so laßt uns unser bestes thun! Wieviel von unsern Werken bleiben soll, das steht bei dem der es weiß, wie er überall den geistigen Leib Christi auch äußerlich zieren und schmükken will. Was daran zerstört wird, laßt uns emsig von neuem beginnen, damit der Schade bald ersezt werde! Werden wir auch durch die Züchtigung inne, wieviel uns noch fehlt an der Vollkommenheit in diesem irdischen Beruf: laßt uns desto treuer darauf achten, daß alles ersprießliche möglichst Allen zu gute komme, keine heilsame Erfahrung verloren gehe, damit das geistige Auge sich immer mehr schärfe, die Bewegung der Kräfte sich beschleunige, und so der Bau des gemeinen Wohls auf immer festeren Gründen ruhe. Hat der Tod ungewöhnlich viel hinweggerafft von den Kräften, die 5 Vgl. Ps 90,10

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mit uns arbeiten sollten: laßt uns jeden nach Vermögen ihr Werk aufnehmen und ihre Last tragen, und vornehmlich auch laßt uns auf andern Seiten da wo und so wie wir es können die Gewalt des Todes beschränken, durch nüchterne Mäßigkeit, durch gottgefälligen Frohsinn. Und warum sollte die Züchtigung die über uns ergangen ist, uns die Gestaltung des Lebens, die wir ererbt und fortgebildet haben, irgend verleiden? Haben wir doch auch in dieser Leidenszeit und wol mehr als sonst erfahren, welche Seligkeit es ist, auch unter Trauern und Thränen Liebe und Wohlthun zu üben. Und gewährt uns nicht hiezu ein Leben wie das unsrige, mit diesen verwikkelten Verhältnissen, die nur durch Liebe und Treue zu ordnen, mit diesen vielfältigen Schwierigkeiten, die nur durch Liebe | und Treue zu überwinden sind, die meisten Gelegenheiten, und mit dieser Leichtigkeit Kräfte zu löblicher Wirksamkeit zu vereinigen auch die reichlichsten Hülfsmittel dazu? So laßt uns unsern gemeinsamen Beruf ins Auge fassen! so laßt uns auf die Stimme der göttlichen Züchtigung hören: dann werden wir, ehe sie noch verklingt, auch schon anfangen die lässigen Hände zu erheben und die müden Knie aufzurichten, um, wie es im Verfolg unsres Textes heißt, sichere und kräftige Schritte zu thun ohne Straucheln. Dazu denn, m. gel. Fr., möge uns, möge Allen, die der Herr heimgesucht hat, diese Zeit gereichen! Und daraus wird dann auch denen – damit auch diese schmerzliche Seite nicht unberührt bleibe in unserer festlichen Betrachtung – deren Angehörige als Opfer dieser verheerenden Krankheit gefallen sind, ein besonderer Trost erblühen. Sterben doch die Menschenkinder immer und werden aus der Mitte der ihrigen herausgerissen! ja das gewöhnliche Maaß des Todes wird, schon wenn wir auf einen Umfang wie der unseres Landes ist sehen, durch diese Seuche nur um ein geringes erhöht worden sein. Sterben sie doch immer aus allen Lebensaltern bald schnell bald langsam, nach mehr oder weniger Leiden; und das eine oder andere macht, wenn die ersten Bilder etwas verbleicht sind, für die Zurükkbleibenden in Bezug auf das wesentliche ihres Verlustes nur einen geringen Unterschied. Laßt uns also diesen als minder bedeutend bei Seite stellen, und dafür einen andern ans Licht ziehen. Jeder Todesfall soll auf einen Theil unserer Gemeinen wenigstens immer auch einen lehrreichen und erhebenden Eindrukk machen, und uns von der äußeren Erscheinung auf das in|nere Geheimniß und die tiefere Bedeutung des Lebens zurükführen; und dies ist gleichsam der lezte Dienst, den jeder der Gemeinschaft leistet, in der er selbst des göttlichen Wortes theilhaftig geworden ist. Aber das einzelne Sterben der Menschen auf die gewöhnliche Weise bringt diese 18–20 Vgl. Hebr 12,13

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wohlthätige Wirkung in einem weit geringeren Grade hervor, und verbreitet sie immer nur in einem kleineren Kreise, der größtentheils schon seit längerer oder kürzerer Zeit vorbereitet den Eindrukk nur allmählig in sich aufnimmt. Und wenn nun Angehörige und Freunde die entseelte Hülle eines geliebten Todten zur Ruhe begleiten: kommen sie wol leicht dazu, im Gefühl ihres Verlustes sich über das einzelne zu erheben? denkt man wol leicht daran, wieviel solche Trauerzüge täglich unsere Stadt durchwandeln? denkt man dabei an die im großen betrachtet so feste und geregelte Ordnung des Abgelöstwerdens aus dem Leben wie des Eintritts in dasselbe? Aber diese große Erndte des Todes, wie allgemein hat sie das Bewußtsein von der Unsicherheit dieser irdischen Wanderschaft gewekkt und erhöht! wie hat sie durch die ungewohnte Gestalt der Krankheit, die schon immer selbst als ein Tod erschien, durch die unbegreifliche Schnelligkeit, mit der das Leben sich löste, Allen das geheimnißvolle dieses Ueberganges nahe gerükkt! wie dringend Allen ans Herz gelegt, daß wir anders nicht würdig und heiter in dieser Nähe des Todes wandeln können, als wenn das Gemüth zu jeder Zeit in wohlgefälliger Ordnung gehalten und der Friede Gottes ungestört bewahrt wird, so daß wir uns der Bereitschaft bewußt sind, zu jeder Zeit und wie der Herr es beschlossen haben mag, in Frieden dahin zu fahren als seine Diener. Und so haben die Opfer dieser | Krankheit, auch die welche fern von den Ihrigen der öffentlichen Pflege anvertraut den lezten Athem ausgehaucht haben und auch abgesondert von ihren Vorangegangenen nur unter denen, die dasselbe Loos getheilt, ruhen, diesen lezten und wichtigen Dienst auf eine ausgezeichnete Weise geleistet. Wenn nun aber freilich auch diese Zunahme an Weisheit, so wie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit und die Wiedererwekkung der Kraft und des Muthes nur denen zu Theil wird, welche, wie unser Text sagt, durch die Züchtigung des Herrn sich haben üben lassen: so haben wir ja wol Alle an dieser Uebung Theil genommen. Denn nur diejenigen haben sich selbst davon ausgeschlossen, die entweder im Wirbel leerer Zerstreuungen das Bewußtsein dessen, was um sie her vorging, zu ertödten suchten, oder die sich, nicht ohne sich zugleich ihrem natürlichen Beruf zu entziehen, durch Entfernung dem Anblikk der gemeinsamen Noth entzogen haben. Jeder der seiner gewohnten Lebensordnung treu auf dem Wege seines Berufes fortgegangen, im Bewußtsein der Allen gleich nahen Gefahr thätig geblieben ist und der gemeinen Sache nach Kräften gedient hat, ist auch so geübt worden, wie eine solche Zeit es voraus hat vor jeder andern. Nun laßt uns diese Uebung nicht etwa nur auf die jezt glükklich vorübergeführte 40 Nun] vielleicht mit SW II/4, S. 221 zu korrigieren in Nur

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Züchtigung beschränken und sie daher mit der heutigen Feier beschließen. Nein, so wenig Einer unter uns diese Zeit wird vergessen, eben so unauslöschlich möge auch uns Allen die Erinnerung sein, daß wir in solcher unmittelbarer Nähe des Todes nur unverzagt und sicher blieben, weil das Bewußtsein in uns die Oberhand hatte, daß wir Bürger einer höheren Welt sind, | welche an der Unsicherheit und Vergänglichkeit keinen Theil hat, und weil das ewige Leben, welches wir dem verdanken, der mit demselben die wahre Unsterblichkeit ans Licht gebracht hat, auch in allen widrigen Zufällen weit überwindet, und die Freudigkeit des Herzens zu Gott auch unter seinen Züchtigungen nicht untergehen läßt. Dünkten uns diese ihrer Zeit freilich auch Traurigkeit zu sein: so war es doch nicht die Traurigkeit dieser Welt, sondern jener göttlichen verwandt, welche nicht nur zur Seligkeit führt, sondern auch die Seligkeit in sich schließt. In solchem Sinn laßt uns das Gedächtniß dieser Zeit festhalten, auf daß es uns zum bleibenden Segen gereiche als ein heilsames Zeichen aus unserm eignen Leben heraus, daß wenn wir auch hier unter der Vergänglichkeit und im Angesichte des Todes wandeln, doch auch hier schon unser Wandel im Himmel ist. Amen. Ja, gnädiger Vater im Himmel! wir wissen es, Du züchtigest die Du lieb hast! Auch wir haben in Deiner Züchtigung Deine väterliche Liebe erkannt, nach welcher du uns reifer machen wolltest in christlicher Gottseligkeit, uns inniger unter einander verbinden und uns ein neues theures Unterpfand davon geben, daß denen, die Dich lieben, auch das drükkendste und schmerzlichste zum Guten mitwirken muß. So werde nun auch Deine Führung von uns verherrlicht dadurch, daß Deine Züchtigung an Keinem verloren gehe, und wir immer der friedsamen Frucht der Gerechtigkeit uns erfreuen, welche daraus hervorwächst. Dann wird unser Gang immer sichrer werden und unsere Tritte fester; und so geübt im Verständniß dessen, was zu unserm | Frieden dient, werden wir auch immer würdiger werden des herrlichen Namens, daß wir das königliche Priesterthum sind, das Volk Deiner Wahl, welches Du auch durch irdische Leiden nach Deinem gnädigen Wohlgefallen zum ungetrübten Frieden hinführst. Amen.

9 Vgl. Röm 8,37 ferner Offb 3,19

12–14 Vgl. 2Kor 7,10 24–26 Vgl. Röm 8,28

20–21 Vgl. Hebr 12,6 (darin Spr 3,12); 32–33 Vgl. 1Petr 2,9

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Am 26. Februar 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sexagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 19,5–10 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 2) 1832, S. 158–176, Nr. IX SW II/3, 1835, S. 195–206; 21843, S. 203–215. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 279–289 Keine 4. und letzter Teil einer Predigtreihe über die Art, wie der Erlöser ein persönliches Verhältnis zu dem Einzelnen anknüpft, 15. Januar bis 26. Februar 1832

Am Sonntage Sexages. 1832.

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Lied 43. 103.

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Text. Lukas XIX, 5 ff.: „Und als Jesus kam an dieselbige Stäte, sah er auf, und ward seiner gewahr und sprach zu ihm, Zachäe, steig eilend hernieder! denn ich muß heute zu deinem Hause einkehren. Und er stieg eilend hernieder, und nahm ihn auf mit Freuden. Da sie das sahen, murreten sie Alle, daß er bei einem Sünder einkehrte. Zachäus aber trat dar und sprach zu dem Herrn, Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wieder. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, sintemal er auch Abrahams Sohn ist; denn des Menschen Sohn ist gekom|men, zu suchen und seelig zu machen, das verloren ist.“ M. a. Fr. Dies sei nun das lezte von den Beispielen, die wir uns nach einander davon vorgehalten, wie der Erlöser sich öfters während sei2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 43: „Mein Gott in der Höh sey Ehr und Dank für seine Gnade“ (in eigener Melodie); Nr. 103: „Mein Lebensfürst! dein freundliches Regieren“ (Melodie von „Mein Salomo, dein freundliches Regieren“) 3–14 Der abgedruckte Predigttext umfasst Lk 19,5–10; tatsächlich bezieht sich Schleiermacher in der Predigt auf die ganze Erzählung Lk 19,1–10. 15–11 Vgl. die Predigten am 15. Januar über Joh 1,47–51, am 29. Januar über Joh 4,25–26 und am 12. Februar über Joh 9,35–38

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nes Wandels auf Erden um eine einzelne Seele bemüht habe. Etwas eigenthümliches hatte jedes von den Beispielen, die wir betrachtet haben, ein anderes war es mit dem Nathanael, der dem Erlöser näher stand dadurch, daß er schon befreundet war mit einem seiner Jünger; ein anderes wieder mit der samaritischen Frau, mit der er sich allein fand, und bei der er anknüpfen konnte an ein Bedürfnis, das er selbst eben empfand; ein anderes war es mit dem Blindgebornen, auf welchen die Jünger seine Aufmerksamkeit richteten, und der durch die Folgen der leiblichen Wohlthat, die der Erlöser ihm erwiesen, ihm noch näher gebracht wurde, so daß er sich gedrungen fühlte, ihm auch die größere geistige anzubieten. Anders wiederum ist es mit dem gegenwärtigen Fall, dessen früher erzählte Umstände ich als Allen bekannt voraussezen kann; und so laßt uns sehen, was denn hiervon der nähere Zusammenhang war, und in welchem Sinn der Erlöser sich dem Zachäus anbot. Wir achten dabei zuerst auf diejenigen Veranlassungen, die in den früher erzählten Umständen liegen, aber dann auch zweitens besonders auf die eigene Erklärung des Erlösers über sein Verfahren.

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I. Der Erlöser wird uns hier dargestellt auf der Reise, und zwar als auf der Reise nach Jerusalem, wohin er | zum Fest gehen wollte; ja wir müssen uns dies als seine lezte Reise denken, denn unmittelbar darauf ist in unserm Evangelio die Rede von seiner Ankunft in Bethanien und von seinem Einzug in Jerusalem. Er zog, wie erzählt wird, durch die Stadt Jericho hindurch, und wollte daselbst sein leztes Nachtlager halten; und da hatte Zachäus eine Stelle wahrgenommen, wo er nothwendig vorübergehen mußte, also wahrscheinlich bald am Anfang der Stadt, ehe sich an der Seite, von wo der Erlöser herkam, mehrere Straßen theilten. Der Erlöser, m. a. Fr., würde immer wohl auch auf andere Weise, gesezt auch, er hätte keine nähern Bekanntschaften in dieser Stadt gehabt, eine Herberge gefunden haben. Denn es war für Viele ein Ehrenpunkt, sich überhaupt derer anzunehmen und ihnen Hülfe zu leisten, die aus entfernten Gegenden kamen, um den gemeinschaftlichen Festen des Volks beizuwohnen; noch mehr war es ein allgemeines Bestreben, diejenigen zu ehren, welche zu dem Stande der Lehrer gehörten, wie der Erlöser; und außerdem gab es wol noch mancherlei besondere Stiftungen, welche die wohlthätige Absicht hatten die Treue gegen diese gesezliche Vorschriften zu erleichtern. Daher finden wir denn auch in andern Erzählungen unserer Evangelien, daß 12 Vgl. Lk 19,1–4 20–21 Vgl. Lk 18,31 25 Vgl. Lk 19,1 26–27 Vgl. Lk 19,4

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der Erlöser auf seinen Reisen eingeladen wurde von diesem und jenem, ja bisweilen auch von solchen, die ohnerachtet sie eher zu seinen Gegnern gehörten als zu seinen Freunden, doch nicht umhin konnten ihn auf solche Weise äußerlich zu ehren, es aber dafür an alle dem fehlen ließen, wodurch sich eine innere Zuneigung zum Erlöser hätte zu erkennen geben müssen. Das Erste also, was wir hier in Rechnung zu bringen haben, ist doch ge|wiß dies, daß der Erlöser wünschte auch eine herzliche und freundliche Aufnahme zu finden, daß er durch seine Gegenwart auch gern unter Anderen Freude und Zufriedenheit verbreiten wollte. Wie sollte er sich also nicht vor Andern einen solchen Mann ausersehen haben, der es sich etwas besonderes kosten ließ, und eigene Anstrengungen machte, um nur einen persönlichen Eindrukk von ihm zu bekommen? denn irgend ein näheres Verhältniß mit dem Erlöser anzuknüpfen, daran dachte Zachäus nicht, und darauf war das, was er that, nicht berechnet. Es war also auch hier der Erlöser, der zu einem persönlichen Verhältniß mit dem Zachäus den ersten Schritt that, aber einen persönlichen Eindrukk von dem Erlöser wünschte der Mann zu haben. Was er von ihm hielt, darüber wird uns nichts gesagt; aber das Geringste, was wir voraussezen können, ist doch dies, daß der Ruf von seiner Lehre wie von seinen Wundern, von seinem ganzen ausgezeichneten Leben mußte zu seinen Ohren gekommen sein, und daß er nun sehen wollte, wer denn der sei, wie gestaltet, wie äußerlich erscheinend, von dem er so viel vernommen hatte. Ob er ihn für einen Propheten hielt, wie wenigstens nachdem er die Hülfe des Erlösers erfahren hatte, der Blindgeborne, wie die Frau aus der samaritischen Stadt, nachdem sie vernommen, wie genau der Herr Bescheid wußte um ihr Leben und ihren Gemüthszustand, oder ob er ihn schon für den Messias hielt, wie Nathanael, nachdem ihn der Erlöser aufmerksam gemacht auf das was er von ihm wußte, davon wird uns gar nichts gesagt. Aber soviel ist offenbar, daß bei dem Zachäus doch mehr und etwas anderes vorwaltete als jene leere Neugierde, die in allen sol|chen Fällen eine Menge von Menschen herbeiführt; und auch hier die herbeigeführt hatte, welche nachher murreten über das, was der Erlöser that. Denn Zachäus war wohl ein reicher Mann, wie vorher gesagt wird, aber er gehörte doch zu jener verachteten und gehaßten Klasse, zu denjenigen Mitgliedern des Volks, welche unmittelbar den Römern, welche das Volk als seine Unterdrükker ansah, Dienste leisteten und deswegen, weil sie in einem häufigen Verkehr mit den Heiden stehen mußten, die Aeußerlichkeiten des Gesezes nicht mit Genauigkeit zu erfüllen im Stande waren. 24–25 Vgl. Joh 9,1–38, bes. 17 25–27 Vgl. Joh 4,5–42, bes. 19 Joh 1,45–51, bes. 49 34–35 Vgl. Lk 19,2

28–29 Vgl.

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Wenn nun ein Zusammenströmen von Menschen durch die Neugierde bewirkt wird, so ist immer auch der Muthwille rege; was in einem solchen Gedränge gethan oder gesprochen wird, darnach wird keine Nachfrage weiter gehalten, weil doch nicht erforscht werden kann, von wem es ausgegangen ist; und so war gewiß auch Zachäus in der Stellung, die er genommen hatte manchen Aeußerungen des Muthwillens ausgesezt, denen man sich aus bloßer Neugierde nicht gern preisgiebt; aber er achtete dessen nicht, um den Erlöser, wenn auch nur von Ferne, doch wenigstens von Angesicht zu sehen. So glaubte denn der Erlöser an ihm seinen Mann gefunden zu haben; er wußte, daß er bei diesem willkommen sein würde und eine freundliche Aufnahme finden, wie denn auch Zachäus eilend herniederstieg, und ihn mit freudigem Herzen aufnahm. Aber freilich, das ist nicht Alles, sondern wie der Erlöser hernach selbst sagte, Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, und wir nicht übersehen dürfen, was wir freilich aus unserer deutschen Bibel nicht erkennen können, daß das dasselbige Wort ist, dessen er sich hier bedient, heute ist | diesem Hause Heil widerfahren, und was er hernach ausspricht: des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen was verloren ist: so wollte er also auch dieses, daß wo er einging zur Herberge, da sollte seine Erscheinung heilbringend sein, da wollte er etwas thun zum Wohl der Seelen, worauf ja sein ganzes irdisches Dasein berechnet war, und die eigenthümliche Kraft des Menschen Sohnes, die sich überall in ihm erwies, das Verlorne selig zu machen, sollte sich auch da jedesmal offenbaren. Keinesweges, m. a. Fr., dürfen wir das so verstehen, – denn das würde sich gar nicht mit dem sanftmüthigen und demüthigen Wesen des Erlösers vertragen, – daß er es angesehen hätte als ganz und gar eine Sache seiner Willkühr, die Seelen sich zuzuwenden, mit der Kraft seines Wortes und seiner Liebe in das Innere derselben einzudringen und sie vom Wege des Verderbens auf den Weg des Lebens hinüber zu leiten. Wenn er das so angesehen hätte, wenn das der Gebrauch gewesen wäre, den er hätte machen können von der göttlichen Kraft, die ihm einwohnte: wie würde denn wohl von allen denen, mit welchen er es zu thun hatte oder in deren Nähe er wenn auch nur vorübergehend kam, ja die er nur irgend äußerlich erreichen konnte, auch nur ein Einziger übrig geblieben sein, der nicht auf den Weg des Lebens wäre geführt worden! So war es nicht; und wenn es so gewesen wäre, so wäre ihm auch keine Auswahl geblieben, sondern ganz allgemein, wie es Einen nach dem Andern traf, wäre diese göttliche Wirkung in jedem Augen15–20 σωτηρα („Heil“) in Lk 19,9 und σ σαι („selig machen“) in Lk 19,10 besitzen eine gemeinsame Wortwurzel.

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blikke an Einem von seinen Zeitgenossen vollbracht worden. Sondern, wie er sich in dem Gleichniß, welches wir im heutigen | Evangelio vernommen haben als den Säemann darstellt, welcher das Wort ausstreut in die menschlichen Seelen, aber es gedeihet auch nur in Jedem nach der Beschaffenheit des Bodens, und es ist nicht die Kraft seiner Hand, nicht die Richtung, die er dem Saamen giebt, welche an dem einen Ort das Gedeihen hervorbringt und welche bewirket, daß an dem andern der Saame den Vögeln des Himmels Preis gegeben wird und gar keine Pflanze hervorbringt: so war es und so sollte es sein. Mit einer göttlichen Kraft wirkte der Erlöser; aber nur nach dem natürlichen Gesez der menschlichen Dinge, nach dem Maaß, in welchem Jeder fähig war seine Mittheilung aufzunehmen, nach dem Maaß der Bereitwilligkeit, die Jeder ihm entgegenbrachte, nach dem Maaß der Vorbereitung und Vorarbeit, die schon mit dem Boden einer jeden menschlichen Seele vorgegangen war. Aber nirgends konnte der Erlöser sein, nirgends konnte er reden und wirken, nirgends konnte er ein besonderes Verhältniß mit einem Menschen haben, ohne zugleich dieses sein Ziel, das Seligmachen der menschlichen Seelen, im Auge zu haben und darauf zu wirken. War es dann oft auch nur eine entfernte Vorbereitung, war es auch oft nur ein augenblikklicher Eindrukk, der aber doch etwas zurükkließ im menschlichen Gemüth, worauf hernach weiter gebaut werden konnte, – wie wir denn solcher verloren geschienenen Saamenkörner gar viele aufgehen sehen in den Seelen der Menschen durch die Predigt seiner Jünger, nachdem Er selbst den Schauplaz der Erde verlassen: immer doch mußte er dahin gehöriges thun, sonst hätte er ja nicht immer im Auge gehabt die Werke, die sein Vater ihm zeigte zu thun, sonst hätte er | ja nicht gewirkt, so lange es Tag war, so viel er konnte. Darauf war also auch diese seine Auswahl berechnet; dieser, in dem sich das Verlangen einen unmittelbaren Eindrukk von der Persönlichkeit des großen Lehrers zu empfangen so stark ausgesprochen hatte, dieser, das wußte er, war ein empfängliches Gemüth. Und auch das konnte er sich leicht denken, daß sich ihm in dem Hause dieses Mannes auch eine größere Wirksamkeit aufthun würde; da fanden sich leicht Mehrere gleichgesinnte zusammen, die auch schon in dem guten und edlen Sinn des Worts etwas auf ihn hielten, und er würde nicht ohne Erfolg den Saamen des göttlichen Worts ausstreuen können in die Gemüther. So wird uns auch hernach erzählt, daß sich da Mehrere versammelt hätten, fast 33 daß] das 2–3 Die Perikopenordnung sah für den Sonntag Sexagesimae als Evangelium Lk 8,4– 15 vor. 26–27 Vgl. Joh 5,19f 27–28 Vgl. Joh 9,4 37–2 Vgl. Lk 19,36–38

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Alle in dem Glauben, da er nun nach Jerusalem ginge, würde das Reich Gottes jezt auch äußerlich offenbar werden. Das waren also schon nach dem Reiche Gottes verlangende Seelen, wenn gleich nicht frei von mancherlei Irrthümern, indem sie gangbare Vorurtheile und unvollkommene Vorstellungen von diesem Gottesreich mit in sich aufgenommen hatten. Deshalb trug ihnen hernach der Erlöser ein Gleichniß vor, aus welchem sie wohl merken konnten, die Stunde, die sie meinten, sei noch nicht gekommen; und woraus sie inne werden konnten, auch wenn er nicht mehr unter ihnen wandle, sondern in ein anderes Land gegangen sein werde, auch dann noch werde sich die Feindschaft seines Volkes gegen ihn deutlich aussprechen, aber vorher thue er seine Güter aus unter seine Knechte, und späterhin werde er wiederkommen und Rechenschaft verlangen und geben Jedem nach dem, was er in der Sache seines Reiches, in | der großen Sache Gottes werde gethan haben. Und so wie er dies Gleichniß da vortrug, merkt man recht deutlich daß es eine ganz freie gesellige Rede war: denn es findet sich mancherlei darin, was sich nur daraus recht erklären läßt, und was er unter andern Umständen nicht so würde gesagt haben – wie denn auch Aehnliches vorkommt in andern solchen Fällen, wo der Erlöser zu Gaste geladen war, und doch auch da etwas in seinem großen Beruf reden und handeln wollte. Sehet m. g. Fr., das war die Art und Weise seines ganzen Lebens; beides war in ihm in einem und demselbigen Geiste, was er ausdrükklich als Lehrer des Volks, sei es im Tempel, sei es in der Schule, sei es wo irgend die Menge sich eigens dazu versammelte, um ihn zu hören, was er da redete und that, und was er redete und that im geselligen Leben – beides war immer in demselbigen Geiste, überall dieselbe Richtung auf das Reich Gottes, überall dieselbe Liebe zu den Menschen, dieselbe Freude an dem Wohlsein menschlicher Seelen, überall der treue Sinn gegen sein Volk, dessen Dienst er sich für seine Person ausschließend gewidmet hatte; aber überall redete und that er Alles nach der eigenthümlichen Weise und Gelegenheit des Orts. So fügte er sich freundlich und gesellig in das tägliche und festliche Leben der Menschen; so beschreibt uns ihn Johannes gleich am Anfang seines öffentlichen Berufs als hochzeitlichen Gast; so stellt er sich selbst dar in jener Rede, wo er sich mit Johannes dem Täufer vergleicht, und weiß es wol, weil er nicht die Einsamkeit suchte, sondern sich unter die 22 und Weise] uud Weise Johannnes

30–31 ausschließend] ansschließend

6–15 Vgl. Lk 19,11–27 Lk 7,24–35

34–35 Vgl. Joh 2,1–11

34 Johannes]

35–36 Vgl. Mt 11,7–19;

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Menschen freundlich mischte, so sagten sie freilich von ihm, Was ist der Mensch ein Fresser und Weintrinker, der | Zöllner und Sünder Gesell! – Und wenn wir die gesellige Weise des Erlösers recht verstehen wollen: so dürfen wir auch eben dieses nicht unbemerkt lassen, daß der Erlöser, indem er sich grade bei dem Zachäus zu Gaste einlud, auch noch auf eine recht öffentliche Weise dem Vorurtheil gegen den Stand, zu welchem dieser gehörte, entgegenwirken wollte. Denn da er ihn bei Namen rief, als er sich bei ihm anmelden wollte, so muß er auch gewußt haben, wer er war; und da er das that vor einer so großen Menge von Menschen, so muß er es auch nicht nur nicht gescheut haben sondern ausdrükklich gewollt, sie sollten es wissen, daß er auch izt noch derselbe sei wie immer, und sich eben so gern zu den Zöllnern thue, als er auch zu den Obersten der Schule gehe, und auch seinen Gegnern Rede abzugewinnen wisse, wenn anders sie selbst nur mit ihm verkehren wollten. Aber nun m. th. Fr., laßt uns, ehe wir zu dem Zweiten Theile unserer Betrachtung übergehen, doch erst von dem jezt gesagten die uns so nahe liegende Anwendung machen auf uns selbst. Wie ist doch so häufig das Leben der Christen nach einer ganz anderen Regel gestaltet als die ist, welcher der Erlöser hier folgt! und zwar auf zweierlei Weise. Auf der einen Seite, was für einen gar schroffen Gegensaz findet man nicht bei Vielen zwischen dem Ernst, auch der wirklichen Treue, auch der besonnenen Richtung auf das Ganze, so weit ihr Leben dem Berufe und den Geschäften gewidmet ist, und dem ganz anderen Geist, den sie unbedenklich überall walten lassen in dem anderen Gebiet des Lebens, von dem sie glauben, es handle sich da nur um Erholung von der Last der Ge|schäfte. Wie dicht streifen sie da an frevelnden Leichtsinn, welcher doch Allen fern bleiben müßte, die sich mit der großen Bestimmung unseres Lebens befreundet haben! wie weit werden da alle Regeln der Mäßigung weggeworfen! und der Ernst, welcher in dem übrigen Theile des Lebens herrscht, wie verschwindet oft die leiseste Spur von ihm! Dagegen bei dem Erlöser, wiewohl für jedes seine eigene Art und Weise geltend blieb, war doch beides in demselben Geist! dafür aber blieb auch izt, wo er wohl wußte, daß er zum lezten Mal in die Hauptstadt seines Volkes ging, indem er schon früher seinen Jüngern sein Leiden und seinen Tod verkündet hatte, seine reine Heiterkeit unverringert dieselbe; auch jezt noch blieb er jener Art und Weise, wie er sie selbst beschrieben hat getreu, das menschliche Leben menschlich zu behandeln. – Auf der 25 Geist,] Geist. 1–3 Mt 11,19; vgl. Lk 7,34

36–37 Vgl. bes. Lk 18,31–33

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andern Seite entfernen sich auch diejenigen nicht minder von dem Beispiele des Erlösers, welche diesen Unterschied ganz aufheben und das fröhliche Zusammensein der Menschen in denselben strengen Ernst, in die gleichen herben Formen, wie sie dem geschäftigen Leben eignen, hineinziehen wollen, – ja wol gar nirgend eine andere Stimmung des Gemüths gelten lassen mögen als dieselbe, in welcher wir uns öffentlich oder häuslich versammeln, um das Wort Gottes in unsere Seelen aufzunehmen oder um es zu lehren; als ob es sich nicht geziemte, daß wir uns freundlich zusammenthun, um auch als Menschen und nicht nur als Menschen sondern auch als Christen aber auf eine andere Weise als jene, wenn gleich in demselben Geist uns fröhlich einander mitzutheilen. Je bewegter das menschliche Leben ist in manchen Zeiten, je mehr Großes auf dem Spiele zu ste|hen scheint, je weiter die Gemüther in den wichtigsten Beziehungen aus einander gehen, je schwieriger es wird, daß sie sich verständigen, um gemeinschaftlich zu ziehen an demselben Joch zu demselben Ziele: um so wichtiger ist es, daß auch unser freies geselliges Zusammensein hiezu mit wirke in demselben Geiste; aber dazu gehört auch, daß wir der eigenthümlichen Art und Weise desselben treu bleiben, ohne welche wir keine heilsame Wirksamkeit darin ausüben können. So und nicht anders konnte auch der Erlöser überall etwas schaffen für das Reich Gottes, ohne was Ort und Zeit und Gelegenheit foderten aus den Augen zu sezen; so werden auch wir immer im Stande sein, etwas zu thun zur heilsamen Bearbeitung der Seelen, mit denen wir uns eben in einem näheren Verhältnisse befinden. Und wie vieles kann grade in unserem geselligen Zusammensein geschehen, um den leidenschaftlichen Geist sei es in Beziehung auf die Angelegenheiten unserer christlichen Frömmigkeit oder unseres bürgerlichen Lebens zu mäßigen, die getrennten Gemüther einander näher zu bringen, heilsame Lehre auszustreuen vermittelst der geselligen Unterhaltung, die Richtung auf das Große und Höhere auch mitten in der Fröhlichkeit des Lebens festzuhalten, den Gleichmuth, von welchem weiter fortgeschrittene Christen beseelt sein müssen, überall nicht nur zu lehren, sondern auch zu verbreiten und mitzutheilen, und vielfältig auf die Gemüther so zu wirken, daß etwas für das Reich Gottes in ihnen geschehe. Je weniger wir Alle es darauf anlegen können in jedem Augenblikk große und entscheidende Wirkungen hervorzubringen, um desto weniger dürfen wir das kleine gering achten und irgend eine Gelegen|heit versäumen, wo uns etwas vorhanden kommt zu thun, um dem christlichen Beruf zu dienen, auch indem wir wie der Erlöser, nicht ängstlich bekümmert um das Urtheil der Menschen, bald in diesem bald in 6 Gemüths] Gemüths,

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jenem Kreise unser Licht leuchten lassen, wie er allen schädlichen Vorurtheilen entgegentreten und sie dämpfen und niederschlagen, am Meisten aber solche, welche das Band der Liebe schwächen, welche die Gemüther der Menschen trennen, wie jenes Vorurtheil, welches gegen den Stand der Zöllner gerichtet war. Der Jünger ist nicht über seinen Meister und soll es auch nicht sein wollen, wie er es nicht kann; aber nachfolgen sollen wir überall nach Vermögen dem Erlöser in allen Theilen unseres Lebens. II. Aber nun, m. g. Fr., lasset uns zweitens sehen, wie der Erlöser sich selbst über diese seine Handlung erklärt. Wir haben mit einander vernommen, daß, als er dem Zachäus sagte, er wolle heute in seinem Hause einkehren, diejenigen, welche auch die Neugierde zusammengeführt hatte, Alle murreten, daß er bei einem Sünder einkehren wollte. Da trat nun Zachäus selbst hervor und sprach: Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wieder. Wohl Vielen unter uns m. g. Fr., wird hierbei einfallen jener andere Zöllner, welchen in einer Gleichnißrede unser Erlöser einem Pharisäer so gegenüberstellt, daß der leztere sich rühmte, wie genau er das Gesez erfülle, jener aber der Zöllner nichts that, als indem er beten wollte schlug er an seine Brust und sprach, Gott sei mir Sünder gnä|dig. Scheint nicht unser Oberzöllner, bei dem doch der Erlöser einkehren wollte, dem Pharisäer in jener Rede ähnlicher als dem Zöllner? Allein gewiß wollte er nicht damit sich selbst rühmen, noch weniger lag in dem was er sagt, irgend ein verdammendes Urtheil über die, welche ihrerseits ihn so laut und öffentlich als einen Sünder brandmarkten; nur vor dem Erlöser glaubte er sich rechtfertigen zu müssen, und damit zugleich diesen selbst daß er bei ihm einkehrte. Es liegt in seiner Rede, daß er sagen will, freilich kann ich nicht alle Aeußerlichkeiten des Gesezes erfüllen wie Andere, das leidet mein Beruf nicht, aber, was das wesentliche ist des Gesezes, das glaube ich nach Vermögen zu thun. Und also war das ganz ein anderes als der Ruhm, welchen jener Pharisäer in der Gleichnißrede des Erlösers sich beilegte, welcher eben auf die Genauigkeit in den äußeren Kleinigkeiten des Gesezes ging, womit, wie ja der Erlöser oft sagt, sich doch ein gänzlicher Mangel an der wahren Bruderliebe, an innerer Gerechtigkeit und herzlicher Wohlthätigkeit gar leicht vereinigen läßt. Dieses beides nun, die Gerechtigkeit und die Wohlthätigkeit, die eine 5–6 Lk 6,40; vgl. Mt 10,24; ferner Joh 15,20 18,13

18–21 Vgl. Lk 18,9–14

22 Lk

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in der Erstattung wo er Einen übervortheilt hatte, sei es absichtlich oder sei es zufällig gewesen, nach einem strengeren Maaße als es das Gesez vorschrieb, die Wohlthätigkeit in der Art, wie er das Ersparte in seinem Beruf mit den Dürftigen theilt, das beides vereint er in seiner Rechenschaft, die er dem Erlöser ablegt, als dasselbe. Und so ist es auch! beides hat seinen Grund in demselben rechtlichen Verhältniß; und die Wohlthätigkeit derer, die reichlicher mit den Gütern dieses Lebens ausgestattet sind, ist nichts anderes als eine Gerechtigkeit, | welche sie ausüben gegen das gemeine Wesen, um die allzugroße Ungleichheit die das bürgerliche Leben hervorbringt nach Vermögen wieder auszugleichen. Was sagt nun aber, m. th. Fr., der Erlöser zu diesem Zeugniß, welches Zachäus von sich selbst ablegt? Er übergeht es ganz mit Stillschweigen, als ob er darauf gar keinen Werth lege, als ob dieses gar nicht mit zu dem Bewegungsgrund gehöre, weswegen er bei dem Zachäus einkehre. Das, m. G., erinnert mich an etwas, was ich damals hier gesagt habe, als wir die Geschichte des Nathanael zum Gegenstande unserer Betrachtung gemacht. Dort nämlich wurde uns klar, wie es auch dem Erlöser nie gleichgültig gewesen sei, noch habe gleichgültig sein können, wie ein Mensch, welchem er sich mittheile, vorher beschaffen gewesen sei, weil nämlich eine ganz andere Wirkung auch des Erlösers möglich sei in einem so als in einem anders vorgerichteten Gemüth. Hier hingegen scheint es ja, indem er dieses mit Stillschweigen übergeht, als ob er hierauf gar keinen Werth lege; sondern was sagt er? Heut ist diesem Hause Heil widerfahren, als ob er sagen wollte, morgen kann es einem andern widerfahren, es ist aber diesem Hause Heil widerfahren, weil er auch ein Sohn Abrahams ist. Und dann fügt er hinzu: Des Menschen Sohn ist gekommen, und eine andere Rükksicht hat er nicht, als zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Keinesweges aber, m. th. Fr., steht dies wirklich so, wie es wol scheinen könnte, in Widerspruch mit unserer damaligen auch aus der Handlungsweise des Erlösers entwikkelten Rede. Gewiß würde der Erlöser nicht zu Zachäus eingegangen sein, wenn dieser zu denen ge|hört hätte, die auf eine leichtsinnige Weise nur sich selbst und das Ihrige suchten, und nur in diesem Sinne die Gelegenheit, welche sich ihnen darbot, benuzten, um die Güter des Lebens in einem reicheren Maaße zu erwerben. Aber schon das Verlangen, welches er hatte den Herrn zu sehen, die Richtung auf seine Person spricht für ihn. Denn wer wollte wohl den natürlichen Zusammenhang leugnen 1 übervortheilt] übervortheil

28 hinzu:] hinzu;

30 ist.] ist;

17–18 Vgl. die Predigt am 15. Januar 1832 über Joh 1,47–51

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zwischen der Gewissenhaftigkeit des Gemüths, der Treue des Menschen gegen das, was er als gut und recht erkennt, wie unvollkommen auch diese Erkenntniß sei, und dem Verlangen der Seele nach einer reineren Erkenntniß, nach einer höheren Einsicht, nach einem Strahl des himmlischen Lichts, wie es aus dem Erlöser hervorleuchtet! Gewiß wird niemand sagen wollen, wie leichtsinnig auch ein Mensch gelebt und die Stimme seines Gewissens übertäubt habe, um den Gelüsten seines Fleisches zu fröhnen, daß dennoch eben so gut wie in jeder anderen auch in einer solchen Seele ohne weiteres ein wahrhaftes Verlangen nach dem Erlöser entstehen könne. Das also übersah der Erlöser wohl, und diese Sehnsucht kannte er auch in dem, welchen er sich ausgewählt, um bei ihm zu herbergen; aber er stellt dieses doch nicht als seinen Bewegungsgrund dar, sondern er führt uns zurükk auf die größere, allgemeine Regel seines Lebens, und auf das gleiche Verhältniß, in dem alle Menschen zu ihm standen. Eine Regel hatte er sich gemacht, wodurch sein Leben zusammengehalten wurde, indem es sich sonst sehr leicht hätte zersplittern und zerstreuen können; nämlich er für seine Person wollte nur gesandt sein zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel; hernach wenn das Gesez ihn | würde getödtet haben, dann solle es seinen Jüngern erlaubt sein, auch dem Gesez zu sterben und das Wort auch zu anderen Geschlechtern der Menschen zu bringen; aber er war bloß gesandt und blieb auch mit seinen Worten und Thaten ganz in dem Gebiete seines eigenen Volkes. Und darum giebt er auch hier zu erkennen, als Solche seien ihm Alle gleich; diesem Hause ist Heil widerfahren, weil er auch ein Sohn Abrahams ist. Doch aber fügt er hinzu, Des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Und merket es wohl, m. a. Fr., es giebt mehre andere ähnliche Aussprüche des Erlösers, wo er sagt, er sei nicht gekommen die Welt zu richten, sondern die Welt selig zu machen, er sei nicht gekommen für die Gesunden ein Arzt, sondern für die Kranken, er sei gekommen seelig zu machen, was im Begriff sei, verloren zu gehen: aber daß er gekommen sei zu suchen, das ist unserer Stelle eigen. Und diesen hat er wirklich gesucht, er hat ihn gesucht und ausgewählt, um bei ihm die Herberge zu nehmen, aber als einen solchen, zu dessen Seligkeit er beitragen wollte auch in dem kurzen Verhältniß, in welches er nur mit ihm treten konnte, da schon die Zeit seines Leidens und seines Todes nahe war. – Und, m. a. Fr., das ist nun die allgemeine große Regel des Erlösers gewesen. Allen Menschen war er erschienen, aber wo er nun selbst zu wählen hatte, was konnte er anders sich für ein Gesez ma18–19 Vgl. Mt 15,24 29–30 Vgl. Joh 12,47; ferner 3,17 30–31 Vgl. Lk 5,31f; ferner Mt 9,12; Mk 2,17 31–32 Vgl. Mt 18,11 (im Kontext von 18,12–14)

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chen, als dahin zu greifen, sich denen zu nähern, zu deren Seligkeit er am meisten beitragen konnte. So trat ihm dieser entgegen; und aus beiden Ursachen, weil er doch auch zu denen gehörte, auf welche er selbst sich in seinem Le|ben ein für allemal beschränkt hatte auf der einen Seite, aber auf der anderen auch, weil er in einer solchen Lage seines Gemüths war, daß der Herr zu seiner Seligkeit beitragen konnte in dieser Stunde, darum hat er ihn auserwählt; und so war das seine Befriedigung, daß er auch da konnte an der Verbesserung eines menschlichen Gemüthes arbeiten. So, m. a. Fr., ist er immer derselbe gewesen. Dieses war nun auf dem lezten Wege in die Hauptstadt seines Volkes, sein Leiden stand nahe bevor, wie auch uns izt die Zeit nahe bevor steht, welche der besonderen Betrachtung desselben gewidmet ist; aber wir finden ihn unverändert denselben wie in jener früheren Zeit, wo ihm die Entwikkelung seines irdischen Daseins noch nicht so nahe war. Alles, was ihm nun so nahe bevorstand, brachte keine Veränderung in seiner Lebensweise hervor; dieselbe Liebe und Freundlichkeit, wie sie in seinem ganzen Leben verbreitet war, derselbe Zug des Wohlwollens zu denen, welche Gebrauch davon zu machen fähig waren, derselbe Gleichmuth, dieselbe unerschütterliche Ruhe in allen Verhältnissen, wie wir sie immer gefunden! Und so allein vermag auch der Mensch alle Aufgaben des Lebens zu lösen, jede Zeit glükklich und tapfer zu bestehen, niemals müde zu werden, niemals zu wanken auf seinem Wege, keine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, wo er wirken kann, um mit seinem Pfunde zu schaffen, was seine Kräfte vermögen, für den großen gemeinsamen Beruf Aller. Ja, m. g. Fr., das ist der, welchem wir nachfolgen sollen! so sollen wir seiner Kraft und seiner Liebe, seiner Weisheit und seiner Milde nachzustreben suchen in unserm ganzen | Leben, auf dieselbe Art und Weise wie Er sollen auch wir unsere Verhältnisse unter einander ordnen und benuzen. Was dann Gott auch über uns für eine Zeit verhängt haben möge, welches Geschikk dem Einzelnen näher oder ferner drohe, wie mancher verkannt werde von der Menge, wie es der Erlöser auch wurde, immer auf dieselbe Weise treu und eifrig den Weg des Berufes zu gehen, das ist das Ziel, welches wir uns Alle vorzusezen haben! Wenn wir mit derselben Liebe, wie Er den Menschen zugethan war, nicht aufhören uns unter einander anzufassen, und möglichst suchen Alle zu dem Einen hinzuführen; so wird dann das Wort aufs neue wahr, daß er auch izt nicht aufhört zu suchen und selig zu machen was verloren ist; denn er thut dann dieses durch uns. Wollen wir aber auch nach seiner liebevollen, milden Weise den Menschen uns überall öffnen, und uns hingeben jedem, wie er es bedarf; so dürfen wir auch nie aus

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den Augen lassen, wie Er immer Eins war mit dem Vater, wie Er immer auf die Werke seines Vaters sah, und auch im kleinen seine Freude daran hatte diese Werke zu fördern. Dann wird auch uns unser großer Beruf, sein Reich unter den Menschen zu bauen immer im vollen Licht erscheinen; dann werden auch wir unser Werk getreulich erfüllen, und unserem gemeinschaftlichen Ziel mit seiner Ruhe und seinem Frieden entgegengehen können; welches er nach seiner Gnade uns Allen verleihen wolle durch den Beistand seines Geistes. Amen. Lied 103, 8.

1 Vgl. Joh 10,30 1–2 Vgl. Joh 5,19f 9 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 103: „Mein Lebensfürst! dein freundliches Regieren“ (Melodie von „Mein Salomo, dein freundliches Regieren“); Strophe 8 lautet: „So ruh ich denn, mein Heil, in deinen Armen! Du selbst sollst mir mein ewger Friede seyn. In deine Huld, o Herr, hüll ich mich ein: ich leb und athme nur durch dein Erbarmen. Und da du mir mein Ein und Alles bist, Hab ich genug, wenn dich mein Geist genießt.“

Am 4. März 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Estomihi, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 3,22–30 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 158–170, Nr. XIII; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 796. Tex t . Marcus III, 22–30. „Die Schriftgelehrten aber, die von Jerusalem herabgekommen waren, sprachen: er hat den Beelzebub, und durch den Obersten der Teufel treibt er die Teufel aus. Und er rief sie zusammen und sprach zu ihnen in Gleichnissen: Wie kann ein Satan den andern austreiben? Wenn ein Reich mit sich selbst unter einander uneins wird, mag es nicht bestehen. Und wenn ein Haus mit sich selbst unter einander uneins wird, mag es nicht bestehen. Setzet sich nun der Satan wider sich selbst, und ist mit sich selbst uneins, so kann er nicht bestehen, sondern es ist aus mit ihm. Es kann niemand einem Starken in sein Haus fallen, und seinen Hausrath rauben; es sei denn, daß er zuvor den Starken binde, und alsdann sein Haus beraube. Wahrlich, ich sage euch: Alle Sünden werden vergeben den Menschenkindern, auch die Lästerung, damit sie lästern. Wer aber den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung möglich, sondern er ist schuldig des ewigen Gerichts. Denn sie sagten: Er hat einen unsauberen Geist.“ |

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M. a. Fr. Lasset uns zuerst nur in Beziehung auf das Gelesene bei demjenigen stehen bleiben, was uns ja immer und überall das Nächste ist, nämlich der Erlöser selbst und was ihn betraf. Wir gehen itzt der Zeit entgegen, welche der besonderen Betrachtung seines letzten Leidens gewidmet ist, wo freilich viele äußerliche und gewaltsame Verfolgungen, Beraubung der Freiheit, körperliche Schmerzen, zuletzt der Tod die Bilder sind, mit denen 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 796: „Gott des Himmels und der Erden“ in eigener Melodie)

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wir uns zu beschäftigen haben; aber gewiß was dem Erlöser hier begegnet und sich hier wider ihn ausspricht, das mußte für ihn ein tieferes Leiden sein als alles das, was ihn sonst traf. Derjenige, welcher gekommen war als das Licht, um die Finsterniß auszutreiben, als das Abbild der göttlichen Liebe, der wird hier von seinen Gegnern den Menschen dargestellt, als verrichte er alle seine Werke vermittelst eines bösen Geistes, und selbst diejenigen, durch welche er dem, was man damals eine Besitzung des bösen Geistes nannte, ein Ende machte. Unser Evangelist nämlich hat das nicht miterzählt, was die andern, welche derselben Reden des Herrn erwähnen, nämlich, daß er einen solchen Unglücklichen von seinem Leiden befreit habe, und indem sie das gesehen, hätten die Schriftgelehrten dieses gesagt, nämlich daß er den Beelzebub, gleichsam einen einzelnen aber besonders hohen bösen Geist zu seinen Diensten habe und mit dessen Hülfe die andern austreibe. Unser Evangelist knüpft die Rede der Schriftgelehrten hier gleich an das, was wir neulich betrachtet haben, nämlich wie die Angehörigen des Herrn hingingen, um ihn aufzusuchen und ihn zurückzuführen, indem sie in Folge dessen, was sie von ihm gehört, sagten, er sei im Begriff von Sinnen zu kommen. Diesem unrichtigen Urtheile fügt der Evangelist gleich jenes andere noch falschere hinzu, ohne die Veranlassung zu erwähnen. Dergleichen Verschiedenheiten finden sich nun oft in un|seren Evangelien, und haben wir nicht Ursache zu glauben, daß dasselbe oder beinah dasselbe zu zwei verschiedenen Zeiten und Malen wäre geredet oder gethan worden. So wie nun diese Rede der Schriftgelehrten Glauben gefunden hätte: da wäre ja offenbar alle Wirksamkeit des Erlösers zu Ende gewesen; nicht nur würden sich die Menschen seiner Hülfe in ihrer leiblichen Noth nicht mehr bedient haben, wenn sie geglaubt, daß sie dadurch in Zusammenhang mit einem bösen Geiste kämen; sondern wer würde wol seiner Rede geglaubt haben, wenn er in einem solchen Zusammenhange gestanden hätte. Darum wie dieses am Meisten dem entgegengesetzt war, dessen er sich selbst in seinem Innern bewußt war als der Wahrheit seines Lebens, und je mehr es dazu geeignet war, so es Glauben fand, – wie es ja doch konnte, zumal es von den Obersten des Volkes herkam, – seine ganze wohlthätige Wirksamkeit aufzuheben: um desto inniger mußte ihn dieses schmerzen. Und wahrlich wir werden sagen, es gebe auch nicht leicht etwas, was so geeignet sei, den Menschen aufzubringen und das Gleichgewicht der Seele zu stören, als eine solche Beschuldigung. Und doch mit welcher Ruhe, ja mit welcher Freundlichkeit – denn was ist wol eine 9 andern] elliptisch zu ergänzen miterzählen 21 und haben wir] vermutlich elliptisch zu verstehen als und oft haben wir 29 wie] wir 9 Vgl. Mt 12,22–30; Lk 11,14–26 10–12 Vgl. Mt 12,22; Lk 11,14 die Predigt am 5. Februar 1832 über Mk 3,13–21

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größere Freundlichkeit als wenn man diejenigen warnt, welche die ganze Wirksamkeit des Andern stören wollen? – sehen wir den Erlöser auch hier seinen Gegnern entgegentreten. Da werden wir sagen, es sei dieses schon ein Zeugniß der Wahrheit gewesen, und wer unter solchen Angriffen wie diese seine Ruhe zu bewahren weiß, der kann nicht in einer Verwandtschaft mit dem Bösen stehen, es ist vielmehr der gute, der beste, der göttliche Geist, von welchem er durchdrungen ist. Wenn wir nun, m. g. Fr., die ganze Geschichte dieses großen Werks der Erlösung, wie es mit der irdischen Erscheinung des Herrn begann, bis auf den heutigen Tag mit einander erwägen: so finden wir, daß sich dasselbe von Zeit zu Zeit | immer wiederholt, daß es immer solche Feinde der göttlichen Wahrheit gegeben hat, welche versucht haben, diese größte durch nichts Anderes zu ersetzende Heilsanstalt für das menschliche Geschlecht auf eine ähnliche Weise darzustellen, wie es hier geschah. Aber wie damals und hernach immer die Wahrheit gesiegt hat, und der göttliche Geist, welcher durch den Erlöser über die Menschen ist ausgegossen worden, doch in seinen Aeußerungen und Werken immer als der anerkannt ist, der er war: so mögen wir getrost des Glaubens leben, daß, sollte es auch itzt und inskünftige Menschen geben, welche das Werk des Erlösers für ein den Absichten Gottes widersprechendes böses Werk halten und Alles, was sich aus den Worten und Thaten des Erlösers den Menschen in das Herz geprägt hat, so darstellen, als könne es von einem bösen Geiste herrühren: so wird das doch immer ebenso vergeblich sein wie damals. Fragen wir nun aber, wie kamen denn die dazu, welche, wie man aus der Erzählung schließen möchte, dem Erlöser ausdrücklich von Jerusalem entgegengereist waren, um ihn zu beobachten, wie kamen sie doch zu einem solchen Verdacht, oder wenn sie es selbst nicht glaubten dazu, ihn den Menschen so darzustellen? Es war doch, wenn wir es recht erwägen, nichts Anderes als der blinde Eifer für dasjenige, wovon sie glaubten, daß es ihnen von Gott anvertraut war; es war nichts als derselbe blinde Eifer, wodurch sie ihn auch in die Leiden und den Tod führten, wenn sie sagten, es mag mit diesem Menschen sein wie es will, aber er habe es doch nicht in seiner Gewalt, die Bewegungen des Volkes, welche er errege, zu leiten, und dann würden die Römer kommen und ihnen ihr Land und ihre Leute nehmen; darum sei es besser, daß Einer untergehe für das Volk, und so beschlossen sie seinen Tod ohne Ueberzeugung von seiner Schuld, sondern nur um dem, was | sie für die natürliche Folge seiner Lehre und seiner Wirksamkeit hielten, ein Ende zu machen. Ueberlegen wir denn auf diese Weise, m. g. Fr., wohin der blinde und falsche Eifer führen kann: so werden wir wol sagen müssen, es gebe für alle diejenigen, denen in der That das Heil der Menschen am Herzen liegt, und 31–35 Vgl. Joh 11,47–50

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die so weit gediehen sind, daß sie es suchen und wollen, daß sie ihm ihre Kräfte und ihr Leben widmen, für die gebe es nichts Verkehrteres, vor dem sie sich hüten müssen, als einen solchen blinden Eifer. So wie wir uns das recht einprägen, daraus sei alles Verkennen des Erlösers, alle Feindschaft gegen ihn hervorgegangen: so werden wir sagen, selbst indem wir sein Werk treiben, daß wir in Gefahr sind, sobald wir sein Werk zu befördern meinen durch solchen Eifer, die Kräfte, die in seinem Dienste thätig sein wollen, zu lähmen, das was einig sein soll zu stören und also unter das Urtheil des Erlösers zu fallen, wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Und wenn wir auf die innere Geschichte der christlichen Kirche sehen, gleichviel ob auf die in alter Zeit oder auf das, was in neuer Zeit geschieht: so werden wir bald einsehen, daß ein solcher blinder Eifer überall auf die nachtheiligste Weise gewirkt habe, und daß gar Viele, welche mit wahrem Eifer die Sache des Erlösers fördern wollten, oft so angesehen und behandelt sind wie der Erlöser selbst hier. Das ist es ja, was er selbst oft den Seinigen vorhergesagt hat, indem er sagt, den Jüngern wird es nicht besser ergehen als dem Meister; haben sie mich gehaßt, so werden sie auch euch hassen, haben sie mich verfolgt, werden sie euch auch verfolgen. Darum, m. g. Fr., so wie einer anfängt um solcher geistlichen Dinge willen ein Gegenstand des Hasses und der Ver | folgung zu werden, und wenn wir auch selbst geneigt wären, darin mit einzustimmen: so sollen wir uns von Stund an nicht nur zurückhalten, sondern er soll uns ein heiliger Gegenstand werden, ein solcher, dem wir uns mit großer Umsicht und Vorsicht nahen, den wir suchen von allen Seiten unbefangen zu betrachten, ehe wir es wagen, eine Hand gegen ihn auszustrecken, es soll uns gleichsam in den Sinn kommen, was der Erlöser vorhergesagt, und sollen uns fragen, ist es nicht doch vielleicht ein Jünger, welcher gehaßt und verfolgt wird wie der Meister; ist nicht unter denen, die ihn im Namen des Erlösers verfolgen und gleichsam aus Liebe zum Erlöser, doch ein solcher blinder Eifer, wie er in den Schriftgelehrten war, die ja auch um des Gesetzes und der göttlichen Ordnung willen den Erlöser verfolgten? Und wenn der Geist der Liebe so in uns die Oberhand gewinnt und unser Auge Licht geworden ist durch die Kraft der Liebe: dann werden wir auch immer mehr erleuchtet werden, auch in dem, was wir für falsch und verkehrt halten, die Spuren der Wahrheit aufzusuchen, und nur indem wir diese hervorsuchen und beleuchten, können wir einen rechten und aufrichtigen Streit führen gegen das Falsche, was sich damit vermischt. Und so werden wir denn in der Art, wie der Erlöser mit seinen Gegnern hier verfuhr, auch das beste Vorbild erkennen, wie auch wir zu verfahren haben. 26 und] elliptisch zu ergänzen wir 9 Mt 12,30; Lk 11,23

16–18 Vgl. Joh 15,20.18

32 Vgl. Mt 6,22; Lk 11,33

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Es wäre nämlich, m. Fr., sehr verkehrt, wenn wir glauben wollten, aus diesen Worten des Erlösers eine Einsicht zu gewinnen in den Zusammenhang und das ganze Getriebe des Reiches des Bösen und der dunkeln und finsteren Mächte, von denen hier die Rede ist; denn der Erlöser thut hier nichts Anderes als daß er von den Voraussetzungen, welche die Schriftgelehrten machten, ausgeht, und ihnen nun zeigt, daß das, was sie von ihm aussagten, mit ihren eigenen Voraussetzungen im Widerspruch stehe; denn indem sie sagten, er habe den Beelzebub, den Obersten der bösen Geister, und mit dessen | Hülfe treibe er die anderen bösen Geister aus: so dachten sie sich das freilich als ein Reich, wo Viele Einem untergeordnet sind; und indem sie doch zusammengehörten und Eins waren: so dachten sie es sich als ein Haus, als eine Familie, als eine Verbindung von vielen zusammengehörigen Wesen gleicher Abstammung, und so sagt er, von dieser Voraussetzung aus wäre ja das nicht möglich, daß der Satan so sich könne wider sich selbst setzen, und die, welche ihm angehörten, die Glieder seines Hauswesens, seines Reiches zerstören; denn auf diese Weise könne kein Hauswesen und kein Reich bestehen. Das also, was sie sagten, sei, so wie sie es sagten, nicht denkbar, es könne also auch keine Wahrheit darin sein, sondern es sei nur eine Ausgeburt ihres Hasses und blinden Eifers, was er zwar nicht ausdrücklich sagt, sondern was sie selbst und die ihm zuhörten errathen sollten. Wenn wir also hier Aufschluß suchten über das Reich des Bösen aus dem, was der Erlöser selbst sagt: so würde das vergeblich sein; denn die Rede des Erlösers ist dazu nicht angethan. Aber wir sollen auch solchen Aufschluß gar nicht bedürfen; denn er wird uns ja überall dargestellt als der, welcher dem Teufel die Macht genommen und sein Reich zerstört hat, und es wird gesagt, daß er nun gebunden ist, und nicht mehr schalten und walten kann in dem Reiche Gottes; und wenn wir also in das Reich des Sohnes versetzt sind: so kann uns Alles jenes, wie viel oder wenig Wahrheit daran sein mag, wie viel oder wenig Gefahr der menschlichen Seele sonst oder anderwärts drohen möge, gar nicht mehr angehen, denn wir sind unter den Schutz des Herrn gestellt und haben keine Gefahr zu besorgen von jenen dunklen Mächten; sondern nur, wie der Erlöser sagt, von unserem eigenen Herzen, aus welchem arge und böse Gedanken hervorgehen, von den eitlen Dingen dieser Welt, aber nicht von | einer überweltlichen bösen Macht und Gewalt. Darum gibt es auch nicht leicht etwas Leereres, und dem Bestreben der Christen, das göttliche Wort der heiligen Schrift in sich aufzunehmen, Hinderlicheres, als wenn wir darin Aufschlüsse suchen wollen über Dinge, die uns gar nicht mehr angehen, und indem wir daran unsere 10 sind;] sind:

11 waren:] waren;

32–33 Vgl. Mt 15,19; Mk 7,21

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Zeit und Kräfte setzen, das verabsäumen, was uns von der größten Wichtigkeit sein muß. Und, m. a. Fr., wenn wir diese Rede des Erlösers genauer betrachten, worauf geht sie eigentlich hinaus? Offenbar darauf, zu zeigen, daß jene Vorstellung, als ob es ein zusammenhängendes Reich des Bösen gebe, eine ungegründete ist, so bald man etwas, was in der Welt sich ereignet, aus derselben erklären will. Und in der That gibt es auch keinen anderen wesentlichen Unterschied zwischen dem Guten und Bösen, als daß das Gute Eins ist, das Böse aber ein Mannigfaltiges, ein sich einander Entgegengesetztes. Ebendeswegen eignet sich das Erste dazu, daß es, wie der Erlöser gekommen ist, ein Reich zu gründen, ein Reich des Guten gebe, einen allgemeinen Zusammenhang des Guten, nach welchem wir Alle streben, den wir immer mehr zu entwickeln suchen und uns in denselben hineinzuleben. Aber wenn wir auf das Böse achten: so kann es uns nicht anders als so erscheinen, daß das Eine dem Andern entgegengesetzt ist, daß es einen festen Zusammenhang in demselben nicht gibt, sondern daß es sich nur in der Feindschaft gegen das Gute auf vorübergehende Weise vereinigen kann, wie es auch in den Zeiten des Erlösers geschah; denn diese seine Feinde waren herzlich feind den abgöttischen Gebräuchen, welche diejenigen hatten und übten, unter deren Gewalt sie gekommen waren; aber doch gebrauchten sie dieselben und verbanden sich mit den Obersten derselben gegen den Erlöser; und ebenso waren sie auch zum großen Theile herzlich feind der anderen freilich Jüdischen Obrigkeit aber doch von ungesetzlicher Abstammung, wie es die Familie des Herodes | war; aber dennoch vereinigten sie sich auch mit ihr gegen den Erlöser. Wie wenig diese Verbindung aber Bestand gehabt, das sehen wir in dem Verlauf der Geschichte. Und so sehen wir es auch auf einem jedem ihrer Blätter, wenn das Böse sich vereint gegen das Gute: so entsteht daraus nicht ein bleibender Verein; sondern wie es nur für einen vorübergehenden Zweck sich verbunden hatte: so geht es auch wieder aus einander. Freies und festes Zusammenhalten ist nur da, wo die Liebe ist, und wo die Liebe ist, da ist der Geist Gottes; wo aber das Böse ist, da ist auch die Selbstsucht, da ist Einer wider den Andern, und wo Einer wider den Andern ist, da ist eben kein Zusammenhang, keine Ordnung, kein Reich. Und, m. th. Fr., das ist der leichte Sieg des Guten über das Böse, daß wir es überall werden ebenso machen können in dieser Beziehung wie der Erlöser. Wenn wir uns nur in der rechten Ruhe des Gemüthes halten, in der rechten Klarheit des Geistes, wenn wir die Absicht haben, 22–24 Die Familie von Herodes Agrippa I. (gestorben 44 n. Chr.) stammte aus Idumäa und war erst durch die Heirat seines Großvaters Herodes I. des Großen (um 72–4 v. Chr.) mit Mariamne aus dem berühmten Geschlecht der Hasmonäer Mitglied der judäischen Oberschicht geworden; vgl. auch Schleiermachers Predigt am 28. Oktober 1832 über Apg 12,19–23.

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nicht nur unsere Gegner von uns zu entfernen und unschädlich zu machen, sondern, wie der Apostel sagt, alles Böse zu überwinden durch das Gute: dann werden wir überall wie der Erlöser die Widersacher seines Reiches aus dem Felde schlagen; denn überall werden wir im Stande sein, ihre Widersprüche aufzuzeigen und sie auf den Grund ihres Irrthums zurückzuführen. Der rechte Beweis der Liebe aber liegt nun darin, daß, nachdem der Erlöser ihnen gezeigt, wie wenig Haltung ihre ganze Rede habe, wie wenig es ihnen selbst Ernst mit dieser Beschuldigung sein könne, er nun noch die Warnung hinzufügt, welche den letzten Theil der verlesenen Textesworte ausmacht. Aber indem ich über diesen reden soll, befinde ich mich in großer Verlegenheit. Es ist das ein Ausspruch, welcher gar Vielen zum Anstoße gereicht hat, manche Seele ist dadurch | in Verwirrung gekommen, daß sie geglaubt hat, sie könnte ja auch wol diese Lästerung des Geistes begangen haben oder im Begriff sein sie zu begehen, und wenn doch jedes Wort der heiligen Schrift dazu beitragen soll, uns in dem rechten Frieden zu befestigen: so scheint dieses eine ganz entgegengesetzte Wirkung hervorzubringen. Es kann mir auch gar nicht in den Sinn kommen, die verschiedenen Meinungen über diesen Ausspruch des Erlösers in einer so kurzen Betrachtung auseinanderzusetzen, um mich für die eine oder die andere zu entscheiden, da ich mir auch nicht einmal dieses getrauen möchte, selbst eine feste Meinung darüber aufzustellen. Eins habe ich schon gethan bei dem Verlesen der Worte, nämlich einen Zusatz berichtigt, welchen unser Luther in seiner Uebersetzung gemacht hat, denn es heißt in derselben: „wahrlich ich sage euch, alle Sünden werden den Menschenkindern vergeben, auch die Gotteslästerung, damit sie Gott lästern; wer aber den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung ewiglich, sondern ist schuldig des ewigen Gerichts,“ es steht aber nichts von Gott in dieser Stelle des Evangeliums, sondern es steht nur da: Sünde und Lästerung, aber ohne daß von Gott ausdrücklich die Rede wäre; und freilich müßte das auch sehr befremden, wenn der Erlöser gesagt hätte, Gott lästern das könne vergeben werden, aber den heiligen Geist lästern das könne nicht vergeben werden; denn wie kann man das Beides so trennen? Aber ebenso fehlt in der Erzählung unseres Evangeliums etwas, was wir in den andern und namentlich an dieser Stelle im Matthäus finden; denn da steht deutlich gesagt: wenn jemand redet wider des Menschen Sohn, das wird ihm vergeben, wenn aber Einer redet und lästert gegen den heil. Geist, das wird ihm nicht vergeben. So unterscheidet der Erlöser also, indem er | sich selbst zurückstellt gegen den heiligen Geist. Fragen wir uns nun: war denn das, was sie da sagten, daß er 2 Vgl. Röm 12,21 22–27 Dieser Zusatz, der jeglicher textkritischer Grundlage entbehrt, findet sich bis in das 20. Jahrhundert hinein im Text der Lutherübersetzung; erst die revidierte Fassung von 1956 schied ihn aus. 33–36 Vgl. Mt 12,32; in anderem Kontext auch Lk 12,10

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mit dem Beelzebub zu schaffen habe, etwas gegen ihn oder gegen den heiligen Geist? Offenbar doch zunächst gegen ihn. Wie ist er nun dazu gekommen, zu sagen, was gegen ihn geredet sei, das könne vergeben werden, was aber gegen den heiligen Geist geredet sei, das könne nicht vergeben werden? Und so mögen wir die Sache behandeln, wie wir wollen: so stoßen wir auf Schwierigkeiten. Es hat aber damit, m. g. Fr., eben dieselbe Bewandtniß wie mit dem Vorigen. Wir würden vergeblich in der bisher betrachteten Rede des Erlösers einen Aufschluß suchen über das Reich des Bösen und den Zusammenhang und die Ordnung desselben; aber wir bedürfen dessen auch nicht, und dasselbe können wir auch hier sagen. Wir würden vergebens darnach trachten, genauer zu bestimmen, was der Erlöser hier bei den Worten gedacht, Lästerung des heiligen Geistes; sei es nun die Schuld der Art und Weise, wie die Geschichte hier erzählt ist, oder sei es Schuld der Unkunde über den Gebrauch des Ausdrucks zu der damaligen Zeit; aber wie dem auch sei, wir bedürfen des Aufschlusses auch nicht, und wenn man das bedacht hätte, so würden nicht so viele christliche Gemüther durch diese Stelle, welche doch auch zum Frieden dienen soll, in Streit und Verwirrung gerathen sein. Auf jeden Fall wird das deutlich sein, daß der Erlöser hier seine Gegner warnen will, und daß, was er Lästerung gegen den heil. Geist nennt, außerhalb seines Reiches seinen Sitz hat, daß es etwas ist, was nicht von seinen Jüngern geschehen kann, sondern nur von seinen Gegnern und Widersachern. Wir aber sind in das Reich des Sohnes versetzt, und dieses könnte ja auch nicht bestehen ebenso wenig wie das Reich des Satans, wenn das Eine sich wider das Andere setzte. Nun aber hat er den Geist ausgegossen über seine Jünger, damit er sie in alle Wahrheit leite und ihn verkläre, und es wäre ja nicht möglich, daß ein | Reich des Erlösers sein könnte, wenn der Geist gelästert würde, denn dann würde er ja mit gelästert. Warum sollen wir uns also eine große Sorge daraus erwachsen lassen, daß wir nicht genau bestimmen können, was der Erlöser hier meint? Wir haben uns nur an zweierlei dabei zu halten, einmal daran, daß wir nur recht fest eingewurzelt bleiben in das Reich des Sohnes, und sodann daß wir uns recht hingeben diesem Geist, welcher dazu wirksam ist, daß er ihn verkläret. Dann werden wir immer weiter von der Möglichkeit entfernt werden, den heiligen Geist zu lästern; aber keiner unterliegt dieser Möglichkeit, welcher in das Reich Christi eingegangen ist; denn jeder fühlt das Bedürfniß des Geistes, weil er es ist, welcher den Erlöser immer mehr verklärt. Bleiben wir also dabei, daß der Erlöser die Quelle des Lebens ist: so müssen wir ja darnach streben, daß der heilige Geist uns ihn immer mehr verkläre, und so müssen wir uns seiner Wirkung immer mehr hingeben. Und gesetzt auch es geschähe, wie ich vorher darauf aufmerksam gemacht, daß es oft geschehen, daß indem die Christen in Streit gerathen, denen 25–26 Vgl. Joh 16,13f

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Unrecht geschieht, die, was sie thun, in dem Geiste Gottes thun: so werden wir doch sagen müssen, auch durch solchen Streit wird der Geist Gottes nicht gelästert; denn wenn Einer sich dem Anderen widersetzt: so thut er es ja in der Meinung, daß der Andere gegen den Geist ist, und was er sagt oder thut, das sagt oder thut er gegen ein einzelnes Menschenkind, welches noch lange nicht des Menschen Sohn ist und noch weniger der heilige Geist, und so sind das nur Irrthümer, welche noch lange nicht das in sich schließen, was der Erlöser meint. Aber was uns zweitens in dieser Beziehung obliegt, ist dieses, daß wir, so viel wir können, auch Andere davor bewahren, daß sie nicht in dieses große Uebel fallen, den Geist Gottes zu lästern. Und wie können wir das? Offenbar nur dadurch, wenn wir uns selbst dazu verbinden, immer und | überall unser Licht leuchten zu lassen, auf daß die Menschen unsere guten Werke sehen, und wenn wir ihnen dadurch das Zeugniß abnöthigen, daß das nichts sei als eine Wirkung des Geistes Christi, als ein Abglanz von dem himmlischen Lichte, welches in ihm war, und ein geringer Antheil an dem großen Werke Gottes, zu welchem er den Grund gelegt hat. Wenn wir so uns bestreben, ihm und seinem Geiste zur Ehre zu leben, und dann auch von ihm Zeugniß zu geben, daß er die Quelle sei von Allem, was Gutes unter uns und durch uns geschieht: so werden wir die Menschen immer mehr für das göttliche Reich gewinnen, indem sie ja sehen, wie nur Gutes aus dieser Gemeinschaft der Gläubigen hervorgeht; so wird es ihnen immer mehr unmöglich werden, den Geist Gottes zu lästern, ja sie werden, wenn sie auch selbst noch unter der Herrschaft des Bösen stehen, wie wir ja lesen, daß das so oft zu den Zeiten der Apostel geschehen ist, doch müssen von dem göttlichen Geiste Zeugniß ablegen. Und auf diese Weise werden wir immer mehr aus den Menschen die Möglichkeit entfernen, in eine solche Verschuldung zu gerathen, so wie wir immer weniger Ursache haben, nach einem Reiche des Bösen zu fragen, indem wir in der Kraft und dem Schutze des Guten leben. Und so wollen wir denn immer mehr unser Bestreben ablenken von dem, was nichts mehr für uns ist; aber das fest ergreifen, wovon wir wissen, es ist die Quelle des Heils, und vergessend was hinter uns liegt, nach dem uns strecken was vor uns liegt. Amen. Lied 6.

32–33 Vgl. Phil 3,13 34 Die einzige Strophe von Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 6 (Melodie von „Nun lob, mein Seel, den Herren“) lautet: „Dein Name werd erhoben, Gott, Vater der Barmherzigkeit! Du, der mir stets von oben auf meine Bitte Kraft verleiht! Mein Wollen und Vollbringen kommt, Höchster, nur von dir; o send in allen Dingen auch ferner Hülfe mir, daß ich das Meine thue im Namen Jesu Christ, bis deines Volkes Ruhe mein Theil auf ewig ist.“

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Am 11. März 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Invocavit, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,25–26 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 2) 1832, S. 177–196, Nr. X SW II/3, 1835, S. 207–219; 21843, S. 216–228. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 289–299 Nachschrift; SN 596/5, Bl. 1r–2v; von Oppen (Fragment) Keine

Am 1. Sonntage in der Fasten, Invocavit 1832.

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Text. Lukas XXIV, 25 und 26. „Und er sprach zu ihnen: O ihr Thoren und träges Herzens, zu glauben alle dem, was die Propheten geredet haben. Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen?“ M. a. Fr. So oft wir wieder diesen Zeitabschnitt unseres kirchlichen Jahres beginnen, welcher der Betrachtung des leidenden Erlösers ganz vorzüglich gewidmet ist: so müssen wir uns immer wieder aufs neue in diese Tiefe der göttlichen Weisheit, in diese geheimnißvolle Führung unseres Geschlechts versenken, daß der Erlöser der Welt mußte den Widerspruch der Sünder erdulden und von der Hand der Sünder sterben; und unergründlich erscheint | dieser Rathschluß immer wieder aufs neue dem Gemüthe der Christen. Was können wir aber hiebei für eine bessere Anleitung haben als solche Worte wie diese, welche uns lehren, wie der Erlöser selbst, nachdem er sein Leiden hinter sich hatte, an dem ersten Tage seiner Auferstehung auf dasselbe zurükksieht. Wenn er nun sagt, Mußte nicht Christus solches alles leiden und eingehen zu seiner Herrlichkeit: so liegt ja darin das Bewußtsein einer Nothwendigkeit; es war ihm deutlich, daß es nicht anders als so 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 187: „Laß mir die Feier deiner Leiden“ (Melodie von „Die Tugend wird durchs Kreuz geübet“); Nr. 166: „Du, der Menschen Heil und Leben“ (Melodie von „Jesu, meines Lebens Leben“)

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habe sein können. Aber weder für uns noch für ihn giebt es irgend eine andere Nothwendigkeit als die des göttlichen Rathschlusses. Alles ist so wie es ist, weil es der Ewige so beschlossen hat; alles kann nicht anders sein und nicht anders gedacht werden als es ist, weil nichts werden kann als nur durch seinen Rath und Willen. Darum auf diese in dem göttlichen Rathschluß gegründete Nothwendigkeit führt uns der Erlöser in seinen Worten zurükk; das ist der Gesichtspunkt, aus welchem auch wir sein Leiden und seinen Tod betrachten sollen, denn es ist der, welchen er hier seinen entmuthigten Jüngern selbst angiebt. Nur freilich scheinen die Worte des Erlösers auch etwas anderes zu enthalten. Indem er zu seinen Jüngern sagt, Ihr Thoren und träges Herzens zu glauben alle dem, was in den Propheten gesagt ist; indem hernach noch hinzugefügt wird, nachdem er die Worte unseres Textes geredet, habe er angefangen ihnen die Schrift auszulegen, anfangend von Mose und durch alle Propheten hindurch: so kommen wir freilich gar leicht auf den Gedanken, die Nothwendigkeit des Leidens und des Todes Christi habe ihren Grund in diesen Weissagungen der Propheten. Allein, | m. g. Fr., je mehr eben alle Weissagungen, welche den Erlöser der Welt betreffen, uns als göttlichen Ursprungs gewiß sind, und wir daher glauben, daß keine solche Weissagung nach menschlichem Willen geschehen ist: um desto mehr ist es ja derselbe, von dem die Weissagung kommt, und derselbe, von dem die Erfüllung kommt. Wenn wir also sagen, darum mußte Christus also leiden, weil es also geweissagt war von den Propheten des alten Bundes, und wir wollen nun auch ohne weiteres zugeben, daß ihre Worte und Darstellungen in der That dem Erfolge ganz entsprechen, und wir Alles so finden in dem Leiden des Erlösers wie sie es geweissagt haben: so führt uns das doch nicht weiter als zu fragen, und warum mußten sie denn also von dem Herrn weissagen? Beides also die Weissagung und die Erfüllung hat nur Einen und denselben Grund. Weil es also in dem göttlichen Rathe beschlossen, weil es also der ewigen Weisheit gemäß war, darum mußte es so geschehen, und daß dem die Weissagung voranging, das war nur ein anleitendes Werk der göttlichen Liebe, zum Besten derer die mit diesen Weissagungen umgingen: aber es kann nicht den Grund in sich halten, warum es so und nicht anders geschehen ist. Darum nun, m. g. Fr., müssen wir doch bei dem anderen Worte des Herrn stehen bleiben. Nämlich wenn er sagt, Mußte nicht Christus solches leiden und in seine Herrlichkeit eingehen: so wollte er gewiß dieses Beides nicht nur neben einander stellen, sondern eine genaue Beziehung zwischen beiden wollte er aufstellen, nicht anders als wenn er gesagt hätte, Mußte nicht Christus solches leiden, um in 12–15 Vgl. Lk 24,27

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seine Herrlichkeit einzugehen? Konnte Christus anders in seine Herrlichkeit eingehen als | nachdem er gelitten hatte? Und so dekkt er uns also den göttlichen Rathschluß über sein Leiden und seinen Tod auf in dem Zusammenhange desselben mit seiner Herrlichkeit. Das sei es nun, was wir izt zum Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung machen wollen. Wir werden dazu freilich, m. a. Fr., zuerst uns die Frage beantworten müssen, worin denn nun diese Herrlichkeit des Erlösers bestehe, und dann erst die zweite Frage, wie ihn denn nun sein Leiden zu dieser Herrlichkeit geführt hat. I. Fragen wir uns also zuerst, was ist denn das für eine Herrlichkeit, von welcher der Erlöser redet, daß er in sie eingegangen sei, und daß er habe also leiden und sterben müssen, um in diese Herrlichkeit einzugehen? Diese Frage, m. a. Fr., scheint uns freilich sehr weit zu entfernen von demjenigen, was uns das nächste ist, nämlich überhaupt von diesem Schauplaze der menschlichen Dinge. Denn das ist die gewöhnliche Art, wie wir uns das Dasein des Erlösers darstellen, sein hiesiges Leben und sein Wirken, sein Leiden und Sterben als einen Zustand der Erniedrigung, sein Aufgenommenwerden in den Himmel, seinen Abschied von dieser Erde und aus dieser vergänglichen Welt als seine Erhöhung und Herrlichkeit. Allein, m. g. Fr., wenn wir es genauer betrachten, und uns nur alles desjenigen entschlagen, was nur aus einem ganz anderen Gebiet unserer Gedanken hergenommen ist, und fragen uns, was für eine Herrlichkeit hat denn der Herr dadurch gewonnen, in die er erst eingegangen wäre, daß | er nach seinem Leiden und seinem Tode den Schauplaz dieser Erde wieder verlassen hat! Wie? giebt es eine andere und größere Herrlichkeit als die einer solchen unmittelbaren Verbindung mit Gott, von welcher er ja, so lange wir ihn in seinem irdischen Leben begleiten können, das Bewußtsein nie einen einzigen Augenblikk verloren hat? Kann etwas Größeres gesagt werden von irgend einem Wesen, als daß es so Eins sei mit dem Schöpfer, mit dem ewigen Vater aller Dinge und aller Geister, als der Erlöser es von sich sagt? kann es eine größere Herrlichkeit geben als das Bewußtsein, welches ihn so ganz durchdrang, daß er nie etwas anderes that, nie etwas anderes suchte als den Willen seines Vaters im Himmel zu vollbringen, aber daß er den auch wirklich ganz vollbrachte, und in diesem Vollbringen des göttlichen Willens einer ungetrübten und durch nichts zu störenden Seligkeit genoß? 32–34 Vgl. Joh 10,30; ferner 17,11.22 mit Mt 7,21

36–37 Vgl. Joh 4,34 und 6,38 in Verbindung

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Gewiß wenn wir es so erwägen, so werden wir sagen müssen, diese Herrlichkeit des Herrn war eine unvergängliche, er hat sie nicht verloren durch sein Leben auf Erden, keine menschliche Gewalt hat sie ihm auch nur auf einen einzigen Augenblikk entziehen können, nie hat er eine Verringerung derselben erfahren weder durch innere Zustände noch durch äußere Verhältnisse, sie ist immer dieselbe gewesen und geblieben, und er konnte also nicht erst in diese Herrlichkeit eingehen. So wie wir mögen wol auch die Jünger, zu denen er diese Worte redete, zweifelhaft und bedenklich gewesen sein; aber sie können es nicht länger geblieben sein als nur wenige Stunden bis auf den späteren Abend desselben Tages. Denn als sie nun nach Jerusalem zurükkkehrten, um | seinen anderen Jüngern zu sagen, der Herr sei wahrhaft erstanden und nur noch eben mit ihnen gewandelt, da trat der Herr mitten unter sie, und da sprach er zu den Jüngern, die es nicht glauben wollten, sondern noch immer zweifelten, als sie ihn sahen, ähnliche Worte. Mußte nicht Christus also leiden, sagt er da, und sterben, und auferstehen und in seinem Namen predigen lassen Buße und Vergebung der Sünden? Können wir also wol anders, als das, was er hier sagt, Mußte nicht Christus leiden und sterben und in seine Herrlichkeit eingehen, jenem gleichstellen was er dort sagt, Mußte er nicht leiden und sterben, auferstehen und in seinem Namen predigen lassen Buße und Vergebung der Sünden? Nur bei welchem von diesen beiden sollen wir vorzüglich stehen bleiben, m. g. Fr., bei dem Auferstehen oder bei dem Predigen lassen? War das Auferstehen seine Herrlichkeit, dieses aus dem Grabe hervorgehen, um abermals menschliche Gestalt an sich zu tragen und als Mensch unter Menschen zu wandeln, mit ihnen zu reden, und Alles, was zu dem menschlichen Leben gehört, mit ihnen zu vollbringen? Was war doch dieses anders als, wie es uns auch beschrieben wird, wieder nur ein Dienst, den er seinen Jüngern leistete, daß er sich noch unter ihnen sehen ließ, und daß er mit ihnen redete von dem Reiche Gottes, ein Nachtrag, ein kurzer Nachtrag zu seinem vorigen Leben, ein wiederholter Abschied von ihnen? das kann seine Herrlichkeit nicht gewesen sein! Er führt uns also auf das Andere, daß in seinem Namen solle gepredigt werden Buße und Vergebung der Sünden allen Völkern anhebend zu Jerusalem, das ist die Herr|lichkeit, in welche er einging, und in welche er nur durch Leiden und Tod eingehen konnte. Indem nun in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden gepredigt ward allen Völkern, m. th. Fr., da ging das in Erfüllung, 21 sterben, auferstehen] sterben / auferstehen 11–16 Vgl. Lk 24,33–37

16–18 Vgl. Lk 24,46f

34–36 Vgl. Lk 24,47

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daß ihm ein Name gegeben sei, der über alle Namen ist; denn in wessen Namen ist jemals solches geschehen? und was giebt es größeres, das in Eines Namen geschehen könnte, als wenn in demselben gepredigt wird Buße, eine gänzliche Umkehrung des menschlichen Geschlechts von dem Nichtigen, Vergänglichen, Verderblichen zu dem Ewigen und Göttlichen; gepredigt Vergebung der Sünden, Aufhebung aller Entfernung der Menschen von ihrem Schöpfer und Vater, Rükkkehr derselben zur kindlichen Liebe zu ihm, freier Zugang in allen Bedürfnissen zu ihm als ihrem Vater! daß in seinem Namen gepredigt werde, und daß aus der Predigt der Glaube komme, weil was gepredigt ward, auch aus dem Glauben kam, ja das ist seine Herrlichkeit, das ist die Herrlichkeit, nach welcher ihn verlangt hat, so lange er auf Erden lebte und wandelte, und von welcher er eben sagt, daß er doch nicht anders in dieselbe eingehen konnte als durch Leiden und Tod. Das ist seine Herrlichkeit, daß er also nicht mehr allein ein einzelner Mensch auf Erden, sondern in aller Menschen innerstem Geist und Leben lebt, wie der Apostel sagt, Was wir, die wir glauben, nun leben, das leben nicht wir, sondern das lebt Christus in uns1. Diese Verbreitung seines Lebens über das ganze menschliche Geschlecht, für welches und um dessentwillen er er|schienen ist, diese kräftige Gegenwart, welche sich über das ganze geistige Leben auf Erden erstrekkt, o! wie sollte er wol die nicht seine Herrlichkeit genannt haben, die einzige, in die er noch eingehen konnte, denn eine innere konnte aufs neue für ihn nicht entstehen, und keine größere innere Vortrefflichkeit konnte es geben, als die er von Anfang an hatte, und die er niemals verlor. Wohlan, m. th. Fr., in diese Herrlichkeit geht er noch immer ein; denn sie ist noch nicht vollendet. Immer noch muß gepredigt werden Buße und Vergebung der Sünden in seinem Namen; da wo sie schon gepredigt ist, muß diese Predigt fortgepflanzt werden von einem Geschlecht auf das andere, auf daß nie und nirgend der Mund der Menschen verstumme von Jesu zu reden, als dem Erlöser der Welt. Aber auch dahin muß diese Predigt dringen, wo sie noch nicht erschollen war; das Licht der Welt, als das er gekommen ist, muß alle noch dunkele Gegenden erhellen. Und dazu sind und werden immer wieder alle aufgefordert, welche in die Fußtapfen seiner ersten Jünger getreten, und Nachfolger derselben im Glauben geworden sind; denn es 1

Gal. 2, 20.

7 Entfernung] Entfernuug 1 Vgl. Phil 2,9

35 wieder] wie /der (Trennstrich fehlt)

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giebt keinen Glauben ohne Predigt, wie es keine Predigt giebt ohne Glauben. Müssen wir also alle auf der einen Seite durch diese Herrlichkeit leben und sie mit genießen, auf der anderen Seite aber auch diese seine Herrlichkeit mit bewirken helfen: nun so muß es uns ja wol wichtig sein, daß wir den Zusammenhang recht verstehen, welchen er hier andeutet, und so lasset uns denn nach diesem in dem zweiten Theile unserer Betrachtung fragen. | 185

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II. Ja fragen wollen wir darnach, m. g. Fr., wie doch solches Leiden und solcher Tod des Erlösers die Bedingung habe sein müssen für diese seine Herrlichkeit: aber ob, ich will nicht sagen izt in dieser meiner Rede, sondern ob überhaupt jemals eine Antwort auf diese Frage wird gegeben werden, welche Alle auf gleiche Weise befriedige und in welcher sich eben dieses Geheimniß des verborgenen göttlichen Rathschlusses ganz enthülle, wer möchte das behaupten! Jeder aber höre nicht auf zu suchen und zu fragen; denn daß er eine Antwort finde für sich, die ihm genügt, in der sein Glaube ruht, das ist ja die einzige Bedingung, unter der jeder selbst auch wieder Theil nehmen kann an der Herrlichkeit des Herrn und arbeiten für die Herrlichkeit des Herrn. Wenn wir aber überlegen, m. g. Fr., wie seit so vielen Jahrhunderten schon immer gefragt worden ist nach diesem Zusammenhange, der Glaube immer hingeschaut hat auf das Kreuz Christi, das Herz immer seine Befriedigung gefunden hat in dem, der um unserer Sünde willen gestorben, und um unserer Gerechtigkeit willen auferwekket ward; aber wie doch, so innig auch das Gefühl und die innerste Herzensempfindung der Gläubigen, so fest auch und unerschütterlich der Glaube war von Anfang an, die Zungen so mannigfaltig zertheilt gewesen, die Worte so verschieden, so unverständlich dem Einen die Sprache des Andern, als ob Christus nicht wäre eine Fahne des Heils, aufgerichtet für alle Völker, sondern nur ein neuer Thurm zu Babel, an welchem sich die Sprachen der Menschen verwirren und ihre Gemein|schaft zersplittern soll: so können wir wol unmöglich anders glauben, m. g. Fr., als auf der einen Seite daß sich von jeher mancherlei Falsches und Bedenkliches in die Antworten auf diese Frage muß eingemischt haben; auf der andern Seite aber auch daß die Sache selbst etwas unerschöpfliches ist, so daß sich, wenn auch jenes alles glükklich beseitigt wäre, gar vielerlei verschiedene Versuche denken lassen, das innere Wesen dieses Zusammenhanges an den Tag zu brin23 Befriedigung] Befriedigungung 23–25 Vgl. Röm 4,25

30–32 Vgl. Gen 11,1–9

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gen. Daher Weniges wird es nur sein, was in beider Beziehung in einem so kurzen Raum wie dieser auseinandergesezt werden kann. Zuerst also lasset uns einiges beseitigen, was oft und vielfältig die Christen verleitet hat, sich diesen Zusammenhang auf andere Weise zu denken, als ihn der Erlöser konnte gemeint haben. Nur freilich wenn wir solche Warnungszeichen aufstellen wollen für die Art, wie wir unsern Glauben kund geben: so dürfen wir das nicht aus menschlicher Willkühr, so darf dabei wieder nicht die Denkungsweise, die Ansicht des Einzelnen zum Grunde liegen, sondern nur davor werden wir uns mit voller Gewißheit warnen können, was die Einheit unserer Ueberzeugung von dem Erlöser und unserer Hoffnung auf ihn stören könnte. Wenn wir nun auf das Wort des Herrn, wodurch er uns die Herrlichkeit, in welche er eingegangen ist, erklärt, näher mit einander achten, nämlich daß in seinem Namen solle gepredigt werden Buße und Vergebung der Sünden: so wird es uns gar leicht zu denken, der Zusammenhang seines Todes mit seiner Herrlichkeit bestehe darin, daß sein Tod eine unerlaßliche Bedingung der Vergebung der Sünden ist oder auch eine Bedingung des Glaubens an ihn, | welcher doch das wahre Wesen der Buße und der wahre Anfang jeder Umkehr zu dem göttlichen Leben ist. Und freilich muß das auch wahr sein, wenn es einen solchen Zusammenhang geben soll; aber nur auf eine solche Weise, wie gesagt, daß die Einheit in dem Leben und Wirken, in dem ganzen Dasein des Erlösers nicht gestört wird. Wenn wir nun so oft sagen hören, m. a. Fr., der Tod des Erlösers sei die Bedingung des Glaubens an ihn gewesen: so wird das nicht selten so dargestellt, als ob, indem er durch seinen Tod erst seine eigene Ueberzeugung von seiner Lehre recht bekräftigt habe, indem er für dieselbe gestorben sei, nun erst diese Stärke seiner eigenen Ueberzeugung der Grund unseres Glaubens werde. Wie aber, haben seine Jünger nicht schon an ihn geglaubt, während er noch unter ihnen wandelte? hat er nicht ihren Glauben anerkannt als den rechten, wahren, gottgefälligen Glauben, als einer von ihnen zu ihm sprach, Wir aber – nachdem sie nämlich ihm auseinandergesezt hatten, was die Leute von ihm sagten – wir aber haben erkannt und geglaubt, daß du wahrhaftig bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes1; erklärte nicht dieses der Erlöser so für den rechten, vollkommenen, genügenden Glauben, daß er zu dem wortführenden Jünger sprach, Simon Jonas Sohn, selig bist du! denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbaret, sondern mein Vater im Himmel. Dieses Siegel des Wohlgefallens hat er also schon damals 1

Matth. 16, 17.

14–15 Vgl. Lk 24,47

32–33 Vgl. Mt 16,13f

37–39 Mt 16,17

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auf den Glauben an ihn gedrükkt, als seine Jünger noch nichts von seinem Tode ahndeten. Ja er selbst verwies sie nicht erst auf | seinen künftigen Tod, sondern so wie ihr Glaube sich aussprach als die Erfahrung von der Mittheilung des ewigen Lebens durch ihn in seinem Leben und Wirken, so sagt der Erlöser, Das hat dir nicht Fleisch und Blut offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und auch hier, wie anders würde er seine Jünger haben schelten müssen, wenn sein Tod erst der Grund ihres Glaubens hätte sein sollen! Er schilt sie deswegen, daß sie nun aufhören wollten zu glauben, daß ihr Glaube wollte wankend werden durch seinen Tod. Denn, so sprachen sie, nachdem sie ihm erzählt hatten von dem, was sich in Jerusalem begeben, Wir aber hatten gedacht, wir hatten gehofft, er würde Israel erlösen, als ob nun ihre Hoffnung im Verlöschen gewesen wäre. Darum schalt er sie Thoren und träges Herzens. Wenn aber ihr Glaube erst seinen Grund hätte haben sollen in seinem Tode: so hätte er ja vielmehr sagen müssen, was ihr bisher von mir geglaubt, gelehrt, gedacht habt, das war Alles nur leerer Schein, das Wesen ist erst nun geworden, nachdem ich den Tod erlitten, nun bin ich erst der Gegenstand eures Glaubens geworden. Dergleichen aber hat er weder damals noch jemals zu seinen Jüngern gesagt; sondern wenn er ihnen sagt, Wenn ihr nicht mein Fleisch esset und mein Blut trinket, so habt ihr kein Leben in euch: so sagt er ihnen zugleich, Das Fleisch ist kein nüze, aber die Worte, welche ich zu euch rede, sind Geist und Leben, und er denkt bei seinem Fleische und Blute, was sie essen sollten und trinken, nicht an seinen Tod, sondern nur eben an diese innige Gemeinschaft des Lebens. Und genauer läßt sich ja diese nicht ausdrükken als so, daß seine Jünger sich von ihm nähren, daß sie | von ihm leben, von ihm durch den Glauben die Kraft eines reinen höhern Lebens empfangen sollten. Aber an eine Nothwendigkeit seines Todes in dieser Beziehung, um dieses Band des Glaubens erst anzuknüpfen, hat er niemals gedacht; und so wäre also seine eigene Predigt von sich unvollständig gewesen, und er hätte die Gelegenheit, welche seine Auferstehung ihm gegeben, um sie nach seinem Tode zu vervollständigen, auch unbenuzt gelassen, denn auch in den Tagen seiner Auferstehung hat er nichts dergleichen gesagt. Ein zweites ist dieses, wenn der Erlöser sagt, Also mußte ich leiden und sterben damit in meinem Namen Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden, und wir denken nun, sein Tod sei auf die Weise die Bedingung der Vergebung der Sünden, daß Gott ohne denselben, ohne einen solchen Tod des Erlösers, die Sünde nicht hätte 10–11 Vgl. Lk 24,17–20 11–12 Vgl. Lk 24,21 Joh 6,63 36–38 Vgl. Lk 24,46f

20–21 Joh 6,53

22–23 Vgl.

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vergeben können: wie leicht, m. g. Fr., bringt das eine unauflösliche Verwirrung in unsere Vorstellungen von dem höchsten Wesen hinein! wie müssen wir uns hüten, die Liebe unseres himmlischen Vaters und die Gerechtigkeit des ewigen Gottes als zwei so einander entgegengesezte Seiten seines Wesens anzusehen, daß die eine an sich zieht, was die andere von sich stößt, daß wenn die Liebe ihre Arme öffnet, um die verlornen Kinder zu umfangen, die Gerechtigkeit sie nur zu öffnen wüßte, um das Schwert zusammenschlagen zu lassen über dem Haupte des Sünders. Wol giebt es einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Erlösers und der Vergebung der Sünden, weil Alles auf eine unauflösliche Weise in diesem großen Werke Gottes zusammenhängt; aber wir können nur zu leicht beides auf | eine solche Weise vereinigen wollen, daß wir den festen Grund des Glaubens eher verlieren, als daß er uns dadurch sicher gestellt würde. Jesus Christus gestern und heut und in Ewigkeit derselbe, das müssen wir uns auch so denken und festhalten, Jesus Christus, schon als er lebte auf Erden, die Quelle des geistigen Lebens für alle Menschen, wie er es war so auch unmittelbar es austheilend ehe er noch für die Menschen gestorben war, unmittelbar seinen Jüngern die Augen des Geistes öffnend, daß sie die Gemeinschaft zwischen Himmel und Erde hergestellt sahen, gleichsam mit leiblichen Augen das Wohlgefallen Gottes an seinem Sohne schauen konnten; und heut nachdem er gestorben ist und auferstanden, in den Himmel aufgenommen und über den Schauplaz dieser Welt erhoben ist, derselbe, von welchem wir noch aus den Worten des Lebens, welche uns hinterlassen sind, und welche nie verstummen werden bis an das Ende der Tage, allein das Leben schöpfen können, eben so unmittelbar als ob er noch nicht gestorben wäre, nur aus diesen und ganz aus diesen. Wolan, m. th. Fr., wollen wir daher fragen: Nun gut, wie haben wir uns denn diesen Zusammenhang zwischen dem Tode des Erlösers und der Herrlichkeit, in die er eingehen sollte, zu erklären? so möchte ich zuerst sagen, daß von dem Tode des Erlösers überhaupt in dieser Beziehung gar nicht die Rede sein kann. War er ein Mensch geworden wie wir, hatte er Fleisch und Blut an sich genommen wie die Kinder: so war er auch durch sein irdisches Leben dem Tode geweiht, denn sein Leben wäre sonst nicht ein menschliches Leben gewesen, nicht das unsrige, sondern ein fremdes. Wenn also der Erlöser sagt, Mußte | nicht Christus Solches leiden und in seine Herrlichkeit eingehen: so meint er die Art und Weise seines Todes. Bei dieser gibt es nun vorzüg29 fragen:] fragen; SW II/3, S. 215: fragen, 14–15 Hebr 13,8

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lich zweierlei, was uns in Erstaunen sezt, was wir uns so gern anders denken möchten, wenn es anders hätte sein können, und wovon wir doch immer die Nothwendigkeit fühlen, daß es nicht anders habe sein dürfen als so. Das Erste, m. g. Fr., ist dieses, daß der Erlöser so zeitig wieder den Schauplaz der Erde verlassen mußte, das Andere ist dieses, daß er nicht so wie der größte Theil der Menschenkinder durch die Verwikklungen der leiblichen Natur unseres Lebens, sondern daß er durch die Hand der Sünder sterben mußte und den Missethätern beigezählt werden. Das Erste, m. g. Fr., wird wol manchmal ein Gegenstand unserer Sehnsucht, wenn wir auf den unschäzbaren aber so wenigen Blättern von dem irdischen Leben des Erlösers mit innigem Wohlgefallen verweilen. Ach, denken wir, wenn doch dieses Leben länger gewährt hätte! wenn noch mehr Worte himmlischer Weisheit aus seinem Munde gegangen wären, einige um so Manches von dem besser zu erhellen, was uns nicht in seinem vollen Lichte erscheint, andere um noch eine Menge bedeutender Fragen, welche wir immer auf den Lippen tragen, zu beantworten, und um uns immer aufs Neue in einer anderen Stellung dasselbe Bild dessen, von welchem wir unser Leben schöpfen, zu wiederholen! das, sage ich, ist wohl manchmal der Gegenstand unserer Sehnsucht: aber wenn wir es recht überlegen, wie wenig ist doch das, was uns auf den wenigen Blättern der Evangelienbücher aufbewahrt ist, selbst von diesem nur so kurzen Leben des Herrn! Wenn es nur der | Wille des Höchsten gewesen wäre, daß noch mehr hätte sollen niedergeschrieben werden von dem Leben des Erlösers: deshalb hätte er nicht nöthig gehabt länger zu leben. Denn vieles hat er noch geredet, wie sein Jünger sagt, vieles hat er noch gethan, was nicht geschrieben ist in diesem Buche: aber das Geschriebene ist doch genug um den Glauben zu erwekken und zu befestigen. Und der Erlöser selbst, wie war er, daß ich mich so ausdrükke, gleichsam ungeduldig auf seinen Tod! Ach, sprach er, ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden, und was wollte ich lieber, als daß es schon brennete1. Wann aber hat es angefangen zu brennen? Nicht eher als bis seine Jünger ausgingen, Buße und Vergebung zu predigen in seinem Namen, nicht eher als bis ihre Worte in die Herzen der Menschen drangen, und da das Bedürfniß eines neuen Lebens erregten, so daß das himmlische Feuer, welches er gebracht, nun anfangen konnte, in 1

Luk. 12, 49.

11 Blättern] Blätter 8–9 Vgl. Mk 15,28 und Lk 22,37 (darin Jes 53,12)

27–28 Vgl. Joh 21,25

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den Seelen der Menschen zu zünden. Denn was in den Gemüthern seiner Jünger schon anfing sich zu regen, so lange er noch bei ihnen war, auch das war freilich das Licht und die Wärme seines Lebens; aber es war noch nicht das Feuer, welches selbstständig für sich brennen konnte. Mehr solcher Jünger hätte der Erlöser sich erwerben können, hätte er noch länger gelebt; aber es ist gut, sprach er, daß ich hingehe, denn wenn ich nicht hingehe, so kommt der Tröster der heilige Geist nicht zu euch. Dieser war es, der das Licht sollte zum Feuer machen, und dieser konnte nicht eher kommen, als bis Christus selbst den Schauplaz dieser Erde | verlassen hatte. Jünger hätte er sich noch viele erworben, aber die Kirche, sein geistiger Leib, wäre später zum Leben geboren worden, wenn er länger gelebt hätte. Das Waizenkorn, sagt er, bleibt allein, es sei denn, daß es in die Erde gesenkt werde und ersterbe; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte1. Darum, m. th. Fr., müssen wir das irdische Leben des Erlösers so ansehen als eine Sache der Nothwendigkeit, welche nicht länger währen durfte, bis der Zwekk erreicht war. Der Säemann streut das Saamenkorn aus in die Erde, und dann geht er davon2. So war dieser himmlische Säemann, so war er gekommen und streute den Saamen des göttlichen Worts in die menschlichen Seelen; viel hat er dessen ausgestreut, in Wenigen nur hat seine Rede gefaßt, aber doch so daß er nun wieder konnte wieder durfte den Schauplaz dieser Erde verlassen, und deshalb konnte er auch länger nicht bleiben. Der Glaube war gegründet in den wenigen Gemüthern, so daß die Fülle des Geistes, die Kraft aus der Höhe sich ihrer bemächtigen konnte, und das Werk des Herrn seinen großen geschichtlichen Gang weiter geführt werden ohne dessen persönliche Nähe. Aber, m. th. Fr., das Zweite. Der Erlöser mußte sterben von der Hand der Sünder, das Erdulden ihres Widerspruchs mußte das Ziel seines irdischen Lebens sein! Warum das? warum der Heilige den Uebelthätern gleichgezählt? Warum der, welcher nie etwas anderes als Wohlthun unter den Menschen geübt hatte, zuerst verrathen von einem seiner Angehörigen und dann in dem Namen der | menschlichen Gerechtigkeit als ein Uebelthäter hingerichtet? Ja, da mögen wir wohl ausrufen, welche verborgene Tiefe der göttlichen Weisheit! Aber wenn der Herr unser Auge öffnet, so wird es uns ergehen wie jenem, von welchem erzählt wird, daß, als sich ihm Gott auf eine äußerliche 1 2

Joh. 12, 24. Mark. 4, 26.

6–8 Vgl. Joh 16,7 (darin Jes 53,12)

24–25 Vgl. Lk 24,49 30–31 Vgl. Mk 15,28 und Lk 22,37 35 Vgl. Röm 11,33 36–4 Gemeint ist Elia; vgl. 1Kön 19,11f.

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Weise offenbaren wollte, erst vielerlei andere heftigere Naturerscheinungen an ihm vorübergingen; aber er wurde inne, in diesen sei der Herr nicht, und nur in einem sanften Säuseln des Windes erkannte er die göttliche Offenbarung, so würde es auch uns in dieser Beziehung ergehen, aber umgekehrt. Wie vielerlei Gestalten des Todes giebt es nicht unter den verschiedensten Umständen, in allen Lebensaltern, plözliche, langsame, alle mild in Vergleich mit dieser: aber in keiner werden wir den Herrn erkennen als nur grade in dieser gewaltsamen, vor der wir am meisten zurükkschaudern, als nur in dieser, von der uns ein tiefes inneres Gefühl sagt, ja es muß eine Zeit kommen, wo nicht mehr der Mensch seine Hand erhebt auch in dem Namen der Gerechtigkeit gegen das Leben seines Bruders. Aber einem solchen Tode zum Opfer mußte der Fürst der Gerechtigkeit fallen. Wie? könnten wir uns ihn denken sterbend nach dem Gange der Natur, das klare Auge seines Geistes allmählig verlöschend durch Alter oder Krankheit, und das sollte nicht eine Trübung seines Begeisterung erregenden Bildes sein? Doch freilich, wie viele schönere Gestalten des Todes giebt es nicht! Wenn Einer bei vollem Bewußtsein in der Fülle seiner geistigen Kraft sich mit dem Leben verabschiedet, wer hält das nicht für ein schönes und großes Loos, wenn sich einer so weit über die gewöhnliche menschliche Schwachheit zu erheben weiß! | welch ein aufregendes Beispiel ist uns das immer! wie wohlthuend, wenn ein Mensch in dem vollen Bewußtsein seiner Liebe den Schauplaz dieser Erde verläßt, wenn wir bei der Berührung des Todes die kindliche Ergebung in den göttlichen Willen an einem frommen Gemüthe gewahr werden! Und so könnte ja wohl auch ein solcher natürlicher Tod des Erlösers doch eben so unsere Begeisterung unterhalten haben, uns eben so das Bild seines göttlichen Lebens in seinen lezten Augenblikken vergegenwärtigen, ohne daß die frevelnde Hand der Menschen dieses Leben hätte hinwegnehmen müssen. Dennoch, m. g. Fr., werden wir gestehen müssen, nur dieser Tod war der volle Ausdrukk seines Lebens, nur in diesem können wir ihn ganz wiedererkennen. Denn der Allen Vergebung bringen sollte, mußte soviel zu vergeben haben, einen solchen Schaz von Liebe mußte er ausspenden können noch in den lezten Augenblikken seines Lebens, von so vieler Feindschaft, von so bitterm Haß mußte er umgeben sein, und doch mußte sich die Kraft der göttlichen Liebe nicht im Geringsten in ihm getrübt zeigen. Ach ja, m. g. Fr., das ist der Zauber des Kreuzes! deswegen schon war es, wenn man so reden darf von einem göttlichen Rathschluß, der Mühe werth, daß Christus starb an dem Kreuze, welches 16 Begeisterung erregenden] Begeisterungerregenden 40–1 Vgl. 1Kor 1,23

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den Juden ein Aergerniß war und den Griechen eine Thorheit! Aber das Eine und das Andere wird überwunden, wenn wir anfangen in ihm die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes zu schauen, und dann wird auch grade das Kreuz des Herrn uns Allen die rechte Begeisterung des Lebens, das sicherste Zeugniß von der Fülle der Seligkeit, welche sich von ihm über uns ergießt, eben weil es der vollste Genuß, die | vollste Offenbarung der göttlichen in ihm wirkenden Liebe ist. Darum wird er uns erst an diesem Kreuze der vollkommene Abglanz der göttlichen Liebe; darum konnte er nicht eher in seinem vollen Lichte leuchten, als bis er so zum Zeichen aufgerichtet war; darum sagt er selbst, Wenn ich so werde erhöhet sein, dann werde ich sie Alle zu mir ziehen1. O selige Erfahrung aller gläubigen Gemüther, welche immer aufs neue ihren Glauben an dem Kreuz des Erlösers finden, immer da das innigste Gefühl von der göttlichen Kraft, welche in ihm lebte, immer da das vollkommenste Bewußtsein von der göttlichen Liebe, welche die Sünder zu sich rief, immer da den vollkommensten Glauben, daß ein Anderer nicht kommen könne, welcher diesen überbiete, daß kein Anderer Name sei, in welchem den Menschen Heil gegeben ist! darin ist der unmittelbarste Zusammenhang zwischen seiner Erhöhung am Kreuz und seinem Aufgehobenwerden in den Himmel. Ja, also m. g. Fr., geziemte es dem Vater, der Viele zur Seligkeit rufen wollte, daß er den Herzog der Seligkeit vollenden ließ durch Leiden des Todes; also ziemte es Jesu, daß er gekrönt wurde mit Preis und Ehre durch Leiden des Todes2. Amen. Lied 207.

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5 Lebens,] so auch SW II/3, S. 218; Textzeuge: Lebens; 2–3 Vgl. Joh 1,14 17–18 Vgl. Mt 11,3; Lk 7,19 18–19 Vgl. Apg 4,12 25 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 207: „Wir danken dir, Herr Jesu Christ“ (Melodie von „Nun laßt uns den Leib begraben“)

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Am 18. März 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Reminiscere, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 3,31–35 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 171–182, Nr. XIV; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 197. Tex t . Marcus III, 31–35 „Und es kamen seine Mutter und seine Brüder, und standen draußen, schickten zu ihm, und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter, und meine Brüder? Und er sah rings um sich auf die Jünger, die um ihn im Kreis saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder: denn wer Gottes Willen thut, der ist mein Bruder, und meine Schwester und meine Mutter.“

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M. a. Fr. Zweierlei ist es, allerdings sehr genau mit einander verbunden, was in dieser Erzählung unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Einmal erscheint uns eine gewisse Kälte und Gleichgültigkeit, mit welcher der Erlöser seine nächsten Angehörigen zu behandeln scheint; dann aber auf der anderen Seite und gleichsam im stärksten Gegensatze damit die größte Zärtlichkeit und Liebe gegen die, welche ihm durch ihre Anhänglichkeit und ihren Glauben geistig verwandt waren; und dieses beides in seinem Verhältnisse zu einander, m. g. Fr., ist gewiß für uns alle ein sehr wichtiger Gegenstand. Die | Bande der Natur, auf welchen das Bestehen des menschlichen Geschlechts auf Erden beruht, umschließen uns alle auf mannigfaltige Weise und sollen ein gemeinsames Leben herzlicher Liebe unter den Menschen hervorrufen und immer wieder erhalten. In dieses nun ist das Christenthum hineingetreten, um die Menschen zusammenzufassen zu einem neuen, nicht auf sol1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 197: „Richtet auf des Heilands Leiden“ (Melodie von „Freu dich sehr, o meine Seele“)

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chen Banden der Natur, nicht auf leiblichen Verhältnissen der Abstammung und Angehörigkeit beruhenden Leben, sondern eine auf einer geistigen Verwandtschaft, auf einer Gleichheit des geistigen Strebens, auf einem Bewußtsein desselben Mittelpunkts des neuen geistigen Lebens vereinigte Gemeinschaft unter den Menschen zu stiften; und da ist es freilich immer und überall verschieden aufgefaßt worden, wie sich beides zu einander verhält, und die Unvollkommenheit des Menschen, welche sich überall zu erkennen gibt in unserem Leben, und von der keiner frei ist, zeigt sich auch ganz vorzüglich in mancherlei Mißlauten, welche in Beziehung auf dieses Verhältniß unter den Menschen entstehen. Wenn wir nun den Erlöser in dieser Erzählung betrachten: so scheint es uns allerdings, als ob er jenes Erste ganz zurückstellte gegen das Andere, als ob er sich hier gleichsam lossagte von seiner Mutter und seinen Geschwistern, um sich ganz und gar und ausschließlich an die zu halten, welche nach seiner Weise, und so wie sie es von ihm lernten und erfuhren, den Willen seines Vaters thaten. Aber eben deswegen, weil der Gegenstand von einer so großen Wichtigkeit ist, weil wir von dem Erlöser immer voraussetzen müssen und auch nicht glauben dürfen, ihn eher zu verstehen, bis wir es gefunden haben, daß bei ihm immer die genauste Uebereinstimmung in allen verschiedenen Richtungen seines Geistes, seines Lebens und seiner Liebe zu finden ist, hier aber eine gewisse überwiegende Neigung auf die eine Seite uns entgegentritt: darum ist es wol wichtig, daß wir dieses genauer mit einander erwägen. | Wenn wir nun also zuerst auf die Art sehen, wie er hier gegen seine Mutter und gegen seine Geschwister sich äußert: so dürfen wir zweierlei nicht übersehen, einmal nämlich den Wink, den uns grade unser Evangelist in einer früheren Stelle gegeben hat, auf deren Zusammenhang mit dem heutigen Gegenstand unserer Betrachtung ich Euch damals schon hingewiesen habe, nämlich daß er sagt, die um ihn waren, d. h. seine Angehörigen, da sie hörten von der Art und Weise seines öffentlichen Lebens: so wären sie ausgegangen, um ihn zu halten, um ihn zu sich zurückzuziehen, weil sie besorgt gewesen wären, es möge durch diesen großen Andrang der Menschen, durch das Treiben und Drängen seiner Widersacher seine Natur zerrüttet werden, und davon ist nun das, was wir heute mit einander vernommen haben, die Fortsetzung. Nun kamen also seine Brüder, denn diese sind es eigentlich zunächst, und die Mutter mit ihnen, um in dieses ganze Geschäft das rechte Maß zu bringen, und wollten also den Erlöser aus seiner Lebensbahn herausziehen wenn auch nicht für immer doch für eine Zeit lang, bis sich der Sturm, der sich gegen ihn erhob, würde gelegt haben, und nun fanden sie ihn, wie das Volk ihn umgab, und da war er gewiß auch nicht müßig und stille; sondern war Volk um ihn versammelt viel oder wenig: so war er auch zum Besten desselben beschäftigt, und 25–33 Vgl. Mk 3,21 und die Predigt am 5. Februar 1832 über Mk 3,13–21

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war also in dem Lehren des Volkes begriffen, wozu das Gespräch mit den Schriftgelehrten, welches uns vorher erzählt wird, die Veranlassung wird gegeben haben, und nun schickten seine Mutter und Brüder hinein und ließen ihn rufen, mutheten ihm also zu, daß er sein Geschäft sollte unterbrechen, sich in seinem Berufe stören lassen, um zu hören, was sie an ihm hätten, und was sie von ihm begehrten. Wenn wir an die Worte des Erlösers denken, die er bei einer anderen Gelegenheit | gesagt und öfter wiederholt hat, „wer nicht um meinetwillen verläßt Vater und Mutter und Geschwister, der ist mein nicht werth,“ wenn er, sage ich, hier eben in dem Sinne dieser Worte zu handeln scheint und sich gleichsam anschickt, Mutter und Brüder hier ganz zu verlassen, auf eine gewisse Weise mit ihnen zu brechen und keine Gemeinschaft mit ihnen zu haben: so hatte das seinen nächsten Grund darin, daß sie wirklich wollten hindernd gegen seinen Beruf, gegen das Thun, wozu er von Gott bestimmt war, auftreten, und die natürliche Verbindung, in der er mit ihnen war, geltend machen, um ihn von seinem Wege ab auf einen anderen zu bringen, der ihnen besser schien. Aber das Zweite, was wir nicht übersehen dürfen, das ist dieses. Wenn nun unsere Erzählung freilich da abbricht, wo ich aufgehört habe zu lesen, und das folgende Capitel damit beginnt, „und er fing abermals an zu lehren,“ ohne einen bestimmten Zusammenhang mit dem, was in unserem Texte steht: so würden wir doch ganz unrecht thun, daraus zu schließen, daß dieses in Beziehung auf das Verhältniß zu den Seinigen das vollkommene Ende gewesen sei; sondern, haben sie nur geduldig gewartet, bis seine Lehre zu Ende gewesen, und er das um ihn versammelte Volk entlassen hatte: so wird er gewiß gesucht haben, sie zu überzeugen, daß ihre Besorgniß ungegründet sei, und daß es nicht der rechte Weg ihrer Liebe sei, wenn sie ihn in seinem Beruf stören wollten. Die Erzählung aber bricht vorher ab bei der höchsten Spitze der Art, wie er sich damals ausläßt; denn was hernach vorgegangen ist zwischen ihm und seinen Angehörigen, das gehört nicht auf dieselbe Weise in sein öffentliches Leben. Wir würden also unrecht thun zu denken, daß er auf eine solche gewissermaßen harte Weise die Seinigen von sich gewiesen und ihre Bitte | weniger gehört habe, als er es doch sonst bei anderen gewissermaßen fremden Menschen thut; da würde er sich selbst ungetreu gewesen sein, und das haben wir nicht Ursach vorauszusetzen. Wenn wir aber doch von diesem Theil der Erzählung auf jene Worte des Erlösers, die eine Anweisung an seine Jünger enthielten, zurückgeführt werden, wenn es uns nicht entgehen kann, daß auch in unseren Tagen oft ein Zwiespalt eintritt zwischen den natürlichen Verhältnissen der Christen und denjenigen, welche die Art und Weise ihres Glaubens und ihr Verständ1–2 Vgl. Mk 3,22–30 19–20 Mk 4,1

8–9 Vgl. Mt 10,37 in Verbindung mit 19,29; ferner Lk 14,26

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niß des Christenthums zunächst knüpfte: so müssen wir allerdings fragen, worin denn in dieser Hinsicht die rechte Nachfolge des Erlösers besteht. Da werden wir denn wol nicht umhin können, zunächst dieses einzugestehen, daß solche Störungen, wenn sie in unseren Tagen vorfallen, doch weit mehr auf der Einbildung beruhen, als daß sie einen wahren Grund hätten, und daß diese ganze Vorschrift des Erlösers, wer nicht verläßt Vater, Mutter und Geschwister um meinetwillen, der ist mein nicht werth, allerdings eine Wahrheit ausspricht, die immer dieselbe bleibt, aber daß sie sich auf Umstände bezieht, welche nicht immer dieselben sind, und daß wir eigentlich in die Lage, diese Regel des Erlösers anzuwenden, nie kommen können. Ja, wo das Evangelium in eine neue Gegend gebracht wird, Menschen, die einen ganz anderen Glauben gehabt, oder ohne Glauben, wenn das möglich ist, gelebt haben, nun aufgefordert werden zum Glauben an den Sohn Gottes: da ist es natürlich, daß solche Spaltungen eintreten, wie es auch in der Zeit des Erlösers der Fall war; und so wie jene Worte vorzüglich auf diese Zeiten berechnet sind: so haben sie auch ihre Wahrheit nur unter ähnlichen Umständen, können nur unter ähnlichen Umständen zur Regel dienen. Aber wenn wir nun unsere Verhältnisse betrachten: so müssen wir uns in der That wundern, daß es doch so oft vorkommt, daß Christen | glauben, in einem solchen Zwiespalte zu sein. Aber was ist es doch eigentlich damit, m. g. Fr.? Sind nicht Alle, welche auf den Namen des Herrn getauft sind, auch Genossen der Gemeinschaft des Glaubens, und alle Streitigkeiten, welche unter den Christen herrschen, entstehen sie nicht immer nur über eine verschiedene Auffassung des Evangeliums, über eine verschiedene Art und Weise, es sich selbst zur Quelle des Segens zu machen für das Leben, und es sich klar zu machen für den Verstand? Wenn also auch die Verschiedenheit der Meinungen noch so groß ist: können wir sagen, daß jemals der Fall eintrete, wo wir uns dürften aufgefordert fühlen, Vater und Mutter zu verlassen, die Gemeinschaft mit ihnen abzulehnen um des Herrn willen? Und doch hören wir solche Klagen nicht selten, daß Christen meinen, beeinträchtigt zu werden in ihrem Glauben, gehemmt zu werden in den Fortschritten der Heiligung, und daß sie sich der schönsten und innigsten Bande der Natur zu entschlagen suchen und glauben, nicht nur es zu dürfen, sondern es zu müssen, um den Frieden ihres Herzens zu bewahren. Aber vergebens berufen sie sich auf das Beispiel und die Lehre des Erlösers; denn wenn wir nun fragen, worin besteht denn der Unterschied in unserem Verhältnisse zu denen, welche für uns die Nächsten sind in Beziehung auf den Glauben, mit denen wir die geheimsten Regungen unseres Herzens austauschen, welche wir in den Angelegenheiten des Glaubens gleichsam auf das halbe Wort verstehen, worin besteht denn der Unterschied in unserem Verhältnisse zu diesen und in unserem Verhältnisse zu 6–7 Vgl. Mt 10,37 in Verbindung mit 19,29; ferner Lk 14,26

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denen, mit welchen uns Gott durch die Bande der Natur verknüpft hat, welche ebenso wie wir an den Segnungen des Erlösers Theil haben, im Besitz des göttlichen Wortes, und an die Gnade des Erlösers gewiesen sind, wenn sie auch in der Art und Weise, dieses zu genießen und es zu verstehen, noch so weit von uns entfernt sind. Der Unterschied, m. g. Fr., kann doch kein anderer sein | als der, daß auf der einen Seite die Einen diejenigen sind, mit welchen wir uns verständigt haben, die Anderen aber die, mit welchen wir suchen müssen uns zu verständigen; auf der anderen Seite aber die Einen diejenigen, an welche uns Gott durch seine ursprünglichste Ordnung mit ihnen zu leben zunächst gewiesen hat, die Anderen diejenigen, welche wir uns selbst erwählt haben aus einem freien Triebe des Gemüths. Ist hier irgend eine Gelegenheit und Veranlassung zum Streit? kann hier ein wohlgeordnetes Gemüth eine Aufforderung finden, ein natürliches Band zu zerreißen? Ja, ich will auch den äußersten Fall setzen, ich will annehmen, daß die, welche uns angehören, nicht nur in der Art und Weise, die Angelegenheiten des Heils zu behandeln, sehr verschieden von uns sind, sondern daß sie auch die unsrige zu einem Gegenstande des Spottes machen – und das ist doch wol der äußerste Fall: so scheint mir das bisher Gesagte doch nicht geändert zu werden und auch nichts hinzuzukommen. Es ist das freilich eine neue verkehrte Richtung des Herzens; aber wenn wir doch alle überall daran gewiesen sind, daß wir das Böse überwinden sollen durch das Gute: so sind wir doch angewiesen, zunächst dieses zu üben an denen, welche Gott uns zunächst anvertraut hat, und da gilt es also nicht, Vater und Mutter zu verleugnen, sondern nur sich selbst zu verleugnen, damit wir nicht aus der Bahn der Liebe weichen, und wie sie auch gegen uns sich erweisen, sie als solche ansehen, mit denen wir uns zu verständigen suchen müssen, daß wir auf den Weg, welchen sie eingeschlagen haben, hingehen und die Angelegenheit des Glaubens ihnen immer wichtig erhalten und zum Gegenstande des Gespräches und der Gemeinschaft machen. Da müssen wir also sagen, wenn wir glauben in dem Fall zu sein, in welchem der Erlöser damals war, von der Regel Anwendung zu machen, die er seinen Jüngern für die damalige Zeit gegeben, wo es bei der Verkündigung unseres Evangeliums so | zuging, daß der Eine es annahm, der Andere es verwarf, und dadurch ein Zwiespalt entstand, während wir uns immer schon in der Gemeinschaft des Evangeliums befinden: so beruht das auf einem Irrthum, und dieser ist selten ein unschuldiger. Es liegt doch immer eine Härtigkeit des Herzens zum Grunde, wenn wir dahin kommen, ich will nicht sagen, die Bande der Natur zu zerreißen, aber doch zu schwächen, und uns ganz mit unserer Liebe auf die hinwenden, mit welchen wir genau in der Angelegenheit des Glaubens übereinstimmen. Denn was nun 21–22 Vgl. Röm 12,21 Mt 19,8; Mk 10,5

24 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

36–37 Vgl.

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das Verhältniß zu diesen betrifft: so war es doch auch nicht dasselbe, in welchem der Erlöser zu seinen Jüngern stand; denn die, mit welchen wir uns am Genausten über die Angelegenheiten des Glaubens und Herzens verstehen, das sind doch auch die, welchen wir am Wenigsten eigentlich leisten können; wir können eine ihnen und uns erfreuliche Gemeinschaft unterhalten, aber je mehr sie selbst das sich ebenso gut sein und sagen können, was wir ihnen: so sind wir ihnen zum Fortschritte in der Heiligung eigentlich überflüssig; und das ist auch nicht zu leugnen, sondern die Erfahrung eines Jeden wird es bestätigen. Denn wenn solche engen Kreise unter den Christen bestehen auf dem Grund einer vollkommen gleichen Ansicht des Evangeliums, auf dem Grund einer gleichen Art und Weise, sich über das Evangelium auszudrücken, und eine besondere Liebe auf diesem Grunde erwächst: so werden wir sagen müssen, daß dabei doch oft das verborgene Verderben der menschlichen Natur sein Spiel treibt, daß jeder in dem Andern sich selbst gefällt, und daß man sich mehr in dem Genusse ergeht als daß eine wahre Förderung auf dem Wege des Heils daraus entsteht. Denn wenn nur immer die zusammenhalten wollten, welche sich am Genausten verstehen und welche einerlei Fortschritte gemacht haben auf dem Wege der Heiligung: so würden sie ja die Andern verlassen und nicht wirksam sein können mit ihren Kräften auf die, welche ihrer am Meisten | bedürfen. So stand aber der Erlöser nicht zu seinen Jüngern; sondern sie bedurften seiner, und das Band zwischen ihm und ihnen war dieses, sie waren diejenigen, welche am Meisten durch ihn in den Stand gesetzt wurden, das Reich Gottes zu fördern, aber nicht die, welche ihm gleich und ähnlich gewesen wären, und auf derselben Stufe mit ihm gestanden hätten. Aber nun, m. g. Fr., lasset uns, damit wir nicht auf dieser Seite einseitig werden, das Andere überlegen, nämlich wie in der That hier ein großer Ausdruck von Zärtlichkeit, wie der Erlöser das Verhältniß zu seinen Jüngern bezeichnet, uns hier rühren muß, indem er sagt: „Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder; denn wer Gottes Willen thut, das ist mein Bruder und meine Mutter und meine Schwester.“ Ein anderer Evangelist, der uns dasselbe erzählt, hat aber hier eine scheinbare Abweichung in den Worten des Erlösers, indem er ihn sagen läßt, diejenigen, welche mein Wort hören und bewahren, das sind meine Mutter, meine Brüder und Schwestern. Nun werden wir wol darüber einig sein, m. g. Fr., daß das Eine und das Andere vollkommen dasselbige ist; denn wenn der Erlöser sagt, was das sei, den Willen seines Vaters im Himmel thun: so faßt er es immer in dem Einen zusammen, daß sie an den glauben, welchen er gesandt hat, und wenn er uns sagen will in der größten Kürze, was denn sein Wort sei und der Inbe7 können] könne 31–32 Vgl. Lk 8,19–21

33–34 Vgl. Lk 8,21

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griff seiner Lehre: so sagt er eben dieses, daß er nichts von sich selbst thue, daß seine Lehre nicht die seinige sei, sondern von seinem Vater komme; und so ist dieses beides, sein Wort hören und bewahren, und den Willen seines Vaters thun, ganz Eins und dasselbige. Und nun sagt er also, daß die Verbindung zwischen denen, welche darauf mit einander vereinigt sind, gleich stehe jeder andern auf den Banden der Natur beruhenden, ja | indem er es in demselben Augenblicke sagt, wo er sich den Wünschen der Seinigen für den Augenblick nicht fügt: so mögen wir wol sagen, er habe es darüber stellen wollen und sagen, daß das das Heiligere und Innigere sei. Und wahrlich, m. g. Fr., so müssen wir es auch finden. Das Eine ist das Werk der Natur; es hat seine Aehnlichkeit auch schon unter den unvollkommneren Geschöpfen der Erde; wenn gleich da Alles, was der Liebe ähnlich ist, nur vorübergehend zu sein scheint: so können wir doch die Aehnlichkeit nicht leugnen; aber diese geistige Liebe ist etwas Höheres, weil sie von dem Bewußtsein des höheren Lebens ausgeht, welches der Erlöser den Menschen gebracht hat. Wenn jenes das Bewußtsein der nächsten und unmittelbarsten Angehörigkeit in Beziehung auf das irdische Leben ist: so ist dieses das Bewußtsein der nächsten und unmittelbarsten Angehörigkeit in Beziehung auf das höhere Leben; und da müssen wir sagen, hat der Erlöser mit solchen zärtlichen Namen die Seinigen bezeichnet, sind sie seine Brüder und Schwestern: so müssen sie es auch unter einander sein. Und das ist auch sein Wille, es soll keine stärkere, keine heiligere Liebe geben als die, durch welche die Christen unter einander verbunden sind. Aber ihre Liebe unter einander ist nichts Anders als der Abglanz seiner Liebe zu ihnen; wodurch sind sie verbunden mit einander als durch die Liebe zu ihm, welche die Quelle des höheren geistigen Lebens ist? und wenn wir ihn herausnehmen könnten, würde es ganz zerfallen und dieser Bund nichts mehr sein. Aber eben deswegen, weil wir in diese Mitte des christlichen Lebens gestellt sind, wo uns niemand so leicht angehören kann, der nicht auch der Genosse unseres Glaubens wäre: so sind wir eben deswegen in dieser Beziehung über allen Streit erhaben. Wodurch dürfte sich die Liebe zu denen, mit welchen uns Gott durch die Natur verknüpft hat, wodurch wird sich diese am Stärksten offenbaren als dadurch, daß wir suchen, ihnen nahe | zu stehen in Beziehung auf das geistige Leben, daß sich alle natürlichen Verhältnisse verklären in dieser Gemeinschaft, daß alle leibliche Sorge, alle zärtliche Theilnahme sich in einem noch höheren Grade auf das Höhere und Ewige bezieht, und alles Irdische diesem untergeordnet ist? Wodurch würde sich denn zeigen, daß wir in der That auf eine so innige Weise als Gemeinschaft der Gläubigen unter einander verbunden sind wie der Erlöser 7 in] iu 1 Vgl. Joh 8,28; ferner 5,19

2 Vgl. Joh 7,16

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von den Seinigen sagt, als eben dadurch, daß diese Verbindung ganz und gar die Gestalt dieses natürlichen Verhältnisses annimmt, daß wir uns in der That Brüder und Schwestern werden, daß wir in allen diesen Verhältnissen uns so genau angehören, als ob wir schon durch die Bande der Natur mit einander verknüpft wären. Aber jetzt, m. g. Fr., in diesen Tagen, in denen wir besonders die Leiden des Erlösers im Gemüth tragen sollen, wie könnten wir ihn wol in diesem scheinbaren Widerspruch seiner Liebe zu denen, in welchen er im Begriff war das Wort Gottes zu befestigen, und zu denen, die ihm angehörten durch die Bande der Natur, wie können wir ihn in diesem scheinbaren Streit sehen, ohne zugleich eines seiner letzten Augenblicke zu gedenken, wo er diesen Streit gänzlich gelöst hat, wo er nämlich zu seiner Mutter sagte: siehe, das ist dein Sohn! und zu seinem Jünger, den er lieb hatte: siehe, das ist deine Mutter! wo er die zärtlichste Gemeinschaft stiftete zwischen dem Jünger, der an seiner Brust gelegen, und der Mutter, die ihn unter dem Herzen getragen hatte? So soll denn Alles nach diesem Beispiele unter den Christen geordnet werden, und kein Streit sein zwischen unseren natürlichen und geistigen Verhältnissen, und wo ein solcher sich erheben will: da müssen wir voraussetzen, daß nicht nur irgendwo sondern überall in dem einen wie in dem anderen Theile etwas von der Liebe des | Erlösers Abweichendes sei, müssen den Mißton herausziehen und gleichsam unter sein Kreuz alle menschlichen Verhältnisse so zusammenbringen, daß unser geistiges und natürliches Leben auf das Innigste verbunden sei, daß wir nicht in verschiedenen sondern in Einem Kreise leben, in welchem die natürliche und geistige Liebe Eins geworden sind dadurch, daß wir für Alle, an die uns die Natur gewiesen hat, kein größeres Heil kennen, als daß wir sie in der Gemeinschaft des geistigen Lebens festhalten, und daß diese eine ebenso innige Verbindung schließe, wie sie nur durch die Bande der Natur geschlossen werden kann. Darum ist auch das unsere große Bestimmung, daß durch das Christenthum nicht nur alle Menschen sollen Eine Heerde werden unter Einem Hirten, sondern Alle Hausgenossen, Glieder derselben Familie, und die Kraft der Liebe so groß, daß ihre Stärke überall die Menschen in dem gleichen Glauben, in der gleichen Liebe zu dem Erlöser zusammenbindet. Dazu wolle er uns denn immer mehr leiten durch die Kraft seiner Liebe unter dem Beistande seines Geistes. Amen. Lied 326.

12–14 Vgl. Joh 19,26f 30–31 Vgl. Joh 10,16 36 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 326: „Höchster Gott, wir danken dir“ (Melodie von „Liebster Jesu, wir sind hier“)

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Am 25. März 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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Oculi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 14,30–31 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 2) 1832, S. 197–214, Nr. XI Keine Drucktext Schleiermachers; Christliche Festpredigten, Bd. 2 (7. Sammlung) 1833, S. 248–268 (s. KGA III/2); Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, S. 417–429; 21843, S. 417–429. – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 184–198. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 327–336. – Kleine Schriften und Predigten, Bd. 3, ed. Gerdes u. Hirsch, 1969, S. 232–243 Keine

Am Sonntag Oculi 1832. Lied 161. 188, 1–7. Text. Johannis XIV, 30. 31: „Ich werde hinfort nicht mehr viel mit Euch reden; denn es kommt der Fürst dieser Welt, und hat nichts an mir. Aber auf daß die Welt erkenne, daß ich den Vater liebe, und ich also thue, wie mir der Vater geboten hat, stehet auf und lasset uns von hinnen gehen.“

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M. a. Fr. In unserer ersten Leidensbetrachtung haben wir uns Worte des Herrn zum Gegenstand gemacht aus den Tagen seiner Auferstehung, als Er sein Leiden hinter sich hatte, und als Sieger des Todes auf dasselbige zurükksehen konnte, und haben erwogen, wie Er damals seinen Jüngern den Zusammenhang und die Nothwendigkeit dieses göttlichen Rathschlusses aus einander gesezt hat. Die | heutigen 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 161: „An deine Leiden denken wir“ (Melodie von „Nun laßt uns den Leib begraben“); Nr. 188: „Mein Erlöser, Gottes Sohn“ (Melodie von „Christus der uns selig macht“) 9–14 Vgl. die Predigt am 11. März 1832 über Lk 24,25–26 14–2 Vgl. Joh 13,31–16,33

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Worte unsers Textes sind Worte des Erlösers mitten aus dem Zusammenhang seiner lezten Reden genommen, als Er seine Jünger auffoderte aufzustehen von dem Ort, wo sie das Mahl des Abschiedes mit ihm gehalten hatten, und als Er nun im Begriff war, mit ihnen dahin zu gehen, wo Er wußte, daß diejenigen ihn erwarteten, welche ausgesandt waren, ihn gefangen zu nehmen. Und hier, m. g. Fr., giebt Er uns nun in den Worten, die wir vernommen haben, die Ansicht zu erkennen, welche Er von dem Leiden hatte, dem er entgegen ging; indem Er nämlich sagt, es solle der Welt zur Erkenntniß davon gereichen, daß Er den Vater liebe, und daß Er also thue, wie ihm der Vater geboten hat. Daran also, daß er seinem Leiden, so wie Er es that, entgegen ging, sollten sie erkennen zuerst seinen Gehorsam gegen seinen Vater, dann aber auch, was noch mehr ist als das, den ganzen Umfang und die ganze Innigkeit seiner Liebe zu seinem Vater. Dies Beides laßt uns denn jezt zum Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung machen. I. Der Erlöser also sagt zuerst, m. a. Z., die Welt solle erkennen, daß Er also thue, wie ihm sein Vater geboten habe, und darum, sagt Er, lasset uns aufstehen und von hinnen gehen. Wie das beides mit einander zusammenhängt, das geht aus den gesammten übrigen Umständen dieser Geschichte deutlich genug hervor. Der Gehorsam nämlich kann sich zunächst und unmittelbar immer nur in demjenigen zeigen, | was man zu thun hat, nicht in demjenigen können wir ihn unmittelbar beweisen, was uns nur begegnet. Wenn also der Erlöser irgendwo, wo Er es nicht erwartete und ohne etwas davon zu wissen, von seinen Verfolgern wäre überrascht worden, wie sie wohl glaubten, daß es der Fall sein würde: so wäre ihm das nur begegnet; Er hätte nichts dabei selbst zu thun gehabt, und also hätte Er auch darin unmittelbar seinen Gehorsam nicht beweisen können. Nun aber sagt Er, Lasset uns aufstehen und von hinnen gehen; denn der kommt, der mich verräth. Aber freilich so deutlich das auf der einen Seite ist, daß, wenn die Welt an seinem Leiden erkennen sollte, daß der Erlöser thue, wie ihm sein Vater geboten habe, Er auch wirklich etwas mußte dabei zu thun haben: so voll von mancherlei Schwierigkeiten ist eben dies auf der andern Seite. Ist nicht, so fragen wir uns billig selbst, jeder Mensch von Gott seiner eigenen Sorgfalt, seinem Verstande, seiner Ueberlegung anvertraut in Beziehung auf alles, was zur Erhaltung seines Lebens und seiner Wirksamkeit gehört? Hat der Erlöser nicht deutlich genug zu erkennen gegeben an andern Orten, wie gern Er seine Wirksamkeit noch länger fortgesezt hätte, 3–4 Vgl. Joh 13,2.23

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wie schwer es ihm wurde, sich nun schon von seinen Jüngern zu trennen? wie Er wünschte wenn Er an sie gedacht, daß dieser Kelch noch diesmal wenigstens möge an ihm vorübergehen? Wenn Er also nun denen, die da kamen, ihn gefangen zu nehmen, entgegen ging, statt daß Er ihnen hätte ungehindert entgehen können: will es nicht das Ansehen gewinnen, als ob Er diese allgemeine Pflicht, daß wir uns unserm Beruf erhalten sollen, vernachlässigt hätte, welches doch Gott uns | Allen aufgelegt hat, indem er uns Rechenschaft abfordern wird nicht nur von dem, was wir wirklich gethan haben, sondern auch von der Art, wie wir uns die theure, ohnehin so kurze Zeit des irdischen Lebens aufgespart haben, um, so lange es nur gehen will, seinen Willen zu erfüllen? Will es nicht das Ansehen gewinnen, als ob der Erlöser dieses Gebot vernachlässigt habe, und also nicht so thue, wie auch ihm Gott unser Vater gebot? Daher haben denn auch, um dieser Schwierigkeit zu entgehen, viele Christen sich die Vorstellung gemacht, als ob der Erlöser unter einem andern Gesez gestanden habe als wir übrige Menschen; als ob eine dunkle Nothwendigkeit obgewaltet habe, eine nicht nur so über ihm, sondern auch gewissermaßen über seinem und unserm Vater im Himmel stehende, – denn auch dieser sei gebunden gewesen durch das große Gesez der Gerechtigkeit, der doch die Quelle aller Gerechtigkeit ist – und vermöge dieser Nothwendigkeit also habe Er so und nicht anders leiden müssen, und daher sei ohnerachtet des ganz entgegengesezten Ansehns auch dieses, daß Er selbst sich nicht länger erhalten wollen doch sein Gehorsam gewesen gegen seinen Vater. Aber auch das, m. g. Fr., bringt uns nur in neue Verlegenheit; denn es streitet ja deutlich genug damit, daß der Erlöser überall das Vorbild sein soll, dessen Fußtapfen wir nachzufolgen haben. Nun wissen wir ja auch wie Er selbst früher hin nach jenem großen Gesez gehandelt und sein Leben geschont hat, und sich mehr als einmal der Wuth seiner Feinde entzogen. Oder wie? lesen wir nicht zu verschiedenen Malen, daß das Volk ergrimmte über seine Rede und ihn steinigen wollte, und daß Er mitten | durch sie hindurch ging, und sich ihnen entzog, wenn sie sein Leben suchten? Wie leicht hätte Er sich auch diesmal seinen Feinden entziehen, und so auch hernach immer auf dieselbe Weise wie vorher handeln können! Statt dahin zu gehen, wo Judas mit seiner Schaar ihn erwartete, stand ihm jeder andere Weg offen. Er hatte mit seinen Jüngern das Passahmahl gefeiert – wie uns die andern Evangelien erzählen, obgleich wir bei dem unsrigen es nicht finden – und so waren auch die Pflichten, welche ihn in die heilige Stadt gerufen hatten, erfüllt und Er hätte können, 2–3 Vgl. Mt 26,39; Mk 14,36; Lk 22,42 30–33 Vgl. Lk 4,28–30; Joh 8,59; 10,31.39 37–39 Vgl. Mt 26,17–20; Mk 14,12–17; Lk 22,7–15

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zu einem ganz entgegengesezten Ende hinausgehend, sie jezt wieder verlassen, und wäre so auch seinen Feinden entgangen. Warum hat Er jezt ganz anders gehandelt? warum ist Er ihnen entgegen gegangen, gerade dahin wo sie ihn suchten, wo Er in ihre Gewalt fallen mußte, und also selbst einen thätigen Theil habend an dieser Entscheidung seines irdischen Lebens? Dazu, m. g. Fr., liegt nun der Schlüssel in den vorangehenden Worten des Erlösers, als Er nämlich sprach, Der Fürst dieser Welt kommt und hat nichts an mir; denn der war bisher noch nicht gekommen um etwas an ihm zu suchen. Wenn es ein wilder Auflauf des Volks gewesen war, welcher sich gegen ihn erregte, so war das eine ungesezmäßige Gewalt, welcher Er das Recht und die Pflicht hatte sich zu entziehen, wie Er denn auch that. Wenn von den Hohenpriestern oder den Mitgliedern des hohen Raths Einzelne ihre Diener aussandten um ihn zu greifen, denen hielt Er schon Stand und entzog sich ihnen nicht; aber seine Stunde war noch nicht gekommen, und darum wagten sie es nicht, ergriffen von der Gewalt seiner Rede, | Hand an ihn zu legen. Nun aber war es in der That der Fürst dieser Welt, welcher kam; es war die bestehende über alles was den Gottesdienst und das Gesez und die heilige Lehre der göttlichen Offenbarung betraf, geordnete Gewalt, welche ihn suchen ließ. Diese hatte den Beschluß gefaßt, daß Jesus von Nazareth solle gefangen genommen und vor Gericht gestellt werden; und darum eben sagt Er, Der Fürst dieser Welt kommt, aber er soll nichts an mir haben. Er soll nichts an mir haben oder er hat nichts an mir, d. h. er vermag nichts gegen mich, nämlich in der Beziehung, in welcher er ein Recht über mich hat; er vermag nichts, sofern er nur als diese Gewalt handeln will, welche die göttlichen Ordnungen und Geseze beschüzen soll. Aber wenn Er nun so gehandelt hätte, wie ich vorher sagte, und hätte sich eben diesen auch entzogen: nun wohl, so würde Er das Ansehn gehabt haben von Einem, welcher sich weigert sich zu stellen vor Gericht, sein Leben vergleichen zu lassen mit dem Gesez, unter welchem er doch steht; und gegen einen solchen hätte der Fürst dieser Welt allerdings etwas gehabt. Wie Er nun gesandt war nach seinem eigenen Zeugniß nur zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel, mithin durch die ihm gewordene Bestimmung nicht befugt war die Grenzen des Gebiets, in welchem jene Gewalt gültig war und herrschte, zu übertreten: so hätte Er sich ihr zwar für diesmal wol entziehen können; aber wohin Er auch gegangen wäre, wo Er sich auch hätte aufhalten wollen, diese 33 gehabt] gebabt 12–15 Vgl. Joh 7,32f 15 Vgl. Joh 2,4; ferner 7,6.8 bes. 53 33–34 Vgl. Mt 15,24

20–22 Vgl. Joh 11,46–57,

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Gewalt würde ihn immer gefunden haben. Daher auch die Thatsache, daß er sich den Ansprüchen derselben habe entziehen wollen, immer als ein Vorwurf auf ihm | würde lasten können; und dann hätte auch der Fürst dieser Welt in der That etwas gegen ihn gehabt. Denn diese Säule aller menschlichen Ordnung darf niemand wankend machen, auf ihr muß jedes menschliche Wohlergehen ruhen; ohne das heilige Ansehn wohlbegründeter Gewalten, ohne die Macht des Gesezes, ohne das alles andere überwältigende Gefühl, daß der sich Jeder fügen müsse, giebt es auf keine Weise ein geordnetes Leben der Menschen. Wo aber eine solche Gewalt besteht, da hat sie etwas gegen Jeden, sei er auch noch so unschuldig, welcher sich dem Recht entziehen will, das sie hat, sein Betragen zu prüfen, an seine Handlungen den Maaßstab des Gesezes zu legen und Recht zu sprechen über seine Thaten. Der Erlöser hatte das volle Bewußtsein seiner Unschuld, Er wußte auch wohl, daß seine aufgebrachten Widersacher die Macht, welche das Gesez ihnen gab, mißbrauchen würden, – denn das lag schon in jenem Beschluß, welchen sie über ihn gefaßt hatten und von dem Er Kunde hatte, wie wir aus früheren Stellen unseres Evangeliums sehen: aber davon lag die Verantwortung nicht auf ihm; seine Pflicht war, sich diesem Ansehn zu fügen und das heilige Antliz des Gesezes und derer, welche dasselbe handhaben sollten, nicht zu scheuen. Denn so, m. G., war Er unter das Gesez gethan, in diesem Sinn hatte Er sein ganzes öffentliches Leben geführt, das war der göttliche Rathschluß über ihn, der sich schon darin zu erkennen gab, daß er unter diesem Volk Gottes geboren war. Und wie nothwendig dies war, das ist wohl nicht nöthig, und würde auch dieses Ortes nicht sein aus einander zu sezen, wie richtig der Apostel Paulus es sagt in seinem Brief an die Galater, Als die | Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, unter das Gesez gethan1. In diesem Sinn hat Er beständig das Gesez befolgt, hatte sich darin unterweisen lassen in den Jahren seiner Kindheit und seines Knabenalters, wie Andere aus seinem Volk, und nach Maaßgabe als Er darin unterwiesen war, hat Er es auf das getreulichste befolgt; ja auch noch als Lehrer sagte er beständig, Er sei nicht gekommen, das Gesez aufzulösen, sondern zu erfüllen – denn Er war unter dasselbige gethan. In diesem Gehorsam hat Er sich so gehalten und so gelebt, daß Er auch ganz im Sinn und Geist seines Volks, das heißt in Beziehung auf das göttliche Gesez, nach welchem das Leben desselben geordnet war, sagen konnte, Wer unter euch kann mich einer 1

Gal. 4, 4.

17–18 Vgl. vermutlich Joh 11,53f; 12,23; 13,1 1 Joh 8,46

33–34 Vgl. Mt 5,17

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Sünde zeihen? Aber in eben diesem Gehorsam hatte Er auch alle menschlichen Sazungen, welche später diesem Gesez waren angehängt worden, hintenangestellt: denn das gehörte zu seiner Treue, die Er bewies, wie es an einem andern Ort der Schrift heißt, als ein erwachsener Sohn in dem Hause seines Vaters1, daß Er die Ordnungen seines Vaters aufrecht hielt und sich ihnen fügte als ein Beispiel für Alle, aber daß Er auch nicht gestatten konnte, daß irgend ein menschliches Ansehen sich seinem Vater gegenüber und gleich stellen wollte. Darum läßt Er eben dieses überall so stark und deutlich hervortreten, daß Er an jene Menschensazungen sich nicht gebunden hielt; und wiewohl es ihm ein leichtes gewesen wäre, auch sie zu beobachten, hat er doch, ohnerachtet Er wußte, daß Er gerade durch diese Geringschäzung den Haß der | Mächtigen auf sich zog, es sogar für seine Pflicht gehalten nicht nur für sein Recht, sich durch die Sazungen der Väter nicht einengen zu lassen und sich ihnen nicht zu fügen, auf daß das göttliche Gesez allein die Schranke und Ordnung seines Lebens sei und nicht ein menschliches Wort. In eben diesem Sinne hatte Er immer jene Mächtigen gescholten, welche die Sazungen der Menschen dem göttlichen Gesez gleich stellen wollten, hatte sie gescholten über die Last, welche sie dem Volke auflegten gegen das Gesez seines Vaters, da doch das Gesez selbst schon Last genug war, da sehr viele von den Verhältnissen nicht mehr vorhanden waren, auf welche sich jene alten Ordnungen bezogen. So hat Er sich gehalten und konnte mit Recht sagen, der Fürst dieser Welt hat keinen Theil an mir; aber damit das vollkommen sei, so konnte Er sich auch nicht der Prüfung derer, die das Gesez zu handhaben hatten, entziehen wollen. Nachdem einmal ein solcher Beschluß gegen ihn gefaßt war, konnte es ihm auch kein Gewinn sein, die Ausführung hinauszuschieben, indem Er eine Unwissenheit von dem, was gegen ihn beschlossen war, vorgab; sondern so mußte Er sich zeigen, daß, als sie nachher kamen um ihn zu greifen, Er ihnen sagen konnte, wozu sie denn diese Gewalt aufgeboten, da Er ja immer da gewesen sei um sich ihnen zu stellen. Darum war es nichts als der reine Gehorsam gegen das göttliche Gebot, daß der Erlöser aufstand denen entgegen, die gekommen waren ihn seiner Freiheit zu berauben, daß Er sich dem, was ihm bevorstand, nicht entzog, weil es eben ausging von dem Ansehn, welches auch über ihn geordnet, und unter welches auch Er menschlicher Weise und als Glied seines Volkes | gestellt war. Es würde also ganz überflüssig sein noch irgend etwas anderes hinzuzunehmen um zu erklären, wie der 1

Hebr. 3, 6.

19–20 Vgl. Lk 11,46; ferner Mt 23,4

31–32 Vgl. Mt 26,55; Mk 14,48f; Lk 22,52f

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Erlöser dies Entgegengehen als einen Gehorsam ansah, den er bewies, und wie Er sagen konnte, die Welt solle daran erkennen, daß er so thue, wie ihm der Vater geboten hat. Dieser, dachte er, hat mich unter das Gesez gestellt, ich habe das Gesez bewahret und gehalten, ich habe das Ansehn desselben geschüzt nach meinen Kräften, ich will mich nun auch jeder Prüfung desselben in dieser Beziehung hingeben.

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II. Und nun lasset uns zum zweiten Theil unserer Betrachtung übergehen und fragen, wie denn also zeigte der Erlöser eben darin auch, daß Er seinen Vater liebe? Worin, m. th. Fr., zeigt sich denn in diesem Verhältniß, welches der Erlöser hier selbst in Anspruch nimmt, außer dem Gehorsam die Liebe noch auf eine andere Weise? was ist außer dem Gehorsam das Wesen der kindlichen Liebe? denn der eigentliche, nächste, unmittelbarste Ausdrukk derselben ist ja allerdings der Gehorsam! Aber es ist wohl etwas anderes, gehorchen mit einem über die Heilsamkeit dessen, was geboten wird, nur unentschiedenen Gemüth, und gehorchen, wenn auch nicht gerade aus Furcht sondern aus wahrem treuem Gehorsam, aber doch mit einem widerstrebenden Gemüth, dessen Sinn und Lust auf etwas anderes gerichtet ist als auf das gebotene. Außer dem Gehorsam also zeigt sich auch in diesem Verhältniß die Liebe ganz vorzüglich durch das Vertrauen, durch die Zuversicht, der Wille des Vaters sei gewiß gut, er könne nichts anders | wollen als Heil und Segen; also an der frohen Zustimmung, mit welcher der Erlöser in dies Gebot seines Vaters einging, und den Weg antrat, der ihn zum Tode führte, an dieser sollte die Welt erkennen, daß er den Vater liebe. Und den ganzen Inhalt dieser Zustimmung werden wir am besten einsehen können, wenn wir zuförderst überlegen, wie der Apostel Paulus sich über den göttlichen Rathschluß des Leidens und Todes des Erlösers in Beziehung auf eben das Gesez äußert, auf welches sich ja auch diese Worte unsers Erlösers beziehen; und wenn wir uns dann von da aus noch einmal an den ganzen Zusammenhang, in welchem die Worte unsers Textes geredet wurden, erinnern. Was war nun nach dem Apostel Paulus der Rathschluß in Beziehung auf das Gesez des alten Bundes, vermöge dessen der Erlöser durch dieses Gesez und in dessen Namen leiden mußte und sterben? Dies, m. th. Fr., ist uns nicht so unmittelbar deutlich, weil jenes Gesez uns nun schon so fern liegt und uns fremd ist. Aber wenn wir uns in jene Zeit versezen, und uns in den Sinn aller derjenigen hineindenken, die auf der einen Seite mit herzlicher Treue, Liebe und Gehorsam an dem Erlöser hingen, auf der andern aber auch um so mehr dem Gesez unterthan blieben, als sie auch von ihm sahen, daß Er sich bezeigte

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als einer der unter das Gesez gethan war, und daß Er sich aus den Grenzen desselben niemals entfernte; und es soll doch auch dabei bleiben, wie der Erlöser selbst sagt, es sei ihre Bestimmung, unter alle Völker zu gehen und sie zu Jüngern zu machen, wobei sie es mit dem Gesez unmöglich genau nehmen konnten: so müssen wir fragen, | wie konnte denn dieser Uebergang zu Stande kommen? wie konnten die Jünger des Herrn, die unter dasselbige Gesez gethan waren wie Er, sich doch auf ganz andere Weise von demselben lösen als Er? Ja, wenn der Erlöser selbst es gethan hätte, wenn der ihnen mit seinem Beispiel vorangegangen wäre, wenn er öfter bezeugt und gelehrt hätte, die Zeiten des Gesezes seien vorüber, sein Maaß sei erfüllet, jezt gehe ein anderes Leben an: dann würden sie ihm freilich leicht gefolgt sein! Aber Er sollte unter das Gesez gethan sein und bleiben; sie hingegen sollten sich und alle die, welchen der Wille Gottes sollte und konnte ins Herz geschrieben werden, von diesem Bann des Gesezes lösen. Wie konnte das mit einander bestehen? das ist eben die göttliche Ordnung, von welcher der Apostel Paulus an so vielen Stellen sagt, sie sei ein Geheimniß gewesen bis auf diesen Tag, in diesen Tagen aber sei es offenbar worden1, Das ist die göttliche Ordnung, welche er uns aus der Erfahrung seines eigenen Herzens, aber indem er zugleich im Namen aller Jünger redet, so beschreibt, daß er sagt: ich bin durch das Gesez dem Gesez gestorben und bin mit Christo gekreuzigt; und was ich nun lebe, das lebe nicht ich, der alte Mensch, der auch unter das Gesez gethan war, das lebe ich nicht mehr, sondern Christus in mir2; Das war der göttliche Rathschluß in Beziehung auf dasselbe Gesez, von welchem und dessen Werkzeugen der Erlöser sagt in unserm Texte, Der Fürst der Welt kommt und hat nichts an mir. Und eben dieser göttliche Rathschluß und der Rathschluß seines Leidens | und Todes war dasselbe. Nur dadurch, daß Er durch das Gesez starb, konnten seine Jünger sich von dem Gesez los machen, indem sie nämlich ihr Leben so ganz als das seinige ansahen, als ob sie mit ihm gekreuzigt wären, und daß eben deswegen nun die Gewalt des Gesezes über sie aufgehört hätte, auf daß die Verheißung, die Gott schon vor alten Zeiten gegeben hatte, nun käme, nicht durch das zwischeneingetretene Gesez sondern durch den Glauben3, durch die lebendige Gemeinschaft mit dem, in welchem sie erkannt hatten die Herrlichkeit 1 2 3

Röm. 16, 25. Kol. 1, 26. 27. Gal. 2, 19. 20. Gal. 3, 13. 14

3–4 Vgl. Mt 28,19 14–15 Vgl. Hebr 8,10 (darin Bezug auf Jer 31,33) 35 Vgl. Gal 3,19 36–1 Vgl. Joh 1,14

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und Seligkeit des eingebornen Sohnes vom Vater. So wußte der Erlöser also, daß Er durch das Gesez fallen müsse, um die Gewalt des Gesezes zu brechen, um zu zeigen, wie wenig die wahre göttliche Gerechtigkeit aufgerichtet werden könne durch eine Ordnung, in welcher ein solcher Widerspruch möglich war zwischen dem Geist und dem Buchstaben, um dadurch zu zeigen, nun sei die Zeit des alten Bundes verflossen und diejenige gekommen, wo Gott einen neuen machen wolle, nicht mit einem einzelnen Volk sondern durch den, der von ihm dem ewigen Vater ausgegangen war, mit dem ganzen Geschlecht der Menschen. Das war der göttliche Rathschluß von jeher, nur war er verborgen; das Volk Gottes mußte zusammengehalten werden im Gehorsam und der Erkenntniß des Einen Gottes durch dies Gesez, welches wahrlich in seiner ganzen Buchstäblichkeit gefaßt ein schweres Joch war – wie sie sich ihm ja auch oft genug zu entziehen suchten und sich umwandten zum Gözendienst – aber nur durch ein solches konn|ten sie so bewahrt und rein von andern Völkern geschieden bleiben. Als aber nun die Zeit erfüllet war, und Gott seinen Sohn senden konnte, unter eben diesem Volke geboren und unter eben dies Gesez gethan; als dieser sein Werk so weit vollbracht, daß, wenn das Waizenkorn nun in die Erde bestattet wurde, es nicht anders konnte als viele Frucht bringen: nun welkte das Gesez und fiel ab, und das Ansehn desselben verlor sich mehr und mehr von einem Tage zum andern. Nun konnten die, deren Herr und Meister durch die Sazungen gestorben war, sich von denselben lösen, und den Anfang machen mit der lebendigen Freiheit der Kinder Gottes, bis unter dem verblendeten Volk die Verwirrung immer mehr zunahm, und endlich auch die äußere Stätte jenes alten Bundes verfiel, der Tempel zerstört wurde, und die Unmöglichkeit eintrat, daß das Gesez länger konnte beobachtet werden. Diesem göttlichen Rathschluß nun gehorchte der Erlöser nicht nur, sondern Er gab demselben seine ganze frohe Zustimmung und freute sich der göttlichen Weisheit, daß Er sollte für die Seinigen ein Fluch werden und den Fluch des Gesezes tragen, auf daß sie von den Banden desselben gelöst würden; und auch dieser seiner lezten Bestimmung fügte Er sich mit der freudigsten Zustimmung zu diesem verborgenen Rathschluß seines himmlischen Vaters. Wie erkennen wir dieses, m. g. Fr., wenn wir auf den ganzen Zusammenhang sehen, aus welchem die Worte unsers Textes genommen sind! Der Erlöser mußte ordentlich wie gewaltsam den Strom seiner Rede hemmen; aus einer Fülle von freundlichen tröstlichen Ver|sicherungen seiner Liebe von schönen und rührenden Darstellungen der Zukunft mußte Er sich nun plözlich herausreißen, um zu seinen Jün16–18 Vgl. Gal 4,4

19–21 Vgl. Joh 12,24

31–32 Vgl. Gal 3,13

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gern zu sagen, Jezt ist es Zeit, daß wir aufstehen und von hinnen gehen, weil der Fürst dieser Welt kommt, der nichts an mir hat, auf daß die Welt erkenne, daß ich den Vater liebe und ich also thue, wie mir der Vater geboten hat. Und als Er nun aufgestanden war, und die Stätte mit ihnen verließ, ließ Er auch gleich wieder dem Strom seiner Rede freien Lauf, und fuhr auf dieselbe Weise fort. Was hat Er nicht in dieser lezten Stunde seines Umganges mit ihnen für herrliche Worte gesprochen! wie hat Er ihnen nicht zugeredet sowol vor den Worten unsers Textes als nach denselben, um ihnen zu zeigen das herrliche der Zeit, welche nun angehen würde, wenn Er nicht mehr da wäre, sondern das Gebot seines Vaters würde erfüllt und das Ende seiner irdischen Wirksamkeit gefunden haben! wie erregte Er ihr Verlangen nach der siegreichen Kraft des Geistes, welcher über sie ausgegossen werden sollte, und von welchem Er sagt, eher könnten sie nicht in den Besiz desselben kommen, bis Er hingegangen sei; eher könnten sie sich der selbstständigen Kraft, mit der sie wirken sollten für sein Reich, nicht erfreuen; darum wäre es auch für sie gut, daß Er hinginge, abgesehen von jenem Grund der in den Verhältnissen des Gesezes lag. Denn seine Rede hatte bei ihnen gefangen, nun sollten sie sich auch frei äußern, seine Lehre entwikkeln, als seine Jünger und Diener auftreten; daher mußten sie seiner äußern Gegenwart nicht mehr bedürfen, aber des Geistes, der über sie ausgegossen war als seiner geistigen Gegenwart | wahrnehmen, und sich darin seiner in einem weit höheren Sinn erfreuen. Und wie thut Er nicht auf der andern Seite in eben dieser Rede Alles, um sie ganz und gar auf ihn selbst, auf die göttliche Kraft des ewigen Lebens, die von ihm ausging, hinzuweisen und sie eben dadurch zu lösen von jedem Vertrauen auf irgend etwas anderes, von jeder falschen Hoffnung auf irgend etwas außer ihm und vor ihm, die vielleicht noch in ihrem Herzen sein könnte. Als Er nun aufgestanden war, und die Stätte verlassen hatte in der späten Abendstunde, waren es wahrscheinlich die auf dieser lezten Wanderung sie umgebenden Gegenstände, welche die Veranlassung gaben zu jenem herrlichen Gleichniß, daß Er der Weinstok sei und sie die Reben, wie sie ganz abhängig wären von ihm, wie sie ihre Kraft nur im Zusammenhange mit ihm erhalten könnten. Wie sagt Er ihnen nicht, sie könnten keine gottgefälligen Werke thun, keine Frucht bringen als nur durch ihn! wie mahnt Er sie dadurch nicht ab von jedem falschen Vertrauen, von welchem noch Spuren in ihnen hätten übrig sein können, von jedem Vertrauen auf eben jenes alte Gesez, welches nun die Quelle des Todes für ihn wurde! wie wies Er sie ganz hin auf jenes geistige Leben, welches die menschliche Welt zu einem ganz neuen 4–6 Vgl. Joh 15,1–17,1

14–18 Vgl. Joh 16,7

33–37 Vgl. Joh 15,1–8, bes. 5

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reicheren und umfassenderen Schauplaz der göttlichen Gegenwart gestalten sollte! Und in dieser Erkenntniß, die in ihm lebte, die Er auf sie zu übertragen suchte, die Er ihnen in dieser Stunde, welche ja wohl ihnen Allen unvergeßlich bleiben mußte, so tief in das Herz redete und pflanzte, in dieser lag denn doch, sollte ich meinen, der ganze volle Erguß seiner Liebe zum Vater. Denn als dessen Eben|bild, als der Abglanz seines Wesens war Er der, als welcher Er sich ihnen zu erkennen gab; auf das, was ihm sein Vater gezeigt hatte, auf die Art, wie Er Eins war mit dem Vater, und den Vater in sich hatte, so daß dieser in ihm zu schauen war, – darauf ja wies Er sie hin als auf die Quelle ihres künftigen neuen Lebens. Und indem Er nun übersah, was aus diesem hervorgehen würde: wie leicht mußte es für ihn sein, in die Stunde seines Todes zu gehen! wie wenig mußte das für ihn sein, daß Er nun sterben, daß das Waizenkorn in die Erde gelegt werden solle, indem sein ganzes liebendes Gemüth erfüllt war von den Ahndungen der herrlichen Früchte seines Todes! Aber die Welt freilich hat dies damals nicht erkannt! das wußte Er auch wohl, und doch sprach Er, Lasset uns aufstehen und von hinnen gehn, auf daß die Welt erkenne, daß ich den Vater liebe und also thue, wie mir der Vater geboten hat! Und daß wir es erkennen, das verdanken wir denn vorzüglich, m. g. Fr., dem Jünger des Herrn, der uns allein diese köstlichen, süßen Reden des himmlischen Erlösers bewahret hat; und wohl uns, daß von ihm in diesem Sinne auch besonders wahr geworden ist, was der Erlöser in den Tagen seiner Auferstehung von ihm sagte, Wenn ich will, daß dieser bleiben soll, bis ich komme, was willst du dagegen sagen? Denn sie bleiben uns ja die Erzählungen dieses Jüngers, der an der Brust des Herrn lag, und haben von Anfang an allen Christen immer das lebendigste Bild gegeben von der vollen göttlichen Kraft, welche in dem unmittelbaren Leben mit dem Erlöser aus seinem Munde ging. Und so haben auf der | andern Seite die theuren Worte jenes andern Apostels, der ihn wahrscheinlich in seinem irdischen Leben nicht gesehen, wenigstens damals in ihm nicht den Herrn erkannt hatte, der sich nachher seines Geistes so ganz bemächtigte, von jeher den Christen den klarsten Aufschluß gegeben über den Zusammenhang des göttlichen Rathschlusses, so daß wir mit ihm über den Reichthum der Weisheit und der Erkenntniß in dieser göttlichen Führung erstaunen. Auf diesem Wege hat nun doch die Welt immer mehr erkannt, wie Christus den Vater geliebet und gethan hat, was ihm derselbe geboten hatte zu thun; und so ist die Liebe mit 7 Vgl. Hebr 1,3 8 Vgl. Joh 5,20 9 Vgl. Joh 10,30 9–10 Vgl. Joh 14,9 14–15 Vgl. Joh 12,24 25–26 Joh 21,22 27 Vgl. Joh 13,23.25; 21,20 31– 34 Gemeint ist Paulus. 35–37 Vgl. Röm 11,33

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der er uns geliebt hat bis zum Tode am Kreuz in der That nun die Quelle geworden aller wahren menschlichen Liebe zum Vater. Ja Er hat dem Vater die Kinder wieder zugeführt, Er, der Aelteste, der Erstgeborne aller Kreatur, Er, der durch Leiden des Todes mußte gekrönt werden, um den Weg der Seligkeit zu eröffnen für das ganze menschliche Geschlecht. Und so wollen denn auch wir, dieser Welt angehörig, die durch ihn beseligt ist, immer mehr erkennen lernen in seinem Thun, in seiner Liebe, in seinem Sterben die wahre Liebe zu seinem Vater und den treuen Gehorsam, in welchen beiden wir denn immer mehr durch die Kraft seines Geistes seine Nachfolger werden mögen, wir selbst und die, welche uns folgen, bis an das Ende der Tage. Amen. Lied 176.

3–4 Vgl. Kol 1,15 13 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 176: „Herr Jesu Christ, du Gotteslamm“ (Melodie von „Mir nach, spricht Christus, unser Held“ bzw. „Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt’“)

Am 1. April 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Laetare, 9 Uhr Parochialkirche zu Berlin Joh 16,32 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 2) 1832, S. 215–228, Nr. XII SW II/3, 1835, S. 220–228; 21843, S. 229–238. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 299–306 Keine Vakanzpredigt im Gnadenjahr für den verstorbenen Prediger an der Parochialkirche Friedrich Philipp Wilmsen (1770–1831)

Am Sonntag Lätare 1832. Lied 164. 202. Text. Johannis XVI, 32: „Siehe es kommt die Stunde und ist schon gekommen, daß ihr zerstreuet werdet, ein jeglicher in das Seine, und mich allein lasset; aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“

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M. a. Fr. Schon öfter in dem Laufe dieser Reden, aus deren Ende die Worte unsers Textes genommen sind, hatte der Erlöser seinen Jüngern gesagt, Er werde nun nicht viel mehr mit ihnen reden. Aber eben darum sagte Er ihnen unmittelbar vorher noch recht deutlich, die Zeit sei nun gekommen, so wie Er vom Vater ausgesandt sei in die Welt, daß Er nun auch die Welt wieder verlasse und zum Vater gehe; und zu seiner Freude hatten sie sich | freudig geäußert über diese Offenheit seiner Rede, und ihm bezeugt, ohnerachtet dessen, daß Er sie nun schon verlassen wolle und zu seinem Vater zurükkgehen, glaubten sie doch, daß Er von Gott ausgegangen sei. Wie sie also nun eben dadurch ihr festes Halten an ihm zu erkennen gaben: so brach Er gegen 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 164: „Der am Kreuz ist meine Liebe“ (Melodie von „Freu dich sehr, o meine Seele“); Nr. 202: „Voll Liebe war, o Herr, dein Leben“ (Melodie von „Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen“) 7–9 Vgl. Joh 14,30; ferner wohl 13,33; 14,19.25; 16,12.16 10–12 Vgl. Joh 16,28; ferner 16,5 13–16 Vgl. Joh 16,29f

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sie in die Worte aus, Jezt glaubet ihr; aber die Stunde kommt, und ist schon gekommen, daß ihr zerstreuet werdet, ein jeglicher in das Seine, und mich allein lasset; nun bin ich aber nicht allein, sondern der Vater ist bei mir. So lasset uns denn, wie der Erlöser sonach hier offenbar auf sein ihm so nahe bevorstehendes Leiden hinweiset, was er darüber insonderheit in diesen Worten von seinem Zustande während desselben sagt, zum Gegenstand unserer Betrachtung machen, und also mit einander reden von der Einsamkeit des Erlösers bei seinen Leiden. Er stellt sie uns selbst so dar, daß Er einsam sein werde und allein in Beziehung auf die Menschen; aber dann auch zweitens nicht allein, sondern der Vater werde bei ihm sein. Auf dies Beides also lasset uns jezt unter Gottes Seegen und Beistand unsere andächtige Aufmerksamkeit richten. I. Wenn der Erlöser, m. a. Z., zu seinen Jüngern sagt, Es kommt die Stunde, daß ihr zerstreuet werdet, ein Jeglicher in das Seine, und mich allein lasset: so dürfen wir nicht glauben, daß Er das zu ihnen sage als einen Vorwurf, den Er ihnen macht. Vielmehr stellt er es nicht einmal dar als ihre eigene That, als ob es von ihrem freien Willen abhinge; denn Er sagt, Ihr werdet zerstreuet | werden ein Jeglicher in das Seine. Und Er war so wenig gesonnen, ihnen darüber einen Vorwurf machen zu wollen, daß Er unmittelbar nach den Worten unsers Textes hinzufügt, Solches, – also mit Einschluß der Worte, die wir eben vernommen haben, – solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habet; und zugleich stellt Er sie als Theilnehmer seiner Leiden dar, In der Welt, sagt er, habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden, und nun sollt ihr Frieden haben. Indem Er ihnen also diesen nicht nur im allgemeinen verheißt, sondern ausdrükklich sagt, daß diese seine Reden die Absicht haben, ihnen den Frieden einzuflößen; so war ja auch dieses ein Wort seiner Liebe und nicht ein Wort seiner Mißbilligung. Ja, Er hat sogar auch eben dieses Zerstreutwerden seiner Jünger, wie uns derselbe Evangelist erzählt, begünstigt und beschüzt. Denn als sie kamen, um ihn gefangen zu nehmen, sprach Er zu ihnen, Suchet ihr mich, so lasset diese gehen1; und so war es denn auch freilich bei der Beschaffenheit dessen, was ihm unmittelbar bevorstand, natürlich, daß sein Zusammen1

Joh. 18, 8.

26 Welt,] so auch SW II/3, S. 221; Textzeuge: Welt 23–27 Vgl. Joh 16,33

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hang mit seinen Jüngern mußte unterbrochen werden. Von Einem unter ihnen und von seiner Mutter wird uns erzählt, daß sie unter seinem Kreuze standen: aber sie waren auch nur in seiner Nähe; an irgend einen geistigen Verkehr, irgend einen Austausch der Gedanken und Empfindungen, noch viel weniger an irgend eine Hülfe war nicht zu denken, die sie ihm hätten leisten können. Und wie Er kaum vermochte das Eine gewichtige und bedeutende Wort mit ihnen | zu reden, welches uns überliefert ist: so konnten sie auch dies nur so eben vernehmen; und nicht einmal eine Erwiderung wird uns erzählt, die sie ihm hätten geben können. Wo nun also auch die Uebrigen mögen gewesen sein, ja wenn sie auch zusammen waren: so war doch Jeder zerstreut in das Seinige, das Band ihrer bisherigen Vereinigung war zerrissen; Jeder war allein mit seinen Zweifeln, weil sie gedacht hatten, Er solle Israel erlösen, und Er ihnen nun doch nicht mit Zuversicht dazu bestimmt schien; mit seinen Besorgnissen, ob dennoch irgend wie das Werk seinen Fortgang würde finden können; mit seinem Schmerz über die plözliche, ihnen so unerwartete, aller Warnungen und Andeutungen ohnerachtet unerwartete Trennung von ihrem Herrn und Meister. – Und, m. th. Fr., wenn wir es recht erwägen, so müssen wir sagen, das war nicht einmal etwas eigenthümliches in diesem Fall; sondern es ist eine allgemeine Eigenschaft des Leidens, daß es die Menschen vereinzelt und zerstreut, Jeden in das Seinige, so wie es eine eigenthümliche Eigenschaft der Thätigkeit ist, daß sie die Menschen zusammenbringt und vereinigt. Wohl hören wir Alle immer und bei jeder einzelnen Veranlassung, die uns in dem Kreise unseres Wirkens vorkommt, nicht nur von außen als ein Wort der Ermahnung, sondern auch von innen als eine Stimme unsers Herzens das, Weinet mit den Weinenden: aber es ist auch nur ein Mitweinen, ein Mitfühlen desselben Zustandes, und nicht eigentlich eine Vereinigung. Weinet Ihr selbst: wer unter Euch könnte, würde er es auch wollen, seinen Zustand auf Andere übertragen? Aber es will auch Keiner; in jedem Augenblikke des tiefsten Schmerzes | sagen wir zu uns selbst, Keiner kann dies empfinden wie du! Keiner kann wissen, wie dein Herz zerrissen ist! Keiner kann diesen Augenblikk deines Lebens mit seinem Bewußtsein ergreifen! So ist der Schmerz immer ein Versinken des Menschen in sich selbst; und nicht viel anders ist es auch mit denen, die da weinen mit den Weinenden. Jeder hat seine Art und Weise, auch das Leiden Anderer mitzuempfinden; aber welche zarte Besorgniß verschließet so oft dennoch auch den freundlichsten und vertrautesten Mund, weil wir wol wissen, der Unterschied sei zu groß zwi1–3 Vgl. Joh 19,25−27 28 Röm 12,15

6–8 Vgl. Joh 19,26f

13–14 Vgl. Lk 24,21

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schen dem, was der Ausdrukk unserer Theilnahme ist, und dem, was der Leidende selbst empfindet. Wenn wir uns hingegen aufschließen wollen, wenn die Seele verlangt, sich Andern mitzutheilen mitten aus dem Schmerz heraus: das ist schon ein Werk der Liebe und Thätigkeit, da zerreißet die Sonne des Lebens schon den Schleier der Wolken und bricht wieder hervor. Wollen wir ein Gemüth ergreifen mitten aus dem Bewußtsein dessen was wir verloren haben: das ist schon ein Ruf aus dem Schmerz zur Thätigkeit. Wollen wir uns an Einen halten, damit beginnt schon wieder die Verbindung zur gemeinsamen Thätigkeit. Aber das konnten die Jünger, die es so deutlich vor sich sahen, der Hirte sei geschlagen und die Heerde eben dadurch schon zerstreuet, das konnten sie noch nicht empfinden, dazu mußte ihnen noch etwas anderes zu Hülfe kommen. Aber eben deswegen, weil dies des Leidens Art ist, daß es den Menschen in sich zurükkzieht, weil jedes Leiden ein solches Versinken in sich selbst ist, und nur ein solches Versinken in sich selbst ein wahres Leiden: so dürfen wir niemals lange freiwillig in diesem Zustande blei|ben. Es ist unsere Bestimmung, es ist das Wesen unserer Natur, mit Andern, durch Andere, für Andere zu leben; und so müssen wir die Bande zersprengen so bald als möglich, die uns auf uns selbst beschränken, in uns selbst gewaltsam zurükkhalten wollen; nur dann geht auch schon in dem Ruf zum Mitgefühl die erste Aeußerung der Thätigkeit, das neue Leben wieder an. Aber, m. th. Fr., wie konnte denn der Erlöser, was doch nur von seinen Jüngern galt, so allgemein ausdrükken? weil sie zerstreut wurden, jeder in das Seinige, war Er deswegen verlassen von andern Menschen? Lasset uns die verschiedenen Augenblikke zusammenfassen von da an, wo Er in der Nacht von der gegen ihn ausgesandten Schaar gefangen genommen und seiner Freiheit beraubt wurde, bis zu seinem lezten Athemzug am Kreuz: welch’ ein Gewoge von Menschen um ihn her! in keinem Augenblikk ja war Er allein! Und doch sagt Er es klar, wenn sie würden zerstreut werden, jeder in das seinige, so würden sie ihn allein lassen! mitten unter dieser Menge, unter diesem Gewühl von Menschen allein? Was heißt das, m. g. Fr.? Freilich macht es nicht die Nähe der Menschen, nicht ihre leibliche Gegenwart, daß wir nicht allein sind; es gehört dazu, daß wir von ihnen aufgefaßt werden und verstanden, daß unsere Wirksamkeit, die wir auf sie üben möchten, sich ihnen mittheile, daß es ein Leben gebe zwischen ihnen und uns. Und dieses eben hatte der Erlöser nicht in den Stunden seines Leidens. Die, welche zu ihm hinausgegangen waren in der Stille der Nacht, als gingen sie zu einem Räuber und Mörder, und welche Er erst daran erinnern mußte, wie Er täglich öf|fentlich gelehret habe im Tempel, 10–11 Vgl. Mt 26,31 (darin Sach 13,7)

39–41 Vgl. Mt 26,55; Mk 14,48f; Lk 22,52f

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die konnten ihn nicht verstehen und nichts von ihm haben. Der Hohepriester und seine Genossen, die als sie ihn fragten, ob er Christus sei und Er es bejahte, in dieser Antwort nichts anderes sahen als eine Gotteslästerung, die konnten nichts von ihm verstehen. Der heidnische Richter, wie wohlwollend er sich auch zeigte, als er sich mit ernsten Worten dem Ansinnen der Hohenpriester weigerte, war doch nicht im Stande ihn zu begreifen, als Er sagte, Er sei allerdings ein König, dazu sei Er gekommen, daß Er das Reich der Wahrheit aufrichte. Die, welche um sein Kreuz herum spotteten über das vereitelte irdische Königthum, welches die verleitete Menge ihm hatte aufdringen wollen, von dem aber seine Seele immer gleichweit entfernt gewesen war, was verstanden die von dem König der Wahrheit mit der Krone von Dornen auf seinem Haupte! So war Er denn allerdings allein; und je weniger Er verstanden wurde und aufgefaßt, um desto weiter waren auch Alle, die ihn umgaben, ausgeschlossen von aller Wirksamkeit Christi auf sie. Wohl stand ihm seine Bestimmung klar vor der Seele auch in den Stunden seines Leidens; wohl wußte Er auch damals, es sei sein erhabenes Ziel das Vollbringen des göttlichen Rathschlusses; in seiner Seele arbeitete es auch da wie immer ununterbrochen fort für das Heil der Menschen, und wie gern hätte Er sie durch die wenigen Worte, die ihm verstattet waren unter den Schmerzen zu reden, wie gern hätte Er sie zurechtgewiesen und ihnen zum Bewußtsein gebracht, ob sie nicht verständen, was sie thaten! | Solche Einsamkeit, m. th. Fr., soll und kann es nun nicht mehr geben. Damals wurde das Wort in seinem höchsten Sinne wahr, Das Licht scheint in die Finsterniß, aber die Finsterniß hat es nicht begriffen1. Es schien wohl aus ihm hervor das Licht der göttlichen Liebe, welche das Wesen seines Lebens ausmachte: aber wenn wir die beiden vertrauten Seelen ausnehmen, die unter seinem Kreuze standen, so schien es vergeblich; nirgends war ein Punkt, wo es die Finsterniß durchdringen konnte, so daß ihm von dort ein milder Widerschein davon entgegengestrahlt hätte. So soll und kann es nicht mehr sein; denn seitdem der Kampf des Lichts mit der Finsterniß auf diesem entscheidenden Punkt stand, ist auch der Sieg des Lichtes immer mehr allgemein geworden. Jezt, da wir wissen, daß wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen, Er mitten unter ihnen ist, jezt können wir nicht mehr vereinzelt da stehen, wie oft auch die Meinungen der Einzelnen sich entfernen von denen der Andern; Er ist unter uns, und 1

Joh. 1, 5.

1–4 Vgl. Mt 26,63−65; Mk 14,61−64 35–36 Vgl. Mt 18,20

7–9 Vgl. Joh 18,37

28–29 Vgl. Joh 19,25f

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an ihm verständigen wir uns immer mehr; Er ist unter uns, um die Verbreitung seines Reiches zu fördern, und unsere Theilnahme an seiner Wirksamkeit ist das unauflösbare Band, welches alle die, die das Heil unter seinem Kreuze gefunden haben, nun zum Dienste des Lichtes mit einander vereinigt. Und immer milder werden die Schatten der Finsterniß, immer weiter muß sich das Licht verbreiten, immer mehr müssen die Menschen geheiligt werden in rechter wahrer Liebe und immer inniger vereinigt | zur Wirksamkeit gegen jene Finsterniß, die damals ihren höchsten Gipfel erreicht hatte. II. Aber freilich der Erlöser konnte sich über das Allein sein in dieser Finsterniß der Welt damit trösten, daß Er doch nicht allein sei, sondern der Vater bei ihm, und das sei der zweite Gegenstand unserer Betrachtung. Aber ich bin nicht allein, sagt Er, denn der Vater ist bei mir. Dieses „bei mir“, das wissen wir wohl, war in seinem Munde, m. th. Fr., nicht ein außer ihm; es war der Ausdrukk für die innigste Verbindung, in welcher Er mit dem Vater stand, und vermöge der Er auch sagen konnte, Ich und der Vater sind Eins; vermöge der Er auch sagen konnte, Wer mich siehet, der siehet den Vater. In demselben Sinne sagt Er, werde auch in den Stunden des Leidens, die vor seiner Seele standen, der Vater bei ihm sein; von den Menschen würde Er verlassen sein und in Beziehung auf sie allein, aber ganz allein nicht, denn der Vater, sagt Er, ist bei mir. Und wie Er auch sonst dies sein Verhältniß auf mannichfaltige Weise ausdrükkt: wir können alles ins gesammt auch in diese Worte hineinbringen. Wie sagt Er nicht so bestimmt, daß Er nichts vermöge von ihm selber, sondern nur auf die Werke des Vaters sehe, und die Werke, die dieser ihm zeige, die thue Er1. Das ist die Beschreibung seiner ganzen irdischen Laufbahn, seitdem Er öffentlich aufgetreten war in der Welt; und sein Leiden, dem Er jezt entgegen|ging, lag nicht nur nicht jenseits derselben, sondern es war nur die höchste Höhe dieser Laufbahn. Wie Er izt seinen Feinden entgegenging, Er seiner Freiheit beraubt wurde, vor Gericht gestellt, das Bekenntniß der Wahrheit ablegte, zum Tode verurtheilt und ans Kreuz erhöhet wurde: so stand, wie immer in seinem Leben, so auch jezt der ewige Rathschluß seines Vaters zum Heil der Menschheit durch ihn 1

Joh. 5, 19. 20.

26–27 bestimmt, daß] so auch SW II/3, S. 225; Textzeuge: bestimmt / daß 19 Joh 10,30

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verklärt vor seiner Seele. Er wußte, daß Er dem Ziele seiner irdischen Wirksamkeit entgegen ging, Er wußte nicht nur, daß der Fürst der Welt, als er gekommen war, nichts an ihm finden konnte, sondern auch daß, wenn Er auch nun ausgestoßen wurde von der Welt, eben sein Leiden und Tod der Wendepunkt sei für das Geschikk des ganzen menschlichen Geschlechts. Ja das große Schlußwort, Es ist vollbracht, war nur der Nachklang von diesem innigen Bewußtsein des göttlichen Rathschlusses der ewigen Liebe, der durch ihn erfüllt wurde. Aber nicht nur dieses, sondern das Bei ihm sein des Vaters wurde auch eine liebevolle und daher ihm selbst erquikkliche Richtung seines Gemüthes auf das ganze Geschlecht der Menschen, wiewol dieses ihn hier nur in so widriger Gestalt umgab. Denn war der Vater bei ihm, so war ja auch das Auge bei ihm, welches die Welt erleuchtet, so waren ihm ja die Bedingungen und Geseze gegenwärtig, nach welchen unter göttlicher Vorsehung die geistige Welt geleitet wird, und seine Seele war erfüllt von Gefühlen wie die eines Vaters zu seinen Kindern, wie ja sein Vater für das Heil der verlorenen Kinder seinen Sohn dahin gab. Und so war Er auch damals wie immer der Fürsprecher der Welt bei seinem Vater; und das Gebet, „Vater vergieb ihnen, denn sie wissen | nicht was sie thun“ , war nur das Zusammenfassen dieses seines tiefen Blikks in die göttlichen Ordnungen mit dem menschlichen Geschlecht, indem nun die Zeiten der Unwissenheit vorüber sein, aber auch übersehen werden sollten, und die Menschen nun zusammengehalten werden nicht unter der Sünde, sondern im Glauben bis an das Ende der Tage. Aber der Vater konnte auch nicht bei ihm sein als nur zugleich mit dem Bewußtsein, daß er der eingeborne Sohn des Vaters sei, voller Gnade und Wahrheit. Die Stimme, die sich Andern nur bei besondern Gelegenheiten in seinem Leben hörbar machte, Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, dieselbe tönte immer in seinem Herzen, sie war sein innerstes Bewußtsein von sich selbst; und so in dieser Liebe zu ihm als dem Eingebornen war der Vater bei ihm auch in den Stunden seines Leidens. Und in diesem Bewußtsein der Liebe seines Vaters wie hätte er da noch Bedürfniß nach menschlichem Troste gehabt? nach was für Erquikkung hätte Er sich noch sehnen können aus irgend einem einzelnen menschlichen Verhältniß, während Er sich dieses seines Verhältnisses zu seinem Vater im Himmel bewußt 19 „Vater] Vater 2–3 Vgl. Joh 14,30; vgl. die Predigt am 25. März 1832 6 Joh 19,30 19– 20 Lk 23,34 22–23 Vgl. Apg 17,30 23–24 Vgl. Gal 3,22f 27–28 Vgl. Joh 1,14 29–30 Mt 3,17; vgl. ferner Mk 1,11; Lk 3,22

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war? Und, m. th. Fr., ist das nicht das Vermächtniß, das wir von ihm empfangen haben, wie Er es in seinem lezten Gebet sagt, Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die seien, die du mir gegeben hast? War Er also so bei dem Vater und der Vater bei ihm, so ist das auch sein Gebet zu seinem Vater und seine Bitte an ihn, daß, wie auch wir vielleicht zu Zeiten allein sein mögen, wie es auch um uns oft dunkel werden möge, – wie denn damals die ganze Fülle geisti|ger Dunkelheit hervortrat, von welcher die äußere Verfinsterung nur ein schwacher Wiederschein war, – wie sehr sich auch unser Leben verdunkle: das sollen wir von ihm haben, daß der Vater auch bei uns immer ist, daß wir Alles, was uns begegnet, als einen Theil hinnehmen seines Rathschlusses zum Heil der Welt. Alle, die an den Sohn glauben und sich ihm zum Dienst ergeben haben, wissen es auch, wie unscheinbar immer ihr Dasein und wie gering ihr Wirken sei: es steht doch im Zusammenhang mit den Rathschlüssen des Vaters zum Heil der Welt. Und so sollen wir immer sowol in diesem Bewußtsein leben als auch in dem andern eben so großen, daß, wenn anders Christus in uns lebt und wir in ihm, wir eben auch Theil haben an dem göttlichen Wohlgefallen, so wir anders solche sind, die durch den Glauben an ihn die Macht empfangen haben, mit ihm, dem heiligen Sohn Gottes, Kinder Gottes zu werden: so ist auch unter allen Umständen der Vater bei uns, wie er bei ihm war. Aber es ist doch, m. th. Fr., noch Eins, was wir nicht übersehen dürfen; der Vater war doch auch so bei ihm, daß ihm seine Gegenwart, seine Nähe eine tröstende war in diesem Augenblikk. War es nicht eben auch eine Fügung der göttlichen Liebe, die ihm selbst in seinen Leiden als Ausnahme von diesem großen Allein sein Einzelne zuführte, gegen die Er seine göttliche Ruhe und seine unverringerte Liebe bekunden konnte? der so oft sich an einzelne Menschen gewandt hatte mit seiner Liebe, an den wandte sich nun noch am Kreuz Einer, und bat ihn um einen Antheil an seinem Heil, und nicht vergeblich bat er! Und wenn auch allein unter Schmerzen, vermochte Er | dennoch den Jünger, den Er liebte, mit seiner Mutter unterm Kreuze stehend zu sehen, und mit ihnen einen Abschied zu machen, der Beiden ein inniges Band für ihr ganzes noch übriges Leben wurde. Ja noch mehr, woher, m. G., hätten wir denn alle diese einzelnen Nachrichten, an denen wir uns in diesen dem Leiden des Erlösers gewidme14 sei:] so auch SW II/3, S. 227; Textzeuge: sei; S. 227; Textzeuge: werden; 2–3 Vgl. Joh 17,24 Lk 23,39–43, bes. 42f

21 werden:] so auch SW II/3,

8–9 Vgl. Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23,44 32–35 Vgl. Joh 19,25–27

30–32 Vgl.

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ten Tagen so oft stärken und erbauen, woher alle die einzelnen Nachrichten von den einzelnen Begebenheiten dieses lezten Tages? Der Jünger, der unter seinem Kreuze stand, hat nicht Alles gesehen und vernommen; wie viel Alle die Andern, die zerstreut waren Jeder in das Seinige, von dem gesehen haben, was ihren Herrn und Meister betraf, das wissen wir nicht: aber Viele von denen, die damals noch Feinde des Erlösers waren, mögen späterhin erkannt und erfahren haben, was sie gethan; Vielen mag ihre Verblendung durch die Seele gegangen sein, daß sie sich auch taufen ließen auf den Namen des Herrn. Was diese damals nicht verstanden, ist ihnen hernach klar geworden; und aus wie vielen solchen Zügen mögen wohl die einzelnen Nachrichten, die wir in den Büchern der Evangelisten lesen, zusammengesezt sein! So sehr war der Erlöser also auch damals nicht allein, daß nicht selbst unter diesem Nicht verstanden werden von den Menschen, unter dieser Wuth, die sich gegen ihn erregt hatte, auch heilbringende wenn gleich noch unsichtbare Wirkungen von ihm ausgegangen wären, so daß Viele späterhin zur Einsicht in den göttlichen Rathschluß gelangten, und umwenden mußten von ihrer bisherigen Verblendung um seine Jünger zu werden, nachdem sie vorher seine Spötter gewesen waren. Und ist das nicht, m. th. Fr., die sich immer wieder erneuernde Geschichte des Reiches Gottes? Wo es sich zu verdunkeln scheint und die Macht des Bösen überhand zu nehmen, wo der Irrthum vor den Augen wie | ein Schleier liegt, daß die Sonne nicht hindurch scheint, da bereitet sich auch immer wieder Besseres vor, und mitten unter den sich streitenden Leidenschaften bricht die Wahrheit sich siegreich ihre Bahn. Haben wir nur die rechte Ueberzeugung von Gottes Weisheit und Liebe, so sehen wir, wie immer Besseres und Herrlicheres sich verbreitet, und Alles, was im Reich der Wahrheit so geschehen ist, wird uns nun eine neue Bürgschaft für einen schönen und herrlicheren Sieg. Das, m. g. Fr., das ist an uns Alle das Wort der Ermahnung des leidenden Erlösers; lasset uns, wie Er es that, nirgends wo anders hinsehen, nicht zur Rechten, nicht zur Linken, immer nur auf die Werke, die uns der Vater zeigt zu thun und wir sehen sie in seinem Sohn, wie Er in der That durch die Menschen und auf die Menschen wirkt; dann wird auch Er immer bei uns sein, und auch die Tage des Leidens und Schmerzes, auch die unvermeidlichen Kämpfe des Lebens werden uns immer mehr befestigen in dem Glauben, daß das Reich des Herrn nicht könne überwältigt werden von der Macht der Finsterniß, in dem auch in unserer Schwachheit sich bethätigenden Glauben, 23 ein] so auch SW II/3, S. 228; Textzeuge: in S. 228; Textzeuge: ist / wird

28–29 ist, wird] so auch SW II/3,

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daß denen, die ihn lieben, auch alle Dinge zum Guten dienen müssen. Amen.

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Ja, allgütiger Gott und Vater! laß auch an uns nicht vergeblich sein die Erinnerung an die Tage des Leidens deines Sohnes auf Erden; laß uns durch seinen Sieg befestigt werden in dem Glauben an dein durch ihn gegründetes ewiges Reich; laß uns immer ernster, immer ungetheilter alle unsere Kräfte deinem Dienste weihen, damit wir immer wahrnehmen das Bewußtsein deiner Gegenwart und Nähe. Darum bitten wir dich im Namen dessen, den du uns gesezt hast zur Erlösung und zur Gerechtigkeit, zur Weisheit und zur Heiligung. Amen.

1 Vgl. Röm 8,28

9–11 Vgl. 1Kor 1,30

Am 8. April 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

Judica, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 16,33 a. Autograph Schleiermachers; SN 71, Bl. 20r Texteditionen: Keine b. Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 1−20, Nr. I Texteditionen: SW II/3, 1835, S. 229−241; 21843, S. 239−251. − Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 307−317 Keine Keine

a. Autograph Schleiermachers Am Sonnt. Judica 1832

20r

Text. Joh 16,33 Der Zusammenhang mit unserm Gegenstand daß ich und so zum Vater gehe − Das Getrostsein ist der Friede ohnerachtet der Angst. Thema. Wie diese Getrostheit mit dem Leiden und Tode Christi zusammenhängt. I.

Wozu muntert er uns auf 1. Der Friede in ihm an sich nach Joh 1,14–17 Dieser ist vor und nach seinem Leiden derselbe. 2. Die Getrostheit ist die Sicherheit A. daß dieser Friede nicht verloren geht a. Nicht als unser besonderes Gut b. Nicht als Gemeinbesiz PdaraufS alle frühern PErmahnungenS B. daß sein Reich sich ausbreitet sonst wäre die Welt nicht überwunden.

II. wie ist dieses durch sein Leiden bedingt? 2 Zusammenhang] Zsmhg 2 Gegenstand] Ggstd 3 Das] Ds 5–6 Christi zusammenhängt] Xi zusammhängt 9 seinem] sm 11 A.] über der Zeile 17 sein] s.

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Predigt über Joh 16,33

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1. Durch seinen Tod überhaupt − wenn anders der Vater ihn gesendet hat und seinen Zwek erreichen muß. 2. Durch sein sich selbst hingeben. PTod und LeidenS = PAlles vorher gesehnS Keine Furcht darf uns zurükkhalten Keine Lokkung abwendig machen Sonst erkennen wir ja nicht die Herrlichkeit haben also PauchS nicht den Frieden an sich. Schluß. Wie sehr aneignen wie die Jünger. Sterben hier uns fremd. Der Streit ist an die Grenzen verbannt. In der christlichen Kirche wenn es auch Gegner giebt, sie vermögen nichts. Wenn auch Andre ein neues PGb.SPvermuthenS weil ihnen die Herrlichkeit Christi ein Aergerniß − laßt sie nur versuchen. Wenn wer glaubt verfolgt zu sein dann PwolS nur geistlicher Hochmuth.

b. Drucktext Schleiermachers 15

Am 5. Sonntage in der Fasten, Judica 1832. Lied 204. 171, 1–5.

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Text. Ev. Johannis XVI, 33. „Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, Ich habe die Welt überwunden.“ M. a. Fr. Um zu übersehen, wie diese Worte unseres Erlösers mit dem izigen Gegenstande unserer Betrachtung nämlich seinem Leiden zusammenhangen, müssen wir uns an die Verbindung erinnern, in welcher sie mit denjenigen stehen, die wir schon früher bei unseren Pas1 seinen] sn 1 überhaupt] überhpt 2 seinen] sn 3 PTod und LeidenS] PTuLeidenS oder PMitleidenS 4 PAlles vorher gesehenS] oder PUmkehr einsehenS ; nachträglich zwischen den Zeilen 5 Keine] K.e 6 Keine] K.e 7 PauchS] oder PnochS 12 PGb.S] Abkürzung wohl für PGottesbewußtseinS oder PGlaubensbekenntnißS 12 Christi] Xi 16 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 204: „Weg, Welt, mit deinen Freuden“ (Melodie von „Herzlich thut mich verlangen“); Nr. 171: „Erhabner Dulder, deine Liebe“ (Melodie von „Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen“) 23–1 Vgl. die Predigten am 25. März 1832 über Joh 14,30f und am 1. April 1832 über Joh 16,32

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sionsbetrachtungen gebraucht haben. Sie gehören eben wie jene in den ganzen Verlauf der lezten Abschiedsrede des Erlösers mit seinen Jüngern, durch welche er sie allerdings zuerst über sein frühes Hinscheiden überhaupt zu trösten sucht, indem er ihnen zeigt, daß es so gut für sie sei, und ihnen | die Verheißung gibt, daß der tröstende Geist der Wahrheit seine Stelle bei ihnen vertreten werde, durch dessen Kraft sie nach seinem Hingange würden vermögen seine Zeugen zu sein. Aber seitdem er nun mit ihnen aufgestanden war von dem lezten Mahle und ihnen gesagt hatte, Lasset uns von hinnen gehen, denn es kommt der Fürst dieser Welt und hat nichts an mir; seitdem er ihnen gesagt hatte, eben damit würde sein Zurükkgehen aus dieser Welt zu dem Vater, von welchem er gekommen sei, zusammenhangen, und ein solches würde es sein, daß sie, indem er vor den Fürsten der Welt gestellt würde, ihn würden müssen allein lassen und zerstreut werden jeder in das Seine: seitdem hat er nicht nur seinen Tod überhaupt, sondern auch die besondere Art und Weise desselben, seinen leidenden Tod, im Sinne. Und wenn er ihnen in den Worten unseres Textes sagt, Solches habe ich mit euch geredet: so meint er eben mit allen anderen aber auch vorzüglich diese seine lezte Rede. Und so lasset uns denn sehen, wie die Worte unseres Textes, welche die Ermunterung des Erlösers enthalten, daß seine Jünger sollten getrost sein, unerachtet sie würden Noth haben in der Welt, mit seinem Leiden und Tode, worauf er sie hinweist, zusammenhangen. Wir werden, m. a. Fr., zuerst zu betrachten haben, welches eigentlich der Inhalt dieser Ermunterung des Erlösers ist, Seid getrost, wenn ihr gleich in der Welt Angst habt, und dann zweitens, auf welche Weise er diese Ermunterung an seine Jünger durch bevorstehendes Leiden begründet. | I. Was nun das Erste betrifft, m. a. Fr., so sagt der Erlöser zu seinen Jüngern, Solches habe ich mit euch geredet, auf daß ihr Frieden habet in mir; und sagt ihnen, eben deswegen sollten sie ungeachtet sie in der Welt Angst haben würden, dennoch Muth fassen und getrost sein. Ehe wir also den Werth dieser seiner lezten Ermahnung gehörig schäzen können, müssen wir auf das erste Wort des Herrn zurükkgehen, Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr Frieden habet in mir. Was 2 mit seinen] mits ei nen 1–3 Vgl. Joh 13,31–16,33 4–6 Vgl. Joh 16,7 in Verbindung mit 16,13 6–8 Vgl. Apg 1,8 8–9 Vgl. Joh 14,31 in Verbindung mit 13,2 9–10 Vgl. Joh 14,31.30 11–12 Vgl. Joh 16,5 13–15 Vgl. Joh 16,32

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ist denn dieser Friede, den wir in Christo haben, an und für sich betrachtet? Friede im allgemeinen, m. g. Fr., das ist Wohlsein mit Sicherheit verbunden. Wo das erste fehlt, da ist doch in dem Menschen kein Friede, sondern ein unbefriedigtes Bestreben, sich aus einem bedürftigen, widerwärtigen Zustande herauszureißen; wo aber zwar das Wohlsein wäre, aber wir wären uns dessen nur bewußt als einer Sache des Augenblikks, und jeder nächste brächte die Gefahr mit sich, daß wir dessen verlustig gehen könnten, da wäre ebenfalls, weil die Sicherheit fehlt, auch kein Friede, sondern wir müßten beständig gerüstet sein zu dem Kampfe gegen das, was uns unser Wohlsein rauben will. Nun aber redet der Erlöser natürlicher Weise nicht von dem auf dem irdischen beruhenden Wohlsein des sinnlichen Menschen und von solcher Sicherheit, sondern von dem Frieden, welchen wir in ihm haben. Wie natürlich, m. g. Fr., führt uns nicht dieses zurükk auf jenes Bekenntniß, welches der Verfasser unseres Evangeliums an dem Anfange desselben ablegt! Denn stellt nicht auch er den Erlöser als die Quelle | des Friedens, des Wohlseins und der Sicherheit dar, indem er auch im Gegensaz zu dem Gesez von ihm sagt, Das Gesez ist durch Mosen gegeben, aber Gnade und Wahrheit ist in Christo und durch Christum geworden; aus seiner Fülle nehmen wir nun Gnade um Gnade, Wohlsein um Wohlsein, weil wir nämlich in ihm erkannt haben die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater1? Das, m. th. Fr., das ist der Friede, welchen wir in Christo haben an und für sich betrachtet. Aus seiner Fülle schöpfen, damit wir uns immer mehr Gottes und unseres eigenen Verhältnisses zu ihm bewußt werden können, so wie Er es war, und durch ihn; aus seiner Fülle schöpfen eine göttliche Mittheilung nach der andern, auf daß immer die Kraft ausgehe von dem Starken; aus seiner Fülle schöpfen eine Wahrheit um die andere, auf daß wir immer tiefer eindringen in das Innere unseres Lebens und Daseins und zu dem Bewußtsein unserer großen und seligen Bestimmung gelangen, also daß alles Andere hiergegen uns gänzlich verschwinde, außer insofern es eben mit dieser in einem natürlichen und nothwendigen Zusammenhange steht. Das, m. g. Fr., das ist der Friede, welchen wir in Christo haben sollen, das heißt vermittelt durch die Gemeinschaft des Lebens, in welcher wir mit ihm stehen können, der in seiner Einheit mit dem Vater der Grund und auch für uns die Quelle dieses Friedens ist. Aber freilich dieser Friede scheint an und für sich betrachtet unmittelbar mit dem Leiden und dem Tode des Erlösers nichts zu schaffen zu haben; vielmehr ist sein Leben, sein | 1

Joh. 1, 14–17.

18–20 Vgl. Joh 1,17

20 Vgl. Joh 1,16

21–22 Vgl. Joh 1,14

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Dasein, die Fülle der göttlichen Kraft, welche ihm einwohnt, das ist die Quelle dieses Friedens, den hatten seine Jünger in ihm und durch ihn schon vor seinem Leiden und seinem Tode, und er war und sollte und konnte nur sein eben derselbe auch nach dem Leiden und nach dem Tode des Herrn. Beides scheint also in Beziehung auf diesen Frieden keine besondere Bedeutung zu haben; ist es das Leben des Erlösers in seiner göttlichen Kraft, welches diesen Frieden bewirkt: so kann die zeitliche Gestaltung dieses Lebens, seine Länge oder Kürze, die Art wie es auf Erden zu Ende ging, damit unmittelbar nicht zusammenhängen. Wenn also doch der Erlöser in den Worten unseres Textes eben dieses Friedens gedenkt in Verbindung mit dem Zustande seiner Jünger in der Welt, den er ihnen freilich nicht anders beschreiben konnte als so, In der Welt werdet ihr Noth und Trübsal haben, aber, sagt er, da ihr zugleich den Frieden in mir habet, so seid nun getrost und fasset Muth: so ist demnach dieses Getrostsein und Muthfassen, wozu er sie hier aufrichten will, das Zusammensein des Friedens, den wir in Christo haben, mit der Noth, der Trübsal, der Angst, von welcher er seinen Jüngern sagt, daß sie sie in der Welt haben werden. So lasset uns denn zunächst fragen, was für Noth und Trübsal hatte er im Sinn, welche seine Jünger in der Welt haben werden? Da kommen uns zunächst die vielfältigen früheren Aeußerungen des Erlösers gegen seine Jünger in den Sinn. Seitdem er nämlich angefangen hatte, von seinen Leiden zu ihnen zu reden, sagte er ihnen auch, es werde in Zukunft den Jüngern nicht besser ergehen, wie es früher dem Meister ergangen sei, die Welt | hasse ihn und so werde sie auch sie hassen, die Welt werde ihn vor Gericht stellen und so würden auch sie vor Gericht gestellt werden, der Jünger, sagt er zu ihnen, kann nicht sein über seinen Meister. Das ist also der Kampf mit der Welt, auf welchen er sie vorbereitet hat, und in welchem, wie er ihnen sagt, sie immer würden Noth und Trübsal und Angst haben. Denken wir uns nun, m. a. Fr., daß wir die Fülle dieses Friedens in Christo haben, so begründet auf die lebendige Gemeinschaft des Lebens mit dem, dessen Friede ja unzerstörbar war, so unangreifbar von der Welt, wie er niemals eine Verminderung der Fülle göttlicher Kraft, welche in ihm war, erfahren konnte: so beruht freilich diese Möglichkeit, noch Angst und Noth in der Welt zu haben, nicht auf unserer Aehnlichkeit mit dem Erlöser, sondern auf unserm Unterschiede von ihm. Wenn den Jüngern nicht hätte der Gedanke einfallen können, sie könnten 15 Muth:] so auch SW II/3, S. 231; Textzeuge: Muth; 25–26 Vgl. Joh 15,18 ferner Joh 13,16; 15,20

26–27 Vgl. Mt 10,17

27–28 Vgl. Mt 10,24; Lk 6,40;

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doch wohl um diesen Frieden, welchen sie in Christo hatten, kommen: was hätte es dann je für eine Noth in der Welt für sie geben können? Aber, m. a. Fr., wollen wir uns hierüber recht verständigen: so müssen wir bedenken, es handelt sich hier nicht allein um den Frieden in Christo, den jeder Einzelne in dem Inneren seines Herzens hat; denn der Erlöser war mit seinem Herzen nicht den Einzelnen als Solchen zugewendet, der Gegenstand seiner Liebe, um dessentwillen er litt, seiner Mittheilungen und seiner Kämpfe war das ganze menschliche Geschlecht. Jeder Einzelne, der in ihm eingepflanzt war, konnte freilich eben in dem Bewußtsein seiner persönlichen Schwäche die Besorgniß hegen, es könne doch in ihm der Friede, den er in Christo habe, gestört werden, die Welt könne es | erreichen, sei es nun durch die Drohungen, welche sie ausstößt, durch die Furcht, welche sie erregt, oder sei es durch die Lokkungen, welche sie dem schwachen menschlichen Herzen vorhält; sie könne es doch wol erreichen, daß der lebendige Zusammenhang mit Christo getrübt werden könne, vermindert oder für den Augenblikk aufgehoben. Aber wenn auch die Versicherungen seiner Liebe und seines Beistandes, welche er ihnen gegeben, wenn auch die wachsende Erfahrung, welche sie machten von einem Tage zum andern, sie über diese Besorgniß ganz hätte erheben können: so war dadurch doch die Noth noch nicht besiegt, wovon der Erlöser hier redet. Er war gekommen, ein neues gemeinsames Leben zu stiften, nicht nur jeden Einzelnen mit sich zu verbinden, sondern auch Alle unter einander mit der Liebe, mit welcher er Alle geliebt hat; das ist das einige Gebot, welches er ihnen gegeben, das ist auch der Ausdrukk, und zwar allein der volle Ausdrukk des Zwekkes, den er erreichen wollte, um dessentwillen er gekommen war. Wenn nun auch der Einzelne hätte glauben können, in dem Besize des Friedens ungestört zu bleiben, wenn auch der Einzelne fühlte, wie das Band der Liebe und des Vertrauens, welches ihn mit dem Erlöser verknüpfte, sich immer enger zusammenzog in seiner Seele und diese Verbindung immer unauflöslicher wurde: so konnte doch keiner dieselbe Sicherheit haben, wenn er auf das gemeinsame Leben der Jünger des Herrn sah. Und gegen dieses richtete ja auch die Welt immer ihre Kraft; der alte Spruch, schlaget den Hirten, so wird sich die Heerde zerstreuen, war der Grund ihres Verfahrens nicht nur gegen den Erlöser, sondern auch gegen seine Jünger. Ueberall in den Zeiten | der Verfolgungen, wo sie nur irgend diejenigen herausfanden, deren Glaube die Andern stärkte, deren Wort sie zusammenhielt, an welchen die Uebrigen als an den Säulen des neuen Gebäudes am festesten hielten, war auch ihre Feindseligkeit immer vornehmlich gegen diese ge24–25 Vgl. Joh 13,34; 15,12

35–36 Vgl. Sach 13,7 (aufgenommen in Mt 26,31)

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richtet, und sie glaubten von Zeit zu Zeit, daß es ihnen hiedurch möglich sein würde, diesen ganzen neuen Bund der Menschen mit Gott und unter sich wieder aufzulösen. Wie nun nicht leicht ein Einzelner ein so bestimmtes Bewußtsein haben kann von dem gemeinsamen Zustande, wie es möglich ist es zu haben von seinem eigenen: so wäre, gesezt auch jeder wäre für sich in seinem Herzen der Erhaltung dieses göttlichen Friedens gewiß gewesen, doch noch immer die Besorgniß geblieben, als der Gemeinbesiz Aller, als das Band, welches sie zusammenhielt, könnte dieser Friede doch verloren gehen, und indem so der Grund erschüttert würde, könnte der geistige Tempel Gottes, der sich erhoben habe, doch wieder einstürzen und seine Herrlichkeit eben so zerfallen, wie die Herrlichkeit dessen, der mit Händen erbaut gewesen war. Indem aber der Erlöser sie ermahnt auch in dieser Beziehung, ohnerachtet sie in der Welt immer würden Noth und Angst haben, doch getrost zu sein, und sie deshalb auf den Frieden in ihm verweiset: wozu anders fordert er sie auf als zum engsten Anschließen an ihn. Wie Er sein Wohlsein darin fand, daß er das Werk vollbrachte, wozu ihn sein Vater gesandt hatte, die Welt selig zu machen: so soll auch die Gemeine der Gläubigen sich wohlbefinden in dem Bewußtsein ihrer Sendung. So wie seine Sicherheit nur in dem Bewußtsein war, daß sein Werk und seine Herrschaft bestehen werde nach der Verhei|ßung des Vaters: so soll auch die Gemeine der Gläubigen ihre Sicherheit darin haben, daß Er durch sie herrschen muß, und sie mit ihm. Durch diesen Frieden sollten seine Jünger dahin kommen, getrost zu bleiben mitten in dem Kampfe, in welchem sie gegen die Welt standen, und ungeachtet aller Noth und Trübsal, welche ihnen immer wieder aufs Neue erregt wurde durch die Feindseligkeit der Menschen. Aber auch das, m. th. Fr., ist noch nicht genug, sondern nicht nur so, wie die kleine Heerde damals war, sollte sie bleiben; sondern indem ihr Beruf war, daß sie seine Zeugen sein sollten, so mußten sie auch darauf vertrauen können, daß das Wort, welches sie redeten, nicht würde leer zu ihnen zurükkommen, daß das Reich Gottes, welches sie verkündigten, sich auch immer weiter verbreiten würde, daß immer mehr die Menschen würden zusammengefaßt werden in demselben Frieden, und immer mehr durch die Anerkenntniß derselben Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater in die selige Gemeinschaft der Kinder Gottes zurükkehren. Aber freilich jedes Hinderniß, welches sich der Verbreitung des Evangeliums entgegenstellte, jeder wenn auch nur scheinbare und vorübergehende Sieg, welchen die alte Ordnung der Dinge oder der alte Wahn der Menschen über die Wahr17–18 Vgl. Joh 3,17 Joh 1,14

30 Vgl. Apg 1,8

31–32 Vgl. Jes 55,11

35–36 Vgl.

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heit davon zu tragen schien, mußte ihnen immer wieder Noth und Angst und Trübsal in der Welt erregen; und so war denn dieses so lange ihr Theil, und muß auch das unsrige bleiben, bis das Werk des Herrn ganz vollendet ist und das Ziel erreicht, daß alle Zungen derer, die auf Erden sind, seinen Namen bekennen, und er von Allen als eben der Herr anerkannt | wird, in welchem die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes wohnt, und welcher die Quelle der Gnade und der Wahrheit und somit eben des Friedens für Alle allein ist und bleibt. Wie sollte aber nicht der Herr auch darauf fest vertraut haben, daß auch die Worte, welche er hier seinen Jüngern sagt, Ohnerachtet des Friedens, den ihr in mir habt, werdet ihr zwar in der Welt Angst und Noth haben, aber dennoch seid getrost – daß diese auch an ihnen würden in Erfüllung gehen? Wie hätte denn sonst seine Sendung zu ihrem Ziele gelangen können, wie wäre er im Stande gewesen die Welt getrost zu verlassen, um zu seinem Vater zurükkzukehren! Wenn die Jünger sich der Trübsal hingegeben hätten, und so von der Welt wären überwunden worden, daß sie ermüdet wären in ihrem Beruf und sich zerstreut hätten Jeder in das seine: so hätte auch Er die Welt noch nicht recht überwunden gehabt in ihnen. Wenn das Licht, welches in die Finsterniß hineinschien, nicht nur von dieser nicht wäre begriffen worden, sondern auch dieser kleinen dasselbe zunächst umgebenden Schaar nicht Sicherheit auf ihrem Wege gegeben und sie nicht zu getrostem Muth erquikkt hätte: so wäre auch dieses Licht wieder ein falscher Glanz gewesen, der nur eine Zeit lang das Auge der Menschen blenden konnte, und die Herrlichkeit die sie in ihm zu sehen glaubten, wäre auch nicht die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater gewesen. II. Aber nun, m. g. Fr., wenn wir doch nicht leugnen können, es war eben das Leiden und der Tod des Erlö|sers, was ihm bei allen diesen Worten und so auch bei den Worten unseres Textes vorschwebte; wenn wir bedenken, daß er also nicht nur auf die ihm einwohnende Fülle göttlicher Kraft an und für sich, nicht nur auf den Glauben an ihn, welchen seine Jünger gewonnen hatten an und für sich, die Verheißung und die Ermunterung gründet, welche er hier ausspricht, sondern vorzüglich auf sein Leiden und seinen Tod: so lasset uns denn in dem zweiten Theile unserer Betrachtung sehen, wie doch dieses Leiden mit jenem Frieden und jenem getrosten Muthe zusammen4–5 Vgl. Phil 2,11 Joh 1,14

18 Vgl. Joh 16,32

19–21 Vgl. Joh 1,5

26–27 Vgl.

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hängt. Denn bei dem was der Erlöser selbst hier kann im Sinn gehabt haben, bleiben wir doch billig stehen. Zuerst, m. a. Fr., kamen unläugbar den Jüngern des Herrn diese Ankündigungen seines Todes unerwartet und überraschend; und sezen wir uns an ihre Stelle, so finden wir das sehnlichste Verlangen ihn noch länger unter sich zu haben nur natürlich! Und doch, hätten sie sich von dieser Besorgniß übermannen lassen, daß er zu zeitig für die Erreichung der göttlichen Absichten von ihnen geschieden sei: so mußte dieses sie gehindert haben immer gerüstet und wakker zu sein in seinem Dienst und als seine Jünger kräftig zu wirken. Dieses nun sehen wir wol leicht ein, daß mit ihrem festesten Glauben, mit ihren heitersten Hoffnungen sein frühes Hinscheiden sich vertragen mußte: aber ein anderes ist, wie ihr Getrostsein mitten in der Trübsal der Welt gerade daraus hervorgehen sollte. Indessen würde nicht der Unterschied zwischen ihnen und denen, die durch ihr Wort an ihn gläubig werden sollten, desto größer gewesen sein, je länger sie sich des gemeinsamen Lebens mit Christo erfreut hätten? Würde nicht die | Gefahr, daß sich Meister aufgeworfen hätten, wo lauter Brüder sein sollten, um desto größer gewesen sein? und mußte nicht diese vermieden werden, wenn der Eine allein sollte Meister bleiben? Würden die Apostel selbst so leicht geglaubt haben, daß auch Eine Rede von Christo den Menschen zu heilsamer Buße könne durchs Herz dringen, daß Einmal Jesus als der Christ vor die Augen gemahlt die Menschen könne zum Gehorsam des Glaubens bringen, wenn sie selbst nur vermittelst eines durch eine lange Reihe von Jahren fortgesezten Zusammenlebens eben dahin gekommen wären? Ja konnten sie selbst sich des beständigen und kräftigen Lebens Christi in ihnen, und davon sollte doch ihr Mund übergehen, recht lebendig bewußt werden, so lange er noch vor ihnen lebte und wandelte? Dann also wenigstens, als sie dieses inne wurden, mußten sie glauben es sei das Werk der göttlichen Weisheit, daß er so zeitig von hinnen genommen wurde, und mußten sie seinen Worten trauen, das Waizenkorn müsse in die Erde gelegt werden, damit es Frucht bringe, und es sei ihnen gut, ja besser, daß er hinginge als wenn er bliebe. Aber das ist nicht genug! dem Erlöser schwebte bei seinen Worten auch die besondere Art seines Todes vor; und wir fragen also, was hat denn diese, was hat sein Tod durch Leiden, sein Kreuzestod für einen Einfluß auf das Getrostsein seiner Jünger mitten unter aller Angst, die ihnen in der Welt bevorstand? Ich frage dagegen, konnte wol der Erlöser der Welt die Welt 18–19 Vgl. Mt 23,8 Joh 16,7

23 Vgl. Gal 3,1

32–33 Vgl. Joh 12,24

33–34 Vgl.

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überwinden durch irgend einen äußeren Sieg? Nein, ein solcher wäre zugleich ein Sieg von der Welt gewesen, und dann hätte auch sein Reich ein Reich von eben dieser Welt sein müssen! Er konnte sie | nur überwinden durch den inneren Sieg, durch die vollkommenste Hingebung und Selbstverläugnung, die er eben durch dieses Leiden und diesen Tod übte. Alles was die Feindschaft der Welt auf ihn bringen konnte, mußte er übernehmen, und was ihm die Welt hätte geben können, wenn er sein Verhältniß zu derselben anders gestaltet hätte, dessen mußte er sich entschlagen. Nur so konnte er die Welt überwinden, indem er fest an dem Willen Gottes hielt, und nur auf diesen Sieg gründet er ja diese Ermahnung an seine Jünger, weil er die Welt überwunden habe, darum sollten auch sie getrost sein in der Welt. Und eben deshalb, weil er einen solchen Sieg im Sinne hatte, welcher lediglich abhing von der Stärke seines Entschlusses, deren er sich auf das bestimmteste bewußt war, konnte er, wie es auf diesem Gebiet seiner freien Thätigkeit demjenigen geziemt, welcher der Abglanz der Herrlichkeit des höchsten Wesens war, schon damals sagen, seid getrost, ich habe die Welt überwunden, wiewol sein Leiden und sein Tod, wodurch er diesen Sieg errang, noch nicht erfolgt war. Denn dazu, daß er eins war mit seinem Vater, gehört vorzüglich auch dieses, daß er, wo alles von seinem Willen allein abhing, auch das noch nicht geschehene als schon geschehen betrachten konnte. Seinen Willen hatte er ausgesprochen, als er sagte, Lasset uns gehen, denn er ist da, der mich verräth; sein Bewußtsein von dem, was ihm bevorstand, hatte er ausgesprochen, als er sagte, Der Fürst dieser Welt kommt und hat nichts an mir: und nun konnte auch nichts mehr treten zwischen den Willen und die Ausführung. Das geziemt dem eingebornen Sohne des Vaters, daß dies beides in ihm dasselbe ist; in dieser | ausreichenden Kraft seines Willens, in dieser unbezwinglichen Festigkeit seines Entschlusses und in dieser hellen Einsicht in den Zusammenhang der Dinge konnte er sagen, Ich habe schon die Welt überwunden, es ist schon geschehen was geschehen muß, um euch Muth und Trost einzuflößen in aller Noth und Angst und Trübsal; die Welt ist überwunden, das Reich Gottes ist gegründet und befestigt. Wollen wir uns aber noch genauer vorhalten, was der Erlöser meint, wenn er sagt, ich habe die Welt überwunden: o so dürfen wir nur an die Worte zurükkdenken, welche wir neulich zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht haben. Der Fürst dieser Welt, sagte er, hat nichts an mir; aber damit die Welt erkenne, daß ich den Vater 2–3 Vgl. Joh 18,36 16–17 Vgl. Hebr 1,3 20 Vgl. Joh 10,30 23–24 Vgl. Mt 26,46 25–26 Vgl. Joh 14,30 37–38 Vgl. die Predigt am 25. März 1832 38–2 Vgl. Joh 14,30f

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liebe, und thue, was er mir geboten hat, darum lasset uns aufstehen und von hinnen gehen. Was kann der Sieg des Sohnes Gottes über die Welt sein? Nicht der Sieg eines Feindes über seinen Feind, nicht das Zerstören oder Vernichten dessen, was ihm entgegenstrebt; sondern daß er das Widerstrebende in die Gemeinschaft seines Lebens aufnimmt. Er unterwirft es sich, ja! aber er kennt keine andere Unterwerfung als die, welche sich die Gewalt der Liebe erzwingt. Von einer anderen weiß er nicht, und von einem anderen Siege weiß er auch nicht, als wenn Alle aufgenommen werden und zusammengefaßt in seiner Liebe. Das ist ja das große Geheimniß seines Leidens und seines Todes, daß immer darin aufs neue, immer inniger, immer weiter verbreitet die Welt erkenne, daß er den Vater liebt, und daß er thut, wie ihm der Vater geboten hat. Aber wo diese volle Liebe zum Vater, wo dieser unverkürzte Gehorsam gegen den Willen des Vaters | ist: da ist auch das Panier des Heils, da ist auch derjenige, auf welchen Gott allein es gründen will und kann, weil da die Kraft ist, durch deren Mittheilung die geistige Welt zu einem neuen Leben beseelt werden kann. Darum sagt der Herr, weil nun durch meine gänzliche hingebende Selbstverleugnung, durch mein Gehen in den Tod und durch das Gericht, welches über den Fürsten der Welt selbst ergeht, indem er wähnt mich zu richten, weil nur dadurch für alle Zeiten die Welt immer mehr erkennen wird, daß ich den Vater liebe und thue, wie er mir geboten hat: darum ist mein Tod der Sieg über die Welt, und ihr könnt getrost sein und Muth fassen, denn die Welt ist überwunden. Predigt nur immer von mir, von meinem Leiden und Tode, weiset die Welt hin auf das Kreuz, an welchem ich das Opfer geworden bin für die Sünden der Welt: so wird sie meine Liebe, so wird sie meinen Gehorsam, das ihr bisher verborgene Geheimniß erkennen. Und auf diesem Wege hat sich auch das Reich Gottes in Christo verbreitet, das ist die theure Erfahrung aller Zeugen der Wahrheit, daß so die Welt immer mehr hat erkennen lernen, wie in dem Erlöser die Liebe Gottes lebendig gewesen ist, daß seine Liebe zu seinem Vater, sein Gehorsam gegen dessen Willen, seine Liebe zu den Menschen seinen Brüdern, seine Kraft sie zu sich hinaufzuziehen und sie dem Vater zuzuführen, Eins und dasselbe, und wie in allem diesem das Geheimniß der Vollendung des göttlichen Rathschlusses ruht. Und darum sind nun diese Worte, und werden auch immer bleiben, der Wahlspruch Aller derer, welchen es ein Ernst ist, für das Reich Gottes zu leben und zu arbei14 ist:] so auch SW II/3, S. 237; Textzeuge: ist; 12–13 Vgl. Joh 14,31 Joh 12,32

20 Vgl. Joh 16,11

21–23 Vgl. Joh 14,31

34 Vgl.

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ten. Er hat die Welt überwunden, darum | sind wir getrost; und keine Noth, keine Angst, keine Trübsal, welche die Welt uns bereiten kann, kann jemals den Frieden stören, welchen wir in ihm haben. Aber wir haben ihn nicht, wenn wir nicht zugleich auch wissen, daß sein Reich immer tiefere Wurzeln schlägt, und die Grenzen desselben sich immer weiter verbreiten; wir haben seinen Frieden nicht ganz, wenn wir nicht wissen, daß in uns Allen gemeinsam die Kraft wohnt für ihn zu leben und zu wirken, zu leiden und zu sterben. Und doch, m. g. Fr., was können wir reden von Noth und Angst, welche wir in der Welt hätten oder haben würden? was für Trübsale gibt es für uns, die in irgend einem Zusammenhange ständen mit unserem Leben für Christum und durch ihn? Das Wort des Erlösers ist so wahr geworden, daß nun unter uns, so wie wir in die Mitte der christlichen Kirche gestellt sind, die Welt auch schon in der Wirklichkeit überwunden ist. Aller Kampf und Krieg ist nur noch an die äußersten Grenzen seiner Gemeine gebannt; da wird er noch geführt, da gibt es noch hier und da unter den Völkern, die bisher in dem Schatten des Todes gesessen haben, einzelne theure Zeugen der Wahrheit, welche das Reich Gottes predigen, da regt sich wol noch die Welt und will das Wort Gottes von sich weisen, ja da gibt es noch Noth und Trübsal für die, welche treue Diener des Herrn sind: aber wo wäre dergleichen unter uns? Freilich hören wir noch oft solche Aeußerungen, die äußere Kirche zwar sei weit verbreitet, der Name des Herrn werde zwar von Vielen anerkannt: aber die wahre Gemeine Christi, ach, diese sei nur klein, der größte Theil derer, welche sich äußerlich zu seinem Namen bekennen, sei nur er|füllt von einer tiefen, inneren, verborgenen Feindschaft gegen ihn, und was sie nur thun könnten, um seine Herrlichkeit zu schmälern, um das Herz der Menschen von ihm abwendig zu machen, das thäten sie nur gar zu gern, so daß deshalb auch jezt noch jedes gläubige Gemüth in der Welt die Fülle von Angst und Noth und Trübsal habe. Aber, m. th. Fr., daß wir nur nicht mit solchen trüben Ansichten eigentlich nur unserer Eitelkeit fröhnen und unserem geistlichen Hochmuth! daß wir nur nicht, weil es so lange wahr gewesen ist, glauben, es müsse auch noch wahr sein, daß es eine Feindschaft gebe gegen den Erlöser! Das freilich wissen wir wohl, daß nicht Alle auf gleiche Weise durchdrungen sind von dem wahren Glauben an den Erlöser, daß nicht Alle auf gleiche Weise von Liebe zu dem entbrennen, welcher sie zuerst geliebt hat: aber wo wäre denn die Feindschaft gegen Christum in denen, welche doch in das, was seine Gabe ist und sein Werk, so tief eingewurzelt sind, daß sie sich nicht davon zu trennen vermögen? wo wäre die Feindschaft 17–18 Vgl. Mt 4,16 (mit Bezug auf Jes 9,1)

38 Vgl. 1Joh 4,19

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gegen Christum in denen, welche doch seinen und unseren Gott und Vater anbeten, in denen, welche doch zugeben müssen, seine Lehre sei der Weg der Seligkeit, wer ihm ähnlich sei, dem könne es nicht fehlen, daß er sich des göttlichen Wohlgefallens erfreue? Nein, m. Fr., das Wort des Herrn wäre nicht wahr, wenn auch so viele Jahrhunderte nicht das Ueberwundensein der Welt sollten gefördert haben, wenn so vieler Kampf der Diener des Herrn nicht sollte die menschliche Natur gebändigt haben und ihm unterwürfig gemacht! das Wort wäre nicht wahr, wenn dieser ganze Umfang der christlichen Kirche nur ein leerer Schein wäre! Und doch, | m. g. Fr., aber auf eine andere Weise, in einem anderen Sinne können und müssen wir Alle uns das Wort des Herrn aneignen. Wir haben keinen Streit zu führen mit der Welt außer uns. Wenn es bisweilen das Ansehen haben will, als ob die Herrlichkeit Christi sollte gemindert werden, und die Menschen ihre eigene aufrichten wollten, so wir nur dabei bleiben, daß wir festhalten in der Liebe zu ihm, daß wir festhalten an dem Zeugniß, welches wir für ihn abzulegen haben, daß in der That er uns die Quelle der Gnade und der Wahrheit geworden ist: o wie bald wird unser Zeugniß alle jene leeren menschlichen Anmaßungen zum Schweigen bringen! Wenn bisweilen Andere aufstehen, welche sagen, Christus sei freilich ein theures Werkzeug Gottes gewesen für eine gewisse Zeit, aber da er einmal in menschlicher Gestalt war, so hätte er auch nicht können die Grenzen der menschlichen Natur überschreiten; seine Ordnungen und seine Geseze seien vortrefflich gewesen, aber sie reichten doch nicht hin für die erweiterte Einsicht, für die gesteigerten geistigen Bedürfnisse, für den gänzlich geänderten Zustand der Menschen. Eben deswegen fange ja, wie sich deutlich zeige, die Verbindung auf seinen Namen an abzusterben, ein Neues müsse entstehen, und jenes sei noch nicht das Lezte gewesen: dagegen bedürfen wir keines Kampfes! Nur festgehalten an der rechten Liebe, welche das Band der Vollkommenheit ist; nur festgehalten an unserm gemeinsamen Beruf den Menschen das Bild Christi immer mehr in seiner ganzen Herrlichkeit, wie wir selbst von demselben durchdrungen sind, deutlich vor Augen zu stellen: so wird sich bald das Leere und Eitle jener menschlichen Bemühungen zeigen. Außer uns bedarf es | also nicht, daß wir erst erfahren müßten, wie wir sollen getrost werden und gutes Muths: aber in uns wissen wir, daß es noch Welt gibt, welche muß überwunden werden. Ja sobald wir wahrnehmen, daß noch Furcht vor Trübsal und Widerwärtigkeit, wenn sie auch nicht zusammenhängt mit dem Glauben und dem Reich Christi, wenn sie auch auf dem zufälligen Wechsel der menschlichen Dinge beruht, die Ruhe und den Frieden uns zu stören 30–31 Vgl. Kol 3,14

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vermag: dann wissen wir, daß Angst und Trübsal schon Wurzel geschlagen haben in unseren Herzen, und sie werden sich bald offenbaren! Ja gleich gibt es einen Kampf, durch welchen die Welt in uns überwunden werden muß, und so erst der Friede in Christo, nachdem er vorübergehend getrübt worden ist, in seiner ganzen Klarheit uns wieder aufgehen kann, sobald wir wahrnehmen, daß die Lust der Welt uns verlokken kann zum Ungehorsam gegen seinen Willen. Und diese Gefahr hat allerdings in demselben Maaß zugenommen, als die Welt mehr überwunden worden ist; denn um so mehr ist nun auch alles, was die Menschen treiben und schaffen, in das gemeinsame Leben der Christen aufgenommen. Ihre Verbindung ist nicht mehr eine beschränkte von solchen, welche sich von den größern Geschäftskreisen absondern, und sich mit den ersten Nothwendigkeiten des Lebens begnügen; sondern alle Theile unseres allgemeinen irdischen Berufs müssen in der Christenheit ihren Ort finden, und überall sollen wir in Allem das Geistige suchen, und das Sinnliche soll diesem allein dienen. Wo nun eine Gefahr entsteht, daß sich dieses Verhältniß umkehre; wo das rechte Gleichgewicht in unserer Seele verloren gehen will: da ist sicher auch eine Quelle von Noth und Angst, die sich für | uns in der Welt hervorthun wird; da muß immer aufs neue die Welt überwunden werden in der Kraft des Friedens, den wir durch ihn haben. Aber wie anders können wir das und wie besser, als wenn wir auf sein Leiden und seinen Tod hinsehen? Das Vorbild dessen, der von irdischen Gütern nichts begehrte, zufrieden mit dem was ihm zufiel, der die Unsicherheit wo er wol sein Haupt hinlegen werde für nichts achtete, der Alles über sich ergehen ließ, um nur nicht zu wanken in der Liebe seines Vaters, das ist die rechte Quelle der Stärkung für jede in Gemeinschaft mit Gott lebende Seele! das ist die Quelle der Sicherheit, die wir haben für ein Wohlsein, welches auch durch die Regungen der sinnlichen Seele nicht mehr kann gestört werden. Er hat die Welt überwunden durch Leiden und Tod, und darum sollen auch wir getrost sein in der Welt, und der Friede, den wir in ihm haben sollen, wird in uns Allen ein ewiges und unverlezliches Gut sein. Amen. Lied 167, 7.

25 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58 34 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 167: „Du, dessen Augen flossen“ (Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“); Strophe 7 lautet: „Der du zum Heil der Sünder dein Haupt am Kreuz geneigt, du Freund der Menschenkinder, hier liegen wir gebeugt. Dir danken wir im Staube, dir, der uns Heil gewann; dich preist der Deinen Glaube: nimm unser Opfer an.“

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Palmarum, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 4,1–9 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 183–195, Nr. XV; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 198. Tex t . Marcus IV, 1–9. ¸ „Und er fing abermal an zu lehren am Meer; und es versammelte sich viel Volks zu ihm, also daß er mußte in ein Schiff treten und auf dem Wasser sitzen und alles Volk stand auf dem Lande am Meer. Und er predigte ihnen lange durch Gleichnisse. Und in seiner Predigt sprach er zu ihnen: Höret zu, siehe, es ging ein Säemann aus zu säen. Und es begab sich, indem er säete, fiel Etliches an den Weg; da kamen die Vögel unter dem Himmel und fraßen es auf. Etliches fiel in das Steinichte, da es nicht viele Erde hatte, und ging bald auf darum, daß es nicht tiefe Erde hatte. Da nun die Sonne aufging, verwelkte es, und dieweil es nicht Wurzel hatte, verdorrete es. Und Etliches fiel unter die Dornen, und die Dornen wuchsen empor und erstickten es, und es brachte keine Frucht. Und Etliches fiel auf ein gut Land und brachte Frucht, die da zunahm und wuchs; und Etliches trug dreißigfältig und Etliches sechzigfältig und Etliches hundertfältig. Und er sprach zu ihnen: Wer Ohren hat zu hören der höre.“ |

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M. a. Fr. Zu diesem bekannten Gleichnisse unsers Erlösers, welches er selbst seinen Jüngern hernach so deutlich und vollständig erklärt hat, daß fast nichts darüber hinzuzusetzen bleibt, führt uns heute die Reihe unserer Betrachtungen in diesem Evangelienbuche. Unser heutiger Sonntag aber, 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 198: „Seht, welch ein Mensch ist das“ (Melodie von „O Gott, du frommer Gott“) 18–19 Vgl. Mk 4,13–20; auch Mt 13,18–23; Lk 8,11–15 21–6 Das Evangelium für den Sonntag Palmarum besteht in der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem, nach der preußischen Perikopenordnung in der Fassung von Mt 21,1–9; vgl. auch Mk 11,1–10; Lk 19,29–40; Joh 12,12–19.

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m. g. Fr., erinnert uns durch seinen Namen an jenen letzten Einzug unseres Herrn und Heilandes in die Hauptstadt seines Volkes, als dieses, welches ihn lange erwartet hatte, nun mitlief zum Theil, zum Theil ihm entgegenströmte, und viele ihn laut verkündeten als den, der da kommen sollte, und den Namen des Herrn priesen, daß er gekommen sei, und ihre Kleider unterbreiteten und Palmen auf seinen Weg streuten. Wie nun der Erlöser sich dieses wenigstens gefallen ließ, und Alles, was ihm da Großes und Ruhmbringendes entgegenschallte, hinnahm als ihm gebührend: so könnte man gar leicht glauben, er habe sich damals menschlicher Weise getäuscht über seine Lage und über das Verhältniß der Menschen zu ihm, er hätte vielleicht das Alles gehalten für einen ächten, treuen, aus dem Innern des Gemüthes hervorgehenden und aus dem Verständnisse seiner Lehre und seiner Absichten mit dem menschlichen Geschlecht erwachsenden Erguß des Lobes und Preises. Aber wenn wir nun dieses Gleichnisses gedenken, welches er so viel früher schon zu dem Volke redete, wo er die deutlichste Erkenntniß ausspricht von der Art und dem Grade, in welchem sein Wort wirksam sein werde unter den Menschen: so müssen wir wol von jenem Gedanken uns ganz entfernen und sagen, derjenige, von welchem gesagt wird, daß er immer wußte, was in dem Menschen war, und daß er nicht nöthig hatte, daß es ihm jemand erst sagte, der habe das Alles auch damals gewußt und wol unterschieden und gekannt, wie viel oder wie wenig | von ächtem Glauben, von wahrem Verständniß seiner unter denjenigen war, welche damals sein großes Geleite bildeten. Und gewiß, wenn wir dieses Gleichniß des Erlösers näher betrachten und uns zugleich in unserer Erinnerung vergegenwärtigen, was damals geschah: so werden wir sagen müssen, es sei Alles das auch an jenem Tage wahr gewesen, und alle diese verschiedenen, größeren, geringeren, entgegengesetzten Wirkungsarten seines öffentlichen Lebens hätten ihn damals umgeben, und mit dem Bewußtsein davon sei er in die Stadt gegangen und in den Tempel des Herrn. Und so lasset uns denn, m. Th., bei dieser Zusammenstellung in unserer heutigen Betrachtung verweilen, und indem wir an die damalige Zeit gedenken, wo der Herr, nachdem er das Amt des Säemanns beinah vollendet hatte, in die Hauptstadt seines Volkes einzog: so lasset uns zu gleicher Zeit auch fragen, wie es denn gegenwärtig um die Wahrheit dieses Gleichnisses und um die Lage Aller derjenigen stehe, die so wie damals den Namen des Herrn preisen und verkündigen. Es war damals, m. th. Fr., auch um ihn jene kleine Gesellschaft seiner Zwölfe und derer, die sonst gewöhnlich und täglich um ihn waren: die begleiteten ihn zunächst aus Bethanien in die Stadt hinein. Von diesen nun 18–20 Vgl. Joh 2,25 37–39 Schleiermacher bezieht sich auf Notizen im Kontext der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem: vgl. Mt 21,1; Mk 11,1; Lk 19,29.37; Joh 12,1–4.

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haben wir keinen Zweifel, bei ihnen war der Same auf ein gutes Land gefallen; bis auf den Einen, der den Erlöser verrieth, waren sie alle davon, daß er von Gott gesandt sei, überzeugt, und durch seine Rede, durch die Worte des Lebens aus seinem Munde war ein neues geistiges Leben in ihnen selbst aufgegangen, und wie der Erlöser hier sagt, der Same, der auf ein gutes Land fiel, der brachte Frucht, die da zunahm und wuchs, und Etliches trug hundertfältig, Etliches sechszigfältig, Etliches auch nur dreißigfältig: so werden wir wol sagen müssen, es sei zu natürlich, als daß nicht auch diese Verschiedenheit in dem kleinen Häuflein jener Jünger des Herrn gewesen sei. Das ist die | Art und Weise, wie sich das geistige Leben nach der Ordnung Gottes in dem menschlichen Geschlechte offenbart, und wir mögen wol sagen, daß diese Verschiedenheit niemals aufhören werde. Von jeher hat es gegeben und zu allen Zeiten auch unter denjenigen, die sich als ein gutes Land bewiesen haben für den Samen des göttlichen Wortes, eine große Verschiedenheit in Beziehung auf die Frucht, die sie trugen; wir mögen nun diese letztere verstehen entweder von der Vollkommenheit des geistigen Lebens, die in einem jeden Einzelnen selbst erweckt wurde, von der Fülle christlicher Tugenden, die sich durch die Kraft des göttlichen Wortes und in der Gemeinschaft mit dem Erlöser in der Seele ausbildeten, oder wir mögen es verstehen, und genau überlegt werden wir sagen müssen, daß das Eine sich gar nicht von dem Anderen trennen lasse, von den Wirkungen, die sie außer sich hervorbrachten, wie sie wieder auf die Gemüther wirkten, um sie zu dem Glauben an ihn und zu der Liebe zu ihm zu entzünden, wie sie das Ihrige beitrugen, die junge Gemeine, die sich um sie bildete, zusammenzuhalten, immer mehr zu befestigen und zu kräftigen, auf daß das große Werk des Herrn in der Welt seinen Fortgang gewinne. Wenn wir uns fragen, was wir denn wissen eben von der Frucht, welche die meisten der damaligen vertrauteren Jünger des Herrn getragen haben: so ist es allerdings gar wenig; wir vermögen das Einzelne gar nicht zu unterscheiden, von den Wenigsten unter ihnen ist uns sei es in den Büchern des Neuen Testaments, sei es in glaubwürdigen Nachrichten ihrer Zeitgenossen und Nachfolger, von den Wenigsten ist uns etwas Wichtiges über die weitere Entwickelung ihres geistigen Lebens und über das, was sie für das Reich des Herrn gethan, bekannt; aber wir sehen es doch an den Folgen, daß sie ihre Frucht müssen gebracht haben, und wenn wir nicht unterscheiden können, wie viel oder wie wenig der Eine oder der Andere dazu gethan: nun, so veranlaßt uns dieses, desto | ernster darnach zu fragen, wie es denn um diesen Unterschied der Fruchtbarkeit des guten Bodens in der Gemeine des Herrn stehe. Das ist gewiß, m. g. Fr, je weniger wir dabei uns selbst zuschreiben, sondern Alles auf ihn als die Quelle dieses geistigen Lebens, und auf den durch ihn über seine Gemeine als ein gemeinsames Gut Aller ausgegossenen Geist zurückweisen: um desto weniger kann uns daran gelegen sein,

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unterscheiden zu wollen, wie viel oder wie wenig der Eine oder der Andere für das Reich Gottes gethan hat. Eben diese Dunkelheit, die auf der ersten Geschichte der christlichen Kirche ruht, da wir sogar nicht vermögen, die einzelnen Namen, welche uns die Jünger des Herrn aufbewahrt haben, in der weiteren Wirksamkeit ihres Lebens zu verfolgen, das zeigt uns ja so deutlich, wie weit das von dem Sinn der Christen entfernt sein und bleiben soll, daß der Einzelne so bestimmt dieses oder jenes sich zuschreibt. Darum sagt der Apostel Paulus, daß wir uns unter einander nicht anders halten sollen, als daß wir Glieder Eines Leibes sind. Da ist nur Ein gemeinsames Leben und Alles, was Gesundheit und Krankheit ist, das verbreitet sich aus jedem Glied in das andere, und so innig ist der Zusammenhang, daß, wenn gleich jedes Glied eines lebendigen Leibes seine bestimmte Verrichtung hat, doch nie die Werke derselben sich lassen von einander sondern und scheiden; sondern sie müssen alle zusammenwirken, damit das geschieht, was irgend ein lebendiges Wesen während seines Lebens vollbringt, und Alles ist, wie ein gemeinsames Leben und Sein, so auch ein gemeinsames Werk, jedem gehört Alles, jeder hat seinen angewiesenen Theil, aber keiner für sich irgend etwas Besonderes. Und so, m. th. Fr., wiederholt sich dieses auf jede Weise in der Geschichte der christlichen Kirche und eines jeden einzelnen Lebens. | Es gibt immer gewisse Punkte, wo wir sagen, ja jetzt ist eine besondere Fruchtbarkeit gleichsam in dem geistigen Leben der Gemeine; aber wenn das eine Weile gewährt hat: so vermögen wir doch nicht mehr zu unterscheiden, auch nicht was das Werk einer solchen bestimmten ausgezeichneten Zeit ist; denn wenn wir es näher betrachten: so werden wir immer auf weitere Ursachen zurückgewiesen, auf Früheres, was da gewesen ist, und auch ein Zeitalter kann nicht sein Werk sondern von dem anderen. So waren nun auch damals die Jünger des Herrn, und was sie gewirkt haben für die Befestigung und das Fortbestehen seines Reiches auf Erden, das vermögen wir nicht zu unterscheiden. Aber wie ist es, wenn wir die Sache von der anderen Seite ansehen und die Tragbarkeit eines guten Landes nur messen wollen nach dem größeren oder geringeren Grade von Reinheit und Vollkommenheit des geistigen Lebens? Wenn wir es nun hier genau nehmen wollen, m. th. Fr.: so werden wir auf dasselbe kommen. Jeder kann wol auf gewisse Weise, in einem gewissen Grade, denn wer möchte auch hier etwas vollkommen und genau bestimmen wollen, jeder, sage ich, kann eine gewisse Rechenschaft geben von sich selbst, kann sich sagen in den Stunden der stillen Betrachtung, woran es ihm fehlt, und dann auch wol zu einem Bewußtsein darüber gelangen, was wol durch ihn und Andere in dem nächsten Kreise seines Lebens geschehe; aber auch dieses Letzte, wenn wir es in seinem innigsten Zusammenhange betrachten mit dem Ersten, wird es doch wieder unsicher, 7–9 Vgl. 1Kor 12,12f; auch Röm 12,4f

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und was wir glaubten bestimmen zu können, wird wieder schwankend vor unseren Augen; denn überall haben Andere mit uns gewirkt, und wir vermögen nicht, das Unsrige bestimmt zu unterscheiden. Aber eben so vermag auch keiner sich in seinem Inneren zu vergleichen mit einem Anderen und sagen, wenn du dreißigfältige Frucht bringest: so bringt jener hundertfältige; oder | wenn du hundertfältige bringst: so bringt jener nur dreißigfältige; denn keiner kann in das Innere eines Andern eindringen, wie auch keiner sich dem Anderen klar darlegen kann, und darum bleibt das ein Geheimniß, welches vorbehalten ist der göttlichen Allwissenheit. Aber wir sollen uns auch dabei beruhigen, und keiner soll glauben, daß das gehöre zu der Klarheit in der geistigen Welt, daß jeder ein Maß anzugeben wisse, nach welchem er sich mit Anderen vergleicht; sondern so wie der Erlöser in unserem Gleichnisse sein Bild hergenommen hat aus einem Gebiet, welches vor unser Aller Augen liegt: so können wir nicht anders als glauben, daß es ebenso sei in dem Gebiet des geistigen Lebens, weil dieses ganz die Gestalt der irdischen Natur an sich nimmt. So wie der Herr Fleisch geworden ist und unter uns gewohnet hat: so ist auch sein geistiges Leben auf Erden und geht seinen Gang nach den Gesetzen des irdischen Daseins, nach welchen wir müssen und nicht anders können als solche große Verschiedenheit voraussetzen, wie der Erlöser sie hier annimmt; aber bestimmen zu wollen, was nun der Eine oder der Andere in diesem Gesammtgebiet sei, das vermögen wir nicht, und dessen bedarf es nicht. Aber nun lasset uns auch zurückgehen auf das, was der Erlöser vorher sagt, wo er redet von den Hindernissen, welche der Wirksamkeit des göttlichen Wortes entgegenstehen, und da lasset uns nur Eine Betrachtung voranschicken. Er schiebt sie nicht auf einen absichtlichen Widerstand, auf eine besondere, für sich bestehende feindselige Kraft, die ihm entgegensteht; sondern nur auf die verschiedene Natur des Bodens, in welchen der Same des göttlichen Wortes fällt, und also auf die ursprüngliche Verschiedenheit der Menschen unter sich und auf das, was in den äußeren Verhältnissen ihres Lebens und irdischen Daseins beruht. Daß in dem Acker, wohin der göttliche Same gestreut wird, auch schon von früher her der Same liegt zu den Dornen, das ist die allgemeine Erfahrung, | von welcher der Erlöser ausgeht; aber keinesweges will er das so darstellen, als ob die Dornen wollten den guten Samen ersticken, sondern er stellt es nur dar als die natürliche Folge von den Verhältnissen, daß es so geschieht und nicht anders, und so daß er uns Veranlassung gibt, wenn er es auch hier nicht weiter ausführt, uns eine große Mannigfaltigkeit von Abstufungen zu denken. Es ist ein Kampf zwischen dem, was hervorwächst aus dem Samen des göttlichen Worts, und dem was hervorwächst aus dem Samen, der schon früher in jede einzelne menschliche Seele gelegt ist. Dieser Kampf hat einen sehr 16–17 Vgl. Joh 1,14

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verschiedenen Ausgang; aber er stellt niemals das, was dem Gedeihen des göttlichen Samens entgegenwirkt, dar als eine demselben entgegenstrebende Kraft. Und wenn er von dem Uebrigen sagt: „Einiges fiel auf einen steinigen Boden, wo es nicht viel Erde hatte,“ aus welcher der göttliche Same die Kraft, um sich zu entwickeln, hätte ziehen können: da gereichte demselben eben dasjenige, was nothwendig ist zum Gedeihen und Fortgange, die belebende Wärme und Sonne, zum Verderben, weil die Kraft, welche in dem Boden lag, nicht in dem rechten Verhältnisse stand, um jene wirksam zu machen, sondern das aufgegangene Gewächs verwelkte und vertrocknete, weil es ihm an innerer Kraft fehlte. Und ebenso, wenn er vorher sagt, „Einiges, was der Säemann säte, fiel an den Weg,“ wo es nicht in der Erde keimen konnte, und also ehe es ein eigenthümliches Leben gewinnen konnte, wurde es von den Vögeln des Himmels verzehrt: so stellt er diese auch nicht dar als feindselig gegen das Geschäft des Säemanns, sondern sie gehen nur ihren natürlichen Lebensgang, und vermöge dessen geschieht es, daß sie den Samen, der so ausgestreut ist, ganz fruchtlos machen. Wenn wir nun den Erlöser uns denken an jenem Tage seines Einzuges in die Hauptstadt seines Volkes: da war wol | niemand, der nicht sein Wort vernommen hatte; auch seine Gegner, welche ihm nach dem Leben trachteten und glaubten, daß sie das Beste ihres Volkes beförderten, wenn sie ihn aus der Zahl der Lebendigen vertilgten, auch die hatten von seiner Wirksamkeit vernommen und wol auch mehr oder weniger gehört von den Lehren und den Worten seiner Weisheit selbst. Hat er etwa damals, als er dieses Gleichniß zu dem Volke redete, etwa gar nicht geahndet, was ihm bevorstehen werde; hat er nicht geglaubt, daß es solche auch geben würde auch in den Kreisen, wo er den göttlichen Samen ausstreute? Er konnte darüber nicht unwissend sein, denn er war immer von denselben umgeben damals ebenso gut als späterhin, und es war ihm auch damals nicht verborgen, welches Ende des Lebens sein Vater ihm bestimmt hatte; und so müssen wir diese auch wol suchen unter seiner Beschreibung. Und Schlimmeres als dieses, was ich eben erzählt, hat er nicht gesagt, und also hat er sie auch mit zu jenen gerechnet. Manches seiner Worte war wol auch zu ihnen gedrungen, und vielleicht hat es vorübergehend etwas in ihrer Seele gewirkt; aber sie waren so ganz verwachsen in das irdische Leben, daß es gar wenig in ihrem Gemüthe gab, woran sich diese Worte des Herrn hätten hängen können, um da innerliche Kraft zu ziehen zu ihrer weiteren Entwikkelung. Oder er stellt sie dar als solche, in deren Gemüth das Wort nicht eindringen konnte, und es wurde also hinweggenommen als etwas, was ihnen ganz fremd geblieben war; aber für etwas Anderes, für eine bestimmte Feindseligkeit gegen sein Wort und seine Lehre fand er in seinem Gleichniß keinen Raum. Wo er gekommen ist, den Samen des göttlichen Wortes auszustreuen: da sind das alle Verschiedenheiten, die sich da be-

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merklich machen konnten, welche er in seinem Gleichnisse angibt. So wenig also täuschte ihn das, was ihm selbst begegnete, was ihm selbst bevorstand, so wenig täuschte es ihn über die richtige | Schätzung aller menschlichen Dinge, so wenig vermochte es seiner menschenfreundlichen und milden Weisheit eine Bitterkeit aufzudrängen, so wenig vermochte es, in ihm eine Feindschaft und Bitterkeit des Gemüthes aufzuregen. Und, m. Th., wenn wir nun fragen, wie oft hören wir nicht in dem Umfange der christlichen Kirche selbst Klagen über eine Feindseligkeit gegen das göttliche Wort: wie sollte uns nicht davor dieses Gleichniß des Herrn einmal für immer bewahren. Wenn er nie das menschliche Gemüth so angesehen hat, als ob in ihm eine besondere Feindschaft wäre gegen das göttliche Wort: wie sollten wir das thun? Wenn er es damals nicht so gesehen hat: wie sollte es jetzt sein können, nachdem so viele Jahrhunderte das göttliche Wort unter den Menschen gewirkt hat? Wie sollte es jetzt so sein, da wir doch jetzt selbst in den gleichgültigsten, den verderbtesten Gemüthern die Spuren von der Wirksamkeit des göttlichen Wortes wahrnehmen? Darum, m. g. Fr., wenn wir auch einen Antheil nehmen wollen an der Wirksamkeit des göttlichen Wortes: so lasset uns auch in den Schranken bleiben, welche der Erlöser selbst gezogen hat, lasset uns die Schicksale, welche das göttliche Wort erfährt, nie anders ansehen als der Erlöser, lasset uns gegen die, in welche wir berufen sind den Samen des göttlichen Wortes auszustreuen, nicht in ein solches Verhältniß uns stellen oder sie so betrachten, daß es uns unmöglich werde, diesen Auftrag zu erfüllen. Und nun, wenn wir uns zurückversetzen in die Geschichte des heutigen Tages, in diesen letzten Aufenthalt des Herrn in der Hauptstadt seines Volkes, der zu gleicher Zeit auch die letzte Zeit seiner eigenen persönlichen Aussaat des göttlichen Wortes war, wenn wir uns vergleichen mit denen, die damals riefen, indem sie den Erlöser begleiteten: Hosiannah dem Sohne Davids! gelobt sei der da kommt in dem Namen des Herrn! nun wol, so lasset uns fragen, was können wir denn thun, um ebenso, wie | jene es thaten, ihm unsere Anerkennung zu bezeigen, um auf eine ähnliche Weise ihn zu begleiten, aber doch nicht so ähnlich, daß hernach aus denjenigen, welche damals mit riefen, vielleicht auch Manche hervorgingen, welche umgewendet in einem unglücklichen und unheiligen Augenblicke hernach wieder rufen konnten: kreuzige, kreuzige ihn. Wenn wir, m. g. Fr., denken an die ganze dazwischen verflossene Zeit, wo nun der Same des göttlichen Wortes fortgewirkt hat, und wir wollten nun das Bild des Herrn in seinem Sinn und Geist fortsetzen: würden wir nicht sagen müssen, das liegt auch 23 werde] werden 28–29 Mt 21,9; vgl. ferner Mk 11,9; Lk 19,38; Joh 12,13 (in allen Bezug auf Ps 118,26) 35 Lk 23,21; vgl. ferner Mt 27,23; Mk 15,13.14; Joh 19,15

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in der Natur dieses irdischen Lebens, und wir sehen es beständig vor unseren Augen, daß das steinige Erdreich, wenn erst einmal das Pflanzenleben sich daraus entwickelt hat, und es gepflegt wird mit Sorgfalt und Treue – so wächst allmählig von einem Jahre zu dem anderen die fruchtbringende Erde an, und da, wo Alles zuerst, wie die Sonne heraufstieg, verwelkte, da fängt es zuletzt doch an zu wachsen, zu blühen, Früchte zu bringen und geerntet zu werden; aber es ist das Werk einer langen, ununterbrochenen Mühe und Arbeit vieler Geschlechter. Und wenn wir denken, wie da, wo die Kunst und der menschliche Fleiß noch wenig gewirkt haben, der Erdboden auch wenig Werth hat, und die Wege überall und die Straßen so breit sind, daß man kaum den bebauten Acker daneben wahrnehmen kann; je länger aber nun Menschen wohnen und arbeiten, je mehr Freude sie gewinnen an dem Berufe, daß sie sich sollen zu Herrn machen über die Erde: desto mehr breitet sich das bebaute Land aus, desto mehr engen die Wege sich ein, so daß wenig Raum da ist, in welchem der Same nicht wachsen sollte; – und wie viel Fleiß wird nicht darauf gewendet, den Erdboden, ehe man den guten Samen hineinstreut, auf alle Weise zu reinigen von dem schlechten, welcher schon darin ist, und wie wird nicht der gute Same gepflegt, daß er von den Dornen und dem Unkraute nicht überwachsen wird, und wenn gleich | der Unterschied in dem Wachsthum des guten Samens bleibt, daß der eine dreißigfältig, der andere sechszigfältig und ein anderer noch mehr trägt: so werden wir doch sagen müssen, das Verhältniß des fruchtbaren Landes gegen das, in welchem der Same nicht gedeiht, das soll sich immer mehr verringern; das hat das Werk sein müssen von dem Lichte, welches der Erlöser gebracht hat, um die Erde zu erleuchten. Um wie viel mehr Ursache haben wir daher nicht, auszurufen, gelobet sei, der da gekommen ist in dem Namen des Herrn; wie viel mehr Ursache haben wir, ihm überall den Weg zu bereiten, seitdem wir schon die Erfahrung gemacht haben, wie fest das Heil, welches er gebracht hat, Wurzel gefaßt hat in dem menschlichen Leben. Aber daß wir auch das Unsrige thun, das Auge unseres Geistes anstrengen, um zu sehen, wie in unserer Nähe die Dornen den guten Samen ersticken wollen, daß wir abwehren, so weit wir es können, Alle die, welche den guten Samen hinwegzunehmen suchen, und daß wir daran arbeiten, auf den steinigen Boden Nahrung gebende Erde zu breiten, daß der Same keimen und Wurzel fassen könne, und dann gegen jede versengende Hitze der Sonne die junge Pflanze zu schützen – das ist es, was wir alle zu leisten haben; aber wir können es nur, wenn wir die ganze Welt, in welcher wir leben, Alle, die uns der Herr anvertraut hat, ansehen als das Gebiet, in welchem der Same des göttlichen Wortes aufzugehen und Früchte zu bringen bestimmt ist, und wenn wir ebenso über die Hindernisse, welche dagegen obwalten, urtheilen, wie der Erlöser es gethan hat, fest überzeugt, daß es keine Macht gibt, welche einen bösen Willen in sich tragen könnte gegen das Fortwirken des göttlichen Heils, sondern daß

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alle Hindernisse ihren Grund haben in der Beschaffenheit der menschlichen Natur. Da gibt es nichts, was wir zerstören müßten, was ein Gegenstand der Feindschaft bleiben sollte; sondern Alles soll nur untergeordnet werden dem, der da gemacht ist, über Alle zu herrschen, Alles | soll ein Werkzeug werden für den göttlichen Geist, der seinen geistigen Leib durchdringt. Und so wird denn von einem Geschlecht zu dem andern die Fruchtbarkeit des Landes, in welches der göttliche Same gestreut wird, wachsen, der Dornen werden immer weniger werden, und überall werden wir mehr des fruchtbaren Landes und des kräftigen Bodens wahrnehmen, in welchem die geistigen Güter, welche er gebracht hat, gedeihen. Das hat er überall gesehen, so lange er auf Erden gewandelt hat; das ist seine Zuversicht gewesen, als er den Samen des göttlichen Wortes ausstreute und sich selbst darstellte unter dem Bilde eines Samenkornes, das in die Erde müsse gesenkt werden und absterben, damit es Frucht bringe. So hat er den Willen seines Vaters erkannt und gepriesen und sich der Erfüllung desselben hingegeben bis an den letzten Athemzug seines Lebens, und in diesem Sinne lasset uns an ihm hangen, der Kraft seines göttlichen Wortes vertrauen, in seinem heiligen Acker ihm dienen, und des festen Glaubens leben, daß nichts im Stande sei, das Werk, welches durch ihn begonnen hat, zu zerstören, daß seine göttliche Kraft immer mehr Alles sich unterordnen und die ganze menschliche Natur dienstbar machen werde seinem Werke, und sie erfüllen mit dem Frieden und dem unmittelbaren Bewußtsein Gottes und seiner lebendigen Nähe, in welchem er gelebt hat. Das ist die Kraft des göttlichen Samens, den er ausgestreut hat, und welchen sein Geist in dem Geschlechte der Menschen wolle zum Wachsthum und zur Reife bringen, auf daß Alle immer mehr erkennen, daß von ihm die Kraft kommt, welche den Menschen der Seligkeit theilhaftig machen kann, zu der er von Gott geordnet ist. Amen. Lied 192.

12–14 Vgl. Joh 12,24 28 Die einzige Strophe von Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 192 (Melodie von „Christus der uns selig macht“) lautet: „O hilf, Christe, Gottes Sohn, durch dein bittres Leiden, daß nicht Kreuz, nicht Spott und Hohn uns von dir mag scheiden, daß wir deines Kreuzes Schmach fruchtbarlich bedenken, dafür, wiewohl arm und schwach, dir Dankopfer schenken.“

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Am 19. April 1832 mittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Gründonnerstag, 13 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,4 Drucktext Schleiermachers; Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 268–272 SW II/4, 1835, S. 796–801; 21844, S. 833–838. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 653–657 Keine Konfirmationspredigt

Confirmationsrede. Die Gnade des Herrn sei mit uns jetzt und immerdar! Amen.

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Als ich das letzte Mal in den Stunden des euch von mir ertheilten Unterrichts mit euch zusammen war, meine lieben Söhne in dem Herrn, da, indem wir noch Vieles von dem, was das Wesentliche in der christlichen Lehre ist, miteinander wiederholend durchgingen, und ihr gewahr wurdet, wie freilich nicht Alles euch in dem Augenblicke gegenwärtig war, aber doch die Fäden dazu vornämlich in den schönen Stellen und Sprüchen der heiligen Bücher immer wieder gefunden wurden, – da sagte ich euch, daß ihr den Unterricht, den ihr von mir empfangen habt, nicht ansehen solltet als das Maß christlicher Erkenntniß, welches euch genügen könnte, sondern daß es nur den Zweck gehabt hat, zuerst, und vor Allem, in euch die Richtung auf das ewige Leben, welches wir in dem Glauben an den Erlöser hier schon haben, zu erregen und zu befestigen und dann euch vom Verständniß der heiligen Schrift und christlichen Lehre so viel mitzutheilen, daß ihr fähig würdet, selbst Gebrauch zu machen von dem göttlichen Worte, und euch da, wo dasselbe in der Gemeine der Christen erklärt und angewendet wird, immer mehr zu erleuchten und zu befestigen. Als ich das letzte Mal mit euch zusammen war, meine lieben Töchter in dem Herrn, da sagte ich euch: das Wort meines Abschiedes würdet ihr heute vernehmen; denn ich bemerkte, daß unser Aller innere Bewegung zu groß war, um ihr dort freien Lauf zu lassen. Was ihr nun aber gehört habt, das ist auch das Wort meines Abschieds an

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euch. So sehet an, was wir miteinander gesprochen haben über den Weg des Heils, welchen Gott dem menschlichen Geschlechte angewiesen hat; so, und höher nicht, schätzet es, und lasset euch nun empfohlen sein die treue Benutzung des göttlichen Worts in christlicher Lehre in der Gemeinschaft der Gläubigen. Aber kein Abschied ist doch ohne einen guten Wunsch; ich weiß euch Allen aber keinen besseren auszusprechen, als was der Apostel Paulus in seinem Briefe an die Philipper sagt: | 269

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„Freuet euch in dem Herrn allewege!“ Diese Aufforderung, meine geliebten Kinder, sehet nicht an, als habe sie zunächst den Zweck, die hohe Feierlichkeit und den heiligen Ernst dieser Stunde gewissermaßen zu mäßigen. Nein! aber ich möchte euch mit wenigen Worten sagen, wie genau eben dieses zusammenhängt mit allen den theuren und heiligen Rechten, welche euch jetzt ertheilt werden, sowie mit den Gelübden, welche ihr ablegt, und mit den Pflichten, welche ihr über euch nehmt; ich möchte euch mit wenigen Worten das an’s Herz legen, wie eben in der seligen Gemeinschaft, in welche ihr aufgenommen werdet, Freude und Ernst, Freude und Schmerz, Freude und Kampf, Freude und Streit, Alles Eins ist, und Alles zusammengefaßt in der heiligen Freude am Herrn. Wohlan, meine Geliebten, indem ihr in die Gemeinschaft unsrer evangelischen Kirche aufgenommen werdet, welche das Wort der heiligen Schrift zur einigen Regel ihres Lebens und der Gedanken, welche sich auf Gott und Göttliches richten, erkoren, und dabei allein festhalten will, indem ihr, sage ich, in diese Gemeinschaft aufgenommen werdet, übernehmt ihr zugleich die Pflicht, immer zu wachsen in der heilsamen Erkenntniß der göttlichen Wahrheit. Wenn ihr das thut, wie sollte es möglich sein, daß nicht jeder Schritt, den ihr macht, und auf welchem das Wort des Herrn eurem Fuße eine Leuchte ist, euch auch werde zur Freude an dem Herrn, der mit Recht sagen konnte: er habe den Menschen Alles kund gethan, was sein Vater ihm offenbaret habe, und eben dadurch habe er ihnen seinen und unsern Vater so verherrlicht, daß eben dieses nun auch seine Verherrlichung sei. Was euch in dieser Freude stören könnte, indem ihr euch mit den Gegenständen unsres Heils beschäftigt, allen leeren Streit um menschliche Worte und Meinungen, das lasset ferne von euch sein, und glaubet fest, ihr wachset nur in dem Maße in der heilsamen Erkenntniß, als ihr zugleich wachset in dieser reinen und ungetheilten Freude am Herrn. Indem ihr aber in die Gemeinschaft 29–30 Vgl. Ps 119,105 31–32 Vgl. vermutlich Joh 5,20 in Verbindung mit Joh 17,8 32–34 Vgl. Joh 17,4f

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der christlichen Kirche aufgenommen werdet, verpflichtet ihr euch aber auch feierlich, Arbeiter zu sein in dem Weinberge des Herrn. Immer mehr werdet ihr nun eintreten in das thätige Leben; es wird sich mit seinen mancherlei Geschäften und Verwicklungen immer mehr vor euch aufthun, ihr | werdet euren bestimmten Beruf in demselben erkennen, und je geschärfter euer Gewissen ist durch das göttliche Wort, um desto mehr auch den Werth dieses Berufs und die ganze Größe eurer Verantwortlichkeit, Deßjenigen, dem ihr euch geweiht habt, würdig zu wandeln. Das werdet ihr immer mehr und tiefer in eurem Herzen empfinden. Wohlan so freuet euch denn des Herrn, der so schöne Gaben unter seine Diener ausgetheilt hat, der euch gesegnet hat, nicht nur mit seinem Worte und der christlichen Gemeinschaft, sondern euch immer mehr segnen wird mit einer Stätte, an der ihr selbst thätig sein könnt, um sein Reich zu fördern, und es zu beweisen, daß ihr nicht euch, sondern Er in euch und ihr für Ihn lebt. Ihr werdet euch immer mehr des Herrn freuen, der gesagt hat zu seinen Knechten: „du getreuer Knecht, du bist über Weniges getreu gewesen, du sollst nun über Viel gesetzt werden!“ Und das wird die Erfahrung sein, die ihr von einem Tage zu dem andern machen werdet; denn das ist die eigentliche und wahre Gestaltung des christlichen Lebens, welche der Herr in diesem Worte ausgesprochen hat. Ihr seid jetzt nur über Weniges gesetzt; aber von dem Augenblicke an, wo ihr die Sorge für eure Seele erkennt als euren Beruf, wo ihr dem Herrn und Meister Christo treue und gehorsame Liebe gelobet, von dem Augenblicke an seid ihr über Etwas gesetzt, und je mehr ihr treu seid über das Wenige, je mehr ihr Alles, was euch obliegt, in dem Gefühle der Liebe zu Gott und zu eurem gemeinsamen Erlöser, welche zugleich auch allein die wahre und volle Liebe zu den Menschen ist, die unser Vater im Himmel geschaffen, und die er durch Christum des Heils theilhaftig gemacht hat: um so mehr wird sich auch die Erkenntniß eures Weges eröffnen, und es wird Licht werden um euch, um so mehr werden die Herzen der Menschen sich euch zuwenden und sie die Kraft erkennen, die in euch wirksam ist. Und was gäbe es Größeres, worüber wir gesetzt werden könnten, als uns immer mehr hinein zu leben in die Gemeinschaft derer, die thätig sind für das Reich Gottes auf Erden! Diese Freude also, die Freude an dem Herrn, welcher die getreuen Knechte immer über mehr setzt, je nachdem sie treu gewesen sind über Weniges, die wird euer seliger Genuß sein. Aber euer Leben wird auch nicht sein ohne mancherlei Kämpfe, wie es von Anfang an gewesen ist, daß die | Jünger des Herrn sagen mußten: „wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit den Geistern, die da 2 Vgl. Mt 20,1–16; 21,28–31

17–18 Vgl. Mt 25,21.23

40–1 Vgl. Eph 6,12

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mächtig sind in der Welt.“ Dieser Streit ist noch nicht zu Ende, und ihr werdet auch in denselben verwickelt werden. Ihr werdet auf der einen Seite, indem ihr treu sein wollt, wenn es auch erst in dem Wenigen ist, doch immer gehindert werden durch das Verderben, welches ihr immer mehr und immer reichlicher erblicken werdet in dem menschlichen Leben. O, dann freuet euch des Herrn, der die Sünde der Welt getragen hat, so daß er zuerst allein es von sich sagen konnte; aber lebet ihr in Ihm und lebet Er in euch, so müßt ihr das ja auch erfahren und in dem Widerstande gegen das Gute, welchen ihr finden werdet, auch die Sünde der Welt tragen, und, wie der Herr sagt, Sein Kreuz als das eurige auf euch nehmen, und ausharren in der freudigen Thätigkeit; denn so nur hat er, und anders hätte auch er nicht gekonnt, die Sünde der Welt getragen. Aber freilich ihr werdet nicht nur Hindernisse finden, sondern noch näher wird euch das, was gegen das Reich Gottes streitet, treten. Es wird euch nicht fehlen an mancherlei Versuchungen, und auch in euch selbst werdet ihr zu kämpfen haben den Kampf des Geistes gegen das Fleisch. O dann freuet euch des Herrn, der in seiner eigenen Kraft sagen konnte: „der Glaube ist der Sieg, welcher die Welt überwunden hat.“ Euer Glaube an ihn wird es sein, der auch die Welt in euch selbst, in eurem Innern, überwindet, und unterlasset ihr niemals, das Auge eures Geistes und die Liebe eures Herzens eben diesem unserm Herrn zuzuwenden, so wird auch immer lebendiger dieser siegreiche Glaube an ihn werden, und je mehr ihr sein Leben in eurer Seele inne werdet, um desto größer wird eure Zuversicht sein in dem Streite gegen die Welt und euer Fleisch. – Aber ich erwähne auch noch das theuerste und heiligste Recht, welches euch heute ertheilt wird: Theil zu nehmen an dem heiligen Mahle des Herrn. Ihr wisset, wie ich davon zu euch geredet habe, wie es das wahre Geheimniß desselben ist, daß es eine geistige Gemeinschaft ist zwischen ihm und uns, und nicht vermittelt ist durch menschliches Wort und menschliche That das Geheimniß seines unmittelbaren Naheseins unter denjenigen, die an ihn glauben. O freuet euch in diesen heiligen Stunden des Herrn, der gesagt | hat: „wo Zwei oder Drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen!“ Freuet euch des Herrn, der sagen konnte: „ich bin das Brot des Lebens und das Brot ist mein Fleisch, mein ganzes menschliches Dasein, welches ich gebe für das Leben der Welt.“ 18 „der] der

19 hat.“] hat.

10–11 Vgl. Mt 10,38; 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23 18–19 Vgl. 1Joh 5,4 vermutlich in Verbindung mit Joh 16,33 34–36 Mt 18,20 36–37 Joh 6,35.48 37– 38 Joh 6,51

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Und wo euch irgend Etwas den Frieden eures Herzens trüben will, da nehmet eure Zuflucht zu diesem geheimnißvollen Mahle in der Verbindung mit allen den heilsamen Einrichtungen der christlichen Kirche, wovon es der höchste Gipfel ist; und ihr werdet in der Stärke eurer Gemeinschaft mit dem Erlöser, in der Kraft seiner geistigen Gegenwart auch immer mehr Muth gewinnen und Licht, – Muth, wo ihr schwach werden wollt, Licht, wo der rechte Weg euch zweifelhaft, und wo es dunkel um euch werden kann. Und so, meine geliebten Freunde, freuet euch des Herrn alle Wege! Ja alle Wege; denn wenn ihr euch nicht alle Wege seiner freuet, so wird es schwach stehen um eure Freude an ihm; denn Nichts, was irgend dem Menschen von Gott gegeben ist, gehöre es zu seiner Herrschaft über diese Erde, gehöre es zu dem frohen Genusse der Güter derselben, Nichts kann, wenn es recht gebraucht wird, die Freude an dem Herrn stören; immer möge sie sich finden in eurem Herzen, wenn ihr sie suchet mitten unter den Sorgen, mitten unter den Geschäften, ja auch unter den Genüssen dieses Lebens, insofern sie den Christen geziemen, und was euch so bedrängt, daß ihr nicht gleich könnt in euch kehren und die Freude an dem Herrn in euch finden, das fliehet, denn es droht, sie euch zu rauben! Aber das ist auch die einzige Gefahr, die ihr zu fürchten habt; denn bleibt euch die Freude am Herrn, dann werdet ihr euch recht und ganz freuen können des Herrn, der da sagt: „Nicht gebe ich euch, wie die Welt euch giebt; meinen Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch!“ und in diesem werdet ihr dann erhoben sein über den Wechsel der menschlichen Dinge, und auch unter den Trübsalen und Widerwärtigkeiten, auch unter den Leiden des Lebens, werdet ihr die Freude am Herrn festhalten und wiederfinden. So wird es sich euch bewähren, wie wahr es ist, was er sagt: „Wer an mich glaubt, der ist aus dem Tode hindurchgedrungen und hat das ewige Leben!“ Amen! Dr. Schleiermacher.

23–24 Vgl. Joh 14,27

29–30 Vgl. Joh 5,24

Am 20. April 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Karfreitag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 5,7–8 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 21–38, Nr. II SW II/3, 1835, S. 242–252; 21843, S. 252–263. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 317–326 Keine Keine

Am Charfreitage 1832.

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Lied 174. 185, 1–5. Text. Römer V, 7 u. 8. „Denn schwerlich stirbt jemand um eines Gerechten willen; um eines Gutes willen dürfte vielleicht jemand sterben. Gott aber stellt seine Liebe gegen uns darin dar, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren.“

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M. a. Fr. In dem ganzen Zusammenhange, aus welchem die verlesenen Worte genommen sind, sucht der Apostel seine Leser davon zu überzeugen, daß wir nur durch Christum in das rechte Verhältniß zu Gott gekommen sind. Denn so fängt er an, Haben wir denn Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum: so rühmen wir uns der Herrlichkeit, die Gott geben soll; ja noch mehr, wir rühmen uns auch der Trübsal. Die Liebe Gottes, sagt er | weiter, ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, und dann fährt er fort mit den Worten unseres Textes, denn dadurch stelle Gott uns seine Liebe dar, daß Christus für uns gestorben sei, da wir noch Sünder waren. So 3 8.] 8.: 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 174: „Es ist vollbracht! so ruft des Heilands Mund“ (Melodie von „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“); Nr. 185: „Kommt, die ihr Jesu Kreuz erhebet“ (Melodie von „Mein Jesu, dem die Seraphinen“) 11–14 Vgl. Röm 5,1–3 14–15 Vgl. Röm 5,5

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stellt er uns also den Tod Christi, dessen Gedächtniß wir heute miteinander feiern, als die höchste Verherrlichung der Liebe Gottes zu uns dar, und das lasset uns izt zum Gegenstand unserer Festbetrachtung machen. Es kommt dabei auf zweierlei an, was Paulus in dem Verfolg unserer Textesworte weiter auseinander sezt, daß nämlich Gott unserem Erlöser den Tod aufgelegt habe als den allervollkommensten Beweis des Gehorsams, und dann zweitens, daß nun durch diesen Gehorsam, wie er sagt, Viele gerecht werden. An diesem beiden zusammen erkennen wir die Vollkommenheit der göttlichen Liebe in dem Tode des Erlösers. I. Wenn wir nun zuerst, m. chr. Z., mit einander erwägen wollen, wie Gott unserm Herrn und Heilande das Leiden und den Tod als den vollkommensten Gehorsam aufgelegt habe: so glaube ich dabei zuerst einen Gedanken beseitigen zu müssen, welcher gewiß einem Jeden von selbst einfällt. Nämlich daß in dem Tode des Erlösers die Liebe Gottes, seines und unseres himmlischen Vaters, sich in ihrer ganzen Herrlichkeit zeigt, das scheine doch bei weitem nicht so nahe zu liegen, als daß die Liebe des Erlösers selbst zu seinen Brüdern sich darin bekundet; und gleichsam nur vermittelst seiner Liebe zu uns dürften wir erst in seinem Tode die Liebe Gottes zu uns erblikken. Aber den|noch, m. g. Fr., verhält es sich hiemit so, wie ich es eben aufgestellt habe. Freilich ist schwer zu sondern, was auf das Allerinnigste vereinigt ist; die Liebe des Erlösers zu uns und seinen Gehorsam gegen seinen und unseren himmlischen Vater, wer wollte wohl dies beides von einander trennen? Aber doch steht beides gegen einander so, daß seine Liebe zu uns sich am unmittelbarsten zeigt in seinem Leben, sein Gehorsam gegen den Vater aber in seinem Leiden und Tode. Darauf führt er uns selbst in gar manchen von den herrlichen und köstlichen Worten seines Mundes auf das Bestimmteste hin. Seine Liebe zu den Menschen war das Bestreben zu suchen und selig zu machen, was verloren war, sich überall als den bereitwilligen Arzt der Kranken zu zeigen, sein Leben mitzutheilen und einzuflößen durch seine Worte und durch seine Werke, sich den Menschen anzubieten, damit sie bei ihm Ruhe und Erquikkung finden möchten für ihre Seelen. Da hingegen wo er von seinem Tode redet, indem er sich darstellt unter dem Bilde des guten Hirten, der sein Leben läßt für seine Schaafe, stellt er sich dem Miethling gegenüber, welcher flieht, wenn der Wolf kommt. Dieser nämlich fliehe, weil die Schaafe nicht sein Eigenthum sind; der gute 5–8 Vgl. Röm 5,19 Mt 9,12; Mk 2,17

31 Vgl. Lk 19,10; ferner Mt 18,11 36–2 Vgl. Joh 10,1–16, bes. 11f

32 Vgl. Lk 5,31; ferner

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Hirte also lasse sein Leben für die Schaafe, weil sie sein Eigenthum sind. Aber wer vermag wol, m. G., die Liebe zu seinem Eigenthum zu unterscheiden von der Liebe zu sich selbst? Alles, was unser Eigenthum ist in dem genaueren Sinne des Wortes, das ist auch ein Theil unserer Kraft und unseres Lebens, und die Liebe dazu gehört wesentlich und unabtrennbar zu der Liebe zu uns selbst. An einer anderen Stelle sagt der Erlöser zu seinen Jüngern, Nie|mand hat größere Liebe, denn daß er sein Leben läßt für seine Freunde. Sie, sagt er zu ihnen, seien seine Freunde, weil sie an dem Worte hielten, das er ihnen gegeben habe. Aber nicht für sie als seine Freunde, nicht für sie in einem besonderen, ausschließlichen, vorzüglichen Sinn hat er sein Leben gelassen; sondern zum Heil der Welt hat er sein Leben gegeben, und die Welt war nicht sein Freund. Ja, wenn wir, m. G., denken an das große Wort des Erlösers, welches er uns als sein einziges Gebot aufstellt, indem er zu seinen Jüngern sagt, Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet mit der Liebe, mit welcher ich euch geliebet habe1: so freuen wir uns dessen freilich, daß wir vermögen mit seiner Liebe, sofern sie das Bestreben war, alles um sich her mit seiner göttlichen Kraft zu nähren, und zu erfüllen, und dadurch zu heiligen, daß wir mit dieser Liebe uns unter einander lieben können, darin findet diese schöne Gegenseitigkeit statt, welche das Wesen der christlichen Gemeinschaft ausmacht. Wie könnten wir uns aber unter einander lieben mit der Liebe des allein Heiligen und Reinen, der sein Leben gegeben hat für die Gesammtheit der Sünder? Darum, sähe Er selbst seinen Tod an als die eigentliche unmittelbare Folge, als den wesentlichsten und höchsten Ausdrukk seiner Liebe: so wäre dieses sein Gebot nichts; und wir müßten gerade das beste und größte erst wegschneiden, ehe wir anfangen könnten an die Erfüllung desselben zu denken. Ueberall aber stellt er seinen Tod dar als den Willen seines Vaters. Ist es möglich, sagt er, so gehe dieser Kelch an mir | vorüber, was er nicht gesagt haben könnte, wenn es das Werk seiner Liebe, die Wahl seiner Liebe gewesen wäre, ihn zu leeren; doch nicht mein, fährt er fort, sondern dein Wille geschehe. So redet er nun freilich überall von seinem Gehorsam gegen seinen Vater in seinem ganzen Leben und darum vermögen wir diesen von seiner Liebe nicht zu trennen; seine Liebe war eben das Werk, welches der Vater ihm zeigte, und welches er beständig that. Aber wenn wir nun besonders von seiner Hingebung in Leiden und Tod reden wollen: so müssen wir sagen, darin stellt sich überall der Gehorsam gegen den Willen seines Vaters dar. 1

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7–10 Vgl. Joh 15,13f

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30 Vgl. Mt 26,39

32–33 Vgl. Lk 22,42; ferner Mt 26,39

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Und das muß uns ja um desto deutlicher sein, wenn wir darauf achten, wie es so klar in den Worten zu Tage liegt, die ich eben angeführt habe, daß, um es menschlich auszudrükken, sein Gehorsam gleichsam im Kampfe war mit seiner Liebe. Nicht für sich konnte er bitten, Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch vor mir vorüber, sondern nur um derer willen, die ihm sein Vater schon gegeben hatte. Die Liebe hätte gern noch länger gelebt mit ihnen und für sie, die Liebe hätte ihnen gern noch mehr mitgetheilt aus der Fülle seines göttlichen Wesens: aber er überließ es dem Urtheil seines Vaters, wann Zeit und Stunde gekommen sei, und darum sprach er zu ihm zuerst, Ist es möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber – das war der Ausdrukk seiner innigen und unveränderlichen Liebe zu den Seinigen – doch nicht, wie ich will, fährt er fort, sondern wie du willst – das war der Ausdrukk seines völligen Gehorsams und seiner gänzlichen Ergebung in den Willen seines Vaters. Aber nun, m. chr. Z., lasset uns der Betrachtung | näher treten, wie der Tod des Erlösers in der That der vollendetste Gehorsam war, den ihm Gott auflegen konnte. Als solchen stellt ihn auch anderwärts die Schrift dar. So sagt der Verfasser des Briefs an die Hebräer, daß er, indem er litt und Gehorsam übte, durch Gehorsam vollendet wurde1, d. h. in seiner ganzen Vollkommenheit den Menschen dargestellt. Sollte also in seinem Gehorsam sich seine Vollkommenheit darstellen: so mußte auch dieser Gehorsam selbst der vollkommenste und der größte sein. Aber auch hier treten uns gar leicht eine große Menge von Beispielen und mannigfaltigen Betrachtungen entgegen, die danach streben, dem Erlöser diesen Ruhm seines Gehorsams zu verringern, als ob es nämlich doch gar viel Aehnliches gegeben hätte, und auch noch immer geben werde in der menschlichen Gesellschaft. Wie Viele haben nicht, auch abgesehen von diesem heiligen und göttlichen Werk der Erlösung, und den blutigen Zeugen dieses Glaubens, wie Viele haben nicht zu allen Zeiten ihr Leben gelassen für ihre Ueberzeugung? Ob diese wahr oder ob sie falsch ist, ob sie ein deutliches oder ein dunkles Abbild der göttlichen Wahrheit ist, das hat darauf weiter keinen Einfluß. Und allerdings ist es wahr; viele Menschen haben durch die Bereitwilligkeit, mit der sie in den Tod gingen, bewiesen, daß sie lieber das Leben hingeben wollten als es auflösen in einen Widerspruch mit sich selbst. Mit Ueberzeugung bekennen und dann ohne Ueberzeugung wieder zurükknehmen, das kann keiner, in welchem die Liebe zur Wahrheit lebendig ist; das kann keiner, für den es 1

Hebr. 5, 8. 9.

5 Vgl. Mt 26,39

12–13 Vgl. Mt 26,39

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schon etwas größeres | gibt als die nichtigen und vergänglichen Dinge dieses Lebens: aber so einfach wie in allen ähnlichen Beispielen war auch gar nicht der Fall unseres Erlösers. Wenn wir erwägen, wie häufig wir in den Erzählungen von seinem Leben einen im Einzelnen betrachtet schwer zu erklärenden aber doch gar zu deutlich uns vorgestellten Wechsel antreffen zwischen offnem Bekenntniß und vorsichtigem Verschweigen, indem er bald die Menschen darauf hinwies, es gebe keinen anderen Willen Gottes, den sie zu thun hätten, als an den zu glauben, den er gesandt habe, und so ganz deutlich sich selbst bezeichnete; bald aber wieder, wenn er angeredet wurde und ihm zugerufen, daß er sei der verheißene Sohn David’s, der Gegenstand aller Hoffnungen und Erwartungen, den Menschen verbietet, davon auch nur zu reden, ja auch seinen Jüngern hat er es mehr als einmal gesagt, sie sollten niemandem sagen, er sei Christus: so müssen wir zugeben, dieses Verschweigen lag auch in seiner Art und Weise und hatte seinen guten Grund in den gesammten Verhältnissen seines Lebens. Also gab es für ihn keine solche Nothwendigkeit, unter allen Umständen immer und überall zu bekennen, mit seiner Ueberzeugung, und zwar vornehmlich mit seiner Ueberzeugung von sich selbst hervorzutreten, da sie doch nur für die etwas sein und nur da etwas wirken konnte, wo eine Fähigkeit war, sie aufzunehmen. Aber jenes Bekenntniß, welches er so ablegte, daß er es selbst auf der einen Seite als den Grund seines Todes ansah, auf der andern aber auch als die Gründung seines Reiches, als er nämlich dem Hohenpriester antwortete, Du sagst es, ich bin der Sohn Gottes, aber ich sage dir auch, von nun an wird es geschehen, daß | ihr sehen werdet des Menschen Sohn sizen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels1, dieses Bekenntniß war eine Handlung seines Gehorsams. Es gehörte dazu, daß er unter das Gesez gethan war; er durfte vor dem Hohenpriester nicht schweigen, wenn er nicht diesen allgemeinen an ihn ergangenen Willen seines Vaters im Himmel umgehen wollte. Freilich eben dieses Bekenntniß des Erlösers hat noch viele Andere in ähnliches Leiden und ähnlichen Tod hinabgezogen. Welche Fülle des christlichen Märtyrerthums in jenen ersten Zeiten, wo der Glaube an den Sohn Gottes sich durchringen mußte durch die Feindschaft der ganzen Welt, aller derer, denen sein Kreuz eine Thorheit, aller derer, denen es ein Aergerniß war. Aber wie sollen wir dieses, m. G., betrachten? Ein Theil davon war das Werk des Gehorsams Christi in den 1

Matth. 26, 64.

8–9 Vgl. vermutlich ex negativo Joh 5,38 10–13 Vgl. Mt 9,27.30 13–14 Vgl. z. B. Mt 16,20; Mk 8,29f; Lk 9,20f; ferner Mt 17,9; Mk 9,9 36–37 Vgl. 1Kor 1,23

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Seelen seiner Gläubigen, es war die Wirkung seines Lebens in ihnen und eben deswegen mit gehörig zu seinem Tode, wie der Apostel Paulus sagt, daß er durch sein Leiden ergänze was gleichsam noch fehle an den Leiden Christi1. Aber wie vieles war doch auch wiederum menschliche Verblendung und Schwäche! wie viel muthwilliges Drängen nach einer solchen Aufopferung ohne Noth! von wie vielen Vorurtheilen und unrichtigen Vorstellungen war die Hingebung so vieler sonst edlen Gemüther in den Tod begleitet, aber dann auch gewiß nicht der reine Gehorsam des Erlösers. Wenn wir nun bedenken, wie auf der einen Seite sein Gehorsam im Kampf war mit seiner herzlichen und treuen Liebe zu den Seinigen, | denen er gern noch länger gelebt hätte, um sie fester zu gründen in dem gemeinsamen Leben; wenn wir bedenken, es war der Gehorsam gegen ein Gesez, von welchem er deutlich sagt, bald werde es überhaupt sein ganzes Ansehen und seine ganze Kraft verlieren, von dem er wußte, wie falsch die Menschen es von Anbeginn an verstanden hatten, indem sie das was nur zwischen eingetreten war um die Welt zusammenzuhalten unter dem Bewußtsein der Sünde, als das Mittel ansahen, wie der Mensch könne Gott wohlgefällig werden und sich der göttlichen Belohnungen für die Zukunft sicher halten. Der Gehorsam gegen solches Gesez war der Gehorsam, um dessentwillen er in den Tod ging; und eben deswegen war er nichts anderes als die reine Ergebung in den Willen Gottes, ohne daß unmittelbar irgend etwas in der eigenen Seele des Erlösers menschlicher Weise genommen für Leiden und Tod gesprochen hätte. Und fragen wir nun, wofür? ja dann kommen wir natürlich auf die ersten unserer Textesworte zurükk. Schwerlich, sagt Paulus, stirbt jemand um eines Gerechten willen, um eines Rechtschaffenen willen; denn jeder achtet sich selbst dafür, daß er dies eben so gut sei wie irgend ein Anderer. Vielleicht, fährt er fort, dürfte wol um eines Guten willen jemand sterben; wenn, meint er nämlich, ein Mensch in einem Andern sähe eine lebendige Liebe zu dem, was das Wohl und Heil Aller fodert, eine rüstige Kraft, das Gute zu schaffen nicht nur für sich, sondern im Allgemeinen für Alle; da könnte wol Einer, damit ein Solcher ungestört in seiner Wirksamkeit bleibe, damit dessen Werk gedeihe, und dessen herrliche Kräfte noch länger auf | eine edle Weise wirken könnten, sein eigenes wenn auch nicht unwürdiges, doch weniger werthes Leben in den Tod geben. Aber doch wie viel Widerstreben der Natur, wie vielerlei Bedenklichkeiten würden nicht hiebei Jedem entgegentreten. Wird der, dem ein solches Opfer gebracht wird, 1

Kol. 1, 24.

16–18 Vgl. Gal 3,19.22f

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auch hernach bleiben, der er gewesen ist? bürgt jemand für die Beständigkeit seines reinen Willens, seiner treuen Pflichterfüllung, seiner Hingebung um des guten willen? Oder wenn es sich mehr um das Gedeihen eines einzelnen Werks oder aller seiner Werke zusammen handelt: wer steht dafür, fragt man alsdann, wie viel davon den Menschen zu Gute kommen wird? wer weiß, wie viel davon wieder unterdrükkt wird durch die Gewalt des Bösen? Und darum sagt Paulus wird schwerlich Einer auch um eines Guten willen sterben, aber möglich sei es allerdings. Und der Erlöser sagt, Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde1; und immer sind ja diejenigen unsere Freunde, welche wir am Meisten für die Guten halten, mit denen wir glauben dem inneren Geist unseres Wesens gemäß am Meisten in Uebereinstimmung wirken zu können. Für eine solche Gesammtheit von Kräften sein einzelnes Dasein hinzugeben, sagt der Erlöser, das ist eine Liebe, über welche es keine größere gibt. Gott aber, sagt Paulus, stellt uns seine Liebe zu uns darin dar, daß vermöge seines Gebots und Willens Christus sterben mußte für uns, da wir noch Sünder waren; nicht um der Gerechten willen, nicht um eines Guten willen, nicht um eines Kreises von Freunden willen, sondern um der Ge|sammtheit der Sünder willen. So dürfen wir wohl nicht zweifeln, das ist der vollkommenste Gehorsam, der geübt werden konnte, und den hat Gott Christo aufgelegt um unsertwillen; denn nicht für ihn, nicht um irgend anderer guter Zwekke willen, sondern um das Heil der Sünder zu schaffen mußte er in diesen Tod gegeben werden. II. Und so lasset uns denn in dem zweiten Theile unserer Betrachtung sehen, was durch diesen Tod des Erlösers erreicht werden sollte, und also auch erreicht worden ist; denn beides läßt sich, wo von einem göttlichen Rathschlusse die Rede ist, nicht von einander trennen, damit wir sehen, wie dieser Tod nun die ganze Herrlichkeit der göttlichen Liebe ist. Die größeste Liebe ist die, welche demjenigen, welcher der Gegenstand derselben ist, das meiste Gute schafft. Eine andere Erklärung würden wir uns vergeblich bemühen zu geben; und der Apostel sagt im Verlauf seiner Rede: gleichwie durch Eines Menschen Ungehorsam Viele Sünder geworden sind, also auch durch Eines Gehorsam werden Viele gerecht2. Das also, m. G., das ist es, was aus dem Gehorsam des 1 2

Joh. 15, 13. V. 19.

40 Gemeint ist Röm 5,19.

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Erlösers bis zum Tode am Kreuz hervorgehen sollte. Christus, sagt Paulus, mußte sterben für uns, als wir noch Sünder waren. Sünder waren! Sind wir es nicht mehr? bleiben wir es nicht immerdar? Nein, sagt er, durch Eines Gehorsam werden Viele gerecht, durch Eines Gehorsam kommt die Rechtfertigung des | Lebens über Alle, die an ihn glauben. Was heißt das aber, es werden durch ihn Viele gerecht? Es gibt nicht leicht ein Wort, m. th. Z., welches wechselreicher wäre in dem Umfange seiner Bedeutungen. Gerechtsein ist auf der einen Seite das Wenigste, was wir von jedem Menschen fodern zu dürfen glauben; auf der anderen Seite verbindet sich mit diesen Worten zugleich – und das ist der Sinn, den es so oft in unserer heiligen Schrift, aber nicht in ihr allein, sondern auch in anderer menschlicher Rede hat – es verbindet sich damit zugleich der Begriff der höchsten Vollkommenheit. Woher, m. th. Fr., diese große Verschiedenheit? Die Frage danach führt uns in die innersten Tiefen unseres Wesens zurükk, und gibt uns den Schlüssel zu der ganzen Geschichte des Menschen und dem Zusammenhange der göttlichen Rathschlüsse. Wer hätte nicht wenigstens in den früheren Zeiten seines Lebens gar oft in seinem Sinne gehabt das Bild eines paradiesischen Zustandes, wie wir uns aus den wenigen Zügen, die uns davon mitgetheilt sind, das Leben der ersten Menschen denken, das Leben derselben, ehe die Sünde in die Welt kam. Fragen wir uns, war da eine Gerechtigkeit? Wir werden sagen müssen, nein! War da eine Vergleichung, welche der Mensch hätte machen können zwischen dem, was er wirklich war, und einem Anderen, was er sein und werden sollte? Wir werden sagen müssen, nein! Fragen wir uns nun, Können wir diesen Zustand, in welchem es so um den Menschen steht, für den achten, der wirklich unseres Bestrebens und unseres Verlangens werth wäre, den wir ein Recht hätten zurükkzuwünschen und zurükkzurufen? Wir werden gewiß sagen, nein, zu einer solchen Art von | Uebereinstimmung mit sich selbst und mit der äußeren Natur, die ihn umgibt, zu einem solchen Genuß und Besiz des Lebens ohne Hindernisse, ohne Kämpfe, ohne große Entwikkelung von Kräften, dazu ist der Mensch nicht geschaffen. Was heißt aber nun gerecht sein, und worauf beruht es? Darauf, m. th. Fr., daß uns etwas vorsteht, was wir erreichen, wonach wir streben sollen, was wir also nicht sind und nicht haben. Nur unter dieser Bedingung gibt es eine Gerechtigkeit; und unter dieser ist sie dann auch auf der einen Seite das kleinste und geringste, auf der andern das höchste und größte, was wir streng und buchstäblich genommen niemals erreichen können. Sie ist das geringste, wenn das, was vor uns steht und was wir erreichen sollen, nichts anderes ist als ein äußeres Gesez, welches gegeben ist, um die Verhältnisse der Menschen zu leiten. An diesem

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Maaßstabe soll sich nicht nur jeder messen; sondern den soll auch jeder erfüllen. Thut er das nicht: so wird er ein Hinderniß der menschlichen Gesellschaft für Alle; und statt ein Bestandtheil derselben zu sein wird er vielmehr etwas das aus derselben entfernt werden muß, damit sie bestehe. Das ist die Gerechtigkeit, die das wenigste ist, was wir fodern können. Fragen wir uns nun, was für einer Gerechtigkeit war der Mensch fähig, zu welcher Gerechtigkeit konnte er es bringen, ehe der Sohn Gottes auf Erden erschien? Ach wie armselig erscheint uns das Bestreben auch der edelsten, der ausgebildetsten, der begabtesten Völker in der menschlichen Gesellschaft! Was war das Ziel, das sie vor sich hatten? Es war das Wohlsein einer kleinen Anzahl von Menschen; um dieses festzuhalten, waren sie in jedem Augenblikk be|reit, sich in Feindschaft zu sezen gegen alle anderen. Was war das Maaß, womit sie sich verglichen? Es war immer eine besondere Gestaltung des menschlichen Lebens, wie sie sie in ihrer Gesellschaft schon fanden, wie ein Geschlecht sie von dem andern ererbte. Wohl uns, daß wir einen Hohenpriester haben ohne Vater und Mutter, ohne Geschlecht, und in ihm ein Maaß, nicht ein besonderes endliches, auf diese oder jene Zeit, auf diesen oder jenen Raum beschränktes, sondern das Ebenbild des göttlichen Wesens in menschlicher Gestalt, den Abglanz der göttlichen Herrlichkeit, das ganze Geschlecht der Menschen unter sich gestellt und Er über demselben stehend als das Maaß, zu welchem sie Alle hinaufstreben müssen! Und er mußte eben deswegen durch den Gehorsam bis zum Tode vollendet werden, damit wir ihn so schauen, damit Keinem mehr irgend ein Zweifel über ihn einfallen könne, ob er wol diese oder jene Versuchung bestanden haben, ob er sich wol in dieser oder jener Lage bewährt haben würde, ob nichts hätte kommen können, was auch ihm zu viel gewesen wäre, und worin auch er uns das Bild der menschlichen Schwäche dargestellt hätte. Darum mußten wir in ihm den vollkommenen Gehorsam schauen bis zum Tode am Kreuz, und durch diesen Gehorsam werden wir nun gerecht, wenn wir ihn in unser Inneres aufnehmen als das Maaß, wonach wir uns richten. Darum sagt er auch selbst, Wer an den Sohn glaubt, der kommt nicht in das Gericht, weil er in jedem Augenblikke sich selbst richtet, weil er das rechte Maaß für sich gefunden hat. Aber bin ich nicht in offenbarem Widerspruch mit dem Apostel gewesen, als ich sagte, auf der andern Seite sei | die Gerechtigkeit das, was wir niemals erreichen, und er sagt, Durch Eines Gehorsam werden Viele gerecht? Wir werden gerecht, aber nur nicht deswegen und in sofern, als wir ihn als unser Maaß uns vor Augen gestellt haben, 20–21 Vgl. Hebr 1,3

33–34 Vgl. Joh 5,24

39–40 Vgl. Röm 5,19

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denn so erreichen wir ihn nicht; aber wol weil und insofern wir ihn als die Quelle des Lebens in uns aufgenommen haben. Wir werden gerecht, wenn wir nicht mehr leben, was wir leben im Fleisch, sondern Christus, der Sohn Gottes, in uns lebet; wenn wir ganz aufgehen in diesem gemeinsamen Leben, dessen Mittelpunkt er ist. Denn dann kann jeder von sich selbst sagen, Wer ist hier, der verdammen will? Christus ist hier, der gerecht macht! Wir sind in ihm, er ist in uns, unzertrennlich ist er mit denen, die an den Sohn Gottes glauben, verbunden, und in dieser Gemeinschaft mit ihm sind sie dann wahrhaft gerecht. Gehen wir aber in uns selbst zurükk, betrachten wir unser einzelnes Leben für sich allein: dann vergessen wir gern, was dahinten ist, und strekken uns immer nach dem, was vor uns liegt. Dann wissen wir wol, immer aufs neue müssen wir zu ihm unsere Zuflucht nehmen, immer auf ihn hinsehen, auf seinen Gehorsam am Kreuz, immer uns sättigen mit den Kräften seines Lebens und Daseins; und darin ist das Wachsthum in der Gerechtigkeit, in der Heiligkeit, in der Weisheit, und das zusammen ist unsere Erlösung durch ihn, durch sein Leben, seine Liebe, seinen Gehorsam, seinen Tod. Wohlan also, m. th. Fr., was für eine Feier dieses Todes gibt es dem gemäß für uns? Keine bessere gewiß als die, daß wir auf jede Weise, wie er sich uns darbietet, und in dem Mahle seines Gedächtnisses geschieht dies auf | die innigste, geheimnißvollste Art, ihn auch aufnehmen, indem wir die Worte des Lebens aufnehmen, die wir von ihm empfangen, und die unvergänglich sind unter den Menschen, indem wir niemals ablassen, uns sein Bild vor Augen zu halten, indem wir mit seiner Liebe uns unter einander lieben, so daß in unserm ganzen Leben auf die mannigfaltigste Weise er mitten unter uns ist, in der Stille der einsamen Betrachtung, da wo zwei oder drei vereinigt sind in seinem Namen, in den großen Versammlungen der Christen, in dem Gedränge der Welt, in allem Thun und Leiden immer Christus in uns, Christus unter uns, Christus die Kraft unseres Lebens, sein Tod die Kraft unseres Gehorsams gegen den göttlichen Willen, und wir wie er keine andere Speise begehrend als die, daß wir thun den Willen unseres Vaters im Himmel. Dazu lasset uns aufs Neue uns mit einander verpflichten unter seinem Kreuz! das sei die Treue, die wir ihm geloben, der uns treu gewesen ist bis in den Tod; das sei die Nachfolge, zu welcher der Gehorsam bis zum Tode, durch den er ist vollendet worden, auch uns vollendet und uns seinem Leben näher bringt! Dann werden wir es einsehen, was die Schrift sagt, Es geziemte dem, der 3–4 Vgl. Gal 2,20 6–7 Vgl. Röm 8,34 in Verbindung mit 33 Phil 3,13 32–34 Vgl. Joh 4,34

11–12 Vgl.

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Viele seiner Kinder wollte zur Seligkeit führen, daß er den Herzog ihrer Seligkeit vollkommen machte durch Leiden des Todes1. Amen. Ja, heiliger, barmherziger Gott und Vater, Dein Name sei gepriesen für deine heilige und weise Führung des menschlichen Geschlechts! Anders gab es für uns keine | Seligkeit als die, daß wir trachten nach deinem Reich und nach dessen Gerechtigkeit. Um uns die zu offenbaren, mußtest du deinen Sohn senden auf Erden, der den niedergebeugten Blikk des Geistes wieder gen Himmel wendete, das Herz wieder erhöbe und reinigte zu der wahren Liebe zu Dir, der uns zeigte, wie Dein Bild in dem Menschen lebt, und was es sei das Ziel der Heiligung, welches uns Allen vorgehalten wird. O so gib ihm denn immer eine größere Menge zur Beute, so laß denn das Wort von dem Kreuze Christi gesegnet sein izt und unter allen zukünftigen Geschlechtern! verbreite seinen Schall immer mehr über alle Völker der Erde, daß bald keines mehr sei, wo nicht sein Name gepriesen würde, wo wir nicht immer mehr die herrlichen Wirkungen dieser göttlichen Verkündigung deiner Liebe und deiner Gnade wahrnähmen auch an denen, die am Tiefsten sizen in der Dunkelheit und dem Schatten des Todes! Laß es uns Alle erfahren, daß es für uns keine andere Weisheit gibt als uns immer inniger zu vereinigen mit ihm, keine andere Seligkeit als welche kommt aus dem Bewußtsein unseres gemeinschaftlichen Lebens mit ihm, keinen anderen Frieden als indem wir uns Dir darstellen als diejenigen, welche Dein Sohn versöhnt hat durch Leiden des Todes, in sie die Liebe zu Dir wieder ausgegossen eben deswegen, weil Du ihn hast sterben lassen für uns, als wir noch Sünder waren. Und dann wird es Dein Werk, das Werk Deines Geistes sein, daß wir aufhören Sünder zu sein, wenn wir gleich immer bleiben sündige Menschen, daß auf die Gewohnheit der Sünde folge die Gewohnheit des Gehorsams gegen Deinen heiligen Willen, daß uns immer mehr Alles zuwider werde, | was nicht eingehen kann in sein Bild, und wozu wir die Aehnlichkeit nicht finden in ihm, auf daß unter diesem Maaße nun Alle sich vereinigen, von dieser Kraft Alle immer mehr erfüllt werden, und so Christus Gestalt in uns gewinne, und sein geistiger Leib immer

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Hebr. 2, 10.

11 was ... Heiligung,] Kj wie es sei das Ziel der Heiligung oder was es sei, das Ziel der Heiligung, 5–6 Vgl. Mt 6,33

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mehr dargestellt werde vor Dir als ein Zeuge seiner Leiden und seines Todes aber immer mehr entkleidet von aller Unvollkommenheit, damit so Er selbst werde der Erstgeborne, der Erstling unter vielen Brüdern. Amen. 5

Lied 207.

3–4 Vgl. Röm 8,29 in Verbindung mit 1Kor 15,20 5 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 207: „Wir danken dir, Herr Jesu Christ“ (Melodie von „Nun laßt uns den Leib begraben“)

Am 23. April 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Ostermontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,1–3 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 39–56, Nr. III SW II/3, 1835, S. 253–264; 21843, S. 264–275. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 327–336 Keine Keine

Am zweiten Ostertage 1832. Lied 221. 234, 1–5. Text. Luc. XXIV, 1–3. „Aber an der Sabbather einem sehr frühe kamen sie zum Grabe, und trugen die Spezerei, die sie bereitet hatten, und Etliche mit ihnen. Sie fanden aber den Stein abgewälzt von dem Grabe, und gingen hinein und fanden den Leib des Herrn Jesu nicht.“

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M. a. Z. Nicht um vorzüglich oder ausschließend grade über diese Worte zu reden, habe ich sie izt vorgelesen, sondern nur als den fast in allen unsern Evangelien gleichlautenden Anfang aller Nachrichten von der Auferstehung des Herrn. In diesem Anfange nun thut sich uns etwas kund, was sich durch alle Geschichten dieses Zeitraums von dem ersten Anfange bis an das lezte Ende des Wandelns Christi nach seiner Auferstehung hindurchzieht. Indem ich nun vorausseze, daß alle evangelische Christen, denen das | Wort Gottes zum eigenen Genuß und zur eigenen Stärkung ihrer Seele übergeben ist, auch mit den Erzählungen aus diesen Tagen bekannt sind, will ich eben auf dieses Eine, nämlich das geheimnißvolle und unerforschliche in diesem Zustande des Herrn unsere Aufmerksamkeit hinlenken. Vornehmlich aber soll es in dieser Beziehung geschehen, die gewiß auch Keinem 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 221: „Feiert, Christen, diese Stunden“ (Melodie von „Wachet auf, ruft uns die Stimme“); Nr. 234: „Lasset uns den Herren preisen“ (Melodie von „Sollt’ ich meinem Gott nicht singen“)

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unter uns fremd ist, wie wir denn auch schon in unserem heutigen Gebete derselben erwähnt haben, daß nämlich wir die wir in der Taufe mit begraben sind dem alten Menschen nach in den Tod Christi, mit ihm auch auferstehen zu einem neuen Leben. So stellt uns die Schrift dieses Leben des auferstandenen Erlösers gleichsam als das Urbild unseres neuen geistigen Lebens vor Augen, wie wir es durch die Kraft seiner Erlösung führen sollen. Dieses ist nun jenem Leben der Auferstehung des Herrn, eben auch was dieses geheimnißvolle und unerforschliche betrifft, ähnlich, und das sei der Gegenstand, mit dem wir uns in unserer heutigen Festbetrachtung unter dem Beistande des göttlichen Geistes beschäftigen wollen. Wir werden dabei in Beziehung auf beides zuerst zu sehen haben auf den Anfang des neuen Lebens, aber dann auch auf den ganzen Fortgang desselben, so lange wir hier auf Erden wandeln. I. Die verlesenen Worte der Schrift haben es vornehmlich mit dem Anfange jenes neuen Lebens Christi zu thun. Die erste Kunde, welche seine Jünger bekamen, war die, daß das Grab leer sei; erst allmählig wurden dann in | ihnen Vermuthung und Gewißheit begründet, es sei deswegen leer, weil der Herr erstanden sei und nicht mehr unter den Todten zu finden: aber von dem eigentlichen Anfange seines neuen Lebens hat kein Sterblicher eine Wahrnehmung gehabt, und Keiner konnte mehr sagen als dieses, das Grab sei leer, und der Herr sei hernach lebendig gesehen worden. Auch der Evangelist Matthäus, welcher erzählt, ein Engel sei vom Himmel herabgestiegen, habe den Stein von dem Grabe weggewälzt und sich darauf gesezt, so daß man glauben sollte, nun werde er melden, wie der Herr aus dem Grabe hervorgegangen sei, schweigt hierüber ebenso wie alle anderen. Wie steht es nun in dieser Beziehung mit unserem neuen Leben? Dessen können wir uns bewußt sein, daß die Gnade Gottes ein solches in uns angeregt: aber wer vermag den Anfang desselben zu bestimmen, mögen wir nun sehen auf das neue Leben des Einzelnen, oder 1–2 In dem in der „Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen“ von 1829 für den Osterfeiertag vorgesehenen Gebet vor dem Evangelium heißt es: „Wir bitten Dich von Herzen, da wir auf Jesu Christi Tod getaufet, auch mit ihm also begraben sind, daß, gleichwie Christus auferwecket ist von den Todten, durch Deine Herrlichkeit, als des himmlischen Vaters, auch wir die Kraft seiner Auferstehung mehr und mehr in uns empfinden, von dem Tode der Sünden auferwecket werden, und in einem neuen Leben wandeln, auch also entgegen gehen der Auferstehung der Todten, da dies Verwesliche wird anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche wird anziehen die Unsterblichkeit. Amen.“ (Agende, S. 49; KGA III/3, S. 1043) 2–4 Vgl. Röm 6,4 24–26 Vgl. Mt 28,2

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mögen wir, wie denn das menschliche Geschlecht der Gegenstand der Liebe und der Erlösung des Herrn gewesen ist, die Verbreitung dieses neuen Lebens überall unter dem menschlichen Geschlechte ins Auge fassen? Wer vermag von sich zu sagen, zu dieser oder jener bestimmten Zeit habe das neue Leben in ihm begonnen, irgend eine sei es leise innere Regung, sei es gewaltsame Erschütterung des Gemüths sei der erste Anfang desselben gewesen? Vielmehr, wenn wir dergleichen Vieles lesen in den erbaulichen Lebensläufen erwekkter Gemüther: so bekommen wir gar häufig auch hinterher zu erfahren, daß dieses Bewußtsein ihnen über kurz oder lang wieder verschwunden sei wie ein Traum, daß sie nachher wieder ungewiß geworden wären | über ihre Berufung und ihren Antheil an der Seligkeit. Aber doch waren solche Zustände gewiß eine Vorbereitung zu dem, was sich erst hernach durch die Wirkung des göttlichen Geistes in ihnen entwikkelt hat. Und nicht anders ist es auch, wenn wir auf das große Werk der Verkündigung des Evangeliums unter den Völkern der Erde sehen. Wie schöne Nachrichten finden wir in den Büchern unseres neuen Bundes von einzelnen Gemüthern, die noch ehe der Herr wirklich erschienen war, schon voll waren von dem Glauben an die göttlichen Verheißungen, die einen Erlöser aus allem Drukk und Elend und einen neuen Bund Gottes mit den Menschen versprachen. Diese Sehnsucht Einzelner, welche seiner Erscheinung voranging, war sie schon der Anfang des neuen Lebens für das menschliche Geschlecht? Dann wäre dasselbe ja auf gewisse Weise unabhängig gewesen von der wirklichen Erscheinung Christi auf Erden! Sondern nur etwas diesem Leben vorangehendes waren die Vorstellungen, welche solche Gemüther erfüllten, wie sehr sie auch aus den Tiefen des göttlichen Wortes hergenommen waren. Doch wären sie wieder auf der andern Seite ganz andere gewesen, ganz verschieden von dem was hernach in Erfüllung ging: wie konnten sie sich dann überhaupt auf ihn beziehen? Wie hätte sich der erste Glaube an den Erlöser an sie anknüpfen können? So verbirgt sich uns also auch hier der erste Anfang in einem undurchdringlichen Dunkel. Und wenn wir nun sehen auf die spätere Verkündigung des Evangeliums unter denjenigen Völkern, welche nichts wußten von den göttlichen Verheißungen, welche in dem dunkelsten Schatten des Todes saßen: welche große Verschiedenheit finden wir da! Wie | leicht kamen die Einen der Verkündigung des göttlichen Wortes entgegen, wie wurden sie oft in großen Schaaren zu Bekennern des Evangeliums umgewandelt! und ach, wie oft und lange und doch vergeblich mußte das Wort wiederholt werden bei Anderen! Sollen wir nicht sagen, bei jenen ersten sei schon etwas vorangegangen, was wir doch nur als eine Bewegung, als eine Wirkung des göttlichen Geistes in den Gemüthern ansehen können? Und doch gibt es keinen Antheil an dem Geiste Got-

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tes als durch die Predigt des Evangeliums; durch kein Gesez kommt er, durch keine Rührung kommt er, durch keine allmählige Gesittung und Veredlung kommt er: sondern immer nur geht er aus durch die Predigt von dem Erlöser der Welt. So wissen wir auch hier nicht zu unterscheiden, was nur Vorbereitung blieb, und was wirklicher Anfang wurde. Darum aber lasset uns auch nachahmen, m. a. Z., was in dieser Beziehung zwischen den Jüngern und dem Herrn selbst vorging. Sehr oft lesen wir in diesen Tagen der Auferstehung besonders, daß die Jünger sich scheuten, den Herrn dieses oder jenes zu fragen. So haben sie sich auch gescheut, ihn zu fragen, wann denn eigentlich und auf welche Weise sein neues Leben begonnen habe, wie es zugegangen sei mit seinem Erwachen aus dem Tode, auf welche Weise er das Grab verlassen habe, wie lange schon, ehe er den Ersten unter ihnen erschien, er wieder gewandelt sei in der ersten Morgendämmerung oder schon in dem Dunkel der Nacht auf der Oberfläche der Erde. Weder haben sie danach gefragt, noch finden wir auch irgendwo, daß er ihrem Wunsch mit einer Erzählung von dem Her|gang entgegengekommen sei. Er benuzte diese ihm von Gott verliehene Zeit, um mit ihnen zu reden von dem Reiche Gottes; aber sie über den Anfang seiner Wiederbelebung genau zu unterrichten, das muß ihm nicht so wichtig erschienen sein, daß er es besonders hervorgehoben hätte. Den Anfang unseres neuen Lebens hingegen finden wir oft ganz anders behandelt unter den Christen, aber gewiß nicht zum Vortheil, sondern nur zum Schaden unseres neuen Lebens selbst. Wie Viele gibt es nicht, welche auf das ängstlichste darauf dringen, der Mensch solle ihn angeben können, und welche deshalb auch Jeden der da glaubet und hofft, ein Kind Gottes zu sein, danach fragen, wann denn nun diese große Umkehrung seines Wesens in ihm vorgegangen sei, in welcher Stunde, in welchem Augenblikke er der Vergebung der Sünden, der lebendigen Gemeinschaft mit dem Erlöser gewiß geworden. Und wie vergeblich werden auf solche Weise die Gemüther geängstigt und die Gewissen verwirrt! Der Anfang alles Lebens, von welcher Art es auch sei, das geringste und das erhabenste ist für uns ein Geheimniß. Die Jünger erfuhren nicht, in welcher Stunde der Herr wieder lebendig geworden sei von den Todten, und also ist es mit einem Jeden, der aus dem Geist geboren ist; und wer verlangt, Stunde und Zeit wissen zu wollen, der treibt einen sträflichen Vorwiz mit dem geheimnißvollen Werk des göttlichen Geistes. O wie oft ist dieses ganz unscheinbar, ganz in den Tiefen des Gemüthes verborgen, und doch der erste Anfang des neuen Lebens! was hingegen sehr in die Erscheinung tritt, 19–20 Vgl. Apg 1,3

36–37 Vgl. Joh 3,8

37–38 Vgl. Apg 1,7

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heftige Erschütterungen der Seele, wie würden die Menschen sich selber täuschen, wenn sie glauben | wollten, dadurch sei das neue Leben unzerstörbar in ihnen gegründet! Aber es giebt noch eine andere Frage, deren wir uns in dieser Beziehung nicht entschlagen können. Viel ist darüber gefragt und gestritten worden, seitdem man das Geschichtliche in dem Reiche Gottes näher zu erforschen gesucht hat, ob es mit der Auferstehung unsers Erlösers als dem höchsten, bedeutendsten unter Allem, was wir Wunder nennen, ob es damit natürlich zugegangen sei oder übernatürlich. Viele Christen, m. a. Z., werden schon gleich von der bloßen Frage abgestoßen, und weisen sie zurükk; und wenn sie das deshalb thun, weil sie lieber einen solchen Streit nicht haben möchten, lieber nicht solche Worte gegen einander stellen in den geheimnißvollsten Dingen, so haben sie dann freilich ganz recht. Aber laßt uns nicht scheuen diesen Streit wenigstens zu betrachten, um zu sehen, wie es sich damit verhalte. Wenn wir lesen, Christus sei auferwekket worden durch die Herrlichkeit des Vaters: o so werden wir Alle von dem Eindrukk erfüllt, dies sei eine außerordentliche, eigenthümliche, nicht mit irgend etwas Anderem zusammenhängende oder vergleichbare Offenbarung der Herrlichkeit des Vaters gewesen; ohnerachtet wir doch auf der anderen Seite gestehen müssen, daß vielmehr alle wesentlichen Ordnungen der Welt, in denen sich seine Allmacht offenbart, und grade auch die ganz regelmäßigen Führungen und Beweise seiner allwaltenden Liebe doch eigentlich die Herrlichkeit sind, welche wir mit unserm geistigen Auge wahrnehmen und auffassen, an denen wir unser Leben stärken und erneuern können. Wenn auf der andern Seite der Apostel in seiner Pfingstrede die Worte | aus dem alten Bunde auf die Auferstehung des Herrn anwendet, Dein Heiliger durfte nicht die Verwesung sehen1; und wir fragen, was ist die Verwesung anders, als daß der sonst belebte und von dem Gesez des Lebens regierte Leib nun, nachdem der Geist davon gewichen ist, dem Gesez der todten Natur anheimfällt: so beginnt die Verwesung mit dem Ende des Lebens zugleich, und sterben und zu verwesen anfangen ist nur dasselbe. Hat der Apostel also, seine Worte eigentlich und streng genommen, nicht denken müssen, das Leben des Erlösers sei doch nicht ganz und gar entflohen gewesen? weil er sonst doch schon wenn gleich nur in deren ersten Anfängen die Verwesung müsse gesehen haben. Welch ein nichtiger Streit, m. g. Fr., und wie viel größer ist gewiß die Weisheit derer, welche ihn gar nicht aufrühren! Immer bleibt es die Herrlichkeit 1

Ap. Gesch. 2, 27.

16–17 Vgl. Röm 6,4

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27 Vgl. Ps 16,10

39–2 Vgl. Röm 6,4

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des Vaters, durch welche Christus ist auferwekket worden von den Todten; und wenn wir fragen, was dazwischen vorgegangen sei mit ihm, in ihm, um ihn her: so kümmern wir uns um etwas, worüber uns kein Aufschluß gegeben ist, und worüber wir auch keines bedürfen. Eben so nun und nicht anders ist es auch mit unserem neuen geistigen Leben. Der erste Anfang desselben ist ja doch die Erscheinung des Herrn, das Fleischgewordensein des Wortes auf dieser Erde, daß der eingeborne Sohn menschliche Gestalt angenommen hat und so unter uns gewandelt ist. Das wissen wir, daß er nicht hätte sein können der eingeborne Sohn, der von dem Himmel gekommen ist, wenn er gewesen wäre und geworden wäre ganz und gar auf dieselbe Weise, wie jedes andere Menschen|kind. Aber wenn der Apostel sagt, Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, und wir uns fragen, wie ist das? ist es nicht eben der natürliche Lauf und Zusammenhang der Dinge, in Beziehung auf welchen es einer Erfüllung der Zeit bedarf? War nicht von Ewigkeit her die Zeit, wo der Erlöser erscheinen sollte, von Gott geordnet und bestimmt? Müssen wir ihn also nicht zugleich doch ansehen als ein Glied in der allgemeinen Kette der Entwikkelung aller menschlichen Dinge? Und wie ist es mit dem neuen Leben in einem jeden Einzelnen unter uns; es beginne auf welche Weise es wolle, wir mögen seinen Ursprung erforschen können oder nicht? Wenn wir das, was bei diesem Anfang in uns geschehen ist, ansehen könnten als unser eigenes Werk, oder wenn wir es verfolgen könnten, wie es aus den Einwirkungen Anderer auf uns hervorgegangen sei: wie könnten wir einen solchen Unterschied machen, wie wir es ja thun, zwischen dem Zustande des natürlichen Menschen, und dem der da wiedergeboren ist durch den Geist aus der Höhe? Aber auf der anderen Seite, wie kommt der Geist? danach fragt der Apostel selbst und antwortet, Durch die Predigt; den Geist erhaltet ihr durch den Glauben und mit demselben zugleich, der Glaube kommt aus der Predigt, die Predigt ist die natürliche Bewegung dessen, dessen Herz voll ist, und dessen Mund deswegen übergehen muß von der göttlichen Gnade in Christo. Ist das nicht alles der Gang der menschlichen Natur? Können wir hier etwas Anderes finden als eben dieselben Geseze des geistigen Lebens, nach welchen es sich überall weiter verbreitet? So laßt uns doch ja diesen leeren und nichtigen Streit nicht zu einem Gegenstande der Zwietracht machen unter den Gläubigen! so wollen wir | doch nicht wunderwelchen Preis auf dieses oder jenes Wort sezen! sondern wer da bekennt, Jesus sei der Christ, wer da bekennt, daß er das Leben, dessen er sich erfreut, durch ihn habe; wer 13 Vgl. Gal 4,4 27 Vgl. Jes 32,15; ferner Lk 24,49; Apg 1,8 Röm 10,17 31–32 Vgl. Mt 12,34; Lk 6,45

30–31 Vgl.

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da weiß, daß nur der Geist Gottes seinem Geist das Zeugniß gibt, daß er ein Kind Gottes sei: wozu soll der sich noch irgend genauer gegen uns erklären über das, was sich doch nicht ergründen läßt? oder was fehlte uns noch um ihn in der Liebe des Erlösers als Brüder zu lieben? Wegen dieser Dunkelheit aber der Anfänge der Auferstehung des Herrn verzeihen wir es wol den Jüngern, daß sie die erste Nachricht davon, daß er wieder lebe, nicht mit einem recht gläubigen Gemüth aufnahmen; ja auch wenn sie, als er sich selbst vor ihnen darstellte, noch zweifelten und scheu waren, sich ihm zu nähern, so daß er sie dazu aufmuntern mußte und ihnen sagen, er sei kein Geist, sie möchten kommen und ihn berühren, um das ganze volle menschliche Leben an ihm zu erkennen. Aber ebenso, m. g. Z., werden wir uns auch entschließen müssen ängstlichen Gemüthern dasselbe zu vergeben, wenn sie auch nach den ersten Erscheinungen des neuen und höheren Lebens in ihnen selbst und bei Anderen noch Mißtrauen hegen und bange sind, ob das, was für ein neues und höheres Leben gehalten wird, nicht doch nur eine vorübergehende Erscheinung sei, eine wesenlose Wirkung von inneren Bewegungen, denen aber nichts bleibendes zum Grunde liegt, sondern welche verschwinden, wie sie gekommen waren; wenn sie das höhere Leben des Christen ansehen als eine Erscheinung, der man nicht nahe treten dürfe, welche keine Berührung, keine nähere Erforschung vertrage, ohne wieder | zu zergehen. Und auch weiter wie der Erlöser seine Jünger auffordert, sie möchten sich nahen, ihn betasten, ihre Finger in seine Wundenmale legen, und sich auf alle Weise überzeugen, daß er Fleisch und Bein sei, ganz derselbe, welcher er gewesen: so lasset auch uns dasselbe thun. Es gibt etwas, das alle solche Aengstlichkeiten zerstreut, das ist die lebendige Wirksamkeit des höheren Lebens in aller unserer Thätigkeit auf Erden; dazu laßt uns die Menschen rufen, die nicht glauben wollen, daß es ein höheres Leben aus Gott gebe, und daß dieses aus der in Christo uns geöffneten Quelle herrühre! lasset sie uns zu Zeugen rufen unseres ganzen Daseins, auf daß sie in unserem gottgefälligen Thun und Wirken, in der Selbstständigkeit unseres auf das Reich Gottes gerichteten Willens erkennen, hier gebe es ein kräftiges zusammenhängendes Leben, bestimmt ebenso auf Andere zu wirken, wie der Erlöser in den Tagen der Auferstehung auf die Seinigen wirkte.

4 Brüder] SW II/3, S. 258: Bruder 1–2 Vgl. Röm 8,16 Lk 24,39

8–11 Vgl. Lk 24,36–39

24 Vgl. Joh 20,25.27

25 Vgl.

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II. Aber nun haben wir in dem zweiten Theile unserer Betrachtung zu erwägen, wie es denn steht um den Fortgang des Lebens Christi in diesen Tagen seiner Auferstehung? Wie sehr unterscheiden sich aber hierin unsere heiligen Bücher eines von dem andern! Liest man das eine, so sollte man glauben, der Erlöser habe sich nur ein Mal oder das andere seinen Jüngern gezeigt; in anderen finden wir wieder mehrere Offenbarungen desselben erwähnt an Einzelne sowol als an die versammelte kleine Schaar, und nur an einem einzigen Orte in der Geschichte der Apostel wird uns gleichsam als eine Nachschrift zu den Er|zählungen von dem neuen Leben des Herrn gesagt, es seien vierzig Tage gewesen, während deren der Erlöser sich lebendig erwiesen seinen Jüngern und mit ihnen geredet habe von dem Reiche Gottes. Aber diese Zeit, wenn wir sie bestimmt angeben können, wie war sie doch ausgefüllt? War sie wieder ein beständiges Leben des Erlösers mit seinen Jüngern? Nein, immer nur kurze Zeit hindurch und unterbrochen ließ er sich unter ihnen sehen. Wo er sich die übrige Zeit aufhielt, was er in derselben that oder wirkte, davon ist uns auch nicht die leiseste Spur geblieben in den Erzählungen seiner Jünger; so daß wir glauben müssen, dies habe zu dem gehört, worüber sie sich scheuten ihn zu fragen. Wenn er erschien unter ihnen, so fragten sie nicht, von wannen kommst du Herr? wenn er sich wieder hinwegbegab, so fragten sie nicht, wohin gehst du Herr? und wenn er Abschied nahm, so hatten sie nicht den Muth zu fragen, wann und wie werden wir dich wieder sehen? Wie steht es nun in eben dieser Beziehung um das geistige Leben der Kinder Gottes im Einzelnen? Das wissen wir, daß das Leben des Herrn in den Tagen seiner Auferstehung ein wahres zusammenhangendes menschliches Leben war, daß er nicht nur auf Augenblikke menschliche Gestalt annahm und sie dann wieder von sich warf, um sie, wann er mit seinen Jüngern reden wollte, wiederzunehmen – das wissen wir, denn sonst hätte er unrecht gehabt, ihnen zu sagen, er sei nicht ein Geist, sondern habe wirklich Fleisch und Bein; sonst hätte er unrecht gehabt, sie zu fragen, ob sie etwas zu essen hätten, als ob er ein Bedürfniß hätte haben können nach Speise, wenn es so | um ihn stand! Also ein wahrhaft menschliches Leben war das seinige. Ach und das Unterbrochene desselben, wie sehr nehmen wir das in unserem geistigen Leben Alle wahr! wie wenig bedarf es, daran erst erin11 Herrn] so auch SW II/3, S. 260; Textzeuge: Herrn, 5–7 Vgl. Mt 28,9f.16–20 7–9 Vgl. Mk 16,9–14; Lk 24,13–51; Joh 20,14–21,14 11–14 Vgl. Apg 1,3 32–33 Vgl. Lk 24,39 34 Vgl. Lk 24,41

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nert zu werden! wie oft entschwindet uns das deutliche, bestimmte Bewußtsein davon unter den Sorgen, unter den gewöhnlichen Geschäften, unter den Zerstreuungen des irdischen Lebens! wie wenig sind wir sicher in jedem Augenblikk Andere zu sein als Alle die, von denen wir, freilich oft mit Unrecht, glauben, daß sie an diesem geistigen Leben gar keinen Theil haben! Dennoch ist auch dieses ein zusammenhangendes Leben; und davon finden wir ja gewiß auch in dem Verhältniß des Erlösers mit seinen Jüngern die Spuren. Wenn er unter sie trat und ihnen seinen Frieden brachte und mit ihnen redete von dem Reiche Gottes, ihnen Aufträge gab für ihr künftiges Leben: das waren die schönen Stunden seiner unmittelbaren persönlichen Offenbarung, da freuten sich die Jünger, daß sie den Herrn sahen. Solche gibt es denn auch für uns, bald in der einsamen Stille der Betrachtung, sei es nun, daß wir uns mehr erwekkt finden zu einem bußfertigen Zurükksehen auf die vergangene Zeit, oder daß wir uns im Gebete zu Gott rüsten auf die Zukunft, welche uns bevorsteht, bald im liebenden Verein mit unsern Mitarbeitern an dem Werke des Herrn mit unsern Mitgenossen im Dulden oder im Widerstehen: o welchem Christen sollte es wol fehlen an solchen segensreichen Offenbarungen der unmittelbaren Gegenwart des Erlösers in unserem Gemüthe! Aber wie sehr sich auch die Jünger des Herrn dieser Erscheinungen desselben unter ihnen erfreuten, nie verbrachten sie doch in diesen Tagen ihre Zeit damit, | daß sie gewartet hätten auf den Herrn, ob er etwa kommen werde, so daß sie inzwischen die Hände sollten in den Schooß gelegt haben. Und so könnte es auch für unser neues Leben nur schädlich und verderblich sein, wenn wir das, was uns in dieser Welt anvertraut ist, gering achtend, immer nur warten wollten auf eine Offenbarung des Herrn in den Tiefen des Gemüthes, und alles Andere darüber vernachläßigen. So machten es die Jünger nicht. Wie könnten sie zusammen gelebt haben, ohne daß nicht geistig der Herr immer ihnen gegenwärtig gewesen wäre, was könnten sie gethan haben, wo sie ganz hätten seiner vergessen sollen! Aber er gesellte sich auch in allen Umständen zu ihnen. Nicht nur wann sie zusammen waren bei gemeinsamen Mahlzeiten, erschien er ihnen; oder wann sie mit einander auf dem Wege gingen und redeten von ihm, trat er zu ihnen: sondern ebenso überraschte er sie auch in den Geschäften ihres gewöhnlichen Berufs, wann sie mit einander fischen gingen, auch da gesellte er sich zu ihnen. Auf dieselbe Weise ist nun auch wiederum das gewöhnliche alltägliche Leben der Christen, wenn es nur im Glauben und in der Liebe geführt wird, der gemeinschaftliche Grund, aus welchem sich jene besonderen Offenbarungen des Herrn erheben, zwischen denen 34–35 Vgl. Lk 24,13–15

37–38 Vgl. Joh 21,1–14

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wir uns aber doch auch, wenn gleich bald mehr bald weniger deutlich, der Gegenwart seines Geistes in unserer Mitte bewußt sind. Und eben dieses, m. g. Fr., ist die Ursache jenes Scheines, als ob es keinen wesentlichen Unterschied gebe zwischen diesem höheren Leben der Gläubigen und dem gewöhnlichen Leben der Menschen. Von diesen höchsten beseligenden Offenbarungen der göttlichen Liebe, der Treue des Erlösers, der Wohnung seines Geistes | in unserer Mitte und der Wirkungen desselben in den einzelnen Gemüthern – wie vielfältige Abstufungen bis zu denen Zeiten, in welchen auch wieder die Schwäche und Gebrechlichkeit dieses menschlichen Wesens an das Licht des Tages tritt! Und nicht nur, daß das Leben bunt und ungleich erscheint durch diesen Wechsel von Entzükkungen der Frömmigkeit und von Beschämungen, durch die wir inne werden, daß die Sünde noch nicht ganz überwunden ist, daß der alte Mensch, wenn gleich dem Wesen nach getödtet, sich doch immer noch in uns regt durch einzelne Lokkungen und Reizungen, nicht nur dieses: sondern denen, welche dies Leben am wenigsten kennen, verbirgt sich das geistigste und seligste auch am leichtesten, oder es erregt ihre Verwunderung, ob es auch ächt sei und wahr; dasjenige aber, wodurch wir allen Anderen gleich werden, tritt am hellsten an das Licht des Tages. Und je weniger wir uns, wie die Jünger des Herrn es auch nicht thaten, absondern und ausscheiden von dem thätigen und geselligen Leben: um desto mehr breitet sich jenes mittlere gemeinsame Gebiet aus, auf welchem sich wenig oder kein Unterschied wahrnehmen läßt zwischen denen, die von der Liebe Christi durchdrungen sind, und allen Andern. Wenn wir uns nun doch nichts desto weniger des Lebens mit Christo und durch Christum bewußt und dessen gewiß sind in unserem Inneren: wozu soll jener entgegengesezte Schein uns auffordern? Was könnten wir besseres thun, damit die göttlichen Segnungen in ihrem ganzen Umfang erkannt und die Gnade Gottes gebührend gepriesen werde, als wenn wir auf alle Weise darauf bedacht sind, unsern Brüdern in ihnen selbst auch die leiseren noch kaum wahrzunehmenden Wirkungen | des Geistes aufzuweisen und ihnen die Anfänge jenes höheren Lebens in ihrem Unterschiede von dem, was sie gewöhnlich bewegt, vor Augen zu stellen, auf daß der Wunsch sich in ihnen rege und sie die Hofnung fassen, daß jenes sich mehren könne und dieses allmählig verschwinden! Darum laßt uns Allen immer mit dem Glauben entgegenkommen, daß sie ja nicht leben können in dieser Luft des Geistes, ohne von ihr einzuathmen, daß die reiche Zusammenstimmung mannigfaltiger Töne, welche der Geist hervorruft, nicht an ihren Ohren vorübergehen könne, ohne in ihr Inneres aufgenommen zu werden und einen Mitklang hervorzurufen. Und wir selbst wollen uns immer mehr in dem Glauben befestigen, daß auch die uns am meisten er-

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schrekkenden Gestalten der Sünde innerhalb der christlichen Kirche doch nur aus solchen Gemüthern hervorgehen, in welchen der göttliche Saame schon aufgenommen und im Keimen begriffen ist, wenn er auch noch lange nicht an das Licht des Tages kommen sollte. Weiter aber, weiter als so weit werden wir es in diesem menschlichen Leben, auf dieser wechselreichen Erde nicht bringen. Der Unterschied muß sich freilich immer mehr herausstellen zwischen dem Leben des Geistes und dem Leben des Fleisches; aber wie weit sich auch jenes vervollkommne, gänzlich verschwinden wird doch niemals in der christlichen Kirche die Spur der Gebrechlichkeit, des menschlichen Widerstrebens gegen den göttlichen Willen im Einzelnen. Ja das Licht des Evangeliums wird immer heller und reiner unter uns scheinen; wir werden immer fester und kräftiger durch christliche Ordnung und Zucht, durch die Bande der Liebe, die uns vereinigen, durch die Einwirkung | des Stärkeren auf den Schwächeren, zusammen gehalten und immer mehr bereitet werden zur Vollkommenheit; aber anders wird es auf dieser Erde nicht! Das neue Leben verbirgt sich bei allen Einzelnen immer wieder in seinen ersten Anfängen, und tritt erst allmählig an das Licht des Tages und vor das Auge der Welt; und es erscheint auch dann immer nur als ein wechselndes und unterbrochenes hie und da in einzelnen Offenbarungen, wenn gleich in Allen, die dem Herrn angehören, das Bewußtsein wirkt, daß sie doch, sei es auch in großer Schwachheit, mit ihm, in ihm und durch ihn leben. Aber der Herr, als nun die vierzig Tage vollendet waren, und er, im Begriff aufgehoben zu werden gen Himmel, von seinen Jüngern Abschied nahm, gab er ihnen die Anweisung, sie sollten nun bleiben in Jerusalem, bis die Verheißung, die sie von ihm gehört, an ihnen würde in Erfüllung gehen; und als sie ihn fragten, Herr, wirst du um diese Zeit aufrichten das Reich Israel? antwortete er ihnen, Es gebühret euch nicht Zeit und Stunde zu wissen, welche der Vater seiner Macht vorbehalten hat. Und eben dies ist nun auch unser Glaube! Es gibt auch für das höhere geistige Leben, wie es sich unter den Menschen entwikkelt, ein Aufgehobenwerden gen Himmel; dort ist das höhere Reich, welches der Herr aufrichten wird, dort die vollkommene, ununterbrochene Offenbarung seiner Gemeinschaft mit uns, dort wird es erscheinen, was wir sein werden, wann wir ihn sehen werden, wie er ist: aber es gebühret uns nicht Zeit und Stunde zu wissen, welche der Vater seiner Macht vorbehalten hat. Dafür aber lasset uns sorgen, wie das der Auftrag war, den er seinen Jüngern | gab, daß auch wir seine Zeugen seien, daß immer fester sein Leben 24–28 Vgl. Apg 1,3f 28–31 Vgl. Apg 1,6f Apg 1,8; ferner Lk 24,48

36 Vgl. 1Joh 3,2

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sich gründe, immer weiter die christliche Kirche auf Erden sich erbaue bis an das Ende der Erde hin, daß die Verheißung, wie sie unter uns gekommen ist, auch immer reichlicher unter uns wohne, die Kraft aus der Höhe als sein Geist uns immer reiner Alle beseele. Dazu sei ihm izt und immer unser ganzes Leben geweiht, dafür laßt uns arbeiten und wirken, auf daß Christus in uns Allen Gestalt gewinne, und sich immer herrlicher in uns verkläre, damit auch durch uns wenn gleich nur als durch ein schwaches Abbild, die Welt immer mehr erkenne die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater. Das sei unsere feste Zuversicht, daß das Fleisch gewordene Wort, wenn gleich leiblich nicht mehr hier, doch geistig gegenwärtig nicht aufhören wird auf Erden zu walten, daß der Geist, der ihn verklärt, immer mehr Besiz nehmen wird von der menschlichen Welt. In diesem Sinne sagte der Herr zu denen, welche sich im Glauben an ihn wendeten und seine ersten Jünger waren, Von dieser Stunde an werdet ihr sehen die Engel Gottes hinauf und herabfahren; und eben so werden auch wir uns immer lebendiger bewußt werden dieser Gemeinschaft seines geistigen Leibes auf Erden mit ihm selbst dem Haupte im Himmel. Amen. Lied 237.

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Joh. 1, 51.

9 Das] Daß

12 verklärt,] so auch SW II/3, S. 264; Textzeuge: verklärt

3–4 Vgl. Lk 24,49 6 Vgl. Gal 4,19 9 Vgl. Joh 1,14 19 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 237: „O auferstandner Siegesfürst“ (Melodie von „Was Gott thut, das ist wohlgethan“)

Am 13. Mai 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Jubilate, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 4,10–25 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 196–208, Nr. XVI; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 323, 1–8. Tex t . Marcus IV, 10–25. „Und da er allein war, fragten ihn um dieses Gleichniß, die um ihn waren, sammt den Zwölfen. Und er sprach zu ihnen: Euch ist es gegeben, das Geheimniß des Reiches Gottes zu wissen; denen aber draußen widerfährt es alles durch Gleichnisse; auf daß sie es mit sehenden Augen sehen, und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören, und doch nicht verstehen; auf daß sie sich nicht dermaleinst bekehren, und ihre Sünden ihnen vergeben werden. Und er sprach zu ihnen: Versteht ihr dieses Gleichniß nicht, wie wollt ihr denn die anderen alle verstehen? Der Säemann säet das Wort. Diese sind es aber, die an dem Wege sind: wo das Wort gesäet wird, und sie es gehöret haben, so kommt alsobald der Satan, und nimmt es weg das Wort, das in ihr Herz gesäet war. Also auch die sind es, die aufs Steinichte gesäet sind: wenn sie das Wort gehöret haben, nehmen sie es bald mit Freuden auf. Und haben keine Wurzel in sich, sondern sind wetterwendisch; wenn sich Trübsal oder Verfolgung um des Worts willen erhebt, so | ärgern sie sich alsobald. Und diese sind es, die unter die Dornen gesäet sind: die das Wort hören; und die Sorge dieser Welt, und der betrügliche Reichthum, und viele andre Lüste gehen hinein, und ersticken das Wort, und bleibt ohne Frucht. Und diese sind es, die auf ein gutes Land gesäet sind: die das Wort hören, und nehmen es an, und bringen Frucht; etliche dreißigfältig, und etliche sechzigfältig, und etliche hundertfältig. Und er sprach zu ihnen: Zündet man auch ein Licht an, daß 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 323: „Ewig wesentliches Licht“ (Melodie von „Liebster Jesu, wir sind hier“)

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man es unter einen Scheffel, oder unter einen Tisch setze? Mit nichten, sondern daß man es auf einen Leuchter setze. Denn es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde, und ist nichts Heimliches, das nicht hervorkomme. Wer Ohren hat zu hören der höre. Und er sprach zu ihnen: Sehet zu, was ihr höret. Mit welcherlei Maß ihr messet, wird man euch wieder messen, und man wird noch zugeben euch, die ihr dies höret. Denn wer da hat, dem wird gegeben; und wer nicht hat, von dem wird man nehmen auch das er hat.“ M. a. Fr. Wie wir uns schon in unserer letzten Betrachtung weniger mit dem Inhalte dieser Gleichnißrede des Herrn beschäftigt haben: so wollen wir es auch jetzt mit der Auslegung desselben thun. Denn ich darf dieses wol voraussetzen als etwas uns Allen vollkommen Bekanntes und mich dabei berufen auf gewiß vielerlei Vorträge, die von solchen Orten her wie dieser alle Anwesende über dieses Gleichniß werden vernommen haben, so wie auch, und das ist gewiß das Meiste | und Wichtigste, auf die Erfahrung eines Jeden hierüber, welche er sowol an sich selbst macht als auch an den Kreisen des Lebens und Treibens, die er übersieht; denn es ist ja dieses die Geschichte, welche vor unser Aller Augen vorgeht und sich immer wieder erneuert, daß mit derselben Wirksamkeit und Unwirksamkeit das göttliche Wort als der Same in die menschliche Seele gestreut wird. Aber sehr wichtig und nothwendig zu erklären, weil sie, besonders so wie sie in unserer deutschen Bibel lauten, gar mancherlei Mißverständnissen ausgesetzt sind, sind indeß die Reden, welche der Erlöser zu seinen Jüngern sprach, sowol vor als nach der Auslegung des Gleichnisses. Denn wie sollen wir uns das wol erklären und es mit dem, was wir sonst von dem Erlöser der Welt und dem göttlichen Rathschlusse wissen, zusammenreimen, wenn wir lesen, „euch ist das Geheimniß des Reiches Gottes gegeben, denen aber, welche draußen sind, bleibt Alles verhüllt in Gleichnissen,“ und nun fügt der Erlöser noch hinzu: „auf daß sie es mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, auf daß sie sich nicht dermaleinst bekehren, und ihre Sünden ihnen vergeben werden.“ Wenn wir das so lesen, wie wir es hier finden: so kann man es für den ersten Augenblick kaum anders fassen, als ob der Erlöser sagte, deswegen bediene er sich dieser Art und Weise, durch Gleichnisse zu reden, damit der größere Haufe der Menschen das nicht verstehe, was er sage, damit sie es zwar hören und sehen, aber doch eigentlich nicht erkennen und fassen, und dann noch gar, damit ihnen das nicht eine Veranlassung werde, sich dermaleinst zu bekehren, und ihre Sünden ihnen vergeben werden. Wenn sich das so verhielte: wie stünde es dann wol um diese ganze große Sache der Erlösung durch Christum? Wol nicht anders als so, als ob nun es von 40 ob] ob ob 9–10 Vgl. die Predigt am 15. April 1832 über Mk 4,1–9

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jeher nur Wenige gewesen wären, welche | schon gleich im voraus von Gott dazu bestimmt gewesen wären, daß ihnen das Geheimniß des göttlichen Reiches sollte aufgeschlossen werden, aber nur auf eine solche Weise, daß es bei Weitem dem größten Theil der Menschen müßte verborgen bleiben. Und wenn wir nun bei uns selbst überlegen, wie viele waren denn wol die, zu welchen der Erlöser sagte, euch ist gegeben das Geheimniß des Reiches Gottes zu wissen, in Vergleich mit allen denen, welche er bezeichnet als die, welche draußen sind: so müssen wir sagen, daß es doch nur eine geringe Anzahl war, freilich nicht die Zwölfe allein, denn unser Evangelist sagt ja ausdrücklich, „die um ihn waren und die zwölfe;“ aber doch immer nur eine kleine Zahl, die zu seiner Gesellschaft gehörte, eine solche kleine Zahl, welche in unmittelbarem Gespräch mit ihm konnte weiter geführt und unterwiesen werden. Aber wäre es dann nicht natürlicher gewesen und menschenfreundlicher und mehr ein Beweis der göttlichen Liebe, wenn er auch nur zu diesen allein geredet hätte, zu den Anderen aber gar nicht, denn auf diese Weise wäre er dann grade durch die Art und Weise, wie er zu ihnen sprach, die Ursache, daß sie nicht hörten und nicht vernahmen und sich nicht bekehrten und ihnen nicht vergeben wurde; und dann wäre er nicht gekommen, um die Welt selig zu machen, sondern nur um eine kleine Anzahl in das Geheimniß des Reiches Gottes aufzunehmen, dagegen aber die Welt desto sicherer dem Verderben zu übergeben. So wie uns nun dieses, m. g. Fr., an und für sich nicht zu vereinigen ist mit dem, was der Erlöser von dem göttlichen Rathschlusse der Beseligung der Menschen durch ihn sagt: so stimmt es nun auch gar nicht mit dem, was er selbst, nachdem er seinen Jüngern und denen, die um ihn waren, die Auslegung des Gleichnisses gegeben, hinzufügt; denn da sagt er, „zündet man auch ein Licht an, um es unter einen Scheffel oder unter einen Tisch zu stellen?“ wo es nämlich nicht ge|sehen werden kann, wo es nicht im Stande ist, das Gemach, in welches es gebracht ist, auch wirklich zu erleuchten. „Nein, sagt er, so thut man nicht; sondern man holt das Licht, damit man es auf einen Leuchter stelle,“ auf daß es den ganzen Raum erhelle, und nichts in demselben dunkel bleibe. Wenn es aber so mit ihm und seiner Lehre stände, wie es aus dem Ersten erscheint: dann wäre er ja grade das Licht, das unter den Scheffel wäre gestellt worden. Er sagt aber, nein; sondern das Licht ist dazu erschienen, daß es auf den Leuchter gestellt werde, und so fügt er hinzu, „es soll nichts verborgen bleiben, sondern Alles, was jetzt noch heimlich ist, das soll hervorkommen,“ wie er auch anderwärts zu seinen Jüngern sagt, was ich euch jetzt in das Ohr sage, das werdet ihr dereinst von den Dächern predigen. So müssen wir also vorzüglich darauf denken, wie wir diese beiden einander so entgegengesetzt scheinenden Reden des Erlösers mit einander in Uebereinstimmung bringen. 18–19 Vgl. Joh 3,17

38–39 Vgl. Mt 10,27; ferner Lk 12,3

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Da mögen wir denn wol am Sichersten dabei anfangen, daß wir anfragen, wie steht es denn um den Unterschied zwischen denen, von welchen er sagt, euch ist das Geheimniß des Reiches Gottes gegeben, denen aber, die draußen sind, denen bleibt Alles, denen geschieht Alles, denen kommt Alles zu in Gleichnissen? Seine Jünger und die um ihn waren hatten ja das Gleichniß auch vernommen; an dem Gleichniß und also an der Art und Weise, wie der Herr lehrte, lag es demnach nicht. Wie kamen aber die Jünger zu dem Verständnisse des Gleichnisses? Nur dadurch, daß sie ihn fragten, und daß sie zu ihm sprachen, Meister, erkläre uns das Gleichniß. Hat der Herr nun wol jemals Einem, der ihn fragte, die Antwort verweigert? Davon werden wir kein Beispiel finden. Die um ihn waren, die waren es also nicht durch eine allein von | ihm ausgegangene Wahl, wodurch er die Anderen ausgeschlossen hätte; sondern weil sie ein Bedürfniß in sich fühlten, sich zu ihm zu halten und ihn zu fragen. Wenn wir nun weiter gehen und fragen uns, nun wol, wenn der Herr doch wußte, seinen Jüngern würde er das Gleichniß auch erklären, sie wären selbst damals noch so wenig eingeweiht gewesen in das Geheimniß des Reiches Gottes, daß sie auch dieses Einfachste nicht verstanden, – wie er ihnen denn sagt, wenn ihr dieses nicht versteht, wie es soll dann mit den anderen werden, – wenn er also das wußte: warum trug er ihnen denn nicht gleich das Gleichniß und die Auslegung zusammen vor, und warum redet er denn nicht geradezu zu ihnen ohne Gleichniß; denn das Gleichniß erscheint ja als überflüssig, wenn er doch die Auslegung hinzufügen mußte. Da konnte er ja gleich von Anfang sagen, ja, es gibt Menschen, die hören wol das Wort, aber ihr Herz ist so hart, daß es gleich wieder durch die Rede des Ersten Besten aus demselben weggewischt wird, und Andere gibt es, die hören wol das Wort, und es scheint auch ein Leben daraus zu entstehen; aber das dauert nicht lange; sobald irgend ein Leiden über sie kommt: so sind sie wieder in diesem so verstrickt, daß sie weiter nichts als es von sich abzuwälzen suchen, und die Kraft des Wortes geht wieder verloren; und so auch gibt es Viele, in denen es vergeblich gemacht wird durch die mannigfachen Lüste der Welt. Für wen hat er also das Gleichniß geredet? Offenbar für die, von denen er sagt, daß sie es mit offenen Augen sähen und doch nicht erkennten, und mit hörenden Ohren höreten und doch nicht verständen. Und warum hat er es ihnen gesagt? Ja, damit ihnen doch für eine künftige vielleicht bessere Zeit etwas von seiner Lehre zurückbliebe, ein solches sinnliches, anschauliches Bild, das sich nicht so leicht aus der Seele verlöre; und wenn dann eine Zeit komme, wo sie ähnliche Erfahrungen machen könnten, wo sich Manches um sie her | ereignete, was ihnen gestattete, wenn auch anfangs nur auf 35 für] für für 9 Vgl. wohl Mt 13,36

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eine dunkle Weise in das Reich Gottes hineinzuschauen, daß ihnen dann das rechte Licht aufginge. Denn das ist ja eben die gemeinschaftliche Ursache für alle die verschiedenen Arten der Unfruchtbarkeit des göttlichen Worts, wie der Erlöser sie hier darstellt, daß der Mensch unfähig ist des Geistigen und von dem Sinnlichen dahingerissen wird. Und weil es so stand mit den Meisten jener Menschen: so war das nicht bloß die Weisheit, sondern auch die Liebe des Erlösers, daß er ihnen das Geistige gab unter einer sinnlichen Hülle; und was er hier sagt, das haben wir so zu verstehen, nicht es widerfährt ihnen Alles durch Gleichnisse, auf daß sie nicht erkennen, was sie mit sehenden Augen sehen, und nicht verstehen, was sie mit hörenden Ohren hören; sondern, es bleibt ihnen Alles im Gleichniß, so daß sie die sinnliche Hülle davon mit ihren offenen Augen allerdings sehen und ebenso mit ihren Ohren hören; aber der geistige Gehalt bleibt ihnen verborgen, den erkennen sie nicht, den verstehen sie nicht; es bleibt ihnen aber doch im Gleichnisse, ob sie etwa in Zukunft einmal umkehren, und ihnen dann vergeben werde. Was denn? Eben dieses, daß sie nicht verstanden hatten, was sie hörten und nicht erkannt hatten, was ihnen gesagt war. Denn das ist ja die Art, wie der Erlöser Alles, was in der menschlichen Seele der Wirksamkeit seines Wortes und überhaupt dem Worte Gottes und dem göttlichen Geist in demselben widerstrebt, immer zu erklären sucht, und wie auch die Apostel hernach es thaten, daß sie es nicht anders ansahen als so, daß sie sagten, es ist eine Zeit der Unwissenheit, die will Gott übersehen; damit er sie übersehen könne: hält er ihnen den Glauben vor; sobald das Licht des Glaubens aufgeht: dann fangen sie an, in das Geheimniß des Reiches Gottes hineinzuschauen, und dann | wird die Zeit der Unwissenheit übersehen, dann wird ihnen ihre vorige Unfähigkeit und Unfruchtbarkeit des göttlichen Wortes vergeben. Und so stimmen denn diese beiden Reden des Erlösers zusammen. Darin liegt nun aber freilich, wenn sie recht darauf gemerkt haben, ein Vorwurf, den er seinen Jüngern macht, indem er ihnen sagt, von ihnen hätte er eigentlich Größeres und Besseres erwartet, daß sie das Gleichniß wol verstehen würden; und er wundert sich eben darüber, daß sie es nicht verständen, weil sie, wie er sie nicht ausschließen konnte von dem Unterricht, den er allgemein ertheilte, – weil sie immer dabei gegenwärtig waren, wie denn auch für ihr eigenes Heil und für ihre Belehrung das nothwendig war, bei so mannigfaltigen und verschiedenen Reden an das Volk, daß sie doch ebenso wenig etwas davon verstanden, und nicht sogleich den Zusammenhang des sinnlichen Bildes mit dem Geistigen, worauf es dem Erlöser ankam, erkannten. Und weil er kraft seiner Liebe und Weisheit vornämlich nur so zu dem Volke redete: so sprach er, wie wird es denn mit den anderen Gleichnissen werden, die ihr noch viele werdet zu hören bekommen; wie denn der Evangelist Matthäus und auch der unsrige an dieses 22 Vgl. Apg 17,30

42–1 Vgl. Mt 13,24–52; Mk 4,21–34

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Gleichniß noch viele andere knüpfen. Aber, sagt er, euch ist dennoch das Geheimniß des Reiches Gottes gegeben; aber nur deshalb, weil sie sich schon an ihm hielten und ein Bedürfniß hatten, ihn zu fragen, weil, wenn sie es auch nicht Alles gleich erkannten und deutlich verstanden, das ihnen doch schon gewiß war, daß das Alles Worte des Lebens waren, und sie von dem Eindrucke, den er von Anfang an auf sie gemacht hatte, beherrscht wurden. Und nun, m. g. Fr., werden wir denn auch noch das Letzte, was der Erlöser hinzufügt, verstehen können, was ebenfalls auf den ersten Anblick von dem bisherigen Zusammenhange sich mehr zu lösen scheint, als daß es ihm angehörte. | Nämlich der Erlöser fügt hinzu: „sehet wol zu, was ihr höret. Mit welcherlei Maß ihr messet, wird man euch wieder messen und man wird euch noch zugeben; denn wer da hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, von dem wird man nehmen auch das er hat.“ Wie nun hängt dieses zusammen, daß der Erlöser sagt, sehet wol zu, was ihr höret; mit welcherlei Maß ihr messet, wird man euch wieder messen. Diesen Spruch nun finden wir anderwärts in den Reden des Erlösers in einer anderen Beziehung, welche uns aber diese erleuchtet, indem er nämlich sagt, gebet, so wird euch gegeben; mit welcherlei Maß ihr messet, damit wird euch wieder gemessen werden; also gebet ihr viel: so wird euch wieder viel gegeben werden, gebet ihr gut: so wird euch wieder Gutes gegeben werden; wenn ihr aber nur wenig oder Geringes gebet: so wird euch auch wenig oder Geringes gegeben werden. Aber wie hängt dieses zusammen mit dem, sehet zu, was ihr höret? So, wie es unser Aller Erfahrung ist, m. A., das, was der Mensch hört, das gibt er auch; worauf er merket, worauf sein Sinn gerichtet ist, daß er es aufnehme, das theilt er auch mit, oder wie es anderwärts ausgedrückt ist in unseren heiligen Büchern: wessen das Herz voll ist, davon gehet der Mund über. Das Herz wird aber voll des Guten, was der Mensch wieder geben kann, nur durch das Hören des göttlichen Worts, nur durch das Merken auf die göttliche Stimme; denn an und für sich, wie der Erlöser sagt, gehen aus dem Herzen des Menschen hervor arge Gedanken. Darum sagt er zu seinen Jüngern, sehet wol zu, was ihr höret; worauf ihr merket, was ihr mit Lust und Liebe aufnehmt, das werdet ihr auch | wiedergeben. Das ist das unwiderrufliche Gesetz der menschlichen Natur, womit der Mensch sich anfüllt, das strömt auch wieder aus ihm hervor; darum sehet wol zu, was ihr höret, denn mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch wieder gemessen werden, d. h., wenn ihr nun Solcherlei höret, daß ihr den Menschen eben vermöge dessen, womit ihr euch selbst angefüllt habt, nur das geben könnt, was sie verlockt in das Nichtige oder das Verderbliche: so wird euch mit demselben Maße wieder gemessen werden, so wird nun 5 Vgl. Joh 6,63.68 18–20 Vgl. Lk 6,38; ferner Mt 7,2 Lk 6,45 30–31 Vgl. Mt 15,19; auch Mk 7,21

27–28 Vgl. Mt 12,34;

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eben dieses Nichtige und Verderbliche, eben dieses Fleischliche und Leere immer mehr Gewalt in eurem Gemüthe gewinnen, und ihr werdet am Ende nichts mehr haben als eben diesen selbst gewonnenen und durch Mittheilung immer reicher gewordenen Schatz dessen, was nicht taugt. Aber wenn euer Sinn darauf gestellt ist, zu merken und zu vernehmen das göttliche Wort, wenn ihr Verlangen habt, zu merken und in euch aufzunehmen, was den Menschen mit dem höchsten Wesen verbindet und die leider zerrissene Gemeinschaft der Menschen mit Gott wieder herstellt, wenn ihr euch damit erfüllt und das wieder ausströmt auf Andere: o dann wird man euch mit demselben Maße messen, womit ihr Anderen gemessen habt; das Wort, welches von euch ausgeht und Frucht bringt, wird am Reichlichsten Frucht bringen in eurem eigenen Herzen; mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch wieder gemessen werden; aber ihr werdet noch dazu bekommen; denn, sagt er, wer einmal hat, dem wird gegeben, d. h. wer das festhält, was ihm aus der Kraft des göttlichen Wortes, aus dem Zusammenhang mit der Stimme Gottes, der göttlichen Offenbarung in unserem Innern, wer das, was ihm so gegeben wird, festhält, der empfängt dann immer mehr, dem erleuchtet sich das ganze menschliche Leben immer mehr mit diesem höheren Licht; Alles, was auch scheint ein Sinnliches, ein Vergängliches, ein Nichtiges zu sein, das wird ihm ein Geistiges, ein Kräftiges, ein Lebendiges, und Alles erscheint | ihm nicht anders als im Zusammenhange mit dem göttlichen Werke, welches der Herr in seinem Worte ihm zeigt; wie der Erlöser sagt, daß er nicht vermöge auf etwas Anderes zu sehen, als die Werke, die ihm der Vater zeigt: so vermag dann der Mensch nichts Anderes mehr zu sehen als den geistigen Zusammenhang und die Verbindung von Allem mit dem göttlichen Werke. Wer aber nicht sieht, der kommt dann in den Fall derer, die der Erlöser darstellt in dem ersten Theile seines Gleichnisses, indem er sagt, „die an dem Wege sind, das sind die, welche das Wort gehört haben; aber alsobald kommt der Satan und nimmt das Wort weg, das in ihr Herz gesäet war;“ wer nicht festhält, der verlieret auch das, was ihm gegeben war. Und damit wir nicht glauben, daß das etwa nur sei das Werk einer göttlichen Willkühr, einer von Gott besonders geordneten Strafe: so müssen wir uns nur an diesen ursprünglichen Zusammenhang erinnern, den der Herr einleitet durch die Ermahnung, indem er sagt, „sehet wol zu, was ihr höret.“ Der Mensch kann nicht anders als sich anfüllen und in sich aufnehmen, das ist die eine Hälfte seines Lebens, und eben das Wiedergeben, das Ausstreuen ist die andere. Hält er also nicht fest, was mit dem göttlichen Wort zusammenhängt: nun wol, so muß er Anderes festhalten, so sind es eben jene Dornen der vergänglichen Lust, welche ihn gefangen nehmen, so gehen diese in ihm auf, und dann natürlich wird der Same des göttlichen Wortes in ihm erstickt. So muß das von ihm genommen werden, was er hat. 22–24 Vgl. Joh 5,19f

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Und so sehen wir denn auch am Besten, was der Erlöser eigentlich meint mit der Frucht, indem er nämlich seine Rede in der Auslegung des Gleichnisses damit schließt, daß er sagt, „die aber auf ein gutes Land gesäet sind, sind die welche das Wort hören und nehmen es an und | bringen Frucht; etliche dreißigfältig, etliche sechzigfältig, etliche hundertfältig.“ Was ist denn nun diese Frucht? Das göttliche Wort, m. a. Fr., wenn es aufgenommen wird und festgehalten: so verwandelt es sich in das Leben des Menschen, und dann natürlicher Weise sind auch seine Thaten wie seine Worte, und werden immer mehr der Ausdruck des göttlichen Wortes, so daß es sich eben darin schon von selbst verkündigt. Ist das nun die Frucht? Genau genommen werden wir sagen müssen, nein, das ist eben das vollkommene Wachsthum der Pflanze selbst; aber die Frucht ist ja dasjenige, was sich von der Pflanze wieder ablösen soll, was auch wieder soll gesäet werden können, und woraus neues Leben entstehen soll. Die Frucht also ist eigentlich nur die Wirkung, welche wir auf Andere hervorbringen durch die Kraft des göttlichen Wortes in unseren Herzen; und da sagt er denn, die das Wort annehmen, die bringen nun Frucht, die Einen reichlicher, die Anderen sparsamer, je nachdem ihnen gegeben ist. Und das ist, was er sagt, wer da hat, dem wird gegeben, daß nun dieses immer wieder auf die menschliche Seele zurückwirkt, und nun durch die Mittheilung unser eigenes geistiges Leben sich immer wieder aufs Neue stärkt. Und das ist das Geheimniß, welches denen, die um ihn waren, die ihn fragten, gegeben war von Anfang an. Denn eben dieser Zug zu ihm, dieses Anerkennen seiner höheren göttlichen Würde, dieses Gefühl von der geistigen Kraft und dem Leben seiner Worte das war schon der erste Anfang von dem Erkennen des Geheimnisses des Reiches Gottes. Wohlan denn, m. g. Fr., so lasset auch uns wol zusehen, was wir hören, daß unser Ohr sich immer mehr und immer ausschließlicher öffne der göttlichen Stimme allein, daß unser Auge sich immer mehr und immer ausschließlicher öffne nur dem göttlichen Lichte allein; dann wird uns eben diese Welt, in der Alles erleuchtet wird, nur wenn wir es betrachten im Zusammenhange mit dem | Erlöser der Welt, mit dem, der da kommen sollte, dann wird uns diese immer mehr verklärt, und das Geheimniß Gottes immer mehr offenbar; wir werden immer wieder auch Frucht bringen für Andere jeder nach den Kräften, die uns gegeben sind, und wer da hat, dem wird immer mehr gegeben werden zum Preise und Ruhme dem allein, von welchem alles Gute kommt, dem Vater des Lichts. Amen. Lied 297.

36 Vgl. Jak 1,17 37 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 297: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (in eigener Melodie)

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Am 16. Mai 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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Bußtag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Spr 14,34 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 57–75, Nr. IV Keine Drucktext Schleiermachers; Christliche Festpredigten, Bd. 2 (7. Sammlung) 1833, S. 369–391 (s. KGA III/2); Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, S. 490–503; 21843, S. 489–502. – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 272–288. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 384–394 Keine

Am Buß- und Bettage 1832. Lied 389. 392, 1–4. Text. Spr. Salom. XIV, 34. „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.“

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Diejenigen unter Euch, m. chr. Z., die sich öfter hier mit mir zu versammeln pflegen, wissen es wol, daß ich selten etwas anderes als Worte aus unseren im engeren Sinn christlichen heiligen Büchern, Worte aus den Schriften des neuen Bundes, zum Grunde unserer Betrachtungen lege: aber es hat in dieser Hinsicht eine besondere Bewandtniß mit einem Tage wie der heutige. Er ist ein festlicher Tag nicht aus der inneren Geschichte der christlichen Kirche, nicht aus einem besonderen Bedürfniß des christlichen Glaubens, welches sich an eine bestimmte Zeit knüpfte, hervorgegangen: sondern ein festlicher Tag, eingesezt von christlicher Obrigkeit für ein christliches Volk; und eben diese Richtung desselben auf den Verein, welchen wir unter ein|ander als ein Volk bilden, macht daß die Bücher des alten Bundes 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 389: „Christ, prüfe dich an jedem Tage“ (Melodie von „Die Tugend wird durchs Kreuz geübet“); Nr. 392: „Gott, der du unsre Zuflucht bist“ (Melodie von „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“)

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für einen solchen Tag reicheren Stoff enthalten und angemessener sind, weil jene älteren heiligen Schriften sich ganz und gar auf das gemeinsame Leben desjenigen Volkes, welches Gott zu einer besonderen Bestimmung auserwählt hatte, beziehen. Finden wir nun solche Tage vornehmlich eingesezt unter denen christlichen Völkern, welche durch das Licht des Evangeliums vermittelst der Kirchenverbesserung noch mehr sind erleuchtet worden; rühmen wir uns Alle solche zu sein, die einen freien Besiz an dem göttlichen Worte haben, jeder Einzelne für sich: so ziemt uns auch an einem solchen Tage nicht nur nicht bei unsern äußeren Handlungen für sich stehen zu bleiben, sondern sie im Zusammenhang mit unsern Gesinnungen zu betrachten, sondern wir dürfen auch den Werth unserer Gesinnungen nicht schäzen lassen nach irgend einer menschlichen Willkühr, vielmehr sollen wir unser Gewissen nur schärfen und unser Leben nur richten nach dem göttlichen Wort. Wenn wir nun diesen Tag einen Tag der Buße und des Gebetes nennen: so führet das Erstere uns mehr in die Vergangenheit zurükk, das Andere mehr in die Zukunft hinaus. Das Eine richtet mehr unsern Blikk nach innen, das Andere lenkt ihn mehr nach außen; aber Beides in beiderlei Beziehung steht mit einander in der genauesten Verbindung. Wir sollen an diesem Tage auf die Vergangenheit zurükksehn, wie uns unser gegenwärtiger Zustand aus derselben als das Ergebniß unserer eigenen Handlungen entstanden ist. Wenn wir dabei unseren Blikk nach innen richten, dann wird uns dieses Zurükksehen zur heilsamen Erkennt|niß der Sünde, dann sehen wir, aus welchem inneren Grunde, was mangelhaft ist in unserem Leben und Wirken, was wir als Gott mißfällig verdammen müssen, hervorgegangen sein möge; wenn wir aber unseren Blikk nach außen richten, so wendet er sich zugleich in die Zukunft, so ahnden wir, was aus der bitteren Wurzel des Verderbens, welche sich schon in der Gegenwart zu Tage gelegt hat, noch für verderbliche Früchte hervorgehen werden, und dann wird uns natürlich der Tag der Buße ein Tag des Gebets. Von dieser Empfindung sind die Worte unseres Textes der natürliche Ausdrukk; sie stellen uns in der Kürze die Verbindung dar, auf welche ich eben hingewiesen habe. Gelangen wir zu der Erkenntniß der Sünde, so ahnden wir auch, daß sie das Verderben der Völker sein werde, und werden fester in dem Glauben, daß nur die Gerechtigkeit ein Volk erhöhen kann. Aber dieses lezte Wort, m. a. Fr., scheint freilich mehr der ganzen Art und Weise des alten Bundes anzugehören. Gerechtigkeit und Gesez, das stehet beides in einem genauen Verhältniß zu einander. Das Gesez steht vor dem Menschen als ein äußerer Buchstabe, der ihm gegeben ist; und wie er sich auch danach abschäzen möge, weil eben dieser Werth weniger eine Sache des Herzens und des Gemüthes ist, so läßt

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ihn auch ein solches Urtheil über sich selbst und über Andere kalt. Wir unter den Segnungen des neuen Bundes lebend, wir wissen, daß die, welche der Geist Gottes regiert, in Beziehung auf Alles, was mit ihrem inneren Leben zusammenhängt, nicht unter dem Geseze stehen1; wir wissen, | daß wir nur Christen sind, in sofern der Wille Gottes in unser Herz geschrieben ist, und darin lebend, und an diesen warmen Ton der Liebe, welche eben der uns in das Herz geschriebene Wille Gottes ist, in allen unseren Gedanken und allen unseren Aeußerungen gewöhnt, scheint uns jenes Wort Gerechtigkeit nicht zu befriedigen. Aber laßt uns nur bedenken, m. th. Z., daß die Liebe recht verstanden auch der innerste und lezte Grund alles Rechtes ist. Es gäbe keine solche äußere Verbindung der Menschen, wenn ihr nicht die Liebe voranginge; und somit gehört für uns auch die bürgerliche Gerechtigkeit mit zu der vollen Erweisung eben dieser Liebe in diesen Verhältnissen unseres Lebens. In diesem Sinne also lasset uns in gegenwärtiger Stunde der Andacht uns mit dem Saz beschäftigen, daß, wenn solche Gerechtigkeit nicht ein Volk erhöht, dann gewiß die Sünde das Verderben desselben wird. Aber wie vermöchten wir wol in einer kurzen Rede einen Saz wie diesen zu erschöpfen! Das kann daher auch gar nicht meine Meinung sein. Aber jedem Volke, jeder Zeit, jedem besonderen Zustande eines Volkes sind auch besondere Mängel und Gebrechen aufgedrükkt; es ist izt dieser, izt ein anderer Zweig der Gerechtigkeit, welcher kränkelt, es ist izt diese, izt eine andere Sünde, welche am Meisten Verderben bringt. Darum will ich mich darauf beschränken, unseren Saz nur zu erläutern an einem Paar Beispielen, welche in dieser Zeit unserem Zustande und unseren Verhältnissen ganz besonders Gefahr zu drohen scheinen. | I. Das Erste, m. a. Fr., was ich Euch ans Herz legen möchte, ist dieses, daß in unserem gemeinsamen Leben der Argwohn, die Neigung bei dem, was anders als nach unserer Weise außerhalb des Sinnes und Geistes unseres nächsten Lebenskreises geschieht, immer Schlimmeres vorauszusezen als wirklich zu Tage liegt, daß diese Neigung, sage ich, eine solche Sünde ist, vielfach unter uns verbreitet, die uns gewiß Verderben droht, wenn wir uns nicht zurükkwenden zu der Gerechtigkeit, welche das rechtliche, das gesezmäßige bei Jedem im voraus annimmt bis das Gegentheil offenbar wird. Zwar, m. th. Fr., scheint die angedeutete entgegengesezte Neigung genau zusammenzuhangen mit einer Lehre, zu welcher wir uns ja Alle in unserem christlichen Glau1

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ben bekennen, nämlich der Lehre von dem natürlichen Verderben des menschlichen Herzens. Wir fühlen es tief, wenn wir das ganze Gebiet der Sünde in ihren verschiedenen Gestaltungen überschauen, daß der Keim zu einer jeden in dem Inneren eines jeden Gemüthes verborgen liegt. Sind wir nun so wachsam auf uns selbst, so meinen wir auch vorsichtig sein zu dürfen, ja zu müssen in Beziehung auf Andere; und je mehr jeder wacht über denjenigen Kreis des menschlichen Lebens, welcher besonders seiner Sorgfalt anvertraut ist, um desto mehr glaubt er sich rechtfertigen zu können, wenn er das Schlimmste erwartet und vermuthet von Allem, was auf irgend eine seinem Einfluß entgegengesezte Weise auf diesen Kreis einzuwirken droht. Aber demungeachtet ist doch gewiß diese Neigung des menschlichen Herzens Sünde, vorzüglich Sünde | unter einem christlichen Volke, weil sie einen Unglauben in sich schließt an die Wirkungen der göttlichen Gnade, auf welche wir ja Alle vertrauen. Traget ihr euch umher in eurem Sinn mit einem Bilde des menschlichen Herzens, wie man es ja auch nicht selten in den Händen unserer Christen sieht, die scheußlichen Gestalten aller jener Thiere, deren Wesen die ausschweifenden sinnlichen Neigungen ausmachen, die auch in der menschlichen Seele keimen, Besiz ergreifend von dem Herzen des Menschen und sich darin wohlgefällig umherbewegend, geleitet, aufgeregt, zusammengeführt von dem bösen Geiste, in dessen Gewalt sie stehen; wieviel wahres auch in dieser Schilderung sei, lasset uns nie vergessen, daß sie immer nur einseitig ist! Ist in keiner Seele kein Verderben schon jemals gänzlich ertödtet, und sie jeder Befürchtung gänzlich enthoben: so kann es auf der andern Seite doch eben so wenig eine menschliche Seele unter uns geben, in welche nicht der göttliche Säemann auch den Samen des göttlichen Wortes gestreut hätte! wie sollte es wol ein menschliches Herz unter uns geben können, welches so ganz verhärtet wäre wie der Weg, so daß der Same gar nicht so hineingestreut werden kann, daß er da Leben gewinnen könnte! Wie wahr es auch sei, daß dem Menschen in diesem Leben noch überall entgegentreten die Verlokkungen der Lust: es kann doch keine menschliche Seele unter uns leben, die niemals wäre angeweht worden von dem Frieden Gottes, welcher ja überall in dem Reiche des Herrn wohnt! Keinen kann es unter uns geben, welcher niemals des Unterschieds sollte inne geworden sein und ihn tief in sein Bewußtsein aufgenommen haben zwischen dem Gehorsam gegen den göttlichen Willen und | den wilden aufrührerischen Wogen einer Herrschaft der sinnlichen Lust. Achten wir auf das Eine, lasset uns das Andere nicht übersehen! zeigt uns das 27–28 Anspielung auf das Gleichnis vom Sämann (Mt 13,3–8; Mk 4,2–8; Lk 8,4–8) 29–31 Vgl. Mt 13,4; Mk 4,4; Lk 8,5

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Auge des Glaubens überall das Verderben, um dessentwillen wir Alle des Erlösers bedürfen: das Auge der Liebe wird uns sicher überall auch die Wirkungen der Erlösung zeigen. Und ist diese argwöhnische Neigung eben deswegen eine Sünde, weil sie so sehr den Unglauben an die göttliche Gnade und die göttlichen Wirkungen unter christlichen Völkern, im christlichen Leben und Wandel ausspricht und nährt: wie sollten wir uns dagegen verwahren können, daß eben diese Neigung auch eine Ungerechtigkeit wird? Laßt uns nur die Art und Weise unseres Zusammenlebens in diesem Verein zu bürgerlichem Recht und Ordnung mit der Art vergleichen, wie der Apostel Paulus uns das höhere Urbild dieses Vereins, nämlich die christliche Kirche darstellt. Da hält er uns vor die Verschiedenheit der Gaben und der Geschäfte, wie sie doch alle wesentlich zusammen gehören, und gewiß kann das nicht in höherem Grade wahr sein in dem Gebiete des geistigen Lebens, als es gelten muß von diesem mehr äußerlichen Verein, durch welchen allein die große Bestimmung allmählig erreicht werden kann, die uns Gott für dieses Leben angewiesen hat, nämlich die Herrschaft des Menschen über die Erde und ihre Güter sicher zu stellen und zu erhöhen. Da ist kein Geschäft, das entbehrt werden könnte, keine Gabe, die überflüssig wäre, Alles was Gott gegeben hat muß zusammenwirken zu dem gemeinsamen Zwekk. Was aber der Apostel in jenem Bilde als das Verderben darstellt, welches er von der Gemeine Gottes entfernen möchte, das ist nur der Wahn, wenn etwa ein | Glied glaubt, des anderen entbehren zu können, wenn eines sich einbildet, es könne selbst und allein das Leben des Ganzen erhalten und schüzen; aber daran hat er wol nicht gedacht, daß ein Glied glauben könnte, daß das andere ihm feindselig sei und verderblich. So läßt er nicht die Hand zu dem Auge reden oder den Mund zu dem Ohr, sondern jene Gleichgültigkeit des einen gegen den andern stellt er schon als Verderben dar. Aber worauf anders beruht jene verkehrte Neigung, als auf einer solchen Voraussezung? Wenn einem unter uns irgend etwas unserem gemeinsamen Leben angehöriges anvertraut ist, daß er es schüze, versorge, fördere, dem ist es anvertraut als Theil des Ganzen, in dessen Sinn und Geist es soll behandelt werden. Glauben wir aber in blindem Eifer für dieses Anvertraute, daß Andere, die von ihrem Standpunkte aus nach ihrer Weise handeln, und nicht so handeln konnten wie wir, eben weil der ihnen anvertraute Theil ein anderer ist, in einer Feindschaft gegen das unsrige begriffen wären: so handeln wir nicht nur nicht mehr im Geist des Ganzen, sondern auch von der gemeinen Gerechtigkeit haben wir uns losgesagt. Aber eben darum, m. th. Fr., ist auch, wo der Argwohn einwurzelt, das Verder10–13 Vgl. 1Kor 12

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ben nicht fern. Wie kann ein Hauswesen bestehen, wenn Argwohn einreißt zwischen dem einen Gatten und dem andern, als ob jeder Theil nur seinen besonderen Vortheil suche auf Kosten des andern, Argwohn zwischen Eltern und Kindern, Argwohn zwischen denen, die da gebieten, und denen die da dienen; als hätten jene am stärksten Drukk die größte Freude, oder als wäre alle Sorgfalt und Treue bei ihnen nur heuchlerischer Eigennuz. Sehen wir aber auf das Größere, wenn Arg|wohn einreißt unter einem Volke, die Herrscher von den Unterthanen glauben, sie sehnten sich immer danach die Bande der Ordnung zu lösen, die Unterthanen fürchten, daß die Führer uneingedenk der künftigen Zeit nur für sich die Bequemlichkeit des alten liebten; Argwohn der Jugend, als ob das Alter ihnen mißgönnte besser zu werden und es besser zu haben, Argwohn des Alters als sei die Jugend nur voll Dünkel und voll verzehrenden Feuers, Argwohn der Armen gegen die, welche die Güter dieser Welt besizen, als ob sie sie immer nur durch steigende Unterdrükkung vermehren wollten, Argwohn der Reichen gegen die Dürftigen, als ob sie immer im Begriff ständen ihre Mehrzahl geltend zu machen als das Recht des Stärkeren und alle anderen noch so heiligen und wohl erworbenen Rechte mit Füßen zu treten. Wenn so jeder Stand von dem anderen nicht nur glaubt, er sei überflüssig oder weniger werth, sondern auch er sei der eigentliche Siz des unmittelbar drohenden Verderbens: dieses äzende Gift kann sich verbergen in Zeiten der äußeren Ruhe und des Friedens; aber wie viel es im Verborgenen schon zerstört hat, das wird sich zeigen am Tage der Gefahr. Die Aelteren unter uns, m. th. Fr., bewahren die Erinnerung einer Zeit, wo weniger aus diesem Grunde als vielleicht aus einem Mangel an gehöriger und gesunder Gemeinschaft, aus einer durch eine lange Zeit der Ruhe und des Wohllebens herbeigeführten Erschlaffung unser ganzes öffentliches Leben auseinander zu fallen im Begriff war, und daher das gemeine Wesen leicht überwältigt ward von einer äußeren Macht. Wie gelangten wir aber da zu der Erkenntniß dessen, was allein uns wieder erheben | konnte! Wie erwuchsen aus dieser Erkenntniß alle die herrlichen Tugenden, der Selbstverläugnung, des Muthes, der Hingebung, welche Kraft gegenseitiger Unterstüzung, durch welche das Uebel überwunden wurde! Lasset uns daher nicht dem gegenwärtigen Verderben zusehen, daß es ruhig Wurzel faßt, bis eine Zeit der Gefahr über uns kommt; denn in einer solchen Stim26–36 Schleiermacher bezieht sich auf die Niederlage Preußens gegen Napoleon im Vierten Koalitionskrieg 1806/1807, die Preußen an den Rand des völligen Zusammenbruchs geführt hatte, und auf die daran anschließenden Preußischen Reformen, die in die siegreich geführten Befreiungskriege 1813–1815 mündeten.

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mung würde auch die gleiche Gefahr nicht mehr dieselbe Wirkung hervorzubringen vermögen. Dazu diene uns denn izt die Einkehr in uns selbst, die uns geboten wird an einem Tage wie der heutige! Möchten nur Alle dies bei sich feststellen, das sei die heiligste Pflicht eines Jeden gegen alle Anderen, daß er keinem Vorurtheil der Art Raum gebe, als könne das wahre Wohl eines Einzelnen oder eines bestimmten Theils der Gesellschaft im Streit sein mit dem Wohl des Ganzen, als könne ein Theil das Verderben eines anderen suchen müssen um sich selbst aufrecht zu halten! Je freudiger wir uns in das Bewußtsein versenken, daß unser gemeinsames Leben ein Ganzes bildet; je mehr wir suchen, alle die verschiedenen Theilungen, die unter uns stattfinden in ihrer Nothwendigkeit ins Auge zu fassen: um desto weiter werden wir jeden verderblichen Argwohn aus unserm Herzen entfernen. Und lasset uns nicht vergessen, welches Beispiel auch in dieser Beziehung uns unser Herr und Heiland gegeben hat. Auf wem ruhte so sehr das Wohl und Heil aller Völker und aller Geschlechter? Wer hatte mehr Recht gehabt als Er diejenigen, die ihm feindselig gegenüber traten in seinem Leben und Wirken für Feinde Gottes zu achten und für Feinde der Menschen? Aber nachdem er sich ihnen wiederholt aber immer vergeblich mit | Liebe genähert, nachdem er ihnen wiederholt die Schäze seiner Weisheit geöffnet hatte, auf daß sie erkennen möchten, was ihnen Noth that, wie jammerte er immer nur darüber, daß sie doch nicht hätten bedenken wollen, was zu ihrem Frieden dient! und wie weiß er auch, nachdem sie ihn dazu bestimmt hatten zu sterben, damit das Volk aber vornehmlich sie selbst im alten Zustande blieben, doch nichts Schlimmeres bei ihnen vorauszusezen als eine Verblendung ihres geistigen Auges, daß sie nicht wüßten, was sie thäten! Diesem Beispiele lasset uns nachfolgen, überall nicht den bösen Willen voraussezen, sondern den wohlmeinenden Irrthum, überall dem was uns als selbstsüchtige Verwirrung erscheint, mit Liebe und Wahrheit entgegentreten, damit die Liebe überall den Sieg gewinne. Dann werden wir auf solche Weise vereint bleiben, daß wir mit Zuversicht erwarten können unter allen Umständen, die Gott uns zusendet, werde die Gerechtigkeit uns erhöhen. II. Das Zweite, m. a. Fr., was ich noch als ein Beispiel hinzufügen will, wie die Sünde das Verderben eines Volkes wird, mag vielen unter Euch vielleicht als etwas Geringes und Unbedeutendes erscheinen; aber ich 13 jeden] jedem

17 hatte] 7. Sammlung, S. 380: hätte

27–28 Vgl. Lk 23,34

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wollte, ich könnte in dieser Kürze der Rede und mit wenigen Zügen Euch den ganzen Widerwillen meines Gemüths, die ganze Furcht, die mich dabei befällt, vor Augen bringen und mittheilen. Was ich meine ist jener rechthaberische Eigensinn derer, die sich verhärten in dem Streite der Meinungen. Wie reichlich sehen wir nicht diesen überall unter uns, sowol wenn wir denken an die Angelegenheiten | der christlichen Kirche als an die unseres bürgerlichen Gemeinwesens! Nun fürchte ich aber, man wird sagen, ist denn das Bestehen auf seiner Meinung etwas anderes als die Liebe zur Wahrheit und die Festigkeit der Ueberzeugung? Wer sich bewußt ist die Wahrheit zu besizen, kann der wol anders handeln? und was aus einem solchen Grunde hervorgeht, kann das unter die Sünde gerechnet werden, und als solche die Erhöhung des Volkes durch die Gerechtigkeit hindern, oder wol gar unmittelbar Verderben bringen? Es ist eine große Sache um die Wahrheit, m. a. Fr., in dem ganzen vollen Sinne des Worts, die ungetheilte reine Wahrheit aber ist das unzugängliche Licht, in welchem der Ewige wohnt; es bricht sich in dem menschlichen Geist in mancherlei Strahlen. Jeder hat etwas von ihr – o, das müssen wir wohl behaupten, seitdem der, welcher die Wahrheit und das Leben war, unter uns gewohnt hat – aber Keiner hat sie ganz. Wie sollte es nun nicht Sünde sein, wenn wir uns, sobald unserer Ueberzeugung eine andere entgegentritt, um so leichter je wichtiger der Gegenstand ist, überreden, die unsrige sei lauter Wahrheit, die andere sei ganz Irrthum? Und wer sich erst durch eine solche Voraussezung an seinem Bruder versündigt, wie nahe liegt denn auch das, ja wie unvermeidlich ist es damit verbunden, daß er seinen eigenen Irrthum für Wahrheit hält auch da, wo das wesentliche seiner Ueberzeugung irrig ist? Ist nicht das der sträflichste Hochmuth, und muß der nicht Sünde sein? Bedenket den Apostel, der so Vieles gethan hat zur Erbauung der christlichen Kirche, in welchem sich auf eine so kräftige Weise alle Gaben des Geistes bekundeten, der von sich selbst sagen mußte | der Wahrheit gemäß, er habe mehr gethan oder vielmehr Gott durch ihn als die Andern, der sagt von sich, Ich glaube doch auch den Geist Gottes zu haben. Aber wer sich in seiner Meinung einer entgegengesezten gegenüber so rechthaberisch und eigensinnig verhärtet, glaubt der nicht, den Geist Gottes, den Geist der Wahrheit allein zu haben? Muß nicht solcher Hochmuth, ja kann er wol irgend anders als vor dem Falle kommen? Gibt es ein stärkeres Betrüben des göttlichen Geistes, wovor uns die heilige Schrift warnt, als wenn wir ihn selbst, der sich verbreiten soll über das ganze Gebiet des menschlichen Geschlechts 16–17 Vgl. 1Tim 6,16 19 Vgl. Joh 14,6 32–33 Vgl. 1Kor 15,10; ferner 2Kor 11,23 33–34 Vgl. 1Kor 7,40 36–38 Vgl. Spr 16,18

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als unser Eigenthum und Besiz in die engen Kammern unseres eigenen Herzens und Gehirns ausschließlich mit Abweisung der Anderen gleichsam festbannen wollen? Und wie sollte nicht dieser gefährliche Hochmuth auch ungerecht sein! Wenn wir an unser gemeinsames Leben denken, so kann es doch nur bestehen durch das Zusammenwirken aller geistigen Kräfte, und eben deswegen ist das die erste Pflicht Aller, daß jeder sich dem Anderen dazu hingebe, daß dieser versuche, seinen Antheil an der Wahrheit auch in unserem Gemüthe geltend zu machen; und die andere Verpflichtung ist der gleich, die nämlich, daß jeder sich gegen Alle, von denen er umgeben ist, in einem solchen Verhältnisse halte, daß er auch wieder seinerseits im Stande bleibt, der Wahrheit Dienste zu leisten bei den Anderen. So wir aber jeder in seiner eigenen Ueberzeugung uns verhärten, uns abwenden von den entgegengesezten Meinungen, weil wir im Voraus schon geurtheilt haben, sie seien falsch: wie schließt das nicht die größte Ungerechtigkeit in sich! wie sprechen wir nicht im Voraus den Anderen | ab, was wir schuldig sind einem Jeden zuzutrauen! Nämlich dieses sind wir schuldig, jedem zuzutrauen, mit welchem wir in einer Gemeinschaft des Lebens stehen, daß auch er der Wahrheit nachstrebe, und also den Keim derselben in sich trage; daß auch er im Stande sei mitzuwirken zu der gemeinsamen Erleuchtung Aller. Wem wir das im voraus absprechen, mit dem könnten wir auch unmöglich in irgend einer Gemeinschaft des Wirkens bleiben wollen; denn er müßte uns ja ein Hinderniß unseres Wirkens sein! Ruht nun darauf alle Gemeinschaft: o wie versündigen wir uns nicht gegen Alle diejenigen, mit denen wir nicht wollen in eine friedliche, freundliche Auseinandersezung der Meinungen eingehen! wie versündigen wir uns nicht gegen das gemeinsame Wesen, indem wir auf diese Weise die Erleuchtung, mit der der Eine auf den Anderen wirken soll, aufheben und hemmen! Und wer so den Gang des Lichtes aufhält, o der ist Schuld an der Verbreitung der Finsterniß, und gehört auch unter diejenigen, welche die Wahrheit aufhalten in Ungerechtigkeit. Und so lehrt es auch die Erfahrung, daß diejenigen, welche sich solchergestalt gegen die Ueberzeugung Anderer verschließen und verhärten, selbst immer mehr dem anheim fallen, was in ihrer eigenen Ueberzeugung nicht von der Wahrheit sondern aus dem Irrthum ist; denn die Wahrheit ist wesentlich ein Gemeingut, und kann nur in der Gemeinschaft leben; der Irrthum ist nothwendig das Kind der Selbstsucht, und wer sich aus der Gemeinschaft ausschließt, der nährt ihn und räumt ihm immer größere Herrschaft über sein Inneres ein! 31–32 Vgl. Röm 1,18

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Solches kann uns indeß immer noch als ein geringes | und unbedeutendes erscheinen, wenn wir an den großen Abstand zwischen Wort und That denken. So lange nur dies beides von einander entfernt bleibt, könnten wir uns wol über jene Unvollkommenheit trösten. Mag es doch immer sein, wollten wir sagen, daß auch in den heiligsten Angelegenheiten des Glaubens die Christen so weit in ihren Vorstellungen auseinander gehen, sich so sehr gegenseitig abstoßen, daß sie nicht mehr eingehen können in irgend einen bedeutenden Austausch ihrer Gedanken! Wenn nun auch jeder in der Rede und Zunge seines eigenen Kreises bleibt, die ursprüngliche Gabe des Geistes aber, daß alle Zungen geredet und verstanden werden in der Gemeinschaft der Gläubigen, für uns verloren gegangen ist: sind wir nur sicher, daß sich auch die verschieden denkenden vereinigen können, wo es auf thätige Liebe und auf Beförderung des Evangeliums, in welcher Weise es auch sei, ankommt; wenn dann nur jeder in seinem Kreis treu mitwirkt, mag es auch der eine so, der andere anders thun, die Uebereinstimmung liegt in dem, der Alles leitet. Dasselbe könnte man auch sagen in Beziehung auf unser bürgerliches Gemeinwesen. Mag doch immer der Eine diese, der Andere eine entgegengesezte Meinung darüber haben, wie das gemeinsame Ziel soll gefördert werden; ja wenn sie sich auch in ihren Ueberzeugungen so weit von einander trennen, daß zulezt gar keine Gemeinschaft der Rede statt findet, weil jeder denkt, es sei besser darüber nicht zu reden, worüber man sich nicht einigen kann; wenn sie nur Alle dem Geseze gehorchen, das über sie Alle waltet, wenn nur Keiner dem Winke der schüzenden und leitenden Hand seinen Gehorsam versagt: so kann jenes ohne allen Schaden vorüberge|hen. Aber die Entfernung zwischen Wort und That ist eine sehr ungleiche in verschiedenen Zeiten des Lebens. Liegt nicht darin schon der Keim zu entgegengesezten Thaten, wenn der Eine für gut hält was der Andere für verderblich? Ja ist nicht fast immer, wenn wir es genau betrachten, das Wort schon That? Sind nicht die Geseze des bürgerlichen Lebens Worte, und schließen sie nicht Thaten in sich und rufen sie hervor? Wenn es darauf ankommt, Geseze zu berathen und zu Stande zu bringen, und dann ist die liebevolle Mittheilung der Ansichten aufgehoben: wo kann die Vereinigung herkommen, aus der das Bessere hervorgehen soll? Sind nicht schon zu sehr die Einen gegen die Andern erbittert, als daß ein herzliches Zusammenwirken zu erwarten wäre? Darum auch von da droht unheilbares Verderben, wenn wir nicht dieser Veruneinigung Grenzen sezen, wenn wir uns nicht auch denen Ansichten von der Einrichtung des Lebens und der Schäzung seiner Güter liebend öffnen, welche den unsrigen am meisten 10–12 Vgl. Apg 2,1–11

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entgegengesezt zu sein scheinen, wenn wir nicht der Pflicht treulich nachkommen, auch in alle dem, was sich uns als verderblicher Irrthum darstellt, doch den Keim der Wahrheit aufzusuchen! Ach wissen wir es denn nicht, m. g. Fr., daß in uns selbst doch auch immer noch viel Irrthum wohnt? und muß nicht Jeder gestehen, daß der Streit, wenn sich einmal die Leidenschaft eingemischt hat, uns unfähiger macht in unseren Ueberzeugungen sowol als in den noch einzeln stehenden flüchtigen Gedanken Wahrheit und Irrthum bestimmt zu unterscheiden? Desto mehr Ursache haben wir ja aber, wenn uns in einem andern Gemüth etwas an|deres mit eben so kühner Sicherheit entgegentritt, vorauszusezen, darin sei gewiß auch Wahrheit, die einen von unseren Irrthümern erleuchten kann, wie vielleicht auch Mißverständniß, welches wir beseitigen können. Und ebenso in Beziehung auf das Vorige. Wenn in anderen Gemüthern Argwohn entsteht gegen unsere Bestrebungen und unsere Handlungsweise: so laßt uns gewiß sein, wir haben eine Veranlassung dazu gegeben; und gehen wir nur in unser Inneres ein, so werden wir auch das auffinden, was ihn veranlaßt hat, und werden es abthun können. Werden wir hingegen selbst angestekkt von dieser verderblichen Neigung, und hegen Argwohn gegen Andere: ach, dann laßt uns nur gleich bei uns feststellen, daß das nicht von reinem Eifer für das gemeinsame Wohl herrührt; es hat unfehlbar seinen Keim in irgend einer verborgenen Selbstsucht, und die müssen wir aufsuchen und entfernen. Doch lasset uns nicht vergessen, m. chr. Fr., daß ich dieses nur angeführt habe als ein paar Beispiele, als einzelne Fälle, deren Berichtigung auch zu dem großen Geschäfte eines solchen Tages wie der heutige gehört. Wo es keinen solchen gibt, da müssen christliche und den Willen Gottes suchende und liebende Gemüther sich ihn selbst machen. Aber eben so müssen wir unsererseits diesen Tag mit seiner Aufgabe in unser ganzes Leben hinüberführen; denn Ein Tag genügt derselben nicht. Ueberall lasset uns fleißig forschen in jeder Stunde der Betrachtung, an jedem Abend, wann wieder das Werk eines Tages vor uns liegt; lasset uns forschen, wo die Sünde sich geregt hat, wo wir uns einen Mangel an der Gerechtigkeit vorzuwerfen haben, die in der Vollständigkeit der Erweisungen der Liebe be|steht, welche in dem Glauben ihren Grund hat; denn das ist die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Möge doch kein Tag vorübergehen, an dem wir nicht auch an das Verderben dächten, welches die Sünde nothwendig mit sich bringt! denn gewiß vergeht doch keiner, wo uns nicht die Sünde vor Augen träte. Dann wird auch wol keiner vergehen, an dem wir nicht eben so, wie wir heute dazu aufgefordert werden, unsere gemeinsa36–37 Vgl. Röm 1,17

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men und die Angelegenheiten des Reiches Gottes dem ans Herz legten mit Gebet und Flehen, der allein die menschlichen Dinge regiert, und von dem alle Förderung des Guten unter uns ausgeht. Nur in dieser ununterbrochenen Fortsezung hat ein solcher Tag der Buße und des Gebetes seinen Werth; aber so muß er uns auch Gewinn bringen. Denn nehmen die Glieder eines Gemeinwesens in rechter Erkenntniß desselben zu, so werden sie sich auch kräftiger anfassen in Liebe, und werden immer aufs neue erbaut werden zu der wahren christlichen Demuth, ohne welche kein Heil ist; so werden wir uns immer enger zusammenschließen zu einer Gott wohlgefälligen Vereinigung der Kräfte, um mit einander sein Reich zu bauen. Amen. Heiliger, gnädiger Gott, Vater des Lichts, Du Urquell der Wahrheit, Du gnädiger Vater auch Deiner sündigen und gefallenen Kinder! Wir erkennen mit einander in Demuth die menschliche Gebrechlichkeit, welche sich auch unter uns offenbart; und wissen, daß wir nicht würdig gewandelt haben des Namens, der uns gegeben ist, indem wir uns nennen dürfen nach Deinem Sohne! Wir bekennen, daß uns Noth ist die Zucht Deines Geistes, der uns strafe, warne, reinige. O daß wir uns Alle ihm immer mehr hingeben möchten! o daß wir den Geist der Wahrheit nicht | überhören möchten und nicht betrüben, auf daß Dein himmlisches Licht uns immer mehr erleuchte, auf daß das Leben Deines Sohnes in uns immer mehr Gestalt gewinne, auf daß alle unsere irdischen Verbindungen würdig seien und immer würdiger werden zugleich Bestandtheile zu sein Deines ewigen geistigen Reiches! Dazu lasse Du denn gesegnet sein die Verkündigung Deines Wortes in der Gemeine der Christen. O die Predigt desselben werde doch unter uns immer mehr eine Predigt des Friedens, auf daß sich Alle vereinigen in dem Gehorsam gegen das heilbringende Wort, auf daß wir immer mehr unsere eigenen besonderen Meinungen gering achten lernen und nur das reine Licht, welches von oben kommt, aufzufassen streben1. Und was sollten wir nun in Demuth noch bitten als die Gnade, daß Keiner unter uns sein möge, den Du nicht würdigest, dazu beizutragen, daß wir unter allen Schwächen und Verirrungen unseres Lebens nie das Bewußtsein unseres großen Berufs, Kinder Gottes zu sein, verlieren mögen. Ja dazu laß

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Hier schlossen sich die Hauptpunkte aus dem Kirchengebet an.

22–23 Vgl. Gal 4,19 37 Vgl. Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen, Zweiter Theil, S. 65–70 (KGA III/3, S. 1094–1096); vermutlich hat Schleiermacher nur Auszüge aus dem allgemeinen Kirchengebet benutzt.

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Deine Gnade mächtig sein unter uns. Und wenn es kaum der Mühe werth ist, indem wir um das Geistige bitten, auch des Leiblichen zu gedenken: so sind wir doch uns unserer Schwäche bewußt und bitten Dich um Trost und Beistand für die, welche sich unter den wenngleich vergänglichen Trübsalen ihres Lebens zu Dir wenden, damit Deine Gnade sich uns mächtig zeige, und wir in wahrer fröhlicher Buße, in treuem Ringen immer näher kommen dem Ziele, welches Du uns Allen gestekket hast. Amen. Lied 5.

9 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 5: „Allmächtiger, der seinen Thron“ (Melodie von „Ich dank dir schon durch deinen Sohn“)

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Am 18. Mai 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

Freitag, 6 Uhr Saal der Berliner Sing-Akademie Keiner Nachschrift; Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Depositum 5, Nachl. Runge-DuBois-Reymond Nr. 33, Bl. 36r–37r; nicht identifizierter Nachschreiber (vgl. oben Einleitung II. 3. E) Der Sing-Akademie gewidmet, Berlin 1852, S. 24–26 Hermann Patsch: Schleiermachers Grabrede auf Carl Friedrich Zelter, Lewiston u. a. 2001, S. 68–71 Nachschrift; Freies Deutsches Hochstift, Hs–1101, 2r–3v; nicht identifizierter Nachschreiber Gedruckte Nachschrift; Carl Friedrich Zelter. Eine Lebensbeschreibung, Berlin 1861, S. 300–304; nicht identifizierter Nachschreiber Rede beim Begräbnis von Karl Friedrich Zelter

Am Sarge Zelters gesprochen im großen Saale der Sing-Akademie von D. Friedr. Schleiermacher am 18. Mai 1832. 5

Unsre Hülfe und Anfang sey im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Amen. Vieles, meine verehrten Anwesenden! hat der, dessen Leben unter uns so viele Freude und Heiterkeit verbreitet, leiden müssen in dem letzten Kampf des Lebens, aber verglichen mit dem langen und schönen Wirken desselben 4 18.] Wortlücke (Lakune) 1 Karl Friedrich Zelter, geboren am 11. Dezember 1758 in Berlin, seit 1800 Leiter (Direktor) der Berliner Sing-Akademie, der auch Schleiermacher seit 1808 oder 1809 bis zu seinem Tod angehörte, seit 1809 Professor an der Königlichen Akademie der Künste, ab 1811 zugleich an der Universität, war am 15. Mai 1832 in Berlin gestorben. 2–4 Zu Gestaltung und Ablauf der Begräbnisfeier vgl. oben Einleitung I. 5. a 5– 6 Eingangsvotum nach Ps 124,8 – Vor der Rede Schleiermachers war der Choral „Wen hab ich sonst als dich allein“ aus der Passionskantate „Der Tod Jesu“ von Karl Heinrich Graun (1701 oder 1704–1759) gesungen worden. 7–1 Zelter war Anfang Mai an Erkältung und einer schmerzhaften Unterleibsentzündung erkrankt.

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doch in so kurzer Zeit, daß die Mehrsten unter uns Krankheit und Tod desselben getroffen hat wie ein Blitzstrahl. Ist die Betäubung vorüber, dann besinnen wir uns erst, wen sie getroffen, was sie uns geraubt, was uns übrig geblieben. Welche kräftige Natur war nicht der, mit dessen entseelter Hülle wir uns jetzt den letzten Weg anzutreten bereiten! Wie hat er sich seit seiner frühesten Jugend mühevoll mit unwiderstehlichem Treiben hindurchgedrängt in das Heiligthum der Kunst! wie kräftig, wie unverändert ist er fortgeschritten auf dem gewählten ernsten Wege! Wie hat er schon in früher Zeit diesen, der heiligen Kunst geweihten Verein mit Ernst und Treue aus den Händen des Lehrers und Freundes empfangen und ihn in seinem Sinn und Geist fortgeführt! wie treu hat er die Einzelnen geleitet und gebildet zu dem gemeinsamen Zweck! wie so umsichtig und sorgsam das Ganze gepflegt! wie hat er sich nie entfernt aus dem edelsten Gebiet der Kunst! wie hat er sich nie gekümmert um Anerkennung von außen und um anders Gesinnte! wie ist er in der freien Betrachtung der Dinge, wir können wohl 3 sie getroffen] Zelter S. 300: er getroffen 3 was sie uns geraubt] korr. aus: was er uns geraubt (so auch Der Sing-Akademie gewidmet S. 24 und Zelter S. 300); Freies Deutsches Hochstift 2r: was uns geraubt 4 war nicht der, mit dessen] korr. aus: war es nicht, mit deren (so auch, ohne Komma, Freies Deutsches Hochstift 2r) 7 unverändert] Freies Deutsches Hochstift 2r: unermüdet 14−15 und um anders Gesinnte] so auch Zelter S. 301; korr. aus: und anders Gesinnten ; Freies Deutsches Hochstift 2r: und Andersgesinnter 15 freien] Zelter S. 301: fernen 4–5 Zelter wurde im Anschluss an die Trauerfeier auf dem Friedhof neben der Sophienkirche beigesetzt. 5–7 Zelter hatte das Joachimsthalsche Gymnasium besucht, musste dann aber dem Beruf seines Vaters, des Amts- und Ratsmaurermeisters und Bauunternehmers George Zelter (1723–1787) nachfolgen und wurde 1774 Lehrling, 1777 Geselle und 1783 Meister des Maurerhandwerks. Nachdem er, noch in seiner Lehrzeit, mit 17 Jahren von einer lebensbedrohlichen Krankheit genesen war, erwachte „eine große Liebe zur Musik“ in ihm, so dass er fortan die späten Abende und viele Nächte dazu nutzte, sich „einige Fertigkeit im Klavier- und Violinspielen zu erwerben“ (Carl Friedrich Zelters Darstellungen seines Lebens, hg. v. J. W. Schottländer, Weimar 1931, S. 3). Erst nach Beendigung seiner Ausbildung 1783 erhielt Zelter musiktheoretischen Unterricht bei seinem Lehrer Karl Friedrich Christian Fasch. 8–10 Die Berliner Sing-Akademie war, nach früheren mehr oder weniger privaten Anfängen, 1791 als erste ihrer Art in Deutschland gegründet worden von Karl Friedrich Christian Fasch. Geboren am 18. November 1736 in Zerbst als Sohn des Komponisten Johann Friedrich Fasch (1688–1758), war er seit 1756 neben Carl Philipp Emanuel Bach zweiter Kammercembalist Friedrichs des Großen; im Siebenjährigen Krieg entlassen, verdiente er seinen Lebensunterhalt vornehmlich durch musikalischen Unterricht in Berlin und wurde so der kompositionstheoretische Lehrer Zelters. Nach Faschs Tod am 3. August 1800 in Berlin wurde Zelter sein Nachfolger im Direktorium der Sing-Akademie, der Zelter seit ihrer Gründung angehört hatte. Zelter widmete seinem Lehrer und Freund eine Lebensbeschreibung (Karl Friedrich Zelter: Karl Friedrich Christian Fasch, königlich preußischer Kammermusikus, Berlin 1801), die auch Schleiermacher besessen hat. 15–2 Neben der Lebensbeschreibung seines Lehrers Karl Christian Fasch hat Zelter eine Reihe von Aufsätzen und Rezensionen veröffentlicht.

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sagen ohne es selbst zu wissen, einer unsrer ersten Meister geworden in der vaterländischen Sprache! Wie mannigfaltig ist er auch geprüft worden in dem engen Kreise des häuslichen Lebens! wie hat er jedes, auch das schmerzlichste Weh getragen mit der schmerzlichsten Betrübniß und Theilnahme, ohne je weich dadurch gemacht zu werden! daß wir von ihm wohl mit Recht sagen können: er konnte wohl gebeugt, aber nicht gebrochen werden. | Nur als das Band eines langen ununterbrochenen Austausches der Gedanken, der ihn mit einem der großen Männer unseres Jahrhunderts verband, abgerissen ward: da traf ihn auch dies zwar in gleicher Weise, aber es war ihm zugleich der freundliche Wink, der Ruf eines Freundes aus dem Leben hinweg; da klangen ihm die Töne des Dichters in’s Ohr: Wie Gras auf dem Felde sind Menschen dahin, Wir blühen nur wenige Tage, 3 mannigfaltig] Freies Deutsches Hochstift 2v: mannigfach 3 engen] Freies Deutsches Hochstift 2v: engeren 4 jedes, auch] Freies Deutsches Hochstift 2v: jedoch auch 5 schmerzlichsten Betrübniß] Freies Deutsches Hochstift 2v: innigsten Betrübniß 6–7 er konnte wohl gebeugt, aber nicht gebrochen werden.] Freies Deutsches Hochstift 2v: er konnte wohl gebrochen aber nicht gebeugt werden. 7 wohl] fehlt bei Zelter S. 301 9 großen] Freies Deutsches Hochstift 2v: größten 3–4 Zelters erste Ehefrau, Johanna Sophia Eleonora, geb. Kappel, verwitwete Flöricke, die er am 28. November 1787 geheiratet hatte, starb bereits am 24. November 1795; am 1. Mai 1796 heiratete er Juliane Caroline Auguste, geb. Pappritz, die am 16. März 1806 verstarb. Ferner musste Zelter den Tod von fünf seiner Kinder erleben, darunter der beiden ältesten Söhne, Georg Friedrich (1789–1827) und Adolf Raphael (1799– 1816), sowie der achten und jüngsten Tochter Clara Antigone (1800–1816). Ein Stiefsohn seiner ersten Ehefrau, Karl Ludwig Flöricke (1784–1812), nahm sich das Leben. 7–9 Gemeint ist die freundschaftliche Beziehung mit Goethe, die sich in zahlreichen persönlichen Begegnungen, zumeist in Weimar, vor allem aber auch in dem umfänglichen Briefwechsel widerspiegelt (Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hg. v. F. W. Riemer, 6 Bde., Berlin 1833–1834). Bereits seit 1795 gab es zunächst indirekte, durch gemeinsame Bekannte vermittelte Berührungen, zum ersten direkten brieflichen Kontakt kam es im August 1799. Die letzte persönliche Begegnung fand im Juli 1831 in Weimar statt. Zelter vertonte eine ganze Reihe von Gedichten Goethes. 10–11 Zelter soll, wie die unverheiratet in seinem Haus lebende Tochter Dorothea Auguste Cäcilia (1792–1852) berichtet, wenige Tage vor seinem Tod in der Sing-Akademie vor der Büste Goethes sich verbeugt und gesagt haben: „Exzellenz hatten natürlich den Vortritt; aber ich folge bald nach.“ (Max Hecker: Zelters Tod. Ungedruckte Briefe, Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 7 (1927/28), S. 104–172, hier: S. 115) 13–4 Es handelt sich um die – hier textlich abweichenden – beiden letzten Strophen des fünfstrophigen Gedichts „An – als ihm die – starb“ („Der Säemann säet den Samen“) von Matthias Claudius: „Wie Gras auf dem Felde sind Menschen / Dahin, wie Blätter! Nur wenige Tage / Gehn wir verkleidet einher! // Der Adler besuchet die Erde, / Doch säumt nicht, schüttelt vom Flügel den Staub, und / Kehret zur Sonne zurück!“ (Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, Teil I–II, Hamburg/Wandsbeck 1775, S. 37; Sämtliche Werke, hg. v. Rolf Siebke/Hansjörg

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Gehn PwieS verkleidet einher. Der Adler besuchet die Erde, Schüttelt vom Flügel den Staub, Und kehret zur Sonne zurück.“ So in der Rükkehr begriffen, gedachte er der vorangegangenen Lieben, der Gehülfen und Genossen der Kunst, als wäre er bereit, Aufträge an sie mit hinüberzunehmen in jenes Jenseits! Mit solchen Reden beschwichtigte er nicht bloß das in uns, was den Tod fürchtet; nein, sie stimmten überein in ihm mit dem Worte des Heilands, seines himmlischen Erlösers, der da sagt (Joh. 17 v. 24.): „Vater, ich will, daß wo ich bin, auch die bei mir seyen, die du mir gegeben hast!“ Es giebt für jeden unter uns auch noch eine irdische Zukunft, beschränkt für die Meisten auf einen kurzen Zeitraum und auf den engen Kreis der Lieben, mit denen sie verbunden waren durch die Bande der Natur und der Freundschaft, aber auch auf dem größeren Gebiete des öffentlichen Lebens und der Kunst. Wohl dem, der auch in dieser Beziehung nicht allein gewesen ist auf einsamer Meisterschaft und auf das was er darbringt als Meister in einem beschränkten Kreise; wohl dem der sein Andenken und sein Ansehn gründet auf das gemeinsame Leben und Wirken für ein Größeres und Höheres. Dies war das schöne Loos unsers Freundes! Diesem Verein, den er so viele Jahre geleitet, in dem er mit rastlosem Eifer dem höheren Ziele der heiligsten unter den Künsten nachgestrebt, der immer nur gewidmet war dem Ausdruck der innigsten wahrhaftigsten, christlichen Frömmigkeit, diesem hat er den größten Theil seines thätigen Lebens geweiht, und sein Andenken wird | fortbestehen, nicht bloß so lange dieses schöne Gebäude fortbestehen wird, sondern so lange die Kunst, die herrlichste Dienerinn der Kirche, kunstliebende Menschen in begeisterter Frömmigkeit vereinen wird, so lange wird dieser hier leben; – mit dem Bewußtsein ist er aus diesem Leben geschieden, anerkannt von 1 PwieS] oder PwirS 2 Erde,] folgt 具doch dauert nicht,典 8 das in uns] Freies Deutsches Hochstift 2v: das Kind in uns 19–20 unsers Freundes! [Absatz] Diesem Verein, den] Freies Deutsches Hochstift 3r: unsers Freundes, [kein Absatz] dieser Verein den 23 der immer nur gewidmet war] so auch Zelter S. 303; korr. aus: dem er immer nur geweiht war, (so auch, ohne Komma, Freies Deutsches Hochstift 3r) 24 christlichen] Zelter S. 303: christlichsten (so auch Der Sing-Akademie gewidmet S. 25f) Platschek, 6. Auflage, München 1987, S. 27) – Der Text lautet bei Nachschrift Freies Deutsches Hochstift 1v: „Wie Gras auf dem Felde sind Menschen dahin, wie Blüthen, / nur wenige Tage gehn wir verkleidet einher der Adler / besuchet die Erde doch dauert nicht, schüttelt vom Flügel den / Staub und kehret zur Sonne zurück.“ – Das Gedicht ist von Johann Abraham Peter Schulz (1747–1800) vertont worden (vgl. FreymäurerLieder, mit ganz neuen Melodien, Leipzig 1788, S. 110), mit dem Zelter persönlich und brieflich verkehrte. Andere Claudius-Gedichte hat Zelter selbst in Musik gesetzt.

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der Treue und Liebe Aller, die ihn kannten und irgend in das Bereich seiner Wirksamkeit traten. So möge denn auch der Wunsch des Sterbenden in Erfüllung gehen, daß dieser Verein in seinem Streben und Wirken fortbestehen möge, daß ein ebenso reines, so wahrhaftes Gemüth, voll gleichen Eifers für die Kunst und heiligen Berufs an seine Stelle treten möge, und daß von hier aus die Erhaltung der Kunst und die Erbauung christlicher Frömmigkeit fortgehen möge in ungestörter Folge, wie in seinem Leben. Mit diesen Wünschen wollen wir ihn geleiten, dankbar Dem, der ihn uns gegeben und nach seiner Weisheit ihn durchs Leben geführt hat, voll des Bewußtseins, welchen erquickenden Schatz als Beispiel wir haben in seinem Bilde, und wie auch er Theil gehabt an allen Wohlthaten der göttlichen Führung, worauf wir Alle unser Vertrauen und unsre Hoffnung der Seligkeit gründen. Amen.

4 Wirken] Freies Deutsches Hochstift 3r: Wirksamkeit 4–5 daß ein ... Gemüth,] fehlt bei Freies Deutsches Hochstift 3r 6 und heiligen Berufs an seine Stelle treten] Freies Deutsches Hochstift 3r: und des heiligen Berufs derselben [scilicet: der Kunst] an die Spitze desselben [scilicet: dieses Vereins] treten 8 diesen Wünschen] Freies Deutsches Hochstift 3v: diesem Wunsche 13 Der Rede folgte der Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ aus der MatthäusPassion von Johann Sebastian Bach. Zur anschließenden Beisetzung vgl. oben Einleitung I. 5. a

Am 20. Mai 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Cantate, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 4,26–34 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 209–220, Nr. XVII; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 692. Tex t . Marcus IV, 26–34. „Und er sprach: das Reich Gottes hat sich also, als wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft, und schläft, und stehet auf Nacht und Tag, und der Same gehet auf, und wächset, daß er es nicht weiß. Denn die Erde bringet von sich selbst zum Ersten das Gras, darnach die Aehren, darnach den vollen Weizen in den Aehren. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er bald die Sichel hin, denn die Ernte ist da. Und er sprach: Wem wollen wir das Reich Gottes vergleichen? Und durch welches Gleichniß wollen wir es vorbilden? Gleichwie ein Senfkorn, wenn das gesäet wird aufs Land, so ist es das kleinste unter allen Samen auf Erden; und wenn es gesäet ist, so nimmt es zu, und wird größer, denn alle Kohlkräuter, und gewinnet große Zweige, also, daß die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können. Und durch viele solche Gleichnisse sagte er ihnen das Wort, nach dem sie es hören konnten. Und ohne Gleichniß redete er nichts zu ihnen; aber insonderheit legte er es seinen Jüngern Alles aus.“ |

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Hier, m. a. Fr., haben wir noch zwei Gleichnisse des Herrn über das Reich Gottes als Zugabe gleichsam zu jenem ersten, mit welchem wir uns neulich beschäftigt haben. Das letzte von diesen, das Gleichniß von dem Senfkorn erzählen uns die anderen Evangelisten auch; das erste aber das ist dem unsrigen eigen, und wir finden es sonst nicht. 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 692: „Komm, Geist des Herrn, du Herzensgast“ (Melodie von „Ich dank dir schon durch deinen Sohn“) 19–20 Vgl. die Predigt am 15. April 1832 über Mk 4,1–9; auch die Predigt am 13. Mai 1832 über Mk 4,10–25 20–21 Vgl. Mt 13,31f; Lk 13,18f

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Was nun zuerst das letzte betrifft: so liegt der Sinn desselben vornämlich in demjenigen, was wir noch erwarten. „Das Senfkorn, wenn es gesäet wird, sagt der Erlöser, ist das kleinste unter den Samen der Gewächse, aber hernach wird es größer denn die anderen alle.“ Den Anfang also des Reiches Gottes stellt er dar als etwas Kleines. Und freilich, daß ein Mensch umherging auf einem, wenn man auf den ganzen Zusammenhang der menschlichen Dinge damaliger Zeit achtet, unbedeutenden und geringfügigen Fleck der Erde und da predigte und heilte, das ist ein geringer Anfang nach dem gewöhnlichen Maßstabe menschlicher Dinge; wogegen andere ähnliche Gemeinschaften, solche nämlich, wodurch sich auch die Menschen ihres Verhältnisses zu Gott bewußt zu werden, es anzubauen und ihm Einfluß auf das Leben zu geben suchen, wenn wir auf ihre erste Geschichte zurückgehen, einen glänzenderen Anfang haben. Und nun sagt der Erlöser, aber ist es nur erst gesäet: so nimmt es zu und überwächst alle anderen Gewächse ähnlicher Art. Das also ist die Zuversicht, welche der Erlöser hatte, und welche wir auch haben sollen und um so mehr haben können, als, wenn auch das noch nicht ganz so, wie er es gesagt, erfüllt ist, wir doch in einer solchen Zeit leben, wo dieses Zunehmen des Reiches Gottes von seinem ersten geringen Anfang an der Gegenstand unsers beständigen Dankes gegen Gott ist. Wenn wir nun das Verhältniß derer, die ihr geistiges Leben aus diesem Reich Gottes schöpfen, derer, welche sich zu dem Namen des Erlösers bekennen, mit | der Gesammtheit der Menschen vergleichen und in entfernteren Weltgegenden auch mit einzelnen Gemeinschaften, die eine Menge von Völkern vereint haben zu einer und derselben Anbetung des höchsten Wesens, wie eben sie es erkennen allerdings dunkler und schwächer: nun, so gibt es immer noch solche, die zahlreicher sind als die Gemeinschaft der Christen. Aber wenn sich so oft einzelne Stimmen hören lassen, welche zweifeln, ob wol auch die von Christo begründete Gemeinschaft ausreichen werde bis an das Ende der Tage, ob nicht doch eine Zeit kommen werde, wo die Menschen etwas Anderes bedürfen und ihnen Christus nicht mehr genügen würde: so ist freilich der Glaube immer taub gegen solche Stimmen und weiset sie von sich ab, und das Bewußtsein, welches wir in unserem Inneren haben von der Kraft dieses göttlichen Wortes, läßt uns dergleichen nicht anhören. Nun aber sollen wir diesen unseren Glauben auch gründen auf das Wort des Herrn, wie er es hier verkündet, daß er selbst auch dieser Ueberzeugung gewesen ist, das, was er gesäet habe, das werde nun wachsen, so daß es größer und herrlicher werde als alles Aehnliche. Wenn wir nun nach den bisherigen Fügungen Gottes mit diesem seinem Reiche fragen: so finden wir, daß es schon gar manche Gefahren bestanden hat von außen; aber jene zweifelnden Stimmen, ob es wol auch allen künftigen Geschlechtern genügen werde, die kommen mehr von innen als von außen. Daß es jetzt schon fest genug begründet ist gegen jede äußere Gewalt, daß überhaupt solche Zeiten, wo die Menschen um ihres

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Glaubens willen verfolgt werden, wo der geistige Streit sich der irdischen Waffen bedient, immer seltener werden und ganz aufhören müssen, darauf haben wir wol alle eine gegründete Hoffnung; aber wie sollen wir es verstehen und fassen, wenn solche zweifelnden Stimmen von innen ausgehen, aus der Mitte solcher Völker, unter denen das Reich Gottes schon Platz gewonnen hat, und von Solchen, die mehr | und bestimmter in den Zusammenhang der menschlichen Dinge hineinsehen? Da müssen wir nun wol sagen, das hat seinen Grund größtentheils darin, daß sich ihnen der Zusammenhang alles dessen, was zu der Entwickelung des menschlichen Geistes und Lebens gehört, mit dem Samen des göttlichen Wortes verbirgt; daß sie glauben, es sei nur dieses oder jenes Einzelne, was hierin seinen Grund habe, alles Andere aber und bei Weitem das Meiste, für unser gesammtes Leben Größte und Wichtigste, das hänge nicht mit dieser Saat des göttlichen Wortes zusammen, sondern habe seinen anderweitigen Ursprung in der menschlichen Natur. Wenn wir aber auf eben diesen Zusammenhang unser Augenmerk richten: so können wir doch nicht zweifeln, wie auch alle menschliche Dinge sich neu und anders gestaltet haben, seitdem eben dieses kleine Samenkorn schon zugenommen hat und gewachsen ist, und es kann niemals denen, welche die Kraft des göttlichen Wortes in sich selbst kennen und wissen, wie es in ihnen selbst alle die verschiedenen Theile des menschlichen Lebens ergreift, denen kann niemals der Gedanke einkommen, als ob jemals den Menschen könne das geringfügig und entbehrlich erscheinen, was doch die unmittelbarste Aeußerung dieser geistigen Kraft ist, oder als ob jemals eine hellere Einsicht, eine lebendigere und kräftigere Liebe, eine zusammenfassendere Gemeinschaft unter den Menschen entstehen könnte als die, welche auf die Wirksamkeit des Erlösers und die Kraft seiner Liebe gegründet ist. Aber ebenso lasset uns von diesem Gleichnisse des Herrn aus auch noch auf etwas anderes Entgegengesetztes sehen, was nicht minder häufig ist. Nämlich von eben demselbigen ausgehend, daß die Kraft des göttlichen Wortes in der menschlichen Seele und in dem menschlichen Leben sich nur in demjenigen beweise, was als der unmittelbare Ausdruck der Frömmigkeit in dem Leben erkannt wird, gibt es Viele, welche nun gern möchten, damit sich eben die Kraft des göttlichen Wortes in ihrer rechten Eigenthüm|lichkeit zeige, alles Andere, wovon sie glauben, daß es damit nicht zusammenhänge und davon nicht durchdrungen sei, aus dem menschlichen Leben entfernen. Da halten sie uns vor als das Ziel der christlichen Vollkommenheit ein Entsagen auf dieses und jenes in dem menschlichen Leben, und stellen Alles, wovon sich nicht zeigen läßt, daß es unmittelbar einen Grund hat in solchen Aussprüchen des Erlösers, worüber wir nicht seinen bestimmten Willen in dem göttlichen Worte haben, als einen gefährlichen Auswuchs des menschlichen Lebens dar, von welchem sie besorgen, er werde das Reich Gottes in uns und um uns her zerstören. Ja eine Menge von dem,

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was doch nothwendig zu der Entwickelung des menschlichen Geistes gehört, wollen sie von den Kindern Gottes entfernt halten, als ob es Gefahr bringen könne für das Heil ihrer Seelen. Was sagt der Erlöser aber in unserem Gleichniß? Er sagt, wenn das Reich Gottes nun seine rechte Kraft und Gestalt gewonnen hat und große Zweige getrieben aus dem kleinen Samenkorn: so wohnen die Vögel unter dem Himmel in dem Schatten desselben, d. h. also, daß auch andere Theile des Lebens sich in den Zusammenhang mit dem Reiche Gottes gleichsam hinflüchten und unter dem Schatten desselben ihren Platz finden. Und er will das nicht stören und vertreiben, so wie jene besorgten und ängstlichen Christen, welche überall Vogelscheuchen aufstellen möchten, daß in dem menschlichen Leben nichts Anderes sei, kein Austausch menschlicher Gedanken, keine anderen Zusammenkünfte der Menschen als solche, welche sich unmittelbar auf das Besprechen des göttlichen Wortes, auf die unmittelbare Aeußerung der Frömmigkeit beziehen. So hat es der Erlöser nicht gemeint; sondern das Alles soll doch unter dem Schatten des Reiches Gottes wohnen, Alles, was zu der rechten Fülle des menschlichen Lebens gehört, das soll sich unter den Schatten desselben flüchten und soll da erst seine rechte angemessene Wohnung erhalten, wie es in den Zusam|menhang des menschlichen Daseins gehört; keine Furcht soll walten, daß dadurch das Reich Gottes werde gestört werden, daß das, was zur Ordnung der Natur und der menschlichen Dinge gehört, der Kraft desselben feindselig sei; sondern hat es sich nur erst recht gestaltet, hat es nur erst rechte Wurzel geschlagen: so nimmt es Alles in sich auf, weil es zugleich Alles verträgt, was nur eines Zusammenhangs mit demselben fähig ist und danach trachtet. Und wie könnte es auch wol anders möglich sein, wenn das Reich Gottes wirklich einen solchen Umfang erhalten soll? Ja wenn wir uns denken, das wäre die Absicht Gottes mit dem Erlöser und des Erlösers selbst gewesen, daß auf seinen Namen gegründet werden sollte eine wenig zahlreiche Gemeinschaft eng verbundener und einander ähnlicher Gemüther, die ihre volle Genüge hätten in dem Bewußtsein dieses gleichartigen Lebens: ja, dann möchte es ein Anderes seyn; aber er will, daß seine Gemeinschaft größer sei als alle anderen, daß sie alle anderen überwachsen soll. Damit hängt ja nothwendig zusammen, daß Alles, was zur Vollständigkeit des menschlichen Lebens gehört, in dem Reiche Gottes seinen Schutz finden soll, damit es im wahren Zusammenhange mit seiner eigenthümlichen, allerdings höheren Kraft weiter gedeihe. Aber was sollen wir, m. g. Fr., zu dem ersten unter diesen beiden Gleichnissen sagen, das auf den ersten Anblick uns vielleicht auffallend erscheint, und dessen Betrachtung ich ebendeswegen bis zuletzt verspart habe? Wie stellt der Erlöser hier das Reich Gottes dar? „Es hat sich, sagt er, als wenn ein Mensch Samen streut auf das Land, aber dann weiß er gar nicht und kümmert sich nicht darum, wie es wächst; er schläft ein, steht wieder auf

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und schläft wieder ein und also ohne sein weiteres Zuthun gedeihet der Same. Die Erde, sagt er, bringet dann aus dem Samen Alles von selbst hervor; er | keimt, schießt in die Höhe, die Aehren werden sichtbar, sie blühen, füllen sich mit Samen, und wenn dann der volle Weizen da ist, dann schickt er seine Schnitter und sammelt die Ernte.“ Ist es denn so mit dem Reiche Gottes, daß, wenn der Same einmal ausgestreut ist, wir dann nichts weiter zu thun haben, daß Alles von selbst gedeiht? Das kommt uns freilich sonderbar vor; aber wenn wir es nun zusammenhalten mit dem ersten Gleichnisse, worin sich der Erlöser über das verschiedene Geschick des Samens, der über die Erde ausgestreut wird, ausläßt: so werden wir sagen müssen, es steht damit in dem genauesten Zusammenhange. Dem Samen geht allerdings etwas voran, das ist nämlich die Bearbeitung des Bodens, und da sagt uns ja jenes Gleichniß deutlich genug, daß der Same nicht nur keimt, sondern auch gedeiht und Frucht bringt, wenn er in ein bearbeitetes Land gestreut wird; aber sich selbst stellt er dann auch nur so dar, der Säemann säet das Wort; aber weiter schreibt er sich auch nichts zu als eben dieses. Ist es nun nicht genau betrachtet doch wirklich so? Gibt es irgend eine andere Arbeit da, wo einmal der Same des göttlichen Wortes ausgestreut ist; muß nicht alles Andere doch, wie es hier heißt, von selbst geschehen? Was wir irgend thun können da, wo der Same des göttlichen Wortes einmal Platz gewonnen hat in der Seele, wenn wir uns unter einander belehren, wenn wir uns unter einander ermahnen, warnen, was ist es denn, was wir einander geben können? Ist es etwas Anderes als das Wort Gottes: so wird es auch gar nicht dazu führen, daß das Wort Gottes gedeiht; ist es nur dieses: so ist es auch nur wieder eine Saat, welche wir der vorigen hinzufügen, und so sagt der Erlöser mit Recht, daß es keine andere Kraft gibt, durch welche das Reich Gottes gedeiht, als diese Kraft des Samens, diese Kraft des göttlichen Wortes, und mit der können wir auch nichts Anderes thun, als daß wir | sie in die Gemüther streuen, und, sagt er, ist das einmal geschehen, dann bringt die Erde alles Uebrige von selbst hervor. Wie rühmt nun hier, m. g. Fr., der Erlöser die menschliche Natur, welche doch so oft dargestellt wird und freilich auch mit Recht, aber nur daß es auch auf die rechte Weise geschieht, als unfähig und unvermögend zu allem Guten und verderbt in sich selbst? Das stimmt sehr wol, wenn wir es recht verstehen, mit allen diesen Bildern, welche der Erlöser vorgetragen hat, zusammen. Was das menschliche Herz hervorbringt, wo der Same des göttlichen Wortes nicht hineingestreut wird, das sind eben die Dornen und Disteln, welche, wenn sie überhand nehmen, hernach den Samen des göttlichen Wortes ersticken können; aber so hat er es damit nicht gemeint, daß das menschliche Herz unfähig wäre, wenn der Same des göttlichen Wortes eingestreut wird, diesen zur Reife zu bringen, sondern vielmehr ge8–10 Vgl. Mk 4,3–20; auch Mt 13,3–23; Lk 8,4–15

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schehe das von selbst. So ist es. Wie der Erdboden, wenn er bearbeitet wird, den Samen in seine Tiefe aufnimmt, ihm Nahrung gibt, seine Lebenskraft entwickelt, daß nun der neue Leib, wie ihn Gott einem jeden gibt, hervorgeht: so stellt der Erlöser hier das gesammte Gebiet des menschlichen Geistes und das Wachsthum des neuen Lebens in den Menschen dar. Nichts Anderes kann geschehen, als daß der Same des göttlichen Wortes in den Menschen eingestreut wird, und der Schöpfer hat den menschlichen Geist mit solchen Gaben ausgerüstet, daß, nimmt er den Samen auf, dann geht auch die ganze schöne Gestalt der himmlischen Pflanze aus demselben hervor, so daß alle die Früchte zum Vorschein kommen, welche hernach in die Scheunen gesammelt werden. Wenn nun jemand sagen wollte, nun wol, aber wir dürfen nicht vergessen, daß das Land vorher bearbeitet werden müsse, und wir fragen, was ist denn diese Arbeit: so will der Erlöser doch, daß sie unterschieden werden soll von jener Handlung des Säens, des Aus|streuens des göttlichen Wortes. Was ist denn nun diese Bearbeitung? Es ist doch keine andere, m. Th., als die, welche der menschlichen Seele angedeiht in dem Zusammenhange unseres gemeinsamen Lebens. Da ist Alles schon darauf berechnet, was in der menschlichen Natur wild ist, zu zähmen, was regellos ist, unter das Gesetz zu bringen, was zügellos ist, durch Zucht und Sitte zu bändigen und zu dämpfen. Wo die Menschen in einer Verbindung leben, in der Recht und Ordnung, Zucht und Sitte das Ganze beherrschen und jeder Einzelne sich unter dasselbe fügen muß: da wird auch die menschliche Seele bearbeitet für das Reich Gottes. Das sind die Vorbereitungen, welche da nicht fehlen können, und darum muß auch überall, wenn das Evangelium hingebracht wird unter die Menschen, welche demselben noch fremd sind, und unter denen noch solche Anstalten zur Bearbeitung der menschlichen Seele nicht sind, mit diesen der Anfang gemacht werden, und erst allmählig kann ihnen das göttliche Wort mitgetheilt werden, wenn sie sich erst gefügt haben in diese Vorarbeiten, welche dem unmittelbaren Wirken des göttlichen Wortes vorangehen müssen. Nehmen wir nun dieses noch hinzu, wie der Erlöser es verstanden wissen wollte, aus seinem vorigen Gleichnisse: so werden wir sagen, es gibt nichts Anderes zu thun als dafür zu sorgen, daß es an Allem, was zu der Vorarbeit gehört, der menschlichen Gesellschaft nicht fehle; und unter christlichen Völkern ist es nicht möglich, daß es daran fehle; aber dann haben wir weiter nichts zu thun als immer nur zu säen, jede Gelegenheit wahrzunehmen, wo ein Samenkorn ausgestreut werden kann, alles Andere müssen wir der Kraft des menschlichen Gemüths, wie es Gott geschaffen hat und es zusammengehalten unter dem Gesetz, überlassen. Die Erde muß von selbst hervorbringen allmählig Eines nach dem Anderen, bis sich der volle Weizen in den Aehren zeigt, bis wir sehen, wie die Frucht des göttlichen Wortes in den | 38–39 Vgl. zum Hintergrund Gal 3,23

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Seelen reif geworden ist, so daß von ihnen aus eine neue Saat wieder ausgehe. Und das ist eben die Ernte, und so stellt er uns also in diesem Bilde dar das Fortschreiten des Reiches Gottes von einem Geschlecht der Menschen zu dem andern, aber immer muß beides ununterbrochen mit einander fortgehen, die Vorarbeit, die Saat, die Ernte. Was haben wir also nun in dieser Beziehung uns selbst zu fragen? Gewiß nur dieses, ob wir nicht träge sind, immer zu säen, wo das Land im Stande ist, den Samen des göttlichen Wortes aufzunehmen, ob wir auch mit rechter Freude das Wachsthum des Reiches Gottes wahrnehmen und Alles, was gereift ist, auch wieder zu neuer Saat verwenden. In allem Anderen aber beachten wir nur das verborgene Werk des göttlichen Geistes in dem menschlichen Geist; ein anderes Zuthun, das wir unterscheiden könnten, gibt es nicht, aber wol ein vor unseren Augen erfolgendes und uns immer mit herzlicher Freude erfüllendes allmähliges Gedeihen. Wenn nun der Erlöser früher schon gesagt hat, die Fruchtbarkeit wäre freilich nicht gleich, einiges trüge dreißigfältig, einiges sechzigfältig, einiges hundertfältig: nun, so rühret das theils her von der Verschiedenheit des Bodens, welche Gott so geordnet hat in dieser Welt des menschlichen Geistes, theils rührt es her von der Verschiedenheit der Witterung. Aber, m. g. Fr., lasset uns nicht nachahmen in ihrer Unvollkommenheit denen, welche es mit dem Ausstreuen des Samens in die wirkliche Erde zu thun haben. Die säen und sie wissen auch, wann sie ihr Land bearbeitet haben, wie es sich gebührt: so können sie dann weiter nichts thun, und dann sehen sie zu, wie die Erde Eines nach dem Anderen hervorbringt; aber wie pflegen die immer zu klügeln und den Herrn zu meistern über den Wechsel der Witterung, wie sind sie immer voll von Reden, ja wenn dieses oder jenes nicht gekommen wäre, wenn die Witterung einer anderen Ordnung gefolgt | wäre, ja dann würden wir wol eine herrlichere Ernte gehabt haben; und Alles, was nicht nach ihrem Sinn und ihrer Meinung geschieht, das macht sie ängstlich und besorgt, ob auch die Ernte gedeihen werde. Aber die Natur geht immer ihren Gang; die reichlichen und die sparsamen Ernten wechseln mit einander, und gar nicht geschieht es immer so, wie sie es gedacht haben; sondern wenn sie geseufzt haben über die frühere Witterung: so macht es die spätere oft wieder gut. Und so lasset uns diesem Beispiele, was wir so oft sehen, von einem Murren über die göttliche Vorsehung nicht nachahmen in der Beziehung auf die Fügungen der geistigen Dinge. In der geistigen Welt da geschieht es ja auch, daß wir oft solche Reden hören, wenn das nicht so oder so gewesen wäre, wenn nicht diese oder jene Unruhe uns geängstigt hätte: wie würden wir unsere Kräfte auf das Gedeihen der menschlichen Dinge haben verwenden können, ungestört von außen; nun aber ist es so gekommen, nun werden die Kräfte der 16–17 Vgl. Mk 4,8.20; auch Mt 13,8.23

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Menschen nach außen gerichtet, nun entsteht Zwiespalt und Krieg und Noth, und indem sich die Menschen so in die Dinge der Erde verwickeln, wird die Ernte in dem Reiche Gottes immer sparsamer. So wollen wir nicht reden; denn wie Gott den Wechsel der Witterung in der äußeren Natur ordnet: so ordnet er auch den Wechsel der Begebenheiten in der Welt. Freilich sind die Zeiten nicht alle gleich, die einen bringen eine reichlichere, die anderen eine sparsamere Ernte; aber wir vermögen es nicht zu ändern, und wie oft machen wir auch auf diesem Gebiete falsche Schlüsse, wie jene auf dem irdischen, wie oft beschämt uns dasjenige, worüber wir anfangs gemurrt. Darum wollen wir Alles ihm anheim stellen, der allein den großen Zusammenhang der Dinge leitet, und uns immer freuen jenes Zusammenhanges, welcher Statt findet zwischen der Kraft des göttlichen Wortes und der Natur des menschlichen Gemüthes. Auf diesem Zusammenhange und auf jenen allgemeinen gött|lichen sich uns so oft in ihren Absichten verbergenden Fügungen, auf beiden zusammen beruht das Gedeihen des Reiches Gottes, und das Wort des Herrn wird immer wahrer werden; es wird wachsen über alle ähnlichen Gewächse hinaus und alle Dinge in seinen Schatten aufnehmen, daß endlich nichts sei als dieses Reich Gottes, und was im schönen, friedlichen Zusammenhange mit demselben gedeihen kann. Das ist das Ziel, zu dem er uns Alle hinführen wird, welches wir immer im Auge haben, und zu welchem wir froh und kräftig mitwirken sollen. Amen. Lied 2.

22 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 2: „Ach Gott, gieb du uns deine Gnad“ (Melodie von „Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn“)

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Am 21. Mai 1832 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Montag, Uhrzeit unbekannt Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde vor dem Potsdamer Tor Keiner Drucktext Schleiermachers; Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 276–279 SW II/4, 1835, S. 833–836; 21844, S. 877–880. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S.683–686 Keine Rede beim Begräbnis von Karl (Carl) Christian Wolfart

Rede am Grabe des Professor Dr. K. W. Unsre Hülfe sei im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Amen! Wenn wir ein einzelnes, in der Gemeinschaft der Christen geführtes und geschlossenes Leben zu dieser Stätte begleiten, so geziemt es uns beruhigt zu sein über denjenigen, der von uns abgeschieden und dessen Seele nun in Gottes Hände gelegt ist. Die ewige Weisheit, welche zugleich die ewige Liebe ist, hat Jedem das Ende des Lebens bestimmt, und allein Derjenige, Der in’s Verborgene sieht, weiß, wie reif die Seele ist, um befreit zu werden aus dieser irdischen Pilgerschaft, welche Wirkungen die Erfahrungen und Läuterungen des Lebens in selbiger 1 Bei dem Toten handelt es sich um Karl Christian (auch Christian Carl) Wolfart, am 2. Mai 1778 in Hanau geboren, Doktor der Medizin, praktischer Arzt und seit 1817 Professor für Heilkunde an der Berliner Universität, zuletzt wohnhaft in der Taubenstraße 7. Als Todesdatum findet sich häufig der 18. Mai 1832 angegeben. Nach dem Verzeichnis der Verstorbenen der Dreifaltigkeitsgemeinde, der Traueranzeige der Familie sowie Schleiermachers Eintrag in seinem Tageskalender (SN 452) verstarb Wolfart bereits am 17. Mai 1832; vgl. oben Einleitung I. 5. b. 2–3 Hierbei handelt es sich um das agendarische Eingangsvotum nach Ps 124,8, das sog. Adjutorium, mit dem Schleiermacher in der Regel auch seine Predigtgottesdienste eröffnete. 4–5 Prof. Wolfart wurde auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde vor dem Potsdamer Tor in einem Familiengrab beigesetzt (vgl. KGA III/1, S. 1012). 11 Möglicherweise spielt Schleiermacher hier auch an auf eine Affäre, in die Wolfart 1820/1821 verwickelt gewesen war. Ein Rittmeister von Altrock hatte Wolfart beim Königlichen Kammerge-

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hervorgebracht haben, um sie hinzuführen zu dem ihr gesetzten Ziele. Aber wir fragen: Wer ist’s, der da leidet durch das Abscheiden des Einzelnen aus dem gewohnten Kreise seiner Thätigkeit? Was hätte er noch thun und leisten können, wäre längeres Leben ihm beschieden gewesen? Wenn es denn ein Hausvater oder eine Hausmutter ist, wo der Tod Witwen und Waisen macht, da ergreift uns ein schmerzliches Gefühl, das wir nicht haben, wenn es ein einzelnes Leben ist, das abgerufen wird. Früh ist unser verstorbener Freund von den zartesten und süßesten Banden des Lebens gelöst worden; und dennoch ist es hier nicht wie gewöhnlich! Welch ein seltenes schönes Geschick ist es, daß drei Brüder ein gemeinsames häusliches Leben geführt eine | Reihe von Jahren unter den Augen der leitenden liebenden Mutter, die sie erzogen, bis der Eine hingerufen ward in die Ferne, durch bürgerliche Pflichten, und den Andern der Herr der Zeit und des Lebens abgeruricht zu Berlin angezeigt; Wolfart sollte die Tochter, das Fräulein von Altrock, zuerst geschwängert und ihr dann Medikamente verabreicht haben, die zu einer Abtreibung geführt hätten (vgl. Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv, Medizinische Fakultät, Nr. 1456). Auf eine diesbezügliche Anfrage der Medizinischen Fakultät antwortete der für die Universitäten zuständige Staatminister für Geistliche und Schulangelegenheiten Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770–1840) am 26. Februar 1820: Dem Ministerium sei „amtlich bekannt geworden“, dass „die gegen den Professor Wolfart erhobene Anklage versuchter Abtreibung einer Leibesfrucht von dem Gerichtshofe für dergestalt unbegründet angesehen worden ist, daß nicht einmal die Einleitung einer Untersuchung veranlaßt worden“ (ebd. 25r–v). Teile der Medizinischen Fakultät gaben sich damit nicht zufrieden, forderten die Untersuchungsakten an und erneuerten nach deren Prüfung in einem Schreiben an Altenstein vom 2. Juni 1820 die Vorwürfe gegen Wolfart: Aus den Akten erhelle, „daß von dem Herrn Professor Dr. Wolfart mehrere Mittel für die eigenständlich von ihm geschwängerte Fräulein v. Altrock verordnet und angewendet worden sind, deren man sich bei vorsichtigem Handeln für Schwangere nicht ohne die allerdringlichste Nothwendigkeit bedient“ (ebd. 37r). Offensichtlich sah sich Altenstein nicht genötigt, irgendetwas zu unternehmen. Schließlich legte die Medizinische Fakultät am 6. April 1821 die Sache offiziell ad Acta (vgl. ebd. 52r–v). 3– 5 Wolfart starb mit 54 Jahren. 9–10 Wolfart hatte, am 2. Mai 1794 gerade sechzehn geworden, sein Elternhaus verlassen, um sich am 14. Mai an der Universität Marburg für das Studium der Medizin zu immatrikulieren (vgl. Catalogi studiosorum Marpurgensium cum annalibus coniuncti series recentior 1653–1830, ed. Theodor Birt, Nachdruck der Ausgabe Marburg 1903–1914, Nendeln/Liechtenstein 1980, S. 452). Bereits zum nächsten Semester, am 1. November 1794, schrieb er sich, gemeinsam mit seinen Brüdern Johann Heinrich und Philipp Ludwig, an der Universität Göttingen ein (vgl. Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen 1734–1837, hg. v. Götz von Selle, Text, Hildesheim/ Leipzig 1937, S. 353). 11–1 Seit vermutlich 1823 hatte Wolfart gemeinsam mit seinen beiden Brüdern, den Juristen Johann Heinrich (gestorben vermutlich 1836) und Philipp Ludwig (1775–1855) sowie, bis zu ihrem Tod vermutlich im Jahr 1826, ihrer verwitweten Mutter Marie Susanne Judith, geborene Hassenpflug, in der Taubenstraße 7 gewohnt (vgl. die Angaben in dem jährlich erschienenen „Allgemeinen Wohnungsanzeiger für Berlin“). 1831 war Philipp Ludwig Wolfart als Regierungspräsident nach Arnsberg in der preußischen Provinz Westfalen berufen worden.

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fen hat! Aber die Brüder und Kinder der Brüder sind doch verwaist; denn seine Liebe waltet und sorgt nicht mehr freundlich in ihrer Mitte. Wie vielfach ist aber der Arzt, dem wir unsre und der Unsrigen Gesundheit vertrauen, auch in das Familienleben Andrer verflochten! Es giebt nicht leicht ein zarteres Band für ein Hauswesen, als das, welches uns mit einem solchen kunstverständigen Freunde verbindet; wie nah und innig muß er in alle Verhältnisse des äußeren Lebens, ja in die zartesten geistigsten hineinschauen, und ist er nun ein liebendes Gemüth, welches so sein Leben vervielfältigt, so läßt er auch bei seinem Scheiden gar viele Lücken hinter sich. Und so spreche ich denn in meinem und in gar Vieler Namen den innigsten Dank aus für das, was wir in unsrem verstorbenen Freunde hatten; Trauer und Wehmuth über das, was wir an ihm verloren. Doch nicht allein auf diesem Gebiete war er unermüdet und liebevoll thätig, sondern auch als öffentlicher Lehrer seiner Wissenschaft, und zwar nicht nur für unsre akademische Jugend, sondern auch indem er seine Forschungen auf dem Gebiete der Natur nach seinen Kunsterfahrungen öffentlich bekannt machte. Beide, der Jugendlehrer und der Schriftsteller, erfuhren in der Zeit mehrerlei Wechsel der Anerkennung, je nachdem Einer fest auf dem Wege bleibt, den er eingeschlagen hat, die bewegliche Mei3–4 Wolfart war Hausarzt auch in der Familie Schleiermacher. 14–15 Wolfart, 1810 an der neu gegründeten königlichen Universität in Berlin als Privatdozent habilitiert, hatte sich dort seit 1811 in regelmäßigen Abständen um eine bezahlte Professorenstelle bemüht; von 1817 bis zu seinem Tod war er ordentlicher Professor der Heilkunde (vgl. Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv, Medizinische Fakultät Nr. 1377). 16– 18 Vgl. etwa: Das Faulfieber, besonders in Beziehung auf desselben Erscheinung und Ausbreitung im Kriege in Aforismen dargestellt, Halle a. d. Saale 1814; Grundzüge der Semiotik in Lehrsätzen, als Leitfaden zu Vorlesungen, Berlin 1817; Nosologische Therapie, Bd. 1, Berlin 1826 18–3 Wolfarts wissenschaftliches Interesse galt in der Tat jenen „geheimnißvollen Erscheinungen des Lebens, worinnen sich Leibliches und Geistiges bewegt“. Das zeigen schon seine „Dissertatio inauguralis medica de genii morborum mutatione hominum vitae rationi tribuenda“ (Marburg 1797) und seine darauf beruhende Schrift „Ueber den Genius der Krankheiten“ (Frankfurt a. M. 1801). Das belegen verschiedentlich auch seine Vorlesungen zur Heilkunde; so las er etwa im Wintersemester 1823/24 über „Die Gesetze der Natur-Polarität und des Lebens“. Vor allem aber war er, spätestens seit 1812, ein überzeugter und treuer Anhänger des von Franz (auch Friedrich) Anton Mesmer (1734–1815) begründeten und vertretenen Mesmerismus, der Heilmethode des sog. tierischen Magnetismus oder Lebensmagnetismus, den er in mehreren Veröffentlichungen darstellte und gegen die nach anfänglicher Zustimmung einsetzende wissenschaftliche Kritik verteidigte: vgl. u. a. Mesmerismus, oder System der Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhaltung des Menschen, Bd. 1–2, Berlin 1814/1815; Der Magnetismus gegen die Stieglitz-Hufelandische Schrift über den thierischen Magnetismus in seinem wahren Werth behauptet, Berlin 1816. Regelmäßig machte Wolfart den Magnetismus auch zum Gegenstand seiner medizinischen Vorlesungen. Für das Sommersemester 1832, aus dem sein Tod ihn herausriss, hatte er eine zweistündige Vorlesung über „Mesmerismus und ärztliche Anwendung des Lebensmagnetismus“ angekündigt.

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nung aber sich hervorthut und um ihn herum schwankt; und das vorzüglich in den geheimnißvollen Erscheinungen des Lebens, worinnen sich Leibliches und Geistiges bewegt, daß wir zittern vor der möglichen falschen Deutung; – oft reizen sie die Wißbegierde, oft schauert die menschliche Natur zurück vor der Tiefe des Geheimnisses, Furcht ergreift die Menschen, daß verderblicher Wahn sich mischen möchte in Forschungen, die in ungewissem Lichte schweben: – und so müssen wir sagen, daß auch die Gunst dieser Bestrebungen nothwendig mannichfachem Wechsel unterworfen ist. Es gab eine Zeit, wo hier sein Wort und seine Lehre leitend war; sie ging vorüber, aber er fuhr fort zu forschen, und die Milde, welche er gegen die entgegengesetzten Meinungen und Ansichten bewies, und die Offenheit, womit er verfuhr und mittheilte, würden seine | Forschungen noch nützlicher gemacht und noch mehr verbreitet haben. Aber zum Troste für Alles, was ihm so früh entrissen wurde, und um das Gleichgewicht in seinem Innern herzustellen gegen den Andrang von Außen, war ihm Liebe zur edlen Dichtkunst beigesellt, mit deren zarten Gaben er oft den vertrauten Kreis seiner Freunde erfreute, deren Uebung unter den Mühseligkeiten seines Berufes ihn belebte, aber zugleich seine Thätigkeit über das gebührende Maß erhöhte. – Doch nicht dieses, sondern wie er sich hingegeben hat der Uebung seiner eigenen Kunst, als ein neues noch unerklärtes Uebel diese Stadt heimsuchte, seine glücklichen Bestrebungen dabei, die Noth zu lindern, der Drang, der ihn beseelte, seine Betrachtungen und Erfahrungen mitzutheilen, daß, wo noch Gegenden heimgesucht würden, auch Unkundigen Mittel dagegen zu Gebote ständen, diese Anstrengungen haben seinem überthätigen Leben die Kraft geraubt, und ihn schneller, als sonst geschehen wäre, seinem Ende zugeführt. Aber in allen seinen guten und edlen Bestrebungen, überall, in der Ausübung seiner Kunst, wie im vertraulichen Kreise der Freunde, voll Liebe und Theilnahme, war an ihm zu merken der Geist ächt christlicher Frömmigkeit, das Irdische und Zeitliche führte ihn überall auf’s Ewige; und so war es ihm gegeben, sein Leben so zu führen, daß unser Schmerz doch sicher vertrauen kann: er hat die Aufgabe seines Lebens gelöst, die Reife des Gemüths 9 mannichfachem] mannifchachem 16–17 Wolfart veröffentlichte mehrere Dramen und Gedichtbände; vgl. u. a.: Guntha, ein altdeutsch Mährlein (1809), Indra’s Verheißung (1809), Herman (1810), Die Katakomben (1810), Die Rheinfahrt (1823), Weihnacht-Klänge geistlicher Lieder (1825). 21–26 Seit Ende August 1831 war Berlin von der hochansteckenden sog. Asiatischen Cholera befallen worden (vgl. auch oben die Predigt am 19. Februar 1832). Wolfart veröffentlichte 1832 noch vor seinem Tod seine „Hülfs-Tafeln wider die Indische Seuche als Resultat eigner praktischer Erfahrungen“.

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Am 21. Mai 1832 nachmittags

erlangt, nach der wir Alle hienieden ringen, und ist aufgenommen in jene höheren Regionen des Daseins, wohin uns nur der Glaube trägt. So sei denn Gott gepriesen für Alles, was er gab und was er nahm, für alles Edle, Liebe, Gute, das er durch dieses Werkzeug verrichtet hat, für die Linderung menschlicher Leiden, die durch ihn vollbracht wurde, für den Genuß eines edlen Gemüths, den unser abgeschiedner Freund Allen gab, die ihm näher standen, und so sei jetzt und immerdar hiefür, wie für Alles, der Name des Herrn gelobt. Amen!

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(Bei der Grabesweihe, durch dreimaliges Bestreuen des Sarges mit Erde.) Von der Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du wieder werden; der Herr aber wird dich auferwecken am jüngsten Tage. Amen!

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(Gebet nach Schließung des Grabes.) 279

Allmächtiger, allbarmherziger, ewiger Gott, dessen Weisheit | uns geordnet hat, hier keine bleibende Stätte zu haben, wir danken dir, daß du uns deinen eingeborenen Sohn Jesum Christum nicht allein gesandt, sondern auch ihn dem Tode unterworfen hast, daß wir erkennen, der Jünger könne nicht sein über seinen Meister, und uns der Ordnung fügen, daß auch wir wieder zur Erde werden sollen. Segne jede christliche Bestattung dazu, daß wir weiser werden zur Seligkeit, und daß auch wir einst willig und gerne deinem Rufe folgen. Darum verleihe uns Gnade in dieser Zeitlichkeit, das zu suchen, was ewig ist, und deinen heiligen Willen vor Augen zu haben, in der Hoffnung, daß wir am jüngsten Tage auferstehen werden zum ewigen Leben durch deinen Sohn, in dessen Namen wir dich anrufen: Unser Vater u. s. w.

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Der Herr segne uns und behüte uns, der Herr lasse sein Antlitz leuchten über uns, und sei uns gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht auf uns und gebe uns seinen Frieden hier in der Zeit und dort in Ewigkeit! Amen. Dr. Schleiermacher.

10–11 Hierbei handelt es sich um das von der Agende für den Erdwurf am Grab vorgesehene, an Gen 3,19 (vgl. ferner PredSal 12,7) angelehnte Votum (vgl. Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen, Berlin 1829, Zweiter Theil, S. 17; KGA III/3, S. 1073). 14 Vgl. Hebr 13,14 17 Vgl. Mt 10,24; Lk 6,40; ferner Joh 15,20 26–28 Vgl. den in Anschluss an Num 6,24–26 formulierten sog. Aaronitischen Segen, mit dem das Begräbnis nach der „Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen“ (Zweiter Theil, S. 18; KGA III/3, S. 1074) schließen soll.

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Am 27. Mai 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Rogate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 14,9 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 76–92, Nr. V SW II/3, 1835, S. 265–275; 21843, S. 276–286. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 336–345 Keine Keine

Am 5. Sonntage nach Ostern 1832.

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Lied 38. 103, 1–7.

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Text. Joh. XIV, 9. „Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch, und du kennest mich nicht? Philippe, wer mich siehet, der sieht den Vater.“ M. a. Fr. Die erste Hälfte unseres kirchlichen Jahres, deren Ende wir uns izt nähern, ist auf eine besondere Weise dazu bestimmt, daß wir uns in unseren Versammlungen mit der Person des Erlösers beschäftigen. Sie enthält die festlichen Zeiten, welche sich auf sein Andenken besonders beziehen; wir feiern seine Erscheinung auf Erden und bereiten uns dazu vor; wir haben unser Augenmerk auf sein Leben gerichtet in der längeren oder kürzeren Zeit zwischen jenem Feste und denjenigen, welche dem Andenken seines Leidens und Todes und seiner Auferstehung besonders gewidmet sind, und wir sehen noch einmal auf seine | irdische Erscheinung in diesen lezten Tagen zurükk, bis wir nun sein gänzliches Erhöhtwerden von der Erde feiern, welches das lezte auf seine Person sich beziehende Fest ist, und uns in diesen Tagen bevorsteht. Es gibt aber eine zwiefache Art, wie wir uns mit 1 5.] 4. 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 38: „O Vater, send uns deinen Geist“ (Melodie von „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“); Nr. 103: „Mein Lebensfürst, dein freundliches Regieren“ (Melodie von „Mein Salomo, dein freundliches Regieren“)

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der Person des Erlösers beschäftigen. Die eine nämlich ist mehr allgemein, wenn wir ihn uns vorhalten und vergegenwärtigen als den Gegenstand unseres Glaubens in seiner ihn von allen anderen Menschen als einen höheren unterscheidenden göttlichen Würde, als denjenigen, in welchem alle göttlichen Verheißungen Ja und Amen geworden sind, durch welchen sich der göttliche Rathschluß zur Seligkeit der Menschen erfüllt hat. Aber es gibt auch eine andere, nämlich wenn wir mit einander in das Einzelne seiner menschlichen Erscheinung auf Erden eingehen, wenn wir seine Reden und seine Handlungen bei verschiedenen Veranlassungen und in den merkwürdigen Augenblikken seines Lebens mit einander betrachten. Diese lezte ist es, von welcher der Erlöser redet in den Worten, die wir izt mit einander vernommen haben. So lange bin ich bei euch, sagt er zu seinem Jünger, und du kennest mich noch nicht? Jene allgemeine Auffassung des Erlösers in seiner höheren Würde ist nicht eine Sache der Zeit, sie ist überall und immer dasselbe; sie ist das sich gleich bleibende in unserem Glauben, und wiederholt sich in allen frommen Bewegungen unseres Gemüthes. Hätte der Erlöser von dieser reden wollen, so hätte er nicht sagen dürfen, So lange bin ich bei euch; sondern nur etwa, So klar, so deutlich habe ich mich euch, wäre es auch nur in einem einzigen Augenblikke, gezeigt als der, welcher ich bin. Indem er aber so redet, wie wir eben | vernommen haben: so drükkt er seine Verwunderung aus, daß die Länge seines Aufenthaltes auf Erden und seines Lebens, die mannigfaltigen Momente ihres vertrauten Umganges, die verschiedenen Beziehungen, in denen sie Gelegenheit gehabt hatten, ihn zu sehen und zu beobachten, ihnen nicht einen größeren Gewinn gebracht hätten, als er aus der Frage seines Jüngers schließen mußte. Diese Frage, m. a. Z., legen wir uns billig auch vor, indem wir den gegenwärtigen Abschnitt unseres kirchlichen Lebens für dieses Jahr beschließen. Ueberall wo wir einen Abschluß machen in unserm Leben, ist es eines jeden besonnenen Menschen natürliche Richtung, in die Vergangenheit zurükkzusehen, sich zu fragen was sie gebracht, sich Rechenschaft davon zu geben wie er sie benuzt hat. Und war jezt der Erlöser auch wieder so oft und so lange der Gegenstand unserer gemeinsamen Betrachtungen: billig fragen wir uns, was für einen Gewinn wir auch dieses Jahr davon gehabt haben. Aber das kann ein Jeder sich nur beantworten, wenn wir erst darüber einig sind, was für einen Gewinn wir davon haben sollen und können. Darauf deutet der Erlöser eben in den Worten, welche ich gelesen habe, hin. Allein wir dürfen doch nicht bei diesen allein stehen bleiben, sondern den ganzen Umfang der Rede, welche mit diesen Worten beginnt, 5 Vgl. 2Kor 1,20

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müssen wir im Sinne haben; dann wird uns deutlich werden, es ist ein zwiefacher Gewinn, den der Erlöser erwartet, daß seine Jünger von seinem nähern Umgang mit ihnen sollten gehabt haben. Nämlich das Erste ist das, was unmittelbar in den Worten unseres Textes steht, sie sollten ihn nun so erkannt haben, daß er ihnen in der That zu | einer lebendigen Anschauung seines und unseres Vaters im Himmel geworden wäre; aber dann sagt er auch in dem weiteren Verfolg, wenn ihnen nun durch die Wirkung des Geistes, den er ihnen senden werde, die ganze Fülle der Erinnerung wieder würde aufgegangen sein, wenn sich ihnen nun sein ganzes Leben aufs Neue würde vergegenwärtiget haben: dann würden sie erkennen, daß er in ihnen sei wie der Vater in ihm. Und das ist also der zweite Gewinn, den wir von der rechten Betrachtung des Erlösers haben sollen, daß wir ihn nun in der That in uns wohnend finden und erkennen, eben so wie er hier sagt, daß der Vater in ihm sei. Diese beiden Stücke, m. a. Fr., wollen wir uns nun in unserer folgenden Betrachtung näher vorhalten und erläutern. I. Zuerst also sagt der Erlöser: wenn du mich kennetest, so würdest du wissen, daß, wer mich sieht, den Vater sieht, und würdest also nicht begehren, daß ich dir den Vater zeigen soll. Was meint er damit anders, m. th. Fr., als daß die Erkenntniß dessen was er ist, seiner Art zu sein, zu leben, zu wirken uns eine solche Anschauung von seinem und unserem himmlischen Vater geben soll, daß wir nach keiner anderen Offenbarung desselben, nach keiner vollständigeren und helleren Erkenntniß verlangen als die ist, welche wir in ihm finden. Fragen wir uns nun, was ist denn das Wesen unseres himmlischen Vaters, wie es uns diejenigen beschreiben, welche am Meisten durch diese Schule des Erlösers hindurchgegangen sind und zu einer befriedigenden Erkenntniß Gottes durch ihn | und in ihm gekommen waren? Was sagt uns der Jünger, von dem wir lesen, daß er an der Brust des Herrn gelegen habe, und daß dieser ihm eine besondere zärtliche Zuneigung geweiht hatte? Gott, sagt er, ist die Liebe1. Was sagt jener andere große Apostel des Herrn, welcher freilich nicht durch den unmittelbaren persönlichen Umgang mit ihm erzogen worden war, aber welchem er sich auf eine andere Weise doch ganz ebenso geoffenbaret 1

1 Joh. 4, 16.

8–10 Vgl. Joh 14,26 11–12 Vgl. Joh 14,20 Joh 14,8 31–33 Vgl. Joh 13,23.25; 21,20

15 Vgl. Joh 14,11

20–21 Vgl.

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hatte, und der ausdrükklich versichert, was er empfangen habe, das habe er nicht von Menschen, nicht mittelbarer Weise durch andere Jünger des Herrn, sondern von ihm selbst, was sagt der von unserem himmlischen Vater? Er sagt, Der Gott, welchen ich euch verkündige, wohnt nicht in Tempeln von Menschenhänden gemacht, bedarf auch nicht, daß Menschenhände und menschliche Sorge irgendwie seiner warte und pflege, oder ihm irgend etwas gebe und darreiche, denn er ist es der allein Allen Alles gibt1. Sagt nun jener, daß Gott die Liebe ist, so sagt dieser, daß Gott, unser Vater im Himmel, die allgenugsame Seligkeit ist, keines Anderen bedürfend, Alles in sich selbst habend, und Alles, was irgend Einer wahrhaft hat, ihm gebend und verleihend. Wenn nun der Erlöser sagt: wenn du mich siehst, so siehst du den Vater, so meint er also, daß seine Jünger durch ihr Leben mit ihm dahin gekommen sein sollten, in ihm den Abglanz der göttlichen Liebe in menschlicher Gestalt, und eben dieselbe nicht nur ihm selbst, sondern dem ganzen Geschlechte der Menschen genügende und sich demselben mittheilende Seligkeit zu schauen. | Wenn wir den Erlöser allein auf jene allgemeine Weise betrachten in seiner höheren Würde und als den Erfüller des göttlichen Rathschlusses: so denken wir auf der einen Seite zunächst daran, daß er das Fleisch gewordene Wort ist, daß ihm die Fülle des göttlichen Wesens einwohnte, welche er verborgen trug in menschlicher Gestalt; und eben diese verborgene Majestät des Sohnes Gottes, wenn wir mit ihr allein unser Gemüth erfüllen, stellt es uns als etwas fast zu kühnes dar, ihn menschlich auf menschliche Weise betrachten zu wollen, und so mit ihm umzugehen und zu leben. Wenn wir in den Erzählungen unserer heiligen Bücher lesen, daß sich Menschen mit einer gewissen zuversichtlichen Dreistigkeit zu ihm wenden und sich an ihn andrängen: so ist uns bange, daß sie die Ehrfurcht verlezen werden, welche ihm gebührt; und nichts scheint uns der Wahrheit des Verhältnisses angemessen als eben jene heilige Scheu, deren auch hie und da die heiligen Bücher erwähnen, daß nämlich niemand wagte, ihn zu fragen. Aber so entfremdet sich uns durch diese einseitige Betrachtung die natürliche Ansicht seines Lebens. Wenn wir ihn allein auf jene allgemeine Weise betrachten als den, in welchem sich der göttliche Rathschluß erfüllt hat, welcher eben deswegen durch Leiden des Todes mußte vollendet werden, um herrlich mit Preis und Ehre gekrönt der 1

Ap. Gesch. 17, 23–25.

1–3 Vgl. Gal 1,12 20–21 Vgl. Joh 1,14 21–22 Vgl. Kol 2,9 26–29 Vgl. etwa Mt 9,20–22.27–30; 15,22–28; 20,29–34; Mk 5,25–34; Lk 8,43–48 32 Vgl. z.B. Mk 9,32; Lk 9,45; auch Joh 21,12 37 Vgl. Hebr 2,9

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Grund der Seligkeit Aller zu werden: so denken wir uns eben diese Nothwendigkeit seines Leidens und seines Todes nur zu leicht und zu gewöhnlich so, daß sein Todesleiden eigentlich gleichgeltend sein solle allen Leiden, welche die Menschen als Strafe verdient hätten mit ihren Sünden. Darum scheint uns dann die kurze Zeit seines eigentlichen Leidens, | und zumal der eigentlich unerforschliche Augenblikk seines Todes dem nicht zu entsprechen; überall möchten wir ihn dann sehen als den, welcher von Gott geschlagen war und von den Menschen verachtet, überall als den, an welchem kein Wohlgefallen zu sehen war, und keine Schöne am liebsten weder äußerlich noch auch innerlich an ihm zu finden. Und so entfremden wir uns durch diese einseitige Betrachtung die Lieblichkeit, die ihn auch in seinem Leiden, und die Kraft, die ihn bis zu dem Augenblikk seines Todes nicht verließ. Das aber soll uns eben die Betrachtung seiner menschlichen Erscheinung auch in diesem Abschnitte unseres Jahres bewirkt haben, wie ja oft während desselben unsere Aufmerksamkeit auf seine Reden mit einzelnen Menschen, auf einzelne Momente seines Lebens hingelenkt worden ist, daß wir in ihm sehen die göttliche Liebe und die göttliche Seligkeit auch in der Erscheinung seines irdischen Lebens, beides in einander als Eins, wie es in dem Vater Eins ist. Die Seligkeit, die nach nichts Anderem strebt als sich mitzutheilen und aus ihrer Fülle zu geben jedem, der nehmen will, und zu sättigen jeden, der hungert und dürstet nach den ewigen Gütern; die Liebe, als die, welche, wo sie sich den Menschen zuwendet und ihnen hingiebt, zugleich den rechten Genuß der Fülle der Kraft und der Seligkeit hat. Und so, m. g. Fr., erscheint uns allerdings der Erlöser, wenn wir ihn betrachten in seinem menschlichen Leben. Finden wir je etwas anderes in ihm als Liebe und Freundlichkeit, sucht er nicht die Menschen und ladet sie ein zu sich, damit sie von ihm nehmen und empfangen sollen, was ihnen Noth ist, damit er sie befreien kann von Allem, was | sie drükkt, damit die Mühseligen und Beladenen bei ihm Ruhe finden können für ihre Seelen? Und wenn wir bisweilen finden, daß er sich auch in harten Reden zu den Menschen wendet: was war das anders als auch wieder Liebe zu einigen, welche von den anderen zurükkgesezt wurden und in Beziehung auf ihr geistiges Leben unterdrükkt? es war seine Liebe, welche diese befreien wollte von den Zudringlichkeiten einer leeren Anmaßung. 12 Leiden,] so auch SW II/3, S. 269; Textzeuge: Leiden 8–10 Vgl. Jes 53,3f 15–18 Vgl. die Predigten am 15. Januar, 29. Januar, 12. Februar und 26. Februar 1832 22–23 Vgl. Mt 5,6 31–32 Vgl. Mt 11,28f 32–37 Vgl. etwa Mt 23,1–33; Mk 12,38–40; Lk 11,39–52

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So sehen wir, je zusammenhangender wir den Erlöser in der Erscheinung seines Lebens betrachten, um so mehr nichts anderes in ihm als die Liebe, welche sich mittheilen will. Und wo er mißbilligt, wo er tadelt, wo er sich über die Gebrechen der Menschen ausläßt: was ist es anders, als daß er sie zurükkführen will auf das Bedürfniß einer anderen Anleitung, daß sie sich nicht möchten hingeben den blinden Leitern, sondern ihm, welcher allein das rechte erleuchtete Auge hatte, wodurch er selbst nicht nur hell war durch und durch, sondern auch Alle erleuchten konnte, welche zu ihm aufsahen. Und wenn wir ihn betrachten zugleich in allem dem, worin wir den leidenden Erlöser erkennen wollen: haben wir uns nur zuerst erfüllt mit diesem Bilde der inneren Kraft und Fülle: was sehen wir dann Anderes überall in der Art, wie er der Entwikkelung seiner Verhältnisse entgegenging, wie er sein Leiden trug, was sehen wir anders als die Freudigkeit des Sohnes, der in dem Willen seines himmlischen Vaters ruhete wie immer, weil er nie etwas Anderes zu thun begehrte als diesen heiligen Willen? was sehen wir Anderes als die Ruhe des guten Hirten, der in der weisen Leitung der ewigen Vorsicht für die ganze Welt, welche er mit seiner | Liebe umfaßte, Sicherheit und Schuz fand? Wie lernen wir dann immer mehr unterscheiden den Ausdrukk der Betrübniß und des Schmerzes, der in ihm nichts Anderes sein konnte als das Mitgefühl mit dem Zustande der sündigen Welt, dessen Verwerflichkeit sich am hellsten zu Tage gab in dem Widerstande, welchen Er von der Sünde erdulden mußte, – dieses Leiden des Mitgefühls wir unterscheiden es dann von dem unmittelbaren innersten Selbstbewußtsein dessen, der, wie er den Geist in die Hände seines Vaters befahl, auch wußte, daß er in dessen Armen ruhte, der in jedem Augenblikke sich bewußt war in dem Vollbringen des ihm aufgetragenen Werkes begriffen zu sein, bis er zulezt sagen konnte, es ist vollbracht. Wo gäbe es eine der Natur der Sache angemessene Betrachtung eines Augenblikkes in dem Leben des Herrn, die nicht zu diesem Bilde immer nur einen neuen Zug hinzufügen, nur das uns bestätigen könnte, was auf diese und jene Weise unsere frühere Betrachtung in unseren Herzen uns deutlich gemacht hat? Aber, m. a. Fr., auch den Erlöser kennen, und unseren Vater im Himmel in ihm und durch ihn erkennen, wenn es nichts würde, und immer nichts anderes bliebe als eben Erkenntniß: so würde es damit sein wie mit Allem, was, weil es nicht in das Leben übergeht, auch selbst kein Leben hat, sondern todt ist. Darum sagt der Erlöser, weil ihr mich denn nun noch nicht so kennet, wie ihr mich kennen solltet, 7–8 Vgl. als Hintergrund Mt 6,22; Lk 11,34 Lk 23,46 29 Joh 19,30

17 Vgl. Joh 10,11

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weil dieses Bild, diese Anschauung des Vaters in mir noch nicht fest geworden ist in euren Seelen, ich aber doch nun zu dem Vater gehe: so will ich euch senden den Geist, der euch erinnern soll an Alles, was ich euch | gesagt habe, der euch mein göttliches Leben nun herrlicher, deutlicher vergegenwärtigen soll, daß es auf eine wirksamere Weise vor euch stehe als es bisher geschehen ist; und dann, fügt er hinzu, dann werdet ihr erkennen, daß ich in euch bin und ihr in mir, wie ich in meinem Vater und der Vater in mir. II. Und das also ist das Zweite, wozu uns unsere gemeinsamen Betrachtungen in dieser Weise führen sollen, daß wir den Erlöser in der That auch immer mehr in uns haben und finden, so wie der Vater in ihm war. Wollen wir aber darüber, wie der Vater in ihm war, noch eine nähere Erklärung haben: so finden wir sie in den Worten welche er vorher sagt, Die Worte, welche ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst, und die Werke, welche ich thue, die thut der Vater. Das also, m. Fr., das ist die Art und Weise, wie wir ihn immer mehr in uns haben sollen, weil es die ist, wie er den Vater in sich hatte. Auch in dieser Beziehung aber ist nichts mehr zu beklagen, als daß jene beiden verschiedenen Arten den Erlöser zu betrachten, die allgemeine, welche nur auf seine Würde und seine Bestimmung als auf den Gegenstand unseres Glaubens sieht, und die, welche in das Einzelne seiner menschlichen Erscheinung hineinsieht, so oft von einander getrennt werden. Denn, fragen wir uns, Was haben denn diejenigen von der Erkenntniß Christi, welche, wenn sie gleich den Namen des Erlösers keinesweges wollen fallen lassen, daß er unwirksam werde und allmählig verschwinde, sondern sie wollen zur Kräftigung, zur Erleuchtung, zur | Erhebung der Gemüther fleißig auf das Einzelne seines Lebens hinweisen, ihn als ein schönes und herrliches Vorbild darstellen in allen menschlichen Vollkommenheiten, nach denen wir selbst zu trachten haben, aber seine höhere Würde, und eine anderweitige Erfüllung göttlicher Rathschlüsse durch ihn lassen sie lieber auf sich beruhen? Ach! wer nicht an ihm im Glauben die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes erkennt, dem gerathen auch die wohlgemeintesten Bestrebungen, das Einzelne in dem Leben des Erlösers auf das unsrige anzuwenden, doch immer dürftig und leer. Es gibt dann nicht leicht etwas Einzelnes, wozu wir ein leitendes Vorbild in seinem Leben aufsuchen möchten, daß uns nicht von irgendwoher ein anderes entgegenträte, welches uns heller und schöner zu leuchten 2 Vgl. Joh 16,5.7 3–4 Vgl. Joh 14,26 33–34 Vgl. Joh 1,14

7–8 Vgl. Joh 14,20

15–16 Joh 14,10

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scheint. Und wenn nun davon, wie Er sich in den einfachen Verhältnissen seines Lebens erwiesen, die Anwendung gemacht werden soll auf die verwikkelten Verhältnisse des unsrigen, und wir sezen nicht gläubig einen völlig reinen göttlichen Grund in seinem Inneren voraus: ja freilich dann erscheinen alle Vergleichungen schief und unzureichend. Und wenn man dem Bestreben, ihn so überall als Vorbild aber ohne jene Voraussezung aufzustellen, recht auf den Grund geht: so wird man bekennen müssen, es sei eine erfolglose Huldigung, nicht mehr geltenden Vorstellungen dargebracht, wenn man den Namen Jesu immer noch aufrecht halten will als einen Namen über alle anderen. Aber auf der anderen Seite, diejenigen die nur bei jener allgemeinen Betrachtung seiner Würde und der Art und Weise, wie der göttliche Rathschluß durch ihn erfüllt sei, stehen bleiben, ohne daß sie sich sein menschliches Leben aneignen wollten: was für | unselige Streitigkeiten erregen sie uns! welchen verzehrenden Unfrieden stiftet ihr wohlgemeinter aber doch gewiß nicht verständiger Eifer, wenn sie die allein richtigen und genügenden Ausdrükke zur Bezeichnung seiner höheren Würde und seines Verdienstes feststellen wollen! Und wie tritt dann Allen die daran theilnehmen in demselben Maaße das erleuchtende und erwärmende Bild seiner menschlichen Erscheinung in den Hintergrund zurükk! Und doch, wie leicht geschieht es, daß ganze christliche Geschlechter dieses vergessen, und um Worte von sei es nun geringerer oder größerer Bedeutung, immer doch um untergeordnete das Wort, in welchem das Leben ist, verlieren, und in ihrem Eifer nur eine Wirksamkeit der Leidenschaft offenbaren, welche sich nur durch ihren Gegenstand von anderen menschlichen Leidenschaften unterscheidet! Aber wenn wir den Erlöser erst in diesem Lichte des Glaubens betrachten, dann aber mit dieser Einsicht und mit dieser dankbaren Liebe, welche der durch ihn erfüllte göttliche Rathschluß in uns hervorbringen muß, in das Einzelne seines Lebens eingehen: dann können auch wir dieses Kleinod erlangen, daß wir in Beziehung auf ihn sagen können, was er in Beziehung auf seinen Vater von sich sagt, Die Worte, welche ich rede, die sind nicht von mir, und wenn er es auch nicht ausdrükklich hinzufügt, wem kann er sie anders zuschreiben als dem Vater, und die Werke, die sagt er gradezu, die thue der Vater. Wie weit, m. th. Fr., scheint aber die Christenheit von diesem Ziele entfernt? Die Worte, welche wir reden, sollen nach jener Rede nicht von uns sein. Wie er sagt, die welche er rede wären nicht von ihm und nicht die seinigen, | sondern seines Vaters: so sollen auch die unsrigen nicht von uns sein, sondern die seinigen. Er der Eine, dessen 10–11 Vgl. Phil 2,9

24 Vgl. Joh 1,4

33 Vgl. Joh 14,10

35–36 Vgl. Joh 14,10

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Worte ja natürlich alle unter sich zusammenstimmen; wir so Viele, so Verschiedene; und doch sollte es möglich sein, daß die Vielen dasselbe sagen sollten in Beziehung auf Einen, wie er der Eine immer nur dasselbe sagen konnte in Beziehung auf den Vater, der eben auch wie er Einer war und in ihm wohnte? Und doch ist das allein der rechte Geist und die rechte Zuversicht des christlichen Glaubens und der christlichen Liebe! Wohl sind wir Viele und jeder ein Anderer, und wir sollen und dürfen uns diese Verschiedenheit eben so wenig verbergen als wir es vermögen. Nicht nur anders spricht jeder die Worte aus, die er für die seinigen in sich erkennt, sondern es beruhen auch alle auf einer anderen und verschiedenen Auffassung des Einen, denn sonst könnten sie nicht so verschieden lauten. Sollte das anders sein? Er kann es nicht anders gewollt haben. Als er in die weite Ferne der Zeiten und auf die verschiedenen Völker seinen weissagenden Blikk richtete, als er redete von den Schaafen, die er habe nicht aus diesem Stalle, sondern anderwärts her, als er seine Jünger sandte und ihnen befahl, sie sollten hingehen unter andere Völker von verschiedenen Sprachen und Auffassungen: wie konnte da anderes als diese große Mannigfaltigkeit ihm vorschweben? Und doch richtet er an seine Jünger und nicht nur an sie, sondern an Alle, die durch ihr Wort an ihn glauben würden, eben dieselbe Vorschrift. Aber was ist es, wodurch die Wahrheit seiner Worte, wenn gleich jene Verschiedenheit ebenfalls nie vergehen wird, doch immer besteht? Niemals werden irgend eines einzelnen Menschen Worte | ganz die seinigen sein; aber eben deswegen muß es diese verschiedene Art geben, wie die Vielen unter sich verschiedenen seine Worte auffassen und aussprechen, damit das Fehlende und das Irrige des Einen seine Ergänzung finde in den Worten des Anderen. Gewiß aber sind die Worte, welche wir reden, nicht unsere sondern die seinigen, wenn wir von ihm schöpfen, und wenn es nicht nur der Wunsch und die Richtung unseres Herzens, sondern wenn es unser ernster Wille ist, daß wir nicht eigenes reden wollen, wo es sich um die Angelegenheiten des Heils handelt, sondern das seinige. Nur müssen wir nicht etwa verlangen, daß unsere Auffassung des Seinigen von Allen, denen wir uns gedrungen fühlen sie mitzutheilen, so solle angenommen werden, als ob er selbst geredet hätte. Dasselbe gilt aber auch von den Worten, welche wir mit Andern wechseln über alles, was uns in dem menschlichen Leben vorkommt, in noch so verschiedenen Verhältnissen, bei noch so verschiedenen Gestaltungen der Dinge. Auch diese sind doch in Wahrheit die seinigen, wenn nur immer die Art, wie wir das menschliche Leben auffassen, wenn 15–16 Vgl. Joh 10,16 Joh 17,20

16–17 Vgl. Mt 28,19; ferner Apg 1,8

20–21 Vgl.

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nur jeder Rath, den wir geben, jede Darstellung von dem was Noth thut, wie wir sie aus den Tiefen unseres Geistes entwikkeln, wenn das alles nur noch immer in uns hervorgeht aus dem Drang seiner Liebe, mit welcher er die Menschen umfaßte, und immer angesehen werden kann als eine Aeußerung von dieser; wenn nur alle unsere Aussprüche Zeugniß geben von unserer festen Zuversicht zu der Wahrheit, welche in ihm war, und welche er uns gebracht hat. Und in dem Bewußtsein unserer Unvollkommenheit in dieser Hinsicht, was | müßte uns denn willkommner sein als eben diese Verschiedenheit, unter denen die der Gesinnung nach gleich sind? Denn wie sicher stellt uns diese nicht nur darüber, daß unsere Brüder, was wir ihnen nicht geben können, anderwärts her empfangen, sondern auch darüber, daß wir überall noch Wahrheit erkennen werden und seine Wahrheit finden eben so bei Anderen wie bei uns, und das, was er aus Anderen redet, auch uns ein Wort der Wahrheit werden könne, um uns selbst zu erleuchten und in der Erkenntniß zu fördern. Aber eben so sollen auch die Werke, welche wir thun, nicht die unsrigen sein, sondern wie Christus sagen konnte – und er sagt es ohne allen Unterschied nicht etwa nur von dem Wunderbaren in seinem Leben sondern auch von dem Alltäglichen; es gilt nicht nur dem, was dem natürlichen Menschen unbegreiflich war, sondern auch dem, was diesem vollkommen klar ist, aber worin doch der erleuchtete Mensch seine göttliche Kraft erkennt, von allen sagt er – die Werke die thue der Vater in ihm: so sollen auch wir dahin kommen durch die Betrachtung seines Lebens, daß auch wir sagen können, die Werke die thut der Herr in mir, Er der in mir lebt; denn was ich noch lebe im Fleisch, das lebe nicht ich, sondern der Sohn Gottes in mir. Sollen wir aber dahin gelangen: so laßt uns nicht vergessen, daß wir es nur können durch die immer erneuerte liebevolle Betrachtung seines Lebens, durch das sich immer wiederholende gläubige und verlangende Aufsehen auf ihn. Wie es in den Tagen seines Fleisches war, wenn ein gläubiges Gemüth, wäre es auch nur ei|ner äußeren Hülfe bedürftig gewesen, sein Gewand anrührte, daß eine Kraft von ihm ausströmte: so geschieht es auch und so soll es immer geschehen, wenn wir eben dieses äußere Gewand, das Fleisch, in welchem das ewige Wort wohnte, berühren oder vielmehr nur es in seinen einzelnen Momenten, in den verschiedenen Verhältnissen seines Lebens mit unserem geistigen Auge betrachten, daß eine Kraft von ihm ausgeht; und eben diese soll sich immer mehr ausbilden zu einem ihm angehörigen Leben, ja zu seinem Leben in uns. Und wenn wir eine solche Zeit wie die izige vollendet haben: so mögen wir uns billig fragen, haben wir 23 Vgl. Joh 14,10

26–27 Vgl. Gal 2,20

32–34 Vgl. Mk 5,25–30; Lk 8,43–46

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von dieser Kraft aufgenommen? sind unsere eigenen Worte uns immer mehr verschwunden, so daß wir nichts anderes mehr reden möchten als seine Worte? haben wir uns immer mehr losgemacht von allen Werken, welche wir nicht ihm zuschreiben können? Mögen wir aber das auch nicht im Einzelnen nachzuweisen vermögen: wenn wir uns nur bewußt sind, daß wir mit diesem Willen in sein Leben hineingeschaut haben, und dabei uns selbst nicht geschont und der Flekken die wir an uns erblikkt haben! Denn Er ist eigentlich der Spiegel, in den wir schauen sollen, nicht das geschriebene Wort, sondern Er dieses Fleisch gewordene Wort; aber dann auch, wenn wir in diesen schauen, vergessen wir nicht, wie wir gestaltet waren, und vergessen nicht, wie er gestaltet war! Und wenn er uns in seinem Lichte immerdar uns selbst zeigt und offenbart, dann werden wir gewiß auch nicht vergeßliche und flüchtige Hörer gewesen sein, sondern immer mehr werden seine Worte | in uns zu Thaten, und als Thäter des Wortes werden wir wirken, indem sich seine Liebe und seine Seligkeit in unserem Leben spiegelt zu seiner Verherrlichung und zu seinem Preise. Amen. Lied 8.

9–10 Vgl. Joh 1,14 15 Vgl. Jak 1,22 19 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 8: „Für unsre Brüder beten wir“ (Melodie von „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“)

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Am 28. Mai 1832 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Montag, Uhrzeit unbekannt Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde vor dem Halleschen Tor Keiner Drucktext Schleiermachers; Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 273–275 SW II/4, 1835, S. 831–833; 21844, S. 874–877. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 681–683 Keine Rede beim Begräbnis von Ludwig August Heegewaldt

Rede am Grabe.

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Wird noch eine Zeit kommen auf Erden, so sind wir oft versucht zu fragen, wo eine vollkommene Lebensordnung, eine weiter fortgeschrittene, vorherrschende Kunst die Gewalt des Todes über die Blüthenjahre des Lebens, über diese schöne Zeit, wo der Geist eben die Höhe der irdischen Entwicklung erstreben will, mildert oder aufhebt? – Daß wir nicht Alle das Ziel des Lebens – währet es lange, so währet es siebenzig oder achtzig Jahre, – erreichen, wer wollte sich darüber nicht leicht trösten? Hat der Mensch nur die Köstlichkeit des Lebens, daß es Mühe und Arbeit ist, redlich durchgekostet, hat er nur sich bewähren können als treu über dem Wenigen, so kommt es nicht an auf etwas mehr oder minder, der Herr wird ihn ebenso über mehr setzen. Und auf der andern Seite, daß so Viele in den allerersten Anfängen des Lebens wieder hinweggerafft werden aus unserer Mitte, – es ist zwar schmerzlich, aber der Todesengel der Kleinen, welche den Leiden, den Verwicklungen des Lebens, wie dem ganzen Wesen desselben, noch verschlossen gewesen sind, gestaltet sich doch eher in ein milderes Bild. Aber wenn nun edle Kräfte schon hervorgetreten sind und in die Wirksamkeit gehen wollen, durch viele Liebe und Treue, durch sorgsame Pflege so weit gediehen; wenn die Richtung des Gemüths auf das Gute und Edle sich entschieden hat; ja noch mehr, wenn wir sehen, daß der wahre Geist der Frömmigkeit über das 7–8 Vgl. Ps 90,10

9–10 Vgl. Ps 90,10

10–13 Vgl. Mt 25,21.23

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Begräbnis Heegewaldt

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ganze Wesen des Menschen waltet und es zusammenhält; daß er hier auf Erden schon beginnt seinen Wandel im Himmel zu haben, und so seine irdischen Geschäfte nun antreten will, welche es auch gewesen sein mögen, und plötzlich nagt der Wurm des Todes an der Wurzel, und wenn wir uns so der anmuthigen Blüthe gefreut | haben, und nun sehen, daß die Frucht ansetzt; dann zieht er plötzlich die wankende Pflanze zur Erde hinab in den Staub: ach! dann geht ja nicht nur ein Schwerdt durch das Herz des Vaters und der Mutter, der Geschwister und der näheren Freunde, – o! dann trauern ja alle Guten darum, daß ein so Köstliches, theuer erworbenes Gemeingut verloren geht; daß ein so edles Gemüth abtritt, ohne der Gesellschaft die Schuld seiner Bildung abgetragen zu haben durch eine sie fordernde Wirksamkeit; dann trauern alle Freunde und Jünger des Herrn, und fragen, warum er das gethan hat! Der Theure, dessen entseelte Ueberreste wir hier zur Stätte der Ruhe begleiten, steht mir zu nah, als daß ich es aussprechen könnte, wie sehr dieses Alles von ihm gilt. Wenn das liebende Auge vor Schmerz übergeht, so kann es nicht wachen über die Richtigkeit des Bildes. Nur Eines muß ich noch aussprechen: Dieser helle, freie Geist, aber tief durchdrungen von der Wahrheit des Evangeliums, sollte das Wort von dem Reiche Gottes verkündigen; dieses liebevolle Gemüth, welches schon jetzt überall vermittelnd, belehrend, zurechtweisend, tröstend einwirkte, wo sich ihm nur eine Thüre aufthat, sollte als Seelsorger seine Brüder führen und festhalten auf dem Wege des Friedens und des Heils; dieser kräftige, schon in der Jugend mannichfach geprüfte und bewährt gefundene Wille hatte sich ganz hingegeben dem Dienste des Gemeinwesens der christlichen Kirche. Dieser große Beruf, meine theuren Brüder, in welchem eben deßwegen, weil er so hoch steht, so Wenige weder sich selbst noch Anderen genügen kön7–8 Vgl. Lk 2,35 15–16 Ludwig August Heegewaldt, geboren am 20. September 1797 in Berlin als Sohn des späteren Geheimen Hofrats Johann David Heegewaldt (1773–1850), war am 25. Mai 1832 an Lungenschwindsucht gestorben. 16 Heegewaldt hatte während seines Theologiestudiums in Berlin bei Schleiermacher Vorlesungen über den Römerbrief (SS 1823), Dogmatik (WS 1823/24), das Matthäusevangelium, Praktische Theologie (SS 1824) und Christliche Sittenlehre (WS 1824/25) gehört. Als Kandidat des Predigtamtes hatte er am 31. Juli 1831 für Schleiermacher die Frühpredigt in der Dreifaltigkeitskirche gehalten. Er verkehrte im Hause Schleiermacher und war verlobt mit Luise Fischer, der Tochter der mit Schleiermachers Ehefrau befreundeten Karoline Fischer, die als eine Art Pflegetochter im Hause Schleiermacher lebte. Vgl. Ehrenfried von Willich: Aus Schleiermachers Hause, Berlin 1909, S. 116– 121, und oben Einleitung I. 5. c 19–21 Heegewaldt hatte in Bonn und Berlin Theologie studiert; seit 1830 war er Kandidat des Predigtamtes in Berlin, zum Zeitpunkt seines Todes designierter Prediger an der Berliner Jerusalems- und Neuen Kirche; vgl. oben Einleitung I. 5. c.

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Am 28. Mai 1832 nachmittags

nen, – warum lichtet der Herr die dünnen Reihen desselben auf solche Weise? warum müssen wir, die wir die reifere Jugend vorbereiten zu diesem Amte des Heils, fast von jeder Altersgenossenschaft Einen oder den Andern der Ausgezeichneten hingeben, ehe sie in die gesegnete Wirksamkeit eintreten können, welche sie nach uns füllen sollten? Aber wenn die Klage sich ausgesprochen hat, muß auch der Schmerz sich lösen, und muß Raum geben der Stimmung, welche der Apostel von allen Christen fordert: daß sie in allen Dingen Dank und Fürbitte vor Gott bringen. Dank können wir darbringen mit freudigem Herzen für diesen unseren Bruder. Wo ein solcher | Wille ist, wie der seinige, da sieht der Herr, der nicht die Länge und das äußere Maß schauet, sondern das innere, da sieht er schon das Vollbringen. So lag auch sein Beruf vor ihm, und er freute sich desselben, und er murrete nicht, daß er jetzt hinweggenommen werden sollte. So lag sein ganzer nächster Lebenskreis vor ihm, den er sich schon gebildet hatte. Viele Liebe hatte er empfangen, und er hat sie auch wieder gegeben; und in dem Genusse derselben, in dem Besitze dieser köstlichen Güter, ist er dankend, mit Segenswünschen für Alle, die ihm am Nächsten standen, dahingeschieden. – Warum sollten wir nicht danken und loben Den, der gegeben hat, wenn gleich er wieder dahin genommen hat! Fürbitte wollen wir thun für die, welche der Herr betrübt hat, für unsern eigenen mitfühlenden Schmerz, daß er sie wieder tröste und ausrichte. Ein schönes Gut für das ganze Leben ist sein Andenken. Wir werden ihn in Liebe festhalten, und so wird er auch noch fortwährend in denen und auf die wirken, die ihn in seinem Lebensgehalte gekannt, die ihm in Liebe verbunden gewesen sind; und Allen, die es wissen, welchen Weges er auch in seinem Berufe gewandelt sein würde, wird noch sein Andenken mahnend, treibend, belehrend sein. – Ja, so wollen wir denn Gott danken, und ihn bitten, daß er sich derer tröstend annehme, die das köstlichste Gut ihres Lebens in seine Hände zurückgeben müssen; daß der Friede des Dahingeschiedenen auch über ihr Herz komme, und sie wissen, daß sie ihn nicht verloren haben, festhaltend an dem Worte des Herrn: daß Alle, welche der Vater ihm gegeben hat, da sein sollen, wo er ist. – Amen. Dr. Schleiermacher.

9–10 Vgl. 1Tim 2,1

21–22 Vgl. Hiob 1,21

35–36 Vgl. Joh 17,24

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Am 3. Juni 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Exaudi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 1,21–22 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 93–113, Nr. VI SW II/3, 1835, S. 276–288; 21843, S. 287–300. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 345–356 Keine Erster Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 6. Sonntage nach Ostern 1832.

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Lied 46. 314.

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Text. Apostelgesch. I, 21. u. 22. „So muß nun einer unter diesen Männern, die bei uns gewesen sind die ganze Zeit über, welche der Herr Jesus unter uns ist aus und eingegangen, von der Taufe Johannis an bis auf den Tag, da er von uns genommen ist, ein Zeuge seiner Auferstehung mit uns werden.“ M. chr. Z. Ich habe nur wenige Worte aus dieser Erzählung herausgenommen, in der Voraussezung, daß sich aus ihnen jeder von uns die ganze Nachricht von der Wahl eines zwölften Apostels in die Stelle des Judas von selbst wird zu vergegenwärtigen wissen. Diese Begebenheit fällt in eben den Zwischenraum zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Ausgießung des Geistes an dem Tage der Pfingsten, den auch wir, im Andenken an jene ersten Zeiten des Christenthums, jezt durchleben. War | nun dies ohnstreitig eine große und wichtige Angelegenheit für die damaligen Christen; dürfen wir es wohl gestehen, daß in der gegenwärtigen Zeit eine lebendigere Theilnahme an 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 46: „Gott in der Höh sey Ehr und Ruhm“ (Melodie von „Allein Gott in der Höh sey Ehr“); Nr. 314: „Treuer Hirte deiner Heerde“ (Melodie von „Freu dich sehr, o meine Seele“) 10–12 Vgl. Apg 1,15–26

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Am 3. Juni 1832 vormittags

Allem, was zu unsern kirchlichen Einrichtungen und unserm gemeinsamen christlichen Leben gehört, erwacht ist als nach dem Maaße früherer Zeiten: so mögen wir wol, da es sich gerade in diesen Tagen so schikkt, unsere Aufmerksamkeit auf jene Begebenheit richten. Denn es kann nicht fehlen, daß wir nicht sollten das Ziel unserer Wünsche fester ins Auge fassen, den Weg, der dahin führt, richtiger beurtheilen, wenn wir erwägen, wie damals bei einer solchen Veranlassung das Beste der Kirche ist wahrgenommen worden. Und dies sei der Gegenstand unserer jezigen andächtigen Betrachtung.

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I. Das Erste nun, wovon ich geglaubt habe, es sei nöthig uns darüber vorgängig zu verständigen, ist die wichtige Frage: da doch damals der Geist Gottes noch nicht ausgegossen war über die Apostel, sondern sie noch in der Zeit standen, in welcher sie, wie der Erlöser ihnen gesagt hatte, nur warten sollten auf die Erfüllung dessen, was er ihnen verheißen hatte, ob wir sie tadeln dürfen, als ob sie ein so wichtiges Geschäft, wie dies war, unternommen hätten ohne den Geist Gottes? als hätten sie das Gebot ihres Herrn und Meisters vernachläßigt, indem sie eine so wichtige Handlung in eine Zeit legten, die er nur der stillen eingezogenen Ruhe, der Erwartung und Hofnung schon im voraus gewidmet hatte? Ungern möchten wir das, und doch finden wir allerdings in den Ausdrükken unserer | Erzählung selbst darauf fast hingewiesen! Erst in dem folgenden Kapitel, wo von dem Tage der Pfingsten die Rede ist, wird erzählt, daß sie Alle wären voll geworden des heiligen Geistes; so waren sie es also damals noch nicht! Und auch von Petrus, dem die Worte, welche wir gehört haben, angehören, wird erst in Folge jenes späteren großen Ereignisses gesagt, er habe geredet voll des heiligen Geistes zu den Obersten und zum Volke Israels. Aber auf der andern Seite, was sagt der Apostel Paulus? Niemand kann Jesum einen Herrn nennen, denn durch den heiligen Geist. Nun nannten Alle, die bei dieser Gelegenheit versammelt waren, schon seit langer Zeit Jesum ihren Herrn und Meister, und das Wort war in ihnen auch eine wahrhafte That und bestimmte ihr ganzes Leben: wie sollten sie also damals nicht auch schon theilhaftig gewesen sein des Geistes, ohne welchen, wie der Apostel sagt, niemand Jesum einen Herrn nennen kann? Erzählt uns nicht der Evangelist Johannes, wie 13 Frage:] so auch SW II/3, S. 276; Textzeuge: Frage; 15–17 Vgl. Apg 1,4f.8; ferner Lk 24,49 30–31 1Kor 12,3

25–26 Vgl. Apg 2,4

28–30 Vgl. Apg 4,8

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der Erlöser schon in den Tagen seiner Auferstehung zu seinen Jüngern gesagt, Nehmet hin den heiligen Geist! und sie zu gleicher Zeit begabt mit einem solchen Vorrecht, mit einer solchen Einsicht, wozu es ganz vorzüglich des göttlichen Geistes bedarf, nämlich auf die rechte, Gott wohlgefällige, mit dem, was im Himmel geschieht, übereinstimmende Weise den Menschen ihre Sünden zu behalten und zu vergeben? Wenn es uns jezt immer etwas ängstliches ist, und uns mit einem innern Schauer erfüllt, wenn wir einzelne Christen, wie es nicht selten geschieht, in Beziehung auf diesen oder jenen sagen hören, der sei nicht wiedergeboren aus dem Geist, der habe keinen Theil an dem Geist aus Gott, son|dern gehöre ganz und gar der Welt an, ohnerachtet doch überall unter uns der Name des Herrn genannt wird, und jeder sich dazu bekennt, so daß wir in Uebereinstimmung mit dem Worte des Apostels sagen müssen, wenn jenes Bekenntniß in dem Munde eines Menschen nur nicht ganz Lüge ist und Unwahrheit, wenn nur etwas davon, wie wenig es auch sei, aus dem Innern hervorgeht, so ist auch das ein Werk jenes Geistes, und er ist ihm nicht ganz fremd und nicht getrennt von ihm: wie sollten wir es wagen, wirklich zu sagen, daß die Apostel des Herrn, daß die Schaar derer, die seinen Namen bekannten, gewesen wären ohne den Geist Gottes? Aber so war es auch mit der Verheißung des Erlösers nicht gemeint, sonst stünde sie ja im Widerspruch mit jenem andern Worte des Herrn. Vielmehr war es so, Er sagt ihnen, sie würden Kraft empfangen, indem von dem Geist Gottes über sie kommen würde, nämlich zu dem, welches sie schon gehabt hatten, ein höheres Maaß, eine stärkere Regung jener göttlichen Kraft; und ehe sie diese empfangen hätten, sollten sie in der Stille bleiben unter sich und warten, bis der göttliche Geist komme, und dann erst, nachdem diese Verheißung wahr geworden, sollten sie öffentlich auftreten und zeugen von ihm durch das ganze Land, in welchem sie lebten. In Beziehung hierauf nun betrachteten und ordneten die Apostel des Herrn auch diese Sache; sie glaubten, indem sie der Erfüllung seiner Worte entgegen sahen, wenn sie hernach gleich anfangen sollten, seine Zeugen zu sein, so müßten sie auch so vollzählig beisammen sein, wie damals als Er ihnen jenes gesagt. In dem Bewußtsein also, daß sie dann gleich ihren ganzen Beruf in reichem Maaß wür|den zu erfüllen haben, that nun Petrus eben diesen Vorschlag, daß die auf eine so betrübende Weise leer gewordene Stelle wieder solle besezt werden durch einen Andern. So angesehen dürfen wir wol nicht anders sagen, als daß Petrus auch dieses schon damals geredet habe durch den Geist Gottes, so daß auch diese Handlung, 2 Joh 20,22 2–6 Vgl. Joh 20,23 22 Gemeint ist Joh 20,22. Apg 1,8 37 Vgl. Mt 27,3–5; Apg 1,16–18

23–24 Vgl.

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wie sie ist verrichtet worden, als ein Werk desselben Geistes muß angesehen werden, der auch hernach alles geordnet und gestaltet hat, und wir also auch an dieser ebenfalls die Art und Weise erkennen müssen, wie in den Angelegenheiten der christlichen Kirche immer soll verfahren werden. Denn wie auch die äußern Dinge in der Gemeinde des Herrn wechseln, der Geist bleibt immer derselbe, und aus ihm und seiner Fülle können wir alle Regeln unsers Verhaltens und unserer Wirksamkeit, sowohl für einen Jeden in dem kleinen Kreise seines Lebens, als auch, um so mehr dies das Größere ist, in den gemeinsamen Angelegenheiten und in der Leitung der christlichen Kirche, hernehmen. So lasset uns denn also zunächst das Verfahren selbst, das in dieser Versammlung beobachtet wurde, näher betrachten.

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II. Die Erzählung unsers Textes fängt damit an, Petrus sei aufgetreten unter den Jüngern in jenen Tagen; es war aber, heißt es, die Schaar der Namen zu Haufen bei einhundert und zwanzig. So viel also hatten sich in jener Zeit zu Jerusalem, wo die Apostel warten sollten auf die höhere und reichlichere Ausgießung des Geistes, von den Bekennern des Herrn zusammengefunden. Vorher aber war gesagt worden, nach der Himmelfahrt seien die, die damals versammelt gewesen, umgewandt und nach Jerusa|lem zurükkgegangen, und darauf werden angeführt die Namen der noch vorhandenen Apostel, und gesagt, diese Alle wären stets bei einander gewesen einmüthig mit Beten und Flehen, sammt Maria, der Mutter Jesu, seinen Brüdern und den zur Gesellschaft gehörigen Weibern1. Stellt sich uns nun hierin nicht eine doppelte Versammlung der Christen dar, diese, die immer einmüthig bei einander waren, und so wie sie früher schon die beständige Gesellschaft des Erlösers gebildet hatten und gleichsam einen und denselben häuslichen Kreis, so auch damals fortfuhren, auf eine so beständige und vertraute Weise mit einander zu leben; nächst dieser aber jene andere zwar immer noch kleine aber doch bei weitem größere Schaar derer, die den Namen Jesu als des Christ bekannten, die sich damals schon belief auf einhundert und zwanzig? Jene kleinere Versammlung aber bestand aus denen, welche sich des beständigen Umganges, der ununterbrochenen Belehrung des Herrn erfreut und die immer in der Anschauung seines Lebens gewandelt hatten, seitdem sie sich zu ihm gewendet. Welche Vorzüge mußten diese sich nicht zuschreiben vor 1

Ap. Gesch. 1, 12–14.

15–17 Vgl. Apg 1,15

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den Andern! Aber dies Geschäft, daß zu den eilf Aposteln noch ein zwölfter sollte hinzugefügt werden, vollendete sich nicht in dieser kleineren Versammlung, sondern die größere wurde dazu gezogen; und zwar nicht etwa so, daß ihr nur wäre mitgetheilt worden, was die Apostel beschlossen hatten, sondern Petrus als der Sprecher der Apostel beschränkte sich lediglich darauf, auseinanderzusezen wie und weshalb es sich gebühre, eine Wahl zu treffen, damit die leere Stelle dessen, der an sei|nen Ort gegangen war, auf diese Weise wieder besezt würde, und darauf, daß er angiebt, nach welcher Regel das wohl geschehen müsse. Nämlich sagte er, von denen, die mit ihnen gewesen wären vom Anfang des öffentlichen Lebens Christi, das heißt von seiner Taufe an bis zu dem Tage, an welchem Er von ihnen genommen wäre, müsse nun Einer geordnet werden, um diese leere Stelle als der Zwölfte zu den eilf Aposteln zu füllen. Wenn aber nun hierauf gesagt wird, Und sie stelleten zwei, Joseph genannt Barsabas mit dem Zunamen Just, und Matthiam: so dürfen wir das nicht so ansehen, als ob außer den Aposteln nur noch diese vorhanden gewesen wären, welche Christo so treu gefolgt waren. Sondern vielmehr, weil ja Petrus sagt, von den Männern, die so lange mit uns gewesen sind: so müssen wir voraussezen, es habe deren Mehrere gegeben; aber die versammelte Schaar stellte aus den Mehreren diese beiden als diejenigen dar, zu denen sie das meiste Vertrauen, von denen sie die beste Meinung hatten, und auf welchen sich ihre Wünsche vereinigten, daß Einer von diesen es werden möge. Und als sie nun diese beiden gestellt hatten, nahmen auch die Apostel es sich nicht heraus, Einen von denselben selbst zu wählen; sondern sie vereinigten sich mit der größeren Schaar der Gläubigen im Gebet, daß Gott der Herzenskündiger möge seinen Willen kund geben, und dann looseten sie zwischen beiden, und das Loos fiel auf den Matthias, welcher so zugeordnet wurde zur Genossenschaft der Apostel. Dies, m. a. Fr., kann uns in mancher Beziehung wunderbar erscheinen und nicht als ein nachahmungswerthes Beispiel; aber lasset uns nur ehe wir urtheilen die | Sache in ihren einzelnen Theilen und in ihrem ganzen Zusammenhang erwägen. Zuerst, wenn einmal Einer gewählt werden sollte zu den Eilfen, konnte es dann wohl eine andere Regel dafür geben, als die, welche Petrus aufstellte? Es war ja dieselbe Art und Weise, wie der Herr selbst sich hierüber zu bestimmen pflegte, und die er also selbst eingerichtet hat; denn nur solche gehörten zu der Zahl der Apostel, die sich so ganz und gar zu einem gemeinsamen 15 Barsabas] Barnabas 15–16 Apg 1,23

27 Vgl. Apg 15,8

28–30 Vgl. Apg 1,26

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Leben mit ihm vereinigten. Nur daß wir eben aus dieser Rede des Petrus sehen, daß das doch keinesweges ein ausschließliches Vorrecht dieser Zwölfe gewesen war, daß es Mehrere solcher gab, die den Erlöser auf seinem öffentlichen Wege so genau und beständig als möglich begleiteten, wenn sie gleich nicht auf dieselbe Weise zu seiner beständigen häuslichen Gesellschaft gehörten; und deshalb konnten die Apostel auch damals nur auf jenes sehen, das leztere aber durften sie weniger beachten. Gab es nun Mehrere solche, von denen wir nicht sagen können, der Herr selbst habe sie besonders dazu berufen und erwählt: so können wir auch nicht anders glauben, als Er habe eine solche Begleitung Jedem gestattet, den sein Herz dazu trieb, und der so weit Herr über seine Verhältnisse war, daß er auf ähnliche Weise, wie die Apostel selbst, ihm folgen konnte, an wie verschiedenen Orten er auch sein öffentliches Leben führte. Wenn nun der Apostel sagt, Einer von diesen muß mit uns ein Zeuge seiner Auferstehung werden: so sehen wir wohl aus dem ganzen Zusammenhang seiner Rede, daß wir das nicht auf eine so genaue und ängstliche Weise zu nehmen haben, als ob es dabei allein auf ein Zeugniß für die Auferstehung des Herrn angekommen wäre. | Denn sonst hätte Petrus ein richtigeres Maaß aufstellen können, wie er in einer andern Rede sagt, Jesus habe sich nach seiner Auferstehung nicht allem Volk gezeigt, sondern nur uns, die mit ihm gegessen und getrunken; dann also hätte es nur eines solchen bedurft, der den Herrn als den Erstandenen gesehen und gekannt hätte, denn jeder solche wäre ein gültiger Zeuge seiner Auferstehung gewesen, und deren, wie wir von anderwärts her wissen, gab es ja sehr Viele. Denn der Apostel Paulus erzählt uns in seinem ersten Briefe an die Korinther, daß der Herr erschienen sei nach seiner Auferstehung fünfhundert Brüdern auf einmal; aber von diesen war gar nicht die Rede, und aus diesen sollte nicht gewählt werden, sondern nur aus denen, die Jesum begleitet hatten von dem Tage seiner Taufe an bis zum Tage seiner Aufnahme in den Himmel. Zeuge seiner Auferstehung konnte also auch nur der sein, der, wie es anderwärts heißt, zeugen konnte, wie und auf welche Weise Gott sein Kind Jesus erweckt habe und aufgerichtet zu einem Zeichen, welchem die Menschen folgen sollen, und wie Er sich als solches bewährt hat in seinem ganzen öffentlichen Leben. Solche beständige Begleitung ließ aber zweierlei voraussezen, und das war es eigentlich, was Petrus im Namen aller Uebrigen dabei im Sinne hatte. Wer den Erlöser beständig so begleitet hatte, der konnte auch die beste Einsicht haben in den Zusammenhang seines ganzen Lebens, seiner Absichten mit den Menschen, seiner Lehren und seiner Gebote; dem mußte Einiges, was an und für sich wäre unverständlich gewesen, erläutert worden sein 20–22 Vgl. Apg 10,40f

27–28 Vgl. 1Kor 15,6

32–35 Vgl. Apg 3,13

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durch das Andere; in dem mußte sich Alles vereinigen zu dem hellen und klaren Bilde von der Herrlichkeit des ein|gebornen Sohnes, wie sie sich an dem Erlöser während seines Lebens gezeigt hatte. Aber nicht nur die Klarheit des Bewußtseyns, nicht nur die Vollständigkeit der Einsicht, sondern vornehmlich auch die Beständigkeit und die Treue des Glaubens mußte sich dadurch bewähren, daß einer sein Begleiter gewesen war, von dem Anfang seines ganzen öffentlichen Lebens an. Wenn einer nicht hinter sich gegangen war, wie viele Andere, als sie merkten, Christus suche nicht das, was sie wollten, weil sie sich vorgestellt, es sei etwas Anderes, wozu Er verheißen worden als ein geistiges Reich Gottes; wenn einer nicht abgeschrekkt war dadurch, daß keiner der Obersten an ihn glaubte, nicht abgeschrekkt durch sein Leiden und seinen Tod: von einem solchen war allerdings auch zu erwarten, durch seine Seele werde auch das Wort gegangen sein, daß es dem Jünger nicht besser ergehen könne als dem Meister, und daß die, welche die Zeugen seiner Auferstehung sein wollten, eben so würden gehaßt werden von dem Volke wie Er. Das, m. g. Fr., das war das Wesentliche in dem Maaßstab, welchen Petrus hier aufstellt, und derselbe Maaßstab müsse auch immer angelegt werden in allen Angelegenheiten der christlichen Kirche. Wie groß und weit umfassend oder wie dem Anschein nach und in äußerer Beziehung geringfügig ein Auftrag sei, der einem Einzelnen gegeben wird als einem Mitglied der christlichen Kirche und für sie: immer und ewig wird es wesentlich auf diese zwei Dinge ankommen, auf die Klarheit des Bewußtseins von dem göttlichen Rathschluß in Christo, der Würde, die Gott ihm mitgetheilt, der Herrlichkeit, die Gott ihm gegeben, und auf eine Treue in seiner Nachfolge, die durch nichts kann abgeschrekkt | und abwendig gemacht werden. Wenn auch freilich die Zeiten der Verfolgung lange vorbei sind, und es schon seit langer Zeit mehr eine Einbildung ist, als daß etwas wahres darin läge, wenn einzelne Christen oft meinen, auch unter uns hätten die Zeugen Christi noch Manches zu leiden um ihrer Treue und ihres Glaubens willen, – denn wie könnte man das wohl als Leiden achten, was einem in unserer gegenwärtigen Ordnung der Dinge von denen begegnen kann, die nicht gleiches Sinnes sind? – wenn gleich wir also in dieser Beziehung weit entfernt sind von dem Gepräge jener ersten Zeiten: ach, so ist doch nichts desto weniger eine solche Treue, eine solche Anhänglichkeit dasjenige allein, vermöge dessen einer neben seiner Einsicht, neben seiner Klarheit in den Dingen dieser Welt zu einem Verkündiger des Herrn, zu einem Diener der Gemeinde mit Recht und Fug kann bestellt werden. Denn wem dieser Sinn fehlt, ja der kann freilich leicht 2 Vgl. Joh 1,14 8 Vgl. Joh 6,66 Verbindung mit Mt 10,24 und Lk 6,40

12 Vgl. Joh 7,48 15 Vgl. Joh 15,20 in 16–17 Vgl. Mt 10,22; Joh 15,18

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auf diese oder jene Seite abweichen von dem rechten Wege, der kann gar leicht, wenn auch nicht um Leiden zu entgehen, so doch um von den Annehmlichkeiten und von dem äußern Schein der Welt dies oder jenes mehr für die Gemeinde des Herrn und ihre Angehörigen zu gewinnen, gar leicht den rechten Weg der Einfalt verlassen; wo aber dies Beides ist, die Einsicht und die Treue, da ist auch alles, was erfordert wird um ein Diener der christlichen Gemeinde, ein Verwalter ihrer Angelegenheiten, ein Verkündiger des Wortes zu sein, kurz zu jedem Geschäft, was wir irgend zum Dienst der christlichen Kirche rechnen mögen. Zweitens aber, wenn nun diese Eigenschaften sich damals in mehreren Christen als nur in diesen Beiden vereinig|ten, die von der Gemeinde gestellt wurden, warum stellten sie denn nur diese zwei? darin, m. th. Fr., liegt ein offenbares Geheimniß, was aber doch ein Geheimniß ist. Wir sind uns sehr ungleicher Empfindungen über Menschen bewußt, denen wir, wenn allein von jenen beiden Hauptstücken die Rede ist, denselben Preis zuerkennen müssen. Worauf das beruht, dies, wie gesagt, ist ein Geheimniß, in welches wir eigentlich nicht eindringen können; nur soviel wissen wir, je vereinzelter diese besondere Empfindungsweise ist in einem oder dem andern Einzelnen gegen das Urtheil und die Stimme der Uebrigen, desto mehr hat Jeder Ursach vorauszusezen, nicht das gemeinsame sondern sein Urtheil und sein Gefühl sei verunreinigt und verfälscht, und ihm liegt ob zu erforschen, wie ihm doch dieses geschehen sei. Eben so aber auf der andern Seite, wenn das gemeinsame Gefühl einen bedeutenden Unterschied ausspricht zu Gunsten des Einen, zum Nachtheil des Andern, und zwar so daß alle zugeben müssen, auch der hintangestellte sei ein treues Gemüth, auch der zurükkgesezte habe Einsicht in das Evangelium, nur daß das Herz sich ihm nicht eben so zuwende; je mehr das eine allgemeine Stimmung ist: um desto nothwendiger ist es, Rükksicht darauf zu nehmen. Denn so sind die menschlichen Dinge in dieser Welt eingerichtet, daß nur in dem Maaße das Gute gewirkt werden kann bei gleicher Treue und gleicher Einsicht, als auch eine herzliche Neigung dem, der da wirken soll, entgegenkommt. Sind wir nun in manchen andern Verhältnissen oft und auf eine heilsame Weise an andere Regeln gebunden: so müssen wir doch wohl aus diesem Beispiel schließen, in der Gemeinde des Herrn als solcher, in den Angelegenheiten | unsers christlichen und kirchlichen Lebens soll keine andere Regel gelten als diese; da soll die gemeinschaftliche Stimme derer, welche es betrifft, einem Jedem bei übrigens gleich guten Eigenschaften seine Stelle anweisen; da soll das gemeinsame Gefühl aller walten, 35 heilsame] heisame

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weil es den Nuzen verbürgt, den Jeder in der Gemeinde des Herrn stiften wird. Endlich aber, wie wurde aus diesen zweien, welche so durch die öffentliche Stimme herausgehoben waren, da doch nur Einer jene Stelle einnehmen konnte, dieser Eine bestimmt? Schon das war eine Mäßigung jener Ansprüche des gemeinsamen Gefühls, daß die Schaar der Gläubigen sich nicht herausnahm, sogleich gegen den zweiten, welchem fast gleiche Ansprüche eingeräumt wurden, zu entscheiden sondern daß sie wenigstens zwei den Aposteln darstellten, um nicht willkührlich und ohne gehörigen Grund den Einen auch über diesen zu erheben. Aber auf eine wie sehr von allem, was jezt unter uns Gebrauch und Sitte ist, abweichende Weise wurde nun aus diesen Zweien Einer bestimmt! Daß es unter Christen keine solche Wahl geben könne, die nicht begleitet sei von Gebet um göttlichen Seegen, das wohl versteht sich von selbst: aber erwarten, daß sich der Wille des Herzenskündigers kund geben werde durch das Loos; kann das wol auch jezt noch irgendwo zuläßig sein in der christlichen Kirche? müßte uns nicht bange werden, daß ein solches Verfahren eben so leicht zum schlimmeren ausschlagen könnte? ja hieße das nicht Gott versuchen, da wir ja auf eine wunderbare, daß ich so sage zauberhafte, Einwirkung desselben rechnen müßten? Darum laßt uns näher zusehen, wie es denn damals war. | Zuerst war wol die Absicht bei diesem Verfahren die, zu verhindern, daß nun nicht aus Mangel an besseren Gründen noch irgend eine Nebenrücksicht mit ins Spiel komme, der man immer nicht mit ganz vollem Vertrauen und beruhigtem Gewissen nachgeben kann. Und hätte man dem, was wir Zufall nennen, nicht eben soviel als beim Loose eingeräumt, wenn man es unter zweien, welche die öffentliche Stimme so gleich gestellt hatte, und in denen alle wesentliche Eigenschaften vollkommen dieselben waren, darauf hätte ankommen lassen, für welchen von beiden eine wahrscheinlich nur geringe Ueberzahl ihre vielleicht nur schwach begründete Vorliebe erklärt hätte? Darum müssen wir es natürlich finden, daß unter diesen Umständen weder die Schaar der Gläubigen noch die Apostel sich dergleichen heraus nahmen, sondern nur ein solches Verfahren für angemessen hielten, worin sich keine menschliche Neigung offenbaren oder ein geheimes Spiel treiben konnte, die vielmehr nur das Bekenntniß enthielt, daß die Kirche gleich gut berathen sein werde durch den Einen wie durch den Andern. Dermalen aber, je zusammengesezter der Maaßstab ist, nach welchem die Tüchtigkeit der Menschen zu öffentlichen Angelegenheiten beurtheilt werden muß und kann, desto seltner ist es, daß man nur auch zweie 16 Vgl. Apg 15,8

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findet, die einander in solchem Grade gleich wären. Fände sich aber auch jezt noch irgendwo solche Gleichheit, und würde sie in der That von dem öffentlichen Urtheil anerkannt: dann sollte auch eben so wenig wie damals weder eine größere oder kleinere Versammlung noch auch ein Einzelner sich einer Entscheidung anmaßen. Wo auch nur die äußeren Verhältnisse so zusammengesezter Art sind, daß es an mancherlei Bestimmungs|gründen nicht fehlen kann um auch zwischen solchen Mitbewerbern zu entscheiden, die im wesentlichen einander gleich genug sind: da bedarf es einer solchen Verfahrungsweise nicht, wie die Christen damals wählten. Aber von einer solchen Gleichheit aus, wie sie hier vorausgesezt wurde, wo auch äußere Verhältnisse kaum in Rechnung kamen, gab es nichts was größere Sicherheit gewährte, daß sich nichts Unreines mit einmischen könne. Und so wollen wir es nicht tadeln, daß man dem, der alles anscheinend zufällige lenkt, eine freilich hochwichtige Sache auf diese Weise anheimstellte, da diejenigen zu keiner sicheren Entscheidung in sich kommen konnten, die dabei betheiligt waren; vielmehr werden wir nicht nur in jenen Zeiten sondern auch jezt noch unter denselben Umständen das ganz richtig und gut finden, was freilich auch in den meisten unserer gemeinsamen Angelegenheiten jezt nicht mehr anwendbar sein möchte. III. Aber nun lasset uns zulezt noch fragen: was hatte denn wol Petrus eigentlich für einen Grund den Eilfen einen Zwölften zuzuordnen? und wie lange sind denn die Christen eben der Regel, welcher sie damals folgten, treu geblieben? Der Herr hatte Zwölfe erwählt; aber auf welche Weise? unter welchen Umständen? darüber sind wir wenig unterrichtet! nur diese Zahl zieht sich unläugbar durch alle unsere Nachrichten hindurch; und so scheint es ganz natürlich, daß, nachdem der Eine hingegangen war an seinen Ort, nun ein anderer als Zwölfter bestimmt wurde zu den Eilfen. Aber hätte nicht dasselbe auch hernach jedesmal | geschehen müssen, wenn der Herr Einen von ihnen abrief von dem irdischen Schauplaz seiner Thätigkeit? Und wir finden nicht, daß es geschehen sei! auch reicht es um diesen Unterschied zu erklären nicht hin zu sagen, daß dies doch nur so lange geschehen konnte, als es noch solche gab, wie Petrus hier fordert, welche nämlich Begleiter des Herrn gewesen wären vom Anfang seines öffentlichen Lebens bis an das Ende desselben. Denn nicht viele 5 einer ... anmaßen] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 303 29–30 Anspielung vermutlich auf PredSal 3,20

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Jahre nach dieser Zeit geschah es, daß Jacobus, der Bruder des Johannes, hingerichtet wurde von Herodes. Damals gab es gewiß noch mehrere, die den Herrn begleitet hatten durch sein Lehramt; aber Niemanden fiel es ein, ihnen auch damals wieder einen Zwölften zuzuwählen. Was war also dazwischen getreten? Der Herr hatte selbst etwas gethan, um diese Zahl zu zerstören. Zwölfe waren nun wieder, nachdem Matthias hinzugekommen, und wenige Jahre darauf berief der Herr einen Apostel aus den Verfolgern der Christen, wandelte den Saulus in den Paulus um, in den, von welchem nachher gesagt werden konnte, daß er mehr gethan habe als alle die Andern. Da hob Er selbst die Zwölfzahl wieder auf, und seitdem ließ sich kein Grund mehr denken, weshalb diese Zahl sollte wieder hergestellt werden. Worauf hat sie denn aber beruht? warum hatte der Herr grade Zwölfe gewählt? und war es etwas richtiges oder falsches, was den Petrus bei diesem Vorschlag leitete? Freilich sagte der Herr einst zu den Zwölfen, sie würden dereinst, wenn er sizen würde auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, auch sizen auf zwölf Stühlen und richten die Zwölf Stämme Israels. Aber keinesweges wol gehörten die Apostel jeder zu einem andern von den zwölf Stämmen | Israels so daß sie solchergestalt an diese Zahl wären gebunden gewesen. Das sehen wir deutlich auch aus unserer Erzählung; denn sonst hätten sie ja hierin ganz anders verfahren, und vor allen Dingen fragen müssen, aus welchem Stamme wol Judas gewesen sei, um aus demselben Stamme an seine Stelle einen Andern zu wählen. Das thaten sie aber nicht. Weshalb also hatte der Herr ihnen solches verheißen, und weshalb hielt Er sich an diese Zahl? Mir ist wahrscheinlich, daß er auch dies that um zu beweisen, sein Reich sei ein anderes Reich als das weltliche; es solle auch nicht unter denselben Bedingungen aufgerichtet werden, wie das alte Reich der Nachkommen Davids. Darum berief er zwölf, nach der Zahl der zwölf Stämme Israels der ungetreuen nicht minder als der getreuen, aber nicht nach der Verschiedenheit der Stämme, um anzudeuten, daß nun alle früheren Bestimmungen aufgehoben sein, daß es bei ihm nicht ankommen solle auf Abstammung oder auf Ordnung des Besizes, und daß sein Reich nicht treten solle in die Fußtapfen des alten israelitischen Reiches. Sobald also das erst recht deutlich war in dem Bewußtsein seiner Jünger, daß der Israel nach dem Geist ein anderer 3–4 Niemanden] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 809 nössisch korrekte Schreibweise für Fußstapfen

34 Fußtapfen] zeitge-

1–2 Vgl. Apg 12,1f 7–9 Vgl. Apg 9,1–19; 22,3–21; 26,1–23 10 Vgl. 1Kor 15,10; 2Kor 11,23 15–18 Vgl. Mt 19,28 26–27 Vgl. Joh 18,36 36–1 Vgl. 1Kor 10,18; das maskuline „der Israel“ entspricht den zeitgenössischen Bibelübersetzungen.

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war als der Israel nach dem Fleisch: so war es nicht mehr nöthig, auf solche Zahl zu halten. Aber so durchgedrungen in den Sinn des Herrn waren die Apostel damals noch nicht; und darum war es natürlich und geziemte sich für sie an dieser Zahl festzuhalten, die ja eine Einrichtung des Herrn war. Allein bald machte der Herr ihnen seine Meinung deutlich, als Er den Petrus aufforderte, in das Haus eines Heiden zu gehen, um diesen unmittelbar Theil zu geben an der Gemeinschaft mit dem Erlöser. Sobald | dieses feststand, und anerkannt war von der Gesammtheit der Gläubigen, brauchte hinfort auf keine Zahl mehr gehalten zu werden, die sich nur auf das Volk des alten Bundes bezog. Aber auch ein anderes ist zu bedenken. Durch die Dazwischenkunft des Paulus wurde ja auch jene Regel zerstört, die Petrus damals stellte, daß nur aus denen ein Apostel gewählt werden sollte, welche stets Begleiter des Herrn gewesen waren. Paulus war weit entfernt davon gewesen, dem Herrn gefolgt zu sein bis zu seiner Himmelfahrt; vielmehr war er vorher vielleicht ein Verächter, wenigstens ein Gleichgültiger, nachher gar ein Verfolger des Herrn gewesen. Und das darf uns nicht Wunder nehmen. Natürlich mußten derer immer weniger werden, welche das Kennzeichen der Apostel an sich trugen, welches Petrus hier angab; darum mußte ein anderes an die Stelle treten, ein anderes dem Namen und dem äußeren Ansehn nach, aber dasselbe dem Wesen nach. Was half es überall mit Christo gewesen zu sein, wenn jemand doch nicht das Leben Christi in sich aufgenommen hätte? Die nun dieses gethan hatten, wie viel oder wenig Zeit auch dazu gehört haben mochte, und dahin gekommen waren, daß sie mit Paulus sagen konnten, Nicht ich lebe hinfort mehr, was ich lebe, sondern was ich lebe, das lebet Christus in mir, die waren, die mußten nun, auch ohne daß sie auf eine so außerordentliche Weise dazu gesezt zu werden brauchten, jeder wie er konnte, Verkündiger des Erlösers und Zeugen seiner Auferstehung werden. Denn die Liebe Christi drängte sie selbst dazu; und wessen das Herz voll war, dessen mußte der Mund übergehen. Und wie | nun so die ganze Gemeine durch ihren Geist und ihre Erscheinung Zeuge war: so konnte auch jene äußere Regel nicht mehr gelten. Eine Ungleichheit von dieser Art, wie sie anfänglich so stark hervorgetreten war zwischen den älteren Christen, die sich jenes großen Vorrechts erfreuten, von dem persönlichen Leben des Erlösers Zeugen gewesen zu sein, und den jüngeren, die durch das Wort dieser Zeugen gläubig geworden waren, mußte aufhören, noch ehe jenes den Aposteln gleichzeitige Geschlecht ganz ausgestorben war, damit es immer mehr so würde, wie der Herr es selbst 6–8 Vgl. Apg 10; 11,1–18 32 Vgl. Mt 12,34; Lk 6,45

26–27 Vgl. Gal 2,20

30–31 Vgl. 2Kor 5,14

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geordnet hatte, Ein Herr und Meister, und alle Andern unter sich Brüder und seine Diener, alle auf gleiche Weise Gegenstände seiner Sorge und Liebe, sowol die der Vater ihm selbst gegeben hatte, als die durch deren Wort gläubig geworden waren. Und so, m. th. Fr., ist es immer in der Gemeinde des Herrn und muß auch immer mehr so werden. Eine Ungleichheit freilich erzeugt sich immer wieder. Wie Petrus hier, was der Geist Gottes ihm in seinem Innern klar gemacht hatte, der Versammlung vortrug, um es zum gemeinsamen Willen und zu einem Gesammtbeschluß zu machen: so geschieht es immer, daß der Geist Gottes in Einzelnen die ersten Gedanken zu dem, was Noth thut, erweckt. Kommen nun Zeiten der Gefahr für die Gemeinde des Herrn oder der Verdunkelung des göttlichen Lichtes: dann hat er sich noch immer einzelne Rüstzeuge erwekkt, denen Viele zustimmen und folgen, weil sie sein Werk in ihnen erkennen. Aber ist durch ihren Dienst das Werk, wozu der Herr sie gesandt hatte, begründet und zum Gedeihen gebracht: dann verschwindet auch, und zwar in jeder folgen|den Zeit schneller, der Unterschied zwischen wenigen so ausgezeichneten Dienern des Herrn und der großen Menge der Gläubigen. Dürfen wir nun hoffen, daß auch die Ungleichheit der Zeiten selbst von einem Geschlecht zum andern immer geringer wird, daß die Gemeine des Herrn immer weniger ängstliche Verdunkelungen zu besorgen haben, und das Licht von oben ihr immer gleichmäßiger scheinen wird: so müssen auch solche Unterschiede unter den Einzelnen immer weniger in dem Reiche Gottes vorkommen. Der Herr beruft und erhebt Einzelne nur wenn es Noth thut; sie achten es aber für ihren schönsten Lohn, wenn sie in die Gleichheit mit ihren Brüdern zurükktreten, auf daß nichts sei als Ein Hirt und Eine Heerde, und Alle gleich werden in derselben Kraft und in demselben göttlichen Leben. Darum gebühret es sich auch, wenn es doch, weil Gott nicht ein Gott der Unordnung ist[,] Aemter giebt und Verrichtungen in der christlichen Kirche, daß diese keinen andern Ursprung haben als aus der Gemeinde des Herrn selbst, damit diese immer stehe über denen die ihre Diener sind. Denn in ihr selbst lebt und hat seinen Siz der gemeinsame Geist, welcher Alles leitet; und nur in ihrem Auftrag mögen einzelne ihrer Glieder geordnet werden, der Eine zu diesem der Andere zu jenem Geschäft. Zwar hat Gott sie gesezt; denn der Herr ordnet die Gestalt der Kirche, und was geschieht, geschieht, so weit es Gedeihen und Segen hat, durch seinen 18 wenigen] Wenigen 1–2 Vgl. Mt 23,8 3–4 Vgl. Joh 17,6.20 Jak 1,17 28 Vgl. Joh 10,16

22–23 Vgl. Apg 9,3; vermutlich auch

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Willen: aber der Geist, durch den er alles wirkt, hat nicht mehr vorzüglich seinen Siz in diesem oder jenem Einzelnen, in Vielen oder Wenigen sondern er ist in der Gemeinde, er wirket durch sie. Und giebt sie Einem einen Auftrag, oder ein Amt nach den hier | und dort bestehenden Ordnungen: so thut sie es in Kraft dieses Geistes, und in der festen Zuversicht daß, wer ein Amt hat, wie es in unserer heutigen epistolischen Lection heißt, auch seiner warten wird, alles aus dem Vermögen, das Gott darreicht. Und so kommen wir immer darauf zurükk, Ein Gott und Vater, Ein Herr und Meister und Ein Geist, der da ist und waltet in der Gemeinde, und sie führen wird, wie ein Geschlecht auf das andere folgt, von einer Kraft zur andern, von einer Herrlichkeit zur andern. Amen. Lied 308, 5. 6.

6–7 Vgl. 1Petr 4,11 6–7 Als Epistellesung für den Sonntag Exaudi sah die Perikopenordnung 1Petr 4,8–11 vor. 10–12 Vgl. 2Kor 3,18 13 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 308: „Ihr Kinder des Höchsten, wie stehts um die Liebe“ (in eigener Melodie); die beiden letzten Strophen 5 und 6 lauten: „So halte der Geist uns von oben zusammen, durch Alle vertheil er die himmlischen Flammen! wenn Demuth die Herzen vereiniget hat, dann findet kein Unterschied weiter hier Statt. Hier kann nicht mehr Streitsucht und Hassen regieren; der Trieb ist gemeinsam in Allen zu spüren, uns näher zur Wahrheit in Liebe zu führen. // Drum lasset uns freudig uns lieben von Herzen, einander versüßen der Pilgerschaft Schmerzen, uns kräftig ermuntern auf schwieriger Bahn und muthiger klimmen zum Ziele hinan. Ja betet, daß Beistand der Vater uns sende, vereiniget brüderlich Herzen und Hände, so mehret die Liebe sich bei uns ohn Ende.“

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Pfingstsonntag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 16,7 Nachschrift; SAr 71, Bl. 1r–4r; Woltersdorff Keine Keine Keine

Aus der Predigt am 1ten Pfingstfesttag 1832. Joh. 16, 7.

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[1.] Daß diese Worte unsers Erlösers auf das allergenaueste den Gegenstand dieser festlichen Tage beschreiben, das ist uns Allen erinnerlich. Es ist der Geist der Wahrheit der ausgegossen ward über die Jünger am Tage der Pfingsten den er verheißt und hier mit dem Namen „der Tröster“ bezeichnet. Und wenn er solchen genauen Zusammenhang angiebt zwischen seinem Hingange und der Sendung dieses Geistes: so zeigt er uns darin den Zusammenhang der göttlichen Rathschlüße bis an das letzte Ende derselben; denn so ist es: in der Sendung des Geistes ist der göttliche Rathschluß der Erlösung der Menschen vollendet! Und wenn der Erlöser sagt: es ist euch gut, daß ich hingehe, eben weil wenn ich nicht gehe der Tröster der Geist der Wahrheit der euch in alle Wahrheit leitet, nicht zu euch kommen würde: so sagt er ja eben damit daß dessen Sendung die Größte der göttlichen Wohlthaten, ja die Vollendung der im göttlichen Rath beschlossnen Wohlthat sei. Aber freilich wie auf der einen Seite diese Erfüllung der göttlichen Verheißung gebunden war an den Hingang des Erlösers: so auf der andern war sie verbunden mit seinem Dagewesensein; denn wenn er sagt: „es ist gut daß ich hingehe“: so hat er dadurch das Wort nicht wollen aufheben welches er in demselben Verlauf seiner Rede den Jüngern gesagt: „Bleibet in mir; denn ohne mich könnet ihr nichts thun“. – Wenn wir nun dieses beides zusammennehmen, nämlich das Gebot des Erlösers an ihm zu blei4 Der Predigttext Joh 16,7 lautet: „Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.“ 6–7 Vgl. Apg 2, bes. 1–4 14 Vgl. Joh 16,13 21–22 Vgl. Joh 15,4f

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ben weil wir ohne ihn nichts können, und sein Wort: es ist euch gut daß ich hingehe, denn sonst kommt der Tröster nicht zu euch: so kann durch dies Wort doch keineswegs der lebendige Zusammenhang mit ihm aufgelöset werden, nicht sagt er daß das geschehen solle, aber wohl sagt er, daß, da wir Alles durch ihn thun, es aber gut sei daß er gehe damit der Geist komme, daß eben unser Bleiben in ihm erst vollendet werde durch die Ausgießung seines Geistes über uns. Es muß also doch etwas sein wozu seine Jünger nicht gelangen konnten wenn nicht er hinging und der Tröster kam, es muß etwas sein dessen sie noch bedurften um ihren Beruf ausführen zu können. Wenn wir uns nun fragen was das sein könne: so sind wir gewiesen an folgende Antwort, welche der Erlöser selbst denen die ihn umgaben weil sie an ihn glaubten, gab. „Von dem Meinen wird er es nehmen um euch mein Wort zu verklären und so euch in alle Wahrheit zu leiten.“ Nun war freilich das was der Geist den er sendete in den Gemüthern auffrischte von seinem Wort und dieses Wort selbst wie er es zu ihnen geredet, das war eins und dasselbe, neues und anderes konnte und sollte nicht gegeben werden auch nicht durch den Geist; aber so lange er wandelte auf Erden war es seine persönliche Nähe woran die Mittheilung gebunden: und so lange er bei ihnen war, mit ihnen wandelte, so fanden seine Jünger die Wahrheit seines Wortes „ohne mich könnt ihr nichts“ nicht anders als in seiner unmittelbaren Nähe. Darum war das immer die Rede ihres Bekenntnisses daß sie sagten, sie könnten nicht von ihm gehen weil er die Worte des Lebens habe die sie von ihm, aus seinem Munde hören müßten. | Wie er selbst aber sagte, die Worte die er rede seien Geist und Leben, das Fleisch sei kein nütze: so wollte er sie darauf führen, daß sie seine leibliche Gegenwart sollten entbehren lernen, damit der beseligende Zusammenhang ein ganz Geistiger werde, und eben deswegen die Seligkeit, die er zu bringen gekommen war, an keinen Ort gebunden sei. So lange er da war, so lange hatten sie das Bewußtsein derselben nur in seiner Nähe; denn sandte er sie auch aus um das Reich Gottes zu verkündigen, freuten sie sich auch wenn sie in seinem Namen etwas thun konnten, so trieb es sie doch immer gleich wieder gewaltsam in seine Nähe zurück, und ganz ihres Berufs innewerden das konnten sie eben nur in seiner unmittelbaren Nähe. – Wenn der Erlöser einst sagte, es komme die Zeit, daß man weder in Jerusalem Gott anbeten werde noch an irgend einen andern bestimmten Ort auf ausschließliche Weise; denn der Vater wolle solche die ihn anbeten im Geist und Wahrheit: so sagt er dieses ganz vollkommen erst darin worin er die Jünger von sich ab auf seinen Geist hinweist; denn eben hierin sagt er, es werde die Zeit kommen wo man sich der besondern Nähe Gottes bewußt sein werde nicht nur in seiner Person obgleich von sich 12–14 Vgl. Joh 16,13–15 20 Vgl. Joh 15,5 Joh 6,63 34–37 Vgl. Joh 4,21.23

22–23 Vgl. Joh 6,68

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selbst er doch sagte: „wer mich siehet der siehet den Vater“: und darin allein könne jeder zur Anschauung Gottes kommen, sondern im Geist und Wahrheit überall könne das Bewußtsein der Gegenwart Gottes in dem Menschen sein. – Das war das Wesentliche des alten Bundes daß der Glaube an den Zusammenhang der Menschen mit Gott, und an die Quelle der Wahrheit die darin für die Menschen lag und ausströmte an die Hütte des Stifts dieses Bundes geknüpft war, an die Hütte des Stifts deren Stelle nachher der Tempel in Jerusalem einnahm und vertrat. In dessen Nähe ward dem Volke des Bundes seine Berufung klar, in dessen Umfang empfanden sie die Ahnung der Gegenwart Gottes. Und diejenigen Glieder des Volks welche in den entfernten verschiedenen Abtheilungen des Landes wohnten fühlten diese Entfernung als große Entbehrung und die welche gehalten waren durch ihre Verhältnisse, die wußten sich nichts Beßres zu wünschen als wenigstens ihre letzten Tage in der Nähe des Heiligthums ruhig zubringen zu können; denn das meinten sie sei der Sitz der Nähe Gottes. Die Menschheit des Erlösers nun die war im eigentlichen Sinn ein Tempel des Höchsten, nirgend eine Gegenwart Gottes als in seinem Leben unmittelbar; in dem Sohn wollte sich Gott offenbaren, verklären, mittheilen, sein Leben war der Sitz der Gegenwart des Vaters, da sollten sie ihn finden, Er war die Hütte des Stifts des neuen Bundes Gottes mit den Menschen. Aber nur auf kurze Zeit war diese Hütte, ihrem äußern Wesen nach, erbaut; auch sie sollte wieder weggenommen werden; denn so sagt der Herr selbst daß es gut sei daß er hingehe damit der wiedergefundene Zusammenhang mit Gott ein ganz geistiger werde und die Anbetung eine so freie, daß sie an keinen Ort mehr und nicht mehr an die Schaale der Einwohnung Gottes gebunden sei. Die Erfüllung dieser Verheißung, daß man Gott anbete im Geist und Wahrheit, dieses freie geistige Gegenwärtigsein Gottes, das ist der Gegenstand unsers Festes, darauf sind wir hingewendet zu merken. Wie weit dieses also in das Innre des christlichen Lebens gedrungen, wie weit es wahr geworden was der Herr gesagt daß es gut sei daß er hingehe und der Geist der Wahrheit komme als Tröster in Beziehung auf seinen Hingang | das können wir erfahren, wenn wir prüfen, in wie fern wir uns genügen und unsre Seligkeit finden eben in der rein geistigen Gegenwart des uns in dem Erlöser offenbarten und mitgetheilten Wesens Gottes. Mögten wir der Erfüllung dieser Verheißung des Herrn inne werden in dem Bewußtsein, welches er in den Jüngern gründete durch seine geistige Gegenwart in ihnen; dann werden wir sagen müssen: „Die Worte die Geist und Leben sind haben ihren unver35 Mögten] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 553 1 Joh 14,9 Hebr 3,5–6

5–9 Vgl. Ex 25–31; vgl. auch die Predigt am 23. Dezember 1832 über 20–21 Vgl. Hebr 8,2 27 Vgl. Joh 4,23.24 38 Vgl. Joh 6,63

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gänglichen Sitz aufgeschlagen in der Menschheit, nicht hie und da ist die geistige Gegenwart des Herrn zu suchen, auch nicht in dem geschriebnen Buchstaben als solchen; der wäre selbst auch todt wenn der Geist nicht ihn beselte, in ihm lebte, ihn verklärte. Wir finden ihn, der seinen Geist uns mitgetheilt, überall, nicht etwa in der geistigen Entfernung von ihm, nicht etwa durch, von ihm unabhängiges, Licht, sondern durch und vermöge seiner geistigen Einwohnung, durch seinen und von ihm nehmenden Geist haben wir sein Licht, Wahrheit, Leben, aber nicht an irgend leibliche Gegenwart gebunden, sondern ganz im Geiste ihn besitzend und schauend und in ihm seiend.“ Wenn wir nun zurück sehn auf die vergangnen Zeiten des Christenthums und bedenken wie es, in einem gewissen Zeitraum besonders, ein Gegenstand des frommen Verlangens, ja der Sehnsucht vieler Christen gewesen, zu wandern an die Stätten wo der Erlöser gelebt, mit leiblichen Augen zu schauen wo er geboren, wo er gelehrt, wo er gestorben und auferstanden: so müssen wir fragen: was wohl der Erlöser von dieser Sehnsucht nach der leiblichen Anschauung des Leiblichen die so viele Ströme Bluts gekostet und doch ist das Schattenbild, welches errungen, so gar bald wieder verschwunden, gesagt haben würde, wenn man ihn gefragt. Gewiß nichts anders als das, daß diese Christen noch gar nicht durchdrungen waren von dem Geist, den er den Jüngern und denen die durch ihr Wort an ihn glauben gesendet, nicht heraufgeläutert zu dem Bewußtsein seiner geistigen Nähe. Denn welche falsche Vorstellungen müssen sie gehabt haben von seiner göttlichen Kraft indem sie sie für gebunden hielten an AeußerPesS. Wenn wir gar bedenken wie es wirklich noch jezt in manchen Gegenden der Christenheit solche giebt, welche meinen, die rechte Kraft der Andacht sei an die Stätte der Andacht gebunden, wenn wir denken wie sie zu tausenden ihre Wohnsitze verlassen, um an Stätten (wo ganz unsichre Erinnrung an wirksame Gebete, welche ausgezeichnet fromme Christen der Vorzeit dort verrichtet, und an gute Werke die sie gethan, sich ihnen darbieten) um [dort] zu beten, und wenn sie dann meinen diese Gebete werden besonders wohlgefällig aufgenommen vom Höchsten: was würde er sagen von dieser gänzlichen Unvollkommenheit des geistigen Lebens, von diesem Wahn in dem sie an das Leibliche ihre Andacht hängen wollen, wovon sie doch durch seinen Hingang befreit sein sollten. | Wenn wir in unsrer evangelischen Kirche die von äußeren Gebräuchen gereinigt ist, doch hören daß sich zu jeder Zeit innerhalb derselben Bedenken darüber geäußert daß nicht immer die Stätten der gemeinsamen Andacht offen stehn auch für den Einzelnen der da sich erheben mögte im Gebet, müssen wir da nicht sagen: an keine Stätte ist die Anbetung gebunden! unsre Versammlungs24–25 AeußerPesS] am Ende unleserlich; möglicherweise korr. in Aeußerm

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häuser sollen uns werth sein als solche und wir wollen nie von den Versammlungen lassen, aber das Gebäude ohne Gemeinde soll uns nicht mehr werth sein als jeder andre Ort; denn überall können wir mit Gott allein sein auch mitten unter dem größten Geräusch der Welt! Ists so daß wir das sagen müssen und wir fänden dennoch auch in uns selbst eine Aehnlichkeit von so äußerm Wesen, wüßten wir also daß wir doch noch nicht eingedrungen in die Freiheit die der Geist des Herrn wirkt, weil wir uns nicht von allem Sinnlichen los gemacht, o wir würden eilen uns mehr und mehr erfüllen zu lassen von dem Geiste der Anbetung die sich an nichts Leibliches hängen kann. Allein dieses, daß der Herr durch seinen Geist uns los machen will wie er die Jünger los machte in ihrem Verhältniß mit ihm von allem Aeußern, Räumlichen und Zeitlichen, das ist nicht die einzige Antwort auf die Frage, warum er sagte „es sei gut u. s. w.“ Es ist noch eine zweite Antwort in dem Sinn seiner Rede die wir zu betrachten haben. 2. Als der Herr seine Jünger fragte – nachdem viele von denen die ihm gefolgt, wieder hinter sich gegangen, weil er nicht gesonnen war zu geben, worauf ihr Verlangen gerichtet – „wollt ihr auch wieder von mir weg gehen?“ und sie ihm antworteten: „Herr wohin sollten wir, Du hast die Worte des Lebens“ : So gereichte ihm das gewiß zur größten Zufriedenheit; es war der deutliche Ausdruck ihres Verlangens und ihrer Sehnsucht von ihm erfüllt zu werden, das göttliche Leben in sich zu saugen. Und wenn es ihm schwer ward sich von ihnen zu trennen, so gründete sich das in derselben Nothwendigkeit der Mittheilung; er hatte ihnen noch viel zu sagen, aber da sie es doch noch nicht tragen konnten, so vernahmen sie es auch nicht, es fehlte noch vieles was sie erst erfahren mußten in sich selbst um fähig zu werden den großen Beruf den er ihnen anvertraute ausführen zu können. Das alles mußte er dem Geiste anheim geben der es nur von dem Seinen nehmen konnte um es ihnen zu verklären. So lange nun der Erlöser auf Erden wandelte, würden je seine Jünger zu der Ueberzeugung und zu dem Bewußtsein gelangt sein daß sie genug von ihm hätten um nun hingehen zu können | in alle Welt und zu lehren? Gewiß nie: aber dann hätte auch sein Werk nicht so gedeihen können wie es sollte. Wenn wir vergleichen wie die Jünger sich zeigen während ihres Lebens mit ihm in welcher Abhängigkeit von seiner leiblichen Gegenwart, wie wenig sich das Bewußtsein 17–33 Als der Herr ... hingehen zu können] längs am linken Rand ohne Einweisungszeichen: Sie sollten zum selbstständigen Leben gelangen durch den Geist. 7 Vgl. 2Kor 3,17 17–21 Vgl. Joh 6,66–68 Joh 16,14 32–33 Vgl. Mt 28,19f

25–26 Vgl. Joh 16,12

29–30 Vgl.

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verkündete daß sie die Quelle des Lebens, durch sein Sein in ihnen, in sich trügen, dagegen, wie sie sich hernach zeigen als seine von ihm beselten Werkzeuge, mit welcher Kraft sie sein Wort verkündigen: o so müssen wir sagen: eben diese Selbstständigkeit des geistigen Lebens, die konnten sie nur erhalten, nachdem sie nicht mehr im Stande waren, das was sie als ihr Maaß göttlichen Lebens in sich trugen durch ihn, mit der Fülle der Gottheit in seiner Person, auf die Weise, daß sie dadurch gelämt wurden in dem Muth der Thätigkeit, zu vergleichen. Mit ihrem ganzen Wesen auf ihn gerichtet sein, das sollten sie so lange er da war, alle ihre Thätigkeit sollte eine aufnehmende sein, so sollte sich anfangen das göttliche Leben in ihnen zu entwickeln, aber indem nun die ihnen immer unentbehrlichere Gemeinschaft mit ihm eine rein geistige ward, sollten sie zum Bewußtsein eines selbstständigen göttlichen Lebens kommen, welches er selbst in ihnen war und blieb aber unabhängig von seinem menschlichen Dasein. Darum sagte er ihnen, das Bewußtsein sei das Höchste für sie, daß er in ihnen sei ohne äußre Vermittelung. Das ists weshalb hier der Erlöser seinen Geist, den er ihnen verheißt „den Tröster“ nennt, und wie passend war diese Benennung so lange noch solche da waren unter denen und mit denen er sein Leben auf Erden gelebt, aber nachdem wir uns sein Dagewesensein nur vergegenwärtigen nur durch seinen uns mitgetheilten Geist, seitdem ist jener Name nicht in dem Munde der Christen; es ist der Geist der Wahrheit, der Geist der Gemeinschaft, des Glaubens und der Liebe welcher uns bindet; nicht ist es eine neue in ihm noch nicht vorhanden gewesene Kraft die uns beselt sondern sein Geist ists der uns von aller Abhängigkeit an Raum und Zeit befreit, da wir, wie groß auch die Entfernung von seinem irdischen Leben sei, ihn selbst als die Quelle des Lebens in uns haben wenn er uns den Geist mitgetheilt. – Die Geschichte der Kirche in welcher wir unsern Ort haben hängt an der Feier dieses Tages da der Geist des Herrn anfing sich so kräftig zu bewegen in den Gläubigen; da entstand der Grund der Geschichte, da bekam das Reich Gottes seinen festen Sitz und verbreitete sich, aber nicht an Raum gebunden nicht gebunden an die mannigfachen Ungleichheiten der Menschen als ob das geistige Leben von wenigen abhinge und nur durch sie und mit ihnen in den andern gedeihen könne. Mußte der Herr hingehen damit wir zum selbstständigen Leben gelangten welches allein er in uns ist wie er es gegründet, wie sollten wir abhängen von Menschen! Darum wenn der Erlöser sieht wie die Christen solche Ungleichheit unter sich geordnet und zum Theil noch daran hängen, daß einige als Vermittler durch welche sie ihre Gebete zu Gott senden, wie man an Men19 nur] vielleicht zu korrigieren in nun 28 der Feier] die Feier zu ergänzen wohl geordnet sind oder dienen 6–7 Vgl. Kol 2,9; ferner 1,19

37–38 Vermittler]

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schenwort hängt: so kann er das nicht billigen; denn ist er hingegangen | um uns frei zu machen wie können wir uns abhängig machen! Darum haben wir das Bewußtsein des Lebens Christi wirklich, so haben wir es ohne äußre Vermittlung, aber wir haben es nicht anders, als nur als Glieder der Gemeinde in der der Geist des Herrn wohnt, und unsre Thätigkeit ist nur etwas als gemeinsame, als bedingt in dem Umlauf der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, wo immer die Äußerung der Wirksamkeit des Geistes in dem Einen die in dem Andern weckt und jeder ausgezeichnete Augenblick in dem geistigen Leben des Einen sich dem des Andern mittheilt, und so Alles Allen zu gut kommt, und die Gemeinschaft immer thätig und wirksam sein muß: aber das ist nicht leiblich, sondern geistig, es ist das Eine Leben welches Alle durchdringt und Alle verbindet. Darum konnte der Herr nur kurze Zeit auf Erden sein, damit eben die Kraft des Lebens frei dastehe und unabhängig. Und nun ists nicht mehr Äußeres und nicht Fremdes wovon wir abhängen, sondern es ist allein sein Geist der jedem an seinem Ort und in seinem Beruf immer seine stärkende und fördernde Nähe offenbart und ihn derselben theilhaftig macht durch die Gemeinschaft. Abgeleitet von der Gemeinschaft verkündet sich aus der Wirksamkeit des Geistes in jedem das Heil wie es für Alle nur abzuleiten ist aus derselben Quelle; nur wenn in der Gemeinschaft sein Geist wohnt und sie beselt, kann in jedem der Erlöser zu schauen sein wie der Vater in ihm, wie er sagt: „wer mich siehet der sieht den Vater“ . Und nicht früher als bis der Erlöser hingegangen und auf selbstständige Weise die kleine Schaar seiner ersten Jünger die großen Thaten Gottes in Christo zu preisen anfing, konnte es so sein; denn nicht in dem durch das leibliche persönliche Dasein des Herrn bedingten Leben konnte die Gemeinde ihn offenbaren weil das Bewußtsein der äußern Abhängigkeit von ihrem Meister überwiegend war und sein mußte als Mittel der geistigen Belebung die noch nicht vollendet war. Fest werden konnte das geistige Leben noch nicht da er noch da war. Aber welcher Kraft wurden sie sich bewußt nach seinem Hingange und der Erfüllung seiner Verheißung! Da trat die Unabhängigkeit ein derer wir auch theilhaftig sein sollen durch die Einwohnung seines Geistes in unsrer Gemeinschaft. Wollen wir nun wissen wie weit das Leben des Geistes unter uns gediehen so lasset uns prüfen ob wir abhängig sind von menschlichem Ansehn u. s. w. in allem was wir als seine Stimme in uns anerkennen, ob jede christliche Verkündigung so sei daß es fühlbar wird der Geist habe sich in dem welcher ihn verkündet seine eigenthümliche Art gebildet! wie denn nur wenn es so ist jeder aus dieser Verkündigung sich aneignen kann was er in seinem 15 jedem] jeden

17 ihn] ihm

21–22 Joh 14,9

23–24 Vgl. Apg 2,11

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eigenthümlichen Wesen bedarf. | Dann sind Alle seine lebendigen Glieder deren Haupt Er ist. Jeder ein eignes selbständiges Leben in der Einheit mit ihm und untereinander. Dann ist die rechte Festigkeit in dem Reich Gottes gegründet! und die rechte Freiheit der Kinder Gottes aufgegangen zu welcher er die Macht gegeben. So mag auch dieses Fest uns dazu dienen daß wir frei werden von allem Äußern und immermehr uns gründen auf die innre Kraft des Geistes und uns das zum Ziel setzen wie der Herr es gesetzt hat: den Vater anzubeten im Geist und in der Wahrheit!

4–5 und die rechte ... die Macht gegeben.] Zusatz von anderer, wahrscheinlich Crayens, Hand 1–2 Vgl. Kol 1,18; auch Eph 1,22f; 4,15f; Kol 2,19 Joh 4,23.24

4 Vgl. Röm 8,21

8–9 Vgl.

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Am 11. Juni 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

Pfingstmontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 16,13–14 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 114–131, Nr. VII Keine Drucktext Schleiermachers; Christliche Festpredigten, Bd. 2 (7. Sammlung) 1833, S. 467–488 (s. KGA III/2); Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, S. 549–561; 21843, S. 548–560. – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 344–359. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 430–440 Keine

Am zweiten Pfingsttage 1832.

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Lied 276. 286, 1–8.

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Text. Joh. XVI, 13 und 14. „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht von ihm selbst reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen, derselbige wird mich verklären.“ M. a. F. Die unmittelbare Abzwekkung dieser Worte des Erlösers ist freilich sehr klar und verständlich. Er wußte es und sagte es auch in diesen seinen lezten Reden selbst seinen Jüngern, daß sie noch nicht zu der vollen Erkenntniß alles dessen, was er ihnen mitzutheilen habe, hindurchgedrungen seien, der Grund dazu sei aber doch durch sein Leben mit ihnen gelegt; und darum verheißt er ihnen, wenn nach seinem Hingange aus dieser Welt der Geist der Wahrheit kommen werde, der werde sie des alles aufs | neue erinnern, der werde ihnen das Zerstreute zusammentragen, so daß Eines das Andere erhelle, damit 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 276: „Komm, heiliger Geist, Herre Gott“ (in eigener Melodie); Nr. 286: „Zeuch ein zu deinen Thoren“ (Melodie von „Von Gott will ich nicht lassen“)

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hiedurch Er, ihr Herr und Meister, ihnen immer deutlicher und heller werde. Aber nicht nur über sie sollte der Geist der Wahrheit kommen, vielmehr sollte er eine von diesem Augenblikke an für immer verliehene, allen Menschen zugängliche, und über Alle sich erstrekkende Gabe von oben sein; und deshalb müssen wir diese Worte des Herrn nicht nur in ihrer nächsten Beziehung auf die kleine Schaar seiner Jünger, welche ihn damals umgaben, zu verstehen suchen, sondern als das ganze fortwährende Werk des göttlichen Geistes unter den menschlichen Geschlechtern auf Erden bezeichnend müssen sie uns deutlich werden. Und wenn wir uns nun denken diese lange Reihe von Jahrhunderten – ich will nicht sagen mit Bezug auf die unmittelbar unserm Texte folgenden Worte des Herrn, Von dem Meinen wird er es nehmen und wird es euch verkündigen, wie lange müßte schon diese Fülle des Seinigen erschöpft sein! nein, unerschöpflich wollen wir sie anerkennen: aber wenn der Geist der Wahrheit immer wäre ununterbrochen wirksam gewesen, wie müßte dann der Herr verklärt sein! wie müßte die hellste Einsicht in sein Wesen, in die Absicht Gottes mit ihm und eben dadurch in den ganzen Zusammenhang der göttlichen Rathschlüsse so lange schon ein gemeinsames Gut Aller geworden, alle Zweifel verschwunden, alle Nebel zergangen sein, und Alle in dem vollen Glanze des himmlischen Lichtes wandeln! Und wie weit erscheint die ganze christliche Welt, wie weit jedes einzelne auch das am meisten erleuchtete, das seligste Gemüth noch von diesem Ziele entfernt! Das, m. th. Fr., das ist die we|müthige Seite dieser Worte unseres Erlösers. Aber wie es gewiß wahr ist, was wir eben mit einander gesungen haben, daß der Geist der Wahrheit auch ein Geist der Freude ist: so laßt uns nur diese Wemuth, welche uns ergreifen will, recht fest ins Auge fassen und uns zu unserem Trost und zu unserer Freude die Frage beantworten, wie verklärt denn der Geist der Wahrheit den Menschen den Erlöser der Welt? Dreierlei ist es, was ich als eine wenngleich unzureichende aber doch alles, was das Wichtigste ist, wenigstens berührende Antwort auf jene Frage eurem frommen Nachdenken in dieser Stunde empfehlen will. Zuerst er verklärt ihn dadurch, daß er uns immer aufs neue und immer heller mit dem Bewußtsein seiner göttlichen Würde erfüllt; er 25 gewiß] gemiß

29 unserer] unsere

12–13 Vgl. Joh 16,14.15 25–27 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 286: „Zeuch ein zu deinen Thoren“ (Melodie von „Von Gott will ich nicht lassen“), 5. Strophe: „Du bist ein Geist der Freuden, das Trauern liebst du nicht, erleuchtest uns in Leiden mit deines Trostes Licht; nimm ferner mein dich an, wie du im heilgen Worte mir oft schon hast die Pforte des Himmels aufgethan.“

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verklärt ihn zweitens dadurch, daß er uns immer vertrauter macht mit seinem segensreichen Leben; er verklärt ihn endlich dadurch, daß er uns immer reichlicher und immer tiefer den Besiz und den Gebrauch seiner geistigen Gaben aufschließt. 5

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I. Aber wenn wir nun unsere Betrachtung gleich mit dem zuerst genannten Stükk unserer Antwort beginnen, wie wir denn nicht leugnen können, das muß der erste Anfang sein von dem großen Werk des göttlichen Geistes, den Erlöser zu verklären, daß er uns immer heller mit dem Bewußtsein seiner Würde erfüllt: wie weit scheint uns dieses Geschäft des göttlichen Geistes wol vorgeschritten zu sein? Diejenigen, welche etwas vertrauter sind mit der Geschichte der christlichen Kirche, wenn sie sich dieselbe verge|genwärtigen: welch eine Reihe fast von Jahrhunderten, wo eben diese höhere, diese göttliche Würde des Erlösers der Gegenstand eines beständigen Streites unter den Christen war, eines Streites, welcher nicht nur geführt wurde mit dem Schwerte des Geistes, wie allein es für die Angelegenheiten der Wahrheit geziemt, sondern welcher so oft ausartete in fleischlichen, bitteren Haß, in wilde Verfolgung. Was aus einem solchen Streite zulezt siegreich hervorging, haben wir wol den Muth, es uns und Anderen darzustellen, als ob es ein reines Werk des göttlichen Geistes sein könnte, der doch nicht ist in solch einem Sturm und Ungewitter eines fleischlichen Streites und einer Erbitterung der Gemüther? Und wie ist es auch allen diesen Worten, Formeln und Bestimmungen über die Würde des Erlösers ergangen, die aus solchem Streite hervorgegangen sind? Sie stehen in unseren Bekenntnißschriften, sie sind verzeichnet in den Büchern, welche die Geschichte der christlichen Lehre enthalten; aber wenn wir uns fragen, wie tief sie denn in das Leben der Gläubigen eingreifen, wie stetig wir uns ihrer bewußt sind, oder wie hilfreich sie sich zeigen bei unseren Betrachtungen des Erlösers: so müssen wir gestehen, sie sind schon lange ein todter Buchstabe für uns geworden. Und wenn wir den gegenwärtigen Zustand der Christen betrachten: wie sind sie getheilt unter sich in zwei heftig mit einander streitende Heere; die Einen ganz und gar beschäftigt, die göttliche Würde des Erlösers hervorzuheben und eben jenen alten Ausdrükken und Formeln wieder aufs neue eine Geltung zu verschaffen in den Gedanken der Christen; die Anderen darauf bedacht, ihn darzustellen rein als einen Menschen unter den Menschen wan|delnd, und nur als einen solchen zu dem allgemeinen Besten von Gott gesandt. Und wie spricht jede Partei sich selbst zu, sie allein sei im Besize 16–17 Vgl. Eph 6,17

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der Wahrheit, welche den Erlöser verklärt, die eine weil sie ihn über alles Andere erhebe, die andere weil sie ihn so geltend mache, wie er selbst habe gelten wollen, und also seine Wahrheit erst an das Licht bringe. Und wie jede die Wahrheit nur sich selbst zutheilt: so beschuldigt sie die andere nicht etwa nur eines unwillkührlichen Irrthums, nicht einer unverschuldeten Verblendung; sondern dafür hält jede die andere, daß sie sich von dem Geiste der Wahrheit losgesagt habe, und nun hingegeben sei dem Geiste der Lüge, daß sie das Auge dem Licht der Wahrheit verschlossen habe, und in selbst gewählter Finsterniß wandle. Und das wäre nun, wenn wir doch jezt in den lezten Zeiten leben, auch das lezte Werk des Geistes, der den Erlöser verklären soll? das wäre nun alles, dessen wir uns von ihm rühmen können, daß wir am Schluß einer langen und oft durchlaufenen Bahn der Untersuchung in einen solchen Zustand des Unfriedens und des Streites gesezt sind? Wohl, m. th. Fr.! Denken wir uns eine Zeit, wenn dieser Streit ganz und gar vorüber wäre, und kein solcher Ton mehr unter uns gehört würde, aber so wäre er geschlichtet, daß diejenigen die Oberhand gewonnen hätten, welche auch jezt mitten unter diesem Streite wandelnd nur immer bedauern, wie sehr sich soviele ihrer Brüder erhizen und erbittern um etwas, das der Mühe nicht werth sei, welche den Wahn der Einen sowol als der Andern beklagen, indem beide einer Richtung folgen, welche, indem sie den Menschen von der Erde abzieht, ihn auch von seiner | wahren Bestimmung, von dem bescheidenen Theil, welches ihm hier für sein Leben auf Erden geworden ist, nur ablenken kann, um ihm den Genuß der Güter, welche ihm wirklich zugedacht sind, zu verkümmern, indem sie ihn mit einer Sehnsucht nach dem unerreichbaren erfüllt. Wollen wir unser Ohr gegen diese Stimmen verstopfen, hören wir sie nicht wenn gleich einzeln und zerstreut immer wieder, so oft sich jener Streit unter den Christen vernehmen läßt? das ist die bittere Wurzel des Unglaubens, welche tief in der menschlichen Brust wohnt! Wem verdanken wir es, wenn wir alle göttlichen Rathschlüsse zusammennehmen, daß diese nicht schon längst unter uns aufgeschossen ist zu einem Baume, unter dessen vergiftetem Schatten wir nun Alle säßen und dem Tode des Geistes entgegen siechten? Ja gesegnet sey uns jener Streit und willkommen als ein großes köstliches Gut, welches Gott uns mit gegeben hat auf unsern Lebensgang; denn er hält uns rege und lebendig, daß wir immer aufs neue inne werden müssen, wie tief in unsern Herzen die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit dem Ewigen wohnt, daß wir uns dessen, was das höchste Ziel der menschlichen Bestrebungen ist, immer bewußt bleiben und die sich immer erneuende Beschäftigung mit theuren Wahrheiten, wenn auch nur im Streit um sie, uns bewahrt,

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daß wir nicht einschlummern in mitten der betäubenden Dinge dieser Welt. Aber noch mehr, wenn wir nun die Lage und die ganze Art dieses Streites in Bezug auf seinen Gegenstand betrachten: ei wie zeigt es sich da so deutlich, daß schon durch den Streit selbst der Erlöser verklärt wird. Denn welches von beiden, um dessentwillen der Streit entbrennt, | möchten wir wol missen? Wäre uns der Erlöser etwas, wenn er nicht unter den Menschen gewandelt wäre rein als Mensch? wäre er uns etwas, wenn wir nicht immer in ihm und immer aufs Neue mit der tiefsten Bewunderung und der innigsten Liebe die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater schauten, wenn wir ihn also nicht in dem Glanz seiner himmlischen Würde erblikkten? Darum was ist denn nun die Wahrheit in dem Geschäfte des göttlichen Geistes, wenn wir auf diesen Theil der Verklärung des Herrn sehen? Wie der Apostel sagt, Ein Herr ist es, aber es sind viele Gaben. Ein Geist ist es, welcher das Ganze beseelt, aber es sind viele Glieder. Vergessen wir nie, dieser Streit ist ein Streit der Gläubigen, derer welche den Namen Christi bekennen, und welche, denn anders können sie es nicht als in der Kraft des göttlichen Geistes, ihn einen Herrn nennen; und darum lasset uns nichts Anderes darin sehen als eben diese Art, wie der göttliche Geist, der Geist der Wahrheit sich vertheilt unter die Menschen. Dem Einen erhellt er das Eine, dem Andern mehr das Andere von dem, was nothwendig ist zur Erkenntniß des Heils; und indem so beides gegen einander gestellt wird, muß auch beides in sein stärkstes Licht treten. Aber wie dann, wenn sich nun die geistige Art und Weise, welche dieser Streit, sofern er in der That das Werk des göttlichen Geistes wäre, an sich tragen müßte, verkehrt in die Aehnlichkeit eines Streites um irdische Dinge? wenn, was heiliger Eifer sein sollte, sich gebehrdet wie eine thörichte und wilde Leidenschaft? Wolan, m. G., das ist das was der Apostel sagt, das Fleisch gelüstet wider den Geist! So gelüstet auch das Fleisch des Einen wider den Geist in dem An|dern, weil jeder das seinige, was ihm vielleicht heilsam ist zum Verständniß, auch von Andern eben so will anerkannt haben, als sei es das Werk des Geistes selbst. Darum sollten wir alle suchen in dieser Beziehung den Streitenden Christum zu verklären als den, welcher sein Geschrei nicht hören ließ auf den Gassen, ob wir sie etwa retten aus diesen Verirrungen, und ihnen deutlich werde daß die Leidenschaft in der sie entbrennen, nichts Anderes sei als das Werk des Fleisches in ihnen, der Geist aber wirke nur dieselbe Richtung in beiden, die Sehnsucht, das Ver10–11 Vgl. Joh 1,14 15 Vgl. 1Kor 12,4f 15–16 Vgl. 1Kor 12,12f 18– 19 Vgl. 1Kor 12,3 30 Vgl. Gal 5,17 35–36 Vgl. Mt 12,19 (darin Jes 42,2)

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langen, sich in Liebe und Friede einander mitzutheilen und so Einer den Andern zu ergänzen. Aber doch wollen wir es erkennen und Gott dankend dafür preisen, wie mitten in diesen scheinbaren Verirrungen der Geist der Wahrheit nie aufgehört hat, den Erlöser zu verklären, wie aus jedem Streit doch immer ein klares Bewußtsein seiner himmlischen Würde in den Gemüthern derer sich niederschlägt als eine friedsame Wurzel der Gerechtigkeit und der Frömmigkeit, welche aus diesem Streit ein immer mehr verklärtes in ihnen Eins gewordenes Bild des Erlösers davon tragen.

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II. Wenn wir nun zweitens sagen, der Geist der Wahrheit verklärt den Erlöser, indem er uns immer vertrauter macht mit seinem segensreichen Leben: ach so fürchte ich, wir werden auch hier nur zu sehr geneigt sein, die Klage voranzuschikken. Wie wenig ist es doch, was uns von den großen Begebenheiten der Zeit, als das Wort Fleisch geworden war und auf Erden wandelte, zurükkgelassen ist! | welch eine kleine Zahl einzelner, größtentheils zerstreuter Züge, auch schöner zwar und herrlicher Reden, von denen uns aber nicht selten so manches entgeht, weil wir nicht immer den Zusammenhang und die Veranlassung wissen, bei welcher sie gesprochen sind. Wenn wir dagegen betrachten, was oft menschliche Liebe und Verehrung in dieser Beziehung geleistet hat in Hinsicht auf einzelne ausgezeichnete Menschen, wie unsäglich viel Fleiß und Mühe daran gewendet ist, auch einzelne Aussprüche derselben und einzelne Züge aus ihrem Leben zu sammeln und in ihrem ursprünglichen Zusammenhang darzustellen, alle Lükken zu ergänzen und alles unbestimmte in sein rechtes Licht zu stellen: wie träge und lässig möchte ich sagen erscheint uns dann hiemit verglichen der Geist der Wahrheit, welchem doch oblag den Erlöser auch so zu verklären. Wie hätte er aller Jünger Erinnerungen vereinigen müssen zu der Zeit da es noch möglich war, ja auch von Andern, die aber doch den Erlöser selbst gesehen und gehört hatten, alles zusammenholen und in Eins verbinden, was nun uns sein ganzes Leben in voller Klarheit zur Anschauung bringen könnte! Und auch das wenige, was wir nun haben, von welcher schwer zu behandelnden Beschaffenheit ist es! wie wird jeder nur irgend Sachkundige je mehr man sich damit beschäftigt, immer mehr inne, wie gar Vieles uns fehlt, wie vieldeutig dieses und jenes erscheint, so daß immer mehr Wissenschaft von ausgestorbenen Sprachen, immer mehr Kenntniß verflossener Zeiten dazu gehören wird, um auch nur mit irgend über16–17 Vgl. Joh 1,14

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wiegender Wahrscheinlichkeit sagen zu können, das war seine Meinung als er dieses sagte, das beabsichtigte er als er jenes that; und statt | immer mehr verklärt zu werden, scheint vielmehr, was wir von dem Erlöser überliefert haben, immer dunkler und unzugänglicher zu werden. Und wenn wir nun die etwas späteren Zeiten betrachten: ach, während jener Streit am heftigsten geführt wurde über die göttliche Würde des Erlösers, wie ganz unfruchtbar und ungenossen blieb da sein irdisches Leben! wie ging das ganze Bestreben jener Zeit in solchen Wortbestimmungen auf! wie Wenige mögen in dieser allgemeinen Verwirrung auch nur zum Gedanken an eine fruchtbare Betrachtung seines Lebens gekommen sein! Und als in der Folge das Christenthum ausartete in eine Fülle von einzelnen Vorschriften und äußerlichen Gebräuchen: wie wurden da abermals die Bestrebungen der Gläubigen auf ganz andere Dinge abgelenkt von der Betrachtung seines Lebens, mit dem sie dem ihrigen auch gar keine Aehnlichkeit einzuprägen suchten. Ja auch wo dieser Gegenstand nicht ganz vernachläßigt wurde, welche Einseitigkeit hat nicht hiebei doch immer unter einem großen Theil der Christen statt gefunden! wie ist nicht Vielen sein ganzes übriges Leben in einem gewissen Grad gleichgültig gewesen, weil sie mit ihrer Sehnsucht, mit ihrem Verlangen, mit dem Bewußtsein einer gänzlichen Befriedigung sich verloren nur in der Betrachtung seines Leidens und Todes, ja auch diesen nicht betrachtend, wie er seine That war, wie sich darin seine kindliche Ergebung in den Willen des Vaters, seine Zuversicht, daß sein Werk vollbracht sei, offenbarte, sondern immer betrachteten sie seinen Tod als eine mehr oder minder willkührliche Anstalt Gottes zu dem Heile der Menschen. Ja freilich wenn wir dieses Alles zusammennehmen, so erscheint | uns das zu allen Zeiten nur als ein weniges, was der Geist Gottes gethan hat, um das Leben des Herrn zu verklären, und uns mit der Kraft und dem Sinne desselben vertrauter zu machen. Aber vergessen wir auch nicht, wie doch das zum großen Theile anders geworden ist, seitdem diese unscheinbaren schlichten Bücher, welche die uns aufbewahrten Züge aus dem Leben des Erlösers enthalten, allen Christen in der jedem angeborenen und geläufigen Sprache sind zugänglich geworden. Wie viel leichter konnte sich jedes einzelne Gemüth nun retten aus dem Getümmel jenes unfruchtbaren Streites, sich mit allem was der Buchstabe nicht geben sondern nur nehmen konnte, in den stillen Genuß dessen, was diese wenigen aber segensreichen Blätter enthalten von dem Leben des Herrn! Betrachten 22 Leidens] so 7. Sammlung, S. 478; Textzeuge: Lebens 24 Vgl. Joh 19,30

34 angeborenen] angeboren

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wir, wie in den neusten Zeiten auch in den rohesten Sprachen, von denen man nicht glaubte, daß es möglich wäre, in solchen Zungen von göttlichen Dingen zu reden, doch Jesus von Nazareth genannt wird, und sein Leben den Menschen vor Augen gestellt, so daß sie in diesen Zügen sich und ihn erkennen, und den Fürsten des Friedens in ihm finden: o wunderbare und verschlungene Wege sind es, auf denen der Geist der Wahrheit sein Werk vollbringt; aber er vollbringt es! Und das werden wir noch mehr sagen müssen, wenn wir bedenken, daß doch auch das Einzelne in dem Leben des Erlösers uns nicht das wesentliche ist. Denn freilich je weiter nun die Verhältnisse unsers Lebens sich von denen seiner Zeit entfernten und ganz von ihnen verschieden sind, um so geringeren Werth würde für uns ein großer | Schaz von einzelnen Zügen haben, wenn wir sie eben nur in dieser Einzelheit betrachten wollten. Jeder Augenblikk in dem Leben eines Menschen ist an und für sich vergänglich und eigentlich sogleich im Verschwinden begriffen, wir können ihn vorher nicht mit Sicherheit zeichnen, und bald verlischt uns auch wieder das vollständige Bild desselben; jeder ist nur in dem Maaß etwas wahres, ein Zuwachs für unsere Kenntniß des Menschen, als er uns in dem einzelnen den inneren Grund seines Wesens zeigt, und wir dieses solchergestalt immer bestimmter kennen lernen. Und haben wir dieses gefunden, dann mögen wir getrost sagen, daß wir ihn ganz besizen; und wenn wir auch fortan gänzlich ausgeschlossen davon wären, ihn irgend in einem einzelnem Augenblikk wirken und handeln zu sehen. So ist es auch mit dem Leben des Erlösers! Die einzelnen Züge desselben sind nichts an und für sich; und darum ist es gleichgültig, ob ihrer viele oder wenige uns aufbehalten sind. Wie ja auch der Evangelist Johannes sagt, daß, wenn sie alle sollten aufgezeichnet werden, die Bücher nicht würden Raum finden in der Welt; aber es geschehe uns daran kein Schaden, ob wir deren mehr oder weniger besizen, denn in dem, was er geschrieben, sei genug enthalten, um in jenem Jesu den Erlöser zu erkennen. Jeder einzelne Zug aus seinem Leben, in welchem wir ihn erkennen in seiner Vereinigung mit dem göttlichen Wesen, als denjenigen, welcher den Vater in sich trug, gibt uns die zu unserem Heile genügende Erkenntniß, und offenbart uns den ganzen Geist seines Lebens. Und so können wir denn auch hier sagen, der Geist hört nicht auf, den Herrn zu verklären; er zeigt uns, wenn wir von seiner Wahrheit er|leuchtet sind, in einem jeden einzelnen Zuge immer denselben Herrn und Meister. Und um seine göttliche Gesinnung, in welcher er der Abglanz des ewigen Vaters war und das Ebenbild des Höchsten, 5 Vgl. Jes 9,5 1,15

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39–40 Vgl. Hebr 1,3; auch 2Kor 4,4; Kol

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um die in ihm zu finden, dazu sind diese wenigen Züge genügend. Wenn uns nur der Geist der Wahrheit und der Treue in der Liebe zu ihm festhält, so daß wir nichts anderes suchen als ihn in uns zu gestalten: o dann werden wir auch immer wissen und erkennen, indem wir in das einfache Bild seines Lebens hineinschauen, wie wir selbst gestaltet sind, sowol als wir selbst, als auch sofern wir sein Leben in uns tragen, und so wird immer mehr Christus in uns Gestalt gewinnen, welches ja doch der wesentliche Segen ist, den wir durch die Betrachtung seines Lebens auf Erden erlangen können. Aber wenn die ganze Welt erleuchtet wäre von der Erkenntniß Jesu als des Christ, als des Sohnes des lebendigen Gottes; wenn er so mit dem Geiste seines Lebens uns offenbar wäre in dem ganzen vollen Umfange des Wortes, und also in dieser Beziehung der Geist der Wahrheit ihn ganz verklärt hätte: wohl! das wäre seine Herrschaft, die soll ihm werden, und er ist erhöhet zu dem Throne des Höchsten, bis sie ihm vollständig werde, und alle seine Feinde zu dem Schemel seiner Füße gelegt sind. Aber er selbst sagt von sich, er sei nicht gekommen, um zu herrschen und um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen; und das ist die herrlichste Verklärung des göttlichen Geistes, wenn er ihn uns so verklärt. So verklärt er ihn uns aber, wenn er uns fähig macht, von ihm zu empfangen, von ihm hinzunehmen die Gaben, welche er von oben gebracht hat; und also wenn er uns zu dem seligen | Besiz und Genuß dieser geistigen Gaben immer vollständiger verhilft. III. Welches sind aber diese, und welches ist das Maß derselben, m. a. Fr.? Welches andere Wort des Herrn könnten wir hier wol zu Rathe ziehn, da wir eines haben in welchem er auf das Vollständigste sich allem anderen in der Welt entgegensezt, indem er sagt, Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt, meinen Frieden gebe ich euch. Hieran also müssen wir uns halten. Dies, m. G., dies ist die große, die alles andere in sich schließende Gabe, welche er gekommen ist den Menschen von oben her zu geben. Er ist unser Friede geworden, indem er uns zurükkgeführt hat zu Gott, von welchem wir entfernt waren in unserem eitlen und sündlichen Wandel; er ist unser Friede geworden, indem er uns aus der Finsterniß und dem Tode der Sünde auf den hellen Weg des geistigen Lebens geleitet hat. Aber dieser Friede soll Er nicht sein für diesen oder jenen, nicht für dieses oder jenes kleine Häuflein, welches 7 Vgl. Gal 4,19 11 Vgl. das sog. Petrusbekenntnis in der Fassung von Mt 16,16 15–17 Vgl. Ps 110,1 zitiert in Mt 22,44; Mk 12,36; Lk 20,42f; Apg 2,34f 17– 19 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45 29–30 Vgl. Joh 14,27 33 Vgl. Eph 2,14

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sich in selbstgefälligem Wesen eines besonderen Verhältnisses zu ihm rühmt; sondern er soll es sein für Alle. Denn Gott hat ihn in die Welt gesendet um die Welt selig zu machen, und diesen Frieden muß er geben, nicht wie die Welt giebt, sondern aus seiner ihm eigenthümlichen Fülle Allen ohne Unterschied. Was war das schon für ein heller Blikk, welchen der Apostel Paulus in diese allgemeine Bestimmung des Erlösers that, als er das Wort aussprach, in Christo Jesu gilt nicht dieses oder jenes, in ihm sind wir Alle gleich, Knechte oder Freie, Juden oder Griechen. Und doch in welchem engen Kreise menschlicher Ver|hältnisse bewegte sich damals noch die göttliche Wahrheit! wie viel weiter ist sie izt verbreitet, kein Geschlecht der Menschen, wie tief es gesunken oder wie wenig es auch hinaufgestiegen sei auf der Stufenleiter der geistigen Entwikkelung, keinem ist unzugänglich dieser Friede, welchen er bringt. Wenn wir bedenken, wie viele Erfahrungen hiervon wir seit dem lezten Jahrhundert, und namentlich in den neuesten Zeiten gemacht haben; wie viele von den unscheinbarsten verachtetsten Geschlechtern der Menschen sich mit uns an demselben Licht des Evangeliums erfreuen, wiewol sie aller anderen geistigen Gaben, welche wir erlangt haben, untheilhaftig und fern sind von aller Wissenschaft und Kunst und fern von allem, was wir sonst noch als zu den höheren Gütern des Lebens gehörig preisen, kaum über die niedrigsten Stufen des menschlichen Daseins emporsteigend, dennoch ist dieses Wort unter ihnen erschollen! Und wie wenig unter solchen auch das menschliche Verderben ausgebildet sein kann, vielmehr nur in ganz einfachen Zügen sich gestaltet: doch lernen sie an diesen die Sünde in sich erkennen, aber auch die Gnade in ihm, und werden also desselben Friedens auf demselben Wege theilhaftig wie wir. Und je mehr wir nun wissen, daß hiezu nichts anderes erfordert wird als nur Hinwendung des Herzens zu Gott, Auffassen der Liebe des Vaters in seinem Sohne, Willigkeit diesen aufzunehmen, auf daß er uns zu seinem Vater hinführe; je gewisser wir sind, daß nichts äußerliches dazu nöthig ist; je weniger wir deshalb an einem vergänglichen menschlichen Buchstaben hängen, nichts als dieses Innerste, diese Fülle der göttlichen Liebe auffassen: o desto mehr hat der Geist uns den Erlöser verklärt. | Aber freilich sagt man, wer schaut in die innerste Tiefe des Gemüthes, wer weiß es, wie Viele oder wie Wenige sich in Wahrheit dieses göttlichen Friedens erfreuen, ohnerachtet sie den Namen des Herrn bekennen! Nun wohl, wenn wir es doch nicht wissen, gebühret es uns deshalb daran zu zweifeln, hochmüthiger Weise diesen Frieden nur da vorauszusezen, wo wir ihn mit denselben Worten, mit denselben 2–3 Vgl. Joh 3,17

7–9 Vgl. Gal 3,28; ferner 1Kor 12,13

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Redensarten rühmen hören, deren wir selbst uns auch bedienen, und wo die einzelnen Bezeugungen der Liebe zu dem Erlöser und zu seiner Gemeinschaft dieselben sind, welche unter uns obwalten? Wenn wir das freilich nicht wissen: o! so laßt uns voraussezen, weil Er den Geist der Wahrheit gesendet und von diesem gesagt hat, er werde uns in alle Wahrheit leiten, daß dieser auch in Jenen Wahrheit wirken werde; und lasst uns glauben, was wir nicht sehen. Das ist ja die zu diesem Frieden gehörige Seligkeit, wie der Erlöser sagt, Selig sind die doch glauben, obgleich sie nicht sehen. Aber wenn es uns so nicht klar werden will, und wir nach einer größeren Gewißheit verlangen: was sagt der Erlöser? Der Geist der Wahrheit, sagt er, wird zeugen von mir, und ihr werdet auch zeugen. Je weniger wir glauben, daß der Friede des Herrn verbreitet sei unter den Menschen: desto mehr ja gebührt uns von ihm zu zeugen. Aber von dem Frieden zeugt man freilich nicht in wildem Sturm, nicht in unbesonnenem Eifer; von diesem Frieden zeugt nur der, welcher den Menschen zuruft wie der Apostel, Laßt euch versöhnen mit Gott; von seinem Frieden zeugen wir nur, indem wir den Geist seiner Liebe bewähren in unserem ganzen Leben. Und damit uns nichts in diesem Geiste störe, so lasset uns auch den Ge|danken noch beleuchten, welcher uns in dieser Beziehung so nahe liegt. Bedenken wir, was das Evangelium von Jesu Christo schon unter den Menschen gewirkt hat, wie Vieles von dem schon abgefallen ist, was die Herrlichkeit des menschlichen Geistes sonst verdunkelte, wie viele Wahrheit seit langer Zeit ein gemeinsames Gut geworden ist; und seufzen wir darüber, daß so Viele sind, welche die Gabe zwar haben wollen, aber sie wollen sie nicht annehmen von dem Geber, welche ebendeswegen gegen die Verklärung des Geistes in Beziehung auf die hohe Würde des Erlösers streiten, weil sie meinen behaupten zu können, wenn Er auch nicht gesandt wäre, hätten wir doch dieselben Gaben gefunden in der Tiefe unserer Natur. Damit auch das uns nicht störe in unserem Frieden, noch uns hindere in dem großen Geschäft, diesen Frieden zu verkündigen: so lasset uns fragen, was that der Erlöser, als er zehn geheilt von dem Aussaze, und nachdem sie sich dem Priester gezeigt und ihrer Heilung gewiß geworden waren, Einer nur umgekehrt um ihm zu danken? Da sprach er, ist Keiner, der Gott die Ehre geben will, als nur dieser Eine und dieser ein Fremdling? Aber so wenig er seinen Jüngern folgte, als sie wollten Feuer vom Himmel regnen lassen auf die welche sich weigerten ihn aufzunehmen: eben so wenig nahm er auch hier seine Gabe zurükk. Die ihm nicht 8–9 Vgl. Joh 20,29 11–12 Vgl. Joh 15,26f 17 2Kor 5,20 33–36 Vgl. Lk 17,11–19 36–37 Vgl. Lk 17,18 38–39 Vgl. Lk 9,53–56, bes. 54

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als dem Geber danken wollten, geheilt waren auch diese und blieben es; ebenso bleiben uns auch die Gaben des Erlösers und werden sich immer mehr verbreiten unter den Menschen, wenn sie ihn auch nicht als den Geber anerkennen. Aber je mehr wir Dankbarkeit gegen ihm fühlen, je weniger wir die|ses persönliche Verhältniß zu ihm missen mögten: um so bereitwilliger lasset uns seine Zeugen sein, um Alle zu vereinigen auch in derselben Liebe und in derselben Dankbarkeit. So helfen denn auch wir dem Geiste der Wahrheit sein Geschäft zu verrichten; er aber wird es hindurchführen immer herrlicher von einer Zeit zur andern, bis das Wort wahr geworden ist, daß alle Knie sich beugen vor dem, der gesendet ist zu unserem Heil, und dessen Name über alle Namen ist und bleiben wird in Ewigkeit. Amen. Lied 287, 1 u. 5.

10–12 Vgl. Phil 2,9f 13 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 287: „Zu dir, Geist Schöpfer, flehen wir“ (Melodie von „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“); Strophen 1 und 5 lauten: „Zu dir, Geist Schöpfer, stehen wir, der neue Herzen in uns schafft; des Segens Fülle kommt von dir, durchdring uns ganz mit deiner Kraft! // Ja, wohn in uns, du Geist des Herrn, weih uns zu deinem Tempel ein; wir folgen deinem Zuge gern und wollen dir gehorsam seyn.“

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Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 4,35–41 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 221–231, Nr. XVIII; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 100.

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Text. Marcus IV, 35–41. „An demselben Tage des Abends sprach er zu ihnen: lasset uns hinüber fahren. Und sie ließen das Volk gehen, und nahmen ihn, wie er im Schiff war; und es waren mehr Schiffe bei ihm. Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und warf die Wellen in das Schiff, also, daß das Schiff voll ward. Und er war hinten auf dem Schiff, und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf, und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts darnach, daß wir verderben? Und er stand auf, und bedrohte den Wind, und sprach zu dem Meer: Schweig, und verstumme! Und der Wind legte sich, und ward eine große Stille. Und er sprach zu ihnen: Wie seid ihr so furchtsam? Wie, daß ihr keinen Glauben habt? Und sie fürchteten sich sehr, und sprachen unter einander: Wer ist der? Denn Wind und Meer sind ihm gehorsam.“ Es gibt wol, m. a. Fr., unter allen den einzelnen Geschichten aus dem Leben unseres Erlösers nicht leicht eine, die immer wieder aufs Neue einen so großen und tiefen Eindruck macht, und das Gemüth zu so mancherlei Betrachtungen aufregt, als diese eben | verlesene. Zuerst erscheint nichts als ein größerer Beweis von der unerschütterlichen Kraft und Hoheit des Erlösers, als, wie uns hier erzählt wird, daß er den aufgeregten Elementen geboten habe, und sie haben ihm gehorcht; aber dann ist es auch eine ebenso allgemeine Neigung aller Christen, diese Erzählung anzuwenden auf das geistige Leben. Da erinnert sich jeder der mannigfaltigen Stürme, die sich 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 100: „König, dem kein König gleichet“ (Melodie von „Schmücke dich, o liebe Seele“)

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oft in unserem Gemüthe regen, vor Allem aber der heftigen Bewegungen, welche so oft jener glücklichen Veränderung vorangehen, wann der Mensch seines Heiles gewiß wird. Das ist die allgemeine Erfahrung, daß es keinen gibt, der so wol jene allgemeinen Stürme als auch jeden einzelnen in der menschlichen Seele beschwichtigen kann als Er, daß es nichts Anderes bedarf als daß Er geweckt werde, um Ruhe und Ordnung hervorzubringen, wenn Alles unter einander geworfen ist und verwirrt. Und nicht nur das einzelne Gemüth sondern wie oft ist nicht auch und mit Recht die ganze Gemeine des Herrn mit einem Schiffe verglichen worden, welches auf einem stürmischen Meere fährt; in wie vielen Gefahren hat sie nicht schon geschwebt, aber zu rechter Stunde ist er wieder erwacht und hat den Stürmen geboten, und das Meer ist für die Gemeine des Herrn zu ihrer Fahrt wieder eben geworden und ruhig. Aber über alle dem, so schön und wahr und erbaulich es auch ist, sollten wir doch nicht die Geschichte auch in ihrer natürlichen und ursprünglichen Einfachheit übersehen, und auf Alles, was uns darin von dem Erlöser gesagt wird, besonders aber auf seine Worte in ihrem ursprünglichen Zusammenhange merken, und damit wollen wir uns denn für unsere heutige Betrachtung derselben begnügen. Zuerst muß uns allen das doch auffallend sein, daß der Erlöser hier seine Jünger aufgefordert hat, hinüberzufahren über den See, und sich dann mitten auf der Fahrt hingelegt hat und geschlafen. Unser Evangelist ist der einzige, welcher sagt, daß es des Abends gewesen sei; aber das Wort, dessen er sich | bedient, bezeichnet keinesweges die Zeit, welche zu dem Schlafe bestimmt ist, sondern die frühere Zeit um die Stunde des Sonnenunterganges. So sehen wir denn, wie der Erlöser sich so ganz hat gehen lassen in den gewöhnlichen menschlichen Dingen, daß er, wie es frischen und thätigen Menschen oft geht, auch nicht auf eine allzuängstliche Weise gerechnet hat mit der Zeit. Wäre das seine Art und Weise gewesen: nun, so hätte er wol denken mögen, wie auf seinem Schiff und auf den anderen, die in der Nähe fuhren, vielerlei Menschen zusammen waren; denn das geben uns ja die Worte des Evangelisten zu erkennen. Die nächsten Jünger waren es nicht, die fragten: „wer ist der, dem Wind und Meer gehorsam sind?“ denn die kannten ihn ja schon; sondern Andere waren noch da, und wie hätte er nicht können während der Fahrt mit dem Einen oder dem Anderen ein Gespräch anknüpfen, um etwas Gutes zu schaffen; aber er überließ sich dem Bedürfniß und legte sich nieder in der kühlen Abendluft, um zu schlummern. Nun freilich, m. a. Fr., können wir eben diese Freiheit in dem Gebrauch unserer Zeit und unserer Kräfte, eben dieses nicht genaue und ängstliche Rechnen, wenn wir den Erlöser uns wollen dabei zum Vorbild nehmen, nicht für sich allein betrachten, sondern nur in dem ganzen 21–22 Die Erzählung von der Sturmstillung findet sich auch bei Mt 8,23–27 und Lk 8,22–25. 22–23 Gemeint ist das griechische ψα.

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Zusammenhange. Wenn wir bedenken, wie ernst es der Erlöser mit seinem Beruf, den ihm sein Vater gegeben hatte, nahm, wie er auch, als er dem Schlusse desselben nahe war, mit solcher reinen Zuversicht ihm konnte Rechenschaft geben von der Art, wie er sein Werk vollbracht hatte: so müssen wir sagen, wo auf der einen Seite der rechte Ernst, die volle Treue in dem Berufe ist, das gute Bewußtsein, daß man nichts in demselben versäumt habe, da läßt sich auf der anderen Seite auch ein solcher ruhige und heitere Sinn denken, welcher die Zeiten, die nicht unmittelbar für die Geschäfte bestimmt sind, auch grade so zu gebrauchen verstattet, wie es die Umstände der leiblichen Natur erfordern. | Finden wir aber dieses beides bei dem Erlöser: so müssen wir sagen, daß dieses das Rechte sei für den Christen auf seiner Fahrt durch das Leben, daß wir uns, sind wir uns der Treue bewußt, nicht zu ängstlich quälen sollen, wie wir jeden Augenblick anwenden, sondern dem folgen, was die menschliche Natur, was die äußeren Verhältnisse fordern. Und nun sehen wir, wie sich auch nichts, was über den gewöhnlichen Gang der menschlichen Handlungsweise hinausgeht, in die Handlung des Erlösers gemischt hat. Da war keine bestimmte Voraussicht, wie wir denken, daß es dem Göttlichen angemessen gewesen wäre, von dem, was ihm und seinen Jüngern bevorstand; sondern er ging mit seinem Handeln überall auf in den Augenblick, und so geschah es nun, daß der Sturm die Wellen auf das Schiff warf, so daß es voll Wassers war und in Gefahr zu sinken. Auch hier ist unser Evangelist wieder der einzige, der bestimmte Worte anführt, welche der Erlöser gesprochen habe; die anderen beiden erzählen nur, er habe die Winde und das Meer bedroht, der unsrige aber sagt ausdrücklich, er habe zu dem Meere gesprochen, „schweig und verstumme.“ Wenn wir uns nun fragen, worin lag denn nun diese Kraft des Erlösers, den Sturm zu beschwichtigen und das empörte Meer wieder zu ebnen: so kann wol keiner glauben, daß es die Worte gewesen seien; denn die können auf das aufgeregte Element keine Wirkung hervorgebracht haben, sondern wir müssen doch immer sagen, es sei die uns unbegreifliche Macht seines Willens gewesen. Fragen wir uns aber, hat er dazu denn der Worte bedurft, damit Sturm und Wellen seinen Willen erführen: so ist das ein Gedanke, bei dem wir nicht stehen bleiben können. Warum hat er denn diese Worte gesprochen; denn wenn auch die anderen Evangelisten seine Worte | nicht erzählen: so sagen sie doch, er habe den Wind und das Meer bedroht. Auch das nun ist etwas ganz Menschliches; nicht zu dem Meer, nicht zu den Stürmen hat er gesprochen, sondern er hat, ohnerachtet er sie anredete, doch eigentlich zu den Anwesenden gesprochen; denen wollte er dadurch seinen Willen kund geben, damit sie das, was geschah, auch als die Folge 2–4 Schleiermacher bezieht sich sehr wahrscheinlich auf das sog. Hohepriesterliche Gebet in Joh 17, bes. 4.6–8. 24–25 Vgl. Mt 8,26; Lk 8,24

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seines Willens anerkennen könnten, und nicht in Zweifel blieben, wie es mit dem, was sie sich ereignen sahen, eigentlich zusammenhing. Wenn wir aber lesen, daß, nachdem der Wind sich gelegt, und eine große Stille eingetreten sei, er zu seinen Jüngern gesagt habe, warum sie denn so furchtsam gewesen, und sie gefragt, ob sie denn noch keinen Glauben hätten: so ist es grade dieses, was in der Betrachtung dieser Erzählung am Leichtesten übersehen zu werden pflegt, und was doch, weil es eben die Worte des Erlösers sind, die genauste Aufmerksamkeit verdient. War es denn nur Furcht und nicht Glaube zugleich, daß sie ihn aufweckten und ihm sagten, „Herr, wir verderben;“ oder wie die Andern sagen: kümmerst du dich nicht darum, daß wir verderben, kannst du bei diesen Stürmen fortschlafen? Es war doch nicht nur, daß sie ihn zum Genossen ihrer Furcht machen wollten; sondern, wenn sie sagten, wie bei den anderen Evangelisten steht: hilf, Herr! so war ja das eben der Glaube, den der Erlöser von den Menschen fordert, der Glaube, von dem so oft gesagt wird, wenn es den Menschen daran fehlte, so habe er wenig Zeichen unter ihnen thun können. In welchem Sinne macht er denn also seinen Jüngern einen Vorwurf und sagt, sie hätten noch keinen Glauben, und rechnet ihnen das zum Vorwurf an, was er Andern als Lob anrechnet? denn tadelnd sind doch seine Worte. Nun wäre das wol auch nicht zu tadeln gewesen bei dem genauen Verhältniß, das zwischen dem Erlöser und seinen Jüngern Statt fand, bei der Art, wie sie Alles gemein hatten | in dem täglichen Leben, wenn sie ihn geweckt hätten, ohne seine Hülfe zu begehren, nur um ihn zu einem Genossen ihrer Empfindungen zu machen. Wenn er sie nun aber tadelte auf der einen Seite, weil sie einen Beweis der Feigheit gegeben, und auf der anderen Seite dieses, daß sie seine Hülfe in Anspruch genommen, ihnen als einen Mangel des Glaubens anrechnet: was verlangt er denn, daß sie hätten thun sollen? Müssen wir nicht sagen, es würde ihm besser gefallen haben, wenn sie, die nun einmal wachten, das Ihrige gethan aus allen Kräften, das Schiff an die Küste zu bringen, und wenn sie ihn dabei hätten fortschlafen lassen, lediglich erwartend, ob er nicht von selbst durch das Toben der Elemente würde erwacht sein? Tadelt er sie, daß sie ihn geweckt: so kann das, was er gewollt, nur dieses sein. Vergleichen wir dieses, um uns klar zu machen, worauf der Tadel des Erlösers beruht, mit anderen seiner 10–11 ihm sagten ... daß wir verderben] Kj (nach Mk 4,38; Mt 8,25; Lk 8,24) ihm sagten, kümmerst du dich nicht darum, daß wir verderben, kannst du bei diesen Stürmen fortschlafen? oder wie die Andern sagen: „Herr, wir verderben.“ 13–14 den anderen Evangelisten] Kj (vgl. den Sachapparat) dem anderen Evangelisten 10 Vgl. Mt 8,25; Lk 8,24 10–11 Die Formulierung findet sich weder bei Mt noch bei Lk; vgl. aber den Predigttext Mk 4,38; siehe auch oben den Textkritischen Apparat. 13–14 Die Formulierung findet sich ausschließlich in Mt 8,25. 15–17 Vgl. Mk 6,5f; ferner Mt 13,58

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Aussprüche: so können wir keineswegs sagen, daß er von seinen Jüngern verlangt, sie sollten ganz unbedingt das Vertrauen hegen, daß ihnen in seiner Gesellschaft nie etwas Nachtheiliges begegnen könne, vielmehr sagt er ihnen ja oft das Gegentheil vorher, wie es ihm schlecht ergehen würde und ihnen auch nicht besser. Das also eigentlich ist es nicht gewesen; aber doch müssen wir sagen, als er ihnen von seinem bevorstehenden Leiden und von seinem Tode redete, da hatte er in sich selbst das Bewußtsein, daß nun doch das ihm aufgetragene Werk so weit vollbracht sei, daß ohne Nachtheil desselben er die Welt verlassen konnte, durch seinen Tod den Menschen das Heil bringen und so wieder zurückkehren zu dem, von welchem er ausgegangen war. So lange er selbst aber nicht dieses Bewußtsein hatte und ihnen mittheilte, konnten sie es auch nicht haben. Schon als er es ihnen mittheilte, war es doch zugleich das Mitgefühl von ihrem Zustande, was ihn zu solchen Aeußerungen bewog, wie | die: Vater ist es möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber, und diese andere: ich hätte Euch noch Vieles zu sagen, aber ihr könnt es nicht tragen, und viel Zeit habe ich nicht mehr, mit Euch zu reden. War das nun sein Bewußtsein ihres Zustandes: so konnten sie auch, so lange jenes Bewußtsein der nahen Vollendung nicht in ihm war, auch keinesweges irgend eine Besorgniß haben, weil sein Werk im Allgemeinen nicht und auch nicht an ihnen vollbracht war, und darum rechnet er es ihnen als Unglaube an, daß sie in diesem Sturme der Elemente mit einer Art von Verzagtheit waren und fürchteten, sie könnten mit ihm zusammen untergehen; denn das ist wol die Furcht, die er wahrnahm, und die sie ausdrückten in den Worten: Meister, kümmert es dich denn nicht, daß wir verderben? Und das, meint er eben, sei ihr Unglaube gewesen, daß sie glaubten, er könne untergehen zu einer Zeit, wo sein Werk noch gar nicht vollendet war, wo er ihnen noch keinen Auftrag gegeben; daß sie besorgten, Gott könne sich um sein Werk so wenig kümmern, daß er mit ihnen untergehen könne. Und darum sagt er, eine solche Zuversicht hätten sie haben sollen, daß sie ihn schlafen ließen und wären sicher gewesen, daß er nicht konnte in einem solchen Anfalle des Sturmes aus dem irdischen Leben genommen werden, wodurch ja sein Werk nicht konnte vollendet werden; ebenso wie er nachher, als er ihnen gesagt, nun sei seine Stunde gekommen, das als ihren Glauben verlangt, daß sie wissen sollten, das Werk werde doch fortgehen, und daß sie durch den Geist, den er ihnen senden würde, seine Zeugen sein würden bis an das Ende der Erde. Das, a. Fr., ist eigentlich die Ermahnung, welche der Herr seinen Jüngern gab, das war das Vertrauen, welches er von ihnen verlangte, | sie hätten gar nicht sollen seine besondere Hülfe in Anspruch 3–5 Vgl. Mt 10,16–22; Mk 13,9.12f; Lk 10,3; 21,12–17; Joh 15,20 Mt 26,39; ferner Mk 14,36; Lk 22,42 15–16 Vgl. Joh 16,12 Joh 13,1; 17,1 35–37 Vgl. Apg 1,8

14–15 Vgl. 33–34 Vgl.

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nehmen, sie hätten keine solche besorglichen Gedanken sollen aufkommen lassen, denn das sei ein Zeichen, daß sie nicht recht abgeschätzt die Macht solcher vorübergehenden Aufregungen der Natur und die der allwaltenden Vorsicht Gottes in Beziehung auf das Werk des Erlösers. Daß dieses nicht durch jene untergehen konnte, das hätten sie glauben sollen, und dazu freilich das Ihrige thun, aber der göttlichen Hülfe gewiß sein. Wenn wir dieses, wie es sich aus den Worten des Erlösers ergibt, auf unser geistiges Leben anwenden: so werden wir aus seinen Worten die Ermahnung zu einer schönen und vollkommenen Zuversicht für uns selbst nehmen. Ja, es ist wahr, es gibt keinen Einzelnen unter uns, der sicher sein könnte vor allen Stürmen in seinem Gemüth, daß sich nicht doch, wenn er gleich scheint ganz und gar begraben zu sein in den Tod Christi, der alte Mensch mit seinen natürlichen Riesenkräften hier und da regt, und Sturm und Ungewitter in dem Gemüth hervorruft. Davor kann keiner sicher sein, daß nicht solche Verhältnisse in seinem Leben eintreten, wo er sich auf die Kraft der göttlichen Gnade, die ihn bisher geleitet hat, nicht glaubt verlassen zu können, wo die Seele verzagen will und er dem Erlöser zurufen, nun, machst du dir nichts daraus, daß ich verderbe. Aber sind wir nur einmal in die Gemeinschaft Christi aufgenommen: nun, so wissen wir freilich, dafür kann uns keiner Bürgschaft leisten, wie kurz oder wie lange er uns gebrauchen will in seinem Dienst; aber sind wir einmal Glieder an seinem geistigen Leibe: so sollen wir auch in allen noch so schweren Stunden der Prüfung und Versuchung das feste Vertrauen haben, das Band zwischen ihm und uns kann nicht zerreißen; gesetzt auch es gäbe etwas, wobei wir uns nicht retten können gegen etwas, was hernach uns Schaam erregt, gesetzt auch es ginge nicht ohne Stürme | ab: so ist doch das auch nur auf vorübergehende Weise, und das ist die schöne Zuversicht, die der Apostel so ausdrückt, daß denen, die Gott lieben – und das sind die, welche in die Gemeinschaft mit Christo aufgenommen sind – denen muß Alles – und wenn er Alles sagt, so meint er auch solche Stürme – denen muß Alles zum Guten mitwirken; der Sturm muß sich wieder legen, die Fahrt muß sich wieder ebnen, und nie kann Einer, der sich an den Erlöser hält, je untergehen in noch so harten Stürmen des irdischen Lebens. Und sollten wir in Versuchung kommen, das zu besorgen, zu fürchten, er habe uns verlassen: so mögen uns diese Worte ins Ohr tönen, seid ihr noch so furchtsam, habt ihr noch keinen Glauben, sind der vielen Erfahrungen, die ich Euch gegeben habe, noch nicht genug, daß ihr nicht glauben solltet, der Sturm werde vorübergehen, der heitere Himmel wieder erscheinen. Und so lasset uns das selbst glauben in Beziehung auf die ganze Gemeinschaft der Christen, auf die ganze Kirche. Es gibt Zeiten, und solche sind auch jetzt für Viele unter uns, wo die Frage entsteht, ist es wol auch so, wie wir glauben, 11–13 Vgl. Röm 6,4–6

28–31 Vgl. Röm 8,28

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daß dieser Bund mit dem Erlöser dauern soll bis an das Ende der Tage, ist nicht das auch nur eine vorübergehende Anstalt gewesen für einen besonderen Zeitraum der Entwickelung des menschlichen Geistes, sollte nicht eine andere Zeit bevorstehen, – und glaubt man bei diesen Fragen an die göttliche Weisheit und Liebe: so kann man sie sich nur noch herrlicher denken, – aber sollte nicht eine solche bevorstehen, wo der Glaube an den Erlöser überflüssig wäre, und wo die Menschen sich auf sich selbst verlassen könnten, jeder für sich und Alle in Gemeinschaft mit einander, aber ohne den Erlöser, ihren eigenen Weg gehen und so in geistiger Selbstständigkeit zu einer noch unmittelbareren Gemeinschaft mit Gott kommen. Solche Fragen werden oft aufge|worfen, und es gibt Zeiten, wo es scheint, als ob die, welche sich zu solchem Glauben hinneigen, Recht hätten, wo es scheint, als ob alle die Einwendungen, welche von Zeit zu Zeit gemacht werden gegen den hinreichenden Grund des Glaubens an den Erlöser, sich zusammendrängten, so daß Alles, was zur Beschwichtigung derselben gesagt werden könnte, doch nicht hinreicht. Aber dann wollen wir uns auch an das Wort des Erlösers halten, und uns das nur auslegen als einen Mangel des Glaubens, und wollen uns gern von ihm schelten lassen, wenn er fragt, ob wir noch so furchtsam wären, ob wir durch die Erfahrungen der ganzen Weltgeschichte noch nicht mehr Glauben gewonnen. Und wenn wir dann uns selbst fragen, ob es irgend eine Herrlichkeit des menschlichen Geistes, irgend eine Stufe seiner Entwickelung gäbe, die uns lieb und theuer genug werden könnte, um für dieselbe und um ihretwillen das Bewußtsein von der seligen Gemeinschaft mit dem Erlöser fahren zu lassen, und abgesondert von ihm in uns selbst zufrieden und vergnügt [zu] sein, wenn gleich keiner von sich selbst sagen kann, daß er in seinem eigenen Bewußtsein sicher sei, wie fest der Friede vermöge unseres Glaubens in dem Innern unserer Seele stehe: wer wollte wol sagen, daß er den Tausch wagen möchte. Wer je an den Erlöser geglaubt, in ihm die Herrlichkeit des Sohnes Gottes erkannt hat, der muß auch sagen, Alles was sich je Herrliches, Gottähnliches in den Menschen nur entfalten kann, es kann doch nur sein ein Abglanz und Wiederschein von ihm. Daß Alles von ihm abstamme und geworden sei, das ist und bleibt doch das seligste Bewußtsein, und dabei fühlen wir uns nicht aufgehalten in einem Fortschritte, den der menschliche Geist machen könnte; alles Schöne und Herrliche es muß erreicht werden, und so gewiß er damals mit den Seinigen nicht untergehen konnte: so gewiß ist es, daß sein Volk nicht wird untergehen können, in welchen Stürmen es auch sei, und wie viele Anstrengungen der Men|schen auch dagegen sich erheben mögen, sein Werk wird nie untergehen. Das ist der Glaube, den wir festhalten wollen, und wollen nie furchtsam sein und verzagen, und nie glauben, daß er je, sei es mit uns oder nach uns, verderben 29–30 Vgl. Joh 1,14

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könne; sondern das Eine Heil bleibet unter den Menschen aufgerichtet, es steht fest für alle Zeiten, wie ihm auch immer wird widersprochen werden, und wie Moses eine Schlange aufgerichtet hat in der Wüste für Alle, die in der Gefahr des Todes waren: so bleibt auch des Menschen Sohn aufgerichtet für Alle zu einem Zeichen bis an das Ende der Tage. Amen. Lied 13, 4–5.

3–5 Vgl. Joh 3,14 (mit Bezug auf Num 21,4–9, bes. 8f) 6 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 13: „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (in eigener Melodie)

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1. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 5,38–39 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 132–153, Nr. VIII SW II/3, 1835, S. 289–302; 21843, S. 301–315. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 356–367 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 1. Sonntage Trinitatis.

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Lied 19, 1–5. 301.

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Text. Apostelgesch. V, 38. u. 39. „Und nun sage ich euch: laßt ab von diesen Menschen und laßt sie fahren. Ist der Rath oder das Werk aus den Menschen, so wird es untergehen; ist es aber aus Gott, so könnet ihr es nicht dämpfen, auf daß ihr nicht erfunden werdet als die wider Gott streiten wollen.“ M. a. Fr. Als ich mir diesen Text erwählte für unsere heutige Betrachtung, fiel mir ein, daß wol auch mancher fragen möchte, ob es Recht gethan sei, solche Worte zum Grunde unsers christlichen Nachdenkens zu legen. Es sind weder Worte des Erlösers, noch Worte eines seiner Apostel, noch Worte eines Menschen, welcher das für sich hat, daß er des Geistes Gottes theilhaftig sei; es sind Worte eines Mannes, der ein Mitglied war eben jener Versammlung, welche den Tod des Herrn beschlossen hatte. War | er damals gegenwärtig? Ich weiß es nicht. Hat er damals auch seinen Theil dazu gegeben und mit ihnen gestimmt für den Tod des Erlösers? Ich weiß es nicht; das weiß ich 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 19: „Vor dich, Herr, will ich treten“ (Melodie von „In allen meinen Thaten“); Nr. 301: „Fest steht zu Gottes Ruhme“ (Melodie von „Nun lob, mein Seel, den Herren“) 15–16 Vgl. Apg 5,34

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aber, hat er es gethan und hernach diesen Rath gegeben in Beziehung auf die Apostel des Herrn: o so muß inzwischen ein scharfes Schwerdt durch seine Seele gegangen sein; und bitter muß er es bereut haben, daß er damals in die Meinung der Uebrigen eingestimmt, ohne sich genau davon zu überzeugen, ob das ein Menschen Thun sei oder ein Gottes Werk, wovon es sich handelte. Und so sehr bin ich überzeugt, daß dieser Rath, den er hier ertheilt, ganz dem Geiste Christi gemäß ist und ganz aus seinem Sinne heraus, daß ich gewiß bin, wenn ihn der Erlöser gehört hätte, Er würde, wenn jemals so gewiß zu diesem Mann, gesagt haben, Du bist nicht fern vom Reiche Gottes. Und so will ich denn, ungeachtet dessen, daß Gamaliel kein Jünger des Herrn gewesen und kein Mann des Neuen Testaments, doch diesen Rath, den er hier in Beziehung auf die Apostel des Herrn giebt, uns Allen ans Herz legen, als den, welchen wir in allen ähnlichen Fällen zu befolgen haben. Wir werden aber zu dem Ende zuerst diesen Rath seinem ganzen Inhalt nach uns genau vor Augen legen müssen, und dann wird es doch wohl nöthig seyn, mancherlei Einwendungen, die von guten und eifrigen Christen gegen denselben gemacht werden könnten, zu beseitigen.

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I. Die Sache ihrem ganzen Zusammenhange nach war diese. Es war den Jüngern des Herrn, seitdem sie an | dem Tage der Pfingsten zuerst öffentlich aufgetreten waren als Verkündiger des Evangeliums, und in Folge dessen sich allmählig schon viele Menschen als Gläubige zu ihrer Gemeinschaft gesammelt hatten, vom hohen Rathe verboten worden, sie sollten nicht mehr predigen im Namen dieses Jesu von Nazareth; sie aber hatten dennoch damit fortgefahren, waren deshalb gefangen gesezt worden, und nun wurden sie abermahls vor den hohen Rath geführt. Als nun Petrus sich und seine Genossen vertheidigte über das, was sie gethan hatten: so gedachten die von dem hohen Rathe die Apostel nun auch zu tödten, wie sie den Herrn getödtet hatten. Da, heißt es, ließ Gamaliel die Apostel hinausführen und stand auf in dem hohen Rath, und führte manche andere Beispiele an, wie auch sonst schon bald dieser bald jener aufgestanden war, und unter allerlei Vorspiegelungen das Volk auf besorgliche Weise an sich gezogen hatte, wie aber alle solche Zusammenrottungen wären zerstäubt worden ohne des hohen Rathes Zuthun; und so schloß er seine Rede mit den Worten unsers Textes. Darum sprach er zu ihnen, Ich sage 2–3 Vgl. Lk 2,35 10 Mk 12,34 22–25 Vgl. Apg 2 25–27 Vgl. Apg 4,1–21, bes. 18 27–29 Vgl. Apg 4,31; 5,17–28 29–32 Vgl. Apg 5,29–33 32–37 Vgl. Apg 5,34–37

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euch, laßt ab von diesen Menschen! Denn ist auch dies ein Menschen Rath und Werk: so wird es untergehen, wie jene. Ist es aber ein Gottes Werk: so würdet ihr ja, wenn ihr es zu hemmen sucht, als solche erfunden, die wider Gott streiten wollten; und zwar ohne allen Nuzen und Erfolg. Denn ist es ein Gottes Werk, so könnt ihr es doch nicht dämpfen. Indem wir uns aber diesen Rath seinem eigentlichen Inhalte nach deutlich machen wollen, müssen wir zuerst die Frage, die wol jedem einfällt, beantworten, Was ist das für ein Gegensaz, den Gamaliel hier aufstellt, zwi|schen einem Rath und Werk von Menschen und einem Rath und Werk von Gott? Giebt es denn in dem geistigen Leben der Menschen irgend ein Gottes Werk, das nicht zugleich ein Menschen Werk wäre? Hat jemals der Höchste irgend einen Rath über das menschliche Geschlecht anders ausgeführt als durch Menschen? Mußte nicht das Wort selbst Fleisch werden und als Mensch unter uns wohnen, damit auch das ein Menschen Werk sei, wodurch der Höchste seinen allgemeinen Rath zum Seelenheil an der Gesammtheit der Menschen ausführte? Und auf der andern Seite, kann denn irgend wo und wie ein Menschen Werk zu Stande kommen, das nicht auch ein Gottes Werk wäre? Wäre nicht die Allmacht Gottes zu kurz geworden, wenn irgend etwas könnte ausgeführt werden, Leben gewinnen und eine Kraft ausüben, dem dies nicht von Gott beschieden wäre? und ist dann das Werk nicht auch ein Gottes Werk? Steht nicht alles so unter der Leitung des Höchsten, daß wir alles, was geschieht, als sein Werk und als seine That ansehen müssen? Und doch hat dieser Unterschied für uns Alle eine tiefe Wahrheit; das Gemüth eines Jeden legt Zeugniß dafür ab, Jeder erneuert denselben in vielen bedeutenden Fällen, und so sezte auch Gamaliel ihn als ganz bekannt voraus. Aber freilich soll er uns zur Richtschnur unseres Verhaltens dienen: so dürfen wir uns auf unser Gefühl, wie es in dem einen Fall, so in dem andern anders unterscheidet, nicht allein verlassen. Sondern wollen wir uns eine allgemeine Regel bilden: so müssen wir auch zu einem deutlichen Bewußtsein darüber zu gelangen suchen, was es mit diesem Gegensaz für eine Bewandniß hat. Freilich das ist gewiß, und das ist ja der | Glaube auf dem die ganze Freudigkeit unsers Lebens auf diesem Schauplaz nicht nur des Kampfes sondern auch der Sünde ruht, daß Alles so unter der Leitung Gottes steht, daß es zum Guten mitwirken muß; und also insofern ist Alles ein Gottes Werk. Aber das ist der große Unterschied ob etwas schon seinem ersten Ursprunge nach, so wie es in dem Sinn und Geist eines oder mehrerer Menschen aufgeht, in ihnen selbst diese Richtung auf das Gute hat, oder ob es davon 15–16 Vgl. Joh 1,14

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heißt, wie dort geschrieben steht, ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen1. Denn freilich ist dann dieses Gutmachen das Werk Gottes; aber wie es im Sinne der Menschen gemeint war, so war es böse. Auf dieselbe Weise auch, was nicht grade böse gemeint ist – aber doch verkehrt, und in dem Unverstand der Menschen seinen Grund hat, auch das weiß Gott zu seinem Willen zu wenden; und dies ist denn Gottes Werk, jenes aber war Menschen Rath, und konnte nicht bestehen, sondern mußte einen andern Ausgang nehmen, als sie gerechnet hatten. Auf eine andere Weise als so werden wir uns diesen Unterschied niemals können deutlich machen. Was seinem innersten Antriebe nach dem Geiste Gottes angehört, und also mit seinem Willen übereinstimmt, das ist im voraus Gottes Werk von seinem ersten Anfange an. Es kann sich hernach freilich auch unvollkommenes darunter mischen, es kann auch durch menschliches Tichten verunreinigt werden; aber diese fremden Zuthaten sind dann ebenfalls ein Menschen Werk, welches untergehen muß, damit jenes allein | bestehe. Und auf diese Weise werden wir den Unterschied festhalten können. Wo wir nur wissen, was der ursprüngliche Sinn, die eigentliche Absicht eines menschlichen Werkes sei, da werden wir auch unterscheiden können, ob es ein Gottes Werk sei zugleich, und von dem Geiste Gottes gewirkt in der menschlichen Seele, oder ob es ein Menschen Werk sei, nicht aus der Erleuchtung des göttlichen Geistes hervorgegangen, und eben deswegen nur in dem, was Fleisch ist an dem Menschen, begründet. Wenn daher der Rath Gamaliels in unserem Texte sagt, ist es ein Menschen Werk, so muß es untergehen: so ist das ganz dasselbe, als was anderwärts der Apostel sagt, Wer auf das Fleisch säet, der kann auch vom Fleisch nur das Verderben erndten. Was nur auf solche Weise entstanden ist, und nur solchen Grund hat, von wievielen es auch für gut gehalten werde, wie feste Wurzel es gefaßt zu haben scheine: es muß doch untergehen; denn es war schon von seinem Anfang an dem Verderben geweiht. Was war nun aber, m. chr. Zuhörer, in Bezug auf diesen Unterschied zwischen Menschen Werk und Gottes Werk der Rath unseres Mannes? das Wesentliche desselbigen besteht meines Erachtens in Folgendem. Zuerst dachte er selbst sich und wollte, daß auch diejenigen, an die er seine Rede richtete, sich denken sollten, es sei doch eine Möglichkeit, daß das ein von ihnen bisher verkanntes Gottes Werk 1

1 Mos. 50, 20.

38 1] 1. 26–28 Vgl. Gal 6,8

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sei, was sie jezt im Begriff waren, wenn sie die Apostel auch zum Tode geführt hätten, so weit es in menschlicher Macht stand, ganz wieder zu zerstören. Wie war schon dieses edel und groß in diesem Mann! Er war selbst ein Glied jener Versammlung, unter deren | besondere Obhut damals das Gesez des Herrn sammt allen daraus hergeflossenen alten Einrichtungen des Volkes gestellt war, welcher oblag das Volk soviel nur immer möglich bei der ganzen Ordnung des alten Bundes festzuhalten, und was nur irgend davon noch bestand und noch nicht untergegangen war unter den mannigfaltigen Stürmen der Zeit aus allen Kräften zu schüzen; und als ein solcher dachte er sich doch die Möglichkeit, das was Er selbst mit fast allen Angesehenen im Volke von Anfang an verworfen hatte, weil es ganz und gar ihrem Sinne und ihrer Weise widerstrebte, und eben so wenig den Hoffnungen und Erwartungen angemessen war, die sie von der Zukunft hegten, eben dieses könne doch ein Gottes Werk sein. Von dieser Möglichkeit aus sagt er nun, in dem Fall, daß es ein Menschen Werk sei, hätten sie gar nicht nöthig, auf gewaltsame Weise gegen dasselbe einzuschreiten, es werde schon untergehen durch seine eigene Schwäche, so wie durch die unwiderstehliche Kraft der göttlichen Anordnung, und durch alles was auch von Seiten der Menschen aber ohne Gewaltsamkeit und ohne zerstörende Absicht dagegen geschehen werde. Sei es aber ein Gottes Werk, so würden sie es ja nicht dämpfen können; denn was durch sich selbst zur Entwikkelung der göttlichen Rathschlüsse gehört, das vermöge keine menschliche Macht zu dämpfen: aber sie für sich würden dann erfunden als solche, welche gegen Gott stritten. Das also m. a. Fr., das sind die beiden Seiten dieses Rathes; die eine, daß es nicht nöthig sei, gegen das, was Menschen Werk ist, die Gewalt zu Hülfe zu nehmen, die andere die, daß uns nichts übleres begegnen könne, als wenn wir, auch unwissentlich | gegen ein Gottes Werk angehend doch mit unserm Rath mit unserer Mühe nur erfunden werden als solche, die gegen Gott streiten. Was nun den ersten Theil dieses Rathes betrifft, so müssen wir ihn freilich so verstehen, wie er dem Zusammenhange nach und dem Gegenstande nach nur will und kann verstanden werden. Daß nicht Gewalt zu Hülfe gerufen werden dürfe gegen Menschen Rath und Menschen Werk, welches sich thätlich vergreift an dem, was zur göttlichen und menschlichen Ordnung gehört, daran wird keiner von uns zweifeln: aber das ist ganz die Sache derer, denen es obliegt, die menschliche Ordnung in menschlichen Dingen zu handhaben; es ist die Sache derer, denen es obliegt, die Guten zu schüzen gegen die 37 keiner] keine 40–1 Vgl. Röm 13,1–5, bes. 4

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Thaten der Bösen. Dazu aber war der hohe Rath des jüdischen Volkes nicht mehr gesezt, er hatte es nicht mehr zu thun mit dem äußerlichen Leben in seinen verschiedenen Gestalten, mit den Gesezen der bürgerlichen Gesellschaft, – denn diese zu handhaben und zu beschüzen, das war schon in fremde Hände gegeben, – sondern nur mit dem Theil des öffentlichen Lebens unter dem jüdischen Volk hatte es diese Versammlung zu thun, welcher sich in den göttlichen Anordnungen und Gesezen gründete, wie Gott Gaben und Opfer darzubringen seien, wie Gottes Segen durch Gebet und Gehorsam zu erflehen, und wie Jeder sich rein und unbeflekt zu erhalten habe als ein Glied des Volkes Gottes. Keinesweges also war Gamaliels Meinung die, daß, wenn nur der hohe Rath noch das Ansehn gehabt hätte in weltlichen Dingen, und die Apostel hätten sich in der Erfüllung ihres Berufs irgend etwas zu Schulden kommen | lassen, was mit der Ordnung und dem Bestehen der Gesellschaft nicht zu vereinigen gewesen wäre, daß dann nicht auch gegen sie Gewalt hätte gebraucht werden sollen, daß sie dann nicht auch hätten des Todes sterben können, wenn sie ihn nach den Gesezen verdient hätten, das war seine Meinung nicht; denn das lag ganz außer seinem Wirkungskreise. Aber gegen das, was nur geistig gerichtet werden konnte, wenn es auch Menschen Werk ist, ja wenn es auch verderbliches Menschen Werk ist, soll keine Gewalt gebraucht werden. Daß aber nicht dagegen gewirkt und gehandelt werden solle mit der Kraft des Geistes, das hat er ihnen nicht abgerathen, und daran würde er selbst es auch nicht haben fehlen lassen. Hätten sie es über sich gewinnen können, als die, welche auf den Stühlen Mosis saßen und, wie der Herr sagt, die Schlüssel des Himmelreichs hatten, sich in einen Streit einzulassen mit ungelehrten Leuten, wie die Apostel waren, hätten sie es über sich gewinnen können, sie zu widerlegen, mit ihnen zu streiten aus den Offenbarungen Gottes, davon würde Gamaliel sie gewiß nicht zurükkgehalten haben; denn das wäre vielmehr ihre Pflicht gewesen. Hätten sie ihr Ansehn über das Volk gebraucht um dieses zu warnen gegen die Apostel, weil sie sie hielten für Verführer des Volks, welche es ablokkten von der rechten Bahn; hätten sie auch alle die, welche ihnen anhingen und einen Theil ihres Ansehens mit zu genießen hatten, insgesammt aufgefordert, mit allen Kräften des Wortes gegen diese neue Lehre zu streiten, und die neue Ordnung des Lebens, welche die Apostel verkündigten und stifteten, dadurch zu beschämen, daß sie sie durch ihr eignes Leben überboten: wie gern hätte | Gamaliel das alles gewähren lassen, 20 gerichtet] grrichtet 25–26 Vgl. Mt 23,2

33 Verführer] Veführer 26–27 Vgl. Mt 23,13 in Verbindung mit 16,19

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ja sich daran gefreut. Denn nun hätten sie sich miteinander auf dem rechten Kampfplaz befunden, wo diese Dinge müssen geschlichtet werden; und kämpften dann beide Theile auf gerechte Art, so mußte Recht und Wahrheit hervorgehen aus solchem Streit. Aber Gewalt sollten sie nicht brauchen gegen ein Unternehmen, was sich noch gar nicht auf das Gebiet der Gewalt gestellt hatte durch irgend eine Störung, die davon ausgegangen wäre. Gewalt sollten sie nicht brauchen gegen ein offenes Bekenntniß, welches nur von der gewonnenen Ueberzeugung Rechenschaft gab, ohne einen andern Zwekk als nur diese Ueberzeugung mitzutheilen, so wie Petrus sich damals in seiner Rede an den hohen Rath ausgesprochen hatte. Das, m. th. Fr., ist die eine Seite des Rathes, den Gamaliel den Männern vom hohen Rath des jüdischen Volks gab! Die andere ist die, daß er ihnen sagt, wenn es ein Gottes Werk wäre, dämpfen würdet ihr es dann doch nicht können; das muß ja eure eigene Ueberzeugung sein, so gewiß ihr an den Gott eurer Väter glaubet; aber ihr würdet dann erfunden werden als die, welche wider Gott streiten. Wenn es überhaupt wahr ist, daß was in jenem Sinn ein Menschen Werk ist, weil es nicht auf dem Wege zur Erfüllung des göttlichen Willens vorzukommen pflegt, auch nothwendig untergehen muß; und wir wollen uns denken, ein wohlwollendes und wohlgesinntes Gemüth nimmt doch in einem Zustande der Verblendung diese Richtung, auf solche gewaltsame Weise gegen etwas anzugehen, was ihm zwar als ein solches Menschen Werk erscheint, in der That aber ist es ein Werk Gottes; je eifri|ger dann der Mensch alle seine Kräfte an diesen Streit sezt, je beharrlicher er sein Ziel verfolgt, je mehr er sucht auch Andere in dieselbe Richtung hineinzubringen, je gewaltiger also der Kampf entbrennt, den er aufregt, aber endlich kommt dann doch die Stunde, wo das Gottes Werk siegt, und sein Bestreben sich in seiner Nichtigkeit darstellt, so daß aus diesem Erfolge selbst dem eifrigen Streiter erst deutlich wird, was ihm lange hätte deutlich geworden sein können und sollen, aber er war in der Verblendung, und konnte nicht in Ruhe und Stille die Zeichen der Zeit um sich her beachten und prüfen, deren Bedeutung ihm nun freilich ans Licht tritt, nun ihm aus dem Erfolge klar wird, daß das das unrechte war, dem er sein Leben geweiht hatte: kann es einen größern Schmerz geben als diesen? Wenn gar vielleicht erst zulezt, wo es nicht mehr möglich ist umzukehren und einen andern Weg einzuschlagen, dem Menschen deutlich wird, wie weit er von dem rechten Wege abgeirrt ist, daß er edle und große, herrliche und schöne von Gott ihm gegebene Kräfte gebraucht hat auf eine dem Willen Gottes ganz zuwiderlaufende Art, so daß, nun ihm 10–11 Vgl. Apg 5,29–32; auch 4,8–12

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die Schuppen von den Augen gefallen sind, er sich selbst sogar freuen muß, daß das ganze Werk seines Lebens zertrümmert wird: kann es einen tiefern Schmerz geben als diesen? So lange daher als das noch möglich ist, daß wir in Ungewißheit sein können über irgend etwas, ob es ein Menschen Werk ist oder ein Gottes Werk: so lange giebt es keinen weiseren Rath als den, welchen hier Gamaliel seinen Genossen gegeben hat, keinen, der wirksamer sein kann, um wohlmeinende Menschen zurükkzuhalten vom dem Wege des Verderbens, und jeden zu | bewahren, daß er sein Leben nicht in den nichtigsten Bestrebungen verliere, keinen Rath giebt es der zugleich geschikkter sein könnte, um jedem das rechte Licht anzuzünden auf seinem Wege und ihn fähig zu machen zur Erkenntniß der Wahrheit. Darum, m. g. Fr., verbinden wir das Beides mit einander, so wie es in diesem Rath des Mannes liegt, daß wir auf der einen Seite uns hüten vor allem gewaltsamen Einschreiten gegen etwas, was lediglich auf dem Gebiete des Geistes liegt, auf der andern Seite aber uns redlich bestreben, richtig unterscheiden zu lernen Menschen Werk und Gottes Werk: wie werden wir dann, indem wir uns das erste versagen, dem anderen doch genügen können, als eben durch den freiesten, durch den reinsten Austausch der Gedanken und Ueberzeugungen? Denn was wird derjenige, welcher bei sich selbst überzeugt ist, sei es nun eine neue Lehre, oder eine neue Lebensordnung, oder irgend ein neuer an die Gesellschaft gemachter Anspruch, der ihm entgegentritt, sei ein gefährliches und verderbliches Menschen Werk, der aber doch, so lange noch nicht Thaten daraus entstanden sind, welche die Ahndung der Geseze verlangen, sich nicht getraut auf gewaltsame Weise dagegen zu treten: was wird der anders wollen, was für einen andern Weg kann sein Eifer für das Gute nehmen, als daß er, so kräftig er es vermag, seine Ueberzeugung gegen die andere stellt, um sich und den Gegnern deutlich zu machen, was er für heilsam hält, und wovon er glaubt, daß es zum Verderben führe? Und indem so die Liebe zur Wahrheit ihn leitet; indem er sich in solches Verhältniß einläßt, welches ja nur gedeihen kann, wenn er sich eben | so offen zeigt für die Meinung der Andern, als kräftig in der Darlegung der eigenen: was kann aus solchem Bestreben anders hervorgehen, als eine hellere Einsicht? wie können wir besser als so dazu wirken, daß Menschen Werk als Menschen Werk erscheine und schon dadurch untergehe, ehe alle die verderblichen Folgen daraus hervorgehen, die niemals ausbleiben können bei einer zu frühen Einmischung der Gewalt? Und wenn wir die rechte Ueberzeugung davon haben, wie leicht sich in den Verwirrungen dieses Lebens auch die Einsicht der Menschen verwirrt; wie 24 und] uud

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gefährlich es ist, sich zu früh zu entscheiden, so oft neue Gedanken, neue Ansprüche hervortreten gegen das, woran wir uns seit einer Reihe von Jahren gewöhnt haben, was ja in uns auch nicht unser eigenes Werk ist, sondern das Werk vieler vorangegangenen Geschlechter, welches wir nur in uns aufgenommen haben; wie leicht wir in Gefahr kommen können, das neue, was ein Gottes Werk ist, unter solchen Umständen nur für ein verderbliches Werk menschlicher Eitelkeit und menschlicher Selbstsucht zu halten: ja gewiß, wir können es uns nicht ernstlich und oft genug vorhalten, wie leicht wir Gefahr laufen, am Ende doch erfunden zu werden als solche, die gegen Gott streiten! Halten wir uns aber auf jenem Wege, der Gewalt zu entsagen und das Geistige nur durch das Geistige zu richten: dann können wir niemals gegen Gott streiten, dann werden wir jedenfalls Werkzeuge Gottes um die Wahrheit ans Licht zu bringen; dann werden wir jedenfalls ihm dienen, mögen wir, so lange der Streit fortdauert, auf der einen oder auf der andern Seite stehen. Auf diesen allein heilbringenden Weg wollte denn Gama|liel auch die Sache des Evangeliums leiten. Hatte man erst der Gewalt entsagt: so konnte es dann nicht anders kommen, als wie uns bald darauf in der Geschichte der Apostel erzählt wird, daß in den Schulen, auf den öffentlichen Lehrstühlen, im Angesicht des Volks die Vertheidiger des Alten und Neuen gegen einander traten, daß Gründe gegeben wurden für das Evangelium und für das Gesez, und alle Geschichten der Vorzeit, alle Stimmen der Wahrheit hervorgezogen, um das, was Gegenstand des Streites war, zu erhellen. Ja wenn auch hernach wieder dann und wann solche Rükkfälle kamen, daß die Gewalt sich einmischte: so konnte auch das nur dazu beitragen, den Sieg der Wahrheit desto herrlicher zu machen, und die, welche eben dadurch, daß sie Gewalt einmischten[,] ihr Theil an dem Gottes Werk verloren, in ihrer Nichtigkeit darzustellen. Das, m. g. Fr., ist der Rath des Mannes, anwendbar auf Alles, was, wie der damalige Gegenstand, auf dem geistigen Gebiete liegt. Auf dem aber liegt für uns nicht nur, was unmittelbar die Angelegenheiten der christlichen Kirche betrifft; nein, auf diesem geistigen Gebiet liegt überhaupt Alles, was unsere menschlichen Verhältnisse angeht. Alles was, wer es auch sei, im gemeinsamen Leben von dem Bestreben aus wirkt, daß aus dem Guten das Bessere hervorgehe, und daß alle Mängel sollen verbessert werden, so lange dabei nicht eine That eintritt, die vor den Richterstuhl des Gesezes gehört, sondern nur Ueberzeugungen mit ihren Gründen dargelegt werden: so lange bewegt sich Alles auf dem geistigen Gebiet, und da wird Alles nur richtig gehandelt werden gemäß dem Rath dieses Mannes. | 19–25 Schleiermacher bezieht sich wahrscheinlich auf Apg 6,8–7,53.

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II. Aber, wie ich vorher gesagt, es ist zu besorgen, daß in beider Hinsicht, sowohl auf das was unmittelbar die Angelegenheiten der christlichen Kirche, als auf das, was die Angelegenheiten der christlichen Völker betrifft, gegen die Richtigkeit dieses Rathes von vielen wohlgesinnten Menschen werden Einwendungen gemacht werden. Lasset sie uns vernehmen, und suchen sie zu beseitigen. Zuerst unstreitig werden Viele sagen, Dieser Rath sei sehr gut und weise gewesen in dem Munde eines Mannes wie Gamaliel. Er wußte, die Ordnung des Gottesdienstes, die Art, wie die Verhältnisse der Menschen zu Gott bestimmt und aufgefaßt wurden, und wie man ihrer wahrnahm, sollte nicht ewig bleiben; er und alle seine Genossen theilten die Erwartung einer bessern Zukunft. Neues also mußte ihnen noch von oben her gebracht werden; nur ob das, was die Apostel verkündigten, eben dieses sei oder nicht, darüber allein war der Streit. Da sie nun zwar wußten, das, was sie zu vertheidigen hatten, sei doch nicht bestimmt bestehen zu bleiben, von dem bevorstehenden aber keine deutliche Beschreibung hatten: so konnten sie nicht anders als in solcher Ungewißheit sein, und auf diese Ungewißheit, ob etwas Gottes oder Menschen Werk sei, bezieht sich dieser ganze Rath des Gamaliel. Wir aber, so wird dann weiter gefragt, dürfen wir denn behaupten, in ähnlicher Ungewißheit zu sein? wir, denen das Licht des Evangeliums leuchtet, wissen wir nicht, daß uns nichts neues gebracht werden kann, und sind wir daher nicht viel stärker als jene verbunden das zu vertheidigen, | was uns anvertraut ist? müssen wir nicht wissen, daß innerhalb des Gottes Reichs, welches der Herr begründet hat, alles Heil der Menschen liegt, und sich nur von diesem aus weiter entwikkeln kann? müssen wir also nicht schon im Voraus im Stande sein zu unterscheiden, was Gottes Werk ist und was Menschen Werk? Haben wir aber hierüber Gewißheit: so ist uns jener Rath nichts nüze; und wir behaupten vielmehr, gegen das Menschen Werk müsse uns alles auch erlaubt sein, was in unserer Gewalt steht, für das Gottes Werk müssen wir kämpfen mit allen Waffen, die wir ergreifen können, damit es nicht Schaden leide. So wäre demnach, wenn es also liegt, zweierlei zu sagen gegen den Rath unsres Textes. Einmal, daß er auf einer Ungewißheit beruhend, unter welcher wir nicht mehr leiden, den Eifer unterdrükkt, welcher dem Ungewissen zwar nicht geziemt, aber demjenigen nicht nur wohl steht, sondern die pflichtmäßige Stimmung dessen ist, der sich im Besiz der Wahrheit findet. Wohl! was ich indeß dieser Einwendung zugeben kann, ist nur folgendes. Wenn Einer 19 diese Ungewißheit] diese Unge-/heit

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kommt, um uns ein anderes Evangelium zu verkündigen, indem er die Behauptung aufstellt, jezt sei die Herrschaft des Christenthums ihrem Ende nahe, und uns werde jezt von Gott ein anderes Licht gesendet, um uns zu erleuchten: dann sollen wir allerdings gewiß sein, das sei Menschen Werk; aber doch folgt hieraus noch nicht, daß wir dagegen auf andere Weise als mit dem Schwert des Geistes zu kämpfen hätten. So lange selbst die Anhänger einer solchen Behauptung doch nichts anderes thun, als daß sie den Wahn, von welchem sie beseelt sind, als ihre Ueberzeugung geltend zu machen suchen: so ge|bühret auch uns nicht anders als mit dem Worte Gottes, mit den Waffen des Geistes gegen sie zu streiten, mit unserer göttlichen Gewißheit gegen ihren menschlichen Wahn, mit unserer festen Ueberzeugung gegen ihre scheinbare Lehre aufzutreten. Sollten jene hingegen einen anderen Weg einschlagen, sollten sie jemals Gewalt gebrauchen gegen die Gemeinde des Herrn: ja dann wird es auch unser gutes Recht sein, den Schuz derer anzuflehen, welche unter christlichen Völkern nach göttlicher Ordnung verpflichtet sind, die Guten zu schüzen gegen die Bösen. Anders hingegen ist es innerhalb der christlichen Kirche, ach und hier ohne daß einer von beiden Theilen hätte den Namen des Herrn verläugnen oder etwas ganz neues außerhalb seines Reiches, seiner Lehre, seiner Wahrheit, seiner Ordnung hätte suchen wollen, wie viel Streit hat es doch von Anfang an gegeben! wie Vieles ist nach einander aufgestanden, was als Gottes Werk wollte anerkannt sein, und nur Menschen Werk war! wie vieles ist lange Zeit hindurch als Menschen Werk verdammt worden, und war doch Gottes Werk! Gleich in den ersten Tagen des Evangeliums, was für ein heftiger Eifer entbrannte, als die Lehre aufkam, daß die göttliche Gnade in Christo unabhängig sei von der Abstammung von Abraham, von der Theilnahme an den Verpflichtungen des alten Bundes! Und doch war dieses das rechte Gottes Werk; denn darauf beruhete die Verbreitung des Evangeliums unter alle Menschen. Aber wie wurde es für ein Menschen Werk angesehen gleich in den ersten Tagen des Christenthums! wie heftig wurde es als solches bestritten! Und wir, die wir der evangelischen Kirche angehören, wie geschah es in jenen Tagen der Ver|besserung unsers Glaubens und Lebens? wurde sie nicht von dem bei weitem größten Theil der Christen für ein sträfliches Menschen Werk gehalten? und doch sind wir so innig überzeugt, es war ein Gottes Werk, es war die Errettung aus der Finsterniß und dem Verderben, und wissen, daß wir seitdem erst in der Freiheit der Kinder Gottes stehen, und uns an der Kraft des Evangeliums freuen. Warum, m. th. Fr., warum hat der Herr 1 Vgl. Gal 1,6 6 Vgl. Eph 6,17 Röm 8,21 39–40 Vgl. Röm 1,16

16–18 Vgl. Röm 13,1–5

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zugelassen, daß auf solchem Wege sein Reich auf Erden gefördert werden soll? warum denn so viel Streit, als nur, um uns weise zu machen zur Seeligkeit, um uns das zu lehren, daß nicht auf dem leichtesten und ebensten Wege, sondern nur durch das Gegeneinanderwirken der Gemüther die Wahrheit ans Licht kommen kann, und das Licht des Evangeliums desto kräftiger leuchten? wozu anders als um uns weise zu machen zur Seeligkeit, auf daß wir nicht zu schnell seien, uns in einer Meinung festzustellen, und nicht die Kraft des göttlichen Wortes verwechseln mit der so zweideutigen wenngleich oft zauberischen Kraft angewöhnter Vorstellungen, welche nur zu oft ein gar übles Menschenwerk ist, und ganze Geschlechter in verworrener Dämmerung erhält? Darum möge sich keiner anmaaßen weder allein noch in Gemeinschaft mit Andern, daß er im Stande sei bestimmt und mit Sicherheit zu unterscheiden, auch wenn sich jemand wegen seiner Behauptungen oder Bestrebungen auf Christum beruft, und für dieselben in der Ordnung Gottes, in der christlichen Kirche seinen Schuz und seine Vertheidigung sucht, was davon Gottes Werk sei und was verderbliches Menschen Werk – außer nur für sich, wie er es an sich selbst erfährt. Gegen jede Entscheidung im | voraus muß uns die ganze Geschichte der Kirche warnen; und thöricht wären wir, wenn wir glauben wollten, unsere Väter nur wären in diesem Fall gewesen, uns aber sei die volle Weisheit gekommen, und wir wären keines Irthums mehr fähig, wo es darauf ankommt, was in christlichen Dingen und in den Angelegenheiten der christlichen Gesellschaft Menschen Werk oder Gottes Werk sei. Wohl! das geben vielleicht Viele zu; aber dann kann Einer weiter sagen, es kämen doch immer wieder Zeiten, wo wir gewiß werden über dies oder jenes einzelne, was zu christlicher Lehre und Leben gerechnet worden, daß es Menschen Werk ist und nicht Gottes Werk. Haben wir nun diese Gewißheit: dann solle uns auch Niemand unsern Eifer dämpfen und hemmen; dann solle keine Grenze gestekkt werden, was wir dagegen thun dürfen oder nicht, sondern alles was in unsern Kräften ist, wollen wir anwenden, um uns und Andere eines Wahnes zu entledigen, der immer irgendwie ein Gözendienst ist. Hat also Jemand Macht über menschliches Leben, so gebrauche er sie und führe die zum Tode, welche das Menschenwerk aufrecht halten wollen gegen Gottes Werke; hat einer Gewalt über menschliche Ehren und Güter, so beraube er derselben die Anhänger des Menschenwerks, und theile sie nur denen mit, welche für das Werk Gottes arbeiten und streiten. Das wäre denn freilich dem Rath unseres Gamaliel schnurstrakks entgegen, als welcher nicht wollte, daß der hohe Rath die Apostel tödten sollte, wenn ihre Sache auch Menschen Werk wäre, indem dergleichen dann nicht nöthig sei, sondern es von selbst unter-

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gehen werde. Aber ist es etwa der Rath Christi und des Evangeliums? ist es der Rath des|sen, welcher vor einem menschlichen Richter und in Beziehung auf die Gewalt menschlicher Geseze aussagte, wenn mein Reich von dieser Welt wäre, dann würden meine Diener darob streiten auch mit dem Schwerdt? Wollen wir also auf irgend eine Weise mit dem weltlichen Schwerdt für irgend etwas kämpfen, das zu dem Reiche Christi gehört: so bezeugen wir, daß wir sein Reich für ein weltliches halten; so wird der uns verläugnen, daß wir nicht seine Bekenner sind, dem wir auf so verkehrte Weise dienen wollen. Und das erstreckt sich auf alles die geistigen Angelegenheiten der Menschen betreffendes, was nicht vermöge der Thaten, in denen es sich äußert, unter die Gewalt der Geseze fällt. Sollte der je zur Gewalt gerathen haben, der, auch wo man ihn gar nicht aufnehmen wollte, sondern sich alle Gemeinschaft mit ihm verbat und ihn solchergestalt aus dem Gebiet vertrieb, dennoch zu seinen Jüngern, welche Feuer vom Himmel fordern wollten über die, welche den Herrn nicht in ihren Grenzen leiden mochten, sagte, Wisset ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Donnersöhne nannte Er sie deswegen; aber Er gab ihnen zu bedenken, ob sie nicht wüßten, daß sie Kinder des Gottes seien, der seine Sonne aufgehen läßt über Böse und Gute, und regnen über Gerechte und Ungerechte. Will auch Einer Christum nicht annehmen: was kann ein solcher für uns anders sein, als ein Gegenstand unserer mitleidigsten Liebe? will Einer auch aus allen Kräften dem Reich Christi entgegenwirken: was für einen schönern oder überhaupt welchen andern Gewinn könnten wir dem Herrn daraus ermitteln, als wenn wir suchen des Widersachers Seele zu gewinnen? Den Wahn aber kann keiner haben, | daß die gewonnen werden könne, gegen die man äußere Gewalt anwendet; den kann der nicht haben, der den Sinn des Apostels in unserer heutigen epistolischen Lection begriffen hat, daß die Furcht sich nicht mit der Liebe vertrage. Denn die Furcht treibet die Liebe aus, eben wie die Liebe die Furcht austreibt; und wer in der Liebe ist und lebt, kann nicht wirken wollen durch die Furcht. Dieser Mann, m. a. Fr., als er jene Worte redete, hatte einen Schüler, der zu seinen Füßen saß; der hieß Saul. Dem war aber in seinem jugendlichen Feuereifer diese Weisheit des Greisen zu hoch und zu tief, und genügte ihm nicht. Und wie in dem alten Bunde geistliches und weltliches untereinander gemischt war: so konnte auch einer leichter glauben, daß es dem angemessen sei der Kraft des Wortes 3–5 Vgl. Joh 18,36 13–17 Vgl. Lk 9,52–54 17–18 Lk 9,55 18 Vgl. Mk 3,17 19–21 Vgl. Mt 5,45 29 Als Epistellesung für den 1. Sonntag nach Trinitatis sah die Perikopenordnung 1Joh 4,16–21 vor. 30–31 Vgl. 1Joh 4,18 31–32 Vgl. 1Joh 4,16 33–34 Vgl. Apg 22,3

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auch die Gewalt beizugesellen. So that nun auch Saul; er begnügte sich nicht damit, die Bekenner des neuen Glaubens anzugreifen mit der Schärfe des Wortes, die ihm in so hohem Grade zu Gebote stand, sondern er wollte jenes Menschen Werk auch vertilgen durch die Gewalt. Aber ganz vergeblich war doch auch für ihn dies weise Wort seines Lehrers und Meisters nicht gewesen. Als er, ehe das Licht vom Himmel ihn umleuchtete, auf dem Wege nach Damascus war, im Begriff viele Gläubigen ihrer Freiheit zu berauben und zu peinigen: da mag ihm doch wohl ab und zu eingefallen sein, was sein Lehrer gesagt hatte, Hütet euch, daß ihr nicht erfunden werdet als solche, die wider Gott streiten! Und darum, als die Stimme an ihn gelangte, Saul! es wird dir schwer werden wider den Stachel auszuschlagen, welcher die menschlichen Dinge vorwärts treibt: da ergab er | sich in den Willen Gottes, daß nicht nur das äußerliche Licht vom Himmel ihn umleuchtete, sondern auch das Licht der Wahrheit in seine Seele hineinschien, und er nun ein solcher Verkündiger des Evangeliums wurde, welcher in seiner ganzen Wirksamkeit keiner andern Regel als den beiden Sprüchen folgte, zuerst daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum guten mitwirken müssen, und dann daß wir, die wir dem guten dienen, das böse nicht anders überwinden sollen als durch gutes. Das ist der Rath des Schülers, des von dem göttlichen Geist erleuchteten, er ist ganz derselbige wie der Rath seines Lehrers. Nur, wenn wir dem folgen, werden wir auf christliche Weise das Reich Gottes erbauen können; nur wenn wir dem folgen, können wir göttliche Werkzeuge sein auch in allen menschlichen Dingen; nur wenn wir dem folgen, werden wir uns aus den Verwirrungen der Zeit glükklich herausfinden, und für uns und unsere Nachkommen dem Reiche Gottes breitere und ebenere Bahn machen. Dazu leite uns denn der Geist Gottes, welcher zugleich ist der Geist der Wahrheit und der Geist der Liebe! Amen. Lied 313, 2.

6–8 Vgl. Apg 9,1–3; 26,12f; ferner 22,6 11–12 Vgl. Apg 26,14 18–19 Vgl. Röm 8,28 19–20 Vgl. Röm 12,21 31 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 313: „Seht, was der Herr der Kirche thut“ (Melodie von „Ich bin ja, Herr, in deiner Macht“); die 2. und letzte Strophe lautet: „Der Sünde Reich wird untergehn, dein Reich, o Jesu, wird bestehn und deine Herrschaft ewig währen. Du bist der Kirche starker Schutz und diesen Felsen wird kein Trutz der Höllenpforten je zerstören. Erhalte sie dir stets getreu, daß sie dein Ruhm und Erbe sey!“

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2. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 5,1–20 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 232–244, Nr. XIX; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 525, 1–4.

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Tex t . Marcus V, 1–20. „Und sie kamen jenseit des Meers in die Gegend der Gadarener. Und als er aus dem Schiff trat, lief ihm alsobald entgegen aus den Gräbern ein besessener Mensch mit einem unsauberen Geist, der seine Wohnung in den Gräbern hatte. Und niemand konnte ihn binden, auch nicht mit Ketten. Denn er war oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen, und hatte die Ketten abgerissen, und die Fesseln zerrieben, und niemand konnte ihn zähmen. Und er war allezeit, beides Tag und Nacht, auf den Bergen, und in den Gräbern, schrie, und schlug sich mit Steinen. Da er aber Jesum sah von ferne, lief er zu, und fiel vor ihm nieder, schrie laut, und sprach: Was habe ich mit dir zu thun, o Jesu, du Sohn Gottes des Allerhöchsten! Ich beschwöre dich bei Gott, daß du mich nicht quälest. Er aber sprach zu ihm: Fahre aus, du unsauberer Geist von dem Menschen. Und er fragte ihn: Wie heißest du? Und er antwortete, und sprach: Legion heiße ich, denn unser ist viel. Und er bat ihn sehr, daß er sie nicht aus der|selben Gegend triebe. Und es war daselbst an den Bergen eine große Heerde Säue an der Weide. Und die Teufel baten ihn alle, und sprachen: Laß uns in die Säue fahren. Und alsobald erlaubte es ihnen Jesus. Da fuhren die unsauberen Geister aus, und fuhren in die Säue; und die Heerde stürzte sich mit einem Sturm ins Meer, (ihrer waren aber bei zweitausend) und ersoffen im 4 trat,] trat; 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 525: „Herr Jesu Christ, mein höchstes Gut“ (Melodie von „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“)

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Meer. Und die Sauhirten flohen, und verkündigten das in der Stadt, und auf dem Lande. Und sie gingen hinaus zu sehen, was da geschehen war. Und kamen zu Jesu, und sahen den, so von den Teufeln besessen war, daß er saß, und war bekleidet und vernünftig, und fürchteten sich. Und die es gesehen hatten, sagten ihnen, was dem Besessenen widerfahren war, und von den Säuen. Und sie fingen an und baten ihn, daß er aus ihrer Gegend zöge. Und da er in das Schiff trat, bat ihn der Besessene, daß er möchte bei ihm sein. Aber Jesus ließ es ihm nicht zu, sondern sprach zu ihm: Gehe hin in dein Haus, und zu den Deinen, und verkündige ihnen, wie große Wohlthat dir der Herr gethan, und sich deiner erbarmet hat. Und er ging hin, und fing an auszurufen in den zehn Städten, wie große Wohlthat ihm Jesus gethan hatte. Und jedermann verwunderte sich.“

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Es ist hier Alles so sehr zusammenhängend und Eine und dieselbe Geschichte, daß, wenn gleich ungewöhnlich groß, ich doch diesen Abschnitt unsers Evangeliums nicht theilen konnte | und trennen; aber es ist auch nun dessen, was wir weder an und für sich noch auch in der Erzählung unseres Evangelisten genau verstehen können, darin so Manches, daß wir uns bei dem begnügen und an das allein halten müssen, wie wir auch genug daran haben werden, was uns einigermaßen wenigstens verständlich ist. Ich will aber zuerst aufmerksam machen auf etwas, was mir eben bei dieser Veranlassung besonders auffiel und vielleicht leicht übersehen wird. Es ist offenbar, daß der Ort, wo der Erlöser auf dem Schiffe und mit dem Schiffe landete, nicht ursprünglich dazu bestimmt war, nicht ein gewöhnlicher Landungsplatz; denn er kann zwar nicht sehr weit entfernt gewesen sein von der Stadt, welche hier genannt wird, verschieden von verschiedenen Evangelisten, denn theils waren die Gräber da in der Nähe, theils konnten auch die Menschen, von welchen da erzählt wird, in der Zeit, in welcher der Erlöser sich da aufhielt, hin- und zurückgehen in die Stadt, und auch aus der Stadt welche zu ihm kommen; aber doch war es gewiß nicht der Ort, wo man, wenn man aus der Stadt kam, zu Schiffe zu steigen pflegte; denn es war eine unbewohnte Gegend, wo die Heerden weideten, und der Begräbnißplatz war für die Stadt. Offenbar nun war es die Noth des vorhergegangenen Sturmes, welche die das Schiff führten zwang, dort zu landen, und wenn wir sehen, daß der Erlöser sich länger da aufhielt: so mag 27–28 Die zeitgenössischen Lutherübersetzungen bieten in Mk 5,1 und Lk 8,26 „Gadarener“, was auf die Stadt Gadara, in Mt 8,28 „Gergesener“, was auf die Stadt Gergesa führen würde. Nach verschiedenen griechischen Handschriften zu allen drei Stellen kämen darüber hinaus noch die Städte Gerasa, Gaza und Gergysta bzw. Gergyste in Betracht. 34–35 Vgl. Mk 4,35–41

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das seinen Grund darin gehabt haben, daß, wie wir vorher lesen, das Schiff voll Wasser war, und es mancherlei in dieser Beziehung zu ordnen gab. Worauf ich nun aufmerksam machen will in dieser Beziehung, ist das, wie der Erlöser auch dem unterworfen war, in Beziehung auf seine Handlungen und Erfolge vielfältig abzuhangen von dem, was wir als das Zufällige in dem Leben anzusehen pflegen. So war es in dieser Beziehung zufällig, daß, als er gesprochen zu seinen Jüngern, nun lasset uns hinüberfahren über den See, | während dieser nicht langen Fahrt der Sturm ausbrach und sie in diese Gegend führte, und doch hing davon nun dieses ab, was wir neulich gelesen, daß viele Menschen einen Eindruck von Jesu bekamen, den sie sonst nicht hätten bekommen können, indem sie sprachen, wer ist doch der, daß Wind und Meer ihm gehorsam sind. Aber ebenso hing auch dieses von einem scheinbaren Zufall ab, daß der Erlöser Gelegenheit bekam, diesen Menschen aus seinem uns freilich unbegreiflichen aber doch gewiß höchst elenden und traurigen Zustande zu befreien. Nun ist freilich niemals die Meinung, wenn wir von irgend etwas in menschlichen Dingen diesen Ausdruck des Zufälligen gebrauchen, daß es etwas ganz Ohngefähres ist; sondern wir meinen nur das Zusammentreffen von menschlichem Wirken und Handlungen mit solchen Umständen, welche nicht aus seinem Willen herrühren, und das Abgelenktwerden des Menschen durch sie in das, was er nicht will, und das Bestimmtwerden dessen, was erfolgt. An diesen Ort wäre der Erlöser vielleicht niemals gekommen, und dieser Mensch wäre niemals in seine Nähe gekommen, wenn nicht dieser Sturm gewesen wäre, der doch auch eingegriffen in den Erfolg des Erlösers und in seine Einwirkungen auf die Menschen. Ist bald Kleines, bald Großes und Wichtiges, was sich auf diese Weise ereignet; finden wir, daß der Erlöser auch in Beziehung auf das Einzelne in seinem Leben, und nicht nur auf das Aeußere sondern auch auf das, wozu er nach dem Willen seines Vaters in die Welt gesandt war, auch unter diese Verflechtung der menschlichen und irdischen Dinge gestellt war: nun, so können wir wol um so getroster alles dieses immer nur ansehen als von Gott so bestimmt und geordnet, um alles Einzelne in der Welt in den Zusammenhang zu bringen, aus welchem die Erfüllung seiner göttlichen Rathschlüsse im Einzelnen hervorgeht. Und es ist nur für unser beschränktes Denken, wenn wir uns den Gegensatz vorstellen, daß das Allgemeine wol geordnet sei | nach großen allgemeinen Gesetzen, das Einzelne aber etwas Zufälliges; denn in dem und für den, der Alles ordnet, 1 vorher] nachher 1–2 Vgl. Mk 4,37 über Mk 4,35–41 rung Mt 8,27

7–8 Vgl. Mk 4,35 9–10 Vgl. die Predigt am 17. Juni 1832 11–12 Vgl. Mk 4,41; noch näher an Schleiermachers Formulie-

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ist dieser Unterschied nicht vorhanden, und das Eine dem Andern nicht entgegen. Was nun aber den eigentlichen Gegenstand der Erzählung betrifft: so ist eben darin gar Vieles uns dunkel. Die Art, wie dieser menschliche Zustand hier und an anderen Orten in den Evangelien beschrieben wird, es sei ein Besessensein gewesen mit einem unsauberen Geist, das ist eine Vorstellungsweise, die uns jetzt nicht mehr geläufig ist, und das ist ein Wechsel, welchen wir häufig finden, besonders nach einem großen Zeitraume, was zu einer Zeit allen Menschen klar ist und geläufig, aber nur deswegen, weil es häufig unter ihnen gesehen wird, daß das in einer anderen Zeit nicht mehr verstanden wird. Aber dann entsteht auch oft ein Herumsuchen, sich anders darüber auszudrücken, dem nicht immer vollständig genügt werden kann. Wenn wir uns vorstellen sollen, daß in einem Menschen eine Menge von unsauberen Geistern wäre: so vermögen wir nicht, diese Vorstellung zu Stande zu bringen; wir können uns bemühen, uns vorzustellen, wie dieser Zustand den Menschen beengt, wenn wir uns denken können dieses Hineinkommen der bösen Geister in den Menschen, die ihn regieren; aber wenn wir auf der anderen Seite uns das genauer vorstellen sollen: so stoßen wir auf viele Schwierigkeiten, uns das in der That deutlich zu machen. Aber wir können auch nicht anders sagen, als der, welcher unsere Erzählung verfaßt hat, ist in demselben Fall gewesen, wie wir; denn wenn wir sie genau betrachten: so sehen wir, daß auch seine Vorstellung nicht zusammengestimmt habe. Erst drückt er sich so aus, als ob der Mensch geredet, denn er sagt, dieser besessene Mensch, als er Jesum sah, „fiel er nieder und sprach: was habe ich mit dir zu schaffen, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott, daß du mich nicht quä|lest.“ Schwerlich konnte er sich doch das so vorgestellt haben, daß der böse Geist in dem Menschen sich dieser Worte bedient: ich beschwöre dich bei Gott; denn der konnte doch unmöglich an Gott denken, in Beziehung auf Gott etwas von Einem verlangen. Dann erzählt er weiter, daß Jesus gesprochen, „fahre aus, du unsauberer Geist,“ also daß Jesus nicht den Menschen sondern den unsaubern Geist in ihm angeredet. Aber wenn wir sonst immer lesen, daß die Geister dem Herrn augenblicklich gehorchten: so geschah das hier nicht, sondern nachdem Jesus gesprochen, fahre aus, du unsauberer Geist[,] von dem Menschen, fragte er ihn wieder, „wie heißest du?“ Ob das eine Frage an den Menschen oder an den Geist war, das ist nicht deutlich zu unterscheiden; aber gewiß ist, daß wenn der Erlöser diese Frage an jenes Gebot knüpfte: so glaubte er nicht, daß das Gebot seine Wirkung gehabt. Und nun antwortete der Geist, „Legion heiße ich, denn unser ist viel.“ In dieser Antwort finden wir dieselbe Verwirrung. Legion war der Name, der damals gebräuchlich war von einer zahlreichen Ordnung von 32–33 Vgl. Mt 9,32f; 12,22; 15,21–28; Mk 7,24–30; 9,25f; Lk 11,14

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Kriegern, also einer großen, bedeutenden Menge. Wenn der Mensch nun in seinem Namen sagte, Legion heiße ich, denn unser sind Viele: so hätte er eigentlich sagen müssen, denn der Geister, die in mir sind, sind viele; sagte er aber, der Geister sind viele: so konnte er nicht den Namen einer Menge führen, denn er war ja Einer. So scheint das auch unklar; und ebenso nachher, wo gesagt wird, „er bat ihn sehr, daß er sie nicht aus derselben Gegend triebe,“ wo man nicht weiß, ist es der Mensch, der in seinem Namen für die bösen Geister bittet, oder ist es ein Geist, der in seinem Namen für alle übrigen bittet. Und so sehen wir, wie der Erzähler selbst von der eigenthümlichen Beschaffenheit des Uebels keine deutliche Vorstellung hatte. Können wir uns nun ein solches in Besitz Genommenwerden des Menschen nicht nur von Einem fremden Geist sondern | von mehreren nicht vorstellen, sehen wir, daß die, welche diese Vorstellung haben, so von der Sache reden, daß wir sehen, es ist das eine ganz verworrene Vorstellung gewesen: so können wir uns auch nicht aufgefordert finden, uns diese Vorstellung als eine allgemeine Wahrheit zu denken; sondern dieses, was eigentlich der Grund dieses Zustandes gewesen sei, müssen wir dahin gestellt sein lassen und unentschieden, mit welchem Rechte so davon gesprochen wurde. Nun aber, was wir suchen müssen zu verstehen, so weit es nur möglich ist, das ist offenbar die Handlungsweise des Erlösers, und diese hat hier allerdings etwas, was auf den ersten Anblick uns auffallen kann und ungewöhnlich vorkommen. Wir finden überall die Erweisungen der dem Erlöser verliehenen übermenschlichen Kräfte gerichtet auf das Wohlsein der Menschen, sie zu befreien von dem, was sie quälte und drückte, was sie unfähig machte, in Ruhe und Frieden die Botschaft, die er den Menschen brachte, anzuhören und ihren Beruf in der Welt zu erfüllen. Von solchen Uebeln suchte er sie zu befreien, und das war denn auch das, was er hier that; denn wie wir uns auch diesen Zustand denken mögen: so werden wir doch alle übereinstimmen, es kann nichts tiefer den Menschen Erniedrigendes geben, nichts das uns mehr mit einem Schauder erfüllt, als ein Zustand des Gemüths und Lebens, der mit irgend einem Recht konnte bezeichnet werden als ein Besessenwerden von bösen Geistern. So ist denn alles das, was hier erzählt wird, aus diesem Gesichtspunkt hervorgegangen, das zu versinnbildlichen, was bei uns der Zustand der höchsten Entfremdung des Geistes von der natürlichen Ordnung, der Zustand der Raserei mit sich bringt, eine Gewalt des Körpers hervorbringend, welche nicht gezähmt werden kann, eine Dumpfheit des Geistes, eine beständige Geneigtheit zu dem ausschweifendsten Treiben, eine Unfähigkeit zu geregelter Thätigkeit. Daß nun also der Erlöser, zumal | als dieser Mensch ihn selbst anredete, sich seiner Kraft bediente, um ihn von diesem Uebel zu befreien, ja, das ist freilich das, was ein Jeder, wenn er die Geschichte anfängt zu lesen, sich schon im voraus denkt; aber daß nun mit dieser Heilung der Erlöser sich zu etwas

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verstand, wodurch so vielen Menschen, welche die Eigenthümer dieser Heerden waren sowol in der Stadt wie auf dem Lande, denn das müssen wir schließen, wenn erzählt wird, „und die Sauhirten flohen und verkündigten das in der Stadt und auf dem Lande“ – wodurch diesen ein so bedeutender Schaden zugefügt wurde, das muß uns befremden. Denn wenn uns erzählt wird, daß die Geister ihn baten, er sollte sie in die Säue fahren lassen, und er sich der Bitte fügte und ihnen die Erlaubniß dazu gab: so kann uns das nicht anders als befremden, und wir müssen uns fragen, wie ist diese Nachgiebigkeit des Erlösers zu erklären? Er war sich gewiß seiner Herrschaft über die bösen Geister bewußt, und er hätte gewiß ihnen noch anders gebieten können, er hätte ihnen gebieten können, den Menschen zu verlassen, ohne eine solche That zu vollführen. Ja, wenn wir uns dieses buchstäblich erklären sollen, wie es hier erzählt wird, als eine Erlaubniß, welche der Erlöser gegeben, und den Erfolg als durch diese Erlaubniß entstanden: so werden wir uns das schwerlich mit seiner sonstigen Handlungsweise zusammendenken können. Aber lasset uns einmal die Lage der Sache betrachten, wie sie war, ehe der Erlöser hinkam. Ist es nicht ein großes Uebel, aber auch eine gefährliche Nachlässigkeit, daß die Bewohner der Gegend diesen Menschen sich ganz selbst überließen? Und hatte er sich die Berge und Gräber zu seinem Wohnsitze ausersehen, und war in seinem Krankheitszustande mit solcher Wildheit und körperlichen Kraft begabt, und sie ließen da ihre Heerden weiden und Menschen dabei, die nicht im Stande waren oder nicht Lust hatten, sich mit solchem Menschen in einen Streit einzulassen: so hatten sie | dem, was geschah, sich selbst bloß gegeben, und es war ihre eigene Schuld, wenn sie Schaden litten, und sie hätten sich dessen längst versehen können. Nun werden uns auch gar keine besonderen Worte des Erlösers angeführt, wodurch er ihnen das erlaubt, und wir wissen nicht wie viel Antheil er dabei genommen, und wie viel auf seine Rechnung kam, aber das können wir wol sehen, daß ein Zusammenhang war zwischen dieser letzten Wuth und dem Ende des Uebels; aber der Schaden, der geschah, und die Schuld davon ist doch nur der Sorglosigkeit derer zuzuschreiben, die ihn erlitten. Nun aber ist noch Eins in dieser Geschichte, nämlich das Verhältniß des Erlösers zu eben diesem Menschen, und es kann uns wundern, daß erzählt wird, daß, als der Erlöser in Begriff war, in das Schiff zu treten und auf das andere Ufer, wo er sich gewöhnlich aufhielt, hinüberzufahren, dieser vorher Besessene ihn um Erlaubniß bat, mit ihm zu gehen, und dieses der Erlöser nicht gestattete, sondern ihm sagte, er solle in sein Haus gehen und zu den Seinigen, und ihnen verkündigen, welche große Wohlthat der Herr ihm gethan. Also fragt sich nun, wie wir uns die abschlägliche Antwort des Erlösers zu erklären haben. Wenn wir uns von der Sache so viel klar vorzu35–40 als der Erlöser ... der Herr ihm gethan.] „als der Erlöser ... der Herr ihm gethan.“

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stellen suchen, als uns möglich ist: so werden wir sagen, wie verwildert auch dieser Mensch mag gewesen sein und wie abgesondert von den Menschen er lebte: so mußte er doch von Christo gehört haben, und dadurch ist er, als er ihn an das Land steigen sah, dazu gekommen, zu ihm zu reden, o Jesu, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten, ich beschwöre dich bei Gott, daß du mich nicht quälest. Und so müssen wir wol sagen, wenn in seinem verwirrten Gemüth sich dieses eingeprägt habe, daß er den Erlöser so anreden konnte: so mußte doch in dieser gänzlichen Verworrenheit eine Richtung in ihm gewesen sein, | wonach er das, was er von dem Erlöser hörte, von allem Anderen unterschied, so daß er Gebrauch davon machen konnte. Und so müssen wir sagen, es war nicht nur etwas Menschliches sondern das beste Menschliche in ihm zurückgeblieben, vermöge dessen das, was er früher von ihm gehört, dadurch angeregt werden konnte, daß er ihn jetzt sah. Und je weniger dieses dem Erlöser entgangen sein konnte: um so mehr hätten wir wol denken sollen, daß er ihm seine Bitte würde gewährt haben, ihn mitzunehmen. Daß er es nicht that, mag seinen Grund gehabt haben einmal in den Verhältnissen des Menschen selbst und dann in den Beziehungen des Erlösers. Ihm mag er es für nöthig gehalten haben, ein gewöhnliches Leben in der alltäglichen Ordnung der Menschen zu führen, damit er sich ganz wieder gewöhne an die Gesetze unseres irdischen menschlichen Daseins und seine Kräfte nach den Gesetzen desselben zu gebrauchen lerne. Das stellt er ihm aber von der Seite dar, er sollte zu Hause bleiben bei den Seinen, um die große Wohlthat zu verkündigen, die Gott ihm gethan; und da faßte er allerdings diese höhere bessere Richtung in dem Menschen auf und zeigte ihm, daß er, wenn er in seinen ordentlichen Verhältnissen bliebe, doch könnte dem Triebe, der in ihm war, genügen und ein Verkündiger der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit werden. Aber es hatte auch seinen Grund in den Verhältnissen des Erlösers selbst, daß er einen Menschen, der aus einem solchen Zustande kam, nicht wollte in seinen näheren Umgebung haben, theils weil in dieser so viel Ungewöhnliches, Außerordentliches vorfiel, das leicht wieder den Zustand der Ordnung in seinem Gemüthe hätte stören können, theils weil er einen Solchen, der noch so wenig befestigt war in der Führung des menschlichen Lebens nach der Ordnung und in den Gesetzen desselben, nicht wollte in seiner Umgebung haben; sondern wenn er darin würde eingeübt sein, wenn er erst wieder Erfahrung würde gewonnen haben von dem, was in | dem Leben sich ereignet, wenn er erst ein regelmäßiges, besonnenes Leben würde geführt haben: dann würde er ihm willkommen gewesen sein, um unmittelbar in seinem Dienste gebraucht zu werden. Aber kann man wol sagen, daß dieser die Anweisung, welche der Erlöser ihm gegeben, genau befolgt habe? Er hat doch den Trieb, welcher in 31 den Zustand] der Zustand

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ihm war, nicht überwinden können, er ist nicht zu Hause geblieben bei den Seinigen, er hat sich nicht in der Stille des häuslichen Lebens niedergelassen, sondern es wird erzählt, „er ging hin und fing an auszurufen in den zehn Städten, eine wie große Wohlthat Jesus ihm gethan hatte.“ Das war ein besonderer Umkreis, eine Landschaft des Jüdischen Landes, und wenn er da verkündigte, so ist er umhergezogen in der guten Absicht, zu verkündigen, was Jesus ihm gethan, und so hat er denn freilich dazu gedient, die Aufmerksamkeit jener Gegend auf Jesus hinzulenken; aber die gute Absicht des Erlösers an ihm wird wol schwerlich erreicht worden sein, weil er seinen Rath nicht befolgte. Je regelmäßiger und einfacher das Leben würde gewesen sein, was er begonnen hätte: um desto schneller gewiß, kräftiger und sichtbarer würde die gehörige Ordnung in sein Gemüth zurückgekehrt sein. Aber wir wissen nun von seiner Geschichte nichts weiter, und wir wollen auch nicht besorgen, daß eben dieses, wenn gleich ein Ungehorsam gegen die bestimmte Anweisung des Herrn, weil es doch aus einem solchen Triebe, ihn zu verkündigen und die Menschen durch seine Verkündigung ihm zuzuführen, hergekommen ist, daß ihm das zu einem bleibenden und dauernden Nachtheile gereicht habe. Wir sehen aber hier wieder die große Gewalt, die der Erlöser – denn dieser Ungehorsam thut derselben doch keinen Abbruch – wir sehen die große Gewalt, die der Erlöser aus|übte über das menschliche Gemüth im Einzelnen; denn es ist nicht die Rede hier bloß von der unbegreiflichen, wodurch er dem verwirrten Zustand des Menschen ein Ende machte, sondern auch wie er durch sein Ansehen so auf ihn wirkte, daß er vernünftige Reden führte, sich in der Nähe des Erlösers wohlbefand, mit ihm Gespräche führte in Gemeinschaft mit denen, die ihn begleitet hatten. Der Grund also zu der Ordnung in seinem Gemüthe der war gelegt, unabhängig von der wunderbaren Wirkung des Erlösers, als die unmittelbare Wirkung seiner auf bestimmte Weise wahrgenommenen Nähe. Das nun aber ist das Allgemeine seiner Wirksamkeit. Der Zustand der Menschen, die abgeschlossen sind von der Gemeinschaft mit dem Erlöser, ist freilich nicht immer ein solcher, wie er hier uns dargestellt wird; aber doch werden wir sagen, in dem Tichten und Trachten der Menschen, welche nicht das Ziel der Vereinigung mit Gott im Auge haben, welches der Erlöser uns vorgehalten hat, die zwar in einer Ordnung leben, aber es ist nicht die des Reiches Gottes, da ist eben so viele Abweichung, sie sind ebenso wenig auf dem Wege, zu dem rechten Ziele zu gelangen, wie der Unglückliche in unserem Evangelio, und überall ist dasjenige, was uns an ihn festhält, was uns den Weg bahnt und ebnet, auf welchem wir durch die enge Pforte des Heils eingehen können, es ist die 4–5 Die sog. Dekapolis war das Gebiet eines im 1. vorchristlichen Jahrhundert gegründeten Bundes von zehn freien Städten (Stadtstaaten) hellenistischen Ursprungs, zum größten Teil im nordöstlichen Ostjordanland gelegen. 38–39 Vgl. Mt 7,13; Lk 13,24

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unmittelbare Wirkung von der Nähe des Erlösers, nicht mehr der leiblichen sondern der geistigen, die unser Gemüth in der festen Ordnung erhält, unseren Tritt in der Welt sicher macht, und uns dahin führt, wozu er die Menschen zu leiten in die Welt gekommen ist. Je mehr nun ein Jeder sich bewußt ist, aus einem solchen Zustande der Verwirrung durch ihn in die Ordnung errettet zu sein: um so mehr sollen auch wir alle dieses Bestreben theilen, die Wohlthat, welche der Erlöser uns gebracht hat, zu verkündigen und die | Menschen ihm zuzuführen, Zeugniß zu geben von ihm und so viel als möglich in unmittelbarer Gemeinschaft mit ihm zu leben, und in diese nimmt er gewiß alle die auf, welche sich an nichts mehr erfreuen und nichts höher achten als seine fortwährende geistige Gegenwart unter uns. Amen. Lied 525, 5.

13 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 525: „Herr Jesu Christ, mein höchstes Gut“ (Melodie von „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“)

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Am 8. Juli 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

3. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 6,1–5 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 154–172, Nr. IX SW II/3, 1835, S. 303–314; 21843, S. 316–327. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 368–377 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 3. Sonntage Trinitatis.

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Lied 42. 505. Text. Apostelgesch. VI, 1–5. „In den Tagen aber, da der Jünger Viele wurden, erhob sich ein Murren unter den Griechen wider die Ebräer, darum daß ihre Wittwen übersehen wurden in der täglichen Handreichung. Da riefen die Zwölfe die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es taugt nicht, daß wir das Wort Gottes unterlassen und zu Tische dienen. Darum, ihr lieben Brüder, sehet unter euch nach sieben Männern, die ein gutes Gerücht haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, welche wir bestellen mögen zu dieser Nothdurft. Wir aber wollen anhalten am Gebet und am Amt des Wortes. Und die Rede gefiel der ganzen Menge wohl.“ 155

Was uns hier mitgetheilt wird, m. a. Fr., war ein wichtiger Fortschritt in der Einrichtung der christlichen Ge|meinde, welcher aber allerdings, wie es auch erzählt wird, erst nachdem diese zu einer gewissen 9 nach] noch 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 42: „Zeige dich uns ohne Hülle“ (Melodie von „Schmücke dich, o liebe Seele“); Nr. 505: „Was bring ich dir, o Gott, für Gaben“ (Melodie von „Dir, dir, Jehova, will ich singen“)

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größeren Zahl herangewachsen war, sich als nothwendig erweisen konnte. Denn in allen menschlichen Dingen erkennen wir das immer als eine Verbesserung, wenn die Arbeiten und Geschäfte nach ihrer Verschiedenheit auch unter Verschiedene vertheilt werden. Früher, wie wir aus unserer Erzählung sehen, hatten die Apostel des Herrn gemeinschaftlich die ganze Leitung der Gemeinde ungetheilt übernommen sowohl das Innere, nämlich die Lehre nach dem Worte Gottes, als auch das Aeußere, nämlich die gegenseitige Hülfsleistung und alles was dazu gehört. Hier wird uns nun erzählt, wie beides von einander getrennt wurde, die Apostel sich das Eine vorbehielten und den Christen anheim gaben, für das Andere sich andere Männer zu wählen, und wie dies allgemeinen Beifall fand und seitdem auch in allen christlichen Gemeinden, wie sie bald darauf an verschiedenen Orten entstanden, nachgeahmt wurde. So lasset uns denn, m. chr. Zuhörer, an diesem Beispiel sehen, auf welche Art und Weise innerhalb der christlichen Kirche Verbesserungen in menschlichen Dingen zu Stande kommen. Das Erste, was uns unsere Erzählung lehrt, ist offenbar dies, daß sie hervorgehen aus Mängeln und Gebrechen, welche sich bemerklich machen; aber dann freilich lasset uns aus derselben Erzählung auch zweitens lernen, was für eine Gesinnung und was für eine Handlungsweise dazu erfordert wird, damit bemerkte Mängel und Unvollkommenheiten auch wirklich Verbesserungen zur Folge haben können. | I. Allerdings kann uns das für den ersten Augenblick sonderbar dünken und unwahrscheinlich, daß Verbesserungen nur sollten hervorgehen aus Mängeln und Unvollkommenheiten, die vorher müßten da gewesen sein. Wo einmal etwas gutes ist, ein Keim des Lebens und Gedeihens, sollte der nicht, wie wir es überall in der Natur sehen, von seinen ihm einwohnenden Kräften aus sich weiter entwikkeln und auch weiter verbreiten, seine ganze Gestaltung gewinnen und zu seiner Vollkommenheit und Vollendung gedeihen können, ohne daß irgend etwas störendes voranginge? Das mag nun allerdings wohl der Gang der Natur sein, wenigstens unter gewissen Bedingungen und wenn die Umstände günstig sind: aber wenn wir auf das Gebiet der menschlichen Dinge sehen, so können wir wenigstens als Christen wohl nichts anderes erwarten als dies, daß das gute und das bessere immer erst hervorgehe aus den Mängeln und Unvollkommenheiten, welche wahrgenommen werden. Denn ist nicht eben dies das Wesen der göttlichen Führung mit dem menschlichen Geschlecht, wie es sich in un14 uns] aus

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serm Glauben, wie es sich in unserm ganzen christlichen Leben ausdrükkt? haben wir ein Bewußtsein von uns selbst in Bezug auf die Angelegenheiten unsers Heils, welches sich nicht auf dies beides zurükkführen ließe, auf die Sünde und auf die Erlösung? wird uns anders und ist uns anders enthüllt worden in der heiligen Schrift der Rath Gottes über die Menschen als eben so, daß sie sollten unter die Sünde zusammengefaßt bleiben, daß Alles unter die Sünde beschlossen wäre, bis die Zeit erfüllet wäre, wo der | Sohn Gottes in die Welt kommen konnte, und nun auch durch den Glauben an ihn alle göttliche Seegensverheißungen über die Menschen in Erfüllung gingen? Und so wie die Führung der Menschen von Gott im großen angelegt ist, dasselbe zeigt sich auch überall vor unsern Augen im einzelnen. Jenes ist uns so wahr, so natürlich, daß wir gewiß, wenn wir es genau überlegen, nicht im Stande sind, uns von den ersten Anfängen des menschlichen Geschlechts, von dieser ursprünglichen Mittheilung göttlichen Geistes an den Menschen, vermöge deren er Herr über alles sein soll, was auf Erden ist, anhebend uns eine durch nichts ähnliches wie der Sündenfall gestörte ruhige Entwikkelung des Menschen zu denken, eine solche Fortschreitung von dem guten zum besseren, daß jedes Geschlecht immer in vollkommner Unschuld aufgewachsen wäre, und in jedem Volk jedes spätere Geschlecht weiter gediehen in der Erkenntniß und Ausübung des göttlichen Willens als alle vorhergegangenen. Nein, wir vermögen uns das nicht zu denken; denn nicht nur unser eigenes Selbstbewußtsein, sondern eben so alles was wir im menschlichen Leben sehen und erfahren, widerstrebt dem jeden Augenblikk. Aber wie? nachdem nun die Zeit erfüllt war und der Erlöser erschienen, und ein Reich Gottes anfing sich zu bauen kraft jener höhern Mittheilung göttlichen Geistes, die durch den Erlöser auf das menschliche Geschlecht gekommen war, nun in dieser neuen Zeit, in so frischer Kraft, bei solcher Fülle göttlicher Gaben wäre doch wohl zu erwarten gewesen, daß die christliche Kirche, dieses Reich Gottes auf Erden, sich auf jene edlere Weise entwikkelt hätte, ohne selbst wieder in Mängel und Unvollkommen|heiten zu gerathen, die doch von der Sünde, welche ja dort überwunden ist, herrühren müßten? Aber nein! so vollständig ist die Sünde nicht überwunden worden, so auf einmal, so gänzlich konnte die menschliche Natur nicht umgeändert werden, auch nicht durch den Geist Gottes; und überall in der Schrift wird uns dies als etwas unvermeidliches dargestellt, daß auch in diesem irdischen Reiche Gottes der Streit zwischen Geist und 24 eigenes] eigen es 6–8 Vgl. Gal 3,23.22; Röm 11,32

8–9 Vgl. Gal 4,4

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Fleisch fortwährt. Wo aber dieser einmal ist, da entstehen überall und immer wieder Mängel und Unvollkommenheiten unvermerkt, und an deren Wahrnehmung vornehmlich knüpft sich jede Fortschreitung zum besseren. So war denn auch hier ein Mangel wahrgenommen, und aus dieser Wahrnehmung ging etwas besseres hervor. Worin der Mangel bestanden habe, ob jenes Murren gegründet gewesen sei oder nicht, davon werden wir gar nicht unterrichtet; aber schon daß Murren entstehen konnte, mithin wenigstens ein böser Schein als eine Veranlassung dazu vorhanden war, das war schon ein Mangel, eine Unvollkommenheit. Wäre aber dies nicht geschehen, wäre jene Unvollkommenheit, welche dem Murren zum Grunde liegen mußte, bestand sie nun worin sie wollte, nicht ans Licht getreten: so wäre auch diese Verbesserung damals nicht erzielt worden. Lasset uns weiter sehen und uns erinnern, wie nicht lange darnach ein anderer Zwiespalt entstand in der christlichen Kirche, indem nämlich Einige glaubten, alle Christen ohne Unterschied müßten noch erst aufgenommen werden in jenen alten Bund Gottes mit dem Volke Israel, wenn sie Theil haben sollten an den Wohlthaten Christi, als welcher ja selbst zu jenem Volke gehört und im Geiste dessel|ben gelebt und gewandelt habe. Das war eine Unvollkommenheit; das Reich Gottes, das auf einem ganz andern Grunde ruhen sollte, wäre dadurch wieder herabgezogen worden in die frühere Vermischung des geistlichen und weltlichen, des innerlichen und äußerlichen, in welcher kein dauerndes Heil sein konnte für die Menschen. Diesem nun mußte deshalb der Apostel Paulus entgegentreten, und diese Forderung als eine Unvollkommenheit in der Auffassung des Christenthums rügen. So laut und stark wie er es aussprach, indem er sagt1, Wenn ihr euch wieder aufs neue wollt dem Gesez unterwerfen, in der Meinung, daß das zur Gerechtigkeit vor Gott gehöre: so ist Christus für euch vergeblich gestorben und ist euch nichts nüze, so mußte es wol geschehen, wenn jene reinere Auffassung des Christenthums, die seitdem dem ganzen Wachsthum des Reiches Gottes zum Grunde gelegen hat, die Oberhand gewinnen sollte. – Und wenn wir auf diese Verbesserung der Kirche zurükksehen, der unsere Gemeinden angehören, und der sie ihr freies und schönes geistiges Leben verdanken: ist sie etwa anders entstanden, ja konnte sie wol anders entstehen als auch aus der Wahrnehmung von Mängeln und Unvollkommenheiten? Wie vieles war in die christliche Kirche eingedrungen, was weit entfernt war auch nur im mindesten eine Anbetung Gottes im Geist und in der 1

Gal. 5, 2.

27–30 Vgl. Gal 5,2 in Verbindung mit 2,21

39–1 Vgl. Joh 4,23.24

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Wahrheit darzustellen! Wie vieles hatte sich eingeschlichen, was wieder nichts anderes war als auf der einen Seite Vergötterung des menschlichen, auf der andern Unterstellung des geoffenbarten Wortes unter menschliches An|sehen und menschliche Sazungen, wodurch also die Gläubigen doch wieder zurükkgehalten wurden von der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott, und sich nicht erfreuen konnten unmittelbar beseelt und getrieben zu werden vom göttlichen Geist! Solche Mängel und Unvollkommenheiten mußten sogar erst eine gewisse Höhe erreicht haben; denn oft schon waren sie vergeblich zum Bewußtsein, vergeblich zur Sprache gebracht worden, weil Eifer und Unwille noch nicht so weit gediehen war, daß aus dem Mangel das Bessere hervorgehen mußte. Als aber die Zeit in diesem Sinne erfüllet war, und die ganze Christenheit gleichsam gesättigt mit diesem Bewußtsein der Verunreinigung und Verfinsterung: da konnte auch kräftig das Licht in diese Finsterniß einbrechen, und einen Theil wenigstens der Christenheit von der Herrschaft derselben losreißen. So ist es auch immer in der Kirche Christi ergangen, und wird auch immer so ergehen! Wenn aber doch der Geist derselben sich auch in allen Gebieten des menschlichen Leben kräftig erweisen soll, so wird auch dort der Hergang überall derselbe sein; so weit die Veranlassung zum besseren von der christlichen Kirche ausgeht, kann sie auch keine andere Gestalt haben als diese; die Mängel und Unvollkommenheiten, welche uns noch anhaften, müssen zur Sprache kommen, der Unwille muß sich dagegen regen, und dann ist es möglich, daß die Verbesserung entstehe. Darum, m. a. Fr., will mir nichts verkehrter vorkommen ja widersinniger, als wenn sich so oft Stimmen des Unwillens regen gegen die, welche auf die Mängel und Gebrechen, die auch noch gegenwärtig im Reiche Gottes obwalten, aufmerksam machen. Denn gesezt auch, sie | thäten es zu früh für irgend einen unmittelbaren Erfolg: immer muß versucht werden, dies Bewußtsein anzuregen, ob es so weit durchdringen könne, daß das Bessere daraus hervorgehe. Wollen wir uns hingegen in solcher Täuschung festhalten, als ob schon alles unter uns gut wäre und vollkommen, dann halten wir selbst das Gute zurükk, welches der Geist Gottes dadurch vorbereitet, daß er die Mängel und Gebrechen, unter denen wir noch leben, uns zum Bewußtsein zu bringen sucht. Daher, wenn uns gesagt wird, manches sei noch in unserm Glauben und in unserm Leben, was nicht zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit gehöre, nicht zur reinen Verehrung des Vaters in dem Sohne; wenn wir aufmerksam gemacht werden auf dieses und jenes in unserer Lehre und unsern kirchlichen Einrichtungen, 38–39 Vgl. Joh 4,23.24

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was keine andere Stüze habe als menschliches Ansehn, das sich doch unmöglich könne dem göttlichen gleich stellen wollen, und also nothwendig auch solche Unvollkommenheit in sich tragen müsse, welche wir bestrebt sein müßten zu entdekken und zur Anschauung zu bringen, damit Besseres daraus hervorgehe, – wenn wir solche Stimmen hören, gesezt auch, wir könnten ihnen nicht beifallen: so müssen wir uns doch darüber freuen; denn es erhellt daraus, daß wir dem, was uns fördern kann, kein Hinderniß in den Weg legen, daß das Verlangen nach dem besseren unter uns rege ist, und sich noch nicht verloren hat in einer eitlen Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Besiz. Aber laßt mich noch Eins hinzufügen! Ebendeshalb kommt mir auch nichts wunderlicher vor und ungehöriger, als wenn man zwei freilich verschiedene Richtungen des | menschlichen Gemüths, von denen die eine in Einigen die andere in Andern vorwaltend ist, die aber beide nothwendig sind zum Bestehen und Ertragen des Ganzen, wenn diese sich einander so mißverstehen, daß sie fälschlich meinen, die eine sei gegen die andere, und die eine müsse die andere zu überwinden und zu vertilgen suchen. In allen menschlichen Verhältnissen giebt es Einige, die festhalten wollen an dem, was besteht; wohl, wir wollen sie nicht beschuldigen, das sei nur Mangel an Lebendigkeit des Geistes, Mangel an Freiheit des Willens und nichts anderes als dumpfe Trägheit. Vielmehr laßt uns ihr Bestreben ehren; sie wollen uns die Bürgschaft erhalten, welche immer das, was jedesmal Ordnung ist und Recht, dafür gewährt, daß wir fortschreiten können in stiller Thätigkeit um aus dem, was uns jezt gegeben ist, und wofür wir verantwortlich sind, soviel gutes zu entwikkeln als wir vermögen, bis eine Zeit kommen wird, wo keiner sich länger der Erkenntniß entziehen kann, daß noch ein besseres Ziel vorgestekkt ist und Jeder auch die Möglichkeit zugestehen muß ihm stufenweise näher zu kommen. Ueberall giebt es auch Andere, die nach allen Seiten immer umher schauen mit einem lebendigen, aber sehr beweglichen, geistigen Auge, ob sich nicht hier und da zeige irgend eine Spur des bessern, ob sich nicht ein Weg ermitteln lasse von dem Flekk, auf welchem wir vielleicht schon zu lange verweilt haben, endlich vorwärts zu schreiten. Wohl, wir wollen ihnen nicht nachsagen, das sei nur ein Streben der Unruhe eine selbstsüchtige Zerstörungswuth des Vorhandenen. Nein! wir wollen darin nur den natürlichen Ausdrukk des Bewußtseins anerkennen, welches wir ja ehren müssen und | achten, daß der menschliche Geist bestimmt ist in allen Theilen seines Berufs immer vorwärts zu dringen und durch den göttlichen Geist von einer Klarheit zur andern geführt zu werden. Wie könnte er also jemals befriedigt sein durch das, was 40–41 Vgl. 2Kor 3,18

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da ist? O so große Zerrüttungen eintreten, wenn diese beiden Denkungsarten sich eine gegen die andere aufregen: eben so sehr kann uns der Zustand einer Gesellschaft mit den schönsten Hoffnungen erfüllen, so daß sie uns als ein Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens erscheint, und alles Fortschreiten zum Besseren in ihr wohl gesichert ist, wenn beide das rechte Maaß gefunden haben, und ohne Entzweiung zugleich auf einander und mit einander wirken. Freilich würde es ja um alle Stätigkeit in allen Gebieten der uns aufgetragenen Thätigkeit geschehen sein, wenn alle immer wollten unruhigen Auges umherschauen, ob sich ihnen nicht etwas anderes darstelle als das, was sie haben, ob sich nicht nun schon eine andere Gestalt der menschlichen Dinge entwikkeln lasse, günstiger und wohlgefälliger als die, in welcher wir gestellt sind. Aber auf der andern Seite, wenn es nicht eben jene Thätigkeit und für dieselbe solches Umherschauen gäbe; wenn alle Gebrechen und Mängel umsonst da wären und Alle verschlössen immer ihre Augen dagegen, um nur nicht aufgefordert zu werden dies oder jenes zu ändern an dem gemeinsamen Zustande: ja dann verurtheilten wir uns ja selbst zu einer versteinernden Mittelmäßigkeit, und indem wir nicht weiter fortschreiten, wäre es nicht anders möglich, als daß wir zurükkgingen. Denn was nicht bestehen kann, ohne Mängel in sich zu schließen, dadurch wird ge|wiß, wenn das Bessere nicht daraus hervorgehen kann, das Gute allmählig immer mehr unterdrükkt. Darum, m. g. Fr., lasset uns das feststellen, wie wir es hier sehen, so und nicht anders aus der Wahrnehmung der Mängel und Unvollkommenheiten entstehen alle Verbesserungen des menschlichen Lebens in diesem ganzen Umfang des Reich Gottes auf Erden. Aber lasset uns nun II. aus unserer Erzählung auch lernen, was denn für eine Gesinnung, was für eine Handlungsweise allein aus der Wahrnehmung von Mängeln und Unvollkommenheiten das Bessere hervorrufen kann. Wenn wir in dieser Hinsicht zuerst den einzelnen Fall betrachten, von welchem unser Text handelt, und wir hören, es sei ein Murren entstanden der Griechen d. h. der Christen, welche allerdings auch vorher, sei es durch ihre Geburt oder sei es durch ihre Wahl dem Volke des alten Bundes angehört hatten, aber nicht in dem Lande, welches der Herr jenem Volk gegeben, selbst entsprossen und geboren waren, auch nicht ursprünglich dessen Sprache geredet hatten, gegen die Hebräer d. h. gegen die Christen, welche schon durch ihre Abstammung und von ihren Vorfahren her innerhalb des jüdischen Landes gewohnt 41 Vorfahren] Verfahren

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hatten, – wenn wir hören, es sei über der Handreichung ein Murren der Einen gegen die Andern entstanden, und wir fragen, was hätte denn wohl davon das Ende sein können und müssen, wenn nicht eben jenes gute und bessere daraus hervorgegangen wäre: nun, so werden wir nicht anders antworten können, als eine Spaltung zwischen beiden. Wenn die | Einen festgeblieben wären in ihrer Ueberzeugung, daß den Ihrigen Unrecht geschähe, die Andern das nicht hätten einsehen und mithin auch keine Maaßnahme dagegen treffen wollen: was hätte daraus anderes entstehen können als eine Trennung, wenn sie auch eben so friedlich gewesen wäre, als die zwischen Abraham und Lot, weil die Ihrigen sich nicht vertragen konnten? Aber was für einen Einfluß würde dieses auf die christliche Kirche gehabt haben, wenn sie gleich im Anfang sich getrennt hätte, und zwar nicht so, wie sie jezt auch getrennt ist durch eine verschiedene Weise das göttliche der Offenbarung aufzufassen, sondern lediglich in einer äußeren Beziehung nach der Verschiedenheit der Abstammung und Sprache! Wer kann sagen, ob dann das Bewußtsein von der Bestimmung aller Völker für das Christenthum so bald würde erwacht sein! und alles erwekkliche und fördernde, was in dem nahen und engen Zusammenleben auf der Verschiedenheit unter den Gliedern eines Vereins beruht, wäre zum großen Nachtheil auch der folgenden Geschlechter für die erste christliche Gemeinde verloren gegangen. Darum hängt nun dies beides überall wesentlich zusammen, daß aus Mängeln und Gebrechen, wenn sie wahrgenommen werden, das bessere hervorgehe, und daß das gemeinsame Bestreben darauf gerichtet sei und bleibe, alle Zertrennung der Gemüther, alle Spaltung im gemeinsamen Leben, wie sie auf der andern Seite entstehen können, zu beseitigen und ihnen zuvorzukommen. Wenn nun hier ein Murren entstanden, deswegen weil die Wittwen und Dürftigen der Griechen übersehen würden in der täglichen Handreichung, welche bis dahin ganz und gar in den Händen der Apostel ruhete, indem | diese sämmtlich aus den ursprünglichen Bewohnern des Landes genommen waren, und also zur andern Seite gehörten; wenn nachdem dies Murren entstand, nun eine Untersuchung wäre eingeleitet worden, ob es auch einen Grund habe oder nicht, ob eine Zurükksezung stattgefunden, und an wem die Schuld liege: welche bedenkliche Annäherung wäre schon dieses allein gewesen an solche Spaltung! Denn da eine Untersuchung nichts wieder gut machen sondern nur die Absicht haben konnte, daß entschieden wurde wer von Beiden Recht habe in dem, worüber sie streitig 7 Andern] Andere 9–11 Vgl. Gen 13,1–12

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waren: so wäre dadurch schon eben der Grund zu einer Zertrennung gelegt worden. Allerdings, wo es sich um ein menschliches Gesez und eine Uebertretung desselben handelt: da ist nothwendig, wenn dem Gesez sein Recht widerfahren soll, daß die Thatsache ausgemittelt werde und die Schuld bestimmt; und wenn das verabsäumt oder nur obenhin betrieben wird, da läuft die ganze Ordnung der menschlichen Dinge Gefahr. Aber wo es sich nicht von dem Gesez handelt, sondern von Werken der Liebe; wo die Beschuldigung darin liegt, daß in dieser ein Mangel sei: ach, da lasset uns alle Untersuchung über Schuld und Unschuld ganz und gar vermeiden, wie Petrus sie vermied; denn dabei kann nichts anders als ein selbstsüchtiges Verlangen zum Grunde liegen, Recht zu haben. Ist das Uebel einmal geschehen, und das bestand nicht sowohl darin, daß die Einen zurükkgesezt wurden, sondern daß das gegenseitige Vertrauen einen Stoß erhielt, ist das Uebel einmal geschehen: so hilft die Untersuchung über seinen Ursprung und seinen Grund und seine Beschaffenheit gar nichts; sondern so schnell als möglich muß zu einer solchen | Abhülfe geschritten werden, daß alles Mißtrauen gründlich gehoben werde. Aber ebenso auf der andern Seite, wenn die Mitglieder der christlichen Gemeinde, die sich und die Ihrigen beeinträchtigt glaubten, die natürliche Ordnung umgekehrt hätten, und, statt daß sie die Leitung der Apostel annahmen, sich selbst hätten leiten und helfen wollen und von sich aus die neue Ordnung begründen; und wir dürfen nur des Einen gedenken, der unter ihnen war, des Stephanus, dieses ersten Märtyrers des Glaubens, dieses großen Vorgängers des Apostel Paulus, wir dürfen nur an diesen denken um es natürlich zu finden, wenn sie auf den gepocht hätten und stolz gewesen wären, und sich durch den ihre eigene Einrichtung hätte machen lassen für sich: wie wäre dann jene Zertrennung augenblikklich dagewesen! Darum, die unnöthige Untersuchung vermeiden über das Vergangene, aber die Ordnung nicht umkehren, sondern aufrecht erhalten, das war das Erste, wodurch möglich gemacht wurde, daß aus jenem unvollkommenen Zustande etwas Besseres hervorgehen konnte. Aber nun lasset uns auf den Grundsaz hinsehen, der sich zu erkennen gab, als Petrus das Wort nahm in seiner Eigenschaft des Ersten unter den Zwölfen, damit uns der deutlich werde als unser Vorbild für alle ähnliche Verhältnisse unsers Lebens. Fragen wir, was war das Wesentliche in jener täglichen Handreichung, in jener Vertheilung gemeinsamer Gaben unter die, welche nicht im Stande waren, für sich 28 hätte] SW II/3, S. 311: hätten 23–24 Vgl. Apg 6,5; 6,8–7,59

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selbst zu sorgen? War es etwa dies, daß sie etwas besser sollten genährt werden und bekleidet, daß sie etwas weniger sollten den Druck der äußern Noth empfinden? das wäre ein gar geringes Ziel für eine | christliche Tugend gewesen! da sollten wir denken es wäre besser gewesen, sie hatten sich das gefallen lassen, wie der Apostel Paulus, der von sich sagt1, Ich habe gelernt mit dem was da ist mir genügen zu lassen; ich kann niedrig sein und kann hoch sein, ich bin in allen Dingen und bei allen geschikkt, beides satt sein und hungern. Denn was er dulden konnte im Dienste des Herrn, das müssen doch Alle, die nichts besonderes leisten für sein Reich, auch dulden können ohne sich in ihrer Thätigkeit, welche es auch sei, stören zu lassen. Was also ist, wenn nicht dieses, das Wesentliche in allen solchen Hülfsleistungen, sofern sie auf christliche Weise gehandhabt werden? Gewiß nichts anders als dies, daß nicht in der zu großen Ungleichheit der wahre Geist der Liebe verloren gehe, indem die Einen zu weit entfernt werden von aller Gemeinschaft mit den Andern; gewiß nichts anders als dies, daß diejenigen, welche doch den Geist Christi auch in sich trugen, wenn sie von allen äußerlichen Hülfsmitteln zu sehr entblößt waren, ihre Kraft nicht gebrauchen konnten für das Reich Gottes. Also, daß überall die geistigen Kräfte zur Wirksamkeit kommen könnten, daß überall die Liebe Christi sich kund gäbe, das ist der Wunsch, aus dem alle diese äußere Hülfsleistungen hervorgingen; und darum war auch die erste Sorge des Apostels nicht zu untersuchen, wie sich die Sache verhalte, nicht den Schuldigen Vorwürfe zu machen und die Unschuld der Andern ans Licht zu bringen, sondern nur darauf gerichtet, daß die Einheit nicht gestört werde, daß die Liebe ungeschwächt bleibe, daß das Band der Vollkom|menheit nicht die geringste Erschlaffung erleide. Und wie ging er dabei zu Werke? Nicht etwa so, daß er zu einer Umkehrung der natürlichen Ordnung, denn nach dieser waren ja die Apostel die Leiter der christlichen Gemeinde, sich hergegeben, und indem er mit den Seinigen sich zurükkzog den übrigen Christen überlassen hätte, wie sie sich hätten ordnen wollen in Beziehung auf ihr äußeres Leben; aber auch nicht so, daß er die Stimme hätte überhören wollen, die von ihnen ausging um, was der Mangel und die Unvollkommenheit des damaligen Zustandes war, zu bekunden. Darum brachte er selbst im Namen der Zwölfe eine neue Ordnung in Vorschlag, damit auch sie selbst ordnungsmäßig sei, und von denen ausgehe, die dazu berufen waren, die christliche Gemeinde zu leiten und sie an dem Bande der Vollkommenheit fest zu halten. 1

Philipp. 4, 11. 12.

27 Vgl. Kol 3,14

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Aber seht, wie hell hier das heilige Vorrecht hervortritt, welches überall, wo jenes Band der Liebe waltet, denjenigen zusteht, welche ihr Bewußtsein aussprechen, daß ein Unrecht sich eingeschlichen hat. Dies muß überall aufrecht erhalten werden und geschont, das ist die Stimme im Reiche Gottes auf Erden, welche auch diejenigen aufmerksam machen soll, daß etwas anderes Noth thut, welche nicht selbst unter dem gegenwärtigen leiden. Und auf welche Weise hat der Apostel diese walten lassen? indem er gerade eine Ordnung vorschlug, worin jene Klagenden selbst eine Stelle fanden, und in Wirksamkeit gesezt wurden für das bessere Bestehen der christlichen Kirche! die ganze Gemeinde, nicht die Griechen allein, sondern die ganze Gemeinde sollte solche Männer unter sich wählen, welche guten Gerüchtes wären und voll heiligen Geistes und Weisheit um auch dies zu fördern. | Auf diese beiden Stükke, sage ich, sah er, weil auf diesen das gegenseitige allgemeine Vertrauen und ein guter Ausgang beruhte, auf ein gutes Gerücht, das allgemeine Vertrauen aller und auf das Bewußtsein, daß die, welche gewählt würden, solche Beweise schon gezeigt hatten in der Führung ihres eigenen Lebens, auf die Weisheit, welche noth war, um die Führung der allgemeinen Angelegenheiten zu leiten, auf diese verließ er sich. Aber wenn er nun auf die entgegengesezte Weise hätte handeln, und die hätte ausschließen wollen von der Verwaltung der allgemeinen Angelegenheiten, welche die Unvollkommenheit hatten ans Licht gebracht, weil sie nämlich Unzufriedene wären, welche die Ordnung stören wollten; wenn er dieses Geschäft zwar in andere Hände gegeben hätte, aber es doch auf der einen Seite gelassen hätte: ja so würde statt der Eintracht gewiß eine neue Spaltung eingetreten sein. Das also, m. g. Fr., das ist der Grundsaz, welcher sich überall in einer Leitung menschlicher Dinge im Geist der christlichen Kirche kund geben muß. Die Stimme, welche Mängel und Unvollkommenheiten ans Licht bringt, ist die Stimme Gottes; darum kann es auch in der christlichen Kirche kein heiligeres Recht geben als dies, Jeder muß aussprechen können und ans Licht bringen, was er für Mängel hält, damit sich so ein allgemeines Bewußtsein bilde der Mängel, wodurch das am meisten klar wird, dessen Abhülfe am nöthigsten ist. Und so wie solche Stimme sich vernehmen läßt, so muß alles darauf gerichtet werden, daß bei dem Bestehen der Ordnung, welche das Ganze leitet und zusammenhält, die Liebe sich zeige, daß die Gemüther zusammengehalten werden, daß die Ueberzeugung | sich fester begründe, daß die, welche die Ordnung zu erhalten haben, die, von denen Alles ausgehen muß, was der Gemeinschaft zum Segen sein soll, nicht sich 19 Angelegenheiten] Angelegenheiten,

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selbst wollen, nicht ihr eigenes Recht und Ansehn, sondern das gemeinsame Wohl, und daß sie sich denjenigen zur weiteren Prüfung hingeben, welche Mängel und Gebrechen offenbaren, die ihnen selbst vielleicht entgangen waren. Wo nun dies geschehen ist, da ist auch überall in der christlichen Kirche, und in den menschlichen Angelegenheiten christlicher Völker durch freimüthigen Tadel, durch offne Mittheilung gemachter Erfahrungen das bessere ans Licht gebracht worden. Wo das nicht geschieht wo diese Stimme entweder verstummen muß, oder man so durch sie erschrekkt wird, daß sich unordentlichen Bewegungen ein Spielraum öffnet: da wird das Gute verzögert, da wechselt ein Mangel mit dem andern, oder vielmehr es kommt ein Mangel zum andern hinzu, und immer mehr verwirren sich die gemeinsamen Angelegenheiten. Lasset uns daher überall, Jeder nach seinem Vermögen, jenem Beispiel seinem ganzen Inhalt nach folgen. Keiner versäume es, Jeder so viel er vermag, das was ihm nach seinem besten Gewissen als mangelhaft in der Gemeinde, in der bürgerlichen Gesellschaft erscheint, auch als solches zu bezeichnen; aber Keiner maße sich deswegen an, und wenn er sich auch noch so sehr überzeugt hat, daß er recht sieht und zuerst recht gesehen hat, oder gar daß er allein recht sieht, keiner maße sich deshalb an, die menschliche Ordnung umzukehren, und eigenmächtig seinen Rath in That zu verwandeln. Denn dadurch wird alles zum schlimmeren gewendet. Was in reinem Sinn und besonnen verarbeitet Segen bringen konnte, das gedeiht nur zur | Spaltung der Kräfte, erzeugt nur Elend und Verwirrung. Möge der Geist der Liebe, der Geist der Selbstverläugnung, wie wir ihn überall finden, wo wir die Apostel des Herrn zusammen sehen mit der Gemeinde der Christen, wie er sich in allen ihren Betrachtungen, in allen ihren Anordnungen zeigt, auch überall in allen Angelegenheiten christlicher Völker walten! dann wird auch durch die beschämende Wahrnehmung eines trägeren Ganges und mannigfaltiger Versäumnisse das große Wort des Apostels sich bestätigen, daß denen, die Gott lieben, – aber das sind die, welche, wenn sie Mängel sehen, auch das Gute daraus hervor zu lokken wissen – daß denen, welche Gott lieben, alle Dinge, und also auch die Mängel und Unvollkommenheiten, welche von menschlichen Dingen unzertrennlich sind, zur Förderung des Guten und zum Besten mitwirken müssen. Amen. Lied 297.

32–37 Vgl. Röm 8,28 38 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 297: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (in eigener Melodie)

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Am 22. Juli 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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5. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 7,59 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 173–189, Nr. X SW II/3, 1835, S. 315–325; 21843, S. 328–338. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 378–386 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 5. Sonntage Trinitatis. Lied 674. Text. Apostelgesch. VII, 59. „Stephanus knieete aber nieder und schrie laut: Herr! behalte ihnen diese Sünde nicht. Und als er das gesagt, verschied er.“

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M. a. Z. Frei und ungebunden, wie wir sind in unserer Kirche, aus den Schäzen des göttlichen Wortes für die Betrachtung der Christen auszuwählen, was uns am Besten dünkt, mögen sich vielleicht Manche unter euch wundern, weshalb ich diese Worte, zum Grunde unserer Betrachtung nehme: da ich doch gerade noch vor kurzem öfter Veranlassung genommen, mich darüber zu äußern, daß die Verhältnisse, auf welche sich diese Worte beziehen, unter uns nicht mehr Statt finden, daß es gewöhnlich nur eine eitele Vorspiegelung des Herzens sei, wenn unter uns Einzelne sich rühmen, daß sie Leiden zu ertragen hätten um Christi willen, wie es denn genauer betrachtet entweder keine Leiden wären, wenn man auch nur auf das gewöhn|liche Maaß unsers menschlichen Lebens sieht, oder wenn ja, dann gewiß nicht Leiden um Christi willen, sondern irgend menschlicher Sazungen und Meinungen 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 674: „Herz und Herz, vereint zusammen“ (Melodie von „O du Liebe meiner Liebe“) 10–1 Vgl. die Predigten am 1. April, 8. April und 3. Juni 1832, bes. oben, S. 158f, 175f, 275

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wegen. Aber alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nüze zur Lehre und zur Züchtigung in der Gerechtigkeit; und es giebt nichts in unsern heilgen Schriften, wie wenig es auch unmittelbar auf unsere Verhältnisse Beziehung habe, wovon wir nicht Ursache haben das zu rühmen, und woran sich das nicht immer bestätigen würde, ohne daß wir nöthig hätten uns weit ab von dem unmittelbaren Sinne der Worte unserer heiligen Schriftsteller in entferntere Anwendung derselben zu verlieren. Und so wollen wir, im Vertrauen auf dies Wort, jezt diese Bitte des Stephanus in ihren verschiedenen Beziehungen zum Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung machen. I. Ich will zuerst das vorweg nehmen, was am meisten das Gemüth zu bewegen und zu erschüttern pflegt, damit wir hernach um so aufmerksamer auch der ruhigern Betrachtung folgen können. Dies nämlich wollen wir zuerst erwägen, daß die Worte, die wir vernommen haben, die Bitte eines Sterbenden waren, und zwar nicht eines solchen, dem das gewöhnliche Loos des menschlichen Geschlechts widerfährt, sondern diese wirklich eines solchen, der um des Erlösers willen und wegen des Bekenntnisses seines Namens starb, die Bitte des nach dem Erlöser selbst ersten Märtyrers in der christlichen Kirche. Wie müssen wir uns freuen, wenn wir diese Worte so in ihrem ursprünglichen Zusammenhange betrachten! | wie lebhaft und unmittelbar erinnern sie uns an jenes Wort des Erlösers am Kreuz, als Er auch zu seinem Vater rief, Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun, mit welchen Worten eben diese, Herr! behalte ihnen diese Sünde nicht, die größte Aehnlichkeit haben! Und doch wissen wir nicht einmal, ob derjenige, der sie aussprach, eine Kunde hatte von jenen Worten des Erlösers; denn erst später ist das Zusammentragen und Ueberliefern der Reden des Herrn ein für das Wohl der Gläubigen so segensreich geordnetes Geschäft geworden, daß jeder von dem wichtigsten leicht Kenntniß bekommen konnte. Aber um so gewisser war es derselbe Geist, der aus dem Jünger redete, wie aus seinem Meister. Und weil dieser seitdem nicht wieder gewichen ist aus der Gemeinde der Christen; weil er es ist, der noch immer alle gute Gaben, alle Worte und Thaten, die zur Förderung des Reiches Gottes gereichen, in den Gläubigen wirkt: so dürfen auch wir Alle uns dies aneignen als unser eigenes, eingedenk der Worte des Apostels, daß Alles unser ist, jeder Einzelne mit seinen Gaben und mit seinen Werken, und daß in der Gemeinde des Herrn alle gottgefälligen Thaten nicht 1–2 Vgl. 2Tim 3,16

24–25 Vgl. Lk 23,34

37–38 Vgl. 1Kor 3,21.22

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nur ein gemeinsames Gut sind, sondern daß auch Alle, wie sie Glieder Eines Leibes sind, sich dieselben aneignen können als das ihrige. Und wie oft mögen ähnliche Bitten, wenn auch nicht vernommen, doch aus dem Herzen derer empor gestiegen sein, die auf dieser dornenvollen Laufbahn den ersten Verkündigern des Evangeliums folgten! wie viel theures Blut ist auch späterhin noch vergossen worden kraft derselben Erbitterung der Gemüther gegen die größte Wohlthat, die jemals Gott den Menschen erzeigen konnte! und | wie sollte also nicht in denen, die von demselben Sinne getrieben solchen Gefahren und Leiden entgegengingen, auch derselbe Geist gleiches geredet haben und auf gleiche Weise das Herz bewegt in ähnlichen Verhältnissen? Aber freilich jezt, seitdem der Glaube der Christen auf dem Throne so vieler Völker sizt, da niemand mehr dazu versucht sein kann, weil ohne Hoffnung des Gelingens, wenn sich auch die Herzen der Menschen auf ähnliche Weise wie damals erheben wollten gegen den Namen des Herrn und mit dem Schwert der äußern Gewalt gegen denselben kämpfen; jezt, nachdem die Völker, die des christlichen Namens theilhaftig sind, durch die Entwikkelung geistiger Gaben in ihnen und durch die mannigfachen äußern Segnungen, die aus dem milden Geiste desselben hergeflossen der Verbreitung des Christenthums gefolgt sind, solches Uebergewicht behaupten über alle andern: wo sollten jezt auf ähnliche Weise Leiden um des Erlösers willen herkommen? Je weiter von jenen Zeiten entfernt, desto seltener wurden solche Beispiele; und daß auf ähnliche Weise wie damals die Christen selbst gegen einander wüthen, weil jeder glaubt, auf seiner Seite sei die Wahrheit des Erlösers, und die reine Liebe zu ihm, sein Antheil ausschließend die richtige Erkenntniß, und Auffassung seiner Lehren, dieses, wie es auch nur in Zeiten einer seltenen Verwirrung der Gemüther und auf vorübergehende Weise geschehen ist, wollen wir gern mit der Vergessenheit der Liebe bedekken. Aber doch werden wir sagen müssen, wenn auch nicht eben so wie damals, auf verwandte Weise wenigstens können auch uns ähnliche Zeiten bevorstehen. Denn eben deswegen, weil an die Verbreitung des christlichen Glaubens sich ange|knüpft hat ein so großer Reichthum von Entwikkelung aller menschlichen Kräfte, aller geistigen Gaben, aller Segnungen für das irdische Leben; weil darauf nun zu gleicher Zeit beruht die Möglichkeit, noch immer weiter das Wort des Herrn unter den Menschen zu verbreiten, und allmählig die ganze Erde mit demselben zu erfüllen: eben deswegen steht auch alles, 25–27 Erlösers, und ... Erkenntniß, und Auffassung] SW II/3, S. 317: Erlösers und ... Erkenntniß und Auffassung 1–2 Vgl. 1Kor 12,12–14

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was das wahre Wohl der Menschen betrifft in allen ihren Angelegenheiten, in einem nahen Zusammenhang mit dem Reiche Gottes. Und wenn nun über das, was das Wohl der Menschen fördert, entgegengesezte Meinungen entstehen; wenn diese in heftigen Streit sich entzünden, weil jeder glaubt in dem, der auf der entgegengesezten Seite steht, einen Feind des Guten zu sehen, sei es einen Gegner der weitern Entwikklung des menschlichen Geschlechts, oder einen Feind der Ruhe und des Friedens, der Sicherheit im Genuß dessen, was uns Gott gegeben hat; wenn auf diese Weise die Stimmung der Gemüther in Thaten übergeht, und jeder glaubt, so weit nur seine gesezliche Macht und Befugniß reicht, den Andern zurükkdrängen zu dürfen oder gar zu müssen, und ihn demgemäß in seiner Wirksamkeit lähmt, die Gemüther von ihm abwendig macht und gegen ihn einnimmt, wie er nur kann: ja dann giebt es Leiden um der Ueberzeugung willen, um des Guten willen. Und je mehr die, welche in solchem Streite begriffen sind, auch dem Geiste nach Christen sein und nicht etwa nur so heißen wollen; je mehr sie also alles Gute, was sie den Menschen gönnen und bewirken möchten, in Zusammenhang bringen mit jener Quelle alles Guten, und es hinleiten möchten zur Förderung des Reiches Gottes: um desto mehr freilich sehen sie in allem, was | ihnen bei ihren Bestrebungen entgegentritt, die Sünde im eigentlichen Sinne, die, welche sich feindselig erhebt gegen den Herrn. Aber, m. g. Fr., lasset uns nur Eins nicht vergessen! Auch in solchen Fällen, wenn wir das, was uns begegnet, auf uns selbst beziehen, wenn der, welcher in diesem Sinne leidet, sich selbst meint, wenngleich sofern er ein Werkzeug der Förderung des Guten ist, und in Beziehung auf seinen Beruf und seine Pflicht, aber doch sich selbst meint und an sich selbst denkt: dann kann eine solche Bitte, wie wir sie aus dem Munde des Stephanus vernehmen, aus seinem Herzen nicht hervorgehen; dann ist es nicht die Sünde im eigentlichen Sinn, von welcher er wünscht, der Herr möge sie den Menschen nicht behalten, sondern das Unrecht, was ihm geschieht, will er nur gern verzeihen. Wenn aber einer stark genug ist von sich selbst abzusehen, und wir denken uns einen solchen in den lezten Augenblikken des Lebens, nachdem er vielleicht in dem schönsten Theile desselben und bis an das Ende ein Gegenstand solcher Anfeindung und Verfolgung gewesen ist, einen der Alles erfahren hat, was sich aus dieser Quelle bitteres über das menschliche Leben ergießen kann, und er sieht als ein solcher, der, wenn er an sich selbst denkt, nur das Heil seiner Seele im Auge hat, auf die vergangene Zeit zurükk: wie muß ihm wol die Vergangenheit erscheinen? Haben ihm die Leiden, die der Herr über ihn verhängt hat, nicht zur Reinigung seines Gemüths gedient; ist dadurch nicht aus seinem eigenen Herzen der lezte Keim der Feindschaft gegen seine

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Brüder getilgt worden; haben sie sein Herz nicht gereinigt, seinen Geist nicht gereift, indem er ja be|ständig an sich arbeiten mußte, um mitten unter diesen zerstreuenden Feindseligkeiten das Ziel, das er sich vorgestekkt, fest im Auge zu halten, hat ihm alles was er erfahren hat, hiezu nicht gedient: o, weit entfernt, an Andere zu denken und Wünsche für sie zu haben, was kann ihm näher liegen als Buße zu thun, und für sich selbst um Nachsicht zu bitten, daß er diese, wenn gleich bittere, Gaben Gottes nicht seinem heiligen Willen gemäß für sich selbst benuzt hat? Haben sie ihm aber dazu gedient; ist er gereift in der Schule der Leiden und Verfolgungen, und so der wahren Weisheit der Kinder Gottes näher gekommen; hat er in sich aufgerichtet das Bild der Milde des Erlösers, so daß er es dahin hat bringen können, daß durch die Feindschaft gegen ihn niemals Feindschaft in ihm wieder erzeugt werden konnte, sondern er immer denen mit Liebe entgegen gegangen ist, die ihm widerstanden: o dann hat er ja Gott zu preisen für das, was er an ihm gethan hat! Und was für eine Bitte wird er haben für die, deren Gott sich als seiner Werkzeuge bediente? welche andere, als daß Gott sie segnen möge für das Heil, das ihm widerfahren ist durch sie, für das Gute, was sie an ihm gewirkt haben? und weit entfernt an das Unrecht, wie bitter es auch gewesen zu denken, das er erlitt, wird er seine Feinde nur als Werkzeuge der göttlichen Gnade und Liebe segnen auch in den lezten Augenblikken seines Lebens. II. Darum, m. g. Fr., lasset uns zweitens das mit einander erwägen, daß diese Bitte: Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht! unter allen Umständen, die denen ähnlich | sind, in welchen sich jener Diener des Herrn befand, doch nur die Bitte eines solchen Gemüthes sein kann, welches ganz sich selbst vergißt. Hierunter aber will ich dieses verstanden haben, daß wir uns gar nicht mit dem Abwägen unserer eigenen Zustände beschäftigen in Beziehung nämlich auf ihren Gehalt nach den gewöhnlichen und herrschenden Begriffen der Menschen von Glükkseligkeit und Wohlergehen. Wer sich hierüber nicht erheben kann, vielmehr immer bei dieser Schäzung des Lebens verweilt, sich in diesem Sinn mit andern vergleicht, und bei allem, was ihm als eine günstige oder ungünstige Veränderung erscheint, danach fragt, wer sie ihm zuwege gebracht; wer auf diese Weise niemals sich selbst vergißt: der kann auch wohl nicht anders, als diejenigen, die von seinem Standpunkt aus angesehen so nachtheilig auf sein Leben eingewirkt haben, wie es hier der Fall war, auch nur als seine Feinde und Widersacher betrachten. Und wenn sich dann ein solcher zu einer ähnlichen Bitte erheben und voll dieses Gefühls doch sagen könnte, Herr, be-

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halte ihnen die Sünde nicht: so wäre das nichts weniger als dasselbe, was Stephanus that. Vielmehr wäre es nichts anders als eine eitle, falsche Großmuth; es wäre was die Menschen so oft, aber mit unrecht, edel nennen, und sich darauf als auf etwas großes, schwer erreichbares viel zu gute thun, wie sie es denn auch, aber fälschlich – ich kann es nicht läugnen – für den höchsten Gipfel der eigenthümlichen Tugend der Christen erklären, daß er nämlich im Stande sei, seinen Feinden aufrichtig zu vergeben. Ich wenigstens bin so weit davon entfernt dies für die Höhe der christlichen Liebe zu halten, daß ich glaube, es kann dem wah|ren Christen gar nicht in den Sinn kommen. Denn wer sich selbst so vergißt, wie ich es vorher beschrieben, daß er an sich nicht weiter denkt, als nur in Beziehung auf das, was ihm zu thun obliegt, was ihm anvertraut ist, wovon er Rechenschaft zu geben hat, der Alles, was ihm im Leben begegnet, gleich viel ob es nach der gewöhnlichen Ansicht der Menschen erfreulich ist oder niederdrükkend, immer gleich in That umzusezen sucht, und nur danach fragt, wie er es anzuwenden habe, wer so gesinnt ist und in diesem Sinne immer handelt: für den giebt es niemals Feinde, und also auch niemals solche, über die er sich eitel erhebt, und dann großmüthig gleichsam um seinetwillen für sie um Verzeihung bittet. Wenn wir uns also noch irgend über einem solchen Gefühl ergreifen: so lasset uns sogleich einkehren in unser Herz, damit wir die verborgene Selbstsucht erkennen, und uns zu jener Selbstvergessenheit erheben, daß wir uns immer nur als solche ansehen, welche für das Reich Gottes als dessen Werkzeuge arbeiten. Nein, laßt uns nicht wieder dahin zurükkehren, daß wir, wenn auch um des Guten willen, nach irdischen Gütern und Vorzügen streben, und dann einen so nichtigen Maaßstab anlegen an ein Dasein, welches, wenn es doch mit dem Erlöser wahrhaft Eins geworden ist, auch auf nichts anderes gerichtet sein kann als darauf, wie Er, den Willen Gottes zu thun. Haben wir uns einmal gegen die Menschen so gestellt, daß für uns ein solches Verhältniß gar nicht vorhanden ist, vermöge dessen wir Einige unsere Feinde nennen könnten: so sind sie, wie sie auch gegen uns handeln mögen, für uns immer nur Brüder, für die wir zu sorgen, die wir zu warnen und zu belehren haben, wo wir im Stande sind, die wir | von dem, was ihnen gefährlich ist abzulenken haben, sofern sie uns anhören, und die angebotene Hand ergreifen wollen; aber vergönnten sie uns das Alles auch nicht, Feinde oder Widersacher können wir an ihnen nicht finden. Sondern, je mehr wir behaupten können, unser Leben dem Erlöser zu weihen, je mehr wir uns als seine Diener und als solche, an welche sein Wort ergangen ist, und die in demselben den Willen ihres himmlischen 18 Sinne immer] Sinn eimmer

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Vaters erkannt haben, mit Recht betrachten können: um desto weniger kann es etwas anderes sein als ein Ueberrest jenes gefährlichen geistlichen Hochmuthes, durch welchen wir uns nur zu gern über Andere erheben, wenn wir dennoch in irgend einem Fall unser Verhältniß gegen Andere so betrachten, als hätten wir ihnen Vergebung von oben zu erbitten für Sünden, die sie gegen uns begangen hätten. Wir verlangen, sie sollen uns ehren als solche, die dem Reiche Gottes leben, sie sollen deshalb gegen uns wol noch weniger als gegen irgend Andere den leidenschaftlichen Aufregungen ihres Gemüths Raum geben. So erheben wir uns erst über sie, und nachdem wir das gethan haben, wollen wir ihnen Vergebung erflehen von oben; aber immer heißt das nicht bitten, daß der Herr ihnen die Sünde nicht wolle behalten, welche sie ja an uns nicht können begangen haben. Denn es giebt keine Sünde, die nicht Sünde wäre gegen Gott; und gegen diese, mag sie ihnen nun behalten werden oder nicht, muß das Unrecht, das uns von ihnen widerfahren ist, ganz verschwinden. Ja Unrecht können die Menschen uns thun, und das mögen wir ihnen selbst verzeihen, und werden wohlthun, wenn wir es ihnen verzeihen; aber Sünde begehen sie nur gegen Gott, das heißt gegen seine heiligen | Ordnungen, gegen seinen uns durch seinen Sohn verkündigten Willen. Daher kann auch nur, wer hierauf allein sein Augenmerk gerichtet hat, nur wer auf nichts anderes in diesem Leben achtet und seine Wünsche auf nichts anderes richtet, als auf das immer fester sich gründende, immer weiter sich verbreitende, immer herrlicher sich aufbauende Reich Gottes, nur ein solcher kann ganz ohne Rükksicht auf sich selbst, wenn er sieht wie die Menschen gegen diesen Rath Gottes sündigen, in der That und Wahrheit sagen, Herr, behalte ihnen die Sünde nicht! III. Und dies dann sei der lezte Theil unserer Betrachtung, daß diese Worte überall nur die Gedanken und Empfindungen sein können eines Menschen, der nach nichts anderem als nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachtet. Ein solcher war nun freilich der, dessen lezte Worte uns hier mitgetheilt werden. Bedenkt, m. chr. Z., er gehörte unter diejenigen, welche die Schaar der Gläubigen vor Andern auswählte, in dem Vertrauen, sie würden mit vollkommener Gerechtigkeit, und einer Allen gleichmäßig zugewendeten Treue ihre äußern Angelegenheiten versorgen, und die Werke der Liebe selbst verrichten oder auch die Gaben der Liebe unter die ver38 auch] anch 31–32 Vgl. Mt 6,33 34–3 Vgl. Apg 6,1–6, bes. 5f; vgl. auch die vorangegangene Predigt vom 8. Juli 1832 über Apg 6,1–5

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theilen, welche es bedürften. Ein reiches Feld von Thätigkeit war ihm aufgethan durch diesen Beruf, zu dem er durch die Apostel des Herrn mit den Andern eingesegnet wurde: aber dennoch hat er daran nicht genug gehabt. Er meinte, dieses besondere Geschäft dürfe ihn nicht hindern jene große Pflicht zu erfüllen, die damals allen Christen oblag, nämlich sich dafür überall zu bekennen, daß sie glaubten an | Jesus von Nazareth, daß Er der Christ sei. Darum zog sich auch Stephanus nicht zurükk von dem Ort, an welchem er an den festgesezten Tagen sich mit Andern zu vereinigen pflegte zum Gebet und zur gemeinsamen Anhörung und Betrachtung der Schrift; sondern nach wie vor besuchte er jene Versammlungen der Frommen des alten Bundes. Er that es aber jezt vornehmlich um Rechenschaft zu geben von seinem beseligenden Glauben, ob er etwa vermöchte Einige in die selige Gemeinschaft des Sohnes Gottes hinüber zu führen; und eben dies Bestreben brachte ihn dahin, wo die Worte unsers Textes ihn uns zeigen. Und von welchem Eifer für diese Förderung des Reiches Gottes zeugt seine ganze Rede! Er war in dem Lande des alten Bundesvolkes ein Fremdling, von denen Nachkommen Abrahams einer, welche in der Zerstreuung wohnten; aber die Frömmsten von diesen trachteten immer am meisten darnach, so bald als möglich ihren Wohnsiz in das Land der Verheißung zu verlegen, wo ihnen die Stätte des Tempels nahe war, und wo sie die lieblichen Gottesdienste und alle die herrlichen Feste ihres Volkes an dieser Stätte feiern konnten. Das war nun auch dem Stephanus gelungen; und darum ergießt sich seine Rede über die früheren Geschichten des Volks, um den Beweis zu geben, daß wenn er gleich lange Zeit dem Wohnsiz nach ein Fremdling gewesen sei, ihm doch auch in der Ferne die Führungen seines Volkes nicht fremd geblieben seien. Er zeigt sich als einen Kenner der Geschichte und zwar nicht nur der äußerlichen, sondern auch der innerlichen; er erinnert warnend daran, wie immer die Propheten wären verfolgt worden, welche dem Volk den Willen Gottes einschärfen | wollten, und zeigt seinen Zuhörern, daß diese Alle gepredigt hätten von dem Gerechten, dessen Namen er jezt verkündigte. Und so sehr war sein ganzes Gemüth auf nichts anders gerichtet, daß ohnerachtet er wohl hätte ahnen können, was er sich bereiten würde durch seine Verkündigung – denn sie bissen, wie es vorher heißt, die Zähne zusammen über ihn – er doch sich selbst so vergaß, daß er im Eifer seiner Rede und Ermahnung in die Höhe schauen und sagen mußte, ja er sähe den Herrn sizend zur Rechten Gottes. So lebendig war in ihm die Gewiß7–11 Schleiermacher bezieht sich in dieser Schilderung auf Apg 6,8–15. die Rede des Stephanus in Apg 7,2–53 30–33 Vgl. Apg 7,52 Apg 7,54 37–39 Vgl. Apg 7,55

16–17 Vgl. 36–37 Vgl.

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heit, daß der Weg der einzige sei, den er verkündigte, und Alle nur auf diesem zu Gott gelangen könnten, ja daß dereinst noch alle sich würden beugen müssen unter den, welchen er jezt im Geiste sah zur Rechten der Majestät in der Höhe. So war dieser; und darum gedachte er auch nicht des Unrechts, das ihm widerfuhr, nicht der wilden Leidenschaft welche gegen sein Leben wüthete, sondern nur des Widerstrebens gegen alle Beweise aus der Geschichte und aus dem Worte Gottes, sondern nur der Sünde, in der sie fortfuhren, vor der er sie an dem Bilde ihrer Väter gewarnt hatte, nur der Widersezlichkeit gegen den Rathschluß Gottes gedachte er, und bat, Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht. Dazu nun werden auch wir nicht etwa nur am Ende unsers Lebens Gelegenheit finden, sondern so lange wir in dieser Welt wandeln, wo das nicht aufhört, daß das Fleisch gelüstet wider den Geist, werden wir immer dasselbe ausrufen können. Darum mögen wir auch jeder Gelegenheit wahrnehmen uns in der Gesinnung zu stärken, aber noch mehr jeder wo wir sie auch bewähren können, daß, indem wir bei allen menschlichen Handlungen nur daran denken, | wie sie sich zu dem heilsamen Willen Gottes verhalten, wir auch in allem Unrecht immer nur das Widerstreben gegen das Gute sehen, welches Gott den Menschen zugedacht hat, und wenn wir sagen, Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht, ohne an uns zu denken niemals etwas anderes meinen, als das was auch Stephanus im Sinne hatte. Denn m. G., was heißt wol das, dem Menschen wird die Sünde behalten? Sie wird ihm behalten, wenn er sie behält; sie wird ihm behalten, wenn sie ihm gedeiht; sie wird ihm behalten, am gewissesten und ach! auf die traurigste Weise, wenn er, sei es auch nur vorübergehend das Ziel erreicht, das er sich gesteckt hat; sie wird ihm behalten, wenn er sich allen Mahnungen einzugehn in das Reich Gottes immer mehr weigert, und der ernsten Stimme, die Alle dazu ruft, das Gehör ganz versagt. Wenn Stephanus sagt, Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht: was hatte er anderes dabei gedacht als dies; Gott möge sie deswegen nicht ganz ausschließen aus diesem seinem Reich, in welches er selbst als ein treuer Diener sie bis auf seine lezten Augenblikke hatte rufen und ziehen wollen; er möge ihnen die Sünde nicht behalten und es nicht zu zeitig vor ihnen zuschließen, damit auch sie der Segnungen desselben noch während ihres irdischen Lebens genießen könnten; er möchte die Kräfte, die jezt feindselig gegen das Reich seines Sohnes 2 noch] nach 15–16 jeder Gelegenheit wahrnehmen] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 524; Bd. 5, Sp. 31f 22 Sünde nicht] Sündeni cht 14 Vgl. Gal 5,17

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auftraten, beugen unter seine Befehle. Das war es, was Stephanus im Sinne hatte, als er sagte, Herr behalte ihnen diese Sünde nicht; und niemals sollen auch wir etwas anderes dabei denken als eben dies. Wenn der Widerstand gegen das Reich Gottes sich vermindert; wenn sich die uneinig gewesenen Gemüther immer mehr | versammeln um bei derselben Quelle das Heil zu suchen; wenn das Auge des Geistes immer heller wird, um Wahres von Falschem zu unterscheiden, und sich dem himmlischen Lichte zuzuwenden: dann werden die Sünden vergessen und vergeben, dann sind sie verschwunden, denn ihre Wirksamkeit hat aufgehört. Wenn hingegen die Menschen sich immer mehr in dem Widerstand gegen die Ordnung des Heils befestigen; wenn sie ihre Ohren immer mehr verschließen gegen das Wort, Stehe auf, der du todt bist, damit dich Christus erleuchte1: dann, ja dann werden ihnen die Sünden behalten. Und wie schön ging das Gebet des Stephanus in Erfüllung wenigstens an Einem, aber an was für einem! Saulus war es, zu dessen Füßen diejenigen ihre Kleider niederlegten, die im wilden Grimm sich zusammenthaten, um den Stephanus zu steinigen. Er wurde dadurch der Zeuge nicht nur, sondern der Theilhaber der That und hatte sein Wohlgefallen daran. Und wenn wir auch nichts wissen von Andern, die dabei betheiligt waren: was für ein Segen dieses Gebets, wenn wir auf die Wirksamkeit des gewaltigen Apostels sehen! und wer kann es sagen, was die Erinnerung an dieses große Bild mitgewirkt hat, als der Erlöser auf dem Wege ihm zurief, Saul, es wird Dir schwer werden gegen den Stachel auszuschlagen. Und solches Segens werden sich immer die zu erfreuen haben, die auf dieselbe reine Weise der Bitte zu Gott fähig sind, daß Gott die Sünde ihren Brüdern nicht behalten wolle. Aber eben je mehr wir Veranlassung haben zu diesem | Gebet, um desto weniger darf es nur eine Bitte bleiben. Ist der eigentliche Sinn dieses Gebets derselbe bei uns wie bei Stephanus: o so muß unser Wunsch, so lange wir noch in den kräftigen Jahren des Lebens stehen, sich nicht begnügen aufzusteigen in den Himmel, sondern von dort gleichsam gesegnet zurükkehren in unser eigenes Herz, und eine Quelle werden von Gott gefälligen Thaten, von nicht zu ermüdender Liebe, von nie erkaltendem Eifer, um die Menschen zu dem zu führen, in dem sie allein das Heil haben. Wir dürfen nicht ermatten, die Menschen zu ihm zu ziehen, sondern feststehen auf dem Beruf, immer bereit Verantwortung zu geben von dem Grunde der Hoffnung, die in 1

Ephes. 5, 14.

15–16 Vgl. Apg 7,57 1Petr 3,15

19 Vgl. Apg 8,1

23–24 Vgl. Apg 26,14

37–1 Vgl.

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uns ist, immer geneigt, Jeden auf den rechten Weg hinzuführen. Endlich aber dann, wenn der Herr uns selbst vom Schauplaz des thätigen Lebens abruft, und das irdische Leben sich für uns schließt, wird sich zu der Bitte, daß der Herr sein Reich fördern wolle und überall mit seiner Gnade wohnen, wo ihn schon treue Seelen ehren und lieben, als unerlaßliche Hälfte unsrer lezten Segnung bei jedem Christen die andere hinzufügen, daß denen die Sünde nicht behalten werde, welche noch streiten gegen das Reich des Erlösers. Und dieser Segen, der auf der Bitte des Stephanus ruhte, wie er auf dem Gebet des Erlösers schon geruht hatte, der allein immer diejenigen, die Märtyrer des Glaubens waren, geheiligt hat, – denn die solcher Bitte nicht fähig waren, die waren auch keine reinen Zeugen des Glaubens, – dieser Segen wirkt fort, und wir können deutlich seine Spuren wahrnehmen. Darum wie viel wir noch Zwiespalt sehen in der Gemeinschaft der Christen und in allen Angelegenheiten des Glaubens; wie oft sich noch | Leidenschaften darin mischen, daß auch Zorn und Haß entbrennt: lasset uns so lange wir noch leben dem entgegen wirken durch die Kraft der Liebe, nie nach etwas anderem trachtend als das Böse zu überwinden durch das Gute! Dann werden wir sicher sein, auch in unsern lezten Augenblikken selbst für die, die uns am meisten feindselig entgegen treten, keinen andern Gedanken zu haben als diesen; und auf solchem Gebet wird immer der Segen dessen ruhen, dem wir Alle nachfolgen sollen in den Worten, Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun; der sogar die Sünde, welche sich gegen ihn, den Sohn Gottes, erhob, nur ansehen konnte als Unwissenheit, als bedauernswerthe Finsterniß, welche nur der Erleuchtung bedurfte. Zu diesem Gebet wollen wir uns Alle durch das göttliche Wort erheben, und uns stärken, unser ganzes Leben der Vereinigung der Gemüther zu weihen, damit es immer weniger Sünde gebe, von welcher wir wünschen müssen, daß sie nicht möge behalten werden. Amen. Lied 25, 2. 3.

2 vom] von 9–10 Gemeint ist Jesu Gebet am Kreuz Lk 23,34. 18–19 Vgl. Röm 12,21 23– 24 Lk 23,34 31 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 25: „Dir, unserm Gott, sey Lob“ (Melodie von „Nun danket alle Gott“)

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Am 29. Juli 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

6. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 5,21–34 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 245–259, Nr. XX; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 548, 1–6.

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Tex t . Marcus V, 21–34 „Und da Jesus wieder herüberfuhr im Schiff, versammelte sich viel Volks zu ihm, und war an dem Meer. Und siehe da kam der Obersten Einer von der Schule, mit Namen Jairus. Und da er ihn sah, fiel er ihm zu Füßen, und bat ihn sehr und sprach: Meine Tochter ist in den letzten Zügen; du wollest kommen, und deine Hand auf sie legen, daß sie gesund werde, und lebe. Und er ging hin mit ihm; und es folgte ihm viel Volks nach, und sie drängeten ihn. Und da war ein Weib, das hatte den Blutgang zwölf Jahre gehabt, und viel erlitten von vielen Aerzten, und hatte all ihr Gut darob verzehret, und half ihr nichts, sondern vielmehr ward es ärger mit ihr. Da die von Jesu hörete, kam sie im Volk von hinten zu, und rührete sein Kleid an. Denn sie sprach: Wenn ich nur sein Kleid möchte anrühren, so würde ich gesund. Und alsobald vertrocknete der Brunnen ihres Bluts; und sie fühlete es am Leibe, daß sie von ihrer Plage war gesund geworden. Und Jesus fühlte alsobald an sich selbst die Kraft, die von ihm ausgegangen | war, und wandte sich um zum Volk, und sprach: Wer hat meine Kleider angerühret? Und er sah sich um nach der, die das gethan hatte. Das Weib aber fürchtete sich, und zitterte, (denn sie wußte, was an ihr geschehen war) kam, und fiel vor ihm nieder, und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er sprach 3 Schiff,] Schiff; 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 548: „O Jesu Christ, mein höchstes Gut“ (Melodie von „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“)

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aber zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gesund gemacht; gehe hin mit Frieden, und sei gesund von deiner Plage.“

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Mit einer Einstimmigkeit, m. a. Z., wie es bei Weitem nicht immer der Fall ist, erzählen uns die drei ersten Evangelisten diese Begebenheit, und grade auf dieselbe Weise eingeschoben zwischen den Anfang und das Ende jener anderen Erzählung von der Tochter des Obersten, welche wir uns für unsere künftige Betrachtung aufsparen. Was nun die Sache selbst betrifft: so würde es vergeblich sein, viel darüber zu reden, weil wir es ja doch nicht verstehen können, auf welche Weise nun eigentlich diese Wirksamkeit von dem Erlöser ausgegangen ist; aber was dabei zunächst das Unsere ist, das ist dieses. Ueberall ist es in dieser menschlichen und unvollkommenen Welt so und nicht anders, daß es Einige gibt, von denen Kräfte ausgehen, und Andere, denen es noth ist, diese auf sich wirken zu lassen, und das, was dadurch ausgerichtet werden kann, zur Verbesserung ihres Zustandes in sich aufzunehmen. Von dieser göttlichen Ordnung der menschlichen Dinge ist allerdings das höchste und alle anderen überragende Beispiel dieses, wie die sündige Welt und der Erlöser zusammengehören, die eine nicht ohne den anderen als das Werk der göttlichen Liebe und Weisheit zu denken ist; aber deswegen ist auch diese Verbindung zwischen dem Erlöser, von welchem die für alle Zeiten das wahre Heil bewirkende Kraft ausgeht, und den|jenigen, die sich an ihn wenden, um diese Kraft auf sich wirken zu lassen, darum, sage ich, ist eben dieses auch das Beispiel, auf welches wir in allen ähnlichen Beziehungen hinsehen müssen, und dazu ist nun dieser Fall, wo es sich von einer leiblichen Wohlthat des Erlösers handelt, eben so geeignet, als wo er geistig wirksam wird, und kann uns um so mehr dazu dienen, je genauer diese Erzählung in das Einzelne eingeht. Wenn wir nun zuerst fragen, wie haben wir das zu verstehen, wenn hier gesagt wird, daß diese leidende Frau, als sie von Jesu hörte, im Volke von hinten zu ihm gekommen sei. Sollte sie damals zuerst überhaupt von ihm gehört haben? Das ist nicht wahrscheinlich; denn es geschah dieses eben in jener Stadt, wo der Erlöser sich öfter aufzuhalten pflegte, wo er noch vorher gewesen war und von wo er nur auf kurze Zeit sich entfernt hatte zu jener Fahrt über den See, auf deren Anfang und Ende wir ihn bisher begleitet haben. Nun wird uns auch nicht gesagt, daß diese Frau nicht wäre an dem Orte einheimisch gewesen, sondern aus der Ferne gekommen, was vielmehr die Erzählung unwahrscheinlich macht; sie war also schon lange mit dem Erlöser zusammen, hatte, wie uns erzählt wird, viel 3–4 Vgl. neben Mk 5,21–34 Mt 9,18–22 und Lk 8,40–48 5–7 Vgl. die Predigt am 12. August 1832 über Mk 5,35–43 30–32 Schleiermacher meint Kapernaum am See Genezareth, dem Galiläischen Meer. Vgl. Mt 4,13; 8,5; Mk 1,21; 2,1; 9,33; Lk 4,31; 7,1; Joh 2,12; 4,47 u. ö. 32–34 Vgl. die Predigten am 17. Juni und 1. Juli 1832 über Mk 4,35–41 und Mk 5,1–20

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gelitten von vielen Aerzten, und viel aufgewendet, um ihre Gesundheit wieder zu erlangen, ohne daß es ihr geholfen hätte. Sollen wir sie nun darüber tadeln, daß sie nicht schon früher sich an den Erlöser gewendet und der Hoffnung Raum gegeben hatte, daß seine persönliche unmittelbare Einwirkung sie befreien konnte von ihrem Uebel? Ich möchte es nicht wagen, m. g. Fr.; denn wenn wir überhaupt in allen menschlichen Dingen zu unterscheiden haben das Gewöhnliche und Ordnungsmäßige, und das Seltene und Außerordentliche: so ist es freilich so, daß jenes gar häufig nicht ausreichen will, und wenn wir darauf beschränkt wären, noch ein viel größeres Maß von Leiden und Unvollkommenheiten in der Welt | sein würde, und darum ist das beides von Gott in der Welt gemischt. Jenes, was, ich will nicht sagen seinem ganzen Zusammenhange nach uns durchaus begreiflich ist, – denn wie wenig gibt es in dem Verhältnisse des Menschen zu dieser irdischen Natur, was wir so begreifen können – aber es ist uns doch faßlich vermöge der Gewohnheit, wir kennen es als das, worauf wir uns mit einer gewissen Sicherheit verlassen können; aber das Andere ist uns immer noch fremd, und so erregt es uns bald anlockende, bald abstoßende Empfindungen, bis wir erst einig darüber werden, wie wir uns gegen dasselbe zu stellen haben. So war auch, ehe die Zeit erfüllet war, wo der Erlöser kommen sollte, eine Menge von ordentlichen Hülfsmitteln, um freilich nicht dahin zu führen, was der Erlöser bringen sollte, aber um die Menschen, wie die Schrift sagt, zusammenzuhalten unter dem Gesetz und der Sünde, die Verschlimmerung zu hemmen, den kleinen Funken des höheren Lichts, der Wahrheit und des Guten auf einem Punkte zu sammeln. Aber zu gleicher Zeit finden wir überall mit dem Bewußtsein, wie unzulänglich das Alles sei, und aus dem allgemeinen Gefühl, daß es die Befriedigung, nach der wir streben, nicht gewähre, das Verlangen und die Sehnsucht nach etwas ausgedrückt, das außer diesem Kreise liege und unmittelbar von oben herabkommen müsse. Ist es nun nicht billig, wenn wir sagen, die Menschen hätten, eben weil ihnen jenes Verlangen in das Herz gepflanzt war, jenen ordentlichen Weg verlassen müssen, alles Frühere hintenansetzen, weil es ihnen doch keine Befriedigung gewähren konnte, und warten, bis die Zeit käme, die Gott bestimmt hatte? Das wird gewiß niemand behaupten wollen; sondern jeder wird sie loben müssen, wenn sie daran festhielten, woran sie gewiesen waren, damit nicht mit der Sünde das menschliche Elend einen noch höheren | Grad erreichte; wir werden es loben müssen, wenn sie von dem nicht losließen, das sich ihnen zu erkennen gab als eine göttliche Ordnung, worunter sie sollten zusammengehalten werden, wodurch sie doch immer noch eine Ahndung erhielten von dem, was eigentlich dem Menschen bestimmt sei und worin er seinen Frieden zu suchen habe. Aber nicht anders als so ist es noch immer und war auch damals in Beziehung 19 Vgl. Gal 4,4

21–22 Vgl. Gal 3,23.22; ferner Röm 11,32

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auf jene Verhältnisse. Freilich war damals noch beschränkter die Kenntniß der Menschen von den natürlichen Kräften, von den Mitteln, die Gott in die Natur gelegt hat, um die Menschen von den natürlichen Uebeln zu befreien; aber doch gab es eine solche Kenntniß, die sich in der Ueberlieferung von einem Geschlecht zu dem andern erhalten hatte, und, wenn freilich noch unvollkommen, war dieses doch immer der natürliche, ordnungsmäßige Weg für Alle, die an körperlichen Beschwerden litten. Und so wollen wir nicht sagen, daß diese Leidende Unrecht gethan, den gewöhnlichen Weg einzuschlagen und die Hülfe der Aerzte zu suchen, und wie die Gesundheit doch die Bedingung ist, unter der allein wir alle anderen irdischen Güter genießen können, auch, wie es hier gesagt wird, von ihren Gütern viel hingegeben, um auf jenem ordentlichen Wege die Gesundheit zu erlangen. Und daß selbst das Außerordentliche in dem Erlöser nicht vermochte, sie sogleich so an sich zu ziehen, daß sie Hülfe bei ihm suchte, darüber können wir sie nicht tadeln; vielmehr müssen wir sagen, das Herz des Menschen muß erst einig mit sich werden und fest in dem Vertrauen auf das, was auf dem außergewöhnlichen Wege liegt, ehe er es bei sich rechtfertigen kann, daß er den gewöhnlichen verläßt. Und darum urtheilt der Erlöser selbst so gelinde und mild über die Menschen seiner Zeit, und grade über die, welche die Leitung der geistigen Angelegenheiten in ihrer Hand hatten; er beurtheilt sie so außerordentlich milde, grade deswegen weil sie die Ordnungen, an die sie gewiesen waren, die Ordnungen des Gesetzes und | des Tempeldienstes, das was ihnen geboten war in den alten Einrichtungen ihres Volkes, ohnerachtet sie wol fühlen mußten, daß das geistige Wohl dadurch nicht herbeigeführt wurde, daß sie diese nicht verlassen wollten, um seiner Einladung zu dem Reiche Gottes, welches nahe herbeigekommen war, zu folgen. Er legt es ihnen oft an das Herz, daß sie Ruhe und Frieden bei ihm suchen sollten; aber sein letztes Urtheil ist doch nur dieses, daß sie nicht gewußt, was sie thäten, daß es ihnen an Uebereinstimmung ihres innersten Willens mit der That gefehlt habe, und etwas Weiteres als dieses weiß er ihnen nicht Schuld zu geben. Nun aber wenn wir auf die Erzählung unseres Textes selbst sehen und das Frühere bei Seite stellen: so sehen wir nun, wie diese Leidende, indem sie sich entschloß, Hülfe bei dem Erlöser zu suchen, gehindert wurde durch das große Gedränge, welches um ihn war, so daß sie nur mit Mühe und von hinten dazu kam, sein Gewand zu berühren. Sollen wir uns über dieses Gedränge freuen, das den Erlöser umgab, als über ein Zeichen der rege gewordenen Aufmerksamkeit, als über einen Vorboten des Glaubens? Ich wage es nicht, m. G., denn es scheint sich dieses Gedränge weniger auf den Erlöser selbst bezogen zu haben, sondern darauf, daß die Bewohner des Ortes wußten, der Oberste der Schule der harre ängstlich seiner Rückkunft, 28–29 Vgl. Lk 23,34

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um seine Hülfe zu begehren für seine kranke und dem Tode nahe Tochter; denn sonst finden wir den Erlöser häufig an demselben Ort und hören ihn klagen darüber, daß Alles, was er gethan, doch nicht die rechte Wirkung auf die Gemüther hervorgebracht habe, die er berechtigt war zu erwarten, so daß wir nicht sagen können, es sei, je länger er dort erschien, ein um so gewaltigeres Drängen um ihn entstanden. Und auf eine ähnliche Weise werden gar oft in allen menschlichen Verhältnissen diese beiden zusammengehörigen Theile, die, von denen Kräfte ausgehen sollen, und die, welche der Ein|wirkung derselben bedürfen, von einander gehalten und entfernt. Was sich leicht und natürlich zusammenfinden würde in einem ruhigen Zustande, das wird nur zu sehr geschieden in einem unruhigen, neugierigen Treiben der Menschen, und wenn wir sehen, wie dieses oft so sehr auf das Aeußere gerichtet ist: so müssen wir es beklagen, daß dieses oft ein Hinderniß des Besseren wird. Allerdings können wir das nicht tadeln, wir müssen es vielmehr loben, daß die Einwohner der Stadt eine lebendige Theilnahme hatten für das, was den Obersten ihrer Schule betraf, denjenigen, der ihre gottesdienstlichen Uebungen, ihre Erbauungen aus den heiligen Schriften zu leiten hatte, und an der Spitze mancherlei Anstalten, die für das gemeinsame Wohl bestimmt waren, stand; eine solche Theilnahme müssen wir natürlich finden, und überall, wo sie sich ausspricht, müssen wir uns freuen, daß ein natürliches Verhältniß, welches wir leider in unseren Tagen so oft gestört finden, noch frei waltet. Aber hier war die Aufmerksamkeit vielmehr darauf gerichtet, daß grade die Obersten der Schule nicht die waren, welche das Thun des Erlösers, sein Leben und Wirken in Ehren hielten und beschützten, vielmehr waren sie die, welche das Volk von dem Glauben an ihn zurückhielten, und daß nun doch ein Solcher sich genöthigt sah, seine Zuflucht zu dem Erlöser zu nehmen, um zu sehen, ob er ihm Hülfe leisten könne, das war nun freilich ein Gegenstand der Neugierde, einer natürlichen auf der einen Seite; aber doch müssen wir sagen, es ist etwas Störendes und Unheimliches in der Art, wie die Menschen gespannt sind darauf, wie sich Verhältnisse entwickeln werden, die eigentlich gar nicht sein sollten. Denn in ähnlichen Verhältnissen des Lebens – hier war es freilich nicht der Fall – hindert dieses oft, daß das Rechte geschehe; man scheut sich vor dieser gespannten Aufmerksamkeit, vor dieser öffentlich sich kund gebenden Theilnahme um desto mehr, je mehr der eine oder der andere Theil genöthigt ist, von seiner gewöhnlichen | Handlungsweise abzugehen und einen außerordentlichen Weg einzuschlagen. Der Erlöser freilich wies nie Einen zurück, der sich an ihn wendete, auch die nicht, die seine Gegner gewesen waren; aber wenn dieser Mann nicht in so großer Noth gewesen wäre: wie leicht wäre er durch jene Neugierde gehindert worden, den Erlö2 Vgl. Mt 4,13; 8,5; 9,1; Mk 1,21; 2,1; 3,20; 9,33; Lk 4,31; 7,1; Joh 2,12; 4,47 4 Vgl. sehr wahrscheinlich Mt 11,20–24, bes. 23; Lk 10,13–16, bes. 15

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ser um seine Hülfe zu bitten, und gewiß hat er schon vorher etwas zu überwinden gehabt in sich selbst. Darum ist es freilich wahr, so oft es schwierige Verhältnisse zu lösen gibt in den menschlichen Dingen, finden wir dieses Zusammentreten der Aufmerksamkeit, dieses äußerliche zur Schau Tragen als etwas Störendes, und wir müssen sagen, je mehr in der Stille, mit je weniger Aufmerksamkeit begleitet ein solcher Weg eingeschlagen wird, um desto leichter und sicherer wird er zum Ziele führen. Diese nun drängte sich glücklich durch den Haufen zu dem Erlöser hindurch und rührte sein Gewand an und fühlte sogleich, daß sie ihrer Plage los war. Dieses ist grade das, m. a. Fr., was wir nicht verstehen können, weil uns der Blick in den Zusammenhang dieser Dinge versagt ist. Nur Eins sehen wir, daß der Erlöser hier eine Hülfe leistete, ohne es selbst vorher bestimmt gewollt zu haben, und so finden wir allerdings auch anderwärts in den kürzer gehaltenen Erzählungen unserer Evangelienbücher solche Andeutungen, daß, wo eine große Menge zusammenkam um den Erlöser, Viele auf ähnliche Weise befreit wurden von ihren Uebeln, ohne daß der Erlöser bestimmt seine Aufmerksamkeit auf sie gewendet hätte, ohne daß die Heilung von einer bestimmten Handlung seines Willens ausgegangen wäre. In dem Gebiet des geistigen Lebens ist das nun gar häufig der Fall, und je mehr sich eben diese wunderbaren Hülfsleistungen des Erlösers von der gewöhnlichen leiblichen Ordnung der Dinge entfernen: um desto natürlicher führen sie uns auf das Gebiet des geistigen Lebens hin. Wie erblicken wir da dieses Verhältniß so erstaunlich | groß, wie gering sind die Einwirkungen, die Einer auf den Andern ausübt mit seinem bestimmten Willen und Absicht, wie geht der Umlauf der geistigen Kräfte unter den Menschen größtentheils vor sich auf solche Weise wie hier; es ist der innere Mensch, welcher gedrungen ist durch die Liebe, sich auszusprechen und kund zu geben, Zeugniß zu geben von dem, was ihm selbst wahr und lieb ist, ohne daß er weiß, ob und wo er etwas wirkt. Und es ist ebenso ein geheimnißvoller Zug eines schneller ober langsamer sich entwickelnden Vertrauens, welches die Menschen denen, die auf besondere Weise begabt sind, theils in Massen, theils einzeln hinzuführt, um ebenso, wie es hier geschieht, zu empfangen. Ja auch in dem Gebiet seiner geistigen Wirkungen ging es dem Erlöser ebenso. Freilich haben wir viele Beispiele davon, wie er sich selbst zuerst an einzelne Menschen gewendet, oder wie Andere sich an ihn gewendet, nicht um leibliche Hülfe zu suchen, denn das meine ich jetzt nicht, sondern um Worte des Lebens von ihm zu hören und er auch sich an sie gewendet, um sie einzuladen, seine Gehülfen und Werkzeuge zu werden. Aber wie wenige sind doch dieser. Wenn wir bedenken, wie schnell nach der Hinwegnahme des Erlösers von der Erde der Glaube sich verbreitete unter dem Volke: das war die Wirkung des Geistes, den er den Aposteln und seinen andern Jüngern sendete; aber es war doch vorbereitet durch das, was er gethan, und gewiß hat er in seinen öffentlichen Reden die

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Gemüther Einzelner ergriffen, ohne daß uns davon erzählt wird, den Samen ausgestreut in die Gemüther der Menschen, der freilich nachher noch anderer Einwirkungen bedurfte, um sichtbar hervorzutreiben; aber die erste Wirkung war doch die seinige. So können wir also auch, daß es sich mit seinen wunderbaren leiblichen Hülfsleistungen ebenso verhielt, nicht bezweifeln; aber beides gehörte doch dazu, der Glaube und das Vertrauen, das Verlangen eine Hülfe von ihm zu empfangen; denn es hatten ihn ja Viele | berührt in dem Gedränge und sollte es nicht Viele darunter gegeben haben, die etwas von ihm hätten erlangen können? Aber weil sie kein Verlangen hatten, so geschah es auch nicht. Und so werden wir es überall bestätigt finden. Das Einzelne, den einzelnen Zusammenhang in dem, was Gutes und Heilsames in der Welt geschieht, sei es auf diesem oder auf jenem Gebiet, vermögen wir selten zu begreifen; aber das wissen wir, je mehr in denen, welche Anderen mittheilen können, die Liebe kräftig ist, und auf der anderen Seite in denen, welche der Hülfe bedürfen, Verlangen, Sehnsucht, Vertrauen zu denen, welche begabt sind von Gott, um ihnen nützlich zu werden, je mehr dieses beides zusammen ist: um desto mehr Gutes wird auch im Einzelnen geschehen, wenn wir auch nicht nachweisen können wie, wenn auch die ersten Anfänge von Ursache und Wirkung uns verborgen bleiben. Aber nun lasset uns unsere Aufmerksamkeit richten auch auf die Jünger des Herrn. Es muß uns auffallen, wie sie den Erlöser gleichsam meistern. Indem er fragt: „wer hat mich angerührt?“ so machen sie ihn aufmerksam darauf, wie wenig den Umständen angemessen eine solche Frage sei, wie wenig er eine Antwort darauf erwarten könne in dem Gedränge, das ihn umgab. Das ist uns auf der einen Seite ein erfreuliches Zeichen davon, wie frei sie mit ihm umgingen, und nur grade dadurch konnte es geschehen, daß sie allen Nutzen aus seinem persönlichen Umgange, aus seiner unmittelbaren Nähe zogen, den sie ziehen konnten; auf der anderen Seite ist es auch wieder ein erfreuliches Zeichen davon, daß sie auf diese mehr äußeren, leiblichen Wirkungen des Erlösers nicht auf eine ausschließende oder vorzügliche Weise ihre Aufmerksamkeit richteten; sondern daß sie mit ihrem Gemüth überwiegend auf das Geistige hingewendet waren. Denn hätten sie jenes besonders beobachtet, wäre es ihnen mehr darum | zu thun gewesen, alle diese Wirkungen recht genau aufzufassen, als vielmehr darauf zu sehen, wie sein Inneres sich zu Tage gab, wie seine Worte und Thaten einander ergänzten und deutlich machten, wenn sie jenes mehr beobachtet hätten als dieses: so würden sie schon Beispiele gewußt haben von ähnlichen Wirkungen des Erlösers, und also auch gewußt, daß er deß hätte können inne geworden sein. So aber begriffen sie seine Frage nicht, sie wußten nicht, daß sie beruhte auf einer besonderen Wirksamkeit, die er von sich ausgehen gefühlt hatte, und wozu es auch eines besonderen Gegenstandes bedurfte. Wenn wir nun betrachten die geistige Wirksamkeit des Erlösers,

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wie sie damals war, wie sie auch immer noch fortdauert: so haben wir immer Gelegenheit, dieses Beides zu unterscheiden: wie vermöge der Ordnung, welche eingerichtet ist in der christlichen Kirche, und welche von ihm selbst herstammt, der Geist Gottes seine Werke den Gläubigen immer mehr verklärt und alle gemeinsamen Wirkungen dieser Art ausgehen durch den Geist Gottes von ihm; aber wie viele Beispiele gibt es nicht auch von solchen einzelnen bestimmten Verhältnissen, die uns den Ausdruck des Erlösers von der Zeit, da er würde entfernt sein von der Erde, daß er seinen Jüngern seine Gegenwart verspricht, auf besondere Weise erklären, von solchen Wirkungen, die uns das Verhältniß der Einzelnen zu ihm erklären, welche ebenso plötzlich erscheinen auf dem geistigen Gebiet, wie diese auf dem leiblichen, welche uns seine Wirksamkeit so zeigen, daß, wenn wir auf menschliche Weise sie betrachten, wir sagen müssen, daß er auch müsse von einer solchen plötzlichen, tief eingreifenden Einwirkung ein Bewußtsein gehabt haben. Der Erlöser antwortete den Jüngern nicht, nur deswegen, weil die That gleich antworten sollte, weil er wol wußte, daß er auf seine Frage der Antwort nicht entbehren würde. Und wir sehen nun, wie diese Leidende mit ihrem Vertrauen auf | den Erlöser doch eben eine solche Schüchternheit verband, daß sie es nicht einmal darauf anlegte, ein solches persönliches Verhältniß mit ihm anzuknüpfen, wie die meisten Leidenden es thaten, daß sie nicht suchte, auf solche Weise an ihn zu gelangen, daß sie ihm ihre Bitte vortragen und die Gewährung derselben unmittelbar von ihm selbst empfangen konnte, sei es aus Scheu vor ihm oder aus Scheu mehr vor dem Gedränge und der öffentlichen Aufmerksamkeit. Nun aber der Erlöser fragte: ergriff sie freilich ein heftiges Zittern, und sie fürchtete sich; aber es war ihr nicht möglich, ihm nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Aber sehen wir auf den Erlöser, m. A., warum wollte er das wissen, welches die Leidende gewesen sei; konnte es ihm nicht genug sein an dem Bewußtsein, daß er wieder etwas Gutes wenn gleich nur für die leibliche Noth gewirkt hatte? So könnten wir wol fragen, wenn wir uns den Erlöser denken wollten auf eine gleichsam übermenschliche Weise, ohne sich um die Menschen zu bekümmern, die göttlichen Wohlthaten spendend; aber wir sehen auch hier wieder, wie ganz menschlich er den Menschen seine Gaben mittheilte. Und so werden wir denn auch in ähnlichen Verhältnissen kein solches Verfahren, wie ich es jetzt an dem Erlöser voraussetzte, als ein menschliches rühmen können. Es ist überall so, daß von denen, welche Gott berufen hat, Gutes zu wirken, sei es durch die Gaben, die sie empfangen haben, oder durch die Stelle, in die sie gesetzt sind, oder auf welche Weise es wolle, daß von denen eine Menge Wirkungen ausgehen, von welchen sie im Einzelnen nichts erfahren. Aber doch wie würde es um die menschlichen Dinge stehen, wie würde die Liebe, von der gesagt wird, daß sie das 7–9 Vgl. Mt 28,20 in Verbindung mit Joh 16,7.13f

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Band der Vollkommenheit sei, die Liebe, von der gesagt wird, daß sie der Sünden Menge | bedecke, wie viel weniger wirksam würde die sein, wenn nicht diejenigen, von denen Wirkungen ausgehen, sich auch einzeln um die bekümmerten, welche sie empfangen. O dieses gehört zu dem Heilsamsten in der Welt, und wir müssen sagen, daß alle göttliche Ordnung in der Welt zur Aufrechthaltung des Guten in den Menschen doch seine rechte lebendige Kraft, sein segensreiches Bestehen erst dadurch gewinnt, wenn die, die am Meisten dazu gerüstet sind, kräftige Wirkungen ausgehen zu lassen, und die, welche am Meisten benöthigt sind, sie zu empfangen, nicht so vereinzelt und von einander gerissen da stehen, sondern wenn sich auch persönlich jene um diese bekümmern. Denn dann ist es eben das Bewußtsein der Liebe, welches die Getrennten vereinigt und jede Ungleichheit zu einem Bande macht, welches sie auf solche Weise verbindet, daß sie nicht lassen können Einer von dem Andern, und alle gemeinsame heilsame Einrichtungen unter den Menschen bekommen nur dadurch ihre Kraft und sind nur so lange im Stande zu dauern, als sie von diesem Bestreben, um einander zu wissen, sich um einander zu bekümmern, gehalten und getragen werden. Diejenigen, welche in gleichen Verhältnissen sind, die finden sich auch zu einander; aber daß die Gemeinschaft unter denen, die von einander getrennt sind, ebenfalls nicht aufhöre, darauf beruht das Wohl der menschlichen Gesellschaft, das geistige wie das leibliche. Und so erscheint uns denn auch hier der Erlöser als das heilige Vorbild, an das wir uns halten sollen. Freilich gibt es auch schon für den Menschen nichts mehr Erfreuliches, nichts mehr Erquickendes und ihn Aufmunterndes, als wenn er im Einzelnen Erfahrungen macht von den großen Wirkungen, die von ihm ausgehen, als wenn dadurch ein Band zwischen ihm und Andern sich befestigt; aber auch abgesehen davon, daß das ein natürliches Bedürfniß des menschlichen Herzens ist: so ist es auch nothwendig zur Erhaltung der allgemei|nen Verbindung unter den Menschen, so ist es das, was alle Kräfte, die in die Menschen gelegt sind, erst recht fruchtbar macht, und wodurch allein, zumal in einer Zeit, wo überall eine Zertrennung der Gemüther und Zwiespalt droht, die Menschen vereinigt erhalten werden in dem Geist und in der Kraft der Liebe. Und so wollen wir es denn immer von dieser Seite beachten, wie wichtig es ist für die allgemeinen Ordnungen der Gesellschaft, die einzelnen persönlichen Verhältnisse nicht zu vernachlässigen, sondern deren, soviel es geht, anzuknüpfen, und die äußersten Enden der menschlichen Gesellschaft unmittelbar zu verbinden, damit so das Ganze unzerstörbar zusammengehalten werde. Und wenn nun der Erlöser zu der Gabe, welche die Frau leiblich empfing, nichts weiter hinzufügte: o so war doch gewiß das Wort, welches er zu ihr redete, indem es zu dem, was gleichsam ohne seinen Willen von ihm 1–2 Vgl. 1Petr 4,8 (darin Bezug auf Spr 10,12)

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ausgegangen war, die Bestätigung seines Willens hinzufügte, seine Freude darüber ausdrückte, daß sie gesund geworden war, ein Segen für ihre ganze Lebenszeit; und wenn wir auch weiter nichts von ihr wissen: kaum doch werden wir zweifeln können, daß dieses dazu beigetragen, sie in dem Glauben zu befestigen, daß der Erlöser ein Mann sei, von Gott ausgestattet, nicht nur um die Menschen von ihren leiblichen Uebeln zu befreien, sondern daß ihr auch dieses zu dem Glauben an seine geistige Kraft werde verholfen haben. Und so möge es denn auch bei uns der Fall sein, wenn wir in den äußeren Verhältnissen die Erfahrung davon machen, wie nothwendig es ist, daß solche persönlichen Beziehungen unter denen bestehen, die helfen können und die der Hülfe bedürfen, daß dieses uns immer kräftiger auf das geistige Band hinführe, durch welches wir mit einander verbunden sind, damit wir überall von dem, was freilich auch an | sich wichtig ist, zu dem noch Wichtigeren und Höheren, von jedem Erweise der Liebe unter den Menschen hingeführt werden zu dem, in welchem sich die Liebe des himmlischen Vaters offenbaret hat, auf daß er uns sei und immer mehr werde Alles in Allem. Amen. Lied 548, 6.

16–17 Vgl. 1Kor 15,28 18 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 548: „O Jesu Christ, mein höchstes Gut“ (Melodie von „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“)

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7. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 8,36.38 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 190–208, Nr. XI SW II/3, 1835, S. 326–337; 21843, S. 339–350. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 387–396 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 7. Sonntage nach Trinitatis.

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Lied 9. 437. Text. Apostelgesch. VIII, 36. 38. „Und als sie zogen der Straße nach, kamen sie an ein Wasser; und der Kämmerer sprach: Siehe, da ist Wasser, was hindert es, daß ich mich taufen lasse?1 Und er hieß den Wagen halten, und stiegen hinab in das Wasser, beide Philippus und der Kämmerer; und er taufte ihn.“

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M. a. Z. Ich habe nur das Ende dieser Erzählung aus der Geschichte der Apostel vorgelesen, in der Voraussezung, daß sich aus demselben der ganze Verlauf zwischen dem Diener des Herrn Philippus und diesem Kämmerer aus Mohrenland einem Jeden vergegenwärtigen werde. Wir sehen darin, und so wollen wir es mit einander jezt betrachten, ein Beispiel, lehrreich wie jedes einzelne ist, | von der Art, wie sich das Evangelium in den ersten Zeiten der Christenheit verbreitet hat. Laßt uns dabei zuerst auf die göttliche Ord1

Der V. 37. ist jezt wol allgemein als ein späterer Zusaz anerkannt.

2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 9: „Gott, deine Güte reicht so weit“ (Melodie von „Sey Lob und Ehr dem höchsten Gut“ bzw. „Es ist das Heil uns kommen her“); Nr. 437: „Ich schäme mich des Heilands nicht“ (Melodie von „O Ewigkeit, du Donnerwort“)

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nung sehen, die wir dabei wahrnehmen, aber dann auch zweitens auf die menschliche Handlungsweise, die sich uns darin zeigt.

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I. Was nun zuerst die göttliche Ordnung betrifft, die wir in dieser Erzählung wahrnehmen, so kann es freilich scheinen, wenn uns da gesagt wird mit abwechselnden Worten, bald der Engel des Herrn sagte dem Philippus, bald der Geist sprach zu ihm, und der Geist rükkte ihn wieder hinweg, so könnte es, sage ich, scheinen, als ob dies eine Art und Weise wäre, das Evangelium, diese größte Gnadenwohlthat Gottes, in der Welt zu verbreiten, welche keine vernünftige Auslegung zuließe, in welcher sich keine feste Regel zeigte, ja worin wir eher scheinen könnten, das zu vermissen, was der Apostel Paulus an einem Orte in seinen Briefen sagt, daß Gott nicht ein Gott der Unordnung ist in den Gemeinden1. Denn es erscheint uns freilich als etwas sehr zufälliges und aufs Gerathewohl unternommenes, wenn Philippus so wunderbar auf eine nicht gerade sehr häufig besuchte Straße gebracht wird, und da unerwartet und zufällig einen Einzelnen findet, welchem er sich nun berufen fühlt, das Evangelium zu verkündigen. Aber wie ja in Gott nichts auf solche Weise einzeln ist, einzeln beschlossen wird und ausgeführt, sondern alles in einem großen Zusammenhange: so müssen wir | auch dieses nicht so für sich allein betrachten, sondern in seinem Zusammenhang mit allem übrigen, wenn wir eine richtige Ansicht davon auffassen wollen. Gehen wir in die Geschichte zurükk, so müssen wir unsere Betrachtung daran knüpfen, wie der Erlöser zu seinen Jüngern kurz vor seinem Erhobenwerden in den Himmel sagte, sie sollten Jerusalem nicht verlassen, sondern da so lange warten, bis sie würden angethan werden mit Kraft aus der Höhe; und dann sollten sie seine Zeugen sein, anfangend in Jerusalem bis ans Ende der Erde. Darin hatte also der Erlöser ihnen schon eine Ordnung vorgezeichnet, mit Jerusalem sollten sie anfangen, aber nicht eher, als bis sie die Erfüllung seiner Verheißung erfahren hätten; und von da an sollte sich nach allen Seiten hin das Evangelium verbreiten. Nun kam jener denkwürdige Tag, wo sie angethan wurden mit Kraft aus der Höhe, und den wir als den ersten bestimmten Anfang der 1

1 Kor. 14, 33.

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35 1] 1. 6–7 Vgl. Apg 8,26 7 Vgl. Apg 8,29 49 in Verbindung mit Apg 1,4.8 Apg 2,1–13

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7–8 Vgl. Apg 8,39 25–29 Vgl. Lk 24,47– 33–1 Vgl. die Schilderung des Pfingstfestes

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sichtbaren Kirche Christi auf Erden ansehen können. Wenn wir aber weiter betrachten, wie sie seitdem zu Werke gegangen: so müssen wir sie darum loben, daß sie nicht eine unruhige Ungeduld bewiesen, gleich, nachdem sie das erste befolgt, was der Herr ihnen aufgetragen, nun auch auf das schnellste zum zweiten fortzuschreiten. Sie zerstreuten sich nicht, nachdem sie die Gemeinde von zuerst dreitausend Seelen, die sich aber immer mehr anhäuften, gesammelt hatten, sie zerstreuten sich keinesweges gleich willkührlich der Eine hierhin, der Andere dorthin; sondern, wie es allerdings Noth that, das Wort, das einen so schnellen Eingang in die Gemüther gefunden hatte, nun auch den neuen Gläubigen recht tief einzuprägen und es ihnen seinem ganzen Inhalt | nach, welches ja immer das Werk des göttlichen Geistes sein sollte, immer mehr zu erklären, so begnügten sie sich mit dieser stillen Wirksamkeit des regelmäßigen und ruhigen Lehrens in der Gemeinde, die ihnen Gott anvertraut hatte. So gestaltete sich also in Ruhe und Ordnung das Geschäft der christlichen Lehre; so begannen die heilsamen Ordnungen der christlichen Gemeinschaft sich immer mehr zu entfalten: damit aber etwas weiteres geschehe, mußte der Herr erst anderes herbeiführen. Da entstand jener feindselige Ausbruch gegen das Werk des Erlösers, welcher sich dem Stephanus zum Gegenstand nahm, und ihn als den ersten christlichen Märtyrer auszeichnete; da erhob sich die Verfolgung, die einer großen Menge von Christen das Zeichen gab sich zu zerstreuen. Zu denen, die sich so zerstreuten, gehörte auch Philippus; er begab sich in den Theil des jüdischen Landes, den wir in den Schriften des neuen Testaments mit dem Namen Samaria bezeichnet finden, und handelte daran ganz vernünftig. Denn hier war er sicher vor der ausgebrochenen Verfolgung, weil die Juden die Gemeinschaft mit den Bewohnern dieses Landes scheuten; es war eine Stätte, wo auch der Erlöser selbst, jene Feindschaft nicht achtend, schon geweilt und einen Saamen des göttlichen Wortes ausgestreut hatte, der seine Jünger mit den schönsten Hoffnungen erfüllte. Hier predigte nun Philippus; und ganz in der Ordnung, wie die Apostel in Jerusalem gethan, trieb er das Werk der Lehre, und sammelte eine Gemeinde des Herrn. Aber als die Apostel, welche zu Jerusalem geblieben waren, davon hörten, sandten sie zweie aus ihrer Mitte, den Petrus und Johannes, dorthin, um das angefangene Werk zu vollen|den und auch dort alle Ordnungen der christlichen Gemeinde wie in Jerusalem aufzurichten. Als diese beiden nun das dortige Werk in ihre Hände nahmen, wurde eben dadurch der Dienst des Philippus überflüssig. Er aber trachtete nur danach, noch 6–7 Vgl. Apg 2,41 11–13 Vgl. Joh 14,26; 16,12–14 19–22 Vgl. Apg 6,8–7,59 22–26 Vgl. Apg 8,1.4f 29–31 Vgl. Joh 4,1–42 32–38 Vgl. Apg 8,5f.14–17

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mehr Seelen zu gewinnen für das Wort des Lebens; und in dieser Lage war es denn jener Zug des Geistes, jene Stimme, oder wie wir es sonst nennen wollen, was ihn auf jene Straße führte. Andere, die sich zu derselben Zeit zerstreuten, gingen in ihre Heimath zurükk, indem sie dort vor der Verfolgung Ruhe und Frieden zu finden hoffen durften, weil die Gewalt jener Feinde des Evangeliums nicht so weit hinaus reichte. Die nun dieser freilich natürlicheren Ordnung folgen konnten, – was dem Philippus nicht gegeben war, denn er wohnte wahrscheinlich in oder in der Nähe der jüdischen Hauptstadt – von diesen nun kamen unter andern einige auch nach Antiochia, wo sich eine große Gemeinde sammelte nicht nur von Juden, sondern auch von Heiden. Und welch großer Segen ist nicht von dort ausgegangen! Diese Stadt wurde der Mittelpunkt, von wo aus der Apostel Paulus seine Reisen betrieb, und so ist auch zu glauben, daß diese Gemeinde ihn zu seinem großen Werk ausrüstete und überall darin unterstüzte. Wie fassen wir nun die göttliche Ordnung in diesen verschiedenen Fällen doch als dieselbe richtig zusammen? Offenbar auf diese Weise. Wo durch die menschlichen Verhältnisse deutlich genug darauf hingewiesen war, was jeder zu thun habe, da war es die göttliche Ordnung, dieser Andeutung zu folgen; wo es aber an solchen Zeichen fehlte, was anders konnte da das Gemüth eines Jüngers bestimmen, welcher | begierig war dem Herrn Seelen zu gewinnen, wohin er sich zu wenden habe, als irgend ein solcher innerer Zug des Gemüths? Darum, wenn wir dies nur in seinem ganzen Zusammenhang betrachten: so erblikken wir auch in diesem Geschäft überall den Gott der Ordnung. Denn dieses bleibt sich doch überall gleich, bei aller Verschiedenheit in der Art und Weise, wie dieses und jenes, was zur Erfüllung seines heilsamen Rathes dient, allmählig ins Leben tritt. Jemehr einem sein Gang schon durch den gewöhnlichen Verlauf des menschlichen Lebens vorgezeichnet ist, um desto mehr wird er alles, was er für das Reich Gottes ersprießliches thun kann, erreichen, indem er in diesen gewohnten Verhältnissen sich fortbewegt; wo aber diese nicht ausreichen, da muß die Stimme des Geistes entscheiden, was der Eine, was der Andere thun kann und soll. Aber wenn uns nun freilich in diesem Zusammenhang betrachtet auch ein so besonderer Fall wie der, welcher in dieser Erzählung vorliegt, weniger ungeregelt, weniger auffallend erscheint: Eins können wir doch nicht davon abwenden. Wir müssen uns fragen, was hatte denn dieser für einen Vorzug vor so Vielen, daß gerade zu ihm Philippus gesandt ward, um ihm das Evangelium zu verkündigen und ihm 2–3 Vgl. Apg 8,26 9–12 Vgl. Apg 11,19–21 15,30.36–41; 18,18–23 25 Vgl. 1Kor 14,33

13–14 Vgl. Apg 13,1–3; 14,26;

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den göttlichen Rathschluß klar zu machen aus den Schriften der Propheten? Dieser Mann war, wie wir aus der ganzen Erzählung schließen müssen, ein Judengenosse, der aber in jenem Lande, von wannen er nach Jerusalem kam, wir wissen nicht, war es sein Vaterland oder nicht, einen angesehenen Wirkungskreis in der Nähe der Fürstin hatte. Er war nun als frommer jüdischer Mann nach Jerusalem gereist zu einem von den hohen Fe|sten und kehrte jezt von da zurükk. Wie viele Verehrer des Einen Gottes strömten aber nicht aus allen Gegenden, wo Mitglieder des jüdischen Volks und Anhänger seines Glaubens zerstreut lebten, zu jedem Feste nach Jerusalem zusammen! Und gewiß sind Viele darunter gewesen, die eben so empfänglich waren, das Wort des Lebens in sich aufzunehmen, Viele, die nicht minder, wie dieser Mann es mag gewesen sein, genährt waren mit der Hoffnung auf den, der da zum Heil seines Volkes kommen sollte. Denn daß auch dieser sich mit solchen tröstlichen Gedanken beschäftigte, können wir wohl daraus schließen, daß wir ihn mit seiner Aufmerksamkeit auf einer Stelle des Jesaias festgehalten finden, aber ohne freilich, daß er sich von der genauen Beziehung dessen, was in jenen Schriften lag, hätte Rechenschaft geben können. Wie viele Gemüther von gleicher Frömmigkeit, voll eben solcher gottgefälligen Hoffnung mögen damals auf der Rükkehr gewesen sein nach ihrem Vaterlande: aber zu allen diesen kam niemand, sondern zu dem Einen Kämmerer aus Mohrenland wurde Philippus gesandt. Und ging es nicht fast überall so mit der Verkündigung des Evangeliums? Daß von denen, die damals zu Jerusalem der ersten Gemeinde der Christen angehörten, und durch die Verfolgung, die sich über Stephanus erhob, zerstreut wurden, Einige aus Cypern waren, Andere aus Antiochia in Syrien, das gab diesen Gegenden einen Vorzug: woher, womit hatten sie den verdient? warum waren nicht andere Länder die begünstigten? Solche Fragen, m. a. Fr., steigen immer bei ähnlichen Gelegenheiten in uns auf, und wenn wir auch bisweilen an die Art denken, wie der Apostel Paulus sie beschwichtigt, indem er | sagt, der Töpfer mache ein Gefäß zu Ehren, andere zu Unehren, so hätte Gott die Menschen der damaligen Zeit geordnet, einige dazu, daß sie sollten erleuchtet werden durch die Predigt des Evangeliums, und einige wieder dazu, daß sie sollten fortwandeln in derselben Finsterniß wie bisher, – wenn wir auch bisweilen auf diese Art beschwichtigt werden: jene Fragen kehren uns doch immer wieder. Aber, m. a. Fr., lasset uns 37 werden:] so auch SW II/3, S. 330; Textzeuge: werden; 3–5 Vgl. Apg 8,27 Röm 9,21

16–19 Vgl. Apg 8,30–33 (darin Jes 53,7f)

32–33 Vgl.

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bedenken, ist es in der irdischen Welt anders möglich gewesen? Alles was uns hierin unbegreiflich erscheint, hängt an zwei Worten der Schrift, welche die Angabe des göttlichen Rathschlusses sind, um welche sich seine ganze Führung bewegt. Das eine ist dies, Sie sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhms, den sie vor Gott haben sollen1. – Keinen Vorzug hatte Einer aufzuweisen vor dem Andern, nach welchem sich die göttliche Ordnung hätte richten können; die Sünde überall dieselbe, der Grund des Verderbens derselbe bei jedem ohne Ausnahme, und Alle gleich vor dem, vor welchem sie des Ruhmes, den sie hätten haben sollen, ermangeln. Das andere Wort ist dieses, Das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns2. – Nämlich nicht anders als auf menschliche Weise konnte Gott die Menschen beseligen, in einem Menschen wie sie mußte er sich offenbaren; und indem so das Wort Fleisch wurde, so war damit zugleich schon auch dieses bestimmt und geordnet, daß auch alles, was daraus folgen sollte, das ganze Werk der Begnadigung in dieser Offenbarung Gottes durch einen Menschen die Gestalt menschlicher Dinge annehmen mußte. | Darum konnte auch das Evangelium nicht anders als allmählig von einem Ort zum andern sich verbreiten, bald der Stätigkeit der Ueberlieferung folgend, bald durch einen Zug des Geistes in Gegenden gelangend, wo es sonst nicht verbreitet worden wäre. Anspruch war nirgend, jeder Vorzug erscheint nur als Begünstigung; aber daß sich dessen Keiner überhebe, dafür war gesorgt durch das innere Gefühl, was sich in Allen ausspricht, daß es in Beziehung auf diesen Rath Gottes und die Erfüllung desselben an den Menschen kein vorhergehendes Verdienst giebt, welches einer hinzubringen könnte. Aber so gewiß Gott auch hier nicht ist ein Gott der Unordnung, gebührt es uns, den Spuren der göttlichen Weisheit nachzugehen; und diese werden sich überall zeigen, wenn wir eben so mit einfältigem als mit aufrichtigem Sinne darnach fragen, was um uns geschieht. Bringt Keiner ein Verdienst hinzu und wird doch begünstigt: so kann er nicht begünstigt werden um sein selbst willen, sondern um Anderer willen. So sagt Christus zu seinen Jüngern, und das ist die beständige Regel für das ganze Werk Gottes durch ihn, Ich habe euch erwählt, auf daß ihr hingehet und viele Frucht bringet3. Nicht um ihretwillen wurden sie begünstigt vor Andern, die alle gleich gut gewesen wären für den Erlöser wie sie, sondern um der Frucht willen, die sie bringen sollten. Und das ist die Ordnung, nach der überall in der Welt das Evangelium ist verbreitet worden; das ist die göttliche Weisheit, die wir ergreifen 1 2 3

Röm. 3, 23. Joh. 1, 14. Joh. 15, 16.

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sollen, die aber freilich ein gläubiges Gemüth voraussezt: Gott lenkt die Verkündi|gung des Evangeliums so und dahin, wo das größte geschehen kann, und die meiste Frucht gebracht werden kann in der geringsten Zeit, auf daß sich so der Reichthum und die unerschöpfliche Fülle seiner Gaben verherrliche. Und Jeder, der nach dieser göttlichen Ordnung als ein Begünstigter erscheint, weil grade ihm das himmlische Licht leuchtet und ihm der Ruf ertönt ist zu einer glücklichen Stunde, wo ihm Auge und Ohr geöffnet war, der sei ernstlich darauf bedacht, mit dieser himmlischen Gabe Haus zu halten, die ihm nicht um seinetwillen anvertraut ist, sondern um des großen Zusammenhangs willen, der in der Verbreitung des Evangeliums statt findet. Wenn wir darauf jene Frage hinlenken, dann wird uns die göttliche Weisheit in unserer eigenen wie in der Führung aller menschlichen Dinge immer mehr deutlich werden, und dann wird sie uns diesen Weg der Weisheit führen, daß wir nichts versäumen von dem wohlgefälligen Gottes Willen, der an uns Alle ergeht. II. Aber, m. a. Fr., damit wir hier nicht den rechten Weg verfehlen, so laßt uns in dem zweiten Theil unserer Betrachtung auch auf die menschliche Handlungsweise, die sich in dieser Geschichte offenbart, Rücksicht nehmen. Wie ich schon vorher aufmerksam darauf gemacht habe, daß wir in diesem und ähnlichen Fällen bald lesen, der Engel des Herrn sprach zu diesem oder jenem, bald wieder, der Geist sagte ihm dieses und jenes: so haben wir keine bestimmte Vorstellung von der Art und Weise, | wie dies geschehen ist; aber wir finden doch etwas Aehnliches in uns selbst, worauf wir nothwendiger Weise auch alle solche Ausdrükke der Schrift beziehen müssen. Oder ist das nicht das schöne und große Ziel, dem wir Alle entgegen gehen, daß der Geist Gottes auf solche Weise einheimisch werde in uns, daß wir den Trieb unsers eigenen Gemüths und die Eingebung und das Werk des göttlichen Geistes in unserer Seele nicht mehr zu unterscheiden vermögen? So lange noch beides in uns so weit auseinandergeht, daß wir es deutlich zu unterscheiden wissen: so lange muß es noch etwas in uns geben, das dem göttlichen Geist widerspricht; denn anders als an diesem Widerspruch würden wir es nicht unterscheiden können. Wo aber das nicht ist, wenn uns nichts entgegentritt in unserm leisesten Gefühl, was wir gegenüber dem Antriebe des Geistes, als menschliches und verderbliches erkennen müssen in einer Bewegung unsers Herzens, da, wenn wir anders schon dem göttlichen Geist Raum gegeben haben 22–25 Vgl. Apg 8,26.29

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und er unserm Geiste schon das Zeugniß ausgesprochen hat, daß wir Gottes Kinder sind, da mögen wir glauben, daß das, was uns bewegt, in Wahrheit ein Zug und Werk des heiligen Geistes ist. Aber damit wir uns darin nicht auch irren und uns selbst, wie es ja zu leicht geschehen kann, mit leeren Vorspiegelungen täuschen: so laßt uns auch die Handlungsweise des Philippus in ihrem ganzen Zusammenhang betrachten, ähnlich wie wir vorher den Zusammenhang der göttlichen Ordnung betrachtet haben. Ehe ihm also dieses begegnete, war er in einer von den Städten des Landes Samaria gewesen, und hatte da eine geraume Zeit durch Wort und That gewirkt, um eine | Gemeinde von Christen zusammen zu bringen. Wenn ihm während dieser Zeit ein ähnlicher Gedanke gekommen wäre, aufs unbestimmte anderwärts hin zu gehn, und er hätte einen solchen Zug gespürt, das Werk, worin er begriffen war, zu unterbrechen, um aufs Gerathewohl bald da bald dort sich etwas neues aufzusuchen: hätten wir das loben können? hätten wir es für einen Zug des göttlichen Geistes halten können? Mit nichten! wenn er doch hätte ein angefangenes Werk liegen lassen müssen, wenn er ein Geschäft hätte abbrechen müssen, das ihm um so lieber sein mußte, je gesegneter es von Gott war! Und was that er hernach? Sobald der Kämmerer getauft war, heißt es, rückte ihn der Geist wieder weg. Dieser Drang, dieser Zug seines Geistes war gestillt, dieses Saamenkorn war in guten Boden gefallen, dieses Werk war durch ihn, so weit er es fördern konnte, vollbracht. Wenn er sich nun in diesem außerordentlichen und seltenen so gefallen hätte, daß er an dem alltäglichen keinen Geschmakk mehr gehabt und gern die Hände in den Schooß gelegt hätte, um zu harren, bis ihm wieder etwas eben so außerordentliches vorkäme: ach! wie leicht hätte ihn das nicht nur täuschen können, sondern auch an und für sich schon, wofür müßten wir es halten, als für einen Zug von der gefährlichen Eitelkeit, die sich so gern an das Wunderbare hängt. Aber nein! einmal war Philippus dem Zuge des göttlichen Geistes gefolgt, es war ein segensreiches Werk daraus entstanden; aber nun, heißt es, fing er an, seitdem jenes geschehen war, alle Städte hindurchzugehen längs der Küste des Meeres, um sie mit dem Evangelium zu erfüllen, bis er nach Cäsarea kam. So entspann sich denn | auch aus jenem außerordentlichen Zug des Geistes gleich wieder eine zusammenhängende geregelte Thätigkeit, die nicht nöthig hatte, aufs neue von etwas außerordentlichem unterbrochen zu werden. 1–2 Vgl. Röm 8,16 Apg 8,40

9–12 Vgl. Apg 8,5f

20–22 Vgl. Apg 8,39

33–35 Vgl.

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Darum zweierlei müssen wir wohl in Acht nehmen, wenn auch wir jemals in den Fall kommen, uns durch solche Stimme im Innern ziehen und treiben zu lassen. Einmal daß es nicht etwa ein unstäter Geist sei, der uns treibt, um indem er uns Fernes und Weites zeigt, uns aus dem Werke, das uns von Gott anvertraut ist, hinauszulokken; denn solch unstätes Werk ist nicht die Art des göttlichen Geistes. Und dann, daß wir uns nicht verführen lassen von der Eitelkeit, weil doch die, welchen ein solcher Zug des Geistes widerfährt, als ausgezeichnet erscheinen, als nicht den gewöhnlichen Weg der Menschen wandelnde, sondern die zu ungewöhnlichem, höherem von Gott bestimmt sind. Sondern das ist die Natur der menschlichen Dinge; alles neue und gleichsam ursprüngliche kann nur durch solche lebhafte Erregung des Menschen in seinem Innern, durch solchen oft unbegreiflichen Zug des Gemüths beginnen; aber dieses darf immer nur der Anfang sein von einer regelmäßigen und zusammenhängenden Thätigkeit, von einem wohlgeordneten Werk, das in die gesammte gottgefällige Thätigkeit Aller eingreift. Nur, wenn irgend etwas auf solche Weise zu Ende gebracht ist, kann etwas von jener Art wieder geschehen, und dann für einen Zug des Geistes geachtet werden. Wer aber mitten in einem Werk begriffen ist, das zu dem ihm von Gott bestimmten Beruf gehört, der würde sich wol immer täuschen, wenn er das für eine Stimme des Geistes hielt, | was ihn aus der gottgefälligen Thätigkeit entfernt, sondern der soll, wie der Apostel sagt, in dem bleiben, worin er berufen ist. Nur wenn wir uns so aller Eitelkeit und aller unstäten Thätigkeit entschlagen, wenn wir das zum Gedeihen bringen, was uns anvertraut ist, und nur, wenn eines vollendet ist und ein neues beginnen soll, dann wollen wir auf die Stimme des göttlichen Geistes lauschen, uns wohl vorsehend, daß uns nicht eine menschliche Eitelkeit beschleiche, dann wird sich auch in diesem Zug des Herzens uns, wie es damals geschah, Gott offenbaren und seinen Weg führen. Aber wir können hiermit die Betrachtung der Handlungsweise des Philippus noch nicht schließen; es ist noch ein wichtiger Punkt, den wir nicht aus den Augen lassen dürfen. Philippus fand den Kämmerer lesen im Buch des Propheten Jesaias, und als er ihn fragte, ob er auch verstände was er lese, – der Sprache war er wohl kundig, denn das müssen wir ihm zutrauen, und des Philippus Frage konnte sich nur darauf beziehen, worauf der Prophet deute, – da bekannte jener fromme Mann aufrichtig, das vermöchte er nicht, wenn ihm nicht eine Anleitung gegeben würde, und er hätte noch nicht klar darüber werden können, von wem der Prophet rede. Und hievon, heißt es, 23–24 Vgl. 1Kor 7,20 33–34 Vgl. Apg 8,28 34–35 Vgl. Apg 8,30 39 Vgl. Apg 8,31 39–40 Vgl. Apg 8,34 40–2 Vgl. Apg 8,35

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nahm Philippus Veranlassung, ihm den Erlöser zu verkündigen aus diesen und andern übereinstimmenden Zeugnissen der Schrift, und während er noch hierin begriffen war, heißt es, kamen sie an ein Wasser, und der Kämmerer sprach: Hier ist Wasser, was hindert, daß ich getauft werde? Und Philippus fand sich bereitwillig dazu; ohne Weiteres stieg er hinab, er taufte ihn und damit war | sein Werk an ihm vollendet. Erscheint uns das nicht als eine große Leichtigkeit in Beziehung auf ein so wichtiges und heiliges Geschäft? Wie mußte nicht jenem Manne das auffallend und als eine wunderbare göttliche Fügung erscheinen, daß Einer wie ausdrükklich zu ihm gesandt wurde, um den Durst seines Herzens zu stillen, und die Worte der Zeugen Gottes ihm klar zu machen; und je mehr er davon durchdrungen war, um desto leichter mußte er auch geneigt sein, dem Gehör zu geben, was jener sagte. Ist das aber nicht eine zu flüchtige Bewegung des Gemüths, als daß darauf eine neue Ordnung des Lebens erbaut werden könne? nicht eine zu leicht vorübergehende beifällige Aufregung, um eine feste Zuversicht zu begründen, das Werk Gottes habe wirklich Wurzel gefaßt, und es werde ein ganz neues Leben hieraus entstehen? Wie ungewiß erscheint uns das, und wie hätte also auch Philippus zweifeln sollen! Aber nein! er weigerte sich des Mannes Begehren nicht, stieg hinab und taufte ihn im Namen Jesu! Und sind nicht die andern Apostel des Herrn immer so zu Werke gegangen? Wie frisch und fröhlich taufte Petrus auf einmal an dreitausend Seelen am Tage der Pfingsten, von denen auch zu vermuthen war, es könne bei mehreren derselben nur eine flüchtige Bewegung sein, wenn gleich gesagt wird, es ging ihnen durchs Herz, und sie fragten, Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun, daß wir selig werden? aber Alle taufte Petrus. Und eben so frisch und fröhlich handelt er hernach auch beim Hauptmann Cornelius mit der ganzen Hausgenossenschaft, von der er doch Wenige kannte. Wenn ihm auch das Haupt derselben auf jene außerordentliche Weise empfohlen war, waren es die | Andern auch? Und wenn sich in Einigen eine solche Erregung zeigte, daß sie anfingen die Thaten Gottes zu preisen: war das ein hinreichender Grund zu glauben, daß in der That das neue Leben begonnen habe, so daß sie nun auch immer im Glauben treu bleiben würden? So könnten wir bedenklich fragen: aber bei den ersten Jüngern finden wir nichts von dieser Bedenklichkeit, nichts von einem Bekenntniß, das sie gefordert, und nichts von bestimmten Formen der Lehre, auf welche sie ihre Täuflinge verpflichtet hätten; sondern nur auf den Eindrukk hin, den es ihnen machte, wenn einer begehrte, in diesen Bund des Herzens 23–24 Vgl. Apg 2,37–41, bes. 41 26–27 Vgl. Apg 2,37 bes. 24.47f 30–31 Vgl. Apg 10,9–20

28–30 Vgl. Apg 10,

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mit Gott aufgenommen zu werden, schon auf diesen Eindrukk hin tauften sie. Worauf doch haben sie sich verlassen? und war ihre Zuversicht wohlbegründet oder nicht? Zweifeln können wir wol nicht: denn sie waren ja die auserwählten Werkzeuge des göttlichen Geistes. Dieser war es ja, der sie leitete; und überall erklärte er ihnen Christum und lehrte sie auf ihn zu sehen, wie Christus immer sah auf die Werke, die ihm der Vater zeigte. Also in einer Gott und dem Erlöser wohlgefälligen Zuversicht thaten sie, was sie thaten. Nur freilich nicht auf das allein vertrauend, was schon geschehen war, sondern noch vielmehr vertrauend auf das, was noch kommen sollte, auf die Anfassung der Gemüther durch das göttliche Wort, auf das Zusammenleben der Neulinge mit denen, die schon fest waren im Glauben, auf die schönen erbaulichen Ordnungen des neuen Lebens, auf die Kraft einer geistigen Anbetung Gottes, welches alles sie immer mehr befestigen mußte in dem angefangenen Werk. Nicht nur auf die Vergangenheit, nicht nur auf das, was sie schon gewirkt und der | Geist Gottes durch sie, verließen sie sich, sondern auf das fortgehende Wirken des Geistes, darauf daß, weil nun der Grund gelegt war, auf den kein anderer gelegt werden konnte, auch das Gebäude selbst ungesäumt darauf müßte errichtet werden, damit jeder, auf dessen Herz der Geist gewirkt hatte, nun auch immer mehr von diesem Geist könne erfüllt werden. Als solchen Anfang sahen sie es an, wenn sie Einzelne aufnahmen durch das Wasserbad der Taufe in die Gemeinschaft der Gläubigen. Aber am weitesten waren sie entfernt von irgend einem Vertrauen auf einen Buchstaben, von einer Bedenklichkeit in Beziehung auf die Gedanken, in welchen sich die neue Lehre in den Gemüthern gestaltete, sondern nur auf den Eindruck sehend und ihm folgend, den dieselbe auf die Gemüther gemacht. Wäre in diesem etwas falsches gewesen, wie wir an dem sehen, welcher für Geld meinte die Kraft zur Mittheilung des Geistes empfangen zu können1: o dann würden sie sich auf kein Bekenntniß verlassen haben, wie genau es auch übereingestimmt hätte mit ihren Worten und denen des Erlösers! Aber dem ergriffenen Gemüth, wenn es erfüllt war von dem, was der Geist Gottes durch die Apostel redete, dem vertrauten sie; dem Verlangen, was sich in den Menschen zu erkennen gab, aufgenommen zu werden in eine Gemeinschaft, die keine Art von äußern Vortheilen versprach, sondern nur Trübsale und Verfolgung, welche sich keiner Ehre zu erfreuen hatte, sondern geschmäht und geringgeschäzt wurde, dem Verlangen in diese aufgenommen zu werden vertrauten sie; und auf diese 1

Ap. Gesch. 8, 18. 19

5–6 Vgl. Joh 16,13; 14,26

6–7 Vgl. Joh 5,19f

18–19 Vgl. 1Kor 3,11

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Weise sind sie über|all verfahren bei Verkündigung des göttlichen Worts und bei der Sammlung der ersten christlichen Gemeinde. Wohlan, so wollen denn auch wir ihnen überall folgen, auf daß wir ihrem Vertrauen und ihrem Glauben ähnlich seien! Zunächst und hauptsächlich uns nur auf das verlassen, was ordnungsmäßig geschieht durch die Verkündigung des Evangeliums in der Gemeinde; nicht ängstlich fragen, wie das Wort laute bei diesem oder jenem, sondern fest vertrauen, wo eine Lust ist an dem göttlichen Wort, da sei auch schon ein Werk des göttlichen Geistes, da werde sich Glaube und Liebe kräftiger und reiner gestalten, und das Werk Gottes sich immer herrlicher ausprägen, so wir nur einander zugethan bleiben in rechter hülfreicher Treue, um die Gemeinde Gottes mehr und mehr zu gestalten als ein Bild Christi, und sie vor ihm darzustellen ohne Flekken und Tadel. Und wie der Geist Gottes niemals aufhören wird in der Gemeinde: so lasset uns niemals aufhören mit unserm Wirken, nach dem Worte des Herrn, Er wird zeugen und ihr sollt auch zeugen1. Und wie das Reich Gottes nicht besteht in Worten, und auch nie gekommen ist mit Worten und äußern Werken: so lasset uns immer nur darauf sehen, wie die Gemüther der Menschen Gott zugewandt sind. Darin sie fördern, das ist die Liebe, welche das Band der Vollkommenheit ist, welches uns alle immer enger umschließen soll, und das ist die rechte Kraft, durch welche sich der geistige Tempel des Herrn immer höher erheben muß. Wenn nur keiner in vollem Sinn etwas anders | sein will, als an seinem Orte ein Werkzeug des göttlichen Geistes um das Reich Gottes zu fördern: dann wird es auch keinem jemals fehlen, hiezu nach Kräften wirksam zu sein, sei es in der gewöhnlichen Ordnung des Lebens, sei es, wo uns jene im Stich läßt, durch solchen besondern Zug des Geistes; jeder wird etwas thun können zur Förderung des Reiches Gottes, denn dazu sind wir Alle berufen. Amen. Lied 431, 5.

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Joh. 15, 26. 27.

13–14 Vgl. Kol 1,22 in Verbindung mit Eph 5,27 20–21 Vgl. Kol 3,14 22– 23 Vgl. Eph 2,21f 31 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 431: „Der Grund, auf dem mein Glaube ruht“ (Melodie von „Preis, Lob, Ehr, Ruhm“); Strophe 5 lautet: „Erhalte mir, o Gott, dein Wort als meines Lebens höchste Freude; es sey mein Trost, mein Licht, mein Hort, mein letztes Labsal, wenn ich scheide. Dort oben noch will ich dich, Herr, erhöhn, daß mir so großes Heil durch dich geschehn.“

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8. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 5,35–43 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 260–274, Nr. XXI; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 804.

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Tex t . Marcus V, 35–43. „Da er noch also redete, kamen Etliche von dem Gesinde des Obersten der Schule und sprachen: Deine Tochter ist gestorben, was bemühest du weiter den Meister? Jesus aber hörete bald die Rede, die da gesagt ward, und sprach zu dem Obersten der Schule: Fürchte dich nicht, glaube nur. Und ließ niemand ihm nachfolgen, denn Petrum, und Jacobum, und Johannem, den Bruder Jacobi. Und er kam in das Haus des Obersten der Schule, und sah das Getümmel, und die da sehr weinten und heuleten. Und er ging hinein, und sprach zu ihnen: Was tummelt und weinet ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn. Und er trieb sie alle aus, und nahm mit sich den Vater des Kindes und die Mutter, und die bei ihm waren; und ging hinein, da das Kind lag. Und er griff das Kind bei der Hand, und sprach zu ihr: Talitha kumi, das ist verdolmetschet: Mägdlein, ich sage dir, stehe auf. Und alsobald stand das Mägdlein auf, und wandelte; es war aber zwölf Jahre alt. Und sie entsetzten sich über die Maße. | Und er verbot ihnen hart, daß es niemand wissen sollte; und sagte, sie sollten ihr zu essen geben.“ Den Anfang dieser Erzählung, m. a. Z., haben wir schon in unserer neulichen Vorlesung gehört, wo aber diese Geschichte unterbrochen wurde durch jene andere, welche wir damals allein zum Gegenstand unserer Betrachtung machten. Es war aber gesagt worden, daß als Christus zurückkam von der 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 804: „O Jesu, süßes Licht“ (Melodie von „O Gott, du frommer Gott“) 19–22 Vgl. die Predigt am 29. Juli 1832 über Mk 5,21– 34 22–5 Vgl. Mk 5,21–23

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anderen Seite des Sees her, habe sich schon viel Volk versammelt gehabt an dem Ufer, und da wäre dieser Eine von den Obersten der Schule gekommen, und sei Jesu zu Füßen gefallen und habe ihm gesagt, sein Kind liege in den letzten Zügen, er möge nur kommen und die Hand auflegen: so würde es gesund werden. Auf dem Wege nun dahin, nachdem jene andere Geschichte sich ereignet, heißt es in unserem Texte weiter, kamen Einige von dem Gesinde des Obersten und sagten, seine Tochter sei bereits gestorben, er brauche also Christum nicht zu bemühen. Wenn wir Alles zusammennehmen, was unsere Evangelienbücher von dem Leben und den geselligen Verhältnissen des Erlösers erzählen: so gehörten die Obersten der Schule nicht zu seinen Anhängern und Verehrern, vielmehr sahen es die Meisten nur ungern, und mit Widerstreben, wenn er in ihren Schulen auftrat und lehrte, weil er in seiner ganzen Art und Weise, das Gesetz zu erklären und zu behandeln, sich von ihnen, die fast alle der pharisäischen Sekte anhingen, sehr unterschied und sie ihn also ansahen als Einen, durch den ihr Ansehen mehr konnte geschwächt werden als erhöht, und so finden wir andere Erzählungen, welche deutlich beweisen, daß sie eher suchten, wo sie es konnten, ihm etwas in den Weg zu legen, als daß sie beflissen gewesen wären, ihm Raum zu machen, noch viel weniger daß sie zu seinen Jüngern gehörten. Wie es nun mit diesem gewesen, das können wir | freilich nicht genau sagen; allein die ganze Erzählung sagt doch weiter nichts aus, als daß er in diesem Zustande der Betrübniß und der Noth seine Zuflucht zu Christo genommen, daß er freilich geglaubt, der Herr vermöge durch seine wunderthätige Kraft seine Tochter auch noch an dem Rande des Grabes wieder gesund zu machen, aber wie er in Beziehung auf das, worauf es eigentlich ankam, von Christo gedacht, ob er ihn deswegen oder wegen seiner Lehre für den hielt, der da kommen sollte, davon wird uns gar nichts gesagt, und es ist also eher das Gegentheil zu glauben, als daß er eine Ausnahme gemacht habe von den Genossen seines Standes, ohne daß unsere Evangelien etwas davon gesagt. Der Erlöser aber fragte danach gar nicht, und weit entfernt, daß er ihm irgend hätte sollen Vorwürfe machen oder ihm sagen, wie kommst du dazu, meine Hülfe in Anspruch zu nehmen, da du ja nichts auf meine Lehre hältst; wie kommst du dazu, meinen Thaten zu glauben, wenn du doch meinen Worten, die zu verkündigen mein eigentlicher Beruf ist, nicht glaubst? weit entfernt, so etwas ihm zu sagen und auch nur auf eine vorübergehende Weise sich zu sträuben, folgt er ihm gleich in sein Haus. Wenn wir, m. a. Fr., die ganze Geschichte des Christenthums von seinem ersten Anfange an bis jetzt betrachten: so finden wir da ebenfalls dieses Beides, wie wir es in dem Erlöser finden, auf eine eigenthümliche Weise mit einander verbunden und fast beständig und ohne Ausnahme. 5–6 Vgl. Mk 5,25–34

27 Vgl. Mt 11,3; Lk 7,20

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Das, wozu es eigentlich in der Welt ist, das ist allerdings dieses, daß es darin bestehen soll als ein Reich Gottes, daß es für Alle immer mehr werden soll eine Quelle des neuen Lebens, daß es den Frieden der Menschen mit Gott wiederherstellen und ihnen das selige und ewige Leben schon hier auf Erden geben soll. Das ist die eigentliche Grundbestimmung desselben; aber so wie der Erlöser, außerdem daß er die, welche an ihn glaubten, | zum Vater führte und ihnen aus der innersten Fülle und Kraft seines göttlichen Wesens seine Lehre mittheilte, auch umherging, um die Leiden und Gebrechen der Menschen zu heilen: so kann wol niemand der christlichen Kirche und dem Christenthum das Zeugniß versagen, daß durch sie von der Noth der Erde, von den Widerwärtigkeiten des Lebens, von der Unzulänglichkeit der menschlichen Kräfte, das Wohl der Menschen zu schaffen, im Laufe der Zeit Vieles ist hinweggenommen worden, daß nirgend wo anders in einem solchen Maße die Entwickelung der menschlichen Kräfte erfolgt ist und in Folge derselben auch die Herrschaft des Menschen über die Natur auf einen so hohen Grad ist getrieben worden als da, wo das Christenthum seinen Sitz aufgeschlagen hat. Das ist eine bekannte Wahrheit; es ist der Inhalt eines großen Theiles der Geschichte, es zeigt sich uns als das, wodurch sich äußerlich am Meisten die christlichen Völker noch jetzt von allen anderen unterscheiden. Und wie es damals war: so finden wir auch jetzt, daß es gar Viele gibt, welche ihm dieses Lob nicht streitig machen, sondern es gern zugestehen; aber den wahren Zusammenhang mit der höheren Bestimmung der Gemeine Christi auf Erden den kennen sie nicht, und so glauben sie denn, wie dieser Oberste der Schule glaubte, Jesus könne wol, wenn er seine Hand auflege, seine Tochter heilen, – so glauben sie wol und sehen in der christlichen Kirche eine solche Anstalt, welche dazu bestimmt sei, die geistigen Kräfte der Menschen zu pflegen, sie in eine solche Lebenseinrichtung zu bringen, in einer solchen freundlichen Gemeinschaft zu erhalten und diese zu befestigen, wodurch ihr äußeres Wohl immer mehr könne befestigt werden. Aber von dem eigentlichen Geheimniß derselben, von der Kraft, die menschliche Seele zu reinigen und zu erheben, von dieser eigenthümlichen Gewalt des Glaubens an den Erlöser über das menschliche Gemüth, uns den Vater | in ihm zu zeigen und ihn in uns Wohnung machen zu lassen, − das bleibt ihnen verborgen, und so bereitwillig sie sind, das Erste einzugestehen: so meinen sie doch, wie jener Oberste der Schule, daß, was dieses anbetreffe, es müsse auf einem anderen und sichereren Wege gesucht werden. Mögen wir es denn nur immer also machen in dieser Beziehung, wie es hier der Erlöser gethan hat. Wenn auch immer viele Menschen in das eigentliche Wesen des Christenthums nicht eindringen: weit sollen wir entfernt sein, sie deswegen ausschließen zu wollen von dem Genuß irgend eines der Vortheile und Vorzüge, welche die christliche Ge33–34 Vgl. Joh 14,23

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meinschaft mehr als irgend eine andere den Menschen sicher stellt; gern sollen wir bereit sein, sie in diese Gemeinschaft der hilfreichen Liebe aufzunehmen und ihnen Alles zu erweisen, was in unseren Kräften steht; ob sie dann dadurch zu dem rechten Glauben und dem tieferen Verständniß derselben gelangen oder nicht, das mögen wir Gott anheimstellen, ebenso wie es der Erlöser in ähnlichen Fällen und auch in diesem gethan hat. Aber wenn wir nun die Geschichte selbst näher mit einander betrachten: so ist sie uns ein merkwürdiges Beispiel davon, wie auf der anderen Seite gar Viele glauben, ihre Verehrung gegen Christum und die rechte Würdigung desselben dadurch am Besten zu beweisen, daß sie weit über dasjenige, was er von sich selbst sagt, hinausgehen; denn so ist es in der That fast immer und überall mit dieser Erzählung ergangen. Sie ist ein merkwürdiges Beispiel auch davon, wie es mit diesen einzelnen Erzählungen in unseren heiligen Schriften steht. Alle drei ersten Evangelisten berichten diese Geschichte, bei allen wird der Verlauf derselben von der ersten Bitte dieses Obersten der Schule an bis zur Erfüllung derselben wie in unserm Evangelio unterbrochen durch jene Erzählung von der kranken Frau, welche sich hindurchdrängte zu ihm, um auch ohne sein Wissen und Wollen geheilt zu werden. In diesem Punkte | stimmen sie alle überein. Aber der Eine sagt, schon als der Oberste zuerst zu Christo gekommen sei, hätte er gesagt, sein Kind wäre todt, und seine Bitte wäre also von Anfang an die gewesen, daß Jesus es auferwecken möchte von dem Tode. Hier in unserer Erzählung und so auch in dem Evangelio des Lucas heißt es, daß dieses Kind in den letzten Zügen gelegen und deshalb habe er ängstlich darauf gewartet, daß Christus zurückkommen möge von der anderen Seite des Sees; und so müssen wir uns die Sache denken, eben weil man wußte, er wolle seine Zuflucht zu Christo nehmen, habe sich im voraus so viel Volk an dem Ufer versammelt, um von dem Ausgang der Sache Zeuge zu sein. Nun kommt also unterwegs die Nachricht, das Kind sei gestorben, Christus aber will, daß der Oberste seinen Glauben nicht aufgeben soll, sondern sagt, er solle nur glauben und sich nicht fürchten, sich durch diese Nachricht nicht abschrecken lassen, und nun findet er in dem Hause und um dasselbe nach der Sitte der damaligen Zeit viele Menschen versammelt und auch solche, die ausdrücklich dazu gedungen waren, durch Instrumente und durch den Ton ihrer Stimmen die Klage auszudrücken und zu verbreiten, wie das damals unter Juden und Heiden gebräuchlich war. Nun aber, wenn wir unsere Erzählung betrachten: so müssen wir glauben, daß Christus, noch ehe er das Kind gesehen, die Worte gesagt habe, „das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft;“ vergleichen wir aber das Evangelium des Lucas: so heißt es, er habe diese Worte erst gesprochen, als er mit den Jüngern schon in dem Gemach 14–19 Vgl. Mt 9,18–26; Mk 5,21–43; Lk 8,40–56 Lk 8,42 39–1 Vgl. Lk 8,51f

19–21 Vgl. Mt 9,18

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war und das Kind sah. So sind das nun drei verschiedene Erzählungen, die in den einzelnen Punkten nicht übereinstimmen. Recht können nicht beide Theile zugleich haben, denn die Erzählungen, welche | sagen, der Oberste habe das Kind schon als todt angesehen, als er zu Jesu trat, und die, welche sagt, er habe zu Christo gesagt, das Kind liege in den letzten Zügen – das stimmt nicht zusammen, und so auch ist es nicht Eins und dasselbe, wenn der Eine sagt, Christus habe schon vorher und ohne das Kind gesehen zu haben, die Versicherung gegeben, es sei nicht gestorben sondern schlafe, und der Andere, er habe das erst gesagt, als er in dem Gemach war und das Kind gesehen hatte. Wie deutlich sehen wir aus solchem Beispiel, deren es so viele gibt, daß es mit unseren heiligen Büchern gar nicht die göttliche Absicht ist, daß wir sie anders behandeln sollen, wie andere menschliche Bücher von derselben Art. Ueberall, wo Mehrere eine Geschichte mit den einzelnen Umständen erzählen, wird man mehrere Umstände finden, die man erst mit einander ausgleichen muß, und so finden wir es auch in unseren Evangelienbüchern. Und eben dazu ist es ja die Ordnung der göttlichen Weisheit gewesen, daß wir mehrere solcher Erzählungen beisammen haben, obgleich sie großen Theils in ihrem Inhalte übereinstimmen, damit wir sie ebenso behandeln können wie andere menschliche Erzählungen, um uns aus den verschiedenen Nachrichten ein richtiges und anschauliches Bild von der Begebenheit selbst zu machen. Aber diese Verschiedenheit ist auch gar nicht das, was ich eigentlich meine, sondern dieses, daß ohnerachtet der deutlichen Worte Christi, das Kind sei nicht gestorben, sondern es schlafe, die Geschichte doch auch von manchen gläubigen Lesern größtentheils so aufgefaßt wird, daß das Kind todt gewesen sei, und daß Christus es von den Todten auferweckt habe; und indem man so es besser zu wissen meinte, als Christus selbst und sein bestimmter Ausspruch es sagt, glaubte man ihm eine größere Verehrung dadurch zu beweisen. Denn es ist etwas ganz Anderes mit dieser Rede des Erlösers und dem, was er zu seinen Jüngern sagt in Beziehung auf den Lazarus. Da sagt er | ihnen, unser Freund Lazarus schläft, ich will aber hingehen, um ihn aufzuwecken; aber keinesweges sagt er, er ist nicht gestorben; sondern nur, er schläft, und ich gehe hin ihn aufzuwecken; und als seine Jünger seine Worte buchstäblich nehmen: da sagt er ihnen grade heraus, als ich sagte, er schläft, da meinte ich, er sei gestorben. Hier aber stellt er ausdrücklich beides einander gegenüber, denn er sagt, „das Kind ist nicht gestorben, machet nicht solch Getümmel und solche Klagen, wie ihr um einen Todten zu thun pflegt, sondern es schläft nur.“ Wenn wir nun fragen, wie ist man dazu gekommen, ohnerachtet der Worte Christi die Sache anders aufzufassen als er sagt, – und eine solche Auffassung finden wir auch schon in der Erzählung des Lucas, denn der erzählt, als Christus gesprochen habe, weinet nicht, sie ist nicht gestorben, 30–31 Vgl. Joh 11,11

33–35 Vgl. Joh 11,12–14

39–3 Vgl. Lk 8,52–55

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sondern sie schläft, da verlachten sie ihn, weil sie wol wußten, daß sie gestorben sei. Er aber trieb sie Alle hinaus, nahm das Mädchen bei der Hand und rief: Kind, stehe auf, und sie stand alsbald auf. Wenn nun hier der Erzähler sagt, nicht etwa sie verlachten ihn, weil sie bestimmt zu wissen glaubten, das Kind sei gestorben; sondern wenn er sagt, sie verlachten ihn, denn sie wußten ja wol, daß das Kind todt sei: so theilt er diesen Glauben mit ihnen und macht sich zum Genossen desselben und glaubt also mehr jenen als den Worten des Erlösers. Steht es denn nun so mit unserm Glauben an den Erlöser, sei es nun im Allgemeinen in Beziehung auf das eigentliche Innere seines Berufs, oder sei es nur in Beziehung auf diese Kräfte, welche Gott seinem menschlichen Dasein mitgegeben, um ihn dadurch zu verherrlichen – steht es so damit, daß wir über das, was er selbst sagt, hinausgehen müssen, nur damit wir genug daran haben? Kann sein Ruhm dadurch vermehrt werden, daß wir sagen, in diesem Fall | ist es nicht eine Kranke gewesen, die er gesund gemacht hat, sondern eine Todte, die er erweckt hat? Wenn aber das nicht, warum bleiben wir nicht bei seinen Worten stehen, so einfältig wie wir das überall sollen; sondern suchen ihm eine größere Ehre zu geben, als die er sich selbst in diesem Falle beilegt? Was ist das anders als eine Ungenügsamkeit in Beziehung auf das Wunderbare, welches das menschliche Dasein des Erlösers begleitete, die uns gar zu leicht den richtigen Gesichtspunkt verschiebt und uns von der Hauptsache ab auf allerlei Nebendinge führt? Was ist es anders als ein Verlangen, sobald man an eine solche Geschichte geht, gleich darin zu suchen, was das Seltsamste, das am Meisten von dem natürlichen Lauf der Dinge zu Unterscheidende sei? Und bringt man einmal ein solches Verlangen mit: dann sieht man oft auch, was gar nicht da steht. Aber was entsteht auf der anderen Seite daraus? Gewiß ein größerer Nachtheil als der Vortheil, den wir dadurch zu erlangen suchen, nämlich daß mit Recht die, von denen wir wünschen, sie möchten unseren Glauben an den Erlöser theilen, uns nachsagen, wir wären gar nicht solche, denen man folgen könne, wir wären gar keine redlichen Forscher von dem, was geschrieben steht, sondern wir suchten unsere eigene Meinung darin; und das wenden sie dann leicht auch auf unsere Meinung an von der Würde des Erlösers, und sagen, wir sähen Vieles in den Worten der Schrift, was gar nicht da stehe, weil wir grade auf das Uebernatürliche allein ein Gewicht legten und nur darin unser Heil suchten. Aber wir wissen recht gut, daß es nicht in solchem Wunderbaren zu finden ist, sondern in der Mittheilung göttlicher Kraft, göttlichen Lebens, wozu er gekommen war. Warum lassen wir das Andere nicht in seinem Werth, den es hat, warum wollen wir dem Erlöser mehr beilegen, als er sich selbst beilegt? Fangen wir nun redlich an mit dieser strengen Wahrheitsliebe in Beziehung auf das, was äußerlich zu seinem Leben gehört: | nun, so wird uns das zur Vorübung dienen, und mit derselben reinen Wahrheitsliebe werden wir vermögen, bei dem, was er von sich selbst sagt,

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wie er die Absicht seines Daseins beschreibt, bei seinen einfachen Worten stehen zu bleiben, und uns zu hüten, daß wir nicht unsere Meinungen in die Schrift hineintragen, um sie dann wieder herauszunehmen. Fragen wir nun aber, wie mag doch der Erlöser dazu gekommen sein, grade unter solchen Umständen wie diese den Eltern des Kindes zu sagen, sie sollten es niemand wissen lassen, und es ihnen hart zu verbieten grade unter solchen Umständen, wo es fast unmöglich war, daß dieses Gebot konnte befolgt werden. Der Oberste der Schule war ein angesehener Mann, die ganze Stadt nahm Theil an seinem Unglück, und das Volk hatte sich an dem Ufer versammelt, um Zeuge zu sein von dem Ausgang der Sache, eine große Menge von Menschen war da, als aus seinem Hause die Nachricht kam, das Kind sei gestorben, und eine große Menge stand schon in dem Hause. Nun kommt Christus, freilich nur von Wenigen begleitet, in das Gemach und heißt das Kind aufstehen, und es wandelte hernach, und es konnte keinem verborgen bleiben, daß es wieder lebte. Wie konnte der Erlöser den Eltern sagen und es ihnen hart verbieten, sie sollten niemand wissen lassen, was geschehen sei? Daß der Erlöser den Glauben an seine die Menschen beseligende Kraft, an seine göttliche Bestimmung, das Reich Gottes zu stiften, nicht auf seine wunderthätigen Hülfsleistungen gründen wollte und ihm dadurch Aufnahme bereiten; sondern den Menschen zumuthete, sie sollten den Versuch machen, seine Lehre zu befolgen, so würden sie erfahren, daß sie von Gott sei, das wissen wir vielfältig; aber auf der anderen Seite, daß er sich auf seine Werke berief, und zu seinen Werken gehören diese Wunder auch; aber doch kommen öfter solche Fälle vor, wo er den Menschen verbietet, davon zu reden. Mit diesen mag es dann seine besondere | Bewandtniß haben; hier aber war es zweierlei, warum er nicht wollte, daß diese Begebenheit weiter herumgebracht wurde. Das Eine, weil er nicht wollte, daß die Erzählung sie anders verbreitete, als sie wirklich war; was um so eher erwartet werden konnte, da der Glaube schon da war, daß das Kind todt sei. Das Andere aber war wol dieses, daß er dem Obersten der Schule, der, ohne den wahren seligmachenden Glauben an den Erlöser zu haben, nur in der äußeren Noth seine Zuflucht zu ihm nahm, daß er diesem keine Gewalt anthun wollte. Veranlaßte er diesen und forderte ihn auf zu bekennen, was Christus ihm gethan: dann hätte er ihm Gewalt angethan, dann würden die Menschen gesagt haben, warum glaubst du nicht an ihn, wenn er dir das gethan hat? Eine solche Gewalt wollte der Erlöser ihm nicht anthun, und darum verbot er ihm, von der Sache zu reden, damit er nicht in solche Verlegenheit gesetzt würde, damit vielleicht in der Stille des Gemüths der rechte Sinn ihm aufgehen möchte von dem, was Christus gewollt, was nicht auf die rechte Weise hätte geschehen können, wenn er erst in Widerstreit mit seiner vorigen Ueberzeugung wäre gesetzt worden. 21–22 Vgl. Joh 7,17

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So schonend also ging der Erlöser zu Werke mit denen, welche nicht an ihn glaubten, und denen er doch half mit seiner göttlichen Kraft in ihren äußeren Angelegenheiten; so sehr ging er davon aus, daß nur in der Stille des Gemüths sich der wahre Glaube an ihn erzeugen könne; so wenig wollte er, daß er auf irgend eine Weise erzwungen würde, wenn gleich das ein ganz natürlicher Zwang aus den Umständen und von dem, was sich wirklich ereignete, gewesen wäre. Sehet da, m. g. Fr., wie wir nun hier den Erlöser sehen in dem Gedränge der Menschen, durch dasselbe hindurch mit seinen ihm von Gott anvertrauten Kräften zu dem Heile der Menschen wirken, aber es ganz Gott anheimstellen, wie viel dadurch sollte beigetragen werden zur Erreichung des eigent|lichen Zweckes seiner Sendung: so muß sich auch jetzt das Christenthum mit seinen Segnungen gleichsam hindurchschlagen durch das Gedränge der Welt, in dasselbe verflochten auf alle Weise und überall den Sinn für Recht und Ordnung in den Menschen erweckend, in ihnen das Gefühl lebendig erhaltend, daß Alles, was eine göttliche Ordnung zu erkennen gibt, auch heilig gehalten werden soll von den Menschen, in Allem, wo so leicht die Leidenschaften der Menschen sich einmischen, den wahren Sinn für das Rechte in ihnen hervorrufend, – mit Allem diesem stehet es immer noch in dem Gedränge der Welt, und viele einzelne Gemüther theilen, was in diesem Gedränge Gutes geschieht, in der Gemeinschaft der Gläubigen, aber ohne daß sie in der Stille zu dem wahren Genuß des Heils kommen, was den Menschen von Gott durch Christum beschieden ist. Und doch kann es nicht anders als dadurch, wenn sie aus dem Gedränge wieder in die Stille zurückkehren, geschehen, nur dadurch, wenn sich jeder mit den Bedürfnissen seines Herzens sammelt, nur dadurch, wenn er immer dieses und nichts Anderes, Christus wie er ist, gestern und heut und in Ewigkeit derselbe, ins Auge faßt, nur dadurch kann es bewirkt werden, daß der wahre, lebendige Glaube, der allemal die Seligkeit in dem Menschen hervorruft, in ihm entstehe. Aber so wie der Erlöser weit davon entfernt war, einen gleichsam zwingenden Gebrauch für den Glauben an ihn zu machen von dem, was er äußerlich den Menschen Gutes erwies: so müssen wir und Alle, die an ihn glauben, es auch immer thun, wie er es gethan hat. Wie augenscheinlich auch sei die große Fülle der äußeren Güter, die durch Christum in die menschliche Gesellschaft gekommen ist, nicht daraus, sondern nur aus dem Bedürfniß eines jeden einzelnen Gemüthes in Beziehung auf sein Verhältniß zu Gott, nur daraus, wenn in dieser Beziehung ein jeder Christum als den Erlöser erblickt, kann der wahre, seligmachende Glaube in dem Gemüthe des Menschen erwachsen. | Und darum müssen wir auch auf alle Weise diese Rückkehr in die Stille des Gemüthes aus dem Gedränge der Welt begünstigen, denn nur in dieser Verborgenheit kann der Same die 27–28 Vgl. Hebr 13,8

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rechte Frucht bringen. Und ein solches Zurückkehren in die Stille aus dem Gedränge der Welt sind denn alle solche Betrachtungen aus dem göttlichen Wort; da stehen wir in dem rechten Mittelpunkt zu diesem Gedränge und dem wahren Heil, welches von dem göttlichen Worte ausgeht; wir schauen hinaus und sehen auf den Geist, und auf das was durch ihn gewirkt ist in der Gemeine, aber nur indem wir in der Stille das Bild des Erlösers immer wieder auffrischen, Alles, was Fremdartiges mit ihm sich verbunden hat, davon trennen, nur wenn wir so ihn auffassen und uns aneignen, wie er ist und war, nur dadurch werden wir fest im Glauben, nur dadurch wird das Herz seines Heiles gewiß, und nur dadurch lernen wir zugleich, mit den Gaben, die er uns anvertraut hat, in dem Gedränge der Welt wirksam sein; aber mit derselben Bescheidenheit, wie er sich hier ausdrückt, mit derselben Anspruchslosigkeit sollen auch wir bestrebt sein, nur das zu wollen, wozu wir berufen sind, und Alles, was sich daran knüpfen könnte von den beseligenden Wirkungen auf die Gemüther, dadurch nicht erzwingen wollen, sondern durch das allgemeine Leben der christlichen Kirche wird es sich mittheilen in der Stille. So verhielt sich damals, was der Erlöser that, indem er lehrte, indem er die Menschen einzeln an sich zog, um unmittelbar auf ihr inneres Leben zu wirken, und was er that mitten in dem Gedränge der Welt, um auch das Seinige beizutragen, damit die Leiden und Trübsale im Aeußeren von ihnen genommen würden – so verhielt sich beides zu einander, so wird es sich immer zu einander verhalten. Es ist eine schöne Bestätigung der göttlichen Wahrheit, daß wir wahrnehmen, es wird durch sie auch das Leben der Menschen in der Welt befördert, es bekommt dasselbe eine schönere Gestalt, die einzelnen Kräfte entwickeln | sich mannigfaltiger, alles Unwürdige wird immer mehr aus der Seele entfernt; aber etwas Anderes ist die stille Seligkeit, die nur der beurtheilen kann, der sie erfährt, welche ihren Grund hat in dem Verhältnisse, in dem die einzelne Seele zu dem Erlöser steht, die sich aber nie trennen läßt von der christlichen Kirche, von dem Antheil an allen Ordnungen des gemeinsamen Lebens. Und so, wenn gleich die Kraft in Christo immer mehr in die Ordnung der Natur eintritt, wenn wir gleich das äußerliche Wunderbare jetzt nicht mehr so finden: so ist doch das, was das Christenthum in der Welt gewirkt hat von seiner ersten Entstehung an, das größeste Wunder, welches wir kennen; aber wol unterscheiden wir von demselben das innere Wunder, welches nur die schauen, die in lebendigem Zusammenhange mit dem Erlöser stehen. Wenn er damals in dem Gedränge der Welt bald eine Wohlthat erwies, ohne es selbst zu wissen, und es erst erfuhr, wann sie geschehen war; bald wie hier in die Häuser der Menschen einging und in dem stillen Heiligthum des häuslichen Kreises das lebendig machende Wort erschallen ließ, welches die, die in einem todtenähnlichen Zustande waren, zum Leben rief: so ist es eben so mannigfaltig sowol mit den Wohlthaten des Christenthums un-

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ter den Menschen im äußerlichen Leben, als noch vielmehr mit seinem Wirken im Geist und in der Kraft. Wir alle, die wir berufen sind, in seinem Geiste zu leben, können auch solche Wirkungen hervorbringen, ohne es zu wissen, wie Christus an der Frau hervorbrachte; auch wir werden aufgefordert, ebenso selbstthätig zu handeln, daß wir sagen müssen, wir könnten so nicht handeln, wenn wir nicht glaubten an das Herrschen des Geistes in der Gemeine; aber noch mehr zu solchen Erweisungen der Liebe, die unmittelbar eine Wirkung auf die Gemüther, um den Glauben zu erwecken, hervorbringen. Und beides wird immer zusammen fortgehen, und so wird sich sein Reich immer mehr verbreiten. Mögen wir nur auch das Unsrige | thun, um den Glauben an den Erlöser zu reinigen, auf daß es wirklich er selbst sei, wie er von Gott gegeben war, was wir zum Gegenstande des Glaubens machen, und uns von Allem befreien, was nur aus leeren Wünschen, aus Mißverständnissen mancher Art entsteht, und was, wenn man es zu lange wachsen läßt, die Kraft des göttlichen Wortes schwächt, auf daß wahr werden möge, was der Apostel sagt, daß wir geführt werden durch den Geist des Herrn von einer Klarheit zur andern. Amen. Lied 6.

1–2 Vgl. 1Kor 2,4 16–17 Vgl. 2Kor 3,18 18 Die einzige Strophe von Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 6 (Melodie von „Nun lob, mein Seel, den Herren“) lautet: „Dein Name werd erhoben, Gott, Vater der Barmherzigkeit! Du, der mir stets von oben auf meine Bitte Kraft verleiht! Mein Wollen und Vollbringen kommt, Höchster, nur von dir; o send in allen Dingen auch ferner Hülfe mir, daß ich das Meine thue im Namen Jesu Christ, bis deines Volkes Ruhe mein Theil auf ewig ist.“

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9. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 9,5 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 3) 1832, S. 209–228, Nr. XII SW II/3, 1835, S. 338–350; 21843, S. 351–363. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 397–407 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 9. Sonntage nach Trinitatis. Lied 43. 295, 1–6. Text. Apostelgesch. IX, 5. „Es wird dir schwer werden, wider den Stachel auszuschlagen.“ 5

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Mit dieser Warnung, m. chr. Z., welche Saulus erhielt, sei es nun vorher oder erst nachdem ihm kund geworden war, weß die Stimme sei, welche er vernahm, mit dieser Warnung begann eigentlich die Umwendung seines Sinnes, seine Bekehrung zum Glauben an Jesum als den Christ und den Erlöser der Welt. Welch eine wichtige Begebenheit für die ganze Geschichte des Reiches Gottes auf Erden, wie ein solches auserwähltes Rüstzeug Gottes umgestaltet wurde aus einem Verfolger in einen Gläubigen, in einen Verkündiger der Wahrheit, in einen Apostel des Herrn, von welchem gesagt werden konnte, und zwar er selbst konnte es sagen, daß er mehr gearbeitet habe als die andern Alle! Aber nicht nur, wenn wir auf die unmittelbare Wichtigkeit dieser Worte in Beziehung auf den einzelnen Fall sehen: sie haben an und für sich 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 43: „Mein Gott in der Höh sey Ehr und Dank“ (in eigener Melodie); Nr. 295: „Die Feinde deines Kreuzes drohn“ (Melodie von „Sey Lob und Ehr dem höchsten Gut“ bzw. „Es ist das Heil uns kommen her“) 3–4 Der zitierte Predigttext findet sich in heutigen Lutherbibeln nicht mehr in Apg 9,5, weil er textkritisch als sekundärer Zusatz aus Apg 26,14 gilt. 14 Vgl. 1Kor 15,10; ferner 2Kor 11,23

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etwas, was | uns Allen sehr bedeutend sein muß, weil sie eben die Art und Weise betreffen, wie sich das Thun des einzelnen Menschen gegen die Alles leitende und lenkende Gewalt, die er um sich her wahrnimmt, verhält. Darum laßt uns diese Warnung, nicht gegen die das Ganze bewegende Macht angehn zu wollen, in der gegenwärtigen Stunde zum Gegenstand unserer Betrachtung machen. Wir werden aber dabei auf zweierlei zu sehen haben, um sie in ihrem ganzen Sinn und Erfolge richtig aufzufassen; zuerst die Art und Weise, wie Paulus sie erhielt, und dann den eigentlichen wahren Inhalt derselben. I. Was nun zuerst die Art und Weise betrifft, wie diese Warnung an Saulus gelangte: so wißt ihr wohl, m. a. Z., daß es nicht meine Art und Weise ist, das Wunderbare, welches in der heiligen Geschichte des Christenthums erscheint, erklären, und dadurch zum Begreiflichen herunter ziehen und wie eine gewöhnliche Begebenheit verstehen zu wollen; vielmehr wollen wir uns auch diesmal dem unmittelbaren Eindrukk, den die Sache macht, ruhig und getrost hingeben. Es umleuchtete plötzlich am lichten Tage ihn und seine Gefährten doch noch ein anderes Licht von oben, es zog sie mit Gewalt nieder, daß sie zur Erde fielen und der Apostel hörte eine Stimme, welche ihm die Worte aussprach, die wir hier lesen; daß ihm also zu Muthe gewesen sei, wie Einem, dem wunderbares begegnet, das ist Allen klar und Niemand wird es bezweifeln. Aber um desto mehr werden wir uns nun | fragen, soll denn etwas von dieser Art einen solchen Einfluß haben auf die Ueberzeugung des Menschen? Der Apostel redet selbst von jener frühern Lebenszeit in seinen Briefen immer nur auf solche Weise, daß er sagt, er sei, was seinen Eifer für das Gesetz betrifft, ein Verfolger der Gemeinde gewesen. Dieser Eifer für das Gesetz ruhte auf der Beschäftigung seines ganzen bisherigen Lebens, welches der Erforschung dieses Gesezes in allen seinen mannigfachen Verzweigungen mit der Geschichte des Volkes, welche sich darauf begründete und bezog, gewidmet gewesen war; es war also seine feste Ueberzeugung, daß er nur solche verfolge, welche eine gegen das Gesez gerichtete Lehre verkündeten, welche etwas neues, nicht nur von dem bisherigen abweichendes, sondern diesem auch verderbliches auf die Bahn bringen wollten. Handelte er also bisher in diesem Sinne nach seiner besten Ueberzeugung: sollte er sich darin wankend machen lassen durch eine wunderbare äußere Erscheinung, durch ein Licht, wovon er nicht wußte, woher es kam, durch eine Stimme, die er vernahm, ohne zu 18–21 Vgl. Apg 9,3f

28–29 Vgl. Phil 3,5f

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wissen, woher sie kam? Wenn wir weiter nichts als dies ins Auge fassen, so werden wir nicht im Stande seyn, den Apostel zu loben. Das Wunderbare, das der Mensch nicht begreift, das unerklärliche in solchen äußern Erscheinungen darf ihn doch wol niemals aufhalten auf dem Wege des Lebens, welchen er mit voller innerer Ueberzeugung eingeschlagen hat! Wenn wir die Regel geben, Jeder, ich will nicht sagen soll, sondern nur darf sich in dem, was er zu thun beschlossen, oder, worin er schon begriffen ist, aufhalten lassen durch irgend solche fremdartige Ereignisse: wäre das etwas anderes als eine Begünstigung des | Aberglaubens, der doch mehr als ein anderes Uebel das menschliche Leben in seiner innersten Wurzel zerstört und aufreibt? Wenn uns etwas geschieht oder unserm Auge sichtbar, unsern Sinnen wahrnehmbar wird, wovon wir nicht begreifen, wie es geschehen kann, aber wir haben eine Stimme in uns, welche sagt, was durch uns geschehen soll, wozu wir berufen sind, worauf wir unsere Kräfte zu verwenden verpflichtet sind, wie ja Paulus eine solche seit lange her in sich hatte: ist denn eine solche Verwandtschaft zwischen dem einen und dem andern, daß uns das, wovon wir nicht wissen, wie es geschehen kann, hindern soll in dem, wovon wir wissen, daß es durch uns geschehen soll? Ganz anders war die Meinung des Apostels selbst. Denn was sagt er zu den Gemeinden in Galatien, welche sich von der Lehre, die er ihnen verkündigt hatte, auf solche Weise hatten abwendig machen lassen, daß sie im Begriff waren, zu dem Gesez zurükzukehren, von welchem der Apostel sagt, daß unter ihm als unter äußerlichen Sazungen die Menschen gefangen gewesen seien, bis die Zeit erfüllet war, und Gott seinen Sohn sandte, auf daß er die, die unter dem Gesez waren, erlösete1, was sagt er ihnen? „Und wenn ein Engel vom Himmel käme und predigte ein anderes Evangelium, so sollt ihr ihm nicht glauben2.“ Ein Engel vom Himmel ist doch auch ein für uns wunderbares Wesen, das in unserm Leben sonst nicht vorkommt, und wir wissen nicht, wie es mit den Erscheinungen derselben zugeht; nur soviel wissen wir, daß diese Erscheinungen schon von Alters her das Recht hatten, für | Botschafter von oben gehalten zu werden, und doch sagt der Apostel, wenn auch ein Engel vom Himmel käme, sollt ihr doch nicht glauben, so er euch ein anderes Evangelium predigen will. Daß sie Ueberzeugung gewonnen hatten von dem Evangelium, das er ihnen gepredigt, das sezt er voraus: und hatten sie die, so sollte auch ein Engel vom Himmel sie nicht von derselben wegrükken können, auch nicht im Mindesten. Und derselbe Apostel, der sollte in der innersten Ueberzeugung, nach welcher er bisher sein Leben geordnet 1 2

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hatte, nicht nur wankend geworden sein, sondern auf einmal in das Gegentheil umgewandelt durch eine solche wunderbare Erscheinung und Stimme? Das, m. g. Fr., ist nicht zu glauben, das sähe weder ihm ähnlich, in sofern er jene Worte gesagt, noch auch überhaupt dem heldenmüthigen kräftigen Geist, welcher sich im ganzen Leben des Apostels verräth. Er hätte vielmehr sagen müssen, wie dort, Und wenn auch eine Stimme vom Himmel an mich ergeht und mich abwendig machen will von dem Wege, dem ich mit Ueberzeugung folge, und wenn auch die Gewalt, gegen die ich anstrebe, noch so mächtig wäre; ja wenn ich auch, wie er sich anderwärts ausdrükkt1, geopfert würde über dem Dienst, den ich Gott bringe: so will ich auch gern fallen als ein solches Opfer; – das würde, das müßte er auch dort gesagt haben, denn eben dieser muthige kräftige Geist war in ihm schon ehe er sich zum Herrn bekannte. Was sollen wir also sagen? Offenbar nicht durch das wunderbare, nicht durch das Ueberraschende hat diese Erscheinung auf ihn ge|wirkt, sondern vielmehr durch den Inhalt der Worte, die er vernahm; und diese Wirkung war schon auf mancherlei Weise vorbereitet in seinem Gemüth. Er war ein Schüler desselben Gamaliel, welcher, als die Apostel, wie wir das vor einiger Zeit zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht haben, vor dem hohen Rath zu Jerusalem standen, und man im Begriff war, über sie ein ähnliches Urtheil des Todes zu fällen, wie über den Erlöser selbst früher war gesprochen worden, der damals abmahnte, dies nicht zu thun, indem er sagte2, „Wenn das Werk aus den Menschen ist, so wird es untergehen, ist es aber aus Gott, so könnet ihr es nicht dämpfen, und ihr solltet nicht dagegen streiten, auf daß ihr nicht erfunden werdet als die wider Gott streiten wollen.“ Saulus war ferner Zeuge gewesen, und wohl mehr als Zeuge, denn dadurch, daß er die Kleider derer verwahrte, welche den ersten Märtyrer der christlichen Wahrheit steinigten, war er Theilnehmer an dieser Handlung, und nicht einer der geringsten gewesen. Als nämlich Stephanus gesteinigt ward, da sah er diesen Zeugen der Wahrheit nicht von fern; und wenn von diesem gesagt wird, daß sein Antliz gewesen sei wie das Angesicht eines Engels, so hat das Saulus gesehen; wenn Stephanus die Worte gesprochen 1 2

Phil. 2, 17. 2 Tim. 4, 6. Ap. Gesch. 5, 38.

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24 „Wenn] Wenn 6 Gemeint ist in Gal 1,8. 18–19 Vgl. Apg 22,3 19–23 Vgl. Apg 5,17–33 20 Vgl. die Predigt am 24. Juni 1832 über Apg 5,38f 28–30 Vgl. Apg 7,57 34 Vgl. Apg 6,15 36 Es handelt sich um Apg 5,38f.

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hat, „Siehe, ich sehe den Himmel aufgethan und des Menschen Sohn stehen zur Rechten Gottes1“ so hat er es gehört: und gewiß, weder jenes Wort seines Lehrers, noch auch dieser bedeutende und erschütternde Augenblikk kann verloren gewesen sein an einer Seele wie diese. Der scharfe Gegensaz zwischen dem Gotteswerk, | welches siegen muß, und dem Menschenwerk welches von selbst vergeht, angewendet auf die Frage, ob das, was er verfolge, wol das eine sei oder das andere, mag wohl schon manchmal seinen Eifer unterbrochen haben; das Bild jenes edlen Mannes, dessen Tod er bereiten half, hat ihm gewiß nicht selten wieder vor der Seele geschwebt, und einen Stachel darin zurükkgelassen, dessen er sich nicht entledigen konnte. Ja gewiß so ist es, m. g. Fr., so geschieht es dem Menschen! nicht nur dem Apostel ist es so ergangen, sondern es geht uns Allen wol eben so. Wir haben eine Ueberzeugung wie auch immer gewonnen, sei es über göttliche Dinge, sei es über andere, welches auch der Gegenstand derselben sei, wir sind ihr treu ergeben, wir handeln ihr gemäß, ohne uns durch etwas irre machen zu lassen; aber dabei bleibt es nur in ruhigen gewöhnlichen Zeiten des Lebens. Kommen andere, so treten auch viel häufiger ganz entgegengesezte Ueberzeugungen, eben so kräftig verfochten, eben so klar vorgetragen, der unsrigen gegenüber. Da trifft zwar ein Stachel die Seele, da entsteht wol eine Ungewißheit, eine Aufforderung zu weiterer Forschung: aber nicht immer sind wir gleich so stark aufgefordert, daß wir sofort unsern gewohnten Lauf unterbrechen. Vielmehr kann es leicht geschehen, daß wir noch geraume Zeit in derselben Handlungsweise beharren, wenn es auch schon nicht selten Stunden gegeben hat, wo wir bei uns überlegten, ob es auch da sicher sei, wo wir gehen, ob auch das Heil wirklich daher komme, von wo wir es erwarten; aber es giebt einen solchen Zustand, und oft genug ereignet er sich in unserm so verwikkelten, bunten Leben, daß nämlich die Ueberzeugung schon anfängt | wankend zu werden, aber das Handeln geht noch seinen gewohnten Gang fort; wir warten immer noch auf etwas, das den Zwiespalt zum Spruche bringe. Dann geben wir uns ganz der ruhigen Betrachtung der Sache hin, lassen alle Gründe auf uns wirken: und was sich dann auch ergebe, in dem sind wir nun fest, und beginnen von neuem; denn auch das alte, wenn es siegt, ist ein neues geworden durch diese Durcharbeitung. In diesem Zustand war der Apostel, so fand ihn jenes Licht, und in diesem Zustand konnte die Stimme von oben herab auf ihn wirken und den lezten Ausschlag geben. Nur so können wir seine Handlungsweise in diesem Augenblikk im Zusammenhang mit seinem ganzen übrigen Leben begreifen; aber auch nur so verstehen wir die göttliche Fügung. 1

Ap. Gesch. 7, 55.

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Denn das kann nicht der heilige wohlgefällige Willen Gottes sein, mit dem, was dem Menschen das heiligste ist, mit seiner innigsten Ueberzeugung auf solche Weise zu verfahren, daß er sie allein umändern soll, weil ihm äußerlich etwas begegnet, wie wunderbar, wie unerklärlich, ja wie offenbar auch ein besonderes Werk der göttlichen Allmacht es auch sein möge. Wozu denn gäbe es sonst ein anderes wichtiges Wort und ein viel mehr zu beherzigendes, daß der Herr die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche1? Nicht durch etwas Aeußeres vom Himmel herab, sondern von innen wird er den ergreifen, den sein gnädiger Wille ist hinzulenken auf den Weg der Wahrheit; nicht durch ein äußeres Zeichen, sondern in seinem tiefsten Innern wird sich eine Stimme erheben, welche ihn bestimmt, ja ihm Gewalt thut, welche | den Zwiespalt aufdekkt und zugleich die Wunde, die sie geschlagen hat, heilt. Auf solche Weise lenkt der Herr die Herzen der Menschen von ihrem eigenen innersten Leben aus. II. Aber nun lasset uns zweitens sehen, was denn eigentlich der Sinn der Warnung war, welche der Apostel durch die himmlische Stimme erhielt, und welche eine solche Vorbereitung für ihn wurde, um ihn zu einem Apostel des Herrn zu weihen. Es wird dir schwer werden, heißt es, wider den Stachel auszuschlagen. Nämlich das Zugvieh, welches vor den Wagen gespannt wird, das wurde in jenen Zeiten getrieben durch einen Stachel; war es nun unwillig und wollte sich der Ordnung und dem gebietenden Willen nicht fügen, so bäumte es sich und schlug aus gegen den Stachel. Als ein solches nun stellt die Stimme den Apostel in seinen bisherigen Bestrebungen dar, und sagt ihm, es werde ihm schwer werden, es werde ihn hart angehen, dieser Gewalt, welche ihn einen ganz andern Weg treiben wollte, als den er im Sinne hatte zu gehen, Widerstand zu leisten. Ist nun dieser Inhalt der himmlischen Warnung mehr geeignet, ein festes, an die Untersuchung der Wahrheit gewöhntes, immer klar eingesehenen Gründen folgendes Gemüth auf seinem Wege aufzuhalten? Sollen wir das ansehen etwa als eine an uns Alle ergehende Stimme? wenn irgendwo in den menschlichen Dingen sich eine Gewalt zeigt, die uns eines andern Weges treiben will, als den wir uns vorzeichnen nach gründlicher Ueberzeugung, nach reiflicherem Urtheil: so sol|len wir, sobald wir merken, daß wir doch nichts ausrichten würden, unsere Ueberzeugung in den Wind schlagen, und uns der Gewalt hingeben, die auch alles andere treibt? Das können wir wohl eben so wenig glauben, oder es für einen Rath halten, welcher den Menschen gegeben werden könnte von oben 1

Spr. 21, 1.

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herab! Oder wo ist die Weisheit? Sie ist immer nur bei Wenigen auf Erden. Wo ist aber die Gewalt? Sie ist in der Menge, wenn es etwas giebt, das sie zusammenhält, in der Menge, die in der Regel doch nur dunkeln Vorstellungen folgt, und von dem, was das wahre Wohl der Menschen, von dem was die Kraft der Wahrheit ist, wenig oder nichts weiß. Und dieser nachzugeben sollte eine Stimme von oben herab einem solchen, wie Saulus war, gerathen haben, und zwar eben in der Absicht, ihn zu einem treuen muthigen Verkündiger des Evangeliums zu machen? ihm gerathen haben, er solle sich doch nicht vergeblich abmühen, seiner Ueberzeugung Raum zu verschaffen, das zu fördern, was er für gut hielte, denn die Gewalt auf der entgegengesezten Seite sei viel zu groß, und er werde ihr doch nicht Widerstand leisten können. Unmöglich, m. G.! aber eben darum war auch dies nur eine Warnung; eben darum war sie es auch nicht, was die Bekehrung des Apostels vollendete. So wie es in unserm Text lautet, hatte die Stimme nachdem sie ihn gerufen hatte, damit angefangen, sich auf seine Frage ihm zu erkennen zu geben, Ich bin Jesus, den du verfolgst! und dann diese Worte folgen lassen. Wie er selbst an einem andern Orte1 erzählt, waren diese | Worte die ersten, und darauf fragte er erst, Herr, wer bist du? und dann antwortete die Stimme, Ich bin Jesus, den du verfolgst. In beiden Fällen aber war das, was durch diese Worte erreicht wurde, nichts anderes als daß er fragte, Herr, was soll ich thun? Was ihm wohlthätiges begegnete durch diese Warnung, war unmittelbar nichts anders, als daß er aus jenem peinlichen Zustande, aus dem Zwiespalt zwischen dem Forthandeln auf die vorige Weise und den Bedenklichkeiten, die schon in ihm aufgestiegen waren, nun plözlich befreit wurde, daß er sich nun ein Herz faßte, gänzlich inne zu halten, und daß er, ohne sich um die Welt zu bekümmern, überlegte, was er zu thun, welche Schritte er zu machen habe, um die ganz neue Erforschung der Sache, die ihm oblag und wozu er sich nun gedrungen fühle, zu einem erfreulichen und beruhigenden Ziel zu leiten. Lasset uns nun jene Vorstellung, die er selbst dem König Agrippa hievon gab, wie wir sie im 26. Kap. der Apostelgeschichte finden, in Beziehung auf das, was weiter mit ihm vorging, in Erinnerung bringen. Da faßt der Apostel in einem kurzen Bericht, wie es vor einem solchen Manne sich wohl geziemte, alles zusammen, was auf dem Wege nach Damaskus ihm widerfuhr, ohne genau zu unterscheiden, was ihm im Augenblikk die Stimme sagte, und was er von einem ältern Jünger des Herrn später hörte, sondern das alles faßt er hier in einer Rede zusammen, 1

Ap. Gesch. 26, 14. 15.

38–39 Gemeint sind vermutlich Petrus und die Aussagen in 1Petr 2,9f.

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die er jener Stimme beilegt, und sagt1: „Dazu bin ich dir erschienen, daß ich dich ordne zum Diener und Zeugen deß, das du gesehen | hast, und das ich dir noch will erscheinen lassen; und will dich erretten von dem Volk und von den Heiden, unter welche ich dich jezt sende, aufzuthun ihre Augen, daß sie sich bekehren von der Finsterniß zu dem Licht, und von der Gewalt des Satans zu Gott, zu empfangen Vergebung der Sünden und das Erbe sammt denen, die geheiligt werden durch den Glauben an mich.“ Und erst nachdem er so weit gekommen in seiner Erzählung von dem, was er vernommen hatte in dieser großen Sache, fährt er fort, „Daher, lieber König Agrippa, war ich der himmlischen Erscheinung nicht ungläubig.“ Fragen wir uns also nun, worauf gründete sich seine Bekehrung von einem Verfolger der Gemeinde zu einem Verkündiger des Evangeliums? Was können wir anders antworten, als nicht auf diese Warnung allein, die nur etwas vorbereitendes war, freilich gewiß geordnet um den Weg, auf dem er ging, ihm zu erleuchten, um die Zeit der Unentschiedenheit abzukürzen, um ihn schneller zu der rechten, reinen, vollen Erkenntniß der Wahrheit zu bringen; sondern was ihn nun dazu bestimmte, Jesu von Nazareth zu folgen, und sich zu seinem Diener und Zeugen ordnen zu lassen, das war dies, was er eben vernahm, was eigentlich der Beruf und das Werk jenes Jesus sei, nämlich alle Heiden zu erfüllen mit dem Worte Gottes, sie zu erretten aus der Finsterniß und sie in die holde Gegenwart des Lichts zu bringen, sie zu befreien aus der Gewalt der dunklen Mächte und sie zu bekehren zu Gott. Das däuchte ihm etwas so großes und herrliches, wie er sich bisher nicht gedacht hatte; und nun konnte er nicht unterlassen, sich vergleichend zu fragen, was will dieser | und was hast du bisher gewollt? Da mußte ihm sein eigener früherer Eifer so erscheinen, wie er hernach von seinen Brüdern nach dem Fleisch sagte, er müsse von ihnen rühmen, daß sie einen großen Eifer hätten um Gott, aber es sei ein unverständiger. Da leuchtete ihm das als ein Unverstand ein, dem er sich nicht länger hingeben könne, daß Gott auf besondere Weise eigen sein sollte einem einzelnen Volke, und dann noch wieder auf besondere Weise einigen Wenigen aus diesem einzelnen Volk; so daß von andern Völkern nur sparsam Einzelne und immer nur als besondere Begünstigung und unter schwierigen Bedingungen, denen sich die Menschen nur ungern unterwerfen konnten, zu einem Antheil gelangen durften an diesem näheren engeren Verhältniß zu Gott. Eben dieses, worauf er sonst mit allen seinen Stammesgenossen stolz gewesen 1

V. 16 ff.

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40 Es handelt sich um Apg 26,16–19.

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war, mußte ihm nun als etwas kleinliches erscheinen, woran der von oben her erleuchteten Seele nicht länger genügen konnte. Diese allgemeine Verbreitung der geistigen Güter, der Vorzüge, die aus der Erkenntniß Gottes und der Gemeinschaft mit ihm entstehen, dieses Licht, welches allgemein ausgegossen werden sollte über alle Völker der Erde, und damit zugleich ihre Befreiung von der Gewalt des Bösen: welch ein Segen! Aber freilich wie konnten sie glauben, wenn ihnen nicht gepredigt wurde! die Menschen mußten aufgefordert, es mußte ihnen möglich gemacht werden, sich Gott zuzuwenden, sie mußten irgendwie den so lange verborgenen Vater schauen können, und ach! wie hell und leicht konnten sie ihn schauen in dem Sohne, welchem er einwohnte! – und nur wenn sie so durch das belebende Wort zu Gott geführt wurden, konnten sie er|rettet werden von der Gewalt des Bösen; das aber war ein Ruf, dem Saul nicht widerstehen konnte. An diesem Beginnen, die geistigen Güter allgemeiner zu machen, alle Menschen zum wahren Genuß ihres Heils zu bringen, und so allmählig überall der Finsterniß zu steuern und die Gewalt des Bösen aufzuheben: daran erkannte er die Herrlichkeit des eingebohrnen Sohnes vom Vater, da wurde es ihm klar, daß dieser Jesus der sei, der da kommen sollte, und zwar zu etwas viel höherem, als er mit Andern bisher die Weissagungen der Männer des alten Bundes gefaßt hatte. Das war die Bedeutung des Lichtes, das ihn umleuchtet hatte, so daß ihm die Schuppen von den Augen fielen, und er nun die Weissagungen des alten Bundes in ihrem wahren Sinn erkannte, und der Sieg des Evangeliums in seiner Seele entschieden wurde. Aber noch ein anderes, was eben so mächtig auf seine Seele wirkte, dürfen wir nicht übersehen. Es ist diese Verbindung, wie er sie bisher auch nicht gekannt, zwischen dem eigenen Besiz der himmlischen Güter und dem unwiderstehlichen Drange sie mitzutheilen. Auch dieses neben vielem andern fehlte der Einrichtung des alten Bundes, und gehört mit zu den Ursachen, weshalb ein heiliger Schriftsteller des neuen mit Recht sagt, Der alte Bund habe nur den Schatten gehabt, nicht das Wesen der wahren Güter1: daß dieses Volk, in dem Genuß der Erkenntniß Gottes, in dem Besiz vorzüglicher Ordnungen, die ihm von oben gekommen waren, doch abgeschlossen bleiben sollte für sich allein. Der Apostel begreift das aber auch nur als | einen 1

Hebr. 10, 1.

18 aufzuheben:] so auch SW II/3, S. 346; Textzeuge: aufzuheben; auch SW II/3, S. 346; Textzeuge: Güter...; 7–8 Vgl. Röm 10,17

18–19 Vgl. Joh 1,14

33 Güter...:] so

19–20 Vgl. Mt 11,3; Lk 7,19

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vorübergehenden Zustand; denn so erklärt er es, unter dem Gesez wie unter der Sünde sollten die Menschen zusammengehalten werden, bis die Zeit erfüllet war und der Sohn Gottes erschien, indem dann erst die göttlichen Verheißungen erfüllt werden konnten durch den Glauben1. Aber nun erging an ihn ein Ruf, der ihn auf einmal von diesen Beschränkungen befreite, und wie er erkannte, daß Jesus der Sohn Gottes sei, wurde auch in seinem Herzen der Grund gelegt zu diesem Drange der Liebe, welche sein ganzes Leben beseelte, daß er sagte, Ich kann nicht anders, ich muß das Evangelium verkündigen; denn die Liebe Christi dringet mich also2. Und das ist die Verbindung, die eigentlich den wahren Geist des Christenthums auszeichnet, daß keiner von uns die himmlischen Güter weder für sich allein haben will, noch auch nur vermeinet, sie so haben zu können jeder für sich allein; sondern wo sie sind und leben, von da aus wollen sie sich auch weiter umher verbreiten, die Gewalt der Finsterniß immer mehr beschränken, ja wenn es nur möglich wäre, lieber Alle abwenden von der Gewalt des Bösen und hinführen zu Gott. M. a. Fr. Dies veranlaßt mich zu einer zweifachen Betrachtung für eine Zeit, wie die gegenwärtige ist, in einem solchen Streit der Meinungen über alles wichtige und große in den menschlichen Angelegenheiten dieser Welt sowohl als auch des Reichs Gottes. Wie Viele befinden sich in demselben Zustande, in welchem den Apostel die himmlische Stimme fand! Sie gehen ihres Weges, nicht | ohne den Streit ihrer Ansicht gegen eine andere zu kennen; und nicht lange können sie unbefangenen Gemüths und in unerschütterlicher Ruhe bleiben, wenn sie inne werden, daß auch Solche, die sie nicht verwerfen können, in denen sie den gesunden Verstand, das freie Urtheil nicht verkennen dürfen, doch der entgegengesezten Meinung mit fester Ueberzeugung zugethan sind. Aber in welchen Zwiespalt geräth dann der Einzelne mit sich selbst! Ist er es, der den Stachel in seiner Hand hält? ist seine Ueberzeugung die Gewalt, welche die ganze Zeit treibt? und kann er sicher sein, daß er auf seinem Wege zum Ziele gelangen wird? oder ist er der, welcher vergeblich mit seiner Ueberzeugung und Handlungsweise ausschlägt gegen den Stachel? ist die Gewalt, welche die Zeit wirklich treibt, auf der Seite, die ihm gegenüber steht, und er in den Händen derselben? Welche Ungewißheit! und ach! welch einen großen Theil manches schönen, manches sonst musterhaften Lebens beherrscht sie! Wie ist Rettung daraus zu finden? Soviel scheint gewiß, wer nur das irdische im Auge hätte, der wird auch in irdischen Angelegenheiten sich nicht zur Gewißheit durcharbeiten können; sondern 1 2

Gal. 3, 22–24. 4, 3. 4. 2 Kor. 5, 14.

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immer wieder wird etwas neues vorkommen, das ihn blendet und ungewiß macht; ja da ist auch nicht einmal Empfänglichkeit für ein solches Licht, welches den hellen Mittag der irdischen Dinge überstrahlt. Aber unsere Geschichte giebt uns eine deutliche Anweisung. Wer sich in der Richtung bewegt, wo er geistige Güter möglichst verbreiten kann, wer Recht, Licht und Ordnung, denn diese drei sind unzertrennlich von einander, festzustellen und geltend zu machen sucht; wer nicht dem Vortheil von diesem oder jenem | Theil der Gesellschaft dient, sondern einer solchen Einrichtung der menschlichen Dinge nachtrachtet, wodurch am sichersten der Gewalt des Bösen gesteuert, und es den Menschen erleichtert wird in den göttlichen Willen einzugehn, der geht mit der verborgenen treibenden Gewalt, und bedarf der Warnung nicht, daß es ihm schwer werden würde, gegen sie anzugehen. Eben so lehrt sie uns auch noch dieses. Wer es mit seinen Bestrebungen anlegt auf einen Besiz und Genuß, wie veredelt auch immer, ja auf irgend etwas, was er für sich behalten will, der schlägt aus wider den Stachel. Wer hingegen nur dem nachtrachtet, was ihm selbst desto lieber wird, je mehr er es verbreiten und mittheilen kann; für wen nur das Wahrheit hat, was ihn auch gleich wie das Evangelium den Saulus als Zeugen und Diener in Besiz nimmt: dessen Stimme laßt uns folgen, dem können wir getrost nachgehn, er wird uns niemals irre führen. Wenn wir jeden Streit hierauf ansehen, und die einander entgegen strebenden Partheien so ins Auge fassen, alsdann wird auch uns Gott erleuchten mit seinem himmlischen Licht und wir werden des rechten Weges nicht verfehlen. Die zweite Betrachtung, die ich Euch noch vorlegen wollte, ist diese. Wenn wir uns denken den Menschen, wie uns hier der Apostel erscheint, im Begriff sich dem, der zum Heil der Menschen gesandt war, hinzugeben: wie stellen wir uns gewöhnlich diesen Zustand vor? Oft genug kommt er uns allerdings so vor, wie die Meisten ihn denken; das Gemüth niedergedrükkt vom Bewußtsein seiner Schuld und Sünde, unter dem es längere oder kürzere Zeit hingeht, nicht selten nahe am Rande der Verzweif|lung, bis dann plötzlich, auf irgend eine Weise, eine rettende Hand als die rechte erscheint, und ihm eine Gewißheit wird, die in das fast zerstörte Herz Ruhe und Frieden bringt. So wird uns die Sache immer dargestellt, so beschreiben viele Frommen ihre eigene Erfahrung, und wer wollte darin nicht einen Weg Gottes anerkennen? Aber laßt uns nur auch zugeben, es ist nicht der einzige; denn wir finden gleich hier nicht die geringste Spur von dem Allem in der Geschichte der Bekehrung dieses Apostels. Wenn er auch seine bisherige Ueberzeugung bei dem neuen Lichte als unrichtig erkennen mußte, er konnte sich des Irthums zeihen, er hat nicht aufge-

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hört zu gestehen, daß er der unwürdigste sei unter den Aposteln, weil er früher ein Verfolger der Gemeinde gewesen: aber da er seiner Ueberzeugung treu gewesen war, einer Ueberzeugung, welche die reife Frucht seines ganzen besonnenen Lebens gewesen war, so war kein Grund zu einer solchen Verzweiflung an sich selbst. Nicht als ob er ohne Buße ins Himmelreich eingegangen wäre; denn Buße ist eben Sinnesänderung. Aber wie er von dieser großartigen Verkündigung göttlicher Gnade ergriffen wurde; wie ihm der Sinn aufging für ein rein geistiges Reich Gottes: so war es grade ein freudenreiches Ueberströmtwerden von der Herrlichkeit des Evangeliums, was eines war mit seiner Sinnesänderung; und wie er sich nun von dieser Sache nicht mehr trennen konnte, sondern sich ihr hingeben mußte, so gedachte er auch dessen nicht weiter was hinter ihm lag. Ist nicht dieses eben so gründlich und eben so von Gott gewirkt als jenes? Ja wir dürfen kühnlich sagen, beides ist gleich nothwendig, das eine eben so gut ein Weg Gottes als das | Andere, und nur in beiden zusammen kann die Kraft und Herrlichkeit des Evangeliums ganz erkannt werden. Der Weg der Zerknirschung bezieht sich vornemlich auf das Verhältniß der einzelnen Seele, die ihren Frieden sucht, zum Erlöser. Aber wenn dieses Verhältniß mehr als nur die eine Seite des göttlichen Rathschlusses zur Seligkeit wäre: so könnte das Christenthum nicht die Gewalt sein, welche die menschlichen Dinge im großen leitet und treibt. Denn dabei kommt es auf etwas anderes an, als nur auf das Wohlsein der einzelnen Seele für sich. Aber wer nun gleich über sich selbst hinausgehend und sich nur als den kleinsten Bestandtheil in das Ganze mit einbegreifend, von dieser weltbeherrschenden vorwärts treibenden Kraft des Evangeliums ergriffen wird: wollen wir den etwa weniger für unsern Bruder halten, wenn er nicht durch solche schwere Kämpfe eines lange bei sich allein verweilenden Gemüths durchgegangen ist? Dann müßten wir uns ja lossagen von dem großen Apostel! Darum laßt uns in diesen Dingen dem Herrn nichts vorschreiben. Sehen wir einen in dieser Richtung getrieben, in welcher der Apostel sich darstellt, daß er der himmlischen Stimme nicht konnte ungehorsam sein, weil sie ihn ordnete zu einem Diener des Evangeliums; sehen wir einen, der wie Paulus sich deswegen zum Diener des Herrn bekennt, nicht sowol weil er aus einem Zustand der Verzweiflung über das Bewußtsein seiner Sünde herausgerissen worden, sondern vornehmlich weil sich ihm in Jesu der Rathschluß der Gnade Gottes über das menschliche Geschlecht und das Bild seiner Herrlichkeit offenbart: er soll uns eben so willkommen, eben so lieb sein als Paulus. 1–2 Vgl. 1Kor 15,9 Apg 26,16

12–13 Vgl. Phil 3,13

33–34 Vgl. Apg 26,19

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Aber das eine kann nie ganz von dem andern | getrennt sein, und nur in dem Maaß als beides Eins wird, als diese große die ganze menschliche Welt zu beherrschen bestimmte Kraft auch in das innerste der einzelnen Gemüther reinigend eindringt, und zugleich nur in dem Maaß, als der durch Schmerzen der geistigen Geburt errungene Friede des Einzelnen ein solcher Drang der Liebe für ihn wird, was er empfangen hat wieder mitzutheilen, auf daß sich auch Andere der göttlichen Gabe erfreuen, so daß er das Heil nicht nur für sich sucht und nicht glaubt es für sich allein besizen zu können, sondern von einem lebendigen Eifer für das große Reich Gottes beseelt wird: nur in beiden zusammen ist der volle Geist dieses göttlichen Heils wirksam; nur in dem innigsten Zusammenschmelzen von beidem wird die Absicht dessen ganz erfüllt, der jeden Einzelnen nur an sich zieht, um ihn auch zu senden, wie er gesandt war, nicht wieder an Einzelne, um sich mit denen ängstlich zusammen zu halten, sondern in freudiger Liebe an das Ganze. Nur auf diesem Wege können auch wir wie die Apostel treue Haushalter der Geheimnisse Gottes sein, jeder in dem Maaß als ihm Gaben gegeben sind von oben. Amen. Lied 297.

13–14 Vgl. Joh 17,18; 20,21 17 Vgl. 1Kor 4,1f 19 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 297: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (in eigener Melodie)

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Am 26. August 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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10. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 6,1–6 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 275–287, Nr. XXII; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 95. Tex t . Marcus VI, 1–6. „Und er ging aus von dannen und kam in seine Vaterstadt, und seine Jünger folgten ihm nach. Und da der Sabbath kam, hob er an zu lehren in ihrer Schule. Und viele, die es höreten, verwunderten sich seiner Lehre, und sprachen: Woher kommt dem solches? Und was Weisheit ist es, die ihm gegeben ist, und solche Thaten, die durch seine Hände geschehen? Ist er nicht der Zimmermann, Mariä Sohn, und der Bruder Jacobi, und Joses, und Judä, und Simonis? Sind nicht auch seine Schwestern allhier bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgend weniger, denn im Vaterlande und daheim bei den Seinen. Und er konnte allda nicht eine einige That thun; ohne wenigen Siechen legte er die Hände auf, und heilete sie. Und er verwunderte sich ihres Unglaubens. Und er ging umher in die Flecken im Kreis, und lehrete.“

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Es ist hier, m. a. Fr., die Rede von Nazareth, wo unser Erlöser von seiner ersten Kindheit an erzogen worden war, und wir wissen nicht wie lange vor seinem öffentlichen Auftreten | gelebt hat. Es war nicht seine Vaterstadt in dem engsten Sinne des Wortes, denn er war da nicht geboren; aber das 12 einige] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1571f von „außer“, vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 902

13 ohne] in der Bedeutung

1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 95: „Heilger Jesu, Heilgungsquelle“ (Melodie von „Wachet auf, ruft uns die Stimme“) 19 Nach den neutestamentlichen Geburtsgeschichten Mt 2,1–18 und Lk 2,1–20 war Jesus in Bethlehem geboren worden.

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mogte wol von den Meisten weniger beachtet worden sein, eben weil sie ihn von Kindheit an vor sich gehabt und ihn unter sich hatten aufwachsen sehen. Da kam er hin auf seinen Wanderungen durch Galiläa und lehrte nach seiner Gewohnheit in der Schule. Es ist nun in dieser Erzählung zweierlei, worauf wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben; einmal wie erzählt wird, daß sie sich über seine Lehre nur verwundert und geärgert hätten, und der Erlöser sich das erklärte, indem er sagt: „ein Prophet gilt nirgend weniger denn in seinem Vaterlande und daheim bei den Seinen;“ das Andere aber ist dieses, daß gesagt wird, er habe vermöge ihres Unglaubens wenige oder gar keine Thaten unter ihnen thun können, und sei deswegen auch bald wieder von dort weggegangen, um in dem Kreise umher in den Städten und Flecken zu lehren. Was das Erste anbetrifft, m. chr. Z.: so finden wir dieses sowol als auch das Entgegengesetzte unter den Menschen sehr häufig. Wenn sich Einer auszeichnet vor den Andern in irgend etwas, der ihnen nahe angehört, ihr Mitbürger ist: so schmeichelt das ihrer Eitelkeit und sie rühmen sich dessen. Das ist das Gegenstück zu dem, was der Erlöser hier erfuhr; ihm begegnete das Gegentheil, daß grade, weil er unter ihnen aufgewachsen und erzogen war, sie fragten, woher kommt denn diesem seine Weisheit? Und das führt der Erlöser zurück als auf etwas gleichsam lange schon Bekanntes und immer so Gewöhnliches, daß ein Prophet nirgend weniger gelte, als daheim bei den Seinen. Was ist denn nun wol der Grund dieses Unterschiedes zwischen dem Einen und dem Anderen? denn von jenem ist es nicht Noth, Beispiele anzuführen, sie kommen uns in der täglichen Erfahrung oft genug vor. Eines scheint freilich ebenso nichtig zu sein als das Andere. Es ist nichts als eine leere | Eitelkeit, wenn die Menschen glauben, daß von dem Ruhme eines Einzelnen in irgend was es auch sei von menschlicher Tüchtigkeit etwas auf sie herabgleite, deswegen weil er unter ihnen geboren und erzogen sei. Aber auch das Andere ist ebenfalls etwas Falsches und Verkehrtes; und wenn jenes Eitelkeit ist: so scheint dieses Hochmuth zu sein, wenn sie auf Einen weniger achten wollen, weil er unter ihnen geboren und erzogen ist. Wenn sich Einer in irgend einer menschlichen Kunst, Wissenschaft oder was es sonst sei auszeichnet und sich Ruhm erwirbt vor Anderen: so wird dann freilich gefragt, von wannen er sei, sein Leben, seine Geschichte wird ein Gegenstand der Aufmerksamkeit, und so wird dann auch von denen geredet und sie werden mit genannt, unter denen er gelebt hat; der Mann macht den Ort seines Ursprungs und seiner Erziehung bekannt und berühmt, wie er es selbst wird. Aber wenn wir nun fragen, liegt denn der Grund zu diesem Vorzuge eines Einzelnen grade in den Umgebungen, in welchen er gelebt: so werden wir dieses großen Theils verneinen müssen; je seltener die Gaben sind und die Geschicklichkeiten, durch die sich ein 1 mogte] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 553

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Einzelner auszeichnet: desto mehr ist davon auch die Ursache entweder eine besondere Gabe, die ihm mitgegeben ist von der Natur, oder eine besondere Begünstigung seines Geschickes, deren Grund grade nicht in seinen nächsten Umgebungen zu liegen pflegt, und so ist denn jene Theilnahme an dem Ruhme eines Einzelnen etwas Eitles. Aber es scheint uns denn doch natürlich zu sein, und je mehr wir damit ins Große gehen, um desto leichter befreunden wir uns damit. Ist es, wie es damals der Fall war, irgend ein kleiner, unbedeutender Ort, der wenig Hülfsmittel in sich schließt, um einen menschlichen Geist weiter zu bilden: so ergibt sich dann freilich von selbst, daß der Grund seiner Auszeichnung nicht liegen kann in seiner nächsten Umgebung; aber wenn wir weiter gehen und es beziehen auf ein größeres Land, wenn wir finden, daß unter den Völkern selbst ein | bedeutender Unterschied darin ist, daß das eine viele Menschen hervorbringt, die es weit bringen in dem, wozu der Mensch in der Welt berufen ist, und in anderen bleibt Alles in einer gewissen Mittelmäßigkeit stehen: ja, dann geben wir wol zu, das eine kann sich rühmen neben dem anderen, und es muß etwas in ihm sein, ein Grund, solche besondere Kräfte hervorzutreiben und bis auf einen gewissen Grad zu erheben; dann ist es in der That wahr, daß die Auszeichnung eines Einzelnen ein gemeinsames Gut ist für Alle, so daß in dem gemeinsamen Boden, in dem gemeinsamen Sinn, in dem gemeinsamen Lebensgang ein Grund sein muß zu einer solchen Auszeichnung. Aber wie ist es denn mit dem Entgegengesetzten in dem Fall, worin sich der Erlöser befand? Worin liegt der Grund davon, was er doch als eine allgemeine Erfahrung ausspricht, „ein Prophet gilt nirgends weniger als daheim bei den Seinen?“ Der Ausdruck Prophet ist freilich in den Büchern des Alten Bundes von einem sehr weiten Gebrauch, und manche unter ihnen gab es, die man vorzüglich nur ansehen konnte als solche in einer menschlichen Kunst und Wissenschaft Ausgezeichnete, bei denen es denn auch mag entgegengesetzt gewesen sein; aber der eigentliche Beruf eines Propheten war doch Lehre und Ermahnung, war doch der, die Menschen aufzuregen in dem Innersten ihres Gemüthes, sie aufmerksam zu machen und zum Bewußtsein zu bringen über ihre Abweichung von dem richtigen Wege, die Stimme des Gewissens, welche schlief, in ihnen zu wecken, und sie aufzufordern zu allem dem, was Gott gefällt und was er von ihnen fordert. Da ist also freilich nicht die Rede von einem Ruhme, den Andere theilen können, ohne daß es sie irgend etwas kostete, und der auf solche Weise ihrer Eitelkeit schmeichelte. Denn worin besteht, so betrachtet, der Ruhm eines Propheten? Doch immer nur darin, wenn er eine Wirkung hervorbringt, wenn seine Stimme eindringt in ihr Inneres, und sie nicht anders können als ihr | folgen als einer Stimme Gottes. Kommt nun Einer mit solchen Anforderungen an sie aus der Ferne und aus der Fremde her: so erscheint er ihnen schon äußerlich als ein von ihnen Verschiedener; sie können sich trösten darüber, daß er mit einer gewissen Ueberlegenheit

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unter ihnen auftritt, denn sie können sich denken, er habe wol andere Quellen gehabt zu seiner Belehrung, er sei einen anderen Lebensweg geführt worden, und wenn sie es nur wüßten: so würden sie es auch nachweisen können, von wannen ihm seine Weisheit käme. Aber so einen Einzelnen anzuerkennen für eine göttliche Stimme, sich ihm hinzugeben und ihm zu folgen, der unter denselben Umständen in das Leben getreten und aufgewachsen ist wie sie selbst, das bereitet ihnen einen stillen Vorwurf, indem sie zu sich sagen müssen, da er keine anderen Bedingungen gehabt hat für die Entwicklung seines Geistes und seiner Kräfte als wir auch, warum sind wir nicht auch dahin gekommen? Und so lehnen sie sich gegen einen Solchen auf, verstocken sich gegen die Kraft seiner Rede, und thun alles Mögliche, daß sie ihnen als etwas Unbedeutendes erscheint; und so war es hier mit denen, die in unserem Texte aufgeführt sind. Indem sie sagen: „woher kommt diesem seine Weisheit; ist er nicht des Zimmermanns und der Mariä Sohn, und der Bruder Jacobi, und Joses und Judä und Simonis? Sind nicht auch seine Schwestern allhier bei uns?“ so liegt darin das Bestreben, seine Thaten darzustellen als etwas Gewöhnliches, worauf keine besondere Aufmerksamkeit zu richten sei. Wenn nun aber auf diese Weise die menschliche Eitelkeit und der menschliche Hochmuth sich verletzt fühlen, wodurch beide sich geschmeichelt fühlen, wenn es in einer gewissen Entfernung von ihnen bleibt: so lasset uns noch auf ein anderes sehr Wichtiges aufmerksam machen. | Nämlich wenn es darauf ankommt, daß dem Menschen Wahrheit gesagt werden soll, die zu seinem Heile dient, daß er aufmerksam gemacht werden soll auf das, was ihm fehlet, daß er hingewiesen werden soll auf göttliche Wohlthaten, die er im Begriff ist, ungenutzt vorübergehen zu lassen: wie wichtig ist es dann in allen Fällen und nicht nur in diesem, daß wir auf die Sache sehen und nicht auf die Person. Wäre es ihnen ganz gleichgültig gewesen, war Jesus von Nazareth oder nicht, war er aus Galiläa wie sie oder nicht, kam er von hier oder dort, hatte er seine Weisheit aus dieser oder jener Quelle; hätten sie nur auf die Kraft seiner Wahrheit gesehen, nur darauf, wie ihm doch die innerste Stimme ihres Gewissens Beifall geben mußte; hätten sie gar nicht gefragt, von wannen er sei, und wie sich etwa seine Wahrheit verhalte zu dem, was sie etwa auch selbst leisten könnten; hätten sie mit einfältigem Herzen die Gabe Gottes hingenommen: so würden sie sich vielleicht auch verwundert haben über seine Rede, aber auf eine andere, weit heilsamere Weise, und keineswegs hätten sie sich an ihm geärgert, und er nicht dieses Wort auf sie anwenden können. Jetzt nun, m. Fr., in so ganz verschiedenen Verhältnissen als wir leben, in einem so viel größeren menschlichen Verkehr, wo auf das Hierher oder Dorther viel weniger gegeben wird in allen menschlichen Angelegenheiten, finden wir doch Aehnliches, und viel kräftige Wahrheit geht an den Menschen verloren auch unter uns Christen, weil sie nicht auf die Sache sehen,

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sondern fragen, von wannen sie kommt. Lasset uns nur stehen bleiben bei dem, was uns zunächst angeht. Wie groß ist die Zahl derer, die mit uns den Namen des Erlösers bekennen; aber wie sehr sind sie unter einander getheilt in größere oder kleinere Kirchen, Gemeinschaften und Kreise. Vernehmen wir nun von irgend einer kräftigen Stimme her Wahrheiten, die in das Gebiet unsers Glaubens gehören, und die | uns wol an das Herz dringen: wie oft hören wir dann die Frage, welcher Kirche gehört der wol an, der unsrigen oder einer anderen? Und gehört er nicht zu der unsrigen: so verschließen wir unser Ohr gegen die Wahrheit. Nun ist es freilich wahr, es gibt christliche Gemeinschaften, in welche sich viel Unchristliches eingeschlichen hat, und wenn wir uns ihnen nicht zu sehr nahen, weil wir sonst selbst uns nicht hüten zu können glauben, daß es nicht auch in unser Gemüth sich einschleiche und uns den rechten Grund des Glaubens verderbe: so ist das eine weise Vorsicht, die ich nicht tadeln will; aber doch wenn wir einer Rede, einer kräftigen Ermahnung zum Guten hin nichts von dem Verderben anmerken: wozu dann erst die Frage? Aber noch ganz anders ist es, wenn wir von diesem Größeren auf das Kleinere und Engere sehen. Unsere evangelische Kirche in wie mancherlei Parteien ist sie nicht zerfallen, die wenn auch nicht äußerlich von einander getrennt und geschieden in den Uebungen der Gottseligkeit, in der gemeinsamen Verkündigung des göttlichen Worts, in dem Gebrauch der Sakramente, sich doch einander gegenüberstehen wie feindselige Heere, weil die Einen das, was zu unserem Glauben gehört, anders auslegen und auffassen als die Anderen. Wenn wir uns nun selbst des Nutzens berauben, den wir aus einer kräftigen Darstellung des göttlichen Wortes schöpfen können, wenn deswegen Ermahnungen, die aus der Tiefe des Glaubens und des menschlichen Herzens genommen sind, an uns erfolglos vorübergehen, indem wir, anstatt uns ihnen zu öffnen, fragen, zu welcher Partei gehört dieser, und dann, wenn es nicht grade die unsrige ist, uns davon zurückziehen und uns dagegen verschließen: wie beeinträchtigen wir da die große Fülle der göttlichen Gaben, wie verschmähen wir da den Nutzen, den jeder aus einer so großen, so weit verbreiteten Gemeinschaft haben sollte. Ja, werden wir nicht gestehen müssen, es ist doch ein Zeichen von einer sehr geschwächten Wirksamkeit des | göttlichen Geistes in uns, wenn wir ihn nicht anderwärts erkennen, weil wir durch solche äußeren Unterschiede geblendet werden. Das, m. g. Fr., ist die Folge davon, wenn wir statt auf die Sache auf die Person sehen. Und wie weit ist das nicht von dem innersten Wesen des Christenthums entfernt. Hat das nicht angefangen und ist nicht der innerste Grund desselben in der Erkenntniß, daß Gott die Person nicht ansehe? ist das nicht die große Lehre, die sich gleich bei der Verbreitung des Christenthums deutlich hingestellt hat, sobald nur von den ersten Christen die 39 Vgl. Apg 10,34

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Schuppen abfielen, und sie in das helle Licht der göttlichen Wahrheit schauen ließen. Wenn also Gott die Person nicht ansieht: so sieht er sie auch nicht an, wenn er die Wahrheit unter ihnen vertheilt, wenn sein Geist die Gaben in ihnen weckt; und so sollen wir immer nur darauf sehen, was Gottes Werk ist, aber nicht auf das Gefäß, in welches er es gelegt hat. Was sich uns als Gottes Stimme zu erkennen gibt, das soll uns willkommen sein; was unser Gemüth so ergreift, daß wir einen tieferen Blick als gewöhnlich thun in unser Inneres, daß wir angefaßt werden auf solche Weise, daß wir fühlen, es ist eine heilsame Regung in unserem Gemüth: da sollen wir die Gabe dankbar hinnehmen, ohne zu fragen, woher sie komme; aber freilich ohne dadurch ein Urtheil zu fällen über die Verschiedenheit, die unter den Christen ist, sondern das ausgesetzt lassen und an das Wort des Apostels gedenken, wenn Einer anders hält, so wird ihm das Gott noch offenbaren. Wo eine solche Verschiedenheit ist: da lasset uns darauf rechnen, daß die Liebe, welche das Band der Vollkommenheit ist, immer mehr Alles umfassen werde, aber bis dahin Alles annehmen, was zu unserem Heil dienet, | ohne unterscheiden zu wollen, von wannen es ist; wenn es möglich ist, solchen Nutzen daraus zu ziehen, sollen wir es nicht vorübergehen lassen, ohne es zu gebrauchen. Das Zweite, was uns merkwürdig sein muß in der Erzählung unseres Textes, ist dieses, daß gesagt wird, der Erlöser habe da keine Zeichen thun können um ihres Unglaubens willen. Ueber den Unglauben selbst wundern wir uns freilich nicht nach dem, was in dem ersten Theil unseres Textes gesagt worden war. Waren die Menschen einmal so aufgeregt, daß sie sich sträubten, einer Stimme, die ihr Gemüth beherrschen wollte, Gehör zu geben, weil sie von Einem kam, von dem sie glaubten, er könne von Rechtswegen nicht mehr sein als sie selbst: so war es natürlich, daß sie sich immer mehr in ihrem Unglauben verstärkten; aber daß der Erlöser durch den Unglauben gehindert werden konnte, daß die Kräfte, die Gott ihm mitgetheilt, gleichsam dadurch gebunden werden konnten: was hat es damit für eine Bewandtniß? Sollen wir es so verstehen, daß wirklich der Glaube ihm hätte helfen müssen, seine Zeichen und Wunder zu verrichten? So viel, m. g. Fr., so viel sonst wol Unterschied ist zwischen diesen äußeren Thaten unsers Erlösers und dem eigentlichen inneren Zweck, um dessentwillen er gekommen war: so sehr stimmt doch in dieser Beziehung beides mit einander überein. Was halten wir denn von dem Glauben in Beziehung auf die Angelegenheiten unseres Heils? Sind wir es, die wir durch unseren Glauben das Reich Christi in uns bauen können? Sind wir es, die wir durch unsern Glauben, so wie er unser eigenes Werk sein müßte, wenn wir doch sagen, es hängt von uns ab zu glauben oder nicht, die Wirkungen des göttlichen Geistes in unserem Gemüth hervorbringen? Das kann wol nicht unsere Mei13 Vgl. Phil 3,15

14–15 Vgl. Kol 3,14

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nung sein, wenn wir es recht verstehen, was der Erlöser für uns ist. Aber das müssen wir doch zugeben, daß er nichts für uns sein kann, so lange wir nicht glauben. Anders war es eben dort auch nicht. Wenn | wir darauf achten, wie der Erlöser jene Thaten, durch die er so viel menschliches Elend während seines Lebens auf Erden heilte, verrichtete: so müssen wir sagen, er drang sich den Menschen damit nicht auf, sondern wartete, bis sie seine Hülfe begehrten; und wenn sie das thaten: so hat er sie nicht abgewiesen, aber er kümmerte sich auch nicht eher um dieses äußere Elend der Menschen, als bis sie seine Hülfe in Anspruch nahmen; und hätte er es anders machen wollen: so hätte er seinem eigentlichen Berufe seine Zeit und Kraft nicht widmen können. Wenn also hier gesagt wird, „er konnte keine Zeichen allda thun ohne wenigen Siechen legte er die Hände auf und heilte sie:“ so heißt das nur, er konnte keine Zeichen unter ihnen thun, weil keiner seine Hülfe begehrte, weil sie sich so in dem Unglauben verstockt hatten, daß sie meinten, sie wollten nicht gegen sich selbst ein Zeugniß ablegen oder sich selbst lächerlich machen, daß sie, nachdem sie an seiner Lehre sich geärgert, nun doch in dem äußeren Elend Hülfe bei ihm suchen sollten, sondern so wenig sie seine Wahrheit anerkannten, eben so wenig trauten sie ihm auch zu, daß er ihnen würde helfen können. Und wie ist es in den Angelegenheiten unseres Heils? Da findet das freilich nicht Statt, daß wir sagen könnten, der Erlöser konnte sich damit nicht aufdringen, sondern mußte warten, bis die Menschen ihre Zuflucht zu ihm nahmen. So that er nicht; sondern das war sein eigentlicher Beruf, er ging umher und lehrete und wartete nicht, bis man ihn bat. Aber das war nicht ein Verhältniß zu den einzelnen Menschen, sondern es war die allgemeine Predigt. Für diese wartete er nicht auf irgend ein menschliches Gesuch, sondern das war der Wille Gottes an ihn, daß er verkündigen sollte, das Reich Gottes sei herbeigekommen, und die Menschen auffordern zur Buße. Das that er denn überall und das that er auch dort. Aber fragen wir nun, was war denn die erste Bedingung, daß diese seine Verkündigung den Menschen helfen | konnte, was ist die Bedingung, daß auch immer noch diese seine Verkündigung den Menschen helfe? Aus der Predigt muß der Glaube entstehen, und ohne den Glauben gibt es keine Gemeinschaft der Menschen mit Christo, und so ist es auch hier das Nämliche, daß durch den Unglauben seine Wirksamkeit gehindert wird. Wo nicht geglaubt wird, da kann er auch selbst nicht mit den Einzelnen ein Verhältniß anknüpfen; aber so wie das seine Pflicht war und sein Beruf, überall zu verkündigen, das sei der Wille seines Vaters, daß 9 nahmen] nehmen 27–28 Vgl. Mk 1,15; ferner Mt 4,17 37–1 Die Formulierung ist ersichtlich johanneisch geprägt, lässt aber keinen eindeutigen Beleg zu; vgl. etwa Joh 6,39; 5,36; 17,8; auch 3,17f; u. ö.

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die Menschen an den glauben sollen, den er gesandt habe: so geschieht es auch jetzt. Wie viel oder wie wenig dem Einzelnen aber diese Verkündigung fruchte, das hängt davon ab, daß er glaube. Und daher kommt es denn auch, daß, ungeachtet der Erlöser gesagt, es ist einmal so, der Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterlande, doch nachher gesagt werden konnte, er verwunderte sich ihres Unglaubens. Nämlich dieses beides konnte er doch unterscheiden; er konnte glauben, wollen sie sich auch auflehnen gegen deine geistige Auszeichnung, wollen sie nicht anerkennen, was du unmittelbar in ihrem Gemüth wirken willst, vielleicht daß sie sich besinnen und deine Hülfe suchen und annehmen in den Leiden dieses Lebens, auf daß du doch wenigstens ein Andenken zurücklassest, ehe du weiter gehst. Aber daß sie auch darin sich nicht wollten finden lassen während seines Aufenthalts außer in einigen weniger bedeutenden Beispielen, dessen verwunderte er sich. Wie steht es nun, m. Fr., in dieser Beziehung jetzt unter uns in Absicht auf den Glauben oder Unglauben an den Erlöser? Wir werden wol gestehen müssen, wir haben nicht weniger Ursache, uns über den Unglauben so vieler Menschen in dem äußeren Umfange der christlichen Kirche zu verwundern; aber nur deswegen, weil so viele von den geistigen Wohlthaten des Erlösers vermöge der Einrichtungen in seiner Kirche und Gemeine, vermöge der Kraft, welche das göttliche Wort | im Großen ausübt, auch ohne daß man die einzelne Wirksamkeit wahrnimmt, weil so viele von seinen Wohlthaten schon so sehr in alle Gebiete des Lebens eingedrungen sind, daß man nicht mehr gleich an den einzelnen Ursprung denkt, daß man glaubt, sie seien die Frucht der Zeit, der menschlichen Entwickelung überhaupt, und daß man den, von welchem es ursprünglich ausgegangen ist, vergißt, weil man das nicht mehr so genau auf seine Predigt, auf seine Wirksamkeit zurückführen kann. Darum verwundern sich die Menschen noch jetzt, wenn sie auf eine besondere und persönliche Weise an den Erlöser gewiesen werden; aber deswegen geschieht es dann auch, wenn sie ihn nicht anerkennen als die Quelle des Guten, welches sich in dem Christenthum gebildet hat, daß sie dann auch das besondere Heil von dem Verhältniß zu ihm nicht haben, welches sie haben könnten. Aber wenn wir nun fragen, ist das etwas, worüber wir die Menschen beschuldigen können, wenn doch dazu gehört eben diese Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang der menschlichen Dinge, eben diese Kenntniß von dem Einfluß des Christenthums auf alle menschlichen Angelegenheiten, die nicht Alle haben können: so werden wir doch sagen, der Erlöser wird ja noch immer so, wie er in seiner Predigt die Menschen auf sich hinwies, so wird er noch immer in der Verkündigung des Evangeliums den Menschen empfohlen und ihrer Aufmerksamkeit dargestellt, und die Kraft seines Bildes ist noch ungeschwächt, und jeder, der auf die Predigt von dem Erlöser mit unbefangenem Gemüth merkt, der wird noch immer die Erfahrung machen,

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daß, wer seine Lehre versucht zu thun, und die war eben die, daß das der Wille Gottes sei, daß wir glauben an den, den er gesandt hat, der wird auch erfahren, daß sie von Gott sei. Und so werden wir denn sagen, der Glaube ist auch unter den gegenwärtigen Umständen nicht etwas Schwereres als damals, die Erfahrung liegt einem Jeden nahe, und | wenn wir die Aufforderung betrachten, welche doch Alle haben, die sich Christen nennen, anzuerkennen, daß er die Quelle des Heils ist: so müssen wir sagen, daß er ebenso viel Ursache haben wird, sich zu wundern über den Unglauben der gegenwärtigen Zeit, als er sich damals wunderte. Wohlan, so lasset uns, die wir in seinem Namen die Kraft und das Heil gefunden haben, auch nie müde werden, Zeugniß von ihm abzulegen, und uns vereinigen, damit wir den Unglauben der Menschen überwinden und dazu beitragen, daß Alle anerkennen, er sei es, in dessen Namen den Menschen das Heil gegeben ist, daß Alle zu ihm ihre Zuflucht nehmen, um ihr Gemüth in die selige Gemeinschaft mit Gott zu versetzen, und daß sie lernen, in dem Glauben an ihn den Frieden zu finden, der vorher den Menschen fremd war, indem sie auf ganz anderen Bahnen wandelten, dessen aber auch die nur sich ganz erfreuen werden, welche in ihm leben und er in ihnen, welche in ihm den Fürsten des Friedens erkennen und durch ihn in die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott geführt und in ihr erhalten werden. Amen. Lied 99, 5–6.

1–3 Vgl. Joh 7,17 13–14 Vgl. Apg 4,12 19 Vgl. Jes 9,5 22 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 99: „Kein Lehrer ist dir, Jesu, gleich“ (Melodie von „Vater unser im Himmelreich“)

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Am 2. September 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

11. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 10,31 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 1–20, Nr. I SW II/3, 1835, S. 351–363; 21843, S. 364–376. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 407–417 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 11. Sonntage Trinitatis 1832.

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Lied 10, 1–4. 505. Text. Apostelgesch. X, 31. „Corneli, dein Gebet ist erhöret, und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott.“

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Diese Worte, m. a. Fr., sind aus der Erzählung genommen, welche dieser Cornelius dem Apostel Petrus machte, als er ihn hatte zu sich holen lassen, um ihm das Wort Gottes zu verkündigen. Es sind die Worte, welche ein Mann1 zu ihm redete, der ihn im Gebet fand, der ihm erschien in einem glänzenden Kleide, so daß er ihn achten mußte für einen Boten Gottes. Der sprach also zu ihm, Dein Gebet ist erhöret und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott, darum sende hin gen Joppen, und laß dir rufen von dort den Simon genannt Petrus, der wird dir sagen, was du thun sollst. Der Zusam|menhang, wel1

V. 30.

13–14 Petrus, der] so auch SW II/3, S. 351; Textzeuge: Petrus / der 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 10: „Gott, vor dem die Engel knieen“ (Melodie von „Schmücke dich, o liebe Seele“); Nr. 505: „Was bring ich dir, o Gott, für Gaben“ (Melodie von „Dir, dir, Jehova, will ich singen“) 6–7 Vgl. Apg 10,30–33 12– 14 Apg 10,32

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cher hier aufgestellt wird zwischen dem Gebet und den Almosen des Cornelius und diesem Winke der göttlichen Gnade, daß er sich sollte den Apostel des Herrn in sein Haus holen lassen, um von ihm zu vernehmen den rechten Weg zur Seligkeit, dieser Zusammenhang, m. a. Fr., kann uns auf vielerlei Weise befremden. Wie? giebt es irgend etwas, wodurch der Mensch, wie es hier doch scheint, verdienen könne Einer mehr als der Andere, daß die göttliche Gnade sich ihm zuwende, und er beschienen werde von dem himmlischen Licht? und doch spricht hier Einer so, welchen derjenige, zu dem er redete, sowol vermöge der Art, wie er ihm erschien, als vermöge dieser Worte selbst und des heilvollen Auftrages, den er ihm gab, nicht anders als für einen Boten Gottes ansehen konnte! Wir Alle sind so überzeugt, es ist so sehr der allgemeine Ausspruch unserer evangelischen Kirche, daß eben dieses Werk, wenn die Ordnung des göttlichen Heiles den Menschen bekannt wird, nichts ist als eine göttliche Gnade, die durch nichts erworben werden kann und verdient, daß es uns allerdings befremden muß, das Gegentheil hiervon in diesen Worten dem Anscheine nach so deutlich zu vernehmen; und so kann wol Manchem bange werden, ob auch diese unsere evangelische Denkungsart, wie genau sie auch damit zusammenhängt, daß Alles unter uns nur sein soll eine Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, ob sie dennoch vielleicht nicht ganz den Aeußerungen des göttlichen Wortes gemäß sei. Das lasset uns denn in Beziehung auf die verlesenen Worte der Schrift izt zum Gegenstand unserer gemeinsamen Betrachtung machen. Wir werden dabei zuerst zu sehen haben | auf diese beiden Stücke jedes für sich, die hier erwähnt und dem Cornelius nachgerühmt werden, sein Gebet und seine Almosen, und dann erst werden wir wol im Stande sein, uns zweitens die Frage zu beantworten, wie denn dieser Zusammenhang derselben mit der göttlichen Gnade, der hier angegeben ist, eigentlich zu verstehen sei. I. Zuerst also, m. a. Fr., wollen wir uns die Frage vorlegen, was sind denn Almosen, daß ihrer hier so besonders erwähnt werden kann, als ob sie etwas ganz vorzüglich den Menschen Gott empfehlendes wären, in dem gesagt wird, Deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott? O, sie sind unstreitig ein Werk löblicher Ordnung, ein Ausfluß menschlicher Gerechtigkeit und Billigkeit. Denn wenn wir uns zurück versezen in die ursprünglichen Zustände der Menschen: so finden wir gar wenig Anlage zu einer solchen Ungleichheit wie diese, daß der Eine kann der Almosen bedürfen, und der Andere im Stande sein sie 21 Vgl. Joh 4,23.24

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ihm zu reichen. Je mehr wir die Menschen noch an den ersten Anfängen ihrer Bildung und Herrschaft über die Erde erblikken, desto weniger ist hiervon wahrzunehmen. Dabei nun durfte es freilich nicht stehen bleiben, wenn das menschliche Geschlecht den großen Beruf, den ihm Gott gegeben hat, Herr zu sein über Alles, was auf Erden ist, erfüllen sollte. Da mußten sich alle menschlichen Verhältnisse mehr verwikkeln; da mußte ein großer, inniger, oft sehr weit verbreiteter Zusammenhang entstehen zwischen dem, was hier dem Einen, und dem, was oft in weiter Entfernung dem Andern begegnet. Dadurch | wurde der Grund gelegt zu dieser, je mehr sich jenes verbreitet, um desto mehr auch zunehmenden Ungleichheit in den äußeren Zuständen der Menschen. Wenn wir nun so wahrnehmen, wie eben auf diesem Wege der Erfüllung unseres ursprünglichen und allgemeinen Berufs hernach das entsteht, daß man sagen muß, Gott hat den Armen gemacht neben dem Reichen1: so sehen wir dann sehr wohl ein, und unser innerstes Gefühl sagt es uns, daß nicht nur der eine gemacht ist neben dem andern, sondern auch der eine für den andern. Alle, welche sich in den besser ausgestatteten Kreisen des menschlichen Lebens bewegen, müssen es sich ja sagen, die Vorzüge, deren wir uns erfreuen, sind eine Folge von diesem großen Verkehr, von diesen mannigfaltigen Verwiklungen in den menschlichen Verhältnissen; wir genießen den Vortheil davon, und Andere haben die Nachtheile davon zu tragen. Was ist es da anders, als nur die Stimme der Gerechtigkeit, welche durch menschliches Wohlwollen und menschliche Thätigkeit das ausgleicht, was auf solchem Wege ungleich geworden ist? Und nicht besser wird auch diese Pflicht erfüllt, als wenn sie zurükkgeführt wird auf ein verständiges und wohl berechnetes Zusammenwirken menschlicher Kräfte, wenn es als eine allgemeine Angelegenheit Aller angesehen wird und so behandelt, so weit wir es erkennen können nach dem richtigsten Maaßstabe, diese Ausgleichung der äußeren Ungleichheit unter den Menschen immer wieder aufs neue hervorzurufen, je mehr sich jene Ungleichheit immer wieder erzeugt. Was aber so einfach ein Werk der menschlichen | Gerechtigkeit ist, was in seiner besten und allein wahrhaft hülfreichen Gestaltung ein so gemeinsames Werk sein muß, daß der Antheil des Einzelnen daran sehr bescheiden zurükktritt und verschwindet: wie kann denn davon so besonders geredet werden, als ob nur dieses vorzüglich das Wohlgefallen Gottes und um menschlich zu reden seine Aufmerksamkeit errege, wie hier gesagt wird, Deine Almosen sind ins Gedächtniß gekommen vor Gott? Lag es etwa 1

Spr. 22, 2.

4–5 Vgl. Gen 1,28

40 Das Bibelzitat ist nicht wörtlich.

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in den besonderen Verhältnissen, in denen dieser Mann lebte, da wo ihn Gott hingesezt hatte, wenn wir es doch in den allgemeinen Verhältnissen nicht finden können? Er war, wie uns die ganze vorhergehende Erzählung zu erkennen gibt, ein römischer Kriegsmann, gesezt über einen Theil der Schaar, welche dort zur Besazung lag; er lebte unter dem jüdischen Volke, und war, wie uns erzählt wird, gottesfürchtig mit seinem ganzen Hause, und seine Almosen, wie es vorher erwähnt wird, wurden vorzüglich eben denen, unter welchen er lebte, den Mitgliedern des jüdischen Volkes zu Theil. Ist es im Allgemeinen nur ein Werk der Gerechtigkeit, wenn dem Mangel der Menschen in Beziehung auf die ersten Bedürfnisse abgeholfen wird: so kann es ja dort noch außerdem ein Werk der Klugheit gewesen sein. Nicht mit Recht waren die Römer in den Besiz des Landes gekommen, welches Gott jenem Volke gegeben, und welches sie nun inne hatten, sondern durch einen unveranlaßten Streich der Gewalt; und nicht immer nach Recht und Billigkeit waltete diese herrschende Macht über dem unterdrükkten Volk. Wie viel neue Bewegungsgründe also, die Last so viel als möglich zu mildern, damit nicht plözlich das gedrükkte Volk sich erhebe, und | neuen Kampf und neue Verwirrung bereite! Ja wir können uns denken in seiner Lage, daß diese Geneigtheit, Almosen zu vertheilen unter jenem Volk an dem Orte seines Wohnsizes, vollkommen hätte bestehen können mit der großen Geringschäzung, ja Verachtung, welche die Römer im Ganzen gegen jenes Volk hegten. Aber wenn nun auch bei ihm diese Beweggründe nicht in Anschlag kamen, wenn wirklich ein herzliches Wohlmeinen seiner Handlungsweise zum Grunde lag; ja wenn wir sagen müssen, wird er uns in einer Erzählung, die eine solche Quelle hat, als ein gottesfürchtiger Mann geschildert, so haben wir alle Ursache zu glauben, seine Gottesfurcht sei nicht eine heidnische gewesen, sondern es war ihm, wie er unter den Verehrern des Einen Gottes lebte, eine Ahndung davon aufgestiegen, und so lag denn seinen Almosen wahrscheinlich ein besonderes Wohlwollen zum Grunde, eine eigenthümliche Achtung gegen das Volk, welches troz mancher Verirrungen, troz manches Abfalls doch die Erkenntniß des Einen Gottes treu unter sich bewahrt hatte; aber wenn wir auch dies alles gelten lassen, können wir dann von diesen Almosen mehr sagen, sie verdienten, daß ihrer besonders gedacht werde vor Gott? sollte auch dieses Mittheilen, auch diese Geneigtheit zu geben von dem, was er in seiner Lage noch dazu in einem gewissen Ueberfluß haben konnte, ihm auf besondere Weise die Gnade Gottes haben zuwenden können? Wie wenig, m. g. Fr., könnte das etwas Allgemeines sein, und wie wenig vermögen wir eben deswegen auch es wahr 3–9 Vgl. Apg 10,1f.7

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zu finden! Denn fragen wir uns, was ist denn in dieser Beziehung der Zustand, nach dem uns Alle verlangt, auf den auch unser Almosengeben | seine Richtung hat, obgleich wir freilich wohl einsehen, daß dieses an und für sich nur wenig dazu thun kann? Sicherlich ist unser Wunsch in dieser Beziehung der, es möge früher oder später dahin kommen, daß das Almosengeben nicht mehr nöthig sei. Der Unterschied zwischen einem geringeren und größeren Wohlstande wird freilich in einem solchen Leben wie das unsrige immer bleiben; aber der Druck des eigentlichen Mangels, die lähmende Wirkung des wahrhaften Elendes soll doch in einer solchen Gesellschaft, wie es ein christliches und gebildetes Volk ist, bald mehr und mehr aufhören. Dann also, wenn das geschähe, wonach wir mit dem besten Wissen und aus dem reinsten Willen streben, dann entginge uns ja die Gelegenheit, das zu thun, wovon hier gerühmt wird, daß es ganz besonders den einzelnen Menschen ins Andenken bringen könne vor Gott! So werden wir also doch sagen müssen, wir wollen uns festhalten in unserer evangelischen Gesinnung, daß solche äußere Werke gar nicht im Stande sind, dem Menschen das göttliche Wohlgefallen zu erwerben, daß es auf etwas ganz anderes dabei ankommt, und also auch wohl hier etwas Anderes gemeint sein müsse, wenn die Rede davon sein soll, wie Gott den Menschen und seine Gerechtigkeit ansieht. Wohlan denn das zweite, das Gebet! Ja freilich das klingt uns Allen erfreulicher, und sagt uns mehr zu, wenn es heißt, Corneli, dein Gebet ist erhöret, und darum sage ich dir, sende hin gen Joppen und laß dir den holen, der in dem Namen Gottes dir sagen wird, was du thun sollst zum Heil deiner Seele. Dein Gebet ist erhöret worden. Worauf kann der Allgegenwärtige und All|wissende einen größeren Werth legen als auf ein betendes Herz, wenn sich das tiefste, innerste Gemüth des Menschen über das vergängliche und nichtige, das ihn von allen Seiten umgibt, und beständig seine Aufmerksamkeit fodert und seiner Thätigkeit ihren Gegenstand anweist, dennoch erhebt, und er sich so ganz sammelt, daß er auch sich selbst nun erst vollkommen findet, indem er den Höchsten findet in sich, um sich und über sich! Und nicht nur eben dieses Bewußtsein Gottes, in dessen Erwekkung das menschliche Gemüth seiner höhern Bestimmung gewiß wird, und nicht nur auf dem Wege zur Seligkeit ist, sondern so weit es unser irdischer Zustand vergönnt, sich des wirklichen Besizes der Seligkeit und des ewigen Lebens erfreut; nicht nur dieses, sondern, wenn wir auf den Mann sehen, den wir vor uns haben – doch warum das allein? wir können und müssen es Alle von uns selbst sagen – nicht nur dieses gleichsam ruhende Bewußtsein, sondern schon das innige 24–26 Vgl. Apg 10,32

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Verlangen, die tiefe Sehnsucht nach dem höchsten Wesen, welche sich regt in dem menschlichen Gemüth, so oft wir uns in diesem Zustande des Gebets wahrhaft befinden! Was kann wohl der ohnmächtige Mensch, in dem die geistige Kraft, wenn wir auf seine ursprüngliche Natur sehen, so gering ist, und das Gesez in den Gliedern, welches gegen jene gelüstet, sich so gewaltig beweist, was kann der ohnmächtige Mensch wohl mehr, als in diesem Verlangen, in dieser Sehnsucht seiner Seele sich zu Gott wenden, sobald er diese Quelle des Heils in dem Bewußtsein des einigen höchsten Wesens auch nur ahnet? Daran konnte wohl, daran mußte der Höchste sein Wohlgefallen haben. Denn vermag doch der Mensch ursprünglich nicht mehr als | dieses, sind wir zu allem andern erst gelangt durch die lebendige Gemeinschaft mit dem, der auch diesem Beter damals erst sollte verkündigt werden: o so mußte ja wol seinem Gebete sich die liebende Hand des Vaters hülfreich entgegenstrekken; und wir können uns hieraus die Botschaft, welche an ihn gelangte, hinreichend erklären. Er in dem finsteren Wahn – finster oder auch lachend, wie er sich eben gestaltete – aber in dem Wahn des Heidenthums erzogen, durch besondere göttliche Gnade vermittelst seines Berufs unter das Volk versezt, in welchem er, wenn auch noch so sehr mit Vorurtheilen und Irrthum vermischt, wenn auch von so mancher Verblendung begleitet, doch den Namen des Ewigen hörte, so daß jene mannigfaltigen bunten Trugbilder verschwanden vor dieser Einen heiligen Gestalt: o wie oft mußte wol sein Herz, wenn er dieses Glück zu schäzen wußte, von jenem Verlangen, von jener Sehnsucht erfüllt sein! Und wenn er nun wahrnahm, wie das jüdische Volk selbst, wiewohl in dem Besiz solcher heilsamen Erkenntniß, und gleichsam der Träger und Bewahrer eines göttlichen Gesezes, doch herabgesunken war in so vielen anderen Beziehungen, und sich in seiner äußeren Lage nirgend befriedigt und glükklich fühlend immer von einer besseren Zeit redete, die da kommen sollte, und von Einem, durch den sie kommen sollte; wenn ihm das kaum entgehen konnte, daß eben dies ein Theil der Verblendung des Volkes war, daß die Meisten sich diese ersehnte Verbesserung ihres Zustandes verbunden dachten mit einer äußeren Herrlichkeit, zu der sie erst sollten wiederhergestellt werden, er der einem Volke angehörte, welches uns das größte Bild äußerer Macht und Herrlichkeit darstellt, das in dem | Verlauf der menschlichen Geschichte uns jemals vor Augen gestanden hat: wie mußte ihm die innere Stimme sagen, das sei gewiß eine falsche Auslegung der göttli31 Einem, durch] so auch SW II/3, S. 356; Textzeuge: Einem / durch 5–6 Vgl. Röm 7,23 in Verbindung mit Gal 5,17

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chen Weissagungen, denn durch alle äußere Herrlichkeit werde das innerste Bedürfniß des Herzens nicht befriedigt. O wie viele Ursach hatte er also zu beten, daß er heller möge erleuchtet werden als die er um sich her sah, obgleich ihm dieselben das erste Licht aufgestekkt hatten, wie viele Ursach hatte er da zu beten für sich und für sie! Aber, m. g. Fr., wenn wir der Wahrheit ganz treu bleiben wollen, dürfen wir doch bei dieser Ansicht der Sache nicht stehen bleiben. Cornelius selbst erzählt dem Petrus, vier Tage vorher habe er sein zur neunten Stunde gewöhnliches Gebet fortgesezt bis auf dieselbe spätere Stunde, in der Petrus jezt vor ihn trat1. Das war also ein Gebet, an eine bestimmte Tageszeit gebunden, wie es zu den äußerlichen gottesdienstlichen Uebungen der Juden gehörte, an welche er sich, wie wir hieraus ganz deutlich sehen, bereits in einem hohen Grade angeschlossen hatte, ein Gebet, an eine gewisse Stunde des Tages gebunden, der Zustand des Gemüthes mochte übrigens sein welcher er wolle, und dieses Gebet hatte er noch, wie er erzählt, in die Länge gezogen auf eine ungewöhnliche Weise. Wie finden wir doch hier so vieles, was uns an die Warnung des Erlösers erinnert, wie er sie aussprach in der Bergrede in Beziehung auf die Gebete seines Volkes, daß sie | nicht sollten beten wie die Heiden und viele Worte machen, indem Gott deren gar nicht bedürfe, sondern alles vorher wisse, woraus denn folgt, daß das Gebet nichts sein solle, was der äußeren Worte bedarf oder durch sie zu seiner Vollkommenheit gelangt, sondern nur eine innere Bewegung des Herzens. Das Gebet auf jene Weise gehandhabt als eine äußere Uebung, mehr oder weniger an bestimmte Zeiten gebunden und nicht selten auch an bestimmte Worte, und dann noch über die gewöhnliche Länge hinausgezogen von der Meinung aus, daß dieses Wortemachen in dem Gebet, dieses Zeitausfüllen mit dem Gebet, etwas Gott wohlgefälliges sei: was der Erlöser so als eine Verblendung darstellt, was er als Irrthum bezeichnet, wovor er warnt, das kann doch nicht der Grund des besonderen Wohlgefallens Gottes an diesem Manne gewesen sein. Wollen wir also auch in dieser Beziehung feststehen bei unserer evangelischen Gesinnung, daß wir nämlich das Gebet nur ansehen als eine innere Angelegenheit des Herzens, so daß es seine Wahrheit und seinen Werth nicht von der Stunde, nicht von den Worten, nicht von der Länge bekommt, sondern nur dadurch, 1 Dies ist der wahre Sinn der Worte V. 30. Luthers Uebersezung ist hier theils selbst unrichtig, theils folgt sie nicht den besten Handschriften.

7 Ansicht] Ansicht, 19–21 Vgl. Mt 6,7f

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daß es der natürliche Ausdrukk ist von dem Verlangen des Menschen nach dem Ewigen: so werden wir sagen müssen, auch seines Gebetes wegen konnte Gott ihm nicht gnädig sein vor Andern.

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II. Also dürfen wir davon nicht abgehn, weder die Almosen des Mannes, wie er sie geübt hat, noch sein Gebet, wie er es geübt hat, konnte einen Grund enthalten, weshalb Gott ihn vorzugsweise dazu ausersah, ihm auf | einem so besonderen Wege zur Kenntniß des Evangeliums zu verhelfen; und so hat die Frage nicht wenig Schwierigkeit, die wir uns jezt vorlegen, wie wir uns den Zusammenhang denken sollen, der doch in den Worten jenes Boten Gottes so unverkennbar angeordnet ist, wenn er sagt, dein Gebet ist erhöret, und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott; so sende nun gen Joppen, und laß dir rufen einen Simon, genannt Petrus. Werden wir nicht am besten thun, m. a. Fr., wenn wir uns zunächst auch hier wieder festsezen in dem Ausspruch des Apostels, Sie sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen?1 Davon war Keiner ausgenommen unter allen Menschen, die da lebten, ehe die Zeit erfüllet war und der Sohn Gottes eintrat in diese Welt; Keiner machte davon eine Ausnahme, und Keiner also, wenn sie Alle des Ruhmes ermangelten, den sie vor Gott haben sollten, hatte etwas in sich, was Gott wohlgefällig sein konnte. Und obgleich uns das freilich schon als ein großer Fortschritt, als eine bedeutende Hinwendung zum Besseren in diesem Einzelnen erscheint, daß er in der Nähe dieses wiewol von den Seinigen unterdrükkten und gering geachteten doch vom Gözendienst freien Volkes sich hatte bis zu einem gewissen Grade wenigstens befreien lassen von seinem alten ihm gleichsam angeborenen oder doch von Jugend auf anerzogenen Irrthume, statt jenes Wahnes und jener Trugbilder den Gedanken des Einen ewigen Gottes in seine Seele aufgenommen und sich dem entgegenstrekkte, – wiewol | uns das als ein großer Fortschritt erscheint: wie empfänglich zeigt sich nicht doch auf der anderen Seite derselbe Mann, wieder zurükkzufallen in die Werthschäzung des äußeren, des vergänglichen und nichtigen! denn so war es mit seinem Gebet, so war es mit seinen Almosen. Da war also, wenn wir es frei und redlich heraussagen wollen, außer jenem Verlangen der menschlichen Seele, außer jener Richtung nach dem Ewigen hin, – und wo diese nicht ist, da muß auch die lauterste Botschaft des Evangeliums 1

Röm. 3, 23.

13–14 Vgl. Apg 10,32

19–20 Vgl. Gal 4,4

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verloren sein an der Seele – aber außer ihr war nichts an ihm, was da Gott hätte können wohlgefällig sein und angenehm; außer dieser war nichts an ihm, was nicht bedurft hätte bedeckt zu werden von der göttlichen Vergebung. Woran also der Höchste anknüpfen konnte, das war nur jene allgemeine Bedingung, ohne die kein Mensch empfänglich sein kann für die Wahrheit des Heils. Aber was sagte der Erlöser, als er in seine Vaterstadt kam, und die Menschen, die ihm die nächsten waren, ihn eben deswegen nicht annahmen, weil sie die nächsten waren; was sagt er zu ihnen, um ihnen auf eine warnende Weise diese Verborgenheit der göttlichen Wege zu enträthseln? Also sprach er zu ihnen1, Es waren viele arme Wittwen zu der Zeit des Elias in Israel, aber der Prophet wurde zu keiner gesandt in jenen Zeiten des Mangels, als gen Sarepta der Sidonier, also in der Heiden Land; und viele Aussäzige waren in Israel zu den Zeiten des Propheten Elisa; aber keiner wurde dadurch gereinigt als allein Naeman aus Syrien, also ein Heide. Als sie | das vernahmen, da ahndeten sie den Sinn seiner Worte, daß er ihnen wollte zu verstehen geben, der Herr suche mit den ersten Strahlen seines neuen Lichtes, wie er es schon mit seinen äußeren Wohlthaten gethan, mehr die Entfernteren auf, als die ihm hätten nahe sein sollen als das Volk seiner Wahl, und da wurden sie voll Zornes und stießen ihn hinaus aus der Stadt. So müssen wir auch hier sagen, Viele gab es unter den Juden und Heiden, welche dursteten nach der göttlichen Wahrheit, welche ein eben so sehnliches Verlangen hatten nach der Seligkeit und dem Frieden, den die Welt nicht geben kann, viele gab es solche: aber zu keinem wurde Simon Petrus gesandt, als zu diesem Cornelius, dem römischen Hauptmann in Cäsarea. Was wollen wir also sagen? Die Worte jenes göttlichen Boten scheinen allerdings einen Zusammenhang anzudeuten zwischen dem Gebet und Almosen des Cornelius und der Sendung des Petrus; aber es war doch in diesen Uebungen des Cornelius nichts gutes, als nur, daß ihnen eben jenes Verlangen zum Grunde lag, welches die allgemeine Bedingung für alle Menschen ist, wenn sie sollen der göttlichen Erleuchtung fähig werden; eine Bedingung, die sich bei Vielen eben so finden mußte, wie bei ihm. Also erklären uns diese Worte nicht, wa1

Luk. 4, 24. 27.

11 ihnen... , Es] so auch SW II/3, S. 359; Textzeuge: ihnen... . Es Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1485

23 dursteten] vgl.

3–4 Vgl. Ps 32,1; 85,3; Röm 4,7; Jak 5,20 20–21 Vgl. Lk 4,28f Joh 14,27 36 Schleiermacher bezieht sich auf Lk 4,25–27.

24–25 Vgl.

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rum grade dieser ausgewählt wurde, um vorzugsweise durch Petrus zu hören von Jesus von Nazareth, und mit Allen den Seinen, die er um sich versammelt hatte, von seiner Rede gewaltig ergriffen, früher als Andere theilhaftig zu werden des Geistes und aufgenommen zu werden in die Gemeinschaft der Gläubigen. Sie erklären es uns insofern nicht, | als wir behaupten müssen, es gebe überall keinen besondern Grund in irgend einem Menschen, der ihn zu einem Gegenstand göttlicher Wahl und göttlichen Vorzuges machen könnte, sondern nur jenes Eine, was Allen Noth thut, und an das allein die erbarmende göttliche Liebe sich anknüpfen kann. Jene Worte sind also nur eine Ankündigung ohne Grund davon, daß gerade seine Gebete und seine Almosen vor Gott gekommen seien. Wollen wir aber den Grund hievon wissen: so werden wir doch wieder unsere Zuflucht nehmen müssen zu dem Worte des Apostels Paulus, der auch vertieft in dieses Geheimniß der göttlichen Führung, wie Wenige von seinem Volke eingingen in das Reich Gottes, welches ihnen doch zuerst verkündigt worden war, denen die sich nicht darin finden wollten, halberzürnt zurief, Mensch, wer bist du, daß du mit Gott rechten willst? Ach und freilich wäre das ein viel tieferes, viel demüthigeres, viel mehr Wahrheit in sich enthaltendes Rechten mit Gott, wenn wer sich in einem solchen Falle der Begünstigung findet, sagte, Herr womit habe ich denn das verdient, was ist denn der Grund dazu? ich kann ihn nicht finden in mir! warum sind so viele Andere zurükkgesezt gegen mich? Ein viel richtigeres Rechten mit Gott wäre das als das entgegengesezte! So aber fährt der Apostel fort, Mensch, wer bist du, daß du mit Gott rechten willst? hat nicht der Töpfer Macht, aus dem Thon zu machen was er will, das eine Gefäß zu Ehren und das andere zu Unehren, und wer vermag zu rechten mit ihm?1 | Das heißt doch gewiß, daß wir in dem Einzelnen nie den Grund finden können solcher göttlichen Wahl. Wenn aber durch diesen Ausspruch der Apostel den Vorwiz derjenigen demüthigen wollte, welche mit Gott rechten zu können meinten, weil sie geneigt waren, sich über andere zu erheben: sollen wir uns nun auch bei diesem Unvermögen allein beruhigen? Vielmehr laßt uns versuchen, unser Auge nicht auf den Einzelnen, weil wir ja an dem nichts finden, sondern auf das Ganze zu richten, ob nicht die Wahrheit die ist. Wenn Gott den Einen 1

Röm. 9, 20. 21.

20 demüthigeres] demüthi/thigeres 2–5 Vgl. Apg 10,33.44–48 18–19 Vgl. Röm 9,20

9 Vgl. Lk 10,42

15–17 Vgl. insgesamt Röm 9–11

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zum Gefäß der Ehre macht, ihn auserwählt auf solche Weise, wie es dort geschehen ist: so thut er das nicht um dieses Einen willen, sondern um der Anderen willen. So hängt dann alles zusammen in Einer göttlichen Führung im Großen: und eine andere Ordnung konnte es ja wol nicht geben in der Verbreitung des Evangeliums, auf dessen Segnungen ja Alle kein Recht hatten, Keiner mehr als der Andere; eine andere Regel konnte es nicht geben als diese, der Herr leitete die göttliche Stimme der Verkündigung so, wie daraus das meiste und größte entstehen konnte in der Welt, in der der Name seines Sohnes sein soll ein Name, der über alle Namen ist. Und kehren wir zurükk zu den Umständen der damaligen Zeit: wie leicht werden wir dann begreifen, warum unter solchen Umständen an einen solchen wie Cornelius der Ruf Gottes erging. Was war zuerst die Lehre, welche Petrus – der Apostel, der gewöhnlich hervortrat, wo es galt, die neue Gemeine des Herrn zu vertreten vor der Welt, – was war die Lehre, die er sich aus diesem Ereigniß zog? Nun, sagt er, sehe ich, daß Gott die Person nicht ansieht, sondern in | allerlei Volk, wer ihn fürchtet und Recht thut, der ist ihm angenehm, – nicht etwa als ob er dadurch weniger ein Sünder wäre, der des Ruhmes ermangelt, den er vor Gott haben soll, aber angenehm ist er ihm – dazu, um ihm seine Wohlthaten zu erzeigen, angenehm ist ihm ein solcher, um ihn zu erleuchten mit dem himmlischen Licht. Wo diese Sehnsucht des Herzens ist nach dem Ewigen, wo dieser Hunger und Durst ist nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, nur daß die verirrte Seele noch nicht weiß, wo es zu finden ist: er mag aus einem Volk sein wie er will, so ist er ein Gegenstand der göttlichen Erbarmung. Und wie nothwendig war dem Petrus diese Erkenntniß! Denn er sagte zwar, als er in des Cornelius Haus eintrat, Ihr wisset, wie es ein ungewohntes Ding ist einem jüdischen Mann, sich zu einem Fremdling zu thun oder in das Haus eines solchen zu kommen; aber Gott hat mir gezeigt, keinen Menschen gemein oder unrein zu heißen. Das war ihm also schon gezeigt worden; aber wenn nicht zu gleicher Zeit ein solcher Ruf an ihn ergangen wäre, den er nicht ausschlagen konnte, weil er davon das Beste für die Verbreitung des Reiches Gottes erwarten mußte: wer weiß, ob diese Sache doch zu voller Klarheit in seiner Seele gekommen sein würde, ob dies ein Grundsaz würde geworden sein, nach welchem er fortan sein ganzes Leben führte. Und als nun in der folgenden Zeit der Streit entstand, ob nicht die aus den Heiden doch müßten zuvor 10 Vgl. Phil 2,9 17–19 Vgl. Apg 10,34f 19–20 Vgl. Röm 3,23 24–25 Vgl. Mt 5,6 in Verbindung mit 6,33 29–32 Apg 10,28 38–3 Vgl. Apg 15,1–12; ferner 11,1–18

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hinzugethan werden zu dem Bündniß des alten Volkes mit Gott, ehe sie der christlichen Gemeinschaft einverleibt werden könnten: wie berief sich da der Apostel auf diesen Vorfall als den ersten, wie nöthig war | es, daß ein solches Beispiel vorangegangen und ein solcher Vorgang nachzuweisen war, wenn die christliche Lehre und Gemeinschaft in ihr volles Recht sollte gesezt werden. Zweitens aber, wenn wir die ersten Geschichten der Christen betrachten: so müssen wir gestehen, nie hätte es eine bleibende Ruhe gegeben für unsern Glauben, nie wäre eine Zeit gekommen, wie die Gemeinen sich in Frieden bauen konnten, und ihnen nicht mehr zugemuthet wurde, den falschen Götzen zu huldigen und das Bekenntniß Christi zu verläugnen; nie wäre das geschehen, wenn nicht die Zahl der Anhänger des Glaubens so groß geworden wäre unter dem römischen Volk, und namentlich unter dem römischen Heere, daß die Sache nicht mehr zu dämpfen war, sondern ihnen frei gegeben werden mußte ihres Glaubens zu leben. Irgendwo mußte doch der Anfang hiezu gemacht werden; und er ist eben hier gemacht worden durch diese Wahl, welche eine Seele traf, die zwar einen Hunger und Durst hatte nach der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, aber doch nur wie auch mancher Andere, und die in allen ihren Handlungen die herrschende Verblendung der Zeit nicht minder theilte wie Andere. Indem wir nun diesen Gang der göttlichen Weisheit erkennen in jenen ersten Anfängen der christlichen Kirche, was, m. g. Fr., sollen wir sagen in Beziehung auf uns selbst? Alle die in dem Schooße der christlichen Kirche geboren werden, bringen, daß ich so sage, schon ein besonderes Recht, einstmals dieser Gemeinschaft anzugehören, mit auf die Welt. Sie sind Pfänder einer Liebe, die von dem ersten Anbeginn nach nichts anderem trachtet, als die | Seelen, die in ihren Bereich kommen, zur Gemeinschaft Gottes zu leiten. Wir wissen demohnerachtet wohl und erfahren es von da an, wo uns zuerst das Bewußtsein des Höchsten in der Seele aufgeht, daß auch wir dennoch keine Ausnahme machen von jener allgemeinen Regel, daß die Menschenkinder allzumal Sünder sind und des Ruhmes ermangeln, den sie bei Gott haben sollen. Aber Keiner darf für sich selbst fragen, wie bist doch du als ein solcher zu diesem Heil gekommen? denn es liegt in der Regel und Ordnung des ganzen gemeinsamen Lebens, dem wir angehören. Aber wenn wir nun an jener Erkenntniß festhalten und sagen, denen Gott einen Vorzug giebt, die begnadigt er nicht um ihrer selbst willen, nicht als diese und jene Einzelne, sondern nur deshalb, weil nach dieser Ordnung sein Reich am meisten gefördert wird; wenn wir dabei die Ausführung dieser Ordnung beachtend überlegen, durch 18–19 Vgl. Mt 5,6 in Verbindung mit Röm 1,17

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welche große Kette von Weltbegebenheiten, die großentheils ausgingen von dem bewußtlosen Treiben der Menschen, es geschehen ist, daß das Evangelium in diesen Ländern und unter diesen Völkern Plaz gefunden hat, in denen izt am meisten der christliche Name herrscht; durch welche wunderbare Schikkungen zum Theil die Finsterniß da wieder Plaz gegriffen hat, wo zuerst das Licht des Evangeliums schien, und der Leuchter hinweggerükkt ist an einen ganz anderen Ort, um von da unter anderen Verhältnissen weiter zu scheinen als es dort geschehen konnte, und allmählig das ganze Geschlecht der Menschen zu erleuchten; wenn wir sagen müssen, so groß ist die Gnade Gottes, die über uns gekommen ist: o so haben auch wir, statt nach andern Ursachen zu grübeln und Unterscheidungen aufzusuchen, die wir | nicht festzuhalten vermögen, so haben auch wir nur danach zu fragen, wie haben wir unsere Kräfte darauf zu richten daß das Licht unter uns rein erhalten werde gegen alle Verdunkelungen, die sich aufs Neue einstellen wollen, daß wir es bewahren und es unseren Nachkommen überliefern, aber nicht nur das, sondern auch wie wir Theil nehmen an diesem Geschäft, es immer weiter zu verbreiten unter den Menschen, und alles was menschliche Gemeinschaft ist zu einem Werkzeuge zu machen, damit das Wort Gottes weiter geführt werde. Danach lasset uns fragen, wenn wir über die geheimnißvolle Gnade Gottes nachdenken und wohlgefällige Gelübde vor Gott darbringen, daß wir als Werkzeuge seiner Wahl zur Erweiterung seines Reiches wollen wirksam sein mit allem, was er uns gegeben hat, auf daß wir in der That seine Wahl rechtfertigen und wirklich erscheinen als Gefäße, die er gebildet hat zu Ehren. Amen. Lied 14.

7 Vgl. wohl Offb 2,5 25–26 Vgl. Röm 9,21 27 Die einzige Strophe von Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 14 (Melodie von „Herzlich thut mich verlangen“) lautet: „Laß mich dein seyn und bleiben, du treuer Gott und Herr! Von dir laß nichts mich treiben, halt mich bei reiner Lehr! Laß, Herr, mich ja nicht wanken, verleih Beständigkeit. Dafür will ich dir danken jetzt und zu aller Zeit.“

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12. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 6,7–11 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 288–299, Nr. XXIII; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 295. Tex t . Marcus VI, 7–11. „Und er berief die Zwölfe und hob an und sandte sie, je zween und zween, und gab ihnen Macht über die unsaubern Geister. Und gebot ihnen, daß sie nichts bei sich trügen auf dem Wege, denn allein einen Stab; keine Tasche, kein Brot, kein Geld im Gürtel; sondern wären geschuht, und daß sie nicht zween Röcke anzögen. Und sprach zu ihnen: wo ihr in ein Haus gehen werdet, da bleibet innen, bis ihr von dannen ziehet. Und welche euch nicht aufnehmen, noch hören; da gehet von dannen heraus, und schüttelt den Staub ab von euren Füßen, zu einem Zeugniß über sie. Ich sage euch: Wahrlich, es wird Sodom und Gomorrha am jüngsten Gericht erträglicher ergehen denn solcher Stadt.“

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Wir können diese Erzählung, m. A., die so mitten in das öffentliche Leben unsers Erlösers hineintritt, wol nicht anders ansehen als daß er seine Jünger aussendet, um das Reich Gottes zu predigen, theils damit es zu gleicher Zeit an mehreren Orten kund werde; – denn darum vertheilte er sie wol – theils auch daß sie darin eine Vorübung gewönnen für den Beruf, den sie nach seinem Abscheiden von der Erde | in einem größeren Maßstabe und ununterbrochen ausüben sollten. Wenn wir diese Sache so betrachten: so dürfen wir uns nicht wundern, daß er ihnen nicht andere Vorschriften gege1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 295: „Die Feinde deines Kreuzes drohn“ (Melodie von „Sey Lob und Ehr dem höchsten Gut“ = „Es ist das Heil uns kommen her“) 11–12 Dieser letzte Satz des Predigttextes war bis zur Textrevision von 1956 Bestandteil der Lutherbibel. Da die ältesten und besten Handschriften des griechischen Textes ihn nicht aufweisen, gilt er heute allgemein als sekundärer Zusatz, der aus Mt 10,15 in den Markustext gelangt ist.

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ben, als die wir hier lesen. Denn was das Innere der Sache betrifft, was sie verkündigen sollten, wie sie das Verhältniß Jesu zum Reiche Gottes darstellen sollten, das wußten sie schon aus seinem anderweitigen Unterricht, das mußte die Frucht sein ihres bisherigen Lebens mit ihm. Was aber die verlesenen Worte enthalten, sind Vorschriften über die Art und Weise, wie sie sich selbst in diesem ihrem Beruf verhalten sollten, und da ist allerdings Manches darin, worüber wir uns wundern können, daß der Erlöser es so von seinen Jüngern verlangt; desto mehr aber muß es unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und müssen wir suchen, den eigentlichen Sinn und die Meinung davon zu verstehen. Denn es gibt doch keine Art und Weise der Thätigkeit, die eine besondere sein könnte für die Apostel; denn so wie wir Alles thun sollen zur Ehre Gottes, Alles beziehen sollen auf sein Reich: so kann es auch für uns keine anderen Vorschriften geben, und bedurften sie keiner anderen, als wir für das ganze Leben anzuwenden haben. Das Erste nun, was der Herr ihnen vorhält, betrifft ihre Ausrüstung, indem sie im Lande umher gesandt wurden, das Reich Gottes zu verkündigen. Sobald wir dieses in der vollen Buchstäblichkeit nehmen wollen, wie es hier steht: so muß es uns in Verwunderung setzen. Alles dieses sind nur Aeußerlichkeiten, und wir wissen, daß der Herr niemals darauf einen Werth gelegt. Konnte das Reich Gottes besser verkündigt werden, wenn sie nichts bei sich trugen und auf keinen Zufall, der ihnen begegnen konnte, eingingen? konnte es besser verkündigt werden, wenn sie auf die Umstände, welche eintreten mogten, keine Rücksicht nahmen? Das wäre ja eine Selbstpeinigung gewesen, worin man in der christlichen Kirche auch oft ein Verdienst gesucht; aber wir sind ja alle überzeugt, daß das | ein Irrthum gewesen. Sollte also der Erlöser selbst dazu den Grund gelegt haben? Wir sehen aber gleich, daß die Apostel selbst dieses nicht buchstäblich verstanden haben als eine Regel, der sie folgen sollten. Wenn wir lesen in einem Brief des Apostels Paulus, daß man ihm sollte einen Mantel zuschicken, den er zurückgelassen: so hatte er ja zwei Röcke, und die Jünger nahmen also auch auf die Buchstäblichkeit jener Regel keine Rücksicht. Daher dürfen wir sie denn auch nicht so verstehen. Aber fragen wir, was ist der eigentliche Sinn derselben: so kommen wir freilich auf eine Regel der Weisheit, von der wir sagen müssen, es wäre sehr gut, wenn sie immer wäre befolgt worden, und alle Verhältnisse der gegenwärtigen Zeit mahnen uns ganz vorzüglich daran, wie wichtig es ist, dahin zurückzukehren. Nämlich daß es in allen diesen Beziehungen nicht einerlei Verhältnisse geben könne für Alle, das ist gewiß. Für den Einen von vielleicht schwächlicher Gesundheit wäre es ein Hinderniß gewesen, wenn er sich hätte darauf setzen wollen, durch eine so dürftige äußere Einrichtung sich allen Zufälligkeiten Preis zu geben, die ihm geradezu hinderlich sein konnten, den Auftrag, der ihm ertheilt wurde, zu 28–30 Vgl. 2Tim 4,13

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verrichten. Also das ist gewiß, daß diese Vorschriften nur verstanden werden können verhältnißmäßig, wie sie für jeden Anwendung hatten. Aber worauf der Herr hinweisen will, ist eigentlich die Verwöhnung an eine vielfältig zusammengesetzte, mehr auf die Bequemlichkeit und die Gewöhnung als auf das Bedürfniß gerichtete Ausstattung unseres Lebens. Wenn wir das, was ich vorher sagte, so verstehen wollten, als sei es eine Regel, die wir uns ebenfalls setzen sollten, zur größten Einfachheit des Lebens zurückzukehren: so würde das allen unseren geselligen Verhältnissen unangemessen sein; und wenn auch jeder für sich sich vollkommen wohl dabei befände: so wäre es nicht thun|lich in Rücksicht auf das allgemeine Wohl. Aber der Erlöser hat hier auch nichts verbannen wollen und als verwerflich darstellen, was auf irgend eine Weise ein Beförderungsmittel unserer Thätigkeit ist, was uns gegen äußere Zufälligkeiten sicher stellt; denn das ist es ja, wonach wir trachten, daß wir, was wir verrichten, nicht äußeren Zufälligkeiten Preis geben, sondern vielmehr uns das anzueignen suchen, was den Menschen zum Herrn macht über seine Kräfte; denn das Alles gibt ihm ja einen festen Grund, worauf gebaut werden kann, das stärkt seinen Muth und seine Zuversicht. Aber wie Vieles gibt es nicht in der ganzen äußeren Gestaltung unseres Lebens, in den Stücken der äußeren Ausrüstung, die hier erwähnt werden, wovon wir das nicht sagen können. Wie Vieles versagen wir uns nicht, weil wir der Gewohnheit dienen müssen, worüber wir seufzen müssen, daß es keinesweges zu einer größeren Bequemlichkeit in unseren Bewegungen und Verrichtungen dient; und das Alles kann vielmehr nicht anders als unsere Thätigkeit erschweren. Je mehr uns die Herbeischaffung solcher äußeren Dinge einen Theil unserer Kräfte raubt, je weniger damit ausgerichtet wird zum Behuf unserer Thätigkeit, sie bestehe nach Art und Weise des Berufs eines Jeden, worin sie wolle: desto mehr sind der Hemmungen zu unserer wahren Zufriedenheit; denn Alles, was uns hindert, unsere Kräfte ganz nach unserm Gewissen zum gemeinen Wohl zu gebrauchen, ist eine Hemmung. Wie oft hören wir nicht seufzen über die mancherlei Unbequemlichkeiten, welche der Gebrauch uns auferlegt in diesem und jenem, und immer desto mehr, je mehr wir in solchen Kreisen der Gesellschaft stehen, wo unsere Thätigkeit einen großen Umfang hat, und es in jedem Augenblick darauf ankommt, sie ganz zu gebrauchen; wie viel gibt es nicht in Sitten und Gewohnheiten, was den freien Gebrauch unserer Kräfte hemmt, ja auf der anderen Seite, worauf die Worte des Erlösers hindeuten, was eine Sorge für die Zukunft ist, | die nicht zu dem Nöthigen gehört, wenn man auf das Wesen der Sache sieht. Alles das, sagt der Herr, sollten sie von sich werfen und Alles so ansehen, daß sie in keinem Augenblick durch etwas Aeußeres gehemmt würden, was ihnen vorhanden kommt, zu thun, was sie mit ungestörter Kraft thun sollen. Wenn wir nun diese gegenwärtig so verwickelte, unbehülfliche, aus einer Menge von Kleinigkeiten zusammengesetzte Ausrüstung unseres äußerlichen Lebens be-

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trachten, wie Gebrauch und Sitte sie eingeführt haben, und die sich noch immer vervielfältigt, und grade denen, die hoch stehen, statt ihnen Erleichterung zu verschaffen, nur das Leben sorgenvoller macht und die Aufmerksamkeit ablenkt von dem, was wichtig ist: so müssen wir gestehen, daß das nicht ein Werk der Weisheit ist, keine Einrichtung des Lebens, die zur Förderung des Guten dient, und daher mögen wir sagen, daß wir wol danach streben sollen, die Regel des Herrn zu befolgen, uns von Allem loszumachen, was nicht wirklich ein Beförderungsmittel unserer Thätigkeit ist, was nicht wirklich unsere Kräfte erhält, uns nicht wirklich eine größere Sicherheit und Vertrauen gibt in Führung der Geschäfte. Könnten wir das auf einmal: welche Lasten könnte dann ein Jeder von sich werfen; wie bald würden wir, sobald das erste Gefühl der Ungewohntheit weg wäre, uns überzeugen, daß unser Leben freier geworden und daß wir uns eines angenehmeren Bewußtseins vom Leben erfreuen könnten. Aber was einmal Raum gewonnen hat im Leben, läßt sich nicht von sich werfen auf einmal ohne andere große Veränderungen, und nur selten sind wir in der Lage, es zu können. Aber die Apostel befanden sich in derselben. Das göttliche Wort, dem sie ihr Leben weihten, war eine neue himmlische Erscheinung, und darin lag allerdings eine gegründete Veranlassung, Vieles von sich zu werfen, was ihren Beruf erschweren konnte, und das ganze Leben von vorn herein auf neue Weise zu gestalten. Wo in der Entwickelung des Lebens solche Veranlassungen kommen: da ist es der christlichen Weisheit gemäß, dieses | zu benutzen; wo es so nicht ist: da sollen wir doch unsere Aufmerksamkeit darauf wenden, daß wir allmählig dahin streben und nach und nach unser Leben so einrichten, daß wir nicht gedrückt werden von dem, was ursprünglich Erleichterung sein soll, daß wir nicht ein Gefühl von Unlust und Unbehaglichkeit haben von dem, was ursprünglich Verschönerung und Erheiterung des Lebens sein soll. Aber wenn wir fragen, wie das entstanden ist: so hat es seinen Grund in dem Sinne der Menschen, in dem Eitlen und Nichtigen, darin Auszeichnung zu suchen, worin sie nicht liegt. Können wir also die Wirkung davon nicht auf einmal aufheben, sondern kann das nur allmählig geschehen: so werden wir doch die Regel des Herrn darin befolgen, wenn wir das Uebel in seiner Wurzel angreifen, wenn wir dahin trachten, in dem Geiste uns frei zu machen von Allem, was aus eitlem Sinne entspringt, dieses in seiner ganzen Nichtigkeit zu erkennen und dadurch uns wieder immer mehr loszumachen von Allem, was uns bedrängt, ohne dem Menschen einen Genuß zu gewähren, ohne das Maß seiner Thätigkeit zu erhöhen. Aber die anderen Vorschriften, die der Erlöser gibt, beziehen sich auf ihre Verhältnisse zu Anderen. So sagt er ihnen, „wenn ihr an einen Ort kommt und in ein Haus geht und aufgenommen werdet: so bleibet da, bis ihr von dannen geht; wenn man euch aber nicht aufnehmen will und hören: da gehet von dannen heraus und schüttelt den Staub ab von euren Füßen

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zu einem Zeugniß über sie.“ Was nun das Erste betrifft: so hat das auch schon etwas, das uns befremden könnte. Die Jünger des Herrn, so setzt er den Fall, kämen in ihrem Beruf an einen Ort und fänden in einem Hause eine freundliche Aufnahme. Wenn sie irgendwo gar nicht gehört würden: so sollten sie wieder von dannen gehen; wenn sie aber gehört würden, wenn das Wort Gottes einen Eingang fände | in die Seelen: wie natürlich, sollten wir denken, wäre es, wenn sie auch Anderen eine Freude verschafften, daß, wenn auch Andere sie in ihre Hütten aufnähmen, sich auch gastfreundlich gegen sie bewiesen, sie dann auch diese an der Verkündigung Theil nehmen ließen. Sollen wir nicht denken, daß es nur eine Aeußerung freundlichen Wohlwollens gewesen wäre, wenn sie sich dem hingaben? Und doch ist es grade das, was der Erlöser ihnen verbietet, ganz strenge verbietet, indem er sagt, wenn ihr einmal in ein Haus eingegangen seid und sie euch da aufnehmen: so sollt ihr da bleiben und anderen gastfreundlichen Verhältnissen nicht nachgehen, bis ihr von dannen zieht. Was kann das für einen Grund haben? Gewiß keinen andern, als daß sich die, welche das Wort Gottes aufnahmen, von vorn herein gar nicht an die Persönlichkeit der einzelnen Menschen halten sollten, die es ihnen brachten, sondern bloß an die Kraft des Geistes, nicht glauben, daß ein besonderer Werth liege in dem persönlichen Verhältniß zu irgend einem Menschen, sondern daß sie das ganz und gar trennen sollten von der Wirksamkeit des in die Seele ausgestreuten lebendigen Worts. Wenn wir uns das so denken, wie sich Alle, die dem Glauben Raum gaben in ihrem Gemüth, um die Jünger des Herrn werden gedrängt haben, wenn wir zugleich die Wirkung bedenken, die das in ihnen selbst hervorbringen mußte: so werden wir die Warnung verstehen, die in den Worten des Herrn liegt; es wird uns einleuchten, daß sie nicht allein die Hörer des Wortes anging, welche dem persönlichen Verhältniß mit den Predigern desselben, das zwar zu etwas Gutem und Heilsamem führen konnte, nicht einen Werth beilegen sollten, den es nicht hat, daß sie sich vielmehr treu an das Wort selbst halten sollten, sondern daß sie auch die Prediger des Wortes wol anging. Irgendwo mußten sie eine gastfreundliche Aufnahme finden, in einem Hause mußten sie aufgenommen werden. Blieben sie da: so gewöhnte man sich | an sie, die Gewohnheit verminderte den Reiz, den sie ursprünglich mit ihrer Persönlichkeit hatten, und das wollte der Erlöser erreichen. Wären sie aber in dieses und jenes Haus gegangen: so wäre der Reiz immer aufs Neue entstanden, und es hätte leicht die Vorstellung in ihnen aufkommen können von einem persönlichen Werth, den sie hätten. Dadurch wäre die reine einfache Predigt verloren gegangen, und das wollte der Erlöser in seinem ersten Anfange hemmen. Wenn wir nun aber fragen, wie? ist denn dieses die rechte und wahre Beschaffenheit dieser Sache, daß der, welcher ein Diener des göttlichen Wortes ist, durch seinen persönlichen Einfluß gar nichts ausrichten kann, was die Arbeit des göttlichen Geistes in den Gemüthern der Menschen fördert?

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Das, m. G., wollen wir gewiß nicht behaupten. Allerdings überall in der christlichen Gemeinschaft soll ein wohlthätiger, belebender, stärkender Einfluß ausgehen – aber, von allen denen, welche schon eine reichere Erfahrung haben von der Gemeinschaft mit dem Herrn, auf alle die, welche noch schwach sind im Glauben, das wollte der Erlöser begründen; jedoch wie wichtig es war, daß von Anfang an nicht ein persönlicher Werth gelegt wurde auf den Dienst derer, die der Verkündigung des göttlichen Wortes sich weihten: ach! das hat die folgende Zeit zu sehr nur gezeigt. Und wie genau hängt dieses zusammen mit der Verbesserung der Kirche, zu der wir uns alle bekennen, daß der Unterschied, welcher sich festgesetzt hatte zwischen denen, die das Wort annehmen, und denen, die es verkündigen, aufgehört hat, daß ein solches Verhältniß zwischen Priestern und Laien, wie es sich allmählig eingeschlichen hatte theils aus dem Heidenthum, theils aus dem Alten Bunde, daß das Alles wieder herausgebracht worden aus dem Neuen Bunde, und daß Alles, was Einzelne leisten können in dem Dienste des Herrn, nur angesehen wird als ein besonderer Beruf, den sie von der Gemeine haben, zu dem aber mitzuwirken auf allgemeine Weise | jeder nach seinem Maße berufen ist. Dieses Verderben nicht aufkommen zu lassen, daß kein solch Verhältniß sich einschliche in den ersten Anfang der christlichen Kirche, das war die hochwichtige Rücksicht, welche der Erlöser bei dieser Vorschrift hatte, und die wir im Auge behalten müssen, wenn wir diese letztere recht verstehen wollen. Aber freilich, m. G., am Meisten wundert uns das Letzte. Wie hart klingen nicht die Worte „wenn sie euch aber nicht aufnehmen noch hören, da gehet von dannen heraus und schüttelt den Staub ab von euren Füßen zu einem Zeugniß über sie. Ich sage euch, wahrlich es wird Sodom und Gomorrha am jüngsten Gericht erträglicher ergehen, denn solcher Stadt!“ Wie? sind das Worte des einladenden Erlösers, wie wir ihn sonst kennen? ist das die Denkungsart, die wir bei ihm erwarten können, bei eben dem, welcher die Menschen ja als Beladene und Bekümmerte und als solche, die sich keinen Rath wissen, zu sich einladet, desjenigen, von welchem gesagt wird, daß er das geknickte Rohr nicht zerbrochen und das glimmende Docht nicht ausgelöscht habe, sondern jenes festgeknüpft, dieses angefacht? sind das Worte dessen, der den Jüngern gesagt, was auch die Menschen gegen sie sündigten: so sollten sie ihnen vergeben nicht nur sieben, sondern sieben und siebenzigmal? Und noch dazu so etwas Neues, wie es das Evangelium war, was natürlich in ihrer ganzen Gesinnung, was in ihrer ganzen Art so vielfachen Widerstand finden mußte, davon meinte er, es müßte sogleich in die Menschen eingehen, der ersten Verkündigung sollten sie Gehör geben, und wenn das nicht wäre, sollten die Jünger von dannen gehen und 29–31 Vgl. Mt 11,28 Mt 18,21f

32–33 Vgl. Mt 12,20 (darin Jes 42,3)

34–36 Vgl.

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den Staub von ihren Füßen schütteln, und es werde Sodom und Gomorrha erträg|licher gehen am jüngsten Gericht, denn solcher Stadt? Da müssen wir auf die Vermuthung kommen, daß noch etwas Anderes in den Worten liege, was uns, so wie wir sie lesen, nicht gleich entgegenstrahlt. Das ist aber dieses. Der, welcher selbst so geduldig und sanftmüthig und von Herzen demüthig war, der hat gewiß nicht in die Verkündiger des Wortes solche Uebereilung legen wollen, daß sie die Menschen gleich ihrem Verderben sollten Preis geben, wenn sie das Wort nicht annähmen. Das kann seine Meinung nicht gewesen sein. Aber freilich es ist ein großer Unterschied zwischen dem, nicht sofort das Wort annehmen, und zwischen dem, es gar nicht aufnehmen und hören, und eben an diesen Unterschied müssen wir uns vorzüglich halten. Ja freilich, wenn die aus dem Volke Israel, an welche der Herr seine Jünger sandte, nachdem unter ihnen schon vorangegangen war die Taufe und die Predigt des Johannes, nachdem der Herr selbst schon auf so vielfache Weise die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen und es Wenige geben konnte, die nicht wenigstens von ihm gehört hatten, wenn solche, zu denen die Jünger gesandt wurden, gleich aburtheilen wollten, sich nicht die Zeit nahmen, ihre Vorstellungen wenigstens zu vergleichen mit dem, was sie hörten, und sie denen nicht einmal den Raum gönnten, die als Boten des Heils zu ihnen kamen: da müssen wir sagen, wo die Menschen es so machten, da wäre es verlorne Zeit gewesen, wenn die Jünger sich da länger hätten aufhalten wollen; da mußten sie suchen, es Anderen zu verkündigen, die willigeren Herzens waren, auch wenn sie es nicht ganz verstanden, denen aber, wenn sie es nur hörten, ein Stachel in ihrer Seele zurückblieb. Das mußte der erste Schritt sein, woran alles Andere angeknüpft werden konnte; wo aber das nicht einmal geschehen konnte, da war ihr Wirken wenigstens zu dieser Zeit vergeblich. Und so, m. G., ist denn auch dieses für uns eine Regel der Weisheit, an welche wir uns zu halten haben. Ueberall | werden auch wir den Beruf zu üben haben, das, was wir als wahr und gut aus der Lehre des Erlösers hervorgehend erkennen, unter Anderen geltend zu machen, aber zu gleicher Zeit dann auch den, daß wir uns bescheiden müssen, und es als unsere Schuldigkeit anerkennen, ihnen das Nämliche zu gewähren. Und wenn wir es genau beachten, werden wir nicht sagen, ist es nicht die größte Lieblosigkeit, welche wir Anderen beweisen können, wenn wir uns weigern, sie ihre Meinung aussprechen zu lassen über das, was sie als das Wahre erkennen? Wenn sie uns dazu wählen, um uns vorzutragen, was sie für heilsam erachten: ist nicht das schon ein Zug der Liebe, und können wir anders dem entsprechen, als wenn wir brüderlich ihnen entgegen kommen? Auf diese Weise ist es allein möglich, daß sich die verschiedenen Ansichten über das christliche Leben und über Alles, was zum Christenthum gehört, immer 5–6 Vgl. Mt 11,29

13–14 Vgl. Mt 3,1–12; Mk 1,4–8; Lk 3,1-20; Joh 1,19–31

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mehr ausgleichen, und Alles, was bloß menschlichen Ursprungs ist, sich davon sondere. Urtheilen wir aber im voraus ab, wollen wir die Brüder nicht anhören, auch in der Ueberzeugung, daß sie irrig sind: so vermögen wir ja auch nicht, unsere Wahrheit ihnen anzupreisen und sie geltend zu machen; so heben wir ja nicht bloß das Band der Einigkeit des Geistes, sondern auch das Band des Friedens auf; denn die, welche nichts mit einander zu schaffen haben, die leben nicht in Frieden, sondern in Abgeschlossenheit von einander. Aber so wahr es ist, daß wir die anhören müssen, die mit ihrer innersten Ueberzeugung sich an uns wenden; eben so wahr ist es auch, daß bei allen denen, die das nicht thun, die Wahrheit keinen Sitz hat. Keiner hat ein Recht, von sich zu glauben, daß seine Ansicht, seine Ueberzeugung ganz das Werk des christlichen Geistes sei, daß darin auch nichts Menschliches und Irriges sei; eine solche Ueberzeugung von uns selbst sollen und dürfen wir nicht haben; aber wie wollen wir denn zu einer noch reineren, noch höheren Erkenntniß kommen, | wenn wir uns Anderem entziehen, wovon wir doch sagen müssen, gesetzt wir erkennen schon im Voraus den menschlichen Irrthum darin, so müsse man doch gestehen, weil es sich beschäftigt mit dem ewigen lebendigen Wort, weil es das Heil Christi und das Heil des menschlichen Geschlechtes zum Gegenstand hat: so ist der Geist Christi darin, so müssen wir ihn darin zu erkennen suchen, und wir werden darin die beste Anleitung finden, das Menschliche und Irrige in Allem, was wir selbst in uns tragen, zu entfernen. Darum ist das der erste Grund, worauf die Vereinigung der menschlichen Gemüther ruht, daß die Menschen anhören, was ihnen geboten wird; wo das nicht ist, da kann es keine Verbesserung der Einsicht, des Lebens geben, da können die menschlichen Dinge nicht fortschreiten, und darum konnte der Erlöser wol sagen, wo sie es so halten, da schüttelt den Staub von euren Füßen zu einem Zeugniß über sie; und so finden wir in diesen Worten des Erlösers, so hart sie scheinen, doch seine freundliche Milde wieder. Und nun werden wir wol sagen müssen, wenn wir unsern Zustand und unser Leben betrachten: so können wir es ganz und gar richten nach der Regel, welche der Herr seinen Aposteln gab. Und streben wir nach irgend einer Verbesserung, werden wir inne, daß nicht Alles ist, wie es sein soll, fühlen wir die mancherlei Zertrennung der Gemüther, drückt uns das Leben mit mancherlei Beschwerden: so lasset uns zu diesen Vorschriften des Herrn unsere Zuflucht nehmen; und je genauer wir ihnen nachkommen: desto mehr wird in uns und durch uns das Reich Gottes gedeihen zum Preise und zur Verherrlichung seines Namens. Amen. Lied 313. 5–6 Vgl. Eph 4,3 39 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 313: „Seht, was der Herr der Kirche thut“ (Melodie von „Ich bin ja, Herr, in deiner Macht“)

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Am 16. September 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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13. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 11,17 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 21–38, Nr. II SW II/3, 1835, S. 364–375; 21843, S. 377–388. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 418–427 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 13. Sonntage Trinitatis 1832. Lied 658. 315. Text. Apostelgesch. XI, 17. „So nun Gott ihnen gleiche Gaben gegeben hat, wie auch uns, die da glauben an den Herrn Jesum Christ; wer war ich, daß ich konnte Gott wehren?“

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Dieses, m. a. Z., sind Worte des Apostels Petrus, in Jerusalem gesprochen als er zurükkam von der Predigt des Evangeliums, die er in dem Hause des Cornelius gethan hatte. Schon wenn wir sie allein lesen, müssen sie einem Jeden den Eindrukk machen, daß sie eine Rechtfertigung enthalten, welche der Apostel aufstellt; und das bestätigt auch der ganze Zusammenhang. Es wird erzählt, vor die Apostel und die andern Brüder in Jerusalem wäre gekommen, was er dort gethan hatte, und als er nun zurükkgekehrt, so hätten sie ihn zur Rede darüber gestellt, daß er zu heidnischen Menschen eingegangen sei, und diese auf den | Namen Jesu getauft habe; darauf habe er zu seiner Rechtfertigung den ganzen Hergang der Sache erzählt, und diese Erzählung beschließt er mit den verlesenen Worten. Lasset uns nun eben 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 658: „Man lobt dich in der Stille“ (Melodie von „Nun lob, mein’ Seel’, den Herren“); Nr. 315: „Uns bindet, Herr, dein Wort zusammen“ (Melodie von „Mein Jesu, dem die Seraphinen“) 8–9 Vgl. Apg 10, bes. 34– 43 12–17 Vgl. Apg 11,1–16

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diese Rechtfertigung des Apostels jezt zum Gegenstand unserer Betrachtung machen. Es muß uns, m. a. Fr., dabei zuerst schon merkwürdig sein, daß der Apostel sich rechtfertigt vor andern Christen; dann aber ist zweitens auch die Art und Weise lehrreich, wie er es thut. I. Zuerst also ist das gewiß ganz im allgemeinen ein sehr auffallender Eindrukk, den dieser ganze Zusammenhang der Schriftworte auf uns Christen macht, daß diejenigen, welche die Gemeinde bilden, einen Apostel des Herrn zur Rede stellen, und daß er sich vor ihnen rechtfertigt. Wir sind so sehr gewöhnt uns das Verhältniß zwischen beiden ganz anders zu denken; diejenigen, welche sich des nähern Umganges mit unserm Erlöser und seiner unmittelbaren Belehrung erfreuten, denken wir uns auch als so weit und so hoch über die Anderen gestellt, daß sie gleichsam dem Urtheil der Andern nicht zu erreichen wären. Wir sind so sehr gewohnt, alle Werke der Apostel, alle ihre Reden und Handlungen als etwas vollkommenes und untrügliches anzusehen, und es scheint doch hier als sollten wir uns davon losmachen. Denn wenn das eben so damals wäre die Ueberzeugung der Christen gewesen: wie wäre es denn möglich gewesen, daß sie den Apostel hätten zur Rede gestellt? Wie weit also würden wir uns von der Wahrheit, die uns aus der unmittelbaren Anschauung der Schrift entge|genleuchtet, entfernen, wenn wir uns den Abstand zwischen den Aposteln und den übrigen Christen so groß vorstellen wollten. Seitdem der Geist des Herrn über die Gemeine ausgegossen war, war von dieser Ungleichheit eigentlich keine Spur mehr. In diesem Geist und seinen Wirkungen waren sie alle gleich; und eben dies Bewußtsein lag auch dabei zum Grunde, daß die Christen jener ersten Gemeinde, die sich ihrer bisherigen Ansicht nach in das neue und unerhörte, was damals geschehen war, nicht finden konnten, sich doch nicht scheuten, auch einen Apostel des Herrn zur Rede zu stellen, und ihn zur Vertheidigung und Rechtfertigung aufzufordern. Davon will ich gar nicht einmal reden und dessen erwähnen, daß es gerade Petrus war, dem dieses begegnete, welchem wir wohl, wenn wir die Erzählungen der Apostelgeschichte einfach betrachten, das nicht absprechen können, daß er unter den Aposteln des Herrn immer der gewesen, welcher zuerst hervortrat, so oft sie sich aus ihrer Zurükkgezogenheit hinaus geben mußten in das öffentliche Leben. In solchen Fällen vertrat er die Gemeinde, und war, daß ich so sage, gleichsam der Anwalt und Wortführer derselben. Dennoch aber glaubte auch er hiedurch kein 33–38 Vgl. z. B. Apg 2,14.37f; 3,12; 4,8; 5,1–3.29; 8,18–23

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solches Vorrecht zu haben, daß es ihn davon hätte befreien können, überall bereit zu sein auch innerhalb der Gemeine Verantwortung zu geben von dem Grunde seiner Hoffnung, seines Glaubens, seines Thuns. Und so sehen wir es auch hier. Aber wie nun dieses für die Andern etwas neues war, daß das Evangelium aus den Schranken der Nachkommen Abrahams hinausging und unmittelbar den Heiden gebracht wurde: so tritt nun Petrus auch in seiner Vertheidigung keinesweges so auf, als | ob ihm diese Einsicht schon vorlängst wäre zu Theil geworden, und es habe etwa bisher nur an der Gelegenheit gefehlt sie geltend zu machen und ihr gemäß zu handeln. Nein! er bekennt ganz einfach und redlich, wie es sich auch verhielt, daß er erst damals zu dieser Einsicht gekommen sei, daß er unmittelbar vorher noch dasselbe Widerstreben dagegen in sich gefühlt habe, welches die Andern ihm jezt zu erkennen gaben; aber er sezt auseinander, auf welche Weise dies in ihm wäre überwunden worden. So sehen wir denn, daß auch in dieser Beziehung die Apostel des Herrn nicht unterschieden waren von den übrigen Gläubigen oder von uns. Auch sie theilten das allgemeine Loos, wie es ein anderer Apostel darstellt, daß wir geführt werden von einer Klarheit zur andern1, daß nach und nach uns das Licht der Wahrheit immer heller leuchtet, daß es erst allmählig auch die Gegenden des Gemüthes erhellt, welche länger als andere dunkel geblieben waren, und daß wir niemals behaupten können, die ganze Fülle der Erkenntniß, welche die Weisheit Gottes uns enthüllen will, schon wirklich zu besizen. So sehen wir denn ganz deutlich aus dieser Rechtfertigung des Apostels, wie wir jene Worte des Herrn zu verstehen haben, als er zu seinen Jüngern sagte, der Geist der Wahrheit, den Er ihnen senden wolle, werde sie in alle Wahrheit leiten. Nicht, denn so klingen auch die Worte des Erlösers nicht, nicht als ob er sie auf einmal aus der Finsterniß in das vollste Licht, in den hellsten Glanz der Wahrheit versezen werde, nicht als ob er auf einmal ihr ganzes inneres Wesen umgestalten solle, sondern leitend, schrittweise vorwärts führend, allmählig | dem Ziele näher bringend, jezt diesen, dann einen andern Irrthum, jezt dieses, dann ein anderes Vorurtheil als ein solches vor den Augen ihres Geistes darstellend; und zwar am meisten, liebsten, fruchtbarsten dann, wenn es darauf ankommt, eine solche Einsicht zu benuzen zur Erweiterung des Reiches Gottes, durch eine höhere Erleuchtung Einwendungen zu beseiti1

2 Cor. 3, 18.

34 darstellend] so auch SW II/3, S. 366; Textzeuge: darstellen 2–3 Vgl. 1Petr 3,15

12–13 Vgl. Apg 11,5–12

26–28 Vgl. Joh 16,13

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gen, welche unter den gegebenen Umständen der Verbreitung des Reiches Gottes nachtheilig werden müßten. So war es damals, und als die Gelegenheit sich darbot, kam auch die Erleuchtung des Geistes über den Apostel; und beides kam gemeinsam, um der Verkündigung des Evangeliums einen neuen Weg zu bahnen und um nun auch allen Christen das Auge des Geistes zu öffnen über einen solchen Gegenstand, über den sie bisher noch mit manchen Vorurtheilen befangen waren. Und wenn nun das Verhältniß der andern Christen zu den Aposteln des Herrn überhaupt oder wenigstens zu diesem Einen insonderheit ein anderes gewesen wäre; wenn sie so voll gewesen wären von einer scheuen Ehrfurcht, daß sie geglaubt hätten, ihnen gezieme es nicht von ihm Rede und Antwort zu verlangen über das, was er gethan habe; wenn sie geglaubt hätten, sie müßten alle ihre Einwendungen dagegen bei sich selbst verschließen, und nur daraus was ein solcher Jünger des Herrn gethan habe, bei sich selbst feststellen, wie sich etwas verhalte, und was in einer bestimmten Beziehung der Wille und die Wahrheit Gottes sei, aber ohne daß sie auf dem rechten Wege der Ueberzeugung zu einer klaren Einsicht gelangt wären: wie wenig wäre dann bei jeder so großen Veranlassung wie dieses eine war, wirklich Gutes geschehen, wie wenig wäre | dann der Strahl der Wahrheit in die Gemüther der Christen gedrungen! Gewiß, eine solche stillschweigende Fugsamkeit in das, was diejenigen thaten und forderten, welche in Ansehn standen, wäre nur etwas sehr geringes gewesen im Vergleich mit der Ueberzeugung, zu der sie nun gelangten durch des Petrus Rechtfertigung. Denn wenn es im Verlauf des Textes heißt, Da sie dies hörten, schwiegen sie: so will das sagen, sie nahmen mit Ueberzeugung ihre vorigen Einwendungen zurükk, und lobten Gott, als sie ausriefen, So hat Gott auch den Heiden Buße gegeben zum Leben! Sehet da den Weg, auf welchem damals die Christen zu einer selbständigen und wahrhaft heilbringenden Erkenntniß gelangten! Freimüthig fordern sie den Apostel auf zur Rechtfertigung wegen eines ungewohnten Beginnens, und schlicht und einfach erzählt er ihnen, wie er zu seiner Ueberzeugung und seinem Entschluß gekommen, und dieser Weg wird immer für Christen der einzige angemessene und anständige sein, um sich zu verständigen, wo sie nicht gleicher Meinung sind! Aber eben deshalb, weil es schon von Anfang an keinen andern gab um zu einer selbständigen Erkenntniß der Wahrheit zu kommen, durfte es auch schon damals einen solchen Unterschied nicht geben 23 Fugsamkeit] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 337 26–27 Apg 11,18

28–29 Vgl. Apg 11,18

29 gegeben] gege/gen

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unter Christen, wie wir ihn uns gewöhnlich denken zwischen den Aposteln und den übrigen Christen; eben deshalb durfte es auch damals nicht anders sein, als daß die, die in demselben Glauben an denselben Herrn und Meister einig waren, und von den Gaben und Kräften desselben Geistes geschmekkt hatten, auch sich einander gleich halten mußten, und nur in diesem Verhältniß einer wahren brüderlichen Gleichheit von einander ler|nen und empfangen und einander gegenseitig mittheilen konnten. II. Aber nun, m. a. Fr., lasset uns auch zweitens darauf sehen, wie sich denn der Apostel Petrus in Beziehung auf dies damals noch ganz ungewohnte Verfahren rechtfertigt. Er hatte sich nämlich über zweierlei zu rechtfertigen: einmal darüber, daß er überhaupt eingegangen war zu heidnischen Menschen. Denn das war nach den Gewohnheiten des jüdischen Volks, welche sich auf das Gesez gründeten, und nach den scharf genommenen Aussprüchen des Gesezes selbst, allen aus dem Volk Israel verboten; und diesem Gesez hielten sich doch alle Christen als Glieder des jüdischen Volks, als Nachkommen derjenigen, die das Gesez empfangen hatten, verpflichtet. Das zweite, worüber er sich zu rechtfertigen hatte, war dies, daß er auch die Heiden getauft hatte, ohne sie auf dem vom Gesez angewiesenen Wege dem jüdischen Volke einzuverleiben; denn daß die Rechtfertigung des Apostels auch hierauf geht, sehen wir deutlich aus den Worten selbst, die wir mit einander vernommen haben. Wenn er sagt, Wer war ich, daß ich konnte Gott wehren? so stellt er eben dies, daß diese Menschen, wie sie waren, in die Gemeinde der Christen aufgenommen worden, als den Willen Gottes dar, dem er nicht widerstreben könne. Wenn wir nun darauf achten, wie der Apostel sich über dies beides rechtfertigt: so muß uns auffallen – denn ich kann ja wohl den ganzen Verlauf sowohl dieser Geschichte selbst als der Vertheidigung, in welcher der Apostel sie noch einmal wiederholt, als bekannt | voraussezen – daß er sich nicht durch das himmlische Gesicht allein rechtfertigt, welches er den versammelten Christen erzählt, wie ihm nämlich ein Tuch voll von unreinen Thieren aller Art erschien, welches vom Himmel herabgelassen, und ihm die Zumuthung wurde, er solle schlachten und essen. Darauf weigerte er sich dem Herrn und sagte, Noch nie ist gemeines und unreines in meinen Mund gegangen, und die Stimme des Herrn antwortet ihm darauf zu dreienmalen so, Was Gott gereinigt hat, das erkläre du nicht für gemein. Dies Gesicht erzählt er zwar, aber keines13–14 Vgl. Apg 11,3 29–35 Vgl. Apg 10,9–16; 11,5–10 11,8 38–39 Vgl. Apg 10,15; 11,9

36–37 Vgl. Apg 10,14;

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weges bricht er damit ab, als ob dadurch seine Rechtfertigung vollendet wäre: vielmehr können wir auch aus dem ganzen Zusammenhang der Erzählung gar nicht bestimmt abnehmen, was für einen Eindrukk dies Gesicht allein auf ihn gemacht, und in wiefern es eine Ueberzeugung hervorgerufen habe. Was ihn bestimmte und wodurch er sich vor seinen Brüdern rechtfertigt, ist der Umstand, daß zu gleicher Zeit mit jener Aufforderung auch die Männer erschienen, welche ihm die Einladung überbrachten, er möge zum Cornelius kommen; und nicht nur dies, sondern, wie er hinzufügt, daß mit ihm auch zugleich sechs andere Brüder, die bei ihm waren, dieselbe Bereitwilligkeit bezeigten und mit ihm hingingen. Dies Zusammentreffen einer auf außerordentliche Weise ihm gewordenen Belehrung über etwas ihm ganz fremdes und neues mit der Aufforderung zur Verbreitung des Glaubens einen Weg einzuschlagen, den bisher weder er noch ein Anderer betreten hatte, dies Zusammentreffen war es, was ihn bestimmte, darin erkannte er den Finger Gottes. Wie nun Petrus über jenes Gesicht für sich allein, wenn nicht die bestimmte Aufforderung | dazu gekommen, sondern es ihm nur eine allgemeine Andeutung geblieben wäre, würde geurtheilt haben, in wiefern ihm eine feste Ueberzeugung daraus würde entstanden sein, das vermögen wir nicht zu beurtheilen: aber allerdings werden wir sagen müssen, daß wir wenigstens das nicht können als eine nothwendige Vorschrift des christlichen Geistes ansehen, deswegen etwas für wahr zu halten, weil es uns auf eine solche außerordentliche Weise kund geworden. Jede Aeußerung eines uns fremden Gedanken, dessen Gegenstand aber wichtig ist, soll allerdings einen Eindrukk auf unser Gemüth machen, und einen Eindrukk hätte gewiß das Gesicht auch auf den Apostel immer gemacht: aber für sich allein bestimmen soll uns gewiß niemals etwas deswegen, weil uns der erste Gedanke darüber auf außerordentliche Weise gegeben worden ist. Vielmehr ist es eine wichtige Regel der Weisheit, daß wir von der Art und Weise, wie uns eine Erkenntniß dargeboten worden ist, auf die Wahrheit ihres Inhaltes niemals schließen dürfen, sondern beides wohl von einander zu scheiden haben. Denn sonst kommen wir gar zu leicht in ein Verfahren hinein, welches uns, die wir uns der Erleuchtung des göttlichen Geistes erfreuen, am wenigsten geziemt. Wir sollen uns ja keinem Ansehn unterwerfen; sondern den Geist allein richten lassen. Glauben wir aber alles für wahr halten zu müssen, was uns auf eine außerordentliche, ungewöhnliche, ich will sagen übernatürliche, Art und Weise zur Vorstellung gebracht wird: was 39 wird:] so auch SW II/3, S. 369; Textzeuge: wird; 6–8 Vgl. Apg 10,17–22; 11,11.13f

9–11 Vgl. Apg 11,12; ferner 10,23

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heißt das anders, als daß wir dem unbegreiflichen ein solches Ansehn einräumen, dem wir auch das Urtheil des Geistes in uns unterwerfen? Nein, in allen hieher gehörigen Dingen soll die Wahrheit ihren reinen, un|getheilten Eindrukk auf uns machen, nicht durch etwas fremdes unterstüzt; ihre eigene Kraft für sich allein soll uns bewegen. Und daher war auch gewiß das eigentlich wirksame für die Entschließung des Apostels nicht das Gesicht, sondern die Aufforderung; aber wohl war jenes eine weislich herbeigeführte Vorbereitung seines Gemüths darauf. Es ist wohl möglich, daß die Aufforderung, wenn sie allein an ihn gekommen wäre, ihn nicht so bereitwillig dürfte gefunden haben, daß er zu den Boten eben so würde gesagt haben wie zu der Stimme, Das sei ferne von mir, denn noch nie bin ich zu denen eingegangen, die mir im Gesez als unrein bezeichnet sind. Aber nachdem er so vorbereitet war, mußte ihm wol, wenn eine solche Aufforderung an ihn gelangte und er bedenklich war, seine eigene bessere innere Stimme sagen, Du bist ja so fest überzeugt davon wie du es auch schon öffentlich verkündiget hast, daß in keinem Andern Heil ist für Alle als im Namen Christi: aber wie sollen denn an diesem Heil in dem Namen Christi die Andern Antheil erhalten, die nicht zu den leiblichen Nachkommen Abrahams gehören? Wie? soll ein solcher Umweg nöthig sein, daß diese Menschen erst müssen eingespannt werden in das Joch des Gesezes, damit doch hernach, wie es in unserer heutigen epistolischen Lection heißt, die Verheißung an ihnen in Erfüllung gehe, nicht im mindesten durch das Gesez sondern nur durch den Glauben, den wir ihnen verkündigen? Nachdem er durch solche Gedanken sein Gemüth frei gemacht hatte, war er denn so gestimmt, daß diese Aufforderung ihn bereit und willig traf; und da nicht nur er allein sich so bewogen fühlte, sondern auch mit ihm die Andern; so rechtfertigt er sich durch die Erzählung | des ganzen Zusammenhangs der Sache vor denen, welche Rechenschaft verlangten von dem Grunde seiner Handlung. Aber nun laßt uns auch zweitens sehen, nachdem Petrus auf diese Weise eingegangen war zu dem heidnischen Manne, der ihn hatte auffordern lassen, und ihm gesagt hatte, wie das in seiner Anrede steht, Ihr wisset, wie es ein ungewohntes Ding ist einem jüdischen Manne 7 Apostels] Apostels, Andern:

28 Andern;] vielleicht mit SW II/3, S. 370, zu korrigieren in

17–18 Vgl. Apg 4,12 22–24 Die Perikopenordnung sah als Epistellesung für den 13. Sonntag nach Trinitatis Gal 3,13–22 oder Jak 3,1–12 vor; Schleiermacher bezieht sich auf den Text aus dem Galaterbrief. 30–31 Anspielung auf 1Petr 3,15 35– 3 Vgl. Apg 10,28

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zu kommen zu einem Fremdling, aber Gott hat mich schon gelehrt, daß, was er gereinigt hat, kein Mensch für gemein und unrein erklären soll, – nachdem er so eingegangen war und gepredigt hatte das Evangelium von Jesu: wie rechtfertigt er sich darüber, daß er so unmittelbar seine heidnischen Zuhörer auch durch das Wasserbad der Taufe aufgenommen hatte in die Gemeinschaft der Christen? Cornelius war bereit gewesen mit seiner ganzen Hausgenossenschaft ihn zu hören, Petrus erschien ihm als ein ersehnter Bote des Heils, ihm war gesagt worden, dieser Simon Petrus würde ihm die Worte sagen, durch welche er selig werden könnte mit seinem ganzen Hause, und nun also hub Petrus an zu reden von Jesu von Nazareth, was Er gewesen sei, was Er gethan habe unter seinem Volk, wie Er überantwortet worden sei in die Hände seiner Feinde, wie ihn Gott auferwekkt und gesezt habe zu einem Richter über die Lebendigen und die Todten. Und da geschah es, wird uns erzählt, daß, als er noch redete, der Geist Gottes seine Zuhörer erfüllte und sie anfingen mit Zungen zu reden und die großen Thaten Gottes zu preisen. Laßt uns hier zuerst eins nicht übersehen. Wie leicht, m. a. Fr., hätte doch Petrus diesen begeisterten Ausbruch ansehen können als eine Wirkung seiner Rede! Wie natürlich würde | es uns vorkommen, wenn er in seiner Vertheidigungsrede gesagt hätte, Als ich nun sah, daß der Herr meine Worte auf so ausgezeichnete Weise segnete, indem ich eine solche Bewegung der Gemüther aus denselben entstehen sah: wie hätte ich nicht sollen noch das Lezte hinzufügen, und denen, die offenbar schon zum Glauben gelangt waren, auch das Wasserbad der Taufe als die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft angedeihen lassen? Aber nein! er stellt das gar nicht dar als die Wirkung seiner Rede, seine Vertheidigung klingt vielmehr so, als ob diese dabei nur als etwas zufälliges anzusehen wäre; nicht vermöge seiner Rede, nicht durch die Kraft seiner Rede, sondern, als ich noch redete, sagt er, wurde der Geist über sie ausgegossen! nicht als seines, sondern lediglich als ein göttliches Werk sah er dies an. Und allerdings, wenn wir das, was uns in der Apostelgeschichte aufbewahrt ist von seiner Rede, dem wesentlichen Inhalte nach betrachten: so war sie auch so einfach und schlicht, daß, wenn nicht schon die Herzen durch den göttlichen Geist auf eine besondere Weise wären bereitet gewesen, wie denn überall, wohin der Ruf Christi gelangt war, seit der Ausgießung des Geistes eine solche Erregung der Gemüther, als eine gleichsam nachkommende Wirkung der Geschichte selbst zu bemerken war, wenn nicht so der Schlaf des Todes schon gestört gewesen wäre, daß Christus sie erleuchten konnte, die 9–10 Vgl. Apg 11,13f; ferner 10,22 11–14 Vgl. Apg 10,34–43 Apg 10,44–46 30–31 Vgl. Apg 11,15; ferner 10,44

14–17 Vgl.

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Rede der Apostel hätte es nicht vollbracht. Wollen wir das etwa den Aposteln zur Unvollkommenheit anrechnen, als ob sie weniger gethan hätten, als sie sollten, um ihrer Predigt Eingang zu verschaffen? Das sei ferne von uns, m. a. Fr ! Das Wort des Herrn ist ein Schwert, das durch die Seele dringt und | Mark und Gebein theilt, aber es kommt alles darauf an, in welchem Zustand es die Gemüther findet, wenn es sie zuerst trifft. Damit es also wirke und nur durch seine eigene Kraft wirke, darf sich ihm nichts von menschlicher Kunst beimischen, denn dies könnte nur zu einer Verunreinigung desselben gereichen und seine Wirkung zweifelhaft machen. Wir wissen es wohl, was menschliche Beredsamkeit wohlberechnet hervorbringen kann, plözlich sehen wir oft die Gemüther der Menschen ganz neuen Gedanken zugewendet, als in welchen sie bisher gelebt hatten, plözlich aus einem gleichgültigen Zustand die Menge in eine Aufregung versezt, deren Ende man nicht absehen kann; aber wenn sich eine solche immer ans leidenschaftliche grenzende Wirkung zu der des göttlichen Wortes fügt, das ist nicht der Wille des Herrn, da mischt sich menschliches unter das Werk des Herrn, Vorübergehendes und Nichtiges, ja Verwerfliches unter das Ewige, sich immer gleich Bleibende. Wenn das Wort Gottes erst wirksam werden soll, muß es vorgetragen werden ohne menschliche Zuthat, einfach und schlicht, wie der Herr selbst es zuerst vorgetragen. Denn nur ein solcher Vortrag konnte im kurzen dargestellt werden in den Worten, Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen1! Die schlichte Erzählung von Jesu von Nazareth allein hat es ausgerichtet, und die Menschen in solcher Menge dem Evangelium zugeführt und sie empfänglich gemacht für das von Gott bestimmte ewige Heil. Aber etwas anderes ist es freilich, wenn es nicht auf eine Wirkung ankommt, welche hervorgebracht werden soll | auf die Gemüther. Wenn die Gläubigen unter sich reden und die großen Thaten Gottes preisen, wie die Jünger am Tage der Pfingsten als der Geist über sie kam, wo sie voll waren von dieser großen That Gottes; und wie es auch in dieser Erzählung heißt, daß die Anwesenden als sie die Predigt vernommen auch angefangen hätten diese große That Gottes zu preisen: da denkt ein Jeder von selbst schon nicht an die gewöhnlichen einfachen Worte des täglichen Lebens, sondern an eine aufgeregte, eine höhere Kraft der Rede, an ein Preisen Gottes in mancherlei Zungen, an ein Lied in einem höheren ungewohnten Ton; so war dies damals und so darf es auch jezt sein. Aber der Apostel, der durch seine Rede erst die Wirkung hervorbringen sollte, die Gemüther 1

Matth. 4, 17.

4–5 Vgl. Hebr 4,12

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29–31 Vgl. Apg 2,11.47

32–34 Vgl. Apg 10,46

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dem Glauben zu öffnen, der konnte nicht anders als mit der größten Einfalt das Wort des Heils verkündigen, eben deshalb aber auch das was geschah nicht dem, was an seiner Rede sein war, zuschreiben, sondern es ansehen als Wirkung des göttlichen Geistes, der freilich auch aus seiner Rede sprach. Aber fragen wir nun, woran erkannte denn Petrus, daß er wirklich ein Recht hatte, und daß das der göttliche Wille sei, diese, so wie sie damals waren, in die Gemeinschaft der Christen aufzunehmen? Geschah das deswegen, weil sie mit andern Zungen redeten, wie es in den Worten der Schrift heißt? Wie? das allein sollte es gemacht haben und ihm gleich gegolten, was sie gesagt hätten? Was sie auch möchten geredet haben in fremden Zungen, würde er daran erkannt haben, daß sie reif waren in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden? Das wird sich Keiner getrauen zu behaupten! Nicht auf die äußere Schaale | konnte es ihm ankommen, sondern auf den Inhalt dessen was sie sprachen; hätten sie in fremden Zungen etwas anderes gethan, als die großen Thaten Gottes in Christo zu preisen und zu verherrlichen: so würde ihn das wol befremdet haben, aber gewiß nicht bestimmt, sie durch die Taufe aufzunehmen in die Gemeinschaft der Christen; gewiß würde er deswegen nicht gesagt haben, Wer will das Wasser wehren, daß ich die taufe, die den Geist empfangen haben wie wir? Denn der Geist ist nicht in der Beschaffenheit der Sprache, ob es auch eine fremde oder ungewöhnliche ist, sondern in dem, was sie von sich giebt. In der Verehrung der ewigen Wahrheit, in der Festigkeit der Ueberzeugung, in der Wärme des Herzens für das, was die Seele als ihr Heil aufnimmt, darin giebt sich der Geist zu erkennen, und daraus erkannte auch Petrus, was jezt sein Auftrag sei, und sprach, Wer war ich, daß ich konnte Gott wehren? Gewiß, m. a. Z., ist dies eine der wichtigsten Erzählungen, welche die Geschichte der Apostel enthält, eben deswegen, weil sie das erste Beispiel ist, woran sich das bewies, wodurch das zu gleicher Zeit den Gläubigen klar wurde, daß die Segnungen des neuen Bundes etwas ganz eigenthümliches wären und nicht auf solche Weise zusammenhingen mit den göttlichen Veranstaltungen für das jüdische Volk in dem alten Bunde, daß Alle nothwendig erst hätten durch diesen zu jenem gelangen können. Dieser reine, unverfälschte Glauben an das Evangelium von Christo, an die Erlösung durch Christum als ein allgemeines Gut aller Menschen, als eine Segnung der göttlichen Gnade für unser ganzes Geschlecht, nicht wieder für diesen oder jenen | ein27 sei,] so auch SW II/3, S. 373; Textzeuge: sei 9–10 Vgl. Apg 10,46

20–21 Vgl. Apg 10,47

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zelnen Theil desselben, der wurde damals zuerst klar; und alle Verkündigung des Evangeliums unter allen Völkern der Erde ist von diesem ersten Anfang ausgegangen. Und hier können wir wol nicht umhin, wenn wir auf die Gemüthsverfassung merken, in welcher den Apostel eben diese göttliche Aufforderung fand, uns recht anschaulich davon zu überzeugen, wie die Wahrheit sich immer Bahn macht, wenn die rechte von Gott dazu bestimmte Stunde gekommen ist. Wie war er noch versenkt in seine alten Vorurtheile, wie stellt er sich selbst so dar in der Erzählung von jenem himmlischen Gesicht! wie war ihm das eine große Gewissenssache nichts unreines anzurühren, mit nichts unreinem nach den Vorstellungen des alten Bundes zu schaffen zu haben! aber in dem Augenblikk mußte er umgeändert werden, jezt gleich mußte er zu der Einsicht gelangen, daß das nur eine Hemmung sei für das Reich Gottes, jezt mußte sich ihm verklären, wie das Evangelium sei ein Segen für alle Menschen ohne Unterschied; und dies große Wort, Wer war ich, daß ich mich weigern konnte, wie konnte jemand das Wasser weigern, diese zu taufen? das mußte ihm eine feste Ueberzeugung geben, daß es einen andern Unterschied nicht mehr gab als zwischen denen, welche des göttlichen Geistes theilhaftig wären, und denen, welche für diesen empfänglich zu machen und sie seinen Wirkungen zuzuführen das segensreiche Geschäft von jenen sein sollte. Darum sprach er schon beim Cornelius mit einem solchen innern Wohlgefallen das schöne Wort aus, Gott hat mir das gezeigt und ich sehe es mit der Klarheit des hellen Tages, daß alles Volk, was recht thut und Gott fürchtet, Gott dazu angenehm ist, daß ihm der Frieden ver|kündigt werden soll in Jesu Christo; nichts weiter gehört dazu, als daß das Herz des Menschen erst geöffnet sei dem Verlangen nach dem ewigen und unvergänglichen, daß es sich nicht mehr begnüge mit dem, was die Erde dem Menschen giebt, daß eine Ahndung in demselben aufgegangen sei von seiner ewigen Bestimmung, und eben damit zugleich, denn beides ist nothwendig mit einander verbunden, ein Mißfallen an sich selbst, insofern er bisher mit dem Niedrigen sich begnügte. Nur das gehört dazu, und Alle können dann des Heils in Christo Jesu theilhaftig werden. Aber dieselbe Wirkung des Geistes wie damals, ein nicht minder lebhafter und eben so siegreicher Kampf gegen die Vorurtheile, die dem Gedeihen des Evangeliums im Wege standen: wie oft finden wir dies nicht in der Geschichte der Verbreitung des Christenthums sich 11 unreinem] so auch SW II/3, S. 373; Textzeuge: unreinen II/3, S. 373; Textzeuge: wären 8–9 Vgl. Apg 10,9–16; 11,5–10

19 wären,] so auch SW

23–26 Vgl. Apg 10,34–36

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wiederholen! ja nicht nur, wenn wir auf die Verbreitung desselben nach außen sehen, sondern auch, wenn wir seine innere Geschichte betrachten. Wie oft hat ähnlicher Streit müssen geführt werden, wie oft hat sich in das Christenthum eingeschlichen, was ihm fremd war; äußeres das sich mit eindrängte und einen Werth behaupten wollte, den es gar nicht haben konnte, seitdem diese Gemeinschaft des Glaubens und Geistes gebildet war, und noch muß immer wieder derselbe Kampf gekämpft werden. Aber so wird es auch bleiben. Nur allmählig werden wir durch den göttlichen Geist geführt von einer Klarheit zur andern; zwischen jeder Stufe und einer höheren liegt gewissermaßen eine Zeit der Verdunkelung, manche Gegenstände erscheinen in einem unsichern Licht; und was unmittelbar zusammen gehört, findet sich oft nicht, weil der verhüllende Nebel erst zertheilt werden muß, | damit man erkenne und erkannt werde. Wenn wir uns dann nur so halten, empfänglich zu bleiben für alle Regungen des göttlichen Geistes, für jede neue Erleuchtung, zumahl wenn wir Veranlassung haben etwas zu thun, und wenn solche Erkenntniß Einfluß hat auf das, was uns obliegt. Je mehr wir dann unter einander jeder bereit sind Verantwortung zu geben, aber auch keiner scheut Andere zur Verantwortung zu ziehen, damit jede Einsicht, die Gott dem Einen gegeben hat, sich auch den Andern mittheile, und ein gemeinsames Gut werde, damit Jeder lerne zu scheiden, was Wahrheit des göttlichen Geistes und was menschliche Zuthat wo nicht gar menschlicher Irrthum ist, – denn das vermögen wir nur in der Gemeinschaft des Geistes, in diesem brüderlichen Vertrauen, womit Einer von dem Andern Rechenschaft fordert und sie ihm giebt, – je mehr wir uns in diesem Zustande halten: um desto mehr wird der Geist Gottes uns Alle erleuchten, desto mehr wird jeder Kampf sich abkürzen, um desto hellere Einsicht wird gewonnen werden, auf daß zulezt die Zeit komme, wo wir erkennen, wie wir erkannt sind, wo das Stükwerk aufhört und das Ganze uns gegeben wird, wo wir eingehen in die volle Klarheit und Einsicht des göttlichen Willens zu unserm Heil und unserer Seligkeit. Amen. Lied 25, 1–2.

8–10 Vgl. 2Kor 3,18 14 Anspielung auf 1Kor 13,12 29–30 Vgl. 1Kor 13,12 34 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 25: „Dir, unserm Gott, sey Lob“ (Melodie von „Nun danket alle Gott“)

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14. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 6,12–29 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 300–313, Nr. XXIV; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 790, 1–7. Tex t . Marcus VI, 12–29. „Und sie gingen aus und predigten, man sollte Buße thun. Und trieben viele Teufel aus, und salbeten viele Siechen mit Oel, und machten sie gesund. Und es kam vor den König Herodes, (denn sein Name war nun bekannt) und er sprach: Johannes, der Täufer, ist von den Todten auferstanden; darum thut er solche Thaten. Etliche aber sprachen: Er ist Elias. Etliche aber: Er ist ein Prophet, oder einer von den Propheten. Da es aber Herodes hörte, sprach er: Es ist Johannes, den ich enthauptet habe; der ist von den Todten auferstanden. Er aber, Herodes, hatte ausgesandt, und Johannem gegriffen, und ins Gefängniß gelegt, um Herodias willen, seines Bruders Philippi Weib: denn er hatte sie gefreit. Johannes aber sprach zu Herode: Es ist nicht recht, daß du deines Bruders Weib habest. Herodias aber stellte ihm nach, und wollte ihn tödten, und konnte nicht. Herodes aber fürchtete Johannem, denn er wußte, daß er ein frommer und heiliger Mann war; und verwahrete ihn, und gehorchte ihm in vielen Sachen, und hörete ihn | gerne. Und es kam ein gelegner Tag, daß Herodes auf seinen Jahrstag ein Abendmal gab den Obersten und Hauptleuten und Vornehmsten in Galiläa. Da trat hinein die Tochter des Herodias, und tanzte, und gefiel wohl dem Herodi, und denen, die am Tische saßen. Da sprach der König zum Mägdelein: Bitte von mir, was du willst, ich will dir's geben. Und schwur ihr einen Eid. Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis an die Hälfte meines Königreichs. Sie ging hinaus, und sprach zu 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 790: „Der frohe Morgen kommt gegangen“ (Melodie von „Dir, dir, Jehovah, will ich singen“)

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ihrer Mutter: Was soll ich bitten? Die sprach: Das Haupt Johannis, des Täufers. Und sie ging bald hinein mit Eile zum König, bat, und sprach: Ich will, daß du mir gebest jetzt so bald auf einer Schüssel das Haupt Johannis, des Täufers. Der König ward betrübt; doch um des Eides willen, und derer, die am Tische saßen, wollte er sie nicht lassen eine Fehlbitte thun. Und bald schickte hin der König den Henker, und hieß sein Haupt herbringen. Der ging hin, und enthauptete ihn im Gefängniß, und trug her sein Haupt auf einer Schüssel, und gab es dem Mägdelein, und das Mägdelein gab es ihrer Mutter. Und da das seine Jünger höreten; kamen sie, und nahmen seinen Leib, und legten ihn in ein Grab.“ Das Erste, m. a. Fr., was uns in diesem Abschnitt merkwürdig sein muß, ist dieses, daß hier die Rede ist von dem, was die Apostel thaten, nachdem der Herr, wie wir in dem | vorigen Abschnitt gesehen haben, sie zu zweien ausgesandt hatte, daß sie predigen sollten das Reich Gottes, daß sie nun dieses thaten und dabei auch solche Thaten verrichteten, wozu er ihnen die Macht gegeben, aber diese, die vor den Menschen doch als die ihrigen erscheinen mußten, so angesehen wurden, als seien sie Christi; denn in Beziehung auf das, was die Apostel thaten, daß sie Kranke gesund machten und Teufel austrieben, in Beziehung darauf wird dieses erzählt, daß Einige gesprochen, er sei ein Prophet, Herodes aber, es müsse wol Johannes sein, den er enthauptet habe. Dieses nun würde wol nie so geschehen sein, wenn die Apostel irgend etwas von dem, was sie thaten, sich selbst zugeschrieben hätten. So wie es nur aus der Macht Christi kam: so thaten sie es auch nur öffentlich vor den Menschen und bekannten, daß es nicht ihre Macht sei, sondern die seinige. Dieses nun war freilich bei ihnen nichts Anderes als nur die Kraft der Wahrheit, die aus ihnen sprach; sie redeten davon, wie sie es wußten. Daß sie aus sich selbst das nicht vermochten, davon hatten sie das bestimmteste Bewußtsein in sich selbst, daß sie es nur konnten vermöge der Macht, die er ihnen gegeben, daß es das war, was sie aus ihrem Zusammenhange mit ihm hatten, und wie sie es wußten: so redeten sie es. Nun war dieses, solche Zeichen und Wunder thun, zwar nur etwas Aeußerliches, es war gleichsam ein Sinnbild von der höheren Macht, die Jesus den Menschen gab, daß sie nämlich, indem sie an ihn glaubten, zugleich Kinder Gottes würden; aber eben, wie jenes ein Sinnbild war und ein äußeres Zeichen von diesem: so soll es auch für dieses keinen anderen Maßstab geben als wie für jenes. Wenn wir bedenken, wie gegenwärtig selbst in der Christenheit, der wir alle angehören, so verschiedene Stimmen und Meinungen sich geltend machen über das, was der Erlöser eigentlich dem menschlichen Geschlecht gethan und geleistet, und wodurch und auf welche Weise: 13–15 Vgl. Mk 6,7 und die Predigt am 9. September 1832 über Mk 6,7–11

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so müssen wir uns sagen, das würde so schwerlich sein | können, wenn in Beziehung auf dieses Geistige Alle immer so handelten, wie die Jünger es hier gethan, nämlich daß wir Alles doch nur dem, von dem es ursprünglich uns zugekommen ist, zuschreiben und nicht uns selbst. Wenn wir bedenken, wie der Erlöser das menschliche Geschlecht gefunden hat, und wie es nun doch seitdem geworden ist, nicht nur im Einzelnen, wenn wir in das Innere der ihm persönlich anhangenden Gemüther sehen, sondern auch im Ganzen und Großen, überall wo sein Name bekannt wird, und der Glaube an ihn sich geltend macht: so können wir uns das nicht bergen, daß Alles, was in diesem veränderten Zustand der Menschen wahrhaft gut und gottgefällig ist, in ihm seine erste Quelle hat, und daß es Alles zusammenhängt mit der Macht, die er den Menschen gegeben hat, Kinder Gottes zu werden, daß wir nun nicht mehr gefangen sind unter menschliche Satzungen, sondern von ihm die wahre Kindschaft, das Recht der mündigen Kinder Gottes erhalten haben. Aber eben, weil dieses so sehr unser allgemeines Bewußtsein ist: so geschieht es dann desto leichter, daß wir das, wovon wir wissen, es ist die Aeußerung unserer Freiheit, unseres inneren Lebens, auch nicht mit der rechten Genauigkeit und Treue ihm zuschreiben. Daher ist es denn natürlich entstanden, daß man nicht mehr so auf die rechte Quelle von Allem, was gut und recht ist in unserem menschlichen Dasein, zurückgeht. Wenn wir uns hiervon Rechenschaft geben wollen und nach der Schuld fragen, die uns dabei zukommt: so kann es dabei keine andere Regel geben, als daß jeder nur streng sei gegen sich selbst, weil jeder nur von dem Seinigen wissen kann; jeder aber gelind sei gegen den Anderen, weil er es von dem nicht so wissen kann. Das ist die Strenge, die wir gegen uns selbst üben sollen, daß wir bekennen, wir leiden selbst Mangel an unserem rechten christlichen Bewußtsein, an dem, was uns am Meisten Freude machen soll, am Meisten befriedigt und uns beständig zu dem | dankbaren Bewußtsein gegen Gott hinführt, daß wir daran Mangel leiden, wenn wir, was an uns gut ist, uns selbst zuschreiben und nicht dem, von dem wir es empfangen haben. Denn es gibt doch kein seligeres Bewußtsein als dieses, durch die Anschauung der Herrlichkeit des Sohnes Gottes in der rechten lebendigen Gemeinschaft mit Gott zu stehen. Wenn wir, was der Geist Gottes in uns wirkt, uns selbst zuschreiben: so haben wir ja da immer nur das Bewußtsein von uns selbst, und das ist ja immer etwas Geringes, und wir erfreuen uns einer viel größeren Seligkeit, wenn wir zugleich dabei das Bewußtsein Gottes haben. Das haben wir aber immer nur durch die lebendige Vermittelung Christi und dadurch, daß wir Alles, was wir empfangen haben, auf ihn zurückführen. Und so wir nur dieses in uns selbst immer haben: so hat es keine Noth, daß nicht dasselbe, wovon das Herz voll ist, auch sollte durch den Mund übergehen. Es kann freilich auch in dieser Beziehung ein leeres 13–15 Vgl. Gal 4,3–7; ferner Röm 8,16f

40–41 Vgl. Mt 12,34; Lk 6,45

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Bekennen Christi geben, nämlich wenn wir noch viele Worte davon machen auch überall da, wo es sich von selbst versteht, und ohne selbst etwas dabei zu denken; aber wo die andere Seite der Sache herausgekehrt ist, wo Alles so angesehen wird, als sei es aus dem menschlichen Geschlechte selbst hervorgegangen, und der Erlöser habe dabei nur ein Wenig geholfen: da ist dann das Bekenntniß Christi und des Bewußtseins von unserem Zusammenhange mit ihm an der rechten Stelle; und darin lasset uns streng sein gegen uns selbst. Aber auf der anderen Seite lasset uns auch gelind sein gegen Andere, welche dieses Bekenntniß nicht überall mit uns anstimmen, und nicht gleich ein solches Urtheil über sie fällen, als hätten sie sich auch innerlich von dem Zusammenhange mit Christo gelöset und wollten nur aus sich selbst und durch sich selbst leben. Lasset uns nur bedenken, wenn wir das höchste Ziel menschlicher Vollkommenheit uns denken wollen, so wie es in der Gemeine des Herrn und durch seine Kraft möglich ist: | werden wir es anders beschreiben können als nur so, daß alsdann der Mensch die Wirkungen des göttlichen Geistes und die seines eigenen nicht mehr zu unterscheiden vermag. Wenn der Geist des Menschen nicht mehr vermischt ist mit dem, was in ihm Fleisch ist, – und das kann er nur durch die Wirkung des göttlichen Geistes: dann kann er auch von diesem nicht mehr unterschieden werden, und unterscheiden wir, was unser eigener Sinn und Trieb ist, von dem, wozu uns der göttliche Geist mahnet und treibt: so kommt das nur daher, weil wir in dem ersten noch finden von dem, was die Schrift Fleisch nennet; denn wäre das nicht, so wäre Alles der Trieb des göttlichen Geistes. Nun wissen wir wol sehr gut, daß wir es zu dieser Vollkommenheit nicht gebracht haben, und so wie wir die christliche Welt vor uns sehen, mögen wir wol sagen, daß keiner es dahin gebracht hat; aber das wissen wir doch auch, wie leicht wir uns in dieser Beziehung täuschen, wie leicht das Unvollkommene, was in uns ist, uns entgeht, und so geschieht es denn häufig, daß die Menschen glauben, sich in diesem Zustande zu befinden. Ist das nun der Fall, halten sie sich in allen ihren innersten Bewegungen für völlig rein: so sind sie dann in dem Zustande ihrer Meinung nach, daß sie ihren eigenen Geist und die Wirkung des göttlichen Geistes in ihnen nicht mehr unterscheiden können, und dann ist die natürliche Folge, daß sie, was sie sind und haben, sich selbst zuschreiben. Wenn wir ihnen also in dieser Beziehung helfen wollen: so geschieht es nicht dadurch, daß wir ihnen entgegentreten als solche, die ein strenges und hartes Urtheil fällen, nicht so, daß wir sie darstellen als solche, die Christum verleugnen; sondern nur, indem wir ihnen zeigen, daß sie sich in jenem vermeintlichen Zustande noch nicht befinden, wenn wir ihr Gewissen schärfen, und die Unvollkommenheit ihrer Handlungsweise und Denkungsart ihnen nachweisen. Dann werden sie finden, daß sie noch der Hülfe dessen bedürfen, durch den sie ja nicht leugnen | können, so weit gekommen zu sein als sie sind, und so wird es dann immer mehr dahin kommen, daß wir,

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wie die Jünger des Herrn es thaten, Alles, was wir thun und haben, nur allein dem zuschreiben, von dem wir es empfangen haben. Aber nun lasset uns zweitens sehen auf die Wirkung ihrer Predigt und ihrer Thaten. Da wird uns gesagt, daß die Einen daraus, was Alles in dem Namen Jesu geschah und ihm zugeschrieben wurde, geschlossen hätten, er sei Elias, Andere er sei ein Prophet, noch Andere er sei Einer von den Propheten. Dieses scheint uns, wie auf der einen Seite sehr unzureichend, so auf der anderen wenig von einander verschieden; aber es ist doch ein Unterschied darin. Um den zu erkennen, müssen wir aber zurückgehen auf die Denkungsart der damaligen Zeit, wiewol nur so weit, als wir sie aus den Schriften des Neuen Bundes kennen. Nämlich die Zeitgenossen des Erlösers unter seinem Volke waren voll von der Erwartung dessen, der da kommen solle, von dem die Propheten geweissagt hatten. Es war aber geschlossen worden aus allerlei Stellen des Alten Bundes, daß der Prophet Elias ihm werde vorangehen, daß dieser kommen würde, ihm Bahn zu machen und ihn zu verkündigen, und ebenso wurden auch andere Propheten genannt, die wieder erscheinen würden vor dem Erlöser her. Diejenigen nun, die da sagten, er sei Elias oder der Propheten Einer, d. h. von den früher da gewesenen Propheten, die sahen ihn also an als Einen, der dem Messias vorangehen sollte; diejenigen aber, welche sagten, er sei ein Prophet, die dachten an eine solche Beziehung nicht, sondern hielten ihn nur für Einen, der mit denselben göttlichen Gaben ausgerüstet war, welche früher die Propheten hatten, für einen von Gott gesandten Lehrer, wie es Nikodemus that, als er zu ihm kam und zu ihm sagte, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott | gekommen. Der hatte die Meinung, er sei ein Prophet. Fragen wir uns nun, welches von beiden war denn wol, beides allerdings ungenügend, aber welches von beiden war denn wol das Richtigere, was am Meisten noch hätte können dazu beitragen, die Menschen zu der richtigen Erkenntnis Christi zu bringen? Das Eine war ein Natürliches, das Andere war ein Wunderbares. Nämlich natürlich war ja wol dieses, Jesus von Nazareth für einen Propheten zu halten. Solche hatte es in früherer Zeit viele gegeben; lange Zeit hatte man darüber getrauert, daß die prophetische Stimme verstummt sei, und daß der Herr nicht mehr solche Männer unter seinem Volke ausrüste. Nun also Einen, der sich so darstellte wie der Erlöser, für einen solchen zu halten, das war das Natürliche. Aber wenn sie glaubten, er sei Einer, der schon früher gelebt habe, und nun in das Leben zurückgekehrt sei: so war das das Wunderbare. Nun sind wir nur gar zu sehr geneigt, dem Letzteren einen Vorzug einzuräumen und zu meinen, wenn die Menschen in Christo ein solches erkennen, so seien sie auf dem besseren Wege. Daß sich das 13–16 Vgl. Mal 3,1.23f; auch Sir 48,1–12, bes. 10; vgl. Mt 11,10 16–17 Mose (vgl. Dtn 18,15; Mt 17,3; Mk 9,4; Lk 9,33); Jeremia (vgl. Mt 16,14); auch Esra, Henoch u. a. 23–24 Vgl. Joh 3,1f 24–25 Joh 3,2

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nicht so verhält, das können wir hier sehen. Denn die, welche in Christo einen Propheten zu sehen glaubten, den Gott gesandt, wie früher Andere, die mußten sich doch aufgefordert fühlen, auf seine Lehre und Worte zu merken; denn das war ja der Zweck, zu welchem Gott die Propheten sandte; und so sehen wir es denn auch an dem Nikodemus, der ja deshalb zu Christo kam, um sich seine Lehre noch mehr auseinandersetzen zu lassen. Diejenigen aber, welche glaubten, er sei Elias oder ein Anderer der früheren Propheten, die hielten ihn nur für einen Solchen, der dem Erlöser voranging, und dadurch wurden sie mehr von ihm abgewendet, als zu ihm hingeführt, ihre Ungeduld wurde nur rege gemacht, daß der bald kommen möchte, welchem dieser voranging. Und womit hing denn dieses zusammen? Unstreitig damit, daß sie unter dem Messias sich Einen dachten, der die äußere Herr|lichkeit des Volkes wiederherstellen sollte. Daß das nicht die Art des Jesus von Nazareth sei, das hatten sie schon erkannt, und darum hielten sie ihn nicht für den Messias; aber daß er ihm vorhergehen könnte, das glaubten sie wol. Also das hing eben mit ihren irdischen Gesinnungen zusammen; wogegen die Anderen bald einsehen mußten, das sei der eigentliche Kern seiner Lehre, daß er verkündigte, das sei der Wille Gottes, daß sie an ihn glaubten als den, den er gesandt habe. So waren also diese doch auf dem richtigeren und besseren Wege; und so bewährt sich denn auch hier die Wahrheit jenes Ausspruches, den der Erlöser an das Ende einer Gleichnißrede stellt, wo er sagt, das hülfe den Menschen nicht, wenn Einer von den Todten auferstände, und zu ihnen gesandt würde; sie haben genug, um das, was Gott von ihnen verlangt, zu erkennen, und brauchten solcher übernatürlichen Belehrung nicht. Die da glaubten, er sei von den Todten auferstanden, die hatten am Wenigsten von ihm und wurden nicht zum Glauben geführt; die aber ein göttliches Wort von ihm zu vernehmen sich bewußt waren, wenn sie ihn auch nur für einen Lehrer hielten, die konnten viel eher zu dem rechten Glauben an ihn geführt werden. Aber was sollen wir nun weiter sagen, m. a. Fr., wenn ein bedeutender Theil dessen, was wir gelesen haben, sich mit einer Geschichte beschäftigt, die so wenig unmittelbar zusammenhängt mit dem Inhalt unseres Evangeliums? Was hat die Art und Weise, welche der Evangelist so ausführlich erzählt, wie Johannes der Täufer das Ende seines Lebens gefunden habe, was hat die mit unserem Verhältniß zu dem Erlöser, mit seiner Person, mit seiner Wirksamkeit zu thun? So wenige Blätter sind es, welche der Geschichte von ihm gewidmet sind, und einen so großen Raum nimmt diese Erzählung ein? | Wir können daraus nur sehen, daß diese Bücher nicht so gemacht sind, wie wir es uns gar leicht denken, und daß auch hier sich bewähret, daß unsere Gedanken nicht die des Herrn sind. Denn wenn wir unserem eigenen Gefühl folgen: so würde gewiß jeder sagen, daß es uns besser sein würde, wenn 5–6 Vgl. Joh 3,1–21, bes. 4.9

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dieser Raum ausgefüllt wäre mit etwas aus dem Leben des Erlösers statt mit solcher Geschichte, die uns mit Grausen erfüllt, die mit dem, was wir in der Schrift suchen, nicht unmittelbar zusammenhängt. Es muß aber doch so gut sein, weil es so ist. Was wir aber doch aus dieser Geschichte herausnehmen wollen, um dabei stehen zu bleiben, das ist etwas, wovon wir sagen müssen, daß es sich leider bei manchen Christen auch noch findet, ohnerachtet unser Gewissen darüber erleuchteter sein sollte, als es in der damaligen Zeit der Fall war. Nämlich es wird erzählt, wie Herodes der Tochter seiner Gemahlin verheißen habe, ihr zu geben, was sie verlange, bis auf die Hälfte seines Königreichs, und daß er dabei einen Eid geschworen. Als sie nun das Haupt des Johannes forderte: da betrübte das den König; aber er meinte doch, er dürfe seinen Eid nicht brechen, damit die, welche an der Tafel saßen, nicht eine solche Vorstellung von ihm bekämen, daß seine Versprechungen und seine Schwüre nichts wären. Wovon ich nun meine, daß es unter den Christen sich noch finde, wie es mir denn in der Führung meines Amtes oft genug vorgekommen ist, das ist dieses, daß Viele, wenn sie auf eine unbesonnene Weise irgend etwas Gott gelobt oder durch einen Eid bekräftiget haben, daß sie es thun wollen, hernach aber sie einsehen, daß es nicht recht sei, sich nun doch an ihr Gelübde gebunden glauben. Solches sollte nicht mehr eine Verwirrung der Gedanken unter Christen sein; aber sie findet sich doch noch häufig, und da wir hier ein solches Beispiel haben: so wird es gut sein, mit wenigen Worten der Sache auf den Grund zu gehen. Zweierlei ist hier zu bedenken; nämlich ein|mal, wenn Einer etwas, was er beschlossen hat zu thun, dadurch daß er es zu einem Gelübde macht oder es mit einem Eid bekräftigt, zu befestigen glaubt: was thut er anders, als daß er den Namen Gottes unnützlich führet? also die ganze Handlung ist schon an sich eine Verletzung des göttlichen Gebots; aber jeder sollte sich im voraus dagegen verwahren durch das Bewußtsein der Schwäche der menschlichen Einsicht. Wenn wir entschlossen sind etwas zu thun, nachdem wir geprüft haben, und glauben, daß es das Rechte ist: so müssen wir unserm Entschlusse auch die Festigkeit zutrauen, daß die Ausführung nicht dahinter zurückbleiben werde; wenn wir aber glauben, die Festigkeit zu erlangen, indem wir es als ein Gelübde oder einen Schwur aussprechen: so thun wir nichts Anderes, als daß wir glauben, das Recht durch ein Unrecht zu befestigen. Aber daß wir uns dagegen verwahren sollen, meine ich so. Wenn wir etwas für recht halten und darüber etwas festsetzen, was in unserem täglichen Leben vorkommt, was zu unserer Pflicht gehört: so wird das niemand durch einen Eid wollen befestigen, sondern nur so etwas, in Beziehung worauf Einer sich mißtraut. Mißtrauen wir nun der Stärke unseres Willens, daß wir das nicht würden ausführen können, was wir gewollt in einem bestimmten Augen26–27 Vgl. die Formulierung des Gebots Ex 20,7; Dtn 5,11 in Luthers Kleinem Katechismus (BSLK, S. 508)

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blick: so dürfen wir gar nicht glauben, daß wir durch eine Handlung, die dem Gebote Gottes und des Erlösers, – denn der hat das ausdrücklich bestätigt, – widerspricht, einen Zuwachs in der Kraft zum Guten erlangen könnten; mißtrauen wir aber unserer Einsicht und denken, wir könnten in der Folge etwas Anderes für besser halten: so binden wir uns ja selbst an das Unvollkommenere. Auf jeden Fall also ist das ein Irrthum, der dem Christen sehr übel ansteht, und hat jemand ein solches Unrecht begangen und sich gebunden an etwas, wovon er hernach glaubt, daß es unrecht sei: wie kann der glauben, daß es Gott angenehm sei, wenn er das, was er als unrecht erkannt hat, doch thut, nur | darum, weil er es so befestigt hat, wie er es nicht gesollt hätte. Darum ist das ein Wahn, der unter den Christen verschwinden muß; aber das wird nur dann geschehen, wenn wir dem ersten Gebot folgen und den Namen Gottes nicht unnütz gebrauchen; sondern für jede Erleuchtung, die uns noch kommen kann, uns offen erhalten und nicht im voraus uns dagegen verschließen. Aber Herodes wie wenig hätte doch der gebraucht in Verlegenheit zu sein, wie wenig war das sein Fall, daß er den Eid gebrochen hätte, wenn er die frevelhafte und strafwürdige Bitte hätte zurückgewiesen. Hätte er nicht sagen können und sollen, du verlangst mehr als mein Königreich; denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Wenn ich mein Versprechen nicht halte: so thue ich es, weil ich weiß, daß das, was du forderst, in der Macht nicht liegt, die mir von Gott gegeben ist. Aber freilich das fiel ihm deswegen nicht ein, weil es in dem Geist der Zeit lag, dem Herrscher eine solche Macht zuzuschreiben; und so bekommen wir freilich durch diese Geschichte aufs Neue ein inneres Grauen gegen einen solchen Zustand der Dinge, wie er damals war, wo ein solcher Herrscher, wie dieser war, glauben konnte, daß es ihm frei stehe, ein Menschenleben zu opfern, um sein Wort zu lösen. Aber wir sehen auch zugleich, welcher Verwirrung ein solches Gemüth hingegeben ist, und wie sich hiermit auf der anderen Seite der größeste Aberglaube vereinigt. Wenn wir uns den Mann denken, der hier dieses thut um eines solchen Wohlgefallens willen, wie ihm der Tanz des Mädchens verursachte, daß er einen Eidschwur that und diesen so ausdehnte, wenn wir uns diesen Mann denken, wie er nachher sagt, als er von den Thaten der Jünger hörte, das müsse wol der auferstandene Johannes sein: so ist 16 gebraucht ... zu sein] gebraucht ... sein ; vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1048 2–3 Einen ausdrücklichen Bezug Jesu auf das Gebot Ex 20,7; Dtn 5,11 gibt es nicht; Schleiermacher bezieht sich sehr wahrscheinlich auf Mt 5,17–19. 12–13 In der lutherischen Tradition der Zehn Gebote handelt es sich um das zweite, in der reformierten um das dritte Gebot; „dem ersten Gebot folgen“ heißt also wohl so viel wie ‚dem folgen, was hier zuerst oder als erstes geboten ist‘. 19–20 Vgl. Mt 16,26; ferner Mk 8,36; Lk 9,25

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das in der That das höchste Maß von Verwirrung der menschlichen Seele; denn wie leicht konnte er doch das wissen, daß Jesus lange mit Johannes | gewirkt, wenn auch sein Name erst vor Kurzem vor seine Ohren gekommen war. Geglaubt kann er das kaum haben; ist es aber ein Scherz gewesen, den er sich machte, wie wir ihm das wol zutrauen können: so sehen wir eben, wie sich der größeste Frevel und der furchtbarste Leichtsinn mit solchem Aberglauben an den Schwur, den er gethan, und den er kein Recht hatte, weder zu thun noch so auszulegen, wol mit einander verträgt. Darum nun lasset uns zufrieden sein, daß ein solcher Zustand wenigstens nicht mehr auf solche Weise wie damals Statt finden kann. Wenn wir auch zu den Zeiten nach der Erscheinung des Erlösers und unter den Völkern, die sich zu seinem Namen bekennen, allerdings noch häufig genug solche Willkühr finden mit solchem Aberglauben verbunden, wie es hier war: so finden wir doch dagegen eine volle, kräftige Stimme verbreitet, und es ist nicht mehr möglich, daß das geschehen könne ohne einen allgemeinen Widerwillen, ohne das Bewußtsein der Gottlosigkeit, die darin liegt, zu erregen. Das ist aber der wahre Unterschied zwischen unseren Zeiten und jenen. Denn das ist freilich wahr, und wir müssen es zugeben denen, die auf alle Weise die Verdienste des Erlösers zu verringern suchen, daß unter christlichen Völkern dieselben Frevel begangen sind wie früher; aber das innere Gefühl der Menschen ist doch dabei ein ganz anderes gewesen, und wenn auch äußerlich noch dasselbe geschieht: so gibt es dann doch eine innere Wahrheit, die Allen denen einwohnen muß, welche sich wenn auch nur auf äußere Weise zu dem Namen Christi bekennen. Da ist keiner, der das lobt, keiner, der es billigte oder auch nur dabei gleichgültig bliebe, und so von innen heraus muß alle wahre Vervollkommnung anfangen. Wir wollen uns also daran halten und unsern Glauben stärken, daß wir sehen, wie weit innerlich der Zustand der Menschen fortgeschritten ist, und wollen der Zuversicht leben, daß auch immer mehr in allen seinen äußeren Erscheinungen | das menschliche Leben dem werde nahe kommen, was innerlich unser von dem Geist Gottes erleuchtetes Gewissen fordert, daß dem, der uns zuerst geliebt hat, auch unser ganzes Leben geweiht sei, und auf diese Weise der Name des Herrn immer mehr verherrlicht werde und immer mehr den Ruhm und den Preis gewinne, der ihm gebührt. Amen. Lied 6.

31–32 Vgl. 1Joh 4,19 35 Die einzige Strophe von Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 6 (Melodie von „Nun lob, mein Seel, den Herren“) lautet: „Dein Name werd erhoben, Gott, Vater der Barmherzigkeit! Du, der mir stets von oben auf meine Bitte Kraft verleiht! Mein Wollen und Vollbringen kommt, Höchster, nur von dir; o send in allen Dingen auch ferner Hülfe mir, daß ich das Meine thue im Namen Jesu Christ, bis deines Volkes Ruhe mein Theil auf ewig ist.“

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Am 30. September 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

15. Sonntag nach Trinitatis (Erntedank), 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 6,31 (Anlehnung an die Sonntagsperikope Mt 6,24–34) Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 39–58, Nr. III SW II/3, 1835, S. 376–388; 21843, S. 389–401. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 427–437 Keine Keine

Am Erndtefeste 1832.

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Lied 661. 848.

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Text. Ev. Matth. VI, 31. „Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: was werden wir essen? was werden wir trinken? womit werden wir uns kleiden?“ Diese Worte des Erlösers, m. chr. Z., scheinen in einem sehr auffallenden Widerspruch zu stehen mit dem freudigen Dankfeste, welches wir an dem heutigen Tage mit allen unsern Mitbürgern begehen. Dieses große und wichtige Geschäft, die Erde zu bauen und ihr die Früchte zu entlokken, die zu dem Bestehen des Menschen nothwendig sind: ist es denn etwas anderes als die Sorge darum, was wir essen werden, was trinken und womit uns kleiden? und gerade diese verbietet der Herr seinen Jüngern in den Worten, die wir eben vernommen haben. Wenn wir nun freilich sagen wollten, diese Worte erstrekken sich | auf noch weit mehreres; was unsern heutigen Tag trifft, ist mehr nur das Beispiel, welches der Erlöser anführt, aber es ist die Sorge überhaupt, die er seinen Jüngern untersagen will: so hat das allerdings einen Schein für sich, und müßte uns noch viel weiter führen; aber so 10 sind:] so auch SW II/3, S. 376; Textzeuge: sind; 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 661: „Nun Lob den Herrn, o Seele“ (in eigener Melodie bzw. Melodie von „Nun lob, mein’ Seel’, den Herren“); Nr. 848: „Wir Alle, Gott und Vater! bringen“ (Melodie von „Wie groß ist des Allmächt’gen Güte“)

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weit, daß uns dann ein großer Theil auch dessen, was noch wichtiger, edler und größer ist, ja sich unmittelbar auf das Reich Gottes bezieht, untersagt bliebe. Verstehen wir unter der Sorge alle Gedanken an die Zukunft, allen Antheil, den sie an unsern Entschlüssen und Handlungen hat, und denken dann, daß der Erlöser sie uns untersagen will: so könnten wir leicht dahin kommen, daß es unter den Menschen auch nichts geben solle, was Ordnung und Gesez ist, denn das alles hat eben so sehr ja weit mehr die Zukunft im Auge als den gegenwärtigen Augenblikk, – daß es keine Erziehung und Ausbildung des heranwachsenden menschlichen Geschlechts geben dürfe, denn wer hätte dabei nicht die Zukunft im Auge und auf dem Herzen? Vereinigen wir uns aber sehr leicht darüber, daß wir uns solcher Gedanken entschlagen müssen bei den Worten des Erlösers: so werden wir um so mehr festgehalten bei dem Gegenstand unserer heutigen Feier. Es ist die Sorge um das irdische Bestehen, welche den Gegenstand der heutigen Feier ausmacht, und diese ist es gerade, welche der Erlöser ganz deutlich und unumwunden seinen Jüngern untersagt. So lasset uns denn sehen, m. a. Fr., wie wir den Gegenstand unserer heutigen Feier in Uebereinstimmung bringen können mit diesem Verbot des Erlösers. | 41

I. Das erste, was wir dabei zu bedenken haben, ist gewiß dies. Die Sorge ist allemal etwas eigennüziges und selbstsüchtiges; verbietet sie uns also der Erlöser, so verlangt er, daß wir auch dies große Geschäft, für dessen Gelingen heute Gott unser Dank dargebracht wird, nicht jeder auf sich selbst beziehen sollen, sondern etwas anderes und größeres dabei im Auge haben. Aber was? m. g. Z. Wenige Menschen sind wohl so engherzig und zugleich auf ein so geringes Maaß von Sorge so wie von Thätigkeit beschränkt, daß sie nur an sich selbst, nur an ihr einzelnes Leben zu denken hätten! Wer sorgt, auch für Essen für Trinken für Kleidung, der hat dabei auch die Seinigen, seien es nun viele oder wenige, im Sinn: aber diese, sind sie nicht unser Fleisch und Blut näher oder entfernter? sind sie nicht ein Theil unsers eigenen Lebens? fühlen wir uns nicht auf tausenderlei Weise von ihnen abhängig, und beziehen deswegen auch ihr Sein und Wohlsein doch wieder auf uns selbst? Auch das also ist nichts weiter als die Sorge, welche der Erlöser den Seinigen untersagt. Aber Viele unter uns werden sich noch erinnern – denn Menschengedenken ist ja darüber noch nicht hingegangen – daß es eine Zeit gab, wo sehr Viele, ja wir dürfen 37–3 Das Edikt zur Bauernbefreiung vom 9. Oktober 1807 hatte in Preußen die Erbuntertänigkeit der Bauern abgeschafft und ihnen die Freiheit der Person garantiert.

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sagen der größte Theil derer, welche unmittelbar dies große und wichtige Geschäft zu betreiben haben, gar nicht einmal für sich selbst und die Seinigen arbeiten konnte, sondern für Andere; aber diese Zeiten, Keiner unter uns wird sie zurükkwünschen! Denn wenn unsere Sorge für Andere, unsere Thätigkeit für Andere auf solche Weise in Widerspruch | tritt mit dieser natürlichen Sorge für uns selbst: welche Verwirrungen entstehen daraus im menschlichen Leben! Ja wir dürfen nur gerade hieran denken, um uns recht fest zu überzeugen, wie eben aus der Eigennüzigkeit und aus der Selbstsucht, welche der Sorge einwohnt, wir dürfen wohl sagen bei weitem der größte Theil alles Unfriedens auf Erden entsteht. Arbeitet der Mensch für sich selbst, aber er hat keine Sicherheit dabei so viel zu gewinnen, daß er die Frage, was werden wir essen, was trinken, womit uns kleiden, auf eine freudige Weise beantworten kann; oder arbeitet er für Andere, und sieht, wie sie bei weitem den größten Theil von seiner Arbeit und seinem Schweiß auf ihr Wohlsein und Wohlbehagen verwenden können: in beiden Fällen sieht er scheel auf Andere und mit Bedauern auf sich selbst, und Alles, was auf diese Weise Quelle des menschlichen Elends wird, das Alles hat seinen Grund und seine erste Quelle in der Selbstsüchtigkeit der Sorge. Andere nicht, weder die Einen noch die Andern sind es, für welche wir sorgen sollen, eben so wenig als für uns selbst; sondern an die Stelle der Sorge soll in dieser Beziehung etwas anderes und größeres treten. Es ist der Gemeingeist, welcher die Stelle der Sorge einnehmen soll und unsere Thätigkeit in diesem wie in allen andern Geschäften leiten. Ich sage, in allen andern: denn es ist ein schönes und großes Wort in unserer Sprache, daß wir ein jedes Geschäft, insofern Einer die Erhaltung seines irdischen Lebens darauf baut, das Aufhören der Sorge und die Sicherheit seines Daseins davon erwartet, daß wir insofern ein jedes den Akker und Pflug des Menschen nennen. Und mit Recht; denn was auch Jeder in der Gesellschaft thue | und treibe: wie genau steht es nicht alles mit diesem ersten, wozu Gott den Menschen berufen hat, mit der Anbauung der Erde in Verbindung! das alles werde daher auch getrieben nicht aus der Sorge, sondern aus dem Geist der Gemeinschaft. Dieses Wort, wie weit, m. a. Fr., führt es uns? Wenn wir bedenken, was Gott an uns gethan hat, damit wir fähig werden auf diese Weise alle unsere Thätigkeiten aus dem Gemeingeist herzuleiten, sie durch ihn lenken und bestimmen zu lassen: gewiß, die ganze Fülle seiner Wohlthaten, seiner höchsten und erhabensten, muß uns dann in das Gedächtniß kommen! Nur da kann es solchen Gemeinsinn und Gemeingeist geben, wo es ein heiliges Band der Ordnung und des Rechts unter den Menschen giebt und 31–32 Vgl. Gen 2,15

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wo dies sich zugleich auf eine natürliche Zusammengehörigkeit der so verbundenen gründet. So entsteht ein kleines Ganze, welches sich auf mannigfaltige Weise im Verlauf der Zeiten erweitert. Und lange haben wir sie hinter uns, jene traurigen Zeiten des menschlichen Geschlechts, wo jedes kleinere Ganze dieser Art immer nur feindselig, immer nur eigennüzig jedem andern entgegentrat. O wie schön und herrlich sind überall unter uns in diesem gesitteten Theil der Welt, schon seit langer Zeit diese kleinern und größern Ganzen zu einem noch größern verschlungen; wie bestimmt fühlen sie es und wissen sie es, daß nirgend das Wohlsein, nirgend die gute Ordnung, nirgend auch der innere Frieden gestört werden kann, ohne daß dies überall gefühlt und überall der natürliche Gang der menschlichen Dinge dadurch unterbrochen werde. Aber freilich, was diesen Kreis erst ganz erschlossen und uns seinen ganzen Umfang hat erkennen lassen, was unser gei|stiges Auge erst völlig geöffnet und unserm Herzen den ganzen Gegenstand der Liebe und Theilnahme gezeigt hat, das ist doch nur das Evangelium des Herrn, nur die Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, die gar keine Grenzen kennt, nicht mehr auf eine besondere irdische Zusammengehörigkeit, nicht auf eine solche Zahl beschränkt ist, über welche hinaus Recht und Ordnung nicht mehr festgehalten werden kann! Und wie kommen wir dem großen Ziele immer näher von einem Zeitraum zum andern, bestimmt das ganze menschliche Geschlecht zu umfassen! Das ist der Gegenstand unserer Liebe und unserer Thätigkeit, und eben dieser Gemeingeist, diese Liebe zu dem ganzen Geschlecht der Menschen, dies Mitempfinden seines wahren Wohls, diese Geschäftigkeit für dasselbe, diese freudige Stimmung soll an die Stelle der Sorge treten, und dieser Geist soll uns leiten und treiben auch in dem großen und so bedeutenden Theil des menschlichen Lebens, auf welchen sich der heutige Tag bezieht. Aber, m. a. Fr., hat uns Gott der Herr, wie wir es ihm ja nicht genug verdanken können, in dieses himmlische Licht gestellt, hat er uns für diese Tage aufgespart, wo das Leben des Menschen so reich sein kann, sein Herz so erfüllt, wo ihm nie ein Gefühl der Leere kommen kann, wenn sie nicht aus dem Verderben seines eigenen Wesens entspringt; hat er so viel an uns gethan und wir fühlen uns aufgeregt zum Dank gegen ihn: was können wir denn und was sollen wir als den natürlichen Dank ansehen, den wir ihm darzubringen haben, als daß eben dies, was wir seiner göttlichen Vorsehung verdanken, nun auch der Gegenstand unserer Thätigkeit werde, um auch durch uns im|mer mehr seinem Ziel entgegen zu rükken. Sind es zunächst die heiligen Bande des Rechts und der Ordnung, welche die Arbeit des Menschen an dem Boden dieser Erde, die ihn trägt und nährt, zu einem seiner würdigen Geschäfte machen: o so lasset uns alle unsere

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Kräfte daran wenden, daß diese heiligen Bande unter uns nicht durch unsere Schuld gelöst, sondern immer mehr befestigt werden. Aber sind wir nicht nur ein Volk, würdig, daß Gesez und Ordnung unter demselben wohnen, würdig, daß es von der gemeinsamen Weisheit des Ganzen geleitet werde und bewahrt, sondern zugleich ein solches, welches zu der höchsten Würde des Menschen erhoben ist, indem es zu dem königlichen Priesterthum gehört, welches der Sohn Gottes auf Erden gestiftet hat; sind wir eben durch ihn, der sich selbst nicht für dies oder jenes bestimmte Volk oder um eine abgesondert bleibende Gemeinschaft zu stiften, sondern für alle Menschen gegeben hat, auch zu der Liebe gegen alle Menschen berufen, deren würdigstes Ziel immer wieder dieses bleibt, sie ihm und seiner Liebe zuzuführen: o wohlan! so lasset nun dieses die einzige Sorge werden die uns treibt, laßt uns dies als das reinste Opfer des Dankes ansehen, den wir Gott darbringen können, wenn wir auch mit unsern irdischen Gütern und unserer sich immer mehr befestigenden Herrschaft über die Erde ganz dieser heiligen Gemeinschaft angehören, und sie auf alle Weise zu pflegen und zu fördern suchen, sofern sie alles in sich enthält und von ihr alles ausgeht, was Speise und Trank und würdige Bekleidung des geistigen Lebens der Menschen ist. Das darf nicht nur, sondern soll der Gegenstand unserer Sorge werden, indem der Herr die leibliche uns untersagt, | und nur um jener leben zu können will er uns von dieser befreien. Denn ist das einige Gebot, welches er seinen Jüngern gegeben, daß sie sich untereinander lieben sollen mit der Liebe, mit welcher er sie geliebt hat: schließt es nicht dieses in sich, daß wir suchen sollen immer mehrere zum Genuß dieser Liebe zu bringen, auf daß wo möglich niemand durch seine Stellung zu den irdischen Dingen durch Drukk und Noth verhindert werde, sich seiner geistigen Güter zu erfreuen, sondern jeder hinzukomme zu demselben Heil und derselben Herrlichkeit eines Gott ergebenen, Gott dankbaren Lebens? Dazu also laßt uns alles, was Gott uns von Gaben verliehen hat, mit dem rechten Maaß der Ordnung, mit dem rechten Verstand seines heiligen Willens, mit einem nie sich selbst, sondern alles was Aller ist suchenden Gemüth anwenden. II. Das zweite, m. a. Fr., was wir aus den Worten unsers Erlösers zu entnehmen haben, ist dies. Die Sorge ist wohl ein ängstlicher Zustand; und wenn der Erlöser sagt, Sorget nicht, so will Er uns in Beziehung auf unser äußeres und irdisches Bestehen ganz und gar von die6–7 Vgl. 1Petr 2,9 Phil 2,21

23–25 Vgl. Joh 13,34; auch 15,12

33–34 Vgl. 1Kor 10,24;

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sem ängstlichen Zustande befreit wissen. Wenn wir das Geschäft, dessen Gelingen die heutige Feier gewidmet ist, von seinen ersten Anfängen an begleiten: wie oft sehen wir nicht, daß es eben eine solche Aengstlichkeit in den Gemüthern der Menschen erregt! Kaum ist der Saamen dem Boden der Erde anvertraut: so schaut das Auge derer, die ihn hineingelegt haben bange und besorgt auf alle Zeichen des Himmels. Wechselt die Witterung nicht so, wie sie | meinen, daß es heilsam sei, und das Gedeihen der Früchte dadurch befördert werde: so bemächtigt sich schon Unzufriedenheit gar vieler Gemüther, und Sonnenschein und Wolken, Regen und Sturm, heiterer und bedekkter Himmel, alles wie es wechselt giebt ihnen in diesem Wechsel vielfältige Ursache zu murrendem Tadel zu trübender und ängstlicher Sorge. Denken wir uns nun gar diesen Zustand nicht als einen zufälligen bald vorübergehenden, sondern daß er sich mehr oder weniger im Leben geltend macht: wie wahr, wie wohlthätig und wichtig muß uns dann die Vorschrift des Erlösers erscheinen, daß wir nicht sorgen sollen! Alles was den Menschen herabwürdigt unter die Stelle, die ihm Gott in diesem Leben bestimmt hat, nämlich ein Herr zu sein auf der Erde, alles feigherzige in seinem Handeln und Wirken, alles hoffnungslose und niedergedrükkte in seinem innern Zustande, da doch wie sein Auge so auch sein Gemüth immer gen Himmel gehoben sein soll, das alles geht aus von diesem ängstlichen Zustand der Sorge. Wohlan, wir sollen nicht sorgen in diesem großen Geschäfte, und eben so wenig in allem was mit demselben näher oder entfernter zusammenhängt, wir sollen dies und alles andere der Art treiben in einer freudigen und frischen Zuversicht; aber in welcher? m. a. Fr. Es gilt hier keine andere als die Zuversicht auf die Uebereinstimmung, welche Gott geordnet hat zwischen der Thätigkeit des Menschen und den großen Gesezen der Natur. Nicht umsonst steht es geschrieben, daß der Herr diese Erde, und alles was außer ihr sich auf sie bezieht, eher geschaffen hatte und geordnet; und nachdem er das alles vollbracht, da schuf er den Menschen, der dies alles bedurfte und für den es sein | sollte, auf daß er nun Herr sei auf Erden; aber er schuf ihn zugleich zu seinem Bilde, und beides gehört wesentlich zusammen. Denn Gott ist der Herr, und wir können nicht seines Bildes theilhaftig sein, ohne auch seiner Herrschaft theilhaftig zu sein, die so wesentlich zu ihm gehört, daß er nicht gedacht werden kann ohne Herrschaft. Hätte er aber den Menschen sezen können zum Herrn der Erde, wenn kein solcher Zusammenhang geordnet gewesen wäre zwischen der Einrichtung seines Daseins und dem Wesen der Dinge um ihn her, zwischen 5–7 Wohl Anspielung auf Mt 16,1–4; Mk 8,11 34 Vgl. Gen 1,1–30

17–19 Vgl. Gen 1,26.28

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seinen Kräften und denen die er beherrschen sollte? Dann hätte ihn ja Gott der Herr zum Spott geschaffen und nicht zu seinem Bilde! Dieser Zuversicht sollen wir immer mehr voll werden, so daß sie sich überall in unsern Handlungen um desto stärker ausspreche, je mehr wir uns schon unserer Theilnahme an dem göttlichen Leben erfreuen, und uns zum immer vollkommneren Genuß desselben reinigen und läutern. Aber wie mannigfaltig ist nicht auch schon in seinem ersten Ursprung betrachtet das Verhältniß des Menschen und seiner Kräfte zu dieser Erde und den Ordnungen der Natur auf derselben? Auf der einen Seite die reichen Gegenden, wo die Natur dem Menschen freiwillig, ohne erst seine Arbeit zu erwarten, alles giebt was zur Befriedigung seiner Bedürfnisse gehört; auf der andern finden wir ihn verschlagen an die unwirthbaren äußersten Grenzen der Erde, wo wir kaum begreifen, wie er, so wenig unterstüzt von den Kräften der Natur, auch das dürftigste Leben fristen und sicher stellen kann, so daß er entweder gleichgültig auf das Leben auch keinen Werth legt, oder wenn er daran hängt, je weniger Gewährleistung er findet für die | Sicherheit seines Fortkommens, um desto hülfloser er jener Angst hingegeben ist. So lange nun eben diese beiden entgegengesezten Zustände ohne allen Zusammenhang sind, kann auch das Leben der Menschen nicht zu seiner Vollkommenheit gedeihen. Die Freigebigkeit der Natur, wie leicht verleitet sie nicht zur Trägheit, zu einem träumenden Dasein, worin der Mensch sich seiner schönsten Kräfte kaum bewußt wird; aber ist sie zu sparsam gegen ihn, unterstüzt sie seine Mühe und Anstrengung zu wenig, eröffnet sie ihm zu wenig Aussicht, daß es ihm gelingen könne, sie sich günstiger zu machen: dann bleibt sein Dasein ein dürftiges und thatenleeres ohne irgend bedeutende Fortschreitung. Aber nur in den ersten Anfängen des menschlichen Geschlechts konnten diese entgegengesezten Zustände so abgesondert bestehen. Je mehr die Menschen mit einander in Verbindung treten, je mehr der Geist derselben gleichsam mit einem Schlage diese ganze Erde durchdringt, und sie sich gegenseitig mittheilen, was irgend im Leben einen Werth hat: um desto mehr verschwindet auch diese Abhängigkeit des Menschen von der Natur nach beiden Seiten hin, um desto mehr wächst diese frohe Zuversicht, die wir schon seit langer Zeit als unser Erbtheil rühmen können. Wie sehr bedauern wir mit Recht diejenigen, die sich auch unter uns dennoch dieser Aengstlichkeit noch nicht entschlagen können! Wie sicher könnten sie sein bei der Mannigfaltigkeit dieses großen Geschäfts, daß, möge sich der Himmel so oder anders gestalten, mögen die Wechsel des Dunstkreises so oder so auf einander folgen, das, was dem Einen nachtheilig ist, werde sich doch für einen Andern wieder günstig zeigen; und wie alles

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zufällige immer wechselt, | so hat Keiner allein den Nuzen, Keiner allein den Schaden, in der großen Gemeinschaft der Menschen gleicht sich alles gegen einander aus. Das ist die Zuversicht, welche an die Stelle jener ängstlichen Sorge treten soll, eine Zuversicht, die auf der Erfahrung so vieler Geschlechter beruht, zu unserer Zeit aber von einem Jahre fast zum andern sich steigert. Denn wahrlich wir können es uns nicht bergen, wie beides einander in die Hände arbeitet, der treue Fleiß, die sparsame Mühe, die an das einzelne und kleine in den menschlichen Dingen gewendet wird, und der glükkliche Blikk des geöffneten geistigen Auges, welches über die Erscheinung hinaus in das innere Wesen der Dinge zu dringen, und die Kräfte, die in der Erde ruhen, zu erforschen sucht. Denn was erst der Mensch kennt, wie bald tritt das jezt auch ein in den Kreis seiner Wirksamkeit, wie bald weiß er es zu benuzen zur Herrschaft über die Natur. Ja wieviel reicher ist unser Leben seit kurzem geworden an solchen Erfindungen, und wie sehen wir fast jedes Jahr unsere Hülfsmittel sich erweitern auf diesem Wege der Erkenntniß der Natur. Aber wenn wir nun dieser frohen Zuversicht leben können, und wir so begründete Ursach haben uns ihr hinzugeben, daß nur die zaghaftesten oder am wenigsten vom Licht der Erkenntniß erleuchteten Gemüther sich in Beziehung auf diesen großen Beruf auch jezt noch der Aengstlichkeit und Sorge hingeben können: welch einen Dank haben wir Gott darzubringen, wenn nicht den, daß wir suchen eben die von der Aengstlichkeit und Sorge zu befreien, welche derselben noch unterliegen? Das heißt aber zunächst nichts anders als dies, daß wir uns alle solche Einrichtungen vornehmlich angelegen sein lassen, | wodurch die Menschen sich einander die Gewähr leisten, daß, wie es in unserer heutigen epistolischen Lection heißt1, Einer des Andern Last tragen will. Und thun wir das nicht bloß vermöge unserer erweiterten Einsicht von dem, was einem Jeden selbst am meisten frommt und nüzlich ist; sondern ist es zugleich, wie es unter uns als Christen nicht anders sein kann, das Werk der Liebe: o welch ein Zuwachs an menschlicher Glükkseligkeit und Wohlbefinden ist nicht auf diesem Wege zu erreichen! Ist nun darin schon viel geschehen, daß wir uns gegenseitig sicher stellen gegen die 1

Gal. 6, 2.

14–15 Seit 1824 gab es im preußischen Oderland die Königliche Akademie des Landbaus. Sie ging zurück auf eine 1807 von dem Arzt und preußischen Staatsrat Albrecht Thaer (1752–1828) gegründete landwirtschaftliche Lehranstalt, deren Ziel es war, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Arbeitsweisen für die Agrarökonomie fruchtbar zu machen, wofür Thaer selbst in zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen bahnbrechende Beiträge geliefert hatte. 27–28 Als Epistellesung für den 15. Sonntag nach Trinitatis sah die Perikopenordnung Gal 5,25–6,10 vor.

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Nachtheile, welche die großen Erscheinungen der Natur oft dem Menschen bringen: so ist doch noch gar viel zu leisten übrig, wenn auf dieselbe Weise auch die allzugroße Ungleichheit in den Erfolgen, indem die Mühen der Einen oft über die Gebühr belohnt werden, und die der Andern gleichsam verspottet, so ausgeglichen werden sollen, daß keiner mehr auf sich selbst allein gewiesen ist, sondern Jeder an dem gemeinsamen Erfolge Aller seine Stüze hat. Das sei unser Bestreben, das wird dann zugleich eben jenen Gemeingeist, der uns in allen irdischen Geschäften erheben soll, immer erhöhen und nur immer fester den Zusammenhang gründen zwischen dem irdischen Theil unsers Bestehens und dem höhern geistigen Leben, welches allein die Quelle der wahren Liebe ist. III. Allein, m. a. Fr., es ist noch ein drittes, was wir aus den Worten unsers Erlösers zu entnehmen haben. | Wenn Er sagt, Sorget nicht, was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? so hat Er das eben auch so gemeint, fraget nicht, was ihr essen werdet, was trinken, womit euch kleiden! und hat uns besonders dadurch hingeführt auf die Genußsüchtigkeit, die sich immer da zeigt, wo die Sorge herrschend ist, deren sich seine Jünger vorzüglich enthalten sollen. Das ist eine allgemeine Erfahrung, und traurig genug ist sie. Je mehr die Menschen bei ihrer irdischen Thätigkeit von der Selbstsucht ausgehen und sie nur persönlich betreiben, je mehr sie daher ängstlich sind und verzagt, so lange sie es noch nicht zu einer gewissen Herrschaft über die Natur gebracht haben: um desto sicherer entsteht, wenn sie einen solchen Grund zu ihrem Wohlergehen gelegt haben, daß wir erwarten dürfen die Sorgenfreiheit werde sie erheben, statt dessen eben dieses Bestreben, nun den noch übrigen Theil des Lebens in einen Zustand des möglichst größten sinnlichen Genusses zu verwandeln. Wie sehr dies den Menschen von seinem höhern Ziele ablenkt, wie sehr es uns auf die Vorschrift zurükkführt, die der Erlöser in demselben Zusammenhang seinen Jüngern giebt, indem Er ihnen sagt, Niemand kann zweien Herren dienen, nicht zugleich Gott und dem Mammon1, und wie Viele eben deswegen durch diese Sucht nach sinnlichem Genuß in einen unseligen Zwiespalt gerathen mit sich selbst, und zulezt doch von der reinen Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit immer mehr zurükkommen: ach, das ist eine allzu1

Matth. 6, 24.

37–38 Vgl. Joh 4,23.24

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traurige und sich zu oft wiederholende Geschichte! Und | wie? wenn wir nun an den Gegenstand unserer heutigen Feier denken, müssen wir nicht sagen, gerade das Gelingen dieser Art von menschlichen Bestrebungen, es trägt am meisten dazu bei, diese Genußsüchtigkeit, diese Richtung auf das irdische und vergängliche in dem Menschen zu nähren? Sonst fand man einen Unterschied der in der That äußerlich angesehen sehr bedeutend erschien zwischen denen, die auf eine höhere Stufe in der Gesellschaft gestellt, von einem weiteren Kreise von Besiz getragen, wegen der mannigfaltigen Verbindungen, die sie unterhalten mußten, fast genöthigt waren, sich mit einem gewissen äußern Schein zu umgeben, wir fanden, sage ich, einen großen Unterschied zwischen diesen, welche durch ihre Stellung zu einer solchen Lebensweise geführt wurden, und denen, welche noch am meisten die ursprünglichere Gestalt des Lebens beibehalten konnten, weil sie vorzüglich an diese ursprünglichsten und natürlichsten Beschäftigungen gewiesen waren. Vergleichen wir nun jenes zusammengeseztere Leben der Großen und Vornehmen mit der Einfalt, in welcher diese Kinder der Natur lebten: wie oft hat dann, wenn auch das irdische Auge geblendet war durch jenen Glanz, doch in der Stille das innere Gefühl des Herzens die lezteren glükklich gepriesen, welche in einer Lage waren, durch welche sie aus der ruhigen Einfalt des Herzens nicht hinausgetrieben wurden! Aber gerade der jezige Reichthum des Daseins, gerade die Erweiterung unserer Thätigkeit in allen Geschäften, wie sehr hat sie nicht Alle ohne Ausnahme in dieselbe Richtung auf den Genuß und das Wohlleben hineingezogen! wie finden wir nicht manche Genüsse, welche den hohem Kreisen vorbehalten waren, überall verbreitet und immer | die Begierde darnach erregt und erhalten! Und gewiß ist das nicht der kleinste Theil in dieser Vorschrift des Erlösers, daß wir nicht sorgen sollen; denn alles was die menschliche Seele verweichlicht, alles Verderben, was mit dieser Verweichlichung zusammenhängt, ist die erste und unselige Quelle desselben. Wohlan denn, m. g. Fr.! so lasset uns dies und alle damit zusammenhängende Geschäfte des irdischen Lebens nicht betreiben um des sinnlichen Genusses willen, sondern den ganzen Werth legen auf unsere pflichtmäßige Thätigkeit darin und auf ihren Ertrag für das gemeine Wohl; dann werden wir immer als Gott wohlgefällige seinen Segen empfangen und seine Gaben seinem Willen gemäß anwenden. Denn es ist doch immer der Theil der menschlichen Seele, der am meisten mit dem irdischen und vergänglichen zusammenhängt, in welchem diese Mannigfaltigkeit der sinnlichen Genüsse waltet. Der geistige Theil, vermöge dessen der Mensch des göttlichen Bildes theilhaftig ist, weiß nichts von solchem Genuß, der zeigt sich ganz und gar nur in alle dem, was Kraft ist und Thätigkeit, und das ist doch auch

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allein dasjenige, was ein jedes menschliche Leben zu einem würdigen macht. An das Bedürfniß hängt sich der Genuß an. Je mehr der Mensch durch das Bedürfniß gefangen ist, desto mehr fällt er hernach in die Schlingen des Genusses; je höher er sich zu heben weiß zu dem Verlangen nach dem Geistigen, und je mehr er dieses schmekkt, desto mehr streift er jenes ab. Dazu haben wir Alle die größte Ermunterung, wir, die wir zum geistigen Leben berufen sind, seitdem wir aus der irdischen Finsterniß des frühern Zustandes in das himmli|sche Licht gerettet wurden durch Christum unsern Herrn. O das sagt Jedem die Erfahrung eines jeden Tages, je mehr wir uns dem sinnlichen Genuß hingeben, desto mehr wird unser Eifer für gottgefällige Thätigkeit gedämpft und zurükkgehalten. Haben wir hingegen den Menschen erst dahin gebracht, daß er dem sinnlichen Genuß etwas geistiges beimische; und wissen wir dies in Zusammenhang zu bringen mit dem was unmittelbar zu seinem Heil gehört: so wird er sich immer mehr befreien von dieser Anhänglichkeit an das sinnliche; und die Thätigkeit des neugewekkten geistigen Lebens verbreitet sich dann auch bald über alles, was zu seinen irdischen Geschäften gehört. Werden wir von der Stimme geleitet, daß wir den Willen Gottes auf Erden vollbringen sollen: dann kann uns niemals etwas gering erscheinen, was zu unserm Beruf gehört; unsere irdischen Geschäfte können darunter nicht leiden. Der Mensch kann sich dagegen nicht verschließen, daß er Herr sein soll auf Erden, denn es ist der erste Beruf, den ihm Gott angewiesen; und je genauer wir mit jener Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe zusammenhängen, je mehr wir suchen diese zu erweitern und zu fördern, desto deutlicher sehen wir auch ein, daß alles was aus unserer irdischen Thätigkeit hervorgeht, ihr dienen kann, und um so mehr in ihren großen Zwekken verwandt werden wird, je mehr wir diese Vorschrift Christi befolgen, und uns nicht von der Sorge für das irdische niederdrükken lassen. Und, m. g. Fr., verweilen wir hierbei, so verstehen wir auch den Wechsel, den Gott in dies Geschäft gelegt hat. Dieses Jahr haben wir und bei weitem der größte Theil des Vaterlandes Gott zu danken für eine reichlich | gesegnete Erndte; wie oft sich auch eine Zaghaftigkeit vernehmen ließ, die auf einem ungewohnten Wechsel der Witterung beruhte, jezt wird sie fast überall als alle Erwartungen übertreffend anerkannt und gepriesen. Aber ist das der Gegenstand unserer Dankbarkeit? Unser Fest ist uns unvermeidlich geordnet für ein jedes Jahr; und kommen auch solche Jahre, wo Gott den Fleiß der Menschen nicht wie gewöhnlich gesegnet hat, ja solche, welche einen großen Theil von uns ein Recht zu geben scheinen, sich aufs neue mit Sorgen 22–24 Vgl. Gen 1,26.28

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zu quälen: wir werden doch eben so zusammengerufen zu einer Feier des Danks in diese Häuser unserer Andacht, und nicht soll dieser Dank ein anderer sein in dem einen Jahr als in dem andern. Darum lasset uns denn auch hierauf sehen. Ist der Mensch nicht zum Genuß, sondern zur Thätigkeit geschaffen: so sehen wir, daß sich diese nur entwikkelt in einem zwiefachen Verhältniß. Das eine ist dies, wenn die Umstände ihm dazu behülflich sind, daß er mit seinen Kräften viel ausrichten kann. Das ist es, m. a. Fr., wozu eine gesegnete Erndte uns auffordert. Jezt, da Gott so reichlich gesegnet hat, jezt lasset uns auf alles das Bedacht nehmen, was wir uns vorher vergegenwärtigt haben als das Gelübde unsers Dankes! Jezt lasset uns darauf denken, wie wir mittelst dieses Segens neue Fortschritte darin machen können, daß immer mehr gegenseitige Gewähr geleistet werde gegen die Noth und die Sorge, und wie wir dabei überall auf solche Weise zu verfahren haben, daß nicht der Einzelne sich dem Einzelnen verpflichtet fühle, sondern daß alle solche gegenseitige Hülfsleistung hervorgehe aus dem lebendigen christlichen und bürgerlichen Gemeingeist. Jezt lasset uns über|legen, wie wir die Gaben, womit Gott uns überschüttet hat, dazu anwenden wollen, daß wir unsere gesellschaftlichen Zustände allmählig immer mehr verbessern, um mit Gottes Hülfe dahin zu gelangen, daß in dem künftigen Geschlecht das geistige Leben noch heller gewekkt sei, damit in dieser Beziehung jedes künftige Geschlecht besser werden könne als das frühere. Kommen Jahre, wo der Herr die Mühe der Menschen nicht segnet, wo er es sie empfinden läßt, wie sie doch immer noch abhängig sind troz alles dessen, was sie schon erreicht haben von den dunkeln Kräften der Natur, wohlan! dann tritt das Zweite ein. Dann werden wir berufen von innen heraus einen neuen höheren Grad von Kräften zu entwikkeln, damit durch gemeinsame Anstrengungen, durch ein innigeres Band des Wohlwollens, durch ein stärkeres Zusammenhalten, welches vor allem ausgehen muß von der himmlischen Kraft, von der wir wissen, daß sie uns Allen einwohnt, allem gewehrt werde, was sonst nachtheiliges, den Geist niederdrükkendes, das höhere Leben hinderndes aus solchem Zustand des äußern Mangels nur allzuleicht hervorgehen kann. Wenn es solche Zeiten niemals gegeben hätte, wie hätten sich die menschlichen Kräfte so entwikkeln können, wie wir es jezt sehen? Denn je häufiger unser Zustand dem ähnlich wäre, wo die Natur dem Menschen von selbst alles giebt, dessen er bedarf: um desto weniger würde unser Wachsthum befördert werden. Darum wird der Herr auch wissen solche Zeiten zu schikken, wenn es heilsam ist; und wir wollen ihn preisen in allen diesem Wechsel, alles seiner Weisheit, die auch zugleich seine Liebe ist, anheim stellend, uns selbst aber aufs neue dem großen Zwekk weihend, zu welchem er | uns geschaffen und begnadigt hat.

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Dann werden wir in der That die Erfahrung nicht machen, welche alle die machen, welche ihre irdischen Geschäfte durch Angst und Sorge trüben, die Erfahrung, daß, wer auf das Fleisch säet, vom Fleisch das Verderben erndtet; vielmehr werden wir unser Wohlergehen auf den Geist bauen und auf diesen säen, damit wir auch dadurch, daß wir die Erde immer mehr zu einem Schauplaz ausbilden, auf welchem die Herrlichkeit Gottes erkannt werde, von dem Geiste das ewige Leben erndten. Amen. Lied 657, 4–5.

3–4 Vgl. Gal 6,8 9 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 657: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ (in eigener Melodie)

Am 7. Oktober 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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16. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 6,30–34 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 314–326, Nr. XXV; Zabel Keine Nachschrift; SN 606, Bl. 1r–5v; von Oppen Nachschrift; SAr 71, Bl. 5r–14v; Woltersdorff Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 693. Tex t . Marcus VI, 30–34. „Und die Apostel kamen zu Jesu zusammen und verkündigten ihm das Alles, und was sie gethan und gelehrt hatten. Und er sprach zu ihnen: Laßt uns besonders in eine Wüste gehen, und ruhet ein wenig. Denn ihrer waren viele, die ab- und zugingen; und hatten nicht Zeit genug zu essen. Und er fuhr da in einem Schiff zur Wüste besonders. Und das Volk sah sie wegfahren; und viele kannten ihn, und liefen daselbst hin mit einander zu Fuß aus allen Städten, und kamen ihnen zuvor und kamen zu ihm. Und Jesus ging heraus, und sah das große Volk; und es jammerte ihn derselben, denn sie waren wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Und fing an eine lange Predigt.“

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Der Zusammenhang dieser Worte mit den vorigen, m. a. Fr., war dadurch unterbrochen worden, daß der Evangelist bei Gelegenheit der wunderlichen Aeußerung des Herodes über unseren Erlöser sich in die Erzählung von dem Ende Johannes des Täufers eingelassen. Die Worte, die wir gelesen haben, gehören zu den frühern vom Ende des vorigen Kapitels an, wo wir lesen, wie der Erlöser die Zwölfe berufen habe, um sie zu zweien auszusenden, und daß sie dann ausgegangen wären und gepredigt hätten, und | zu gleicher Zeit die verschiedenen Meinungen der Menschen über den Erlöser vernommen. Dieses nun zusammengenommen ist es, wovon es in dem Anfange unseres Textes heißt, daß die Apostel, als sie zu Jesus zurückka1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 693: „Meines Lebens beste Freude“ (Melodie von „Gott des Himmels und der Erden“) 14–16 Vgl. Mk 6,14–29 17–19 Vgl. Mk 6,7–13

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men, ihm das Alles verkündigt hätten, nämlich das Alles, was sie gehört, sammt dem, was sie gethan und gelehrt. Nun erzählt uns der Evangelist, daß auf diesen Bericht der Erlöser seinen Jüngern den Vorschlag gethan, sie wollten sich zurückziehen in eine Wüste, um eine Weile allein zu bleiben und zu ruhen. Hier, m. a. Fr., ist allerdings nicht von einer eigentlichen Einsamkeit eines einzelnen Menschen die Rede, sondern nur von dem Zurückziehen aus dem großen und bunten Verkehr mit den Menschen in einen engeren und vertrauteren Kreis. So beschreibt auch der Evangelist den Zustand des Erlösers und der Apostel. Als sie wieder nach Hause gekommen waren, wären viele Menschen ab- und zugegangen, so daß sie nicht einmal Zeit gehabt, die gewöhnlichen Bedürfnisse des äußeren Lebens zu befriedigen, und darum sei der Erlöser nun mit ihnen gefahren über den See in eine einsame Gegend, wo sie sicher sein konnten vor dem Zudrange der Menge, und er also mit ihnen allein war. Dieses Verlangen, sich aus dem allzuverwickelten, mannigfachen Treiben der Menschen zurückzuziehen, wenn auch nicht einzeln, doch in Gemeinschaft mit denen, welche ihnen am Nächsten stehen, in eine ruhige Einsamkeit, dieses Verlangen finden wir häufig unter den Menschen, und Viele klagen darüber, wenn es ihnen nicht gelingt, dasselbe zu befriedigen. Es kann uns aber Wunder nehmen, es auch zu finden bei dem Erlöser und seinen Jüngern, namentlich von ihm ausgehend; denn er war ja in die Welt gesandt, er lebte für die Welt, und eben dieses, alle seine Kräfte und alle seine Zeit dem Wohl der Menschen hingeben, das war eben dieses, was so ausgedrückt wird, daß er sich für uns dahingegeben hat. Wenn wir nun aber vergleichen die Art, wie dieses hier geschehen ist, mit der Art, wie | wir oft dieses Verlangen ausgedrückt finden von den Menschen: so können wir da einen sehr bedeutenden Unterschied nicht verkennen. Gar oft nämlich sind es vorzüglich die Sorgen, die auf so mannigfaltige Weise sich in unser irdisches Leben eindrängen, oder – denn beides stellt ja auch der Erlöser sonst wol zusammen in seinen Gleichnißreden und sieht es an als auf gleiche Weise bei allen sonstigen Verschiedenheiten das geistige Leben der Menschen hemmend – die Sorgen der Welt und die Lust und Freude derselben. Wenn beides, sei es nun mehr das Eine oder das Andere, in diesem bunten Wechsel das menschliche Gemüth bedrängt hat und aufzureiben droht: dann sehnen sich die Menschen weg aus diesem zu mannigfaltigen Treiben und wünschen sich zu erholen in einer einfachen Lebensweise, in einem engeren Kreise von Menschen. Aber gar oft, wenn wir dieses Verlangen äußern hören und uns fragen, was haben denn die Menschen, die so gewöhnt sind, in diesem Gedränge von Sorgen und Freuden zu leben, um die Zeit auszufüllen, in der sie sich zu erholen wünschen von den aufreibenden Sorgen und Freuden der Welt? wenn wir uns diese Frage vorlegen: so ahnden wir schon im voraus bei den Meisten, daß sie sich mit diesem Verlangen ebenso oft täuschen, wie sie sich täuschen mit der Befriedigung, und der Freude an den

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irdischen Dingen. Denn es gehört freilich eine andere Zurichtung des Gemüths dazu, um sich eines ruhigen Daseins in einem kleinen Kreise zu freuen und sich durch dasselbe zu dem geschäftigen Leben zu stärken: es gehört dazu, daß der Mensch etwas Größeres und Besseres in sich habe, dem er nun nur wieder will einen freieren Umlauf und ein regeres Leben in seiner Seele verschaffen, indem es sonst von dem, was das menschliche Leben in jedem Augenblick fordert, nur zu oft zurückgehalten wird. Betrachten wir nun das menschliche Leben, m. th. Fr., in dieser Beziehung: so müssen wir freilich wol sagen, je länger es ununterbrochen fortgedauert hat, daß der Mensch den Thätigkeiten oder auch | den Genüssen des irdischen Lebens hingegeben gewesen ist, um desto schwieriger ist es, wenn diese Sehnsucht in ihm entsteht, daß er den Zweck derselben erreicht; denn es ist nicht zu leugnen, es gehört zu den Gesetzen des irdischen Lebens, daß Alles, auch das Größeste, auch das Stärkste in sich selbst doch der Gewohnheit unterworfen ist. Je mehr wir uns von irgend einer Aeußerung unserer Kräfte entwöhnen, je länger sie geruhet haben: desto weniger sind wir hernach im Stande, sie in Wirksamkeit zu setzen, und so geschieht es denn gar oft mit denen, welche in einem längern, ununterbrochenen irdischen Treiben die Nichtigkeit der irdischen Dinge haben kennen gelernt, und sich hinaussehnen in die Stille, daß sie dann die Einsamkeit ebenso nichtig finden, wie sie vorher das gesellige Treiben gefunden haben, und nur auf eine andere Weise von diesem Gefühl durchdrungen werden. Sie finden sich dann ausgeleert, da sie glaubten, sie brauchten nur den Schatz ihres Innern aufzuthun, um sich mit geistigen Gütern aufs Neue zu sättigen. Aber dieses war gar nicht der Fall mit den Aposteln, und diesen Grund hatte der Erlöser nicht, sich mit ihnen in die Einsamkeit zurückzuziehen; denn sie waren nicht überschüttet gewesen weder mit Sorgen noch mit Genüssen des Lebens. Denn wie hatte der Erlöser sie ausgesendet? Wohlbedächtig auf solche Weise, daß sie der Sorge so wenig wie möglich Raum geben sollten; nichts sollten sie bei sich tragen, was sie an die Sorgen des Lebens erinnern könnte, ganz und gar ihrem Berufe sollten sie leben, zu dem sie gesandt waren, nämlich zu predigen, daß die Menschen sollten Buße thun und sich anschicken, in das Reich Gottes einzugehen, welches herbeigekommen war. So waren sie also während dieser ganzen Entfernung von dem Erlöser doch immer mit demselben beschäftigt gewesen, womit sie auch in seiner Nähe beschäftigt waren, immer waren sie durch diesen Beruf zurückgeführt worden auf die wahre Quelle des geistigen Lebens, sie bestrebten sich | diese mitzutheilen, und dadurch auch selbst immer aufs Neue aus ihr zu schöpfen; denn das ist ja die segensreiche Einrichtung des geistigen Lebens, daß durch die Mittheilung unser eigenes gestärkt und befestigt wird. Was konnte es also für eine Nothwendigkeit geben für den Erlöser, woraus sich 29–31 Vgl. Mk 6,8

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diese Aeußerung erklären läßt, sie wollten in eine Wüste gehen, um sich vor dem Gedränge zurückzuziehen? Wenn die Apostel ihm verkündigt hatten, was sie gethan hatten, wie vorher der Evangelist erzählt, sie hätten viele böse Geister ausgetrieben und viele Sieche und Kranke geheilt: so kennen wir seine Antwort darauf; daß das kein Gegenstand wäre, womit sie sich groß beschäftigen sollten; daran sollten sie sich nicht erfreuen, sondern nur daran, daß ihre Namen im Himmel angeschrieben wären. Wenn sie ihm sagten, wie sie so oder so gelehrt hätten: so konnte das seinen Beifall erregen und auch Veranlassung geben, neue Belehrungen von ihm zu empfangen; aber dieses Geschäft konnte er ja auch treiben in dem gewöhnlichen Leben, da gab es immer noch Zeit, die nach der gewöhnlichen Ordnung des Lebens dem engeren Zusammensein gewidmet war, theils auch wo jeder für sich allein sein konnte mit Gott. Darum also wäre es auch nicht nöthig gewesen, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Nun aber war es noch ein Anderes, nämlich dieses, daß sie ihm verkündigten, was sie gehört hatten. Da hatten sie nun gehört so vielerlei Meinungen der Menschen über den Erlöser. Die Einen hielten ihn für den Messias, die Andern für einen Propheten, welcher dem Messias vorangehen sollte, die Andren für einen, wie die Propheten gewesen waren, für ein einzelnes Werkzeug Gottes, um dem Volke den Willen Gottes zu verkündigen, und diese Meinungen von der Person des Erlösers hingen dann auch zusammen mit den Vorstellungen, welche die Menschen hatten von dem Reich Gottes | selbst. In den Einen waren diese mehr geistig ausgebildet, so daß auch die Verkündigung von einem Jesu von Nazareth in ihren Seelen Raum finden konnte; die Anderen hatten sich die Vorstellungen mehr irdisch gestaltet, und diesen mußten dann erst die Schuppen von den Augen fallen. Aber eben diese unvollkommenen Vorstellungen fanden doch vielleicht noch manche Anklänge in den Seelen der Jünger selbst; denn sie hatten früher auch nicht andere gehabt, und Spuren davon, daß sie noch nicht ganz davon frei waren, daß sie im Gefolge des Geistes sich doch etwas Irdisches dachten, dergleichen Spuren finden wir in ihrem Leben vielfältig genug. So kamen sie denn zurück mit einem von allen diesen mancherlei Meinungen der Menschen auf mancherlei Weise bewegten, vielleicht in gewissem Sinn unsicher gewordenem Gemüth, und deshalb war es ihnen wichtig, daß sie sich wieder ordneten, sich zurecht fanden, das Alles betrachten konnten in dem Verhältniß zu der Wahrheit, wie sie dieselbe schon erkannt hatten; und um dazu ihnen die rechte Ruhe zu gewähren, deshalb schlug der Erlöser ihnen vor, in die Einsamkeit zu gehen. 31 So] Sa 3–4 Vgl. Mk 6,13 Lk 9,8.19f

5–7 Vgl. Lk 10,20

17–19 Vgl. Mt 16,14.16; Mk 6,15; 8,28f;

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Wenn wir uns nun in dieser Beziehung fragen: so werden wir wol sagen können, daß es mit uns ebenso geht. Wenn wir unser irdisches Leben, welches auch die besondere Bestimmung eines jeden sei, nur demgemäß einrichten, was schon in der natürlichen Ordnung desselben liegt: so haben wir nicht nöthig, uns von Zeit zu Zeit aus dem gewöhnlichen Lauf desselben zurückzuziehen. In der natürlichen und geselligen Ordnung des Lebens ist schon ein Wechsel von Geschäftigkeit und Ruhe, von Thätigkeit nach außen und stiller Betrachtung nach innen, von größerem geselligen Leben mit den Menschen und von Zurückziehen in einen kleineren Kreis geordnet. Benutzen wir diese Ordnung auf die gehörige Weise: so haben wir nicht nöthig, andere Veränderungen willkührlich zu unternehmen, wenn wir nämlich nur uns selbst und unseren Beruf | in der Welt im Auge haben, den letzten allerdings in allen seinen mannigfaltigen Verzweigungen. Aber in der Beziehung, die ich jetzt aufgefaßt habe, da ist freilich das menschliche Leben an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sich sehr ungleich; und leben wir in einem solchen Zustand, wie der der Jünger des Herrn hier beschrieben wird, müssen wir so mannigfaltige, einander widersprechende Meinungen der Menschen hören über das, was auch uns wichtig ist, nicht allein in Beziehung auf das Heil unserer Seele, sondern auch in Beziehung auf die Art, wie wir das Wohl der Menschen in diesem irdischen Leben sollen fördern helfen, wenn wir in allen diesen Beziehungen von so mannigfaltigen, einander widersprechenden Meinungen bedrängt werden: ja dann entsteht leicht eine solche Unruhe und Verwirrung des Gemüths, welche es uns nothwendig macht, uns in eine solche Stille zurückzuziehen, wie sie das gewöhnliche Leben nicht darbietet. Wenn die Jünger mit dem Erlöser waren: so hatten sie die Hülfe dafür immer bei der Hand, gesetzt auch daß es nicht ein besonderer Gegenstand des Gesprächs zwischen ihm und ihnen geworden wäre; aber schon sein Dasein, seine unmittelbare Nähe, die Sicherheit seines göttlichen Lebens, die Ruhe, mit der er Alles um sich her sah, das mußte auf sie ebenfalls einen beruhigenden Einfluß haben. Und wenn der Erlöser ihnen gesagt hätte, sie unter sich sollten in die Wüste gehen, um ein wenig zu ruhen, er aber wolle bleiben unter den Menschen: so würde er schwerlich den wohlthätigen Zweck, den er dabei hatte, erreicht haben. Und eben dieses, m. th. Fr., werden wir von uns auch sagen können. Es gibt nichts, was uns so oft den Wunsch abdringen kann, uns in die Stille zurückzuziehen und wieder Ruhe zu suchen und Sicherheit für das bewegte Gemüth, als eben dieses Leben unter den widerstreitenden Meinungen der Menschen über das, was recht und unrecht ist, was dem gemeinen Wohl fördernd oder schädlich, was der christlichen Kirche heilsam | oder nicht, und was das besondere Wohl eines jeden Einzelnen fördert. Wenn wir, bald auf diese, bald auf jene Seite hingezogen, die Einsamkeit suchen, wir thun es aber ohne die Begleitung des Erlösers: so werden

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wir wenig Nutzen davon haben. Er ist es immer wieder, durch den allein das Herz fest werden muß, wenn es auf irgend eine Weise bewegt worden ist; der Einfluß seiner Nähe, das Anschauen seines ruhigen, festen Wesens, seines sich immer gleich bleibenden göttlichen Lebens, seines ununterbrochenen Einsseins mit dem Vater, das ist es, was in uns die Kraft des göttlichen Lebens wirken muß, daß er uns mit sich nimmt auf die Höhe, auf der er selbst stand und der Grund werden konnte zu allem Guten, um die Menschen zu dem Frieden mit sich selbst aus dieser Verwirrung der Meinungen zu führen. Aber freilich wenn wir nun fragen, worauf beruht es denn, daß er und nur er einen solchen Einfluß ausüben kann: so können wir wieder nur dieselbe Antwort geben, die wir immer im Allgemeinen geben müssen, wenn wir nach dem Geheimniß dieses beseligenden Einflusses Christi fragen. Sollte er unser Erlöser von der Sünde sein: so mußte er selbst frei sein von der Sünde; sollte er uns erlösen von der Unruhe und von der unstäten Bewegung des Gemüthes: so mußte er selbst zuerst fest sein und sicher, und von allem dem keine Spur in sich tragen. Und das ist gewiß das rechte Wort für die Betrachtung und den Umgang mit dem Erlöser, durch den wir zu der rechten Sammlung und Festigkeit wieder gelangen. Wenn er nicht ein Mensch gewesen wäre wie wir, wenn er nicht eine solche Knechtsgestalt angenommen hätte, in welcher er allen diesen Verhältnissen des irdischen Lebens sich unterworfen fand, und in der er allen Menschen gleich sein konnte und auf dieselbe Linie mit ihnen gestellt, wenn er so nicht uns Allen gleich gewesen wäre: so könnte er auch nicht unser Erretter sein; aber er mußte uns gleich sein in aller äußeren | Mangelhaftigkeit und Schwäche, in Allem, was zu der menschlichen Natur gehört, aber freilich ausgenommen die Sünde, und wenn er nicht in dieser Beziehung von allen Andern verschieden gewesen wäre wie in allem Andern ihnen gleich: so würden wir ihn vergeblich zum Leitstern unseres Lebens machen wollen, und zu dem, bei dem wir alle Kräfte suchen und finden, deren wir zur Führung unseres Lebens bedürfen. Darum seinetwegen suchte er die Einsamkeit nicht, er brauchte nichts weiter als diesen gewöhnlichen und alltäglichen Wechsel des Lebens, um sich zu entfernen von dem Treiben des Lebens, er behielt in diesem immer das volle, klare Bewußtsein seines Verhältnisses zu Gott, und sah in demselben nichts Anderes als die Werke, welche der Vater that, und die er ihm zeigte, daß er sie thun sollte; und das war die beständige Gleichmäßigkeit, die Ruhe seines Gemüthes, durch welche er der Fels war, auf dem allein seine Gemeine erbaut werden konnte. Je mehr wir uns durch die Wirkung seines Geistes diesem nähern: desto weniger werden wir auch solcher Unterbrechungen des gewöhnlichen Lebens, um uns zu 1–2 Vgl. Hebr 13,9 20–21 Vgl. Phil 2,7 24–27 Vgl. Hebr 4,15 Joh 5,19f 37–38 Vgl. Mt 16,18 wohl in Verbindung mit 1Kor 3,11

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sammeln, bedürfen; je fester unser Herz geworden ist: um so mehr wird es auch allem Wechsel der Meinungen wie allem Wechsel der äußeren Begebenheiten Widerstand leisten können, und in dem beständigen Gerichtetsein auf den Erlöser sich gleich bleiben und in der Aehnlichkeit mit ihm gefördert werden von einer Klarheit zur anderen. Aber, m. Fr., lasset uns noch einen Umstand nicht übersehen, nämlich daß dieses Alles, so wohlgemeint es auch war, doch ein mißlungenes Unternehmen gewesen ist. Er wollte mit seinen Jüngern in die Einsamkeit gehen; aber die Menschen sahen das, und kamen ihm zuvor, und als er an den einsamen Ort hinkam: da waren schon so viele Menschen dort, daß ihm das Herz überging und sie ihm erschienen, wie sie | ihm nie anders erscheinen konnten, auch indem sie sich in dieser Mannigfaltigkeit ihres Gemüthszustandes um ihn versammelten, wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Und da vergaß er, daß ich mich so ausdrücke, was er für seine Jünger im Schilde führte; es war ihm nicht möglich, die Menschen von sich zu weisen und ihnen zu sagen, er sei ja eben, um sich von ihnen loszumachen, dahingegangen, sondern es jammerte ihn ihrer, und er fing an, wie der Evangelist sagt, eine lange Predigt. Es mag freilich wol, m. G., Manchem unter Euch auffallend gewesen sein, daß ich sagte, das sei ein mißlungenes Unternehmen des Erlösers gewesen; aber das gehört ja eben zu seiner Gleichheit mit uns Anderen, der sein ganzes Leben unterworfen war, daß er Alles, was von der Zukunft abhing, nicht so vorhersehen konnte, und Manches sich anders in seinen Verhältnissen gestaltete, als er geglaubt hatte. So ging es ihm auch hier. Als er mit seinen Jüngern über den See fahren wollte: so wäre es ja nicht nur ein leeres sondern auch ein trügerisches Wort gewesen, „lasset uns in die Wüste gehen,“ wenn er gewußt, daß die Menschen ihm nachkommen würden, und daß er doch nicht allein sein würde; sondern da hat er das gewollt und geglaubt, weil er es sonst nicht würde gesagt haben. Nun freilich uns begegnet das noch viel häufiger; aber wie ich sagte, daß wir ebenso sehr bedürfen der Gleichheit des Erlösers mit uns als auch seiner gänzlichen Verschiedenheit von uns, um das an ihm zu haben, wodurch er der Grund unseres Heils geworden ist: so ist es auch hier. Nur indem auch ihm das nicht gelang, was er sich vorgesetzt, kann er uns auch ein Vorbild werden in dem, was er hier that; denn je mehr uns etwas am Herzen liegt, und es mußte ihm ja wol am Herzen liegen, daß seine Jünger in die rechte Festigkeit des Gemüths kamen, je mehr uns etwas am Herzen liegt, um so weniger wissen wir uns darein zu finden, wenn | es uns nicht gelingt; aber der Erlöser, sobald er die Menschen sah: so gewann er auch gleich wieder die Liebe zu dem menschlichen Geschlechte, die der innerste Trieb seines 18 m. G.] so SAr 71, Bl. 12r; SN 606, Bl. 4r: meine Geliebten; Textzeuge: G. 1 Vgl. Hebr 13,9

5 Vgl. 2Kor 3,18

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Lebens war; diese trieb ihn gleich wieder, sich ihrer anzunehmen und aus seiner Fülle zu geben, was sie bedurften. Grade da er von seinen Jüngern aufmerksam gemacht war auf die große Mannigfaltigkeit der Meinungen für seine Person, erschienen sie ihm jetzt ganz besonders wie die Schafe, die keinen Hirten haben; und da fing er an, sie zu lehren, gewiß um ihnen das deutlich zu machen, worauf es ankomme, wenn auch sie ihre Stelle finden sollten in dem Reich Gottes, das er stiften wollte, und da vergaß er seine Jünger und sich selbst. Doch das möchte freilich zu viel gesagt sein; denn wenn sie durch ihn konnten auch nur wieder die rechte Fassung ihres Gemüthes wieder gewinnen: so wird die Predigt des Erlösers eben so gut die Ruhe für sie gewirkt haben, wie für die Menge der Menschen. Redete er zu der großen Menge der Menschen: so waren Alle, die aufmerksam waren, mit ihm allein und also auch seine Jünger; und das war es grade, was der Erlöser gewollt hatte, obgleich äußerlich anders, als er erwartet hatte, und so fanden sie auch gewiß die Ruhe wieder, deren sie bedurften, sich ins Klare zu setzen, wie der Erlöser gekommen sei zum Heil der Menschen. Das, m. G., ist die rechte Weisheit des Lebens, die auch wir immer müssen zu finden suchen, und die wir in rechter Vollkommenheit hier in dem Erlöser finden. Sie besteht in zweierlei, einmal darin, daß wir nie einen Widerspruch finden sollen in dem, was unsere Pflicht, und dem, was der innere Drang unseres Herzens ist; sondern daß sich das beides stützt und zusammen hält. Der Erlöser hatte gern wollen mit seinen Jüngern allein sein, um seinen beseligenden Einfluß in ihr Gemüth auszuschütten. Das wollte er, aber er fand zwischen | diesem Willen und dem großen Gedränge der Menschen keinen Widerspruch, er wußte Eines mit dem Andern zu befriedigen. Und wenn unser geistiges Auge nur recht erleuchtet ist: so wird es uns gewiß ebenso ergehen; denn es gibt nichts Wesentlicheres in dem Reich Gottes, als dieses, daß das, was uns darin obliegt, und das, was wir wünschen, immer zusammengeht, Eines das Andere hält und unterstützt. Aber das zweite allerdings ebenso nothwendige Stück unserer Weisheit ist, daß wir aus allen äußeren Umständen, wie sehr sie auch unseren Wünschen und Vorsätzen entgegen sich gestalten mögen, doch immer einen Gewinn schöpfen, um den Menschen zum Heil ihrer Seele hülfreich zu sein, daß wir dazu alle Umstände benutzen, wenn sie sich auch ganz anders stellen, als wir erwartet haben. So war es hier mit dem Erlöser. Statt der Einsamkeit fand er ein großes Treiben der Menschen um ihn her, statt mit seinen Jüngern allein zu sein, gab es geistige und leibliche Bedürfnisse zu befriedigen; aber er lenkte es doch dahin, daß es dafür dienete, was er gewollt hatte, für den kleinen Kreis seiner Jünger. Sehet da, m. Fr., wenn das schwierig scheint und den meisten Menschen fast unerreichbar: so müssen wir doch gestehen, es ist eine ganz einfache Weisheit. Denn sind wir mit unserem Herzen immer ganz bei dem,

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was der Augenblick fordert: so werden wir in Allem doch das thun, was der Augenblick mit sich bringt; denn das ist eben diese große Zusammenstimmung von Allem, was das Reich Gottes fordert, es gehört nichts dazu, als diese Einfachheit des Gemüths. So erscheint uns ja auch überall der Erlöser und so auch in diesem Augenblick. Bleiben wir also nur recht in seiner Schule, wohnt er überall bei uns sowohl im Treiben der Welt als wenn wir uns in die Einsamkeit zurückziehen: dann werden wir selbst immer reifere Schüler dieser heilsamen Weisheit werden, dann wird es uns immer leichter werden, alles Wider|sprechende in unser Gemüth aufzunehmen und in Glauben und Liebe zu verarbeiten, überall wo uns der Herr hinstellt, sein Reich zu fördern in uns und um uns. Das sei denn der Segen dieser Betrachtung und das Werk seines Geistes und Vorbildes für uns Alle. Amen. Lied 692, 9–11.

13 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 692: „Komm, Geist des Herrn, du Herzensgast“ (Melodie von „Ich dank dir schon durch deinen Sohn“)

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Am 14. Oktober 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

17. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 11,27–30 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 59–76, Nr. IV SW II/3, 1835, S. 389–399; 21843, S. 402–413. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 438–446 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 17. Sonntage Trinitatis 1832.

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Lied 46. 676, 1–5.

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Text. Apostelgesch. XI, 27–30. „In denselbigen Tagen kamen Propheten von Jerusalem gen Antiochia. Und Einer unter ihnen mit Namen Agabus stand auf und deutete durch den Geist eine große Theuerung, die da kommen sollte über den ganzen Kreis der Erde, welche geschah unter dem Kaiser Claudio. Aber unter den Jüngern beschloß ein jeglicher, nachdem er vermochte, zu senden eine Handreichung den Brüdern, die in Judäa wohnten. Wie sie denn auch thaten und schikkten es zu den Aeltesten durch die Hand Barnabä und Sauli.“ M. a. Fr. Diese Worte, wie sie uns in die erste Zeit der christlichen Kirche zurükkversezen, geben uns zugleich ein | großes Beispiel von der Innigkeit der Gemeinschaft, die sich unter den Gläubigen bildete. Einer deutete durch den Geist von einer großen Theuerung, welche bevorstehe; und wie die Worte, so wie wir sie gelesen haben, dieses allerdings in einer solchen Allgemeinheit beschreiben, wie sie sich, 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 46: „Gott in der Höh sey Ehr und Ruhm“ (Melodie von „Allein Gott in der Höh sey Ehr“); Nr. 676: „Unter allen großen Gütern“ (Melodie von „Sollt ich meinem Gott nicht singen“)

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wenn wir das buchstäblich nehmen wollten, kaum denken läßt: so sehen wir doch aus dem Erfolg, daß sie vorzüglich jene Gegenden treffen sollte, in welche das Christenthum zuerst gepflanzt wurde. Von Jerusalem aus war es nach Antiochien gekommen, zuerst ebenfalls durch eine Noth, aber durch eine Noth anderer Art, nämlich durch die Verfolgung gegen die Christen, welche sich erhob auf Veranlassung und in Folge der Steinigung des Stephanus. Natürlich waren nun die neuen Christen durchdrungen von einer herzlichen Dankbarkeit und fühlten sich denen verschuldet, von denen die große Gabe des göttlichen Wortes und der Erkenntniß des Heiles in Christo ihnen zugekommen war, und darum nun waren sie bereit, ohne genau zu überlegen oder zu messen, ob nicht auch ihnen dieselbe Noth bevorstehe und wie hart sie sie treffen könne, doch im voraus schon zu sorgen für die Noth ihrer Brüder in Judäa. Lasset uns nun aus Veranlassung dieser Worte in unserer heutigen Betrachtung mit einander handeln von derjenigen Hülfsleistung in der Noth, welche von dem Bewußtsein der christlichen Gemeinschaft ausgeht. Wir werden zuerst eben diese zu unterscheiden haben von der gewöhnlichen bürgerlichen Wohlthätigkeit, und dann zweitens zu erwägen, wie sie immer wieder ein neues Band wird für die Gemeinschaft, von der sie ausgeht. | 61

I. Wir würden, m. a. Z., eben dieses lezte nicht richtig zu fassen und zu beurtheilen vermögen, wenn wir das erste übersehen wollten, und darum scheint es mir nothwendig, daß wir uns zuerst dieses Unterschiedes mit einander versichern. Es giebt eine Pflicht, wohlthätig zu sein und Hülfe zu leisten in der Noth, die, wiewohl wir alle als Christen sie ebenfalls zu üben haben, doch nicht mit unserer christlichen Gemeinschaft in Verbindung steht, indem sie auf etwas ganz anderem beruht. Wir finden genau genommen die Veranlassung zu solcher Hülfsleistung und ebenso auch das Vermögen dazu immer nur da, wo sich die Verhältnisse des feststehenden Rechts, einer gemeinschaftlichen Lebensordnung unter heilsamen Gesezen, schon unter den Menschen verbreitet und bis auf einen gewissen Grad entwikkelt haben. Aus der Sicherheit, die eben hieraus erwächst, aus der größeren Freiheit sich in den irdischen Dingen leicht zu bewegen, aus der immer weiter gehenden Vertheilung dieser Geschäfte, welche damit zusammenhängt, entsteht eine Ungleichheit, welche sonst unter den Men23 nicht] nich 3–7 Vgl. Apg 11,19–21

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schen nicht in demselben Grade statt haben könnte; wie sie denn auch überall in dem Maaße geringer ist, als irgendwo jene Verhältnisse noch weniger entwikkelt sind als unter andern Menschen. Unter diesen Umständen bedarf es denn freilich weiter nichts als nur dieses, daß jemand nicht durch kleinlichen Eigennuz, durch ausschließliche Rükksicht auf sich selbst ganz verhärtet sei gegen das Gefühl des Rechts; wenn nur dieses in ihm einigermaaßen lebendig und kräftig ist: so wird er den Gedanken nicht ertragen, daß er der Vortheile | eines solchen geselligen Zustandes sich erfreuen sollte, während Andere lediglich oder großentheils nur die Nachtheile davon erführen. Dieses einfache Gefühl des Rechts ist also auch der eigentliche Grund aller bürgerlichen Wohlthätigkeit. Darum nimmt sie auch keine Rükksicht und soll keine nehmen, auf die persönliche besondere Beschaffenheit derer, denen sie ihre Gaben und ihre Hülfsleistungen zuwendet. Sie kann nur denjenigen mit gutem Gewissen von dem Genuß derselben, aber doch auch nur in einem gewissen Grade, ausschließen, von dem es ganz deutlich ist, daß die Noth, welche ihn betrifft, nicht in dem gemeinsamen Zustande der Menschen und dessen mannigfaltigen Verwikkelungen ihren Grund hat, sondern ausschließlich und unmittelbar in seinen eigenen Handlungen, und zwar in solchen, die ihm mit Recht zum Vorwurf gereichen. Sie kann nur denjenigen reichlicher, mit einer größeren und entschiedenen Vorliebe bedenken bei ihren Gaben, von dem sie voraussieht, er werde sich um desto eher wieder in den Stand sezen, nicht nur wieder unabhängig und selbständig für sich fortzuleben, sondern auch wieder selbst mittheilen zu können da, wo ein Fall der Noth eintritt. Im übrigen aber muß sie es auf das Gewissen eines jeden Empfangenden legen, wie er die Gaben, welche ihm in diesem Sinn die Gerechtigkeitsliebe seiner Brüder zufließen läßt, auch würdig anwenden will. Aber aus demselben Grunde erstrekkt sich nun auch diese bürgerliche Wohlthätigkeit in der Regel nur über denselben Umfang menschlicher Geselligkeit, in welchem einerlei Geseze des Rechts und der Ordnung gelten. Von diesen sind dem Einen die Vortheile zugeflossen, deren er sich er|freut; und eben diese haben Veranlassung gegeben zu den Nachtheilen, unter denen der Andere leidet und seufzt. Aber eine solche Sorge, wie die z. B. war, von der in unserem Texte die Rede ist, für Menschen von ganz anderer Abstammung, von ganz anderer Sprache und, wenn gleich damals in einem weiteren Sinne genommen demselben weltlichen Scepter unterthan, doch gar wenig in irgend einem Verhältniß wechselseitigen Einflusses auf einander, von einem solchen Umfang der Sorge und Mittheilung weiß jene gesellschaftliche Wohlthätigkeit in der Regel nichts. Sobald von einer gegenwärtigen Noth die Rede ist, beschränkt sich jeder auf seine Landsleute, und

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denkt mit Recht, daß ebenso in anderen menschlichen Gesellschaften dasselbe Gefühl der Gerechtigkeit walten wird, und auch dort diejenigen, welche sich der Vortheile der geselligen Ordnung erfreuen, die Nachtheile derselben werden zu mildern suchen. Das höchste aber freilich, was wir in dieser Beziehung kennen, ist unstreitig das Bestreben, jene Wohlthätigkeit selbst je länger je mehr überflüssig zu machen; und dieses freilich kann je mehr sich das Verkehr der Menschen erweitert, je ausgebildeter und mannigfaltiger ihre Verhältnisse sich entwikkeln, um desto weniger in denselben Grenzen zusammengedrängt bleiben. Ich meine nämlich jenes löbliche Bestreben, welches darauf ausgeht, daß wir uns im voraus so viel als möglich unter einander Gewähr leisten sollen für alle Unfälle, welche uns in unserm geselligen Leben treffen können. Denn dieses Bestreben geht von demselben Grunde aus, es entsteht ebenfalls aus dem Bewußtsein, was für eine große Ungleichheit in der äußeren Lage der Menschen, durch die mannigfaltigen Zufälligkeiten | denen wir in einem so verwikkelten Leben ausgesezt sind, entstehen können; und wie bei dieser Ungleichheit Vortheil und Nachtheil eben so gut den einen treffen kann, als den andern, indem Alle in dieser Beziehung denselben Gesezen unterworfen sind. Je mehr dieses Bestreben sich ausbreitet und über je mehr Gegenstände es sich erstrekkt, je mehr Menschen auf diese Weise unter einander zusammengefaßt werden: um desto mehr ist für alle äußere Noth, die sie treffen kann, immer schon im voraus gesorgt; und um desto weniger kommt dann eine eigentliche Wohlthätigkeit von dem Einen dem Anderen zu statten, um desto weniger fühlt einerseits Einer sich dem Anderen persönlich verbunden und verpflichtet, und kann andererseits der Eine sich persönlich rühmen, daß er dem Anderen sein Leben erhalten oder erleichtert oder den Wohlstand desselben gerettet habe. Daher erscheint sobald ein solches Verfahren eingeleitet ist eben jene Tugend der Wohlthätigkeit nur als eine Sache der Noth, und eben deswegen ist es das höchste und würdigste, daß sie als eine solche mit der Zeit aufhöre. Würden wir aber, um bei diesem lezten anzufangen, würden wir es wohl wünschen können, daß diejenigen gegenseitigen Hülfsleistungen aufhörten, welche auf dem Bewußtsein unserer christlichen Gemeinschaft beruhen? würden wir wünschen können, daß eben so irgend etwas anderes an die Stelle von diesen trete? Wir dürfen uns diese Frage nur vorlegen, um aus der Antwort, die wir nothwendig geben müssen, schon zu sehen, wie groß der Unterschied ist zwischen der einen und der anderen. Fragen wir uns, worauf diese Vorschrift beruht, die Einer von den Aposteln des Herrn mit den Worten ausdrükkt, Lasset uns | Gutes thun an jedermann, am meisten aber an

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des Glaubens Genossen.1 Diese Vorschrift hatte, wie wir schon daraus sehen, daß sie die Genossen des Glaubens besonders hervorhebt, ihren Grund vornehmlich in dem Bewußtsein dieser Gemeinschaft. Der fühlen wir uns Alle von je her schon verpflichtet und verschuldet; sie ist es, die als das Werkzeug des göttlichen Geistes sich unser angenommen hat von dem ersten Anfange unseres Lebens an; unsere Eltern, unsere Erzieher, Alle die, welche an der Entwikkelung unseres Geistes und an dem Bestreben, den Kräften desselben die rechte gottgefällige Richtung zu geben, Theil genommen haben, sie sind in diesem Geschäft, wie unmittelbar sie uns auch übrigens verbunden waren durch die Bande des Blutes, doch nichts anderes gewesen als die Bevollmächtigten der christlichen Gemeine. So wie jene Christen in Antiochia sich bewußt waren, ihr Heil sei ihnen gekommen von denen in Jerusalem, aber freilich auf eine zufällige Weise: so wissen wir Alle und fühlen es, unser Heil ist uns gekommen aus der Mitte der christlichen Gemeinschaft, aber nicht auf eine zufällige Weise, sondern durch das regelmäßige Bestehen derselben nach den Gesezen, welche das eigentliche Wesen derselben ausmachen, durch die Thätigkeit der Liebe, welche unaufhörlich die dringet, welche die Liebe Gottes durch Christum an sich selbst erfahren haben. Sobald jene Christen in Antiochia hörten, daß eine solche allgemeine Noth bevorstehe, wurde auch ihre Neigung zur Wohlthätigkeit sogleich und wol ausschließlich auf jene Gegenden hingelenkt und auf jenen Kreis von | Menschen, welchem sie sich für solche geistige Gabe verpflichtet fühlten. Darum beschlossen sie gleich, ohne zu bedenken, wie viel oder wenig von derselben Noth auch sie selbst könnten zu leiden haben, zunächst für diese Gegenden zu sorgen. Es fiel ihnen ein, dieselbe Noth habe früherhin in den ersten Anfängen des Volkes Gottes in dem alten Bunde dieses hinausgetrieben in ein fremdes Land, wo sie leider schon in den nächsten Geschlechtern in einen erniedrigenden Zustand von Knechtschaft geriethen. Die Gemeine des Herrn in Jerusalem stellte damals den ganzen Kern der christlichen Gemeinschaft dar; wie weit in der Nähe oder Ferne das Evangelium sich schon verbreitet hatte, davon konnten jene neuen Christen in Syrien noch wenig Kunde haben; aber der ihnen bekannten ersten Quelle der geistigen Güter, welche sie empfangen hatten, der wendete sich nun ihre Liebe und Sorge zu. Von wo 1

Gal. 6, 10.

29 hinausgetrieben] folgt (vermutlich von Schleiermacher bei der Bearbeitung der nicht mehr vorhandenen Predigtnachschrift versehentlich nicht gestrichen) hatte 19–20 Vgl. 2Kor 5,14

27–31 Vgl. Gen 41,53f; 42–43; Ex 1

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ihnen das Heil gekommen war, von daher dachten sie könne und solle es noch vielen Anderen kommen, und deshalb fühlten sie sich gedrungen, dafür zu sorgen, daß dieselbe äußere Noth nicht etwa jene Gemeinschaft der Christen auflösen möchte oder zerstören, daß jene Verbindung nicht nöthig hätte aus einander zu gehen, um sich in der Zerstreuung anderwärts die Lebensnothdurft zu suchen, sondern in ihrem äußeren Bestehen gesichert bleibe, darum beschloß ein jeder Einzelne, je nachdem er vermochte zu geben, um eine Handreichung zu leisten den Christen in Jerusalem und Judäa. Aber weiter als über die Genossen des Glaubens erstrekkt sich auch diese Hülfsleistung nicht, welche von dem Bewußtsein der christlichen Gemeinschaft ausgeht. Wohl wußten es jene Christen, daß die Weissagung, welche einer | von dort aus der Kraft des Geistes gedeutet hatte, nicht die Christen allein betreffen konnte, sondern die übrigen Bewohner des Landes nicht minder leiden würden unter der Noth des Hungers; aber ihre Handreichung die leisteten sie natürlich nur den Brüdern, die da wohnten in Jerusalem und in Judäa. Daraus sehen wir denn von selbst, daß diese Hülfsleistung, welche von dem Bewußtsein unserer christlichen Gemeinschaft ausgeht, die leiblichen und äußeren Gaben nur giebt um des geistigen willen. In jener Gemeine in Antiochia lebten und lehrten Männer wie Barnabas und Saulus, der schon damals Gefahren und Noth genug erlitten hatte um des Evangelii willen; und beide stellten ihnen gewiß schon damals ein solches Bild des Muthes und der Ergebung nicht nur sondern auch der Kraft, allen Widerwärtigkeiten des Lebens tapfer zu widerstehen, vor ihren Augen dar, daß wir unmöglich glauben können, der Sinn der Gaben, welche die neuen Christen für die Muttergemeine sammelten, sei nur der gewesen, die Christen dort von dem Drukk einer äußeren Noth zu befreien; denn eben die Kraft des Geistes offenbart sich ja vorzüglich darin, wie der Mensch in dem allen weit überwindet, ohne in dem Genuß der geistigen Güter, die ihm zu Theil geworden sind, durch die Noth der Erde gehemmt zu werden. Aber freilich ein ganz anderes ist es, in dem eignen Genuß dieser geistigen Güter nicht gehemmt zu werden; der ist vollkommen unabhängig von allem, was den Menschen äußerlich treffen kann, der ist in jeder Noth eben so rein und giebt dem Gläubigen eben so unmittelbar das Bewußtsein seines ungestörten Zusammenhanges mit Gott, wie mitten unter den Freuden und dem Wohlerge|hen – und wieder ein anderes ist es mit der Thätigkeit für die Sache des Glaubens. Denn dazu gehören eben alle die äußeren Hülfsmittel, welche Gott dem Menschen auf Erden gegeben hat; um dieser Thätigkeit willen zunächst soll er Herr sein und immer mehr werden über alle Kräfte, welche Gott in die Erde gelegt hat. Wollten 20–21 Vgl. Apg 11,25f

21–23 Vgl. Apg 9,20–30

30 Vgl. Röm 8,37

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sie also, daß diese Thätigkeit von dort aus noch weiter gehen sollte, daß die dortigen Christen sollten im Stande sein, ihre Zeit der Verkündigung des göttlichen Wortes zu widmen, oder auch solche auszurüsten und auszusenden, die das Wort Gottes hintrügen, wo es noch nicht erschollen war, und den Zusammenhang des Glaubens und der Liebe immer wieder zu erneuern mit den zerstreuten Gläubigen umher; sollte diese Thätigkeit fortdauern: ja dann durfte es nicht an den irdischen Hülfsmitteln fehlen, und nur um dieser geistigen Thätigkeit willen erfolgt zunächst auch jezt noch überall jede Hülfsleistung, die aus dem Bewußtsein unserer christlichen Gemeinschaft stammt. Aber eben deswegen sind wir keinesweges gemeint selbst dahin zu wirken, oder können auch nur wünschen oder erwarten, daß ohne unser Zuthun die eine Art der Wohlthätigkeit durch die andere verdrängt werde. Nein, dieselben Christen, welche izt sich unter einander verbanden, nach Vermögen beizutragen, um denen Genossen des Glaubens in Judäa Handreichung zu leisten, welche würden bedrängt werden von der Noth, dieselben wenn auch zu ihren Gegenden späterhin die Noth wirklich hindurchdrang, werden als Glieder der bürgerlichen Gemeinschaft und in dem Bewußtsein der bürgerlichen Ordnung und des bürgerlichen Rechts auch dem Hungrigen ihr Brot gebrochen haben, | ohne Rükksicht darauf, ob er schon ein Jünger des Herrn sei oder nicht. Für uns nun mischt sich dem äußeren Anschein nach gar leicht beides unter einander, eben weil wir fast nur von Genossen des Glaubens umgeben sind, weil unser ganzes Volk seinem Kerne nach ein christliches Volk ist; aber doch sollen wir beides von einander unterscheiden und gesondert halten, und wohl wissen, daß die einen Ansprüche, wie von ganz anderer Art sind, so auch eine ganz andere Ausdehnung und Erstrekkung haben als die anderen. Aber eben deswegen weil diese aus dem Bewußtsein der christlichen Gemeinschaft entstehende christliche Hülfsleistung, indem sie das leibliche nur mittheilt um des geistigen willen, sich natürlich auch innerhalb der Grenzen der geistigen Gemeinschaft hält, und ihrer Natur nach nicht über dieselben hinausgehen kann: so muß sie nothwendiger Weise auf diese Gemeinschaft selbst zurükkwirken. Und das ist es, was wir noch in dem zweiten Theile unserer Betrachtung mit einander erwägen wollen, wie nämlich diese wenn gleich dem Anscheine nach äußere Hülfsleistung doch immer wieder ein neues Band wird für die Genossen des Glaubens. II. Dieses, m. a. Z., geschieht nun zuerst dadurch, daß eine solche Hülfsleistung auch unter schwierigen Umständen Jedem seinen An13 Zuthun] Zuthun,

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theil an der Sorge für das Fortbestehen der christlichen Gemeinschaft selbst sichert, und eben dadurch auch in Jedem das Bewußtsein, wie theuer und werth ihm diese ist, wie er bereit ist alles für sie hinzugeben, und ihr zu dienen mit allem, wie was er ist so was er hat, immer lebendig erhält. Ist unsere äußere Dienstfertigkeit und Be|reitwilligkeit zu helfen wirklich diese christliche: so haben wir dabei auch immer nur das innere und geistige im Auge und unser Absehen ist auf dieses allein gerichtet. Nun ist es nothwendig, daß die christliche Gemeinschaft auch unter gewissen Ordnungen, Sitten und Gesezen besteht, daß sich in derselben die Geschäfte, auch die Geschäfte des Heils auf eine bestimmte Weise vertheilen, und eben dadurch gewinnt es gar leicht das Ansehen, als ob unter den Christen, wiewohl sie sich unter einander Brüder nennen, doch ein so bedeutender Unterschied statt fände, daß nur Einige Spender der geistigen Gaben, Mittheiler der geistigen Güter wären, und die Anderen hingegen alle nur von jenen empfingen. Dieser Schein hat der christlichen Gemeinschaft lange Zeit Verderben gedroht, ja er ist ein Keim von Verirrungen geworden, welche in einem großen Theil derselben immer noch fortwirken, und von welchen nur unsere evangelische Kirchengemeinschaft sich, wenigstens so weit es unter den damaligen Umständen möglich war und noch möglich ist, befreit hat. Denn freilich muß es ein Verderben sein, und uns das Wesen des Evangeliums von Christo in hohem Grade verdunkeln, uns von dem unmittelbaren Zusammenhang, in dem wir Alle durch den Geist mit Gott stehen sollen, wieder zum Vertrauen auf Menschen zurükkführen, wenn ein solcher Unterschied unter den Christen gemacht wird, daß der Menge immer nur einige Wenige gegenüber stehen, welche sie zu verehren hat als Solche, von denen ihr die Güter des Geistes mitgetheilt werden, von denen es also abhängt, wie reichlich oder wie dürftig die Seelen sollen genährt und gestärkt werden. Das muß den wahren Geist des Evangeliums nicht allein verdunkeln, son|dern auch verfälschen. Nun wissen wir freilich und es geht aus unseren Ordnungen hervor, daß Alle die, welche auf besondere Weise dem göttlichen Worte dienen, es nur thun in dem Auftrage der Gemeine, so wie kurz nach der Erzählung unseres Textes es weiter in der Apostelgeschichte heißt, Als die Diener des Herrn und die Jünger desselben Gott gedienet im Geist, da habe der Geist sie getrieben, Einige auszusenden zu dem Dienste unter den Heiden1, und nur immer so als ein von der Gemeine aufgetragenes Geschäft wollen wir, daß die, welche dem göttlichen Wort im Besonderen dienen, ihr Amt verrichten. Aber womit ich meine Rede anfing, das findet nun freilich auch hier seine Anwendung. Wir wissen es Alle, daß wir in 1

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unseren häuslichen, in unseren freundschaftlichen und geselligen Verhältnissen, wo wir geistige Gaben mitzutheilen vermögen, wir es immer nur thun nicht als aus uns, sondern aus dem gemeinsamen Schaz, den der Geist in der Gemeinschaft der Christen erhält, bewahrt und von Zeit zu Zeit vermehrt; und so fehlt es Keinem unter uns, daß wir nicht sollten das Bewußtsein haben, wirksam sein zu können in dem Reiche Gottes auf Erden. Demohnerachtet, wie herrlich leuchten uns immer gewisse besondere Thätigkeiten entgegen! und wie sind wir auf eine sehr natürliche Weise, und ohne daß wir uns Vorwürfe darüber machen könnten, geneigt, diejenigen besonders glükklich zu preisen, welche solchen ihr Leben weihen können. Durch seinen besonderen Beruf immer aufgefordert sein, sich zu beschäftigen mit dem göttlichen Wort, um die Schäze des|selben sich und Andern zu enthüllen: wem sollte das nicht ein beneidenswerthes Loos scheinen? sich allem irdischen entziehen können, alle anderen Bande lösen, um als Träger des göttlichen Wortes die aufzusuchen, welche noch in der Finsterniß des Wahnes und in dem Schatten des Todes sizen: welch ein herrliches unvergleichliches Loos! Das können immer nur Einige ziehen, und es fehlt uns ja nicht an Erfahrungen darüber, wie oft es doch vergeblich gezogen wird; wie viele Einzelne ohne den rechten Grund, ohne inneren Beruf danach streben, und anstatt der gemeinsamen Sache Nuzen zu schaffen, nur diese hindern und selbst Schaden nehmen an ihrer Seele. Aber vermöge jener Hülfsleistungen können wir an Allem Theil nehmen, was großes, segensreiches, das Reich Gottes förderndes von der christlichen Gemeinschaft ausgeht, auf diese Weise kann Jeder doch denselben geistigen Durst seines Herzens stillen, und wenn nicht unmittelbar doch mittelbar wirksam sein überall, wo etwas großes und heilsames von der christlichen Gemeinschaft ausgeht. Aber lasset uns auch ein zweites ja nicht übersehen, wie nämlich diese Hülfsleistungen auch besonders dadurch immer ein neues Band der christlichen Gemeinschaft werden, daß sie die inneren Unterschiede, welche unter den Christen statt finden, in unseren Augen und in unserem Gefühl verringern und zum Theil auslöschen. Die Gemeinschaft der Christen, die ich auch izt in meiner Rede immer als Eine behandelt habe, wie vielfältig ist sie nicht getheilt, wie ist sie nicht gespalten in sich selbst, wie viel Streit regt sich immer aufs neue darüber, ob Alle, die diesen Namen führen, nicht nur im Einzelnen, sondern | auch alle verschiedenen Gemeinschaften, welche sich denselben aneignen, ihn wirklich verdienen. Wollten wir nun jene Vorschrift auf 13 enthüllen:] so auch SW II/3, S. 397; Textzeuge: enthüllen; 16–17 Vgl. Mt 4,16 (darin Bezug auf Jes 9,1)

22–23 Vgl. Mt 16,26; Mk 8,36

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eine engherzige Weise beschränken, wollten wir sagen, jene Hülfsleistungen sind wir nur denen schuldig zu geben, ja es ist uns nur vergönnt sie denen zu geben, welche mit uns ganz und vollkommen in allen Stükken des Glaubens übereinstimmen: wie unbedeutend würden sie dann werden, wie wenig würden sie dann zu leisten vermögen, wie würde das, was ein Band des Friedens und der Gemeinschaft werden soll, nur die Spaltungen unter den Christen noch immer mehr befestigen! Lasset uns deshalb noch einmal auf das Beispiel unseres Textes zurükkgehen. Während der Zeit, daß jene Christen in Antiochia ihren Vorsaz ausführten und im kleinen und allmählig ihre Gaben sammelten, ehe noch jene, welche sie nach Jerusalem bringen wollten, bereit dazu waren, hatte sich etwas anderes ereignet. Da waren Christen gekommen auch aus Judäa, welche sagten, alle die an den Namen des Herrn glaubten, müßten sich auch dem Gesez unterwerfen, dem er selbst unterthan gewesen war in seinem Leben, es ganz auf sich nehmen und es genau erfüllen. Das war eine Bedrängniß der christlichen Freiheit, eine Beschränkung des christlichen Heiles, gegen welche sich die Lehrer zum großen Theil erhoben, und da ward denn in diesem Streit auch Zuflucht genommen zu der Gemeine, in welcher das Wort Gottes zuerst Wurzel gefaßt und von welcher aus es sich weiter verbreitet hatte; und dieselben, welche jene Gaben für die Nothleidenden nach Jerusalem brachten, brachten auch diese Frage zur Entscheidung dorthin. Wie auch beides ganz | verschiedene Aufträge waren, und gänzlich von einander getrennt: so faßte doch der Geist Gottes durch den Mund der ersten Jünger des Herrn beides zusammen. Es wurde den Christen gesagt, wie wenig Last ihnen in dieser Beziehung sollte aufgelegt werden, aber es wurde auch zu einer festen Regel und Ordnung gemacht, daß sie auch sollten der Armen und Dürftigen gedenken1, und so sollte die äußere Hülfsleistung, indem sie Allen ohne Unterschied gegeben würde, auch ein Band der Gemeinschaft für Alle werden. Daran sollten Alle erkennen, daß sie zusammengehören, und sich durch die Verschiedenheit der Denkungsart über einzelnes nicht stören lassen; an dem Umfang der Hülfsleistungen, welche um des Bekenntnisses Christi willen geleistet wurden, sollten sie den äußeren Umfang der Gemeine erkennen und messen, und dieselben, welche die Ordnung überhaupt zu erhalten hatten, sollten auch diese Hülfsleistungen über das Ganze verbreiten. Auf dieselbe Weise soll auch unter uns das Aeußere dem Inneren zu Hülfe kommen; die herzliche Mittheilung äußerer Gaben soll uns auf die Einheit des Inneren zurükkführen, auf daß wir uns des Bewußtseins erfreuen, daß jeder, der 1

Gal. 2, 10.

12–16 Vgl. Apg 15,1

21–23 Vgl. Apg 15,2

25–27 Vgl. Apg 15,28

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den Namen Christi bekennt, wie viel wir auch sonst an ihm auszusezen haben, wie wenig wir auch sonst in unserer Lebensweise und den Regeln, die wir uns bilden, mit ihm übereinstimmen, dennoch ein Gegenstand unserer Liebe sei, daß wir ihm um des geistigen willen zur Abhülfe des leiblichen Leidens behülflich sind, und dadurch | bezeugen, auch von ihm könne die Förderung dieses ausgehen unangesehen alle jene Unterschiede. So wurde damals das Band enger geknüpft zwischen den Christen, die aus dem Volke des alten Bundes stammten und denen, die aus den Heiden gesammelt waren, und dadurch wurde die innere Gemeinschaft erhalten. Und dazu dient denn auch izt noch diese Hülfsleistung, so daß wenn das Bewußtsein unserer Verschiedenheit in einzelnen Stükken der Lehre oder der Lebensweise die Richtung nimmt, daß wir auch der Armen und Dürftigen unter denen, die so von uns verschieden sind, nicht mehr gedenken wollen, alsdann gewiß jeder, der es sich zum Gesez gemacht hat für diese christlichen Hülfsleistungen, das Aeußere nur zu geben wegen des uns als Christen gemeinsamen Inneren, sogleich merke, daß sich etwas eingemischt hat, was nicht rein ist und gottgefällig, und wir uns dann fröhlich zurükkwenden zu der unbegrenzten Gemeinschaft Aller. Alle zusammengefaßt, wie wir es in unserer heutigen epistolischen Lection vernommen haben, unter dem Einen Gott, und dem Einen Herrn, in der Einen Taufe, und der Einen Kraft des Geistes1, so soll wie überall in diesem geistigen Reiche Gottes das leibliche und irdische dem geistigen dient, auch diese gegenseitige Abhängigkeit und Hülfsleistung unter den Christen ein Bild werden, welches sich fest den Gemüthern einpräge, von der Einheit jener inneren unsichtbaren Gemeinschaft Aller derer, | welche den Namen dessen bekennen, der allein Herr ist über Alle, weil er allein die Quelle des Heils ist, aus der es uns Gott zufließen läßt und zufließen lassen wird izt und immerdar. Amen. Lied 676, 6. 1

Ephes. 4, 4–6.

21–22 Als Epistellesung für den 17. Sonntag nach Trinitatis sah die Perikopenordnung Eph 4,1–6 vor. 32 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 676: „Unter allen großen Gütern“ (Melodie von „Sollt ich meinem Gott nicht singen“); die 6. und letzte Strophe lautet: „O du Geist der reinen Liebe, Segensquell in Freud und Schmerz! laß mich spüren deine Triebe, komm und senk dich in mein Herz; laß mich kräftig widerstreben Allem, was nicht gut es meint mit dem Freunde, mit dem Feind, und mich reizt, nur mir zu leben. Geist der Liebe, lenke hin zu der Liebe meinen Sinn!“

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18. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 6,35–44 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 327–339, Nr. XXVI; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 792. Tex t . Marcus VI, 35–44. „Da nun der Tag fast dahin war, traten seine Jünger zu ihm, und sprachen: Es ist wüste hier, und der Tag ist nun dahin. Laß sie von dir, daß sie hingehen umher in die Dörfer und Märkte, und kaufen sich Brot; denn sie haben nichts zu essen. Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen. Und sie sprachen zu ihm: Sollen wir denn hingehen, und zwei hundert Pfennig werth Brot kaufen, und ihnen zu essen geben? Er aber sprach zu ihnen: Wie viel Brote habt ihr? Gehet hin und sehet. Und da sie es erkundet hatten, sprachen sie: Fünf, und zween Fische. Und er gebot ihnen, daß sie sich alle lagerten, bei Tischen voll, auf das grüne Gras. Und sie setzten sich nach Schichten, je hundert und hundert, funfzig und funfzig. Und er nahm die fünf Brote und zween Fische, und sah auf gen Himmel, und dankte, und brach die Brote und gab sie den Jüngern, daß sie ihnen vorlegten, und die zween Fische theilte er unter sie alle. Und sie aßen alle, und wurden satt. Und sie hoben auf die Brocken, zwölf Körbe | voll, und von den Fischen. Und die da gegessen hatten, deren waren fünf tausend Mann.“ M. a. Fr.! Diese eigenthümlichen Handlungen unsers Erlösers, die wir alle, so sehr sie auch unter sich verschieden sind, durch den Namen seiner Wunder bezeichnen, haben immer etwas an sich, was sich unserer Betrachtung entzieht, so daß wir uns selbst keine Rechenschaft davon zu geben vermögen, 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 792: „Dich seh ich wieder, Morgenlicht“ (Melodie von „Wie schön leuchtet der Morgenstern“)

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und darunter gehört denn auch nun besonders diese von allen Evangelisten erzählte Geschichte. Denn selbst von demjenigen, was dabei das Natürliche, das äußerlich Wahrnehmbare muß gewesen sein, wie von dem ganzen Zusammenhang der Rede des Erlösers mit der Handlung selbst können wir uns keine anschauliche Vorstellung machen. Wenn jemand unter Euch mich fragen wollte, wenn doch der Erlöser so viel, daß eine Menge von Menschen gesättigt werden konnte, auf eine wunderbare Weise herbeischaffen wollte: warum brauchte er sich erst zu erkundigen, ob seine Jünger zu essen hätten; was sollten die fünf Brote und zwei Fische dazu thun? so weiß ich darauf keine Antwort zu geben, und so scheint kein rechter Zusammenhang zwischen der Rede des Erlösers und der Handlung selbst. Wenn wir lesen, der Tag habe sich schon geneigt: so denken wir, er hätte das Volk, da es ja überdieß zu ungelegener Zeit ihm gekommen war, nun sollen entlassen, damit sie konnten für ihre tägliche Nahrung sorgen in den Flecken und Märkten. Und wenn er nun erst die Jünger untersuchen ließ auf dem Schiff, worauf sie gekommen waren, wie viel sie bei sich hatten, und wir uns natürlich denken müssen, daß, nachdem er seine Rede vollendet, unter dem versammelten Volk eine unruhige Bewegung entstand und sie sich zerstreuen wollten: was mußte das für eine Zeit kosten, ehe der Auftrag des Erlösers bis zu Allen hindurchdrang, daß sie sich lagern soll|ten, und wenn wir hören, wie viele Menschen es gewesen, und mit welcher Ordnung das geschah: so gehörte dazu wieder eine geraume Zeit, ehe es ausgeführt werden konnte. Dann vertheilten die Apostel, was er ihnen gab, unter die verschiedenen gelagerten Gesellschaften, und jeder ißt und wird satt. Wenn wir das Alles zusammennehmen sollen in eine Zeit, wo der Tag sich schon neigt, und wir lesen dann weiter, daß die Jünger hingingen und sammelten, was übrig geblieben war: so können wir uns freilich keine Rechenschaft davon geben, wie das Alles in so kurzer Zeit habe geschehen können, daß der Tag ihnen nicht ganz ausgegangen. Aber Alles dieses ist nicht die Seite, von welcher wir eine solche Begebenheit aus dem Leben des Erlösers zu betrachten haben; es ist uns, wenn wir sie von dieser Seite ansehen wollten, nichts Anderes übrig, als daß wir sagen, die Erzählung ist so eingerichtet, daß wir uns nicht an dieses Aeußere halten können, weil wir durch diese Schwierigkeiten nicht hindurchzudringen vermögen, es muß also von Anfang an die Absicht bei ihrer Abfassung eine andere gewesen sein. Und so werden wir denn nichts Anderes und nichts Besseres thun können, als daß wir uns an die Handlungsweise des Erlösers halten und diese zum Gegenstand unserer Betrachtung machen. Da ist denn das Erste, was uns auffällt, dieses, daß der Erlöser die Ordnung zu der Bedingung macht, unter der allein er vermochte, sich auf sol1–2 Vgl. neben Mk 6,35–44 noch Mt 14,15–21; Lk 9,12–17; Joh 6,3–15 16 Vgl. Mk 6,32

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che Weise in die äußeren Verhältnisse des irdischen Lebens einzumischen. Wollte er einmal auf eine wunderthätige Weise der Menge, die um ihn versammelt war, sein Wohlwollen zu erkennen geben: so müssen wir sagen, eben so wenig wie er würde der Brote und Fische bedürftig gewesen sein, eben so wenig wäre auch das nöthig gewesen, daß er ihnen sagen ließ, sie möchten sich lagern unter der gewöhnlichen Form, wie man sich damals bei Tische zu lagern pflegte zu elf, zwölf Personen, so sollten auch sie sich in Schichten | lagern abwechselnd zu hunderten und zu funfzigen. Wie gesagt, eine Sache der Nothwendigkeit konnte das nicht sein, sondern es war eine Sache des Wohlgefallens. Der Erlöser konnte nicht anders, als wenn es auf solche Weise geschah, sich in die äußeren Angelegenheiten der Menschen mischen. Und wie recht hatte er nicht, wenn wir nur denken an das, was unmittelbar vorhergegangen war. Der Erlöser hatte vielerlei dem versammelten Volke gelehrt, oder, wie es in unserer deutschen Bibel ausgedrückt wird, er hatte eine lange Predigt gehalten. Da gab es viel Stoff zum Nachdenken, das wollte wol aufbehalten sein in dem Gemüth, mit einander verglichen, damit es jeder ganz auffassen und in seinem Innern bewahren konnte. Wenn nun ein unordentliches, unruhiges Treiben entstanden wäre: wie sehr würde dann dieses Geschäft des äußeren Bedürfnisses dem geistigen, welches der Erlöser vorher betrieben hatte, nachtheilig gewesen sein. Und dieses, m. a. Z., ist denn eine beständige und immer wieder aufs Neue in ihrer Nothwendigkeit sich aufdrängende Sache für das gesammte christliche Leben. Die Ordnung ist die Bedingung, unter der allein das Geistige und das Leibliche mit einander bestehen können, sie ist die einzige Bedingung, unter der nicht das Geistige über dem Leiblichen untergeht. Dieses, m. a. Fr., sehen wir ebensowohl im Einzelnen als auch im Ganzen und Großen. Wie oft haben wir in dem täglichen Leben Ursache zu bedauren, daß so mancher Einzelne von gutem und reinem Willen, von schönen Anlagen und nicht ohne auf besondere Weise von Gott begabt zu sein, doch einen großen Theil seiner Thätigkeit verliert, bei Weitem nicht so viel als er vermöchte zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt, ja, wenn wir es recht betrachten, auch in sich selbst nicht so zusammenhangend und mit sich übereinstimmend ist, als er wol könnte, nur ebendeswegen, weil er sich nicht gewöhnt hat, Ordnung in das äußere Leben zu bringen, weil da nicht jede Stunde | in die andere eingreift, weil eine Menge von Zeit darauf verwendet werden muß, das wieder gut zu machen, was die Unordnung gestört hat. Aber sehen wir erst auf das Große, auf das Zusammensein der Menschen in noch viel größeren Massen als die waren, welche sich hier um den Erlöser versammelt hatten: wie ist da so nothwendig die Ordnung das einzige Mittel, wenn das geistige Leben nicht untergehen soll in der Verwirrung. Wenn wir bedenken, was es denn wol am Meisten ist, wodurch die 13–15 Vgl. Mk 6,34

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Zufriedenheit der Menschen gestört, wodurch sie immer wieder fast gewaltsam auf das Nichtige und Eitle in diesem irdischen Leben hingewiesen werden und bei demselben festgehalten, so daß sie des geistigen Lebens nicht froh werden können: wir werden uns keine andere Antwort geben können als, es ist der Mangel an Ordnung zunächst in dem äußeren Leben, welcher auch wieder Verwirrung in dem Gemüthe selbst hervorbringt. Denn so ist der Zusammenhang zwischen beiden, daß Eins mit dem Anderen steht und fällt, und das Eine nicht anders als das Andere sich bewegt. Und wenn wir das nicht leugnen können, daß Ordnung und Gesetz allein das gemeinsame Leben der Menschen regieren, und wir sehen nun auf die vergangenen Zeiten zurück, wir nehmen die Erfahrung unseres eigenen Lebens zu Hülfe, erinnern uns aller Noth und Trübsale, welche dasselbe mit durchzogen haben, und wir fragen nach der ursprünglichen, sich immer wieder erneuernden Quelle derselben: was werden wir da sagen müssen als, da wo wir Ordnung sehen, ist es auch dem Menschen leicht, sich selbst zusammenzuhalten, da ist der Mensch Herr seiner leiblichen und geistigen Schätze, da kann er jede seiner Kräfte auf das Gute wenden. Fehlt es aber an der Ordnung, ist Verwirrung in den menschlichen Dingen: was sehen wir da? Statt vorwärts zu schreiten, werden die edelsten geistigen Kräfte oft nur gebraucht, nicht etwa um die Ordnung wieder herzustellen, sondern nur um in jedem Augenblick der Verwirrung | entgegenzutreten, und alles Geistige wie kümmerlich arbeitet es sich dann nur hindurch durch diese Verwirrung, welche in dem Ganzen ist. Müssen wir nun alle, die wir Glieder sind der geistigen Gemeinschaft, welche der Erlöser gestiftet hat, dieses Geistige für unseren eigentlichen Beruf erklären, und können auf der andern Seite wir es uns nicht bergen, wie wesentlich damit zusammenhängt, daß der Mensch alle seine Kräfte entwickle, um, wie er von Anfang an dazu bestimmt ist, Herr zu sein über alles Irdische: so müssen wir sagen, soll das beides mit einander bestehen, so kann es nur gelingen durch die äußere Ordnung. Ja wenn wir auch absehen wollen von allen jenen Erfahrungen: so müssen wir sagen, wie der Erlöser hier erscheint, so ist auch jedes ihm ähnliche und von seinem Geiste beseelte Gemüth in diesen mannigfaltigen Kreisen, die uns umgeben; es kann uns nicht wohl sein, wir können unsere Kräfte nicht zweckmäßig gebrauchen, wir können des Friedens, der in dem eigenen Herzen zwar schon begründet ist durch die Gemeinschaft des Erlösers, aber wir können uns desselben nicht ungestört erfreuen, wenn nicht überall in dem gemeinsamen Leben der Menschen uns die Ordnung entgegentritt. Daran giebt es ein Wohlgefallen, welches von der Ordnung in dem Innern des Gemüthes herrührt und da seinen Grund hat, ohne welches auch der Zusammenhang, in welchem wir mit den äußeren Angelegenheiten der Menschen stehen, uns widerlich sein muß und verhaßt; die Ordnung ist es, worin wir zuerst den Anfang der Herrschaft des Geistes über die irdischen Dinge erkennen, und je mehr sie uns zu Hülfe kommt, um desto genauer

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können wir uns Rechenschaft geben, was wir in jedem Augenblick mit den uns anvertrauten Kräften für das Beste der Menschen schaffen können. So wie nun jener Tag, wo diese Masse des Volkes den Erlöser umgab, zunächst bestimmt gewesen war der Betrachtung des geistigen Lebens, welche der Erlöser mit seinen Zu|hörern anstellte: so sind auch diese Tage, wie der heutige einer ist, vor allen vornämlich dazu bestimmt. Fragen wir nun, was darauf folgt in der Ordnung unseres irdischen Lebens: so ist es zweierlei. Es ist einmal das frohe, heitere, gesellige Zusammensein, welches für einen großen Theil von uns an eben diese Tage gebunden ist; und dann die geschäftige Berufszeit, welche den Zwischentagen angewiesen ist. Vergleichen wir nun einen solchen Theil mit dem andern und fragen, welches von uns sind die, die von jeder Versammlung in diesen Häusern der Andacht, von jeder Betrachtung des geistigen Lebens die meisten Früchte mit hinübernehmen in die andern Theile des Lebens, welche am Leichtesten diese anknüpfen an das geistige Band, welches uns zu Gliedern Christi macht: so werden wir sagen, es sind die, welche am Meisten Ordnung sowol in dem Theil ihres Lebens, welcher dem gemeinsamen Genuß gewidmet ist, als in dem, welcher für die Geschäfte des äußeren Lebens bestimmt ist, beobachten, und so sehen wir, wie unser Wachsthum in dem geistigen Leben besonders darauf beruht, daß in dem äußeren Theile des Lebens eine heilsame Ordnung besteht, diese allein die Ruhe in dem Gesammtzustande des Gemüths erhält, diese allein uns Herr bleiben läßt über Alles, was sich sonst gegenseitig zerstört, damit wir Alles zusammenschlingen in die Wohlgestalt eines Gott geheiligten Lebens. Aber, m. a. Z., es ist noch eine zweite Frage, die sich wol auch jedem von uns aufdringen wird bei dieser Erzählung. Wie kam der Erlöser eigentlich dazu, auf solche Weise äußerlich für diese große Menge von Menschen zu sorgen? Hat er nicht seinen Jüngern es als eine heilige Vorschrift gegeben, sie sollten nicht sorgen, was sie essen und trinken würden; hat er nicht bei so vielen andern Gelegenheiten sich allen Anforderungen, welche die Menschen in Beziehung auf ihr äußeres Leben an ihn machten, entzogen? Sagt er nicht zu ih|nen: wer hat mich zum Schiedsrichter gesetzt in euren äußeren Angelegenheiten; und hätte er nicht auch hier seinen Jüngern sagen können, wer hat mich und euch darüber gesetzt, daß wir für ihre äußere Nahrung sorgen sollen; zumal in diesem Fall, wo sie wider seinen Willen gleichsam ihm nachgedrungen waren in die Einsamkeit? Wenn wir uns diese Frage vorlegen: so würden wir gewiß nicht den richtigen Weg einschlagen, wenn wir glauben wollten, daß, wenn der Erlöser nicht auf solche Weise gesorgt hätte, diese Menge von Menschen vor Hunger würde umgekommen sein; denn so war es nicht mit dieser Wüste; sondern, wie die Jünger sagen, wenn der Erlöser sie nur damals, als der Tag sich neigte, hätte 29 Vgl. Mt 6,25; ferner Lk 12,22

32–33 Vgl. Lk 12,14

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von sich entlassen wollen: so würden sie in den umherliegenden Städten und Flecken noch recht gut ihre Nahrung haben finden können. Aber der Erlöser wollte uns hier ein Beispiel geben, daß er nicht wollte, daß die Verbindung der Menschen mit ihm um des geistigen Lebens willen, welches er unter ihnen stiften wollte, und worauf sich offenbar seine Lehren an diesem Tage bezogen, daß diese sollte ihrem äußeren Leben auf irgend eine Weise nachtheilig werden. Wenn ich sage, es sei offenbar, daß, was der Erlöser an diesem Tage gelehrt, dem Wesen nach nichts Anderes habe sein können als eine Belehrung über das geistige Reich Gottes, welches durch ihn sollte gegründet werden: so findet sich der Grund dazu in der Erzählung, welche der Apostel Johannes von dieser Begebenheit aufbewahrt hat; denn der läßt hernach ein Gespräch folgen zwischen Christo und Vielen von denen, welche mit von diesem Brote gegessen hatten, aus welchem Gespräch man sieht, daß sie ihn fragten, woran sie denn erkennen sollten, daß er der sei, welcher dieses Reich Gottes gründen sollte, ob sie diese | Handlung so ansehen sollten, wie jene, als Moses in der Wüste das Manna habe regnen lassen, und wie er sie in seiner Rede davon ablenkte und sagte, sie sollten darauf keinen so großen Werth legen, er sei allerdings das Brot, das von dem Himmel gekommen sei, aber nur als Nahrung eines höheren geistigen Lebens, und deshalb sollten sie keinen so großen Werth darauf legen, daß sie äußerlich von ihm wären genährt worden, sondern sein Fleisch und Blut sollten sie sich aneignen und in sich verwandeln. Hieraus können wir den sichersten Schluß ziehen über den Inhalt dieser, wie der Evangelist sagt, langen Predigt des Erlösers, von der er uns aber weiter nichts mittheilt; aber deshalb war dieses gerade eine Gelegenheit, daß er das Verhältniß des geistigen Reiches zu den äußeren Angelegenheiten des Lebens ihnen konnte anschaulich zu Tage bringen. Die Meisten von denen, welche ihn umgaben, wie überhaupt der größte Theil seines Volkes, waren der irrigen Meinung, ein Reich Gottes könne nur hergestellt werden, wenn das Volk Gottes wieder zu seinem alten Glanz käme; der, welcher das Reich Gottes gründen wolle, müsse auch den alten Thron David’s wieder aufrichten. Wie wäre das möglich gewesen als durch eine gänzliche Umstürzung der Ordnung, durch eine vollständige Verwirrung des bürgerlichen Lebens, durch Feindschaft, Haß, Bürgerkrieg, Blutvergießen, kurz durch alle die Gräuel, welche auch wir so oft in dem Leben angeschaut haben. Einen solchen Streit aber zwischen dem geistigen Leben und den Bedingungen des äußeren wollte der Erlöser nicht, und wie er immer darauf ausgeht zu sagen, sein Reich sei nicht von dieser Welt, es sei ein geistiges Reich: so fand er es nothwendig, ihnen zu zeigen, wie eben deswegen es auch allein dasjenige sei, was dem äußeren Wohlergehen, der Verbesserung des irdi10–11 Vgl. Joh 6,3–15 12–13 Vgl. Joh 6,23–65 14–17 Vgl. Joh 6,30f 22 Vgl. bes. Joh 6,33.50f.53–58 23–24 Vgl. Mk 6,34 38 Vgl. Joh 18,36

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schen Lebens durchaus auf keine Weise in den Weg trete, und darum stiftete er unter denen, die ihm zugehört hatten, dieses gemeinschaftliche Mahl. Sie sollten dabei die Ueber|zeugung gewinnen, daß, wenn sie sich dem geistigen Reiche zuwendeten, dieses ihrem äußeren Leben keine Gefahr bringen würde, wogegen dieses ganz würde gestört werden, wenn er so verfahren wollte, wie sie dachten. Das, gewiß das war die vorzügliche Bedeutung dieser Handlung des Erlösers. Und wenn wir nun zurücksehen auf die ganze seitdem vergangene Zeit: was bietet sie uns anders dar als die schönste Bestätigung dessen, was der Erlöser damals andeutete? Wie wenig ist das geistige Reich, welches er begründet hat, dem äußeren Bestehen der Menschen in den Weg getreten; wie können wir anders sagen, als daß am Meisten unter den christlichen Völkern es sich emporgehoben, daß am Schnellsten auch der äußere Zustand sich verbessert hat, weil nun ein geistiger innerer Grund in ihnen war; was können wir anders sagen, als daß auch der zweite große Beruf der Menschen, wenn doch das der erste ist, daß sie das Bild Gottes in sich tragen sollen, aber auch der zweite große Beruf der Menschen, daß sie das Bild Gottes darstellen sollen in ihrer Herrschaft über Alles, was auf Erden ist, nirgend ist dieser so erreicht worden als unter den Christen; aber nur dann, – und das wird das ewige Gesetz sein in dieser Fortschreitung der menschlichen Dinge, – wenn sie der großen Regel des Erlösers folgen, immer zuerst zu trachten nur nach dem Reiche Gottes und gewiß zu sein, daß sich alles Andere daraus von selbst entwickeln werde. Wenn wir bedenken, wie der Erlöser sich hier wollte mit seinen Jüngern zurückziehen aus dem Gedränge der Menschen, um mit ihnen allein sich zu sammeln fern von dem Gewühl des Lebens, wie wir es neulich gesehen haben, und wir finden, wie doch die Menge der Menschen sich ihm nachdrängte in die Wüste, und er nicht anders konnte, als von der Liebe zu ihnen getrieben auch diesen Tag ihnen weihen, den er eigentlich in der Stille, nur von seinen Jüngern umgeben, hatte zubringen wollen: so erscheint uns als der letzte | Ausdruck dieser Liebe, gleichsam als die Zugabe derselben dieses, daß er auch ihrer äußeren Bedürfnisse sich annahm. Eben dieser Zusammenhang soll auch in unserem ganzen Leben sein. Was uns in unseren Verhältnissen zu einander beseelt, soll nicht allein der Wunsch sein, daß jeder für sich wohl sei in dem Lande, welches Gott ihm angewiesen hat, und daß Andere es auch seien, sondern was das Erste sein soll, wonach wir streben, ist dieses, daß wir die Menschen hinweisen und festhalten bei der Quelle des Erlösers, ihre äußere Noth versüßen in dem Anschauen der Ordnungen Gottes, in dem Bewußtsein seiner Liebe, in dem Genuß seines Friedens. Aber hieraus geht auch das Andere hervor, und so schließt sich das äußere Leben an das geistige 21–23 Vgl. Mt 6,33 24–30 Vgl. Mk 6,31–34 sowie die Predigt am 7. Oktober 1832 über Mk 6,30–34 34–35 Anspielung auf Dtn 5,16

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an. Nur damit dieses erblühen, damit dieses immer vollkommener werden könne, nur dazu soll sich das andere immer mehr erheben; und nur wenn wir es so behandeln, wird es sein rechtes Gedeihen haben. Das ist ja auch die allgemeine Erfahrung. Wo sich das irdische Leben losreißen will von dem geistigen: wie wenig gehört dann dazu, daß auch das Band zerreißt, welches das geistige mit dem äußeren Leben zusammenhalten kann, daß jene schöne Ordnung zerstört wird; wie entwickelt sich dann immer Verwirrung, Leidenschaft, Selbstsucht, und wie geht dann das geistige Leben unter in dem irdischen? Aber ebenso wollte auch der Erlöser hier zeigen, daß das irdische Leben nicht sollte vernachlässigt werden über dem geistigen. Darum war es ein Verkennen seines Sinnes und seiner Ordnung, wenn Viele unter denen, die ihm dienen wollten, sich aus den Geschäften des irdischen Lebens zurückzogen und meinten, nur in der immer fortgesetzten, sich gegen das Aeußere verschließenden stillen Betrachtung könnten sie ihr Heil finden; denn haben wir einmal dieses Band zerrissen: dann vertrocknet das geistige Leben eben so gewiß als das irdische sich verwirrt. So hat Gott beides zusammengefügt, daß der Mensch es nicht scheide. | Sollte aber vielleicht jemand nach diesen Betrachtungen noch im Ernst eine Frage aufwerfen wollen, nämlich die, hat der Erlöser damals auf eine wunderbare Weise für die Menschen gesorgt, sind seine Jünger ohne zu wissen wie, seine Diener dabei gewesen: warum hat er nicht diese Kraft in dem Schooß seiner Kirche erhalten, warum können die Menschen nicht auch jetzt noch aus nichts Nahrung herbeischaffen, und warum muß deswegen, weil wir es nicht können, dem irdischen Theile des Lebens ein so großer Theil unserer Zeit und Kräfte gewidmet werden? Ich glaube nicht, daß jemand im Ernst diese Frage aufwerfen kann, weil er dadurch unsere vorigen Betrachtungen zerstören würde. Die Herrschaft des Menschen über die Erde würde dadurch gestört werden, wenn der Erlöser dieses gethan hätte, wie auch die Liebe, aus welcher seine Wohlthätigkeit entsprang, wenn wir uns dieses als etwas Allgemeines denken wollten, uns nicht würde zum Bewußtsein kommen. Die Herrschaft des Menschen über die Erde soll eine thätige sein. Wenn wir ohne Thätigkeit auf eine wunderbare Weise unseren Bedürfnissen genügen könnten: wie würde es aussehen um die Entwicklung auch der meisten geistigen Kräfte auf Erden, wie würde es aussehen um das feste, dauernde Band der Liebe und des Wohlwollens, wenn in jedem Augenblick, ohne an die Ordnung der Natur gebunden zu sein, jeder seinen und den Wünschen Anderer genügen könnte. Allein das Wesen davon, ja wir müssen es gestehen und es dankbar bezeugen, das ist doch auch unter uns. Denn wenn wir unser ganzes Leben betrachten, inso28 Erlöser] Erlöses 16–17 Vgl. Mt 19,6; Mk 10,9

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weit als wir mit Wohlgefallen auf dasselbe zurücksehen können, und wir fragen uns, welches ist denn die Kraft, die unter uns aus Wenigem viel macht, die Alles zusammen hält, Alles richtig vertheilt, durch deren Walten und Wirken wir uns aller Güter erfreuen? Es ist nur dieselbe Kraft der Liebe, die aber nur von dem Geistigen ausgehend sich über das Irdische erstrekken kann. Von dieser ging | damals die wunderthätige Wirksamkeit des Erlösers aus, von dieser geht jetzt alle regelmäßige, ordentliche Entwickelung des Lebens aus. Darum kann auch nichts Anderes unser Wahlspruch sein als das große Wort des Erlösers, trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes, so wird euch alles Andere von selbst zufallen, – nicht auf eine zufällige Weise, sondern weil es von selbst aus diesem Trachten nach dem Reiche Gottes sich entwickelt, weil ihr nicht nöthig habt, zweierlei Wünsche zu hegen, zweierlei Gesetz zu folgen, sondern aus Einem und demselben geht Alles hervor, das geistige Wohl und das leibliche Wohl; es ist nur Eins und dasselbe, es kann nur aus Einer Quelle sich entwickeln. Und darum ist eben er, weil er dieses unter uns begründet hat, der Herr, welcher Herr ist über Alles, durch den allein wir unsere Herrschaft über die Erde erweitern und mehren können, und den in dem Bewußtsein dessen, sowol was er uns äußerlich gegeben hat, als was er innerlich in uns schafft, wir immer mehr als den Herrn erkennen müssen, vor dem Aller Knie sich beugen sollen, die im Himmel und auf Erden sind. Amen. Lied 691, 4–5.

9–10 Vgl. Mt 6,33 19–21 Vgl. Phil 2,10 22 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 691: „Ich bin der Angst entnommen“ (Melodie von „Ich dank dir, lieber Herre“)

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19. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 12,19–23 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 77–98, Nr. V SW II/3, 1835, S. 400–413; 21843, S. 414–427. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 447–458 Keine Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 19. Sonntage Trinitatis 1832.

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Text. Apostelgesch. XII, 19–23. „Herodes aber zog von Judäa hinab gen Cäsarien und hielt allda sein Wesen; denn er gedachte wider die von Tyro und Sidon zu kriegen. Sie aber kamen einmüthiglich zu ihm und überredeten des Königs Kämmerer Blastum, und baten um Frieden; darum daß ihre Länder sich nähren mußten von des Königs Lande. Aber auf einen bestimmten Tag that Herodes das königliche Kleid an, sezte sich auf den Richtstuhl und that eine Rede zu ihnen. Das Volk aber rief zu: das ist Gottes Stimme und nicht eines Menschen. Alsobald schlug ihn der Engel des Herrn darum, daß er | die Ehre nicht Gott gab, und ward gefressen von den Würmern und gab den Geist auf.“ M. a. Z. Es wird vielleicht Vielen von Euch, ohne daß ich es ausdrükklich vorher gesagt habe, bemerklich geworden sein, daß ich seit dem Ende unserer diesjährigen Festzeiten zu unseren Versammlungen um diese Stunde den Stoff immer aus den Geschichten der Apostel genom2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 32: „Herr, vor deinem Angesicht“ (Melodie von „Liebster Jesu, wir sind hier“); Nr. 459: „Ein Christ, ein tapfrer Kriegesheld“ (Melodie von „Was Gott thut, das ist wohlgethan“)

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men habe. So war ich denn in dem Lesen derselben zu diesem Behuf über das Kapitel, aus welchem unser Text genommen ist, schon hinweggegangen und wollte weiter gehen, als ich doch meine Gedanken auf einmal bei diesem Ende desselben festgehalten fühlte. Wie, sprach ich, wird Mancher bei sich sagen, kommt wol diese Erzählung in unsere heiligen Bücher? wie klein ist doch das gesammte Wort Gottes des neuen Bundes, wie viele Fragen über die wichtigsten Gegenstände der christlichen Lehre und des christlichen Lebens bleiben uns übrig, über die wir keinen unmittelbaren Aufschluß in klaren und deutlichen Aussprüchen dieser Bücher finden; sondern wir sind nur unserem Forschen und Nachdenken, was wol mit diesem oder jenem Ausspruche derselben am besten stimme, überlassen: und bei diesem Zustande derselben finden wir nun hier doch den theuren uns so kostbaren Raum auch noch von solchen Erzählungen wie diese eingenommen, welche den Umkreis des christlichen Lebens ganz verlassen, und uns in ganz fremde Zustände hineinführen! Wohl, dachte ich, kann das Manchem großes Bedenken erregen, ob es überhaupt wohl eine solche besondere göttliche Leitung über die Verfassung und die Sammlung dieser Schriften gebe, wie wir sie uns zu denken ge|wohnt sind; und ob nicht vielmehr auch sie, wenn man diese ihre Beschaffenheit erwägt, doch müßten eben so wie alles andere für ein natürliches Menschenwerk, in dem es immer mancherlei gleichsam zufälliges nicht vollkommen mit dem übrigen zusammenstimmendes giebt, gehalten werden. Soll sich aber dieses Bedenken heben lassen: so müssen auch dergleichen Theile der Schrift etwas für uns enthalten, wodurch ihnen mit Recht ihre Stelle in diesen heiligen Büchern, welche der Leitstern unseres ganzen Lebens sein sollen, zukommt. Indem ich nun in diesem Sinne, m. a. Z., über die vorgelesene Erzählung von dem Tode des Herodes zu Euch reden will, muß ich Euch zwei ganz verschiedene Betrachtungen vorlegen; die eine bezieht sich darauf, worauf sich denn wohl eben das gründe, daß diese Erzählung einen Ort gefunden hat in der Geschichte der Apostel, und erst wann wir uns diese Frage beantwortet haben, werden wir in der zweiten auf den Inhalt der Erzählung, der uns eben dadurch wichtig wird, unsere gemeinschaftliche Aufmerksamkeit richten können. I. Um die erste Frage, worauf es sich gründet, daß die verlesene Erzählung einen Plaz in der Apostelgeschichte gefunden hat, zu beantworten, müssen wir uns den Zusammenhang, in welchem dieser Abschnitt vorkommt, vergegenwärtigen. Am Anfange dieses Kapitels war er40–5 Vgl. Apg 12,1–4

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zählt worden, daß Herodes seine Hände an Jakobum, den Bruder des Johannes gelegt hatte, und ihn hingerichtet mit dem Schwert; und weil solches dem Volke wohlgefiel, so ließ er auch den Petrus greifen, und wollte ebenfalls, wenn das | Fest der süßen Brote vorüber sein würde, dem Volke das Schauspiel seiner Hinrichtung geben. Darauf wird weiter erzählt, wie Petrus durch einen Boten des Herrn aus dem Gefängnisse befreit worden sei, und, als er hinausgeführt werden sollte, um hingerichtet zu werden, nicht gefunden wurde, und wie Herodes im Zorn seine Hüter an seiner Stelle hinrichten ließ; darauf erst folgt unsere Erzählung. Steht sie etwa hier, um uns davon zu belehren, daß durch den Tod des Herodes jene Verfolgung, die er über die Christen verhängt hatte, ihr natürliches Ende gefunden? Dessen wird kaum erwähnt in der allgemeinen Beschreibung, daß das Wort Gottes wuchs; denn das geschah auch mitten unter den Verfolgungen, ja unter diesen oft auf eine ganz vorzügliche Weise. Wohin Petrus gegangen, nachdem er befreit worden, ob und wie er nach dem Tode des Herodes zurükkgekehrt, von dem Allen wird uns nichts gesagt; und also können wir auch nicht behaupten, daß der Tod des Herodes erzählt werde um des eigentlich geschichtlichen Zusammenhanges willen, welcher der Zwekk dieses Buches ist. Wie aber, wenn etwa der Verfasser desselben dieses Ereigniß dargestellt hätte als eine Strafe eben für diese Verfolgung, welche Herodes über die Christen verhängt hatte? Zum Glükk findet sich davon auch nicht die leiseste Spur; vielmehr giebt unser Verfasser uns gar keine Veranlassung hiebei an jene wiewol eben erst erzählte Unthat dieses Herrschers gegen den neuen Glauben zu denken, sondern er bezieht ausdrükklich seinen Tod auf etwas ganz anderes in seinem Reden und Thun. Zum Glükk, sagte ich; denn sehr wohlthätig ist es allerdings, daß wir derglei|chen nicht finden. Wenn wir in der Schrift eine Versicherung darüber fänden, daß die Gegner des Evangeliums allemal in der Kürze ein Gegenstand der göttlichen Strafe würden: wie sehr würde es dann bei vielen schwachen Gemüthern gethan sein um die Reinheit des Glaubens! wie sehr würde der Sieg der Wahrheit dann zweifelhaft werden, ob nicht doch die Unterwerfung der Menschen unter dieses Wort, welches ihnen verkündigt wird, zum Theil wenigstens eine Wirkung sei von der Furcht vor der göttlichen Strafe, wenn sie es vernachlässigten und verschmähten! Oder sollen wir glauben, unsere Erzählung wolle uns einen Wink davon geben, daß ein solcher plözlicher, ein so in seiner Art und Weise seltener und außerordentlicher Tod wie der dieses Königs, allemal angesehen werden solle als eine göttliche Strafe, und wir hätten dann nur aufzusuchen, worauf 5–7 Vgl. Apg 12,5–11

7–9 Vgl. Apg 12,19

13–14 Vgl. Apg 12,24

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sie sich beziehe, und welches der Frevel sei, der davon getroffen werde? Solche Vorstellungen finden wir freilich früher in den Zeiten des alten Bundes: aber sie hängen auch damit zusammen, daß damals der Gott der Väter zugleich verehrt wurde als der weltliche Oberherr, als der Gesezgeber und Richter dieses Volkes; und einem solchen freilich geziemt es zu strafen. Darum werden dort alle Uebel, sofern sie auf Gott und seine Führung zurükkgeführt werden mußten, auch immer als Strafe angesehen, und Veranlassung davon genommen die sittlichen Zustände zu prüfen. Bedürfen aber wir noch eines solchen Spornes? und würde es der Wahrheit des Evangeliums gemäß sein, wenn unsere heiligen Schriften dergleichen in sich faßten? Wie sehr vermannigfaltigen sich nicht in diesem verwikkelten Leben der Menschen, dem wir angehören, | die Gestalten des Todes; von einer Zeit zur anderen entstehen neue Krankheiten und Uebel, welche auf eine neue Art bald im Einzelnen bald in großen Massen die Menschen hinwegraffen. Je außerordentlicher, je plözlicher, desto sonderbarer wird freilich das Gemüth allemal von einer solchen Erscheinung bewegt; aber dieser Zustand ist nicht der, in welchem der Mensch am geschiktesten ist, seine eigenen oder fremde Handlungen zu beurtheilen. Welcher Ungerechtigkeit würden wir uns schuldig machen! wie oft würden wir, um eine Ursache zu solcher Strafe zu finden, für ein Verbrechen gegen des Höchsten Majestät halten, was es nicht ist! wie würden wir unser Gewissen verwirren, wie unvermeidlich würden wir auf eine Art, wie es uns nicht geziemt und wie wir es nicht vermögen, immer dahin getrieben werden, in die verborgene Tiefe des einzelnen uns unbekannten menschlichen Lebens hineinschauen und sie durchdringen zu wollen! Nein, dessen können wir uns getrösten, weder dieses noch jenes ist der Grund, weshalb diese Erzählung ihren Plaz gefunden hat in unseren heiligen Büchern. Wenn wir aber doch nach dieser Ursache fragen sollen, es soll weder die eine noch die andere sein: so weiß ich nur Eine zu finden, bei der wir stehen bleiben müssen. Die ersten Christen, m. a. Fr,, waren ein kleines, verborgenes Häuflein; die ganz neue Offenbarung von einem geistigen Reiche Gottes, von einer Erlösung der Menschen durch Einen, der menschliche Gestalt und Wesen an sich getragen hatte, und eines gewaltsamen Todes gestorben, hernach aber von Gott erhöhet und zu einem Herrn und | Christ gemacht war1, wie der Apostel sagt, diese beherrschte natürlich ganz und gar ihr Gemüth und Leben. Indem sie diesen göttlichen Saamen immer tiefer in sich aufzunehmen suchten, und zugleich theils öffentlich theils in der Stille, aber doch immer mit einem Erfolg, der sich nur selten über große Massen 1

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erstrekkte, sondern nur allmählig und Einzelne hinzufügte zu der großen Gemeine, das Wort, das ihnen anvertraut war, verkündeten: so schnitten sie sich auch natürlicherweise, so weit es mit dieser Absicht bestehen konnte, von dem übrigen ihnen fremde gewordenen Leben ab. In das große Getriebe der Welt hinauszutreten, dazu hatte keiner der Gläubigen einen Beruf; denn die da gläubig wurden, gehörten größtentheils nicht zu denen, welche einen Einfluß hatten in den weltlichen Dingen. Aber zu etwas ganz anderem war doch dieser Glaube bestimmt, als gleichsam in der Stille ein geheimes Gut weniger Menschen zu sein! von Anfang an war es darauf abgesehen, daß er je länger je mehr das ganze Geschlecht der Menschen beherrschen sollte, und seine Ordnung sollte über ihr ganzes Leben walten. Wie übel wären wir also berathen, wenn Alles in unseren heiligen Büchern sich ausschließlich beschränkte auf das damalige Bedürfniß! Betrachten wir nun die Erzählung, welche unsere Aufmerksamkeit izt beschäftigt: so ist ihr Gegenstand ganz und gar das Verhältniß jenes Herrschers zu dem Volke, welches er zu regieren hatte, und zu den äußeren Angelegenheiten desselben, nicht nur die unmittelbaren Worte unseres Textes, sondern auch alles, was vorhergeht in diesem Kapitel. | Darum rechnen wir es billig mit Recht zu der göttlichen Leitung, welche über der Verfassung und Sammlung der heiligen Bücher des neuen Bundes gewaltet hat, daß sie auch solche Bestandtheile enthalten, welche sich auf das damalige Bedürfniß nicht unmittelbar beziehen, in welchen wir aber doch, so wir nur recht darauf merken, Lehre und Anweisung finden auch über die Art und Weise, wie sich das Leben unter uns gestaltet hat, Lehre und Anweisung, wie der christliche Glaube und die christliche Gesinnung auch die andern Theile des gesammten menschlichen Lebens verwalten soll, und wie auch die menschlichen Dinge gehandhabt werden sollen, mit denen diejenigen, die damals ihr Heil in Christo suchten, am wenigsten zu thun hatten. Hierauf haben wir also, wenn die Absicht, weshalb diese Erzählung in unseren heiligen Büchern steht, an uns erreicht werden soll, jezt unsere Aufmerksamkeit zu richten; und so lasset uns denn in dem zweiten Theile unserer Betrachtung sehen, was uns eben diese Erzählung, wenn wir zugleich an den Ort denken, wo wir sie finden, über diese große menschliche Angelegenheit lehrt. II. Zuerst, m. a. Z., möchte ich sagen, durch ihr bloßes Dasein beschämt und widerlegt unsere Erzählung diejenigen Christen, welche sich auch izt noch, so viel sie es nur irgend vermögen, von aller Theilnahme an den größeren Beziehungen des gesellschaftlichen Lebens in der christlichen Welt zurükkziehen wollen. Denn solche, m. chr. Z., giebt es

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überall und auch unter uns gar viele; und sie können freilich auch manches zu ihrer Rechtfertigung sagen. Ich | meine diejenigen, welche den Beruf, der ihnen in der menschlichen Gesellschaft unmittelbar angewiesen ist, worin er auch bestehen möge, mit möglichster Treue und ihrer besten Erkenntniß gemäß zu erfüllen suchen; aber alle Zeit, die er ihnen übrig läßt, widmen sie am liebsten nur Einem Gegenstande, dem vertrauten Gespräch mit gleichgesinnten Seelen über die inneren Erfahrungen und Angelegenheiten des einzelnen Gemüthes. Wer sollte das wohl an sich tadeln? wie könnten wir darin wohl ein Hülfsmittel verkennen, welches jedem unentbehrlich ist, der zunehmen will an der Selbsterkenntniß, auf der ja alles Fortschreiten in der christlichen Weisheit beruht! Aber nur sollen sie uns zugeben, daß das nicht alles ist; sie sollen sich nicht dahinter zurükkziehen, wie sie es gewöhnlich thun, daß sie sagen, Wessen Beruf es ist, die menschlichen Dinge sei es im großen oder im einzelnen und kleinen zu leiten, der möge sich darum kümmern, grade so wie wir uns jeder um seinen irdischen Beruf kümmern; unser Beruf aber ist es nicht, und so wollen wir uns auch gar nicht in das mischen, wovon wir überzeugt sind, daß es uns nicht angeht, so wollen wir auch die Sorgen nicht theilen, welche Gott nicht auf uns gelegt hat, sondern auf Andere. Ja wenn diese Ueberzeugung richtig wäre, so wollten wir sie danach handeln lassen; wenn in der gegenwärtigen Zeit und Lage der menschlichen Dinge noch eine solche Trennung wirklich bestände, daß man sagen könnte, es ist nur der Beruf einer gewissen Klasse von Menschen, derer, die Gott unmittelbar über die Völker gesezt hat, und derer, denen diese einen Theil ihres Ansehens anvertrauen, es ist nur deren Beruf, darauf zu sehen, daß in den allgemeinen | Angelegenheiten alles zum besseren geführt werde, und alles unvollkommene immer mehr verschwinde; und je mehr sich die Uebrigen dabei nur leidend verhielten, um desto besser sei es – wenn man das sagen könnte: so sollten sie Recht haben; so wollten wir keine andere Eintheilung der menschlichen Zeit, keine andere Führung des menschlichen Lebens für richtig anerkennen als diese. Aber so ist es nicht; die gesellschaftlichen Angelegenheiten der Menschen sind izt etwas weit mehr gemeinsames. Wie viel diejenigen wirklich ausrichten, welche zum unmittelbaren Einwirken in dieselben berufen sind, ja wie weit sie auch nur erkennen, was eigentlich Zeit und Umstände von ihnen fordern, beides geht zum großen Theil izt hervor aus der freien und je länger je weniger zu beschränkenden Oeffentlichkeit des Lebens. Die gemeinsamen Angelegenheiten sind auf der einen Seite Keinem mehr etwas verschlossenes, auf der anderen kann man es eben deshalb nicht mehr als etwas erlaubtes gelten lassen, wenn sich Einer von denselben zurükkziehen will. Die herrschende Ansicht, die Art und Weise, wie die

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menschlichen Dinge öffentlich in dem gemeinsamen Gespräch verhandelt werden, und die Vorstellungen, welche sich auf diesem Wege ausbilden, haben einen Einfluß, der nicht abgeleugnet werden kann, auch auf die Art, wie sich die Vorstellungen derer gestalten, welche zu gebieten haben, so wie auf die Lust und Freudigkeit, mit welcher diejenigen gehorchen, denen das Gehorchen obliegt. Aber weil diese Christen am liebsten nicht widerlegt werden auch durch noch so wohl zusammenhangende menschliche Rede, auch nicht aus dem, was ein Einzelner, der aber anders denkt als sie, ihnen als die Stimme seines | Gewissens mittheilt, sondern weil sie am liebsten so wie geleitet so auch widerlegt werden aus der Schrift: so widerlege sie nun eben dieser unser heutiger Text. Was ging den Verfasser der Apostelgeschichte dieses Ende des Herodes an? ob er so ob er anders gestorben war, das konnte ihm nicht nur sofern er ein Glied der christlichen Gemeine war, sondern auch in Beziehung auf seinen besonderen Beruf, die Geschichte der Apostel der Nachwelt aufzubewahren, ganz gleichgültig sein; um so mehr als er sich ausdrükklich enthält, auf einen Zusammenhang, den dieses Ende auf die christlichen Angelegenheiten gehabt hätte, aufmerksam zu machen. Und doch hat ihn diese Geschichte so beschäftigt und bewegt, daß er sich nicht hat enthalten können, sie seiner Erzählung einzuverleiben. Aber es muß wohl Jedem, der einigermaßen in der Schrift bewandert ist, bei dieser Erzählung noch etwas anderes einfallen. Es war auch ein Herodes, wenngleich nicht derselbe, dessen Tod uns hier berichtet wird, von welchem der Evangelist Lukas einmal erzählt, daß Christus dem Anschein nach von wohlmeinenden Freunden gewarnt wurde, er solle sich aus dem Gebiet desselben hinwegbegeben, weil er ihm nach dem Leben stände. Da antwortete er, Gehet hin und saget diesem Fuchs, siehe, ich treibe Teufel aus und mache gesund heute und morgen, und am dritten Tage werde ich von hinnen gehen1. Daß nun der Erlöser in Beziehung auf seine Selbsterhaltung sich nicht um jenen Herodes und dessen Art und Weise bekümmert habe, das sehen wir eben daraus, daß er dieser Warnung kein Gehör gab, sondern | seinen Aufenthalt so lange, als es sein Beruf erforderte, fortsezte: aber doch mußte er sich um diesen Fürsten bekümmert haben; denn wie hätte er ihm sonst einen solchen Namen beilegen können, welcher doch offenbar eine Bezeichnung seiner Gemüthsart und Handlungsweise sein soll? so mußte er sich doch um ihn und um die Art, wie er die öffentlichen Angelegenheiten leitete, um die Gesinnung, aus der 1

Luk. 13, 32.

25–28 Vgl. Lk 13,31

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seine Handlungen hervorgingen, bekümmert haben. Und so werden wir sagen, daß wir diese Gleichgültigkeit gegen die menschlichen Dinge um so weniger rechtfertigen können aus der Schrift und mit der Schrift, als wir vielmehr deutlich sehen, daß zu einer Zeit, wo die Bekenner des neuen Glaubens noch weit entfernt waren von jedem unmittelbaren Einfluß, den sie auf die gemeinsamen Angelegenheiten hätten ausüben können, sowol der Erlöser selbst über die öffentlichen Personen ein Urtheil hatte, die auch ganz außer seinem Bereich lebten, als auch die Art, wie unsere heiligen Schriften abgefaßt sind, uns deutlich lehrt, daß jeder Christ, wenn gleich sein unmittelbarer Beruf das nicht mit sich bringt, sich den Zustand der öffentlichen Angelegenheiten soll am Herzen liegen lassen und von demselben Kenntniß nehmen. Fragen wir aber, was war denn nun in dieser Begebenheit genau betrachtet dasjenige, was den Verfasser der Apostelgeschichte dazu bewog, sie, so wenig sie auch in den unmittelbaren Zusammenhang gehört, doch seiner Erzählung einzuverleiben? Wenn nicht in dem Zusammenhang, den er in den Worten darstellt, Der Engel Gottes schlug ihn, weil er Gott nicht die Ehre gab, wenn in diesen Worten nicht eine tiefe Wahrheit gelegen hätte, die sein ganzes Ge|müth ergriff, eine solche, von welcher ihm der Geist deutete, daß sie wichtig sei und immer wichtiger werden müsse für alle Genossen des Glaubens: so würde, wie ein merkwürdiger Mann für seine Zeit auch dieser König gewesen war, doch kein Wort von seinem Tode in unsere heiligen Bücher gekommen sein. Welches nun ist diese Wahrheit? So wie der Buchstabe klingt, möchte man zuerst glauben, die Meinung des heiligen, von Gott erleuchteten Schriftstellers sei die gewesen, weil als das Volk ausrief, das ist Gottes Stimme und nicht eines Menschen, Herodes Gott nicht die Ehre gegeben hätte, so hätte ihn der Engel des Herrn geschlagen, und zwar in demselben Augenblikk? Wie leicht aber muß nicht eigentlich, auch nach unserer Art und Weise zu reden, das Vergehen erscheinen, was hierbei zum Grunde gelegen! Wir sollten es freilich nicht, denn es ist immer etwas nachtheiliges, wenn man den menschlichen Worten ihre rechte Kraft und Bedeutung nimmt durch einen leichtsinnigen und erweiterten Gebrauch, wir sollten es also nicht: aber wie oft bedienen wir uns nicht ähnlicher Redensarten? wie oft nennen wir nicht etwas göttlich, was uns in seiner Art vortrefflich und gut erscheint? und gewiß nicht immer was mit göttlichen Gegenständen zusammenhängt! Indem das Volk sagte, das ist Gottes Stimme und nicht eines Menschen, was that es anders, als daß es sein Wohlgefallen an der schönen Rede zu erkennen gab, die Herodes von seinem Throne herab an die Abgeordneten derer von Tyrus und Sidon hielt? Wie könnte uns eine Strafe angemessen erscheinen und wirk-

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sam, wie es doch jede Strafe sein soll, die so im Augenblikke noch vor vollendeter That eintrat? Sollte denn Herodes mit einem von frommem | Zorne erfüllten Gemüth in demselben Augenblikke das Volk strafen über seinen Ausdrukk, da wir nicht einmal wissen, ob er seine Rede, um derentwillen die ganze Versammlung veranstaltet war, schon vollendet hatte? das also kann die Meinung nicht sein! Aber wenn wir sie verstehen wollen, so müssen wir auf den Zusammenhang dieser Begebenheit mit dem vorigen sehen. Da war erzählt worden, daß Herodes den Jakobus, den Bruder Johannis, hingerichtet hatte, und weil es dem Volke wohlgefiel, habe er auch den Petrus greifen lassen. Hätte er wohl den Jakobus hingerichtet, wenn er nicht geglaubt hätte, es werde dem Volke gefallen? Wie die Fortsezung, so war gewiß auch der Anfang gewesen! Er selbst so wie sein ganzes nicht vor langer Zeit erst in die Gemeinschaft des jüdischen Volkes aufgenommenes Geschlecht war nicht von solchem Eifer für das Gesez, daß wir es uns aus einem Eifer um Gott erklären könnten, wenn er den einen Apostel hinrichten, den anderen greifen ließ! er selbst nahm an diesem Gesez keinen solchen Antheil, daß wir glauben müßten, es sei eine bestimmte Ueberzeugung gewesen, warum er so gehandelt! Was war es also? Er wollte dem Volke gefallen. Das war entzündet durch die Pharisäer und Schriftgelehrten von wildem Grimm gegen den neuen Glauben und seine Bekenner; das freute sich, wenn die ihrer Freiheit beraubt wurden, von denen sie glaubten, sie suchten das Ansehen zu untergraben, durch welches sie nun schon seit langer Zeit her geleitet wurden. Dieser wilden Lust, dieser grausamen Stimmung des Volkes wollte Herodes gefallen; darum richtete er den Jakobus hin, darum ließ er den Petrus gefangen nehmen. Wie nun dieses eine grausame Schmeichelei war | gegen das Volk, indem er dessen Gelüste nachgab, und demselben zu Liebe das schreiendste Unrecht that, um zu zeigen, wie sehr es ihm am Herzen lag, dem Volke wohlzugefallen, und wie sehr geneigt er sei, nach dessen Ueberzeugung, wenn er sie auch nicht theilte, doch zu handeln: so hatte er auch izt diesen Tag der Pracht eingerichtet dazu, um aufs neue dem Volke zu schmeicheln und von demselben den Lohn dafür zu empfangen. Wenn er als ein Herrscher, der sich auf seine Macht verlassen konnte, die demüthigte, welche von fremden Städten zu ihm gesandt waren, um seine kriegerische Lust zu beschwichtigen, und er machte hiervon das ganze Volk zu Zeugen: so hatte er keine andere Ansicht, als daß es in 8–11 Vgl. Apg 12,2f 13–15 Herodes Agrippa I. (gestorben 44 n. Chr.) war ein Enkel Herodes I. des Großen (um 72–4 v. Chr.), der aus Idumäa stammte und erst durch die Heirat mit Mariamne aus dem berühmten Geschlecht der Hasmonäer Mitglied der judäischen Oberschicht geworden war.

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der Größe und Macht des Herrschers auch seine eigene fühlen sollte, daß ihm sollte zu Muthe werden, als wäre es wieder ein Volk, als habe er es abgesehen auf die Wiederherstellung seines vorigen Glanzes. Aber indem er so dem Volke schmeichelte, so begehrte er auch zum Lohne dafür, daß es ihm wieder schmeichele; und das Volk verstand den Wink, und mag ihm die Rede so wohlgefallen haben oder nicht, aber es sah die Begierde des Königs, Zeichen des Wohlgefallens zu haben, und da rief es aus, Das ist Gottes Stimme, nicht die eines Menschen. Und darauf schlug ihn der Engel des Herrn, um dieses gefährliche Gewebe gegenseitiger Schmeichelei zu zerstören, welches nicht anders kann als alle menschlichen Dinge verunreinigen und zum Verderben bringen. So, m. Th., hängt das zusammen, und wenn gesagt wird, daß ihn der Engel des Herrn deshalb geschlagen habe, weil er Gott nicht die Ehre gegeben: so ist das etwas tieferes, als nur daß er sich jenen übertriebenen Aus|ruf habe gefallen lassen. Denn Gott ist ein Gott der Wahrheit, und nur der giebt ihm die Ehre, der die Wahrheit sucht; aber die Schmeichelei ist nichts als Lüge, das ist das Werk des alten Menschen. Wenn Fürst und Volk sich gegenseitig schmeicheln, so thun sie das, wovor wir gewarnt sind in unserer heutigen epistolischen Lection1 , daß wir durch Lüge das Werk des Herrn verderben. Darum ist diese Erzählung nichts als ein Beispiel zur Lehre, wie geschrieben steht, so lege nun jeder die Lügen ab und rede die Wahrheit mit seinem Nächsten. Das ist die tiefere Ansicht dieser Begebenheit, und lasset uns immer bei ihr verweilen; sie ist in einer solchen Lage, wie die jezige der öffentlichen Angelegenheiten in unserem ganzen Welttheil, auch für uns als ein christliches Volk von der größten Wichtigkeit. Früher fand in jenen Ländern des Morgens, von welchem zunächst das jüdische Volk einen großen Theil seiner Sitten hernahm, mit welchen es früher in der nächsten Verbindung gestanden hatte, ein ganz entgegengeseztes Verfahren Statt; wir finden es noch bei vielen morgenländischen Völkern. Der Herrscher verbirgt sich und bleibt seinen Völkern unsichtbar; durch diese Unsichtbarkeit soll die Ehrfurcht erhalten werden, von dieser Unsichtbarkeit aus verwaltet er, und sie verringert sich von ihm aus nur allmählig, je mehr die Mittheilung des öffentlichen Ansehens und der Gewalt sich in die unteren Zweige 1

Ephes. 4, 22 flgd.

34 Unsichtbarkeit] Ansichtbarkeit 18–19 Vgl. Eph 4,22 20–21 Als Epistellesung für den 19. Sonntag nach Trinitatis sah die Perikopenordnung Eph 4,22–30 vor. 23–24 Vgl. Eph 4,25

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der Gesellschaft verbreitet. Ist es möglich, daß so das Ganze gefördert werden kann? Gott ist unsichtbar und sieht, aber der Mensch, der sich unsichtbar macht, kann auch selbst nicht sehen. Nimmt | er keine unmittelbare Kenntniß von denen, für die er zu sorgen hat: so kann er auch nicht das richtige thun. Und so erhielt sich auf diesem Wege ein Gewebe von Unwahrheit und Lüge; und wiewol es nur aus Unwissenheit entstand, so war doch die Unwissenheit nur eine Folge von dem Bestreben, eine unnatürliche Trennung zu erhalten zwischen denen, die für einander von Gott gemacht waren, und nur in der Gemeinschaft mit einander sich gegenseitig wohlthun konnten und Gottes Willen nachkommen. Aber was ist der größte Gegensaz zu jenem? Eben dieses wenn die, die da herrschen, dem Volke schmeicheln und solchen Lüsten nachgeben, welche sie zügeln sollten, um es zum besseren zu führen, und wenn ebenso das Volk glaubt, durch sein wenn gleich nie als begründet nachzuweisendes Lob durch Huldigungen, die es der persönlichen Eitelkeit darbringt, etwas hinzuzufügen zu dem wahren Ruhme und Preise dessen, der es leitet. Nothwendiger Weise muß die Wahrheit, die Gott will, muß diejenige Gestaltung dieses Verhältnisses, in der sein Wille erfüllt werden kann, in der Mitte liegen zwischen beiden. Aber das ist der gewöhnliche Gang der menschlichen Dinge, daß sie von einem äußersten zu dem anderen gehen; und das sehen wir denn auch häufig zu allen Zeiten in der Geschichte der Menschen. Wenn sich jene Trennung zwischen Fürst und Volk, welche freilich eine lange Reihe von Geschlechtern hindurch dauern kann, nicht mehr zu erhalten vermag, weil jene unsichtbare Herrschaft, der zugleich die rechte Kenntniß von dem Gesammtzustande der Dinge abgeht, keine Sicherheit mehr hat, und oft unversehens ein Gewaltstoß von unten den Herrscher erschüttert auf seinem Throne, wenn solche Unsicherheit wahrgenom|men ist, und die Ordnung des Herrschens und des Gehorchens muß doch bleiben: dann entsteht aus dem einen Verderben das entgegengesezte; aber ganz gegen den Zwekk, weshalb Gott die gesezt hat, die da herrschen sollen und die gehorchen. Wozu sollte er das gethan haben, da er doch selbst zuvor versehen hat, daß alle Menschen aus Einem Blute und Saamen stammen, wozu sollte er das gethan haben, vor dem Alle gleich sind, eben weil er der Herr ist über Alle; weshalb sollte er es geordnet haben und gelassen auch in dieser christlichen Zeit, wo ihm Alle gleich angenehm gemacht sind in Christo seinem Sohne, und nur in ihm und durch ihn ihm angenehm sein können? Wozu anders als damit durch eine solche Ordnung die Wahrheit und die Weisheit, das Licht und die Liebe, eben deswegen weil diese Kräfte nicht gleich die ganze Masse durchdrin37–38 Vgl. Eph 1,6

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gen, wenn gleich sie aus einer Quelle stammen, die unter den christlichen Völkern Allen geöffnet ist, damit diese die menschlichen Dinge leiten sollen. Leichter können sie zu denen gelangen, sich in ihrem Geiste befestigen und sie leiten, welche durch solche Ungleichheit weit erhoben sind über die andere Menschen herabziehende Sorge, weit erhoben über das drükkende Gefühl des Bedürfnisses, und außer allen den Verwirrungen gesezt, in welche die, die sich gleich sind in irdischen Dingen, nur zu leicht gerathen. Wer da herrscht, der soll beseelt sein von der Liebe, die er ja in sich tragen muß, wenn er mit Recht den Namen eines Christen führt; und die ist zwar mild und nachsichtig, aber sie schmeichelt nicht. Wer herrscht, der soll herrschen durch Wahrheit und Weisheit, wenn nicht durch seine eigene doch durch die, welche er, wenn er sie sucht, auch in | dem Bezirk, über welchen Gott ihn gesezt hat, finden kann. Diese soll er für die einzigen Kräfte erkennen, welche im Stande sind, die menschlichen Dinge zusammenzuhalten und zu dem Besseren zu leiten. Machen sich hingegen die, welche regieren sollen, dadurch zu Knechten der Menge, daß sie ihren Vorurtheilen, ihren Lüsten schmeicheln, in der Meinung, es komme nur darauf an, daß sie, gleich viel auf welche Weise, eine Anhänglichkeit an sich erwekken und bewahren können: wie gefährlich kehren sie dann die göttliche Ordnung um. Aber eben so, wenn nun die große Masse der Menschen dieses Gift, welches ihr dargeboten wird, einsaugt – welche Erfahrungen haben wir davon gemacht! wie schießt jeder Saame des Verderbens auf, wenn die Menge, die sich selbst nicht beherrschen kann, doch fühlt, wie es unter solchen Umständen natürlich ist, daß jene in der That nur den Schein des Herrschens haben, aber die wahre Macht in ihr selbst liegt! Wie gedeihen die Schwachheiten und die ungöttlichen Lüste beider Theile immer gehegt von dieser gegenseitigen Schmeichelei! Wie geht das gemeine Wohl zu Grunde, wo es an Kraft und Ordnung fehlt, welche immer nur da bewahrt werden können, wo nichts, was der Schmeichelei auch nur ähnlich sieht, in Bewegung gesezt wird. Sagt nun der heilige Schriftsteller, Da schlug ihn der Engel des Herrn darum, daß er nicht Gotte die Ehre gab, und er ward von den Würmern gefressen, und gab seinen Geist auf: so lasset uns des Wortes gedenken, das wir anderwärts lesen, Der Herr macht die Winde zu seinem Boten und die Feuerflammen zu seinen Dienern1. Die|ser Engel, der schlägt dann die Geschlechter der Menschen, wann sie sich in jene dem göttlichen Willen widerstrebende Verkehrtheit hingegeben haben. Da entstehen jene Stürme in dem gesellschaftlichen Leben, da brechen die Flammen aus, ach! und der verderbliche Wurm er nagt 1

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schon tief in dem Inneren des Volkes sowohl als derer, die es leiten. Was ist also die Wahrheit, die wir in dieser Erzählung sehen sollen als in einem deutlichen Spiegel? Daß nicht durch Schmeichelei, nicht durch Nachgiebigkeit gegen Lüste und Leidenschaften der Menschen die gesellschaftliche Ordnung aufrecht erhalten werden und die gemeinsame Wohlfahrt gedeihen kann, sondern nur da, wo man frei ist von beiden. Wodurch aber vermeidet man beides? Es ist in einfachen Worten zu sagen, m. Th., aber schwer zu erreichen; es gehört eine Freiheit des Geistes dazu, willige Aufopferung seiner selbst und vornehmlich dieses, daß Keiner sehe auf sich selbst, sondern auf das was des Anderen ist, daß wir jeder sein und aller Anderen Gebühr nur schäzen, indem wir auf den ewigen, unveränderlichen Willen Gottes sehen. So kann es dann geschehen, daß die, welche ein ihnen von Gott anvertrautes Ansehen üben sollen über die Menschen, nicht rechts sehen oder links, wonach der vielgespaltnen Menge gelüstet, um jezt diesem Theil und dann dem andern zu fröhnen, sondern mit heiligem Ernst ohne sich um den Beifall der Menge zu bekümmern, ihrer Ueberzeugung folgen, immer nur das Gebet jenes Königs wiederholend1, der es freilich nicht lange genug wiederholt hat, um auf dem Wege des Herrn zu bleiben, daß | Gott ihm ein gehorsames Herz geben wolle, und Weisheit um seinen Beruf zu erfüllen: dann wird in dem erleuchteten Gemüth christlicher Herrscher nicht die Eitelkeit des Herodes walten, sondern die wahre Liebe, wenn auch zunächst nur zu dem zeitlichen Wohlergehen der Völker, welches zunächst den Herrschern anvertraut ist – aber was ist dieses unter Christen anders als nur die Art, wie sich das geistige gestaltet? – damit sie dieses auf die rechte, Gott wohlgefällige Weise leiten, weder nach eignem Ruhm fragend noch einem eiteln und flüchtigen Wohlgefallen nachtrachtend, sondern nur an die Rechenschaft denkend, welche sie vor Gott abzulegen haben. Und denen, welche zu gehorchen haben, wird nichts vorangehen vor dem Gehorsam, und sie werden sich nicht heranzudrängen suchen, wie dort das Volk, ob sie sich wol, wäre es auch nur durch Schmeichelei, so wichtig machen können, daß die eitlen Lüste ihres Herzens, von denen sie erfüllt sind, sich Bahn machen und Berükksichtigung verlangen dürfen von denen, welche doch Gott vielmehr dazu gesezt hat, daß sie alles dieses in Zaum und Zügel halten sollen. Nur eben deswegen, weil sie eben so wenig werden wollen geschmeichelt sein als schmeicheln, wird in dem gegenwärtigen Zustand der menschlichen Dinge – der nicht mehr eine solche Trennung 1

1 Kön. 3, 9–12.

10–11 Vgl. Phil 2,4; ferner 1Kor 10,24

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zuläßt, daß nur Wenige für die öffentlichen Angelegenheiten einen Beruf haben, vielmehr verlangt, Alle sollen die gemeinsamen Zustände empfinden, und also auch Alle den Beruf haben, ihre Empfindungen zu äußern – der bürgerliche Gehorsam ein freimüthiger Gehorsam sein. Und wenn das rechte von beiden Seiten zusammentrifft, und beide Theile sich gegenseitig immer mehr reinigen und erleuchten: dann wird ein festes Band | der Liebe und Treue entstehen, welches im Stande ist, allen Gefahren zu trozen; wir werden eine feste Ordnung Gottes in den menschlichen Dingen walten sehen, und der Zwekk der warnenden Stimme unseres Textes wird erreicht sein. Wenn dann auch plözlich etwas schrekkenvolles begegnet, werden wir doch nicht zittern, als ob der Engel des Herrn erschienen sei um seine Strafen auszuführen; sondern sind wir uns nur des Bestrebens bewußt, den Willen Gottes zu thun, so werden wir sicher stehen und festhalten an dem Glauben, daß auch das Schwere, auch das Betrübende denen muß zum Guten mitwirken, die nichts als den Willen Gottes thun, weil sie von der Liebe zu Gott erfüllt sind. Amen. Lied 25, 2. u. 3.

18 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 25: „Dir, unserm Gott, sey Lob“ (Melodie von „Nun danket alle Gott“)

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Am 4. November 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

20. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 6,45–56 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 340–350, Nr. XXVII; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 568.

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Tex t . Marcus VI, 45–56. „Und alsobald trieb er seine Jünger, daß sie in das Schiff träten, und vor ihm hinüberführen gen Bethsaida, bis daß er das Volk von sich ließe. Und da er sie von sich geschafft hatte, ging er hin auf einen Berg zu beten. Und am Abend war das Schiff mitten auf dem Meer, und er auf dem Lande allein. Und er sah, daß sie Noth litten im Rudern; denn der Wind war ihnen entgegen. Und um die vierte Wache der Nacht kam er zu ihnen, und wandelte auf dem Meer. Und er wollte vor ihnen übergehen. Und da sie ihn sahen auf dem Meer wandeln, meineten sie, es wäre ein Gespenst, und schrieen. Denn sie sahen ihn alle, und erschraken. Aber alsobald redete er mit ihnen, und sprach zu ihnen: Seid getrost; Ich bin es, fürchtet euch nicht. Und trat zu ihnen in das Schiff, und der Wind legte sich. Und sie entsetzten und verwunderten sich über die Maße. Denn sie waren nichts verständiger geworden über den Broten, und ihr Herz war verstarret. Und da sie hinüber gefahren waren, kamen sie in das Land Genezareth, und | fuhren an. Und da sie aus dem Schiff traten, alsobald kannten sie ihn; und liefen alle in die umliegenden Länder, und hoben an die Kranken umher zu führen auf Betten, wo sie höreten, daß er war. Und wo er in die Märkte oder Städte oder Dörfer einging, da legten sie die Kranken auf den Markt, und baten ihn, daß sie nur den Saum seines Kleides anrühren möchten. Und alle, die ihn anrühreten, wurden gesund.“ 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 568: „Auf den Nebel folgt die Sonn“ (Melodie von „Singen wir aus Herzensgrund“)

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M. a. Fr. Es drängt sich in diesem Abschnitt unseres Evangeliums so vieles theils Merkwürdige theils Wunderbare zusammen, daß gewiß jedem eine Menge von ganz verschiedenen und schwierigen Fragen bei der Anhörung desselben eingefallen sind. Es sind nun drei verschiedene Momente, welche zu unterscheiden sind; das erste, wie der Erlöser seine Jünger voranschickte und allein war; das zweite, wie er wieder zu ihnen kommt, als er sie auf dem Wasser in Gefahr sieht, und das dritte, wie wir ihn wieder umgeben finden von allerlei menschlicher Noth und Elend, dem er ein Ende macht. Es wird uns also zuerst erzählt, nachdem jene Speisung, von der wir neulich gehandelt haben, vorüber war: so habe der Erlöser seinen Jüngern geheißen zu eilen, daß sie wieder zu Schiffe kämen, um auf das jenseitige Ufer zu fahren und zwar vor ihm, weil er das Volk wollte von sich lassen, und nachdem dieses geschehen war, sei er auf einen Berg gegangen zu beten. Nun ist schon dieses immer etwas Merkwürdiges, wenn uns, wie es auch nicht häufig geschieht, auf eine besondere Weise erzählt wird, daß der Erlöser gebetet habe; denn in dem Sinne, daß er von seinem himmlischen Vater etwas begehrt hätte und ihm Wünsche vorzutragen gehabt, können wir es uns immer nur so denken, wie wir es an einem bestimmten | Orte lesen, daß er sagt, nicht mein, sondern dein Wille geschehe; und wieder diese Uebereinstimmung und Ergebung in den göttlichen Willen können wir uns ja bei ihm nicht als etwas vorstellen, was er erst zu Stande bringen mußte in sich, sondern es war etwas, was er immer schon hatte, wie er es denn auch als etwas Beständiges in seinen Reden darstellt, daß er immer darin begriffen sei, die Werke seines Vaters zu vollbringen auf der einen Seite, und auf die Werke, welche der Vater ihm zeigen wolle, zu sehen auf der anderen. Dieses sind die beiden Haupttheile eines jeden menschlichen Lebens, daß wir zuerst auf die Werke sehen, welche uns Gott zeigen will, und zu einer klaren Einsicht zu gelangen suchen darüber, was Gott von uns begehrt, und daß wir suchen, den Willen Gottes zu thun. Wenn das bei uns auch so beständig wäre, wie bei dem Erlöser: so würden wir keiner besonderen Zeiten des Gebets bedürfen. Nun war es bei ihm beständig, und doch wird uns von ihm gesagt, daß er gegangen sei um zu beten, und zwar allein, und daß er auf einen Berg deßhalb gegangen sei, um allein zu beten. Wie sollen wir uns dieses mit jener Beständigkeit, mit welcher der Erlöser den Vater in sich trug, zusammenreimen, und woraus sollen wir es uns erklären? Gewiß nur daraus, und dieses soll und will uns darauf führen, daß wir ihn in seinem ganzen Leben allen Bedingungen des menschlichen Daseins unterworfen denken. Freilich hatte er seinen Vater immer gegenwärtig, und eben jenes beides war in ihm immer Eins, und wir können uns keinen Augenblick denken, wo das wäre unterbrochen gewesen; aber doch 9–10 Vgl. die Predigt am 21. Oktober 1832 über Mk 6,35–44 Mt 26,39; Mk 14,36 23–26 Vgl. vor allem Joh 5,19f

19 Lk 22,42; ferner

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war auch für ihn das ein Unterschied, wenn sein Gemüth erfüllet war von dem Anblick der Menschen und ihren verschiedenen Zuständen, wenn er, wie unmittelbar vorher, hatte zu | schaffen gehabt mit der Sorge für sie, und wiederum, wenn er sich in der Stille der Betrachtung der göttlichen Werke und des göttlichen Willens überlassen konnte; und das war sein Gebet. Und so war in ihm derselbe Unterschied zwischen den Zuständen, in denen wir uns in dem Getreibe der Welt finden, und denen, wo wir uns in der Stille und Einsamkeit dem Bewußtsein Gottes und dem Gedanken an ihn überlassen, und nach dem Ersten suchte er auch das Andere; nur daß eben jenes niemals in ihm getrennt war von dem Bewußtsein seines Einsseins mit seinem himmlischen Vater, und eben deswegen auch in seinem Gebete nie etwas war, was nicht auch beständig in seinem Leben gewesen wäre; aber jener menschliche Unterschied war auch in ihm. Und darum können wir uns auch ebenso menschlich das erklären, daß er auf einen Berg stieg, um zu beten; nicht als ob irgend etwas ihn hätte stören können, wenn er einmal wollte sich in sich selbst zurückziehen und mit seinem himmlischen Vater, daß ich so sage, allein sein; aber er stand doch ebenso, und das gehörte auch zu seinem menschlichen Dasein, in der Beziehung zu den ihn umgebenden Dingen wie wir alle, und wenn auch ihn nichts stören konnte, weder etwas Natürliches noch etwas Menschliches: so gibt es doch ein Förderndes in diesen Dingen, und wie wir uns so oft gefördert und aufgefordert finden zu dem lebendigen Empfinden der Gegenwart Gottes durch etwas, was in der äußeren Welt uns begegnet: so war es auch hier, daß der Erlöser den Berg suchte, um mit seinem Vater allein zu sein, auf seine Werke zu schauen und seinen Willen in seinem ganzen Umfange sich zu vergegenwärtigen. Aber nun lasset uns übergehen zu dem Zweiten. Da wird erzählt, als das Schiff am Abend mitten auf dem Meere gewesen und er noch auf dem Lande, hätte er gesehen, daß die Jünger Noth hatten gegen die Wellen, weil der Wind ihnen entgegen war; nun aber wird hinzugefügt, daß er um die | vierte Wache der Nacht zu ihnen gekommen wäre, d. h. also gegen Morgen, auf dem Meere wandelnd. Wenn wir nun hier etwas Wunderbares in dem Ausdrucke finden, daß er auf dem Meere wandelte, wie es grade sehr stark bewegt war von dem Sturme, und nun weiter lesen, daß die Jünger sich erschrocken hätten, nicht etwa weil sie ihn erkannten und in Gefahr glaubten, sondern weil sie ihn für eine Erscheinung hielten und also ihn nicht erkannten, und er nun eilte, sie aus dieser Ungewißheit zu befreien, und ihnen zurief, er wäre es, sie sollten sich nicht fürchten, und er dann in das Schiff trat und der Sturm sich legte: so finden wir hier ein solches Gemisch von Natürlichem und Wunderbarem, daß es schwer wird, es auseinander zu lösen. War es die Gefahr, in welcher die Jünger waren, 2–3 Vgl. Mk 6,34–44

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die den Erlöser antrieb, sich aufzumachen und zu ihnen zu gehen: so wissen wir ja, daß er dazu nicht dieser Zeit bedurfte. Versetzen wir uns einmal in dieses Wunderbare und denken, wie sein Wort den Sturm beschwichtigt hatte: so konnte er auch aus der Ferne durch sein Wort den Sturm beendigen; aber das that er nicht, sondern auf ganz natürliche Weise trat er den Weg an, um ihnen näher zu kommen. Und als er nun näher kam, heißt es, wollte er bei ihnen vorübergehen nach dem Lande hin, wo sie landen mußten, und nur, daß sie erschraken, bewog ihn, zu ihnen in das Schiff zu steigen; aber als er hinkam, legte sich der Sturm. Wenn wir das Alles zusammenfassen: so sehen wir auch hier, wie selbst das Wunderbare in dem Leben des Erlösers doch so nahe wie möglich sich hielt an das Natürliche, und wie wir darin nie etwas ganz und gar gegen den natürlichen Lauf der Dinge Streitendes und gleichsam Abentheuerliches antreffen, selbst da nicht, als der Erlöser mit einem von einem starken Mitgefühl mit der Noth der Seinigen erfüllten Gemüthe zu ihrer Rettung nahte. Aber der Verfasser unsers Evangeliums der tadelt die Jünger darüber, daß sie sich über die Maßen entsetzet | hätten und verwundert über dieses Zusammentreffen, und ihnen eben diese Umstände, ihre eigene Gefahr, das Herannahen des Erlösers, welchen sie erst nicht kannten, und daß er in ihr Schiff trat und der Sturm sich legte, daß das ihre Verwunderung erregte, und er spricht seinen Tadel so aus, sie wären nicht verständiger geworden über den Broten, und ihr Herz wäre verstarret gewesen, d. h. sie hätten sich auch durch das letzte Wunder noch nicht daran gewöhnt, das Wunderbare von dem Erlöser zu erwarten, sondern so oft es ihnen nahe trat, wäre es ihnen immer wieder neu gewesen, und das bezeichnet er als eine Erstarrung des Herzens. Wenn wir das recht überlegen: so finden wir, was der heilige Schriftsteller hier zu tadeln scheint an den Jüngern, so natürlich, daß wir denken müssen, er meint mit seinem Tadel doch etwas Anderes, als was unmittelbar in seinen Worten erscheint. Denn ist es wahr, daß das Wunderbare in den Handlungen des Erlösers sich doch so viel wie möglich natürlich zeigt, wie wir das bei Allem finden, was, wie immer, aus dem Antriebe seines Herzens geschah: so war es auch natürlich, daß bei ihnen das Natürliche die Oberhand behielt, und das Eintreten des Wunderbaren diesen erstarrenden Eindruck immer aufs Neue auf sie machte. Was aber der Verfasser des Evangeliums an ihnen tadelt, das mag allerdings gewesen sein der zu starke Eindruck, den ihnen diese zusammentreffenden Umstände verursachten. Und wenn wir uns nun fragen, was denn hier die höchste Weisheit des Christen ist: so werden wir allerdings sagen müssen, daß es der Gleichmuth ist, welchen auch der Erlöser überall unter allen Umständen bewies, und 3–4 Vgl. Mk 4,35–41, bes. 39; ferner Mt 8,26; Lk 8,24 23 Vgl. die sog. Speisung der Fünftausend in Mk 6,35–44 (auch Mt 14,15–21; Lk 9,12–17; Joh 6,3–15)

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näher als die Speisung liegt uns auch jene unmittelbar vorhergegangene Erzählung von dem Sturm. Da erscheint uns auch dieser selbige Gegensatz; bei ihnen diese starke Aufregung des Gemüthes durch Besorgniß und Furcht, und bei ihm, so wie er aus dem Schlaf erwacht, die vollkommene Ruhe und Besonnenheit, und der Tadel, den er dort | über sie ausspricht, war auch derselbige, welcher sie hier traf. Wenn nun der Verfasser sagt, sie wären nicht verständiger geworden über den Broten, und ihr Herz wäre erstarret gewesen: so kann er damit nur eben dieses meinen, daß sie nicht gleichmäßig genug es in ihrem Bewußtsein hatten, daß sie es mit dem zu thun hatten, den Gott selbst den Menschen gesandt, um das geistige Leben in ihnen zu erwecken und das Reich Gottes zu gründen, und daß also auch dieser und die mit ihm in der unmittelbarsten Gemeinschaft waren, in besonderem göttlichen Schutz ständen, und Alles ihnen zu Hülfe kommen müßte, um diesen Zweck zu erreichen. Davon, meint er, wären sie noch nicht durchdrungen gewesen, und das begreift er als eine Verstarrung des Herzens. Und so werden wir freilich auch sagen müssen, m. a. Fr., wenn es uns auch so geht, daß uns die Stürme der Noth und Gefahren, die wir bestehen müssen, und zwar ebenso sehr fremde als eigene, zu stark bewegen und unseren Gleichmuth uns rauben, daß das immer ein Zeichen ist, daß wir noch nicht recht durchdrungen sind von dem Bewußtsein des Reiches Gottes, dem wir angehören, daß es uns noch nicht fest genug eingeprägt ist in dem Gemüthe, daß alle Fügungen auf das Reich Gottes sich beziehen und so auch alle Schicksale des Einzelnen in Beziehung auf das Reich Gottes stehen. Wenn die Apostel, wie es heißt, in dieser Hinsicht noch verstarret waren und nicht verständig genug geworden: so hatte das seinen Grund darin, daß das noch der Anfang ihrer Erfahrung war, und wie sehr wir uns auch hinter ihnen fühlen müssen in vielen anderen Beziehungen: so können wir doch nicht verkennen, daß wir den großen Schatz der Erfahrung von vielen Jahrhunderten vor uns haben, in denen das Werk des Herrn fest steht, und daß wir also noch mehr Ursache haben, diesen äußeren Wechsel der Dinge über uns ergehen zu lassen und daß das Bewußtsein von der Sicherheit des Reiches Gottes uns immer soll erheben über jede Besorgniß, die uns | irgend eine Veränderung der menschlichen Dinge im Großen oder im Kleinen erregt. – Wenn nun die erste Wirkung von dem Erscheinen des Erlösers die war, daß, als er in das Schiff trat, der Wind sich legte, aber eben jene Erschütterung des Gemüthes bei seinen Jüngern noch fortdauerte: so müssen wir uns dieses gewiß als das Zweite denken, daß, als sie ihn unter sich hatten, sie sich erholten sowol von dem Erstaunen über seine Erscheinung als auch von dem Sturme. Aber so ist es freilich nicht immer, daß jenes das Erste sei und dieses das Zweite, und unsere Stellung in dem Reiche Gottes fordert uns auf, daß wir dieses zuerst haben. 1–2 Vgl. Mk 4,35–41; auch Mt 8,23–27; Lk 8,22–25

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So wie das lebendige Bewußtsein des Erlösers in uns erwacht, sowie wir seiner Gemeinschaft und seiner geistigen Nähe wieder froh werden: so muß auch das Gemüth zu dem rechten Gleichmuthe zurückkehren, und dann wird eben dieses bei der gegenwärtigen Ordnung der Dinge das beste Mittel sein, auch das Aeußere immer mehr zu ebnen und zu ordnen. Darin bestärkt uns nun auch das Dritte. Es wird uns nämlich erzählt, als sie an das Land gefahren wären am frühen Morgen und Christus erkannt worden wäre: so wäre man gleich ausgegangen nach allen Seiten hin, um Leidende zu ihm zu bringen, daß er sie heilete, und so wäre es überall geschehen, wohin er kam. So sehen wir denn ihn immer wieder umgeben von einer großen Masse menschlichen Elends, und immer ist seine Hülfe bereit, ohnerachtet sich doch von den Meisten sagen ließ, die seine Hülfe in dem Leiblichen in Anspruch nahmen, daß ihnen das Geistige doch verborgen blieb; aber seine Geduld und Langmuth ermüdete nicht, sondern so lange es Tag war, und er wirken konnte, wirkte er auch in diesem Sinne, um mit den ihm von Gott anvertrauten Kräften das menschliche Elend zu mildern. Wo sind diese geblieben, diese wunderbaren, heilenden, erleichternden Kräfte des Erlösers? Wir lesen freilich, nachdem er von der Erde erhoben worden, noch | in den ersten Anfängen der christlichen Gemeinschaft, daß eben diese Kräfte auch seinen Jüngern wären zu Statten gekommen; je mehr wir aber herabsteigen zu einem späteren und noch späteren Geschlecht, um so mehr gemahnt uns Alles, was von solchen wunderbaren Begebenheiten erzählt wird, als etwas Unsicheres, Fabelhaftes, nach der Aehnlichkeit mit jenem Frühern Ersonnenes, und zu unserem Bewußtsein von dem Reiche Gottes, wie es jetzt besteht, gehört gar nicht mehr, daß es wunderbare Kräfte in diesem gibt, wiewohl es auch nichts Anderes sein soll und sein kann als die beständige Gegenwart des Erlösers, seine geistige Gegenwart mit allen ihren Wirkungen. Ist es denn aber jetzt anders geworden als es damals war, daß der Erlöser, wiewohl er von Gott gesandt war, um die Menschen zu erlösen von der Sünde, um das ewige Leben ihnen zu bringen, er doch zugleich ausgestattet war mit eigenthümlichen Kräften, um auch das leibliche Elend zu lindern, ist es, sage ich, jetzt anders, als es damals war? Ich glaube, wenn wir auf das Wesen der Sache sehen wollen, werden wir sagen müssen, daß es dasselbe ist, und zwar in einer zwiefachen Beziehung. Einmal wenn wir uns fragen, wo sind wol mehr Kräfte in Bewegung, um das menschliche Leben von allen seinen Unvollkommenheiten zu befreien; wo sind mehr Kräfte in Bewegung, um die ursprüngliche Bestimmung des Menschen, daß er Herr sein soll über Alles, was auf Erden ist, in einem höheren Maße zu erreichen, wo sind wol mehr solcher Kräfte in Bewegung als in der christlichen Welt? Aber dieses Eine würde die Sache 15 Vgl. Joh 9,4 Gen 1,26.28

18–21 Vgl. Apg, etwa 2,43; 3,1–10; 5,12–16; u. ö.

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noch nicht erschöpfen, wir müssen auch auf das Zweite sehen. Wenn wir fragen, wie erscheinen uns jene hülfreichen Handlungen des Erlösers: so sehen wir, wie sie wesentlich zusammenhängen mit seiner großen geistigen Bestimmung. Wir können doch nicht sagen, er würde dasselbe vermocht haben, auch wenn er nicht gesandt war als der Erlöser der Welt, und ebenso wenig | können wir beides als von einander gesondert ansehen; sondern wie er immer, wenn er beflissen ist, das leibliche Elend der Menschen zu heilen, er sie auch auf ihren geistigen Zustand aufmerksam zu machen sucht: so sehen wir, wie beides in ihm zusammenhängt, und wir können uns niemals ein anderes Bild von seiner Hülfe machen, als es war Alles Erweisung der göttlichen Liebe. Und wenn wir so beides zusammennehmen: so sehen wir, es ist noch ebenso; das Werk des Erlösers gestaltet sich immer noch ebenso wie damals, nur daß jene hülfreichen Kräfte, wie sie doch schon damals so nah als möglich der Natur geblieben sind, nur noch mehr in die Grenzen derselben zurückgewichen sind. Also beide Fragen werden wir bejahen müssen, die erste, sind nicht mehr Kräfte in Bewegung, geschieht nicht mehr, um alles Elend zu mildern, in der christlichen Welt als irgendwo anders, und die zweite, ist es nicht ebenso noch in der christlichen Welt, daß die Liebe, welche uns treibt, die Menschen zu Christo zu ziehen, auch dazu uns führt, die Menschen frei zu machen von dem Drucke des äußeren Elends, damit sie desto leichter zu Christo gelangen, und wenn wir das beides zusammenfassen, das beides, was sich uns darstellt von den Jüngern, als sie selber in Noth waren, in Kampf mit den Kräften der Natur, und auf solche Weise bewegt, als der Erlöser zu ihnen kam, und wie er dann wieder mit dem menschlichen Elend zu thun hatte, um es zu lindern und zu heilen, überall wo es sich ihm zeigte: wolan, so werden wir auch dieses beides auf die rechte Weise mit einander zu verbinden haben. In dem Erlöser war überall in Beziehung auf Alles, was ihn selbst, was die Seinigen zunächst betraf, jener Gleichmuth, jenes feste Vertrauen darauf, daß das göttliche Werk nicht untergehen könne, und ebenso gingen auch von ihm aus jene Kräfte, um das leibliche Elend zu lindern, und beides ist nicht von einander zu trennen. Alles, was bei uns darauf ausgeht, das menschliche Elend zu lindern, es hat nur | in sofern seine rechte Kraft, es ruht der göttliche Segen nur insoweit darauf, als wir nicht auf stürmische Weise bewegt sind von den irdischen Dingen, sondern mit Gleichmuth und Freudigkeit allen irdischen Gefahren entgegengehen, und dieses nur ist die Gemüthsstimmung, in der wir auch am Meisten thun können, sie zu lindern. Diese der seinigen ähnliche Gemüthsstimmung, die freilich immer davon abhängt, daß wir nach nichts trachten als nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, und es ganz dahingestellt sein lassen, wie uns das Andere zufallen werde, aber doch wissen, daß das auch zu der Gerechtig39–41 Vgl. Mt 6,33

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keit in dem Reiche Gottes gehört, daß wir alle Kräfte, die uns Gott gegeben hat, in Bewegung setzen, um es immer mehr zu verherrlichen, und uns von allem äußeren Wechsel unabhängig machen – in dem Maße, als wir diese haben, wird auch die Förderung des Reiches Gottes durch uns geschehen, und die Kräfte dessen sich in uns wirksam zeigen, den Gott allen Menschen zum Heil gesandt hat, und in dessen Namen es vollbracht wird. Amen. Lied 649, 4–5.

7 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 649: „Gott, meine ganze Seele“ (Melodie von „Ich dank dir, lieber Herre“)

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Am 11. November 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

21. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 16,16–18 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 99–118, Nr. VI SW II/3, 1835, S. 414–426; 21843, S. 428–440. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 458–468 Keine Letzter Teil einer Predigtreihe über ausgewählte Texte der Apostelgeschichte 3. Juni bis 11. November 1832 (vgl. oben Einleitung I. 2.)

Am 21. Sonntage Trinitatis 1832.

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Text. Apostelgeschichte XVI, 16–18. „Es geschah aber, da wir zu dem Gebet gingen, daß eine Magd uns begegnete, die hatte einen Wahrsagergeist, und trug ihren Herren viel Genuß zu mit Wahrsagen. Dieselbige folgte allenthalben Paulo und uns nach, schrie und sprach: diese Menschen sind Knechte Gottes des Allerhöchsten, die euch den Weg der Seligkeit verkündigen. Solches that sie manchen Tag. Paulo aber that das wehe, und wandte sich um und sprach zu dem Geist: Ich gebiete dir in dem Namen Jesu Christi, daß du von ihr ausfahrest. Und er fuhr aus zu derselbigen Stunde.“ | M. a. Z. Da wir das nächste Mal, wenn wir uns wieder um diese Stunde hier zusammenfinden, unser kirchliches Jahr mit Betrachtungen von anderer Art zu beschließen haben: so ist diese die lezte in der Reihe derer, die wir mit einander angestellt haben über einzelne Stellen aus der Geschichte der Apostel. Der Ort, wo das geschah, was wir 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 314: „Treuer Hirte deiner Heerde“ (Melodie von „Freu dich sehr, o meine Seele“) 13–15 Der letzte Sonntag vor dem mit dem 1. Adventssonntag beginnenden neuen Kirchenjahr wurde in Preußen seit 1816 als Gedächtnisfeier für die Verstorbenen (Totensonntag) begangen; vgl. unten die Predigt am 25. November 1832 vormittags. 17–3 Vgl. Apg 16,9–12

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mit einander vernommen haben, war der erste, wohin der Apostel seinen Fuß sezte, um das Evangelium zu predigen in diesem unserm Welttheil; und darum war es mir so besonders merkwürdig, diesen Anfang des Evangeliums in der Weltgegend, in welcher jezt am meisten das Christenthum verbreitet ist und am hellsten leuchtet, noch gemeinschaftlich mit Euch zu betrachten. Aber freilich, was wir gelesen haben, handelt nicht von der Verkündigung des Evangeliums an sich, wie der Apostel es predigte zu Philippi, aber diese war auch und ist überall immer dieselbe; sondern von etwas, das ihm bei dieser Predigt und in Beziehung auf dieselbe begegnete. Was war dieser Wahrsagergeist und dies Zeugniß, welches er ablegt? woher gekommen in ein heidnisches Gemüth, wie diese Magd es war, in eine solche, welche doch nur ihren Herren Nuzen und Gewinn brachte dadurch, daß der Wahrsagergeist in ihr zu Rathe gezogen wurde? Was anders können wir davon sagen, als es sei ein verworrener Gemüthszustand gewesen, genährt durch den Aberglauben der Menschen und auch ihn wieder hervorbringend; und so finden wir den Apostel, wie er in diese Länder und Weltgegenden tritt, gleich zunächst in einem Kampf gegen solche Erscheinungen, in einem harten Kampf, der auch damals ihm selbst, wenn auch nur auf kurze Zeit, seine Freiheit ko|stete und ihm mancherlei Gefahren drohte. Darum lasset uns hiervon Veranlassung nehmen durch das, was der Apostel thut, uns darüber zu belehren, was dem Christen geziemt in Beziehung auf das – sei es dem Schein oder auch irgendwie der Wahrheit nach – wunderbare, was nicht aus der Kraft des Glaubens hervorgeht, und nicht mit demselben zusammenhängt. Lasset uns dabei zuerst die Handlungsweise des Apostels recht genau ins Auge fassen, und dann zweitens sehen, was wir von derselben als einem Beispiel, welches uns gegeben ist, als einer Regel, die wir zu befolgen haben, für eine Anwendung machen können. I. Wenn wir uns fragen, was bewog denn den Apostel, diese Magd also zu hemmen in ihrem Beginnen, daß sie nicht mehr sollte das Zeugniß geben, Paulus und seine Genossen wären Knechte des Allerhöchsten und die Worte, die sie redeten, wären der Weg zur Seligkeit: so müssen wir uns zugleich fragen, wer denn diejenigen vorzüglich gewesen sein mögen, welche auf den Wahrsagergeist der Magd horchten und ihn zu Rathe zogen, und sie dadurch zu einer Quelle des Gewinnes für ihre Herren machten. Und was werden wir anders sagen können, als daß es eitle, neugierige Menschen waren, welche so zwischen Scherz 19–21 Vgl. Apg 16,19–40

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und Ernst hindurch, wie das gewöhnlich ist, über dasjenige, worüber sie sich selbst nicht zu rathen wußten, oder weshalb sie gern in Zeiten Maaßregeln getroffen hätten, sich eine Wissenschaft herholen wollten auf einem unbekannten und verborgenem Wege. Ueberall werden die Menschen ange|zogen von allem, was die gewöhnlichen Kräfte übersteigt; es darf sich nur irgend etwas der Art zeigen, was sich als wunderbar und ungewöhnlich zu erkennen giebt, so reizt es diese Sucht und diese Neugierde. So verbreitet sich die Neigung zu diesen Dingen immer weiter, und durch jeden einzelnen Fall, der die Behauptung zu bestätigen scheint, daß auf diese Art etwas zu erreichen stehe, schlägt immer tiefere Wurzel ein mehr oder weniger gefährlicher Aberglaube. Darum zunächst wollte der Apostel nicht, daß von solcher Wundersucht geleitet Menschen sollten zum Evangelium gebracht werden. Was sie zu diesem führen sollte, das durfte nicht ein so eitles, leeres Treiben sein; nicht dasselbe, wodurch sie am meisten doch immer und am gewöhnlichsten die geringfügigsten Dinge des Lebens und die ungewissen Einzelnheiten desselben zu ordnen und zu beherrschen suchten! So sollten sie nicht das Werk ihrer Seligkeit schaffen, wie sie bestrebt waren, sich von einzelnen vorübergehenden Uebeln des Lebens durch einen solchen Rath, den der Wahrsagergeist gab, zu befreien, oder was sie zu träge waren zu erforschen, vielleicht auch nicht erfahren konnten, davon auf diesem Wege Kunde zu erlangen! Bemerkt es wohl, m. a. Z., derselbe Apostel, der anderwärts sagt, wenn auch Einige nur in böser Absicht das Evangelium ausbreiteten: so sei ihm auch das recht, wenn nur Christus irgendwie zur Kenntniß der Menschen käme1, der wollte doch nicht, daß Christus auf diese Art verkündiget würde. Dadurch, meint er, würde kein Glauben entstanden sein, der die Seligkeit hätte schaffen können, und darum würde das Evan|gelium auf solche Weise getrübt und ernsten Menschen zum Spott werden; die Predigt desselben hätte sich dann nur vergeblich gezeigt, und vermischt mit diesen Nichtigkeiten hätte es gar nicht Frucht schaffen können in der menschlichen Seele. Aber so leicht wir dies einsehen können, m. a. Z., und darin dem Apostel beistimmen müssen: so werdet Ihr mir doch auch zugeben, wenn dies des Apostels einzige Absicht war, erscheine seine Handlungsweise immer doch voreilig. Denn wiewohl jene Magd schon manchen Tag ihren Spruch vorgebracht hatte, so wird uns doch nicht erzählt, daß nun wirklich deswegen Menschen gekommen wären, und hätten den Apostel und die Seinigen darauf angeredet, daß sie ihnen doch möchten das sagen, was sie zu sagen hätten, und was nach dem Wort dieser Wahrsagerin sie könnte auf den Weg der Seligkeit und 1

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des Friedens führen. Darum, da er ihr wehrt, ehe er noch eine solche Frucht gesehen hatte, muß er noch eine andere Absicht gehabt haben als jene allein; und wir werden gewiß nicht Unrecht thun, wenn wir sagen, er wollte überhaupt das Evangelium nicht vermischt haben mit demjenigen Gebiet des menschlichen Lebens, in welchem diese falsche Kunst ihr Wesen treibt, er wollte überhaupt aus solchem Munde kein Zeugniß für das Evangelium haben, mochte es nun eine Frucht schaffen oder auch nicht. Denn wahrlich, wenn wir uns fragen, auf welchem Wege denn solche Erscheinungen, wie diese, im menschlichen Leben entstehen und wodurch sie genährt werden: so werden wir gestehen müssen, das sei etwas, womit wir jede Gemeinschaft lieber vermeiden müssen als sie suchen. Womit anders hängt das Verlangen zusammen, welches allein solche Richtungen in der mensch|lichen Seele nährt, als gerade mit dem eitelsten, leersten und nichtigsten, mit unserer natürlichen Trägheit, welche sich nur zu gern die Anwendung der eignen Kräfte ersparen möchte, und lieber auf anderem Wege das Ziel erreichen, ohne Aufwendung von Zeit und Mühe, ja mit dem Verlangen überhaupt, über das hinauszugehen, was dem Menschen beschieden ist, aber doch immer nur um des sinnlichen Menschen willen, um dessen Richtung auf das irdische und vergängliche zu befriedigen. Wenn von daher ein Zeugniß kommt für das Evangelium, wenn diejenigen es rühmen und preisen, die sich auf solche Weise zeigen mit der Richtung ihres eigenen Gemüths: wofür würde dadurch diese göttliche Hülfe ausgegeben, als nur für eine eben solche, wie diese Menschen sonst auf ihrem Wege suchen? eben so wenig zusammenhängend das Mittel mit dem Zwekk, und daher eben so wenig mit frischem und hellem Geist zu erfassen, und eben so wenig auf ein höheres geistiges Leben gerichtet, sondern wie sie selbst dem außerordentlichen und wunderbaren vertrauen, um eine nur höhere sinnliche Befriedigung zu erreichen, und um die Pein nemlich die der göttlichen Strafe zu vermeiden. Darum wollte der Apostel überhaupt nicht, daß diese Wahrsagerin von dem Werke reden sollte, welches er und seine Genossen zu treiben hatten, weil die göttliche Wahrheit des Evangeliums durch ein solches Zeugniß nur mußte verdunkelt werden. Darum wollte er überhaupt nicht, daß die, welche sich dem Dienst der Eitelkeit und Nichtigkeit ergeben hatte mit ihren Künsten, auch von dem allein großen, wichtigen und heiligen reden sollte, damit nicht das Wesen desselben nur mißverstanden und verkannt würde, wenn sie davon zeugte. So scheint seine | Strenge zwar im Widerspruch zu sein mit dem milderen Worte des Erlösers über den, der in seinem Namen Wunder that, und ihm doch nicht folgte1: aber sie scheint es auch nur; 1

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denn dieser ermahnte nicht ihm zu folgen, und gab kein Zeugniß über seine Predigt ab. Aber doch, doch kann auch das noch nicht alles gewesen sein! Warum hätte sonst der Apostel, seiner Kraft und der Sicherheit seiner Worte sich bewußt, sich nicht damit begnügt, mochte sie übrigens ihr Wesen treiben nach wie vor, ihr nur zu sagen, davon solle sie nicht reden, was ihn angehe und die Seinigen; um dies Werk Gottes, welches ihr ganz fremd sei und unbekannt, sollte sie sich gar nicht kümmern. Da er aber mehr thut als das, da er ihr ganz und gar wehrt, da er dem Geist gebietet von ihr auszufahren, was er auch that zur Stunde: so müssen wir wol auch dieses noch sagen. Er wollte, da, wo das Evangelium anfing Wurzel zu schlagen, wo das Wort Gottes anfing in Segen verkündigt zu werden, wo es wenn gleich wenige Menschen erst gab, die demselben ihre Aufmerksamkeit und Vertrauen schenkten: da sollte dies auch das einzige Wunder sein und bleiben, und anderes sollte da nicht vernommen werden; das Evangelium allein sollte diese Kraft und Gewalt beweisen, verborgene Wahrheit zu enthüllen und sonst unmögliches wirklich zu machen, und nichts anderes sollte sich auf gleicher Höhe zu stehen anmaßen. Darum wollte er sich den Boden für die Verkündigung des göttlichen Wortes gänzlich reinigen von jeder solchen Beimischung; darum hielt er es für recht und wichtig, wo | der Geist redete, der aus ihm und seinen Genossen redete, da sollte kein anderer Geist reden, sondern jeder verstummen; wo das Wunder geschah, daß die Menschen zum Glauben an den Erlöser gezogen wurden, da sollte ihre Aufmerksamkeit nicht abgezogen werden durch diese nichtigen, mit dem geistigen Heil gar keinen Zusammenhang habenden Wunder, mochten sie nun wahr sein oder falsch. Das also, das ist erst der rechte Schlüssel zu dem Verfahren des Apostels, und darum auch dies, m. a. Fr., die Regel, die wir uns zu machen haben! Anders dürfen wir nicht handeln als er, und müssen uns also sagen, das ist eben so unsere Pflicht, keine Vermischung soll Statt finden zwischen wunderbarem, was aus einer solchen Quelle kommt, und dem großen Wunder des Heils; und nicht nur dies, sondern wo dies waltet und herrscht, da soll es überhaupt kein anderes geben. Das also sei der zweite Theil unserer Betrachtung. II. Aber freilich, um die Anwendung von dem Verfahren des Apostels auf das unsrige richtig zu machen, müssen wir zuerst den Unterschied feststellen zwischen dem Wunder des Evangeliums, dem Wunder, was mit der Erscheinung des Erlösers und dem Glauben an ihn zusammenhängt, und demjenigen was ihm fremd ist; und wenn wir uns zwischen diesen beiden eine sichere Unterscheidung festgestellt haben, dann

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werden wir erst den rechten Gebrauch machen können von dem Beispiel, was uns der Apostel gegeben hat. Damit wir also dies zu unterscheiden vermögen, so lasset uns fragen, was ist denn das Wunder, worauf wir | uns alle gründen, das Wunder, was unzertrennlich ist von unserm Glauben als der eigentliche tiefste und innerste Grund desselben, und ohne welches auch alles natürliche auf dem geistigen Gebiet wie herrlich es auch sei doch für uns seinen rechten Werth verlieren würde? Es ist das Wunder Christus selbst; es ist das Wunder, daß das Wort Fleisch ward, das Wunder, daß die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes strahlte in einem menschlichen Antliz und in einer menschlichen Gestalt, da alle andern ohne Ausnahme nur Sünder waren, und jeden Ruhmes ermangelten, den sie bei Gott haben sollen; es ist das Wunder, daß Christus nicht nur so war in dieser Herrlichkeit des eingebornen Sohnes, sondern daß er auch von Anbeginn an allen, die an ihn glauben, die Macht gegeben hat und noch giebt, Kinder Gottes zu sein. An diesem Wunder können wir nicht genug festhalten, in dies können wir uns nicht genug vertiefen! Jeder neue Blikk, den wir in dasselbe thun, muß auch für uns ein Zuwachs sein an Weisheit und an Kraft; nur je mehr wir in dasselbe hineinschauen, desto mehr gewinnen wir selbst die Macht, Kinder Gottes zu werden, denn in demselben Maaße wächst nur in uns der Glaube, der die Quelle der Seligkeit ist. Aber die Wunderthaten Christi des Herrn selbst, von denen uns so viele ausführlich beschrieben werden in der Geschichte seines Lebens, und noch mehrere, ohne sie genau zu beschreiben, in großen Massen erwähnt werden? Diese Wunder, m. a. Fr., sie hingen allerdings in ihm zusammen mit jenem großen Wunder: aber hinaustretend in die Geschichte und unter die Erscheinungen des menschlichen Lebens waren sie von Anfang an von jenem getrennt, und haben sich nie|mals damit vermengt. Zehn Aussäzige heilte der Erlöser, und nur Einer kehrte um, auf daß er ihm die Ehre gäbe, und fiel vor ihm nieder; die Andern – sie blieben geheilt, sie waren ihres leiblichen Uebels ledig, aber an dem geistigen Wunder bekamen sie keinen Theil. Viele Gichtbrüchige wurden geheilt, viele Blinde sehend, viele Taube hörten wieder: aber nur die, die noch ein anderes Wort hörten, als das, Gehe hin, dein Glauben hat dir geholfen! nur die, welche, weil sie darnach von Herzen verlangten, auch das Wort hörten, Gehe hin, deine Sünden sind dir vergeben, aber sündige hinfort nicht mehr! nur 8 Wunder Christus] so auch SW II/3, S. 419; Textzeuge: Wunder, Christus 9–10 Vgl. Joh 1,14 11–12 Vgl. Röm 3,23 34 Vgl. Mt 11,5; Lk 7,22 35 Vgl. Lk 17,19 mit Lk 7,48

29–31 Vgl. Lk 17,12–18 33– 36–37 Vgl. Joh 8,11 in Verbindung

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diese bekamen ihren Theil an dem großen geistigen Wunder Gottes. So schied sich beides von Anfang an; aber je mehr sich das große geistige Wunder Gottes ausbreitete, um so mehr verschwand nach und nach jenes äußere. Es ging noch über von der Person des Erlösers auf seine nächsten Jünger, aber wer noch nach dieser Zeit sich rühmte Wunder zu thun, wie der Erlöser und seine Jünger es gethan hatten, der wird uns, je später wir dergleichen annehmen sollen, in der Geschichte der Kirche um so mehr verdächtig; unsichre Mähren, welche wenig oder gar keinen Glauben verdienen, sind diese Erzählungen, aber weil wir ihrer nicht mehr bedürfen für jenes große geistige Wunder, kann uns auch ihre Wahrheit vollkommen gleichgültig sein. Aber die Verheißungen Christi, die er den Seinigen gab, die so groß und so wunderbar klingen? Ja mit diesen, m. th. Fr., hat es dieselbe Bewandtniß, diese sind die wahre Fortsezung jenes großen geistigen Wunders; aber die Wunder, welche die Jünger des Herrn äußerlich thaten, wie der Herr selbst, die waren eben so von jenem geschieden, wie | die seinigen. Was sagt er zu seinen Jüngern? wenn sie Gift trinken würden, so würde es ihnen nicht schaden; wenn sie auf Schlangen treten würden, so würden sie sie nicht verlezen; wenn sie Glauben hätten wie ein Senfkorn groß, würden sie Berge versezen und das Meer werde vor ihnen zurükkweichen. O wie herrlich sind diese Verheißungen in Erfüllung gegangen! in welchem großen und ganz anderen Maaße, als wenn wir auf jene einzelnen wunderbaren Begebenheiten sehen! Ob die Berge versezt werden, das kann uns gleichgültig sein; aber wir schreiten darüber, als wenn sie nicht da wären! Wo der Glauben die Jünger getrieben hat, das Wort des Herrn zu verkündigen, da hat ihnen kein Berg zu hoch geschienen und zu gefährlich; und das Meer, es ist eine Straße geworden, um das Wort zu entfernten Völkern zu bringen, auf der es nicht größere Gefahren zu bestehen giebt, als der ebene Boden unter unsern Füßen darbietet. Und die Jünger des Herrn, denen hätte es nicht schaden sollen, wenn sie Gift trinken, wenn sie auf Schlangen treten würden? Wohl giebt es viele Zeugnisse auch von solchen besondern Bewahrungen in der Geschichte der Apostel: wie schüttelt der Apostel Paulus die Viper von seinen Händen, da die Umstehenden erwarteten, er würde jeden Augenblikk des Todes sein! und wie manches andere der Art ist nicht geschehen. Aber doch ist das nicht die wahre Erfüllung der ermuthigenden Worte Christi, sondern 17 seinigen] einigen 17–19 Vgl. Mk 16,18; Lk 10,19 19–20 Vgl. Mt 17,20 und Lk 17,6 in Verbindung mit 1Kor 13,2 20–21 Anspielung vermutlich auf die sog. Sturmstillung (Mt 8,23– 27; Mk 4,35–41; Lk 8,22–25) 33–35 Vgl. Apg 28,3–6

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dies, daß die Seinigen wissen, nichts schade ihnen, wenn sie auf seinem Pfade wandeln und dem Guten nachtrachten, daß, mögen sie leben oder sterben, sie immer des Herrn sind; das ist die große Erfüllung, daß wir sicher sind es auszurichten, wenn wir, wie wir es heut gehört haben, an|legen den Krebs der Gerechtigkeit und ergreifen den Schild des Glaubens, mit welchem wir auslöschen alle feurigen Pfeile des Bösewichts1; diese große Fortsezung des geistigen Wunders, welches, seitdem der Herr erschienen ist, nicht mehr aufhören soll auf der Erde, ist unser beschiedenes Theil. Aber nun, sollen wir von dem Lichte weg auf einmal in die dunkelste tiefste Finsterniß hineinschauen? Wohl müssen wir es, wenn wir das recht ins Auge fassen wollen, was mit diesem Wunder nicht zusammenhängt. So lasset uns denn herabsteigen zu den dürftigsten und verderbtesten Gestalten des menschlichen Daseins; lasset uns dahin gehen, wo die Erkenntniß Gottes am meisten verlöscht ist, und ein leerer Wahn die Menschen regiert, wo sie am wenigsten von dem großen Zusammenhang der Werke Gottes wissen, unter welche sie gesezt sind, und wo eben am meisten jenes dunkle Treiben des Geistes leere Bilder hervorbringt. Da werden alle natürlichen Uebel, die mit dem großen Gesez des Lebens zusammenhangen, gehalten für die Werke böser, den Menschen feindseliger Geister. Wo nun dieser Glaube gilt, da finden sich auch leicht Menschen, die sich dafür ausgeben, daß sie im Stande seien, die Geister zu beschwören; wo die Menschen am meisten gequält werden von den Uebeln des Lebens und am wenigsten die Kräfte der Natur beherrschen, um ihnen zu widerstehen, o da fehlt es niemals an Menschen, die sich rühmen der Erkenntniß geheimnißvoller Mittel. Und wie es im großen ist, so ist es auch im kleinen. Die kleinsten Uebel | ängstigen viele unter uns am meisten, weil sie am häufigsten wiederkehren, und wo das menschliche Gemüth diesen Weg eingeschlagen hat, sollte es da wohl an Versuchen fehlen, sich ihrer auch auf solche Weise zu entledigen? Wo es darauf ankommt, uns von einem unbedeutenden Uebel zu befreien und einen geringen Erfolg herbeizuführen, da kann man tausend Rathschläge vernehmen für einen, und von keinem wird jemand sagen können, daß er auch nur im geringsten mit der Sache selbst zusammenhänge. Das sind vom großen bis zum kleinen, vom gefährlichsten bis zum gleichgültigsten die mannigfachen Gestaltungen des wunderbaren, welches mit jenem großen Wunder Gottes gar nicht zusammenhängt. 1

Ephes. 6, 14–16.

2–3 Vgl. Röm 14,8 4–5 Als Epistellesung für den 21. Sonntag nach Trinitatis sah die Perikopenordnung Eph 6,10–20 vor.

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Ich sage von dem gefährlichsten auf der einen Seite! Denn freilich, wenn sich der Mensch umgeben glaubt von geistigen Wesen, die er nicht gewahren kann, von denen er weiter keine Kenntniß hat, in deren Gewalt er sich aber doch befindet ohne zu wissen wie: das freilich ist ein gefährliches Uebel, denn je mehr Wahrheit es gewinnt, um desto elender und nichtiger erscheint der Mensch, um desto mehr hingegeben der Furcht, um desto weniger dessen froh, was ihm noch übrig bleibt, weil ja die Furcht ihn hindert, sich desselben zu erfreuen. Bis zum scheinbar gleichgültigsten, sage ich, auf der andern Seite! Denn warum sollte man nicht gegen etwas nichtiges auch etwas nichtiges versuchen, eben so gleichgültig, ob es helfen werde oder nicht, wie wir es bei allen Kleinigkeiten im alltäglichen Leben sehen! Aber wenn sich nun diese Wundersucht mit dem was zur christlichen Kirche und ihrer Geschichte gehört, wenn sie sich mit dem Glauben an das Evangelium vermischt; | wenn, was so der dunkelsten Gestaltung des menschlichen Lebens angehört, wieder Gewalt gewinnen will auch in der Gemeine des Herrn: was sollen wir dann sagen und thun? Und wie? wäre das etwa nicht der Fall? Betrachtet nur diesen ganzen Welttheil, wo jezt am hellsten das Licht der Wissenschaft leuchtet, wo am vielseitigsten das ganze Leben der Menschen ausgebildet ist, wo die Kirche Christi am festesten gegründet scheint, wo wir den Glauben in seiner reinsten Gestalt erblikken, und die wohlthätigsten Werke der christlichen Liebe in großer Menge sehen: aber doch wie vieles gewahren wir nicht selbst hier von jenem Verderben! Da sollen die Leichname der Gläubigen Wunder thun; da soll die Anrufung dieser und jener Verstorbenen für diese und jene Uebel eben ein solch Mittel sein, wie der Aberglauben es sonst an seinen Zaubersprüchen findet; da sollen an gewissen Stätten, vor gewissen Bildern Wunder geschehen, und das leider! nicht ohne Zusammenhang mit vielem, was uns theuer ist in der christlichen Kirche, nicht ohne Namen hineinzumischen, die unsere innigste Ehrfurcht fordern, um dadurch auch das Heiligste fortzureißen in das Gebiet des verderblichsten Unwesens. Nein! dagegen sollen wir uns überall erheben, wie der Apostel; wir sollen nicht solche Vermischung dulden, daß das große Wunder Gottes, und was irgend damit zusammenhängt, hinabgezogen werde in dies unreine Element; wir sollen es nicht deswegen, vorzüglich deswegen nicht, weil es nie ohne Gefahr ist für den Glauben, weil das große Wunder Gottes selbst an seinem Licht und seiner Kraft verliert, wenn es vermischt wird mit dem, was so den menschlichen Geist verblendet und irre leitet. Denn das | dürfen wir uns nicht läugnen, da, wo am meisten der Glauben an solche wunderbaren Erfolge in der christlichen Kirche regiert, da erscheint auch nur gar zu vielen das große Wunder Gottes so, als ob es von derselben Art wäre. Wie

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jene alles natürlichen Zusammenhanges ermangeln, und nur willkührlich ersonnen sind: so fragt man denn auch nicht nach dem Zusammenhang zwischen der Erlösung Christi und unserer Seligkeit; so bleibt man gern dabei stehen, auch dies große Wunder selbst eben so als eine Einrichtung der göttlichen Willkühr zu betrachten. Wenn jenes wunderbare gewöhnlich zu Hülfe gerufen wird, um gegen die Uebel des Lebens geschüzt zu bleiben: so ist dann bei Vielen auch der Glaube an den Erlöser nichts anderes, als die Hofnung vor den Uebeln jenes Lebens gesichert zu werden, als sei alles nur geschehen, um uns von der Strafe zu befreien, welche die Sünde verdient, aber nicht, um uns zu befreien von der Sünde selbst! Als bestehe sein Werth nur darin, daß wir ohne Furcht und Sorge unsers Weges wandeln und die irdischen Güter genießen können, aber nicht darin, daß er uns erheben soll zu einer beseligenden Gemeinschaft mit Gott. Darum nun sollen auch wir uns immer aus allen Kräften dagegen stemmen, wenn irgend eine Verbindung gemacht wird zwischen jenem wunderbaren, mag es wahr sein oder falsch, und dem, was zu unserm heiligen Glauben gehört. Sagt man nun vielleicht, das sei nur derjenige Schein der Sache, durch den die Menschen geblendet würden, welche nicht den wahren Zusammenhang sehen könnten; alle Wunder, welche die Leiber der Gläubigen thun sollen, alle Wunder, welche vor den Bildern heiliger Personen geschehen, alle Wunder, welche | von Zeit zu Zeit von Lebenden bewirkt werden, welche sich rühmen von Gott mit besondern Kräften ausgerüstet zu sein, sie wären doch eigentlich Wunder des Gebets. Nein, m. th. Fr.! laßt uns auch dagegen feststehen, und mit klaren Augen in das Licht der Wahrheit hineinschauen. Bete und arbeite! das ist das heilige Band, welches Gott gemacht hat, das ist es, wodurch das geistige Leben mit dem leiblichen und irdischen zusammenhängt. Ihr bedauert diejenigen, und gewiß mit großem Recht, welche glauben, daß sie alles was dem Menschen Noth thut erreichen wollen mit der Arbeit, und wenn sie gearbeitet haben, sich nun des Lohnes ihrer Arbeit erfreuen. Die Einen nämlich, nachdem sie ihre Glieder angestrengt haben, wollen sich dann der leiblichen Erquikkung und Stärkung erfreuen, welche sie sich dadurch verschaffen; die Andern, nachdem sie die Kraft ihres Verstandes auf mancherlei Weise gebraucht haben, suchen ihren Lohn darin, daß sie sich möglichst alles aneignen, was der menschliche Verstand, indem er sich auf die Dinge dieses Lebens richtet, als Annehmlichkeit und Verschönerung desselben hervorgebracht hat; endlich Andere, welche sich erhoben haben bis zu der höchsten Arbeit des Geistes, in die Tiefe der Wahrheit einzudringen, und nun dieser ihr ganzes Leben widmen, wollen sich jenes höheren Gewinnes erfreuen, daß sie sich erhoben fühlen über alle Furcht durch ihre Erkenntniß der Natur, daß sie frei

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sind auch von der schlimmsten, nämlich der Furcht vor dem Tode, als solche, die ihm mit geistigem Auge beständig ins Angesicht sehen, frei auch von vielen Hoffnungen, deren sich andere Menschen getrösten die aber sie selbst für nichtig halten, und fähig sich ihrer ganz zu entschlagen, weil sie leben im | reinen Schauen der Wahrheit. Ach! wir bedauern auch diese lezten, wenn sie durch die angestrengteste Arbeit nur den Lohn solcher Kraft, solcher Selbstentsagung gewinnen, aber die Seligkeit des Friedens mit Gott und des Bewußtseins der göttlichen Liebe nicht kennen; diese bedauern wir. Aber lasset uns auch die bedauern, welche alles erzwingen wollen durch das Gebet ohne die Arbeit. Und heißt es nicht in das Gebiet der Arbeit eingreifen, wenn das durch das Gebet erreicht werden soll, was in das Gebiet der Berufsthätigkeit unserer Brüder fällt? Ist aber diese noch nicht weit genug gediehen: so soll der Mensch sich unterwerfen, bis er das Uebel bezwingen lernt durch seine Kräfte. Dazu ist uns die Noth auf der Erde gegeben, damit wir um uns schauen und wach werden, wo uns die Hülfe herkomme; und so lange sollen wir der Noth dienen, bis unsere Kräfte so weit entwikkelt sind, daß sie uns überall zur Hülfe gereichen; und auf diesem Wege soll der Mensch allmählig emporsteigen zur Herrschaft über die Erde, durch Arbeit. Das Gebet ist Sache unseres geistigen Lebens, es ist die Unterhaltung unserer Gemeinschaft mit Gott, es ist das lebendige und sichere Gefühl, daß, wie weit das menschliche Leben auch noch in jener Beziehung zurükk sei, doch schon jezt das große Wunder Gottes an Allen in Erfüllung gehen kann, und ihm Alle auch angenehm werden können und sich sättigen an seiner Liebe, und an dem Bewußtsein, daß denen, die ihn lieben, alles zum Guten mitwirken muß. Wo aber solche Vermischung gemacht wird, wo das große Wunder Gottes umgewendet werden soll, um den irdischen Bedürfnissen zu dienen, die wir nur auf dem Wege unsers Fleißes sollen befriedigen lernen, wo es zur Bekämpfung der | natürlichen Uebel dienen soll, deren wir nur Herr werden sollen, indem wir allmählig Herr werden über die Kräfte der Natur, – wo solche Vermischung gemacht wird: da leidet auch der Glaube Schaden. Und selbst die, welche meinen, das sei keine Vermischung, ihre Meinung gehe nur dahin, daß auch in dieser Beziehung denen besondere Kräfte von Gott gegeben seien, in welchen das große Wunder Gottes schon geschehen ist. Wie? kann sich jemand dafür verbürgen, daß die, von denen geglaubt wird, daß ihnen wunderbares gegeben sei mehr als 7 gewinnen,] so auch SW II/3, S. 424; Textzeuge: gewinnen; digen 25 Vgl. Eph 1,6

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andern, auch die seien, in denen eben jenes Wunder Gottes reichlicher vollzogen ist als in andern? Wie? ist das Verhältniß nachzuweisen, welches doch in diesem Fall vorhanden sein müßte, daß die, welche am meisten in der Kraft des Geistes leben, und mit jenen göttlichen Waffen rühmlich streiten für die geistigen Güter, auch am meisten solche Wunder thun, die sich auf das leibliche Leben beziehen? O diese würden es nicht der Mühe achten, Zeit und Kräfte solchem Thun zu weihen, da sie zu anderem berufen sind. Nein! lasset uns dem, so viel wir vermögen, ganz und gar wehren, und jede Vermischung dieses Gebietes mit dem unsers Glaubens und dem Gebiet unserer Seligkeit aufheben. Bete und arbeite! das ist das einzige, was unser Schuz sein soll gegen alles, wogegen wir Schuz gebrauchen! Selbst seine Pflicht thun und Andere in den Stand sezen, daß auch sie die ihrige thun können, jedem, der dazu gesezt ist, einer Noth des Lebens abzuhelfen, die eigene Noth, die uns drükkt, vortragen und ihn in den Stand sezen, daß er seine Pflicht thue, das übrige aber Gott anheim stellen, das ist die einzige Regel, welcher wir folgen sollen. Dann brauchen wir keines andern Wunders | als nur desjenigen, in welchem wir immer leben, weben und sind. Aber nicht nur sollen wir jede Gemeinschaft mit diesen Wundern aufgeben, sondern, wie der Apostel es that, zu jedem solchen Geiste sollen wir sagen, Fahre aus! Wir sollen es gebieten im Namen Christi, daß keiner sich herausnehme wahrzusagen und Wunder zu thun. Aber vermögen wir das? der einzelne freilich nicht anders, als jeder durch sein Wort und Zeugniß; aber wir sind auch nicht einzeln, wir sind in der großen Gemeinschaft der Kinder Gottes; und auch diese sollte es nicht vermögen? Wohl vermag sie es dadurch, daß zuerst laut und öffentlich und überall, wo es Noth thut, gesagt wird, das wunderbare von dieser Art, was sich uns darstellt, sei entweder nicht wahr, sondern falsch, oder wenn es wahr ist, so erscheine es uns wunderbar, weil wir noch nicht tief genug eingedrungen seien in die Geheimnisse der Natur, und so wie wir dies sagen, sagen wir zu jedem solchen Geist, der Wunderkraft in sich zu haben meint oder vorgiebt, er solle ausfahren; denn der Unwissenheit rühmt sich Niemand, sondern der bescheidet sich jeder. Und wenn wir das festhalten, daß jezt kein anderes Wunder mehr ist als jenes große Wunder Gottes, daß wir alles andere begreifen sollen, als in dem großen Gesez der Natur geordnet und in der Führung Gottes begründet, wenn wir es schon vermögen; vermögen wir es aber noch nicht, daß wir es denen zur Erforschung geben, deren Beruf es ist, und dann, wenn es erforscht ist, keine an4–5 Schleiermacher bezieht sich auf die in der Epistellesung genannten geistlichen Waffen (Eph 6,10–20, bes. 14–17). 18–19 Vgl. Apg 17,28

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dere Anwendung davon machen, als die einem jeden offenbar werden kann, damit uns nichts mehr störe auf unserm ebenen und geraden Wege: dann thun wir | das, was der Apostel gethan hat, als er jenes Wort sprach, und das ist es, was auch uns allen obliegt. Kein falsches Licht und kein falscher Glanz werde geworfen auf das Wunder Gottes in seinem Sohn! Nichts werde darin, nichts werde dadurch gesucht als der Friede des Herzens, das Heil der Seele, die große unvergängliche Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, die zugleich die heilige Gemeinschaft mit dem ist, der da ist über alles und in allem und durch alles. Und wenn wir uns so von allem falschen Werthe befreien, den die Geheimnisse des Glaubens haben sollen, wenn wir diese selbst von jeder irdischen Knechtschaft befreien, – denn es ist eine Knechtschaft, wenn sie den irdischen Zwekken des Menschen dienen sollen: – um desto mehr werden wir uns den Weg ebenen zum freudigen Genuß der Wohlthaten Gottes, und zu jedem ihm wohlgefälligen Fortschritt in der richtigen Kenntniß und dem richtigen Gebrauch der Kräfte der Natur, über welche er uns gesezt hat, daß wir über sie herrschen sollen. Aber das eine, um dessentwillen alles andere ist, das ist das Wunder Gottes in Christo: was wir durch dieses vermögen in Treue, Kraft und Liebe, das ist das, wofür die Menschen, je mehr es in den Tag hineinleuchtet, um so mehr auch Gott preisen werden, der durch Christum den Menschen solche Macht gegeben hat. Amen. Lied 319, 9. 10.

9–10 Vgl. Eph 4,6 17–18 Vgl. Gen 1,26.28 23 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 319: „Dein Recht, o Gott, und dein Gebot“ (Melodie von „Es ist das Heil uns kommen her“); die beiden letzten Strophen 9 und 10 lauten: „Dein Wort, o Herr, sey immerdar ein Licht auf unsern Wegen; erhalt es bei uns rein und klar und mach es uns zum Segen; es sey uns Trost in aller Noth, daß wir im Leben und im Tod beständig darauf trauen. // O Vater, laß zu deiner Ehr dein Wort sich weit verbreiten: hilf, Jesu, daß uns deine Lehr erleuchten mög und leiten. O heilger Geist, dein göttlich Wort laß in uns wirken fort und fort Glaub, Lieb, Geduld und Hoffnung.“

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22. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 7,1–5 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 351–360, Nr. XXVIII; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 463. Tex t . Marcus VII, 1–5. „Und es kamen zu ihm die Pharisäer, und etliche von den Schriftgelehrten, die von Jerusalem gekommen waren. Und da sie sahen etliche seiner Jünger mit gemeinen, das ist, mit ungewaschenen Händen das Brot essen, versprachen sie es. Denn die Pharisäer und alle Juden essen nicht, sie waschen denn die Hände manchmal; halten also die Aufsätze der Aeltesten. Und wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, sie waschen sich denn. Und des Dings ist viel, das sie zu halten haben angenommen, von Trinkgefäßen und Krügen, und ehernen Gefäßen, und Tischen zu waschen. Da fragten ihn nun die Pharisäer und Schriftgelehrten: Warum wandeln deine Jünger nicht nach den Aufsätzen der Aeltesten; sondern essen das Brot mit ungewaschenen Händen?“

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M. a. Z.! Wenn wir diese Worte vernehmen und uns dabei erinnern, daß diese vielen Waschungen, von denen hier die Rede ist, doch nur ein kleiner Theil waren von allen den ähnlichen Aeußerlichkeiten, die zu der Zeit, wo der Erlöser lebte, wenn auch nicht buchstäblich alle Juden, aber doch der | größte Theil des Volkes, zu dem er gehörte, auf sich geladen hatte, wie sie vorgeschrieben waren in dem, was hier die Aufsätze der Aeltesten genannt wird: so können wir mit Recht, diese Verhältnisse des Alten Bundes beden20 Alten] alten 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 463: „Es ist nicht schwer, ein Christ zu seyn“ (Melodie von „Es kostet viel, ein Christ zu seyn“) 6 ‚Versprechen’ hat hier die heute veraltete Bedeutung von ‚tadeln’; vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 4, Sp. 1533. 7 ‚Aufsatz’ hat hier die schon zu Schleiermachers Zeit veraltete Bedeutung von ‚Gesetz, Verordnung’; vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 470.

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kend und dagegen das haltend, was wir so eben gesungen haben, es dankbar anerkennen, daß wir von solchen Lasten jetzt nichts mehr wissen, daß nur das Eine uns Noth thut, wie es in unserem Liede heißt, zu werden wie die Kinder und kindlich die Liebe zu üben, daß aber von jenen Aeußerlichkeiten wir nichts mehr nöthig haben zu beobachten, als zu der Seligkeit des Menschen gehörend. Das war auch die Beziehung, in welcher der Herr selbst sagte, daß sein Joch sanft und seine Last leicht sei, indem er sich und die Gemeinschaft, die er auf seinen Namen stiften wollte, mit dem Joche verglich und mit der Mannigfaltigkeit von äußeren Lasten bei den Juden, welche die Aeltesten nie müde wurden aufzulegen. Dabei wissen wir freilich auch, daß auch das wahr sei, was das nächste Lied sagt, es kostet viel, ein Christ zu sein und nach des reinen Geistes Sinn zu leben, nämlich, es kostet viel, daß man sich erst gewöhne, allem Tichten und Trachten nach den weltlichen Dingen zu entsagen und seinen Sinn nur zu richten auf die Seligkeit des Reiches Gottes und auf das Streben nach der Gerechtigkeit desselben. Aber ist diese Uebergabe unseres Herzens nur erst geschehen, haben wir uns nur über das Vergängliche erhoben: dann gewiß ist es leicht, ein Christ zu sein. Denn wird uns, indem wir kein anderes Bestreben als dies haben, indem nur dies Eine unverrückt uns vor Augen steht als das Ziel unseres Tichtens und Trachtens, wird uns darüber alles Andere gleichgültig: so fühlen wir, zu welcher Freiheit und Sicherheit damit der Geist gelangt, so fühlen wir uns gelöst von allen den früheren Banden, und werden aus der Vergleichung | erst vollkommen inne, welches die Seligkeit sei der Kinder Gottes. Unser Evangelist beschreibt uns nun jene äußeren Gebräuche, deren Beobachtung mit großer Sorgfalt und Genauigkeit betrieben wurde, als etwas, das ihm selbst fremd wäre, und wir sehen daraus, wie er entweder schon ganz in diesen tiefen Sinn des Christenthums eingedrungen war oder von Anfang an nicht zu denen gehörte, die im Gehorsam gegen das Gesetz aufgezogen waren. Indem er aber sagt, daß das Volk nach Anweisung der damaligen Schriftgelehrten die Aufsätze der Aeltesten beobachtete: so ist allerdings wahr, daß diese Dinge im Gesetz nicht geschrieben waren, und daß wir uns denken könnten, wie auch viele Christen in der ersten Zeit sich gedacht haben, von dem, was Menschensatzung war, müßten sich die Jün2–3 Vgl. Lk 10,42 3–4 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 463: „Es ist nicht schwer, ein Christ zu seyn“ (Melodie von „Es kostet viel, ein Christ zu seyn“), Strophe 2: „Du darfst nur werden wie ein Kind, du darfst ja nur die Liebe kindlich üben. O blöder Geist, wie gut ist Gott gesinnt! das kleinste Kind kann ja die Mutter lieben; drum zage nicht und fürchte nicht so sehr, es ist nicht schwer.“ 7 Vgl. Mt 11,30 11–12 Vgl. die erste Strophe von Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 464 (in eigener Melodie): „Es kostet viel, ein Christ zu seyn und nach des reinen Geistes Sinn zu leben; denn der Natur geht es gar bitter ein, sich immerdar in Christi Tod zu geben; auch ists mit Einem Kampf, den wir vollbracht, nicht ausgemacht.“ 14–16 Vgl. Mt 6,33

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ger Christi allerdings frei halten, aber das Gesetz selbst müßten die wenigstens beobachten, die dem Volke des Alten Bundes angehörten; und in diesem Sinn wird gedeutet, was der Erlöser anderwärts sagt, und das dem, was hier gesagt wird, wenn man beides nicht genau beachtet, zu widersprechen scheint, daß er nämlich nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen. Indessen nicht minder wahr ist es, daß sehr bald die Christen dahin gelangten, sich überhaupt von dem Gesetz, insofern dasselbe eine Quelle der Gerechtigkeit vor Gott sein sollte, loszumachen und die Vollkommenheit in nichts anderem zu suchen, als, wie sie schon ausgesprochen wird in den ersten Worten, in welchen der Herr seine Lehre der der Pharisäer entgegensetzt, daß nämlich in Allem es nicht auf die äußeren Handlungen ankomme, sondern auf die Gesinnung, und daß, wenn die äußeren Handlungen nicht aus der rechten Gesinnung kämen, und diese jenen entspräche, sie doch den Menschen keinen Werth beilegen könnten. | Wenn wir aber auf die Worte des Evangelisten genau achten: so werden wir zweitens bemerken die Eintracht, welche die Jünger des Herrn damals in dieser Beziehung beobachteten. Denn es heißt, sie sahen Etliche der Jünger das Brot essen, ohne daß sie die Aufsätze der Aeltesten dabei berücksichtigten. Das kann freilich auch so verstanden werden, daß sie nur etliche solches thun gesehen hätten, aber daß es alle zu thun pflegten. Aber wir können doch auch glauben, daß es nicht alle so gehalten, und daß also auch damals das Maaß der Einsicht und das Maaß der Freiheit der Kinder Gottes nicht dasselbe gewesen, und eine große Verschiedenheit hierüber obgewaltet habe. Dasselbe sehen wir späterhin in Beziehung auf das Gesetz selbst, wie nämlich ein großer Streit unter den Christen entstand, als viele von Geburt Heidnische sich dem Glauben zuwandten, und da Einige meinten, diese seien dem Gesetz Mosis gar nicht verpflichtet, weil sie nicht zu den Nachkommen Abrahams gehörten, Andre aber, die selbst dazu gehörten, meinten, sie müßten sich erst dem Gesetz unterwerfen und sich den Uebrigen erst gleich machen, wenn sie sollten in die neue Gemeinschaft des Glaubens aufgenommen werden. Da finden wir in einem wichtigen Punkt alle Verschiedenheit der Einsicht und Freiheit beisammen, und wenn die Gemeine damals der ersten Ansicht beitrat: so hat es gewiß Viele gegeben, die das nur mit halber Zustimmung des Herzens gethan haben, und unruhig gewesen sind über diese ihnen ganz unerwartete Entwickelung des Neuen Bundes. Wenn wir bedenken, wie der Erlöser an verschiedenen Orten in den Ländern, die dem jüdischen Volke gehörten, seine Predigt vom Reiche Gottes trieb, bald längere bald kürzere Zeit an einem Orte verweilend, und wie verschieden die waren, die das Wort aus seinem Munde hörten: so müssen wir glauben, daß es schon damals nicht auf alle gleich 5 Vgl. Mt 5,17 9–14 Sehr wahrscheinlich bezieht Schleiermacher sich auf Mt 15,1– 20 und Mk 7,1–23. 24–31 Vgl. Gal 2,1–14; Apg 15,1–29

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gewirkt hatte, und daß unter denen, welche glaubten, daß er Israel erlösen wollte, es Viele gab, | welche hielten nicht blos am Gesetz, sondern auch an den Aufsätzen der Aeltesten. Solche Verschiedenheit also müssen wir als etwas Ursprüngliches ansehen, und es sollte uns nicht wundern, wenn wir sie auch itzt finden; denn solche äußere Verschiedenheit wird und muß sich immer wiederholen. Der Weg zur Reinheit der Gesinnung, so wie zur Klarheit der Einsicht wird für den Einen kürzer, für den Andern länger sein, und so dürfen wir uns nicht wundern, sondern müssen es als den beschiedenen Theil der Gemeine auf Erden ansehen, daß solcher Unterschied immer noch besteht. Aber freilich, wenn wir erwägen, wie sich in das Christenthum selbst wiederum ohne einen geschichtlichen Gegensatz mit dem Gesetz des Alten Bundes so vieles Aehnliche eingedrängt hat, wie es noch immer unter den Christen Viele gibt, die eben so äußerlich und ängstlich an gewissen Aeußerlichkeiten halten: so haben wir nicht nur Ursache, das zu bedauern, daß es so mit ihnen ist, und sie sich diese Last unnöthiger Weise aufbürden, sondern zu besorgen, daß das nicht geschehen kann ohne Nachtheil für die Reinheit des Glaubens selbst. Denn wenn der Mensch auf so vielerlei Werth legt: so kann er ja nicht mehr sagen, Eins ist Noth; sondern er muß glauben, gesetzt sein Glaube ist rein, gesetzt er ist durch die Liebe thätig, aber er übt nicht zugleich die äußeren Dinge: so ist ihm auch jenes unnütz; und so können wir nicht anders glauben, als daß die Reinheit des Evangeliums und die Wichtigkeit seines Einflusses auf das Gemüth immer leidet, wenn wir so beschränkt sind. Da müssen wir denn freilich fragen, woher das kommt, und wie wir uns in dieser Beziehung zu verhalten haben. Was das Erste betrifft: so gibt uns unser Text einen Aufschluß darüber, den wir nicht übersehen dürfen. Es ist die Rede darin von den Pharisäern und Schriftgelehrten auf der einen, und auf der andern Seite von der großen Masse des Volks. Jene waren diejenigen, die das Volk leiteten, von welchen | diese Gebote ausgingen, und die auf der Beobachtung derselben hielten; die Andern waren die, welche sich von jenen führen ließen; und der Erlöser in vielen seiner Vorträge, in welchen er sich gegen diese Beobachtung erklärt, theilt seine Rede, er bedauert den großen Haufen und spricht einen bittern Tadel aus, oft nicht ohne tiefen Unwillen, gegen die, welche so das Volk leiteten. Wenn wir nun auf die Handlungsweise derselben auch hier in dem verlesenen Abschnitte sehen: so finden wir, wie sehr sie doch bedacht waren, ihre Lehre und Meinung überall geltend zu machen, und sie konnten es nicht sehen, daß Einige, wenigstens unter den Jüngern des Erlösers, sich über diese Vorschriften hinwegsetzten, ohne ihn gleich zur Rechenschaft zu ziehen, und also von ihm zu verlangen, er solle 30 Andern] Andere 1–2 Vgl. Lk 24,21

18 Vgl. Lk 10,42

19 Vgl. Gal 5,6

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die, welche an ihn glaubten, auch bei diesen Aufsätzen, bei diesem ganzen Gewebe von Aeußerlichkeiten festhalten. Wenn wir dies recht betrachten: so müssen wir sagen, es kann einen sehr verschiedenen Grund haben. Auf der einen Seite können wir ja nicht anders als das achten und ehren, wenn jeder seine Ueberzeugung von dem, was zum Heil der Menschen nothwendig ist, auch sucht so weit als möglich zu verbreiten; das ist ja nichts anders als der Ausdruck der natürlichen Liebe zur Wahrheit, welche allen Menschen eigen ist, und auf der andern Seite nichts anders als ein Zeichen von wahrer Liebe zu den Menschen, daß wir mit dem, was wir als gut und nothwendig überall erkennen, sie auch wollen beglücken und sie mit uns auf den rechten Weg hinleiten. Sofern daher solche Bestrebungen aus diesem Grunde herkommen, können wir sie nicht tadeln, die Ueberzeugung mag richtig sein oder nicht; sondern im letzten Falle müssen wir nur dahin trachten, einen Solchen selbst zu belehren, denn ist seine Liebe zur Wahrheit von rechter Art: so wird er unsere Ueberzeugung nicht weniger achten als die seinige. Und so können wir die Pharisäer nicht tadeln, wenn sie den Erlöser zur Rede stellen, daß seine Jünger nicht | den Weg gingen, den sie vorzeichneten. Aber oft freilich hat dieses Bestreben einen andern Grund, und es ist eine Erfahrung, die wir als sehr allgemein gelten lassen können, daß die, welche in der Sache des Heils und des geistigen Lebens eben noch viel auf Nebendinge halten und Aeußerlichkeiten, seien es Gebräuche oder seien es Buchstaben der Lehre oder sei es Enthaltung von diesem und jenem, daß diese einen größern Eifer haben, Anderen zu wehren, welche nicht ihres Weges gehen, als sich selbst auf den rechten Weg leiten zu lassen; daß sie am Liebsten vor solchen warnen und auf alle Weise, wie es sich ziemt und wie es sich nicht ziemt, nicht nur mit Gründen, sondern mit allem Einfluß, den sie haben, sie auf ihren Weg zu lenken suchen, so daß wir sagen müssen, es vermischt sich bei denen, welche von solcher Gesinnung sind, leicht ein falscher Eifer mit dem wahren, und da müssen wir allerdings den Grund davon aufsuchen und uns die richtige Weise des Verfahrens deutlich machen. Da ist denn allerdings nicht zu leugnen, dem, was göttliche Wahrheit ist, schreiben wir eine Kraft zu, welche wenig oder keiner äußeren Hülfe bedarf, wir halten uns nicht für befugt, durch irgend etwas sonst ihr zu Hülfe zu kommen, ohne das Zeugniß, welches wir von der Wahrheit ablegen, nicht eigentlich als ob sie seiner bedürfe, sondern weil wir nicht anders können, weil das zur menschlichen Natur gehört, daß, wovon das Herz voll ist, davon der Mund übergeht, weil, wie der Apostel Paulus sagt, die Liebe Christi uns dringt, daß wir nicht anders können als so. Diese Zuversicht zur Kraft der ewigen Wahrheit, zum ununterbrochenen Zeugniß, welches von derselben abgelegt wird im Leben und Dasein der Gemeine des Herrn, 37–38 Vgl. Mt 12,34; Lk 6,45

38–39 Vgl. 2Kor 5,14

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diese Zuversicht macht, daß wir geruhig sind, gelassen, dem Anschein nach gleichgültig gegen die, welche von diesem Lichte noch nicht erleuchtet sind. Wir denken nämlich | und hoffen, wenn sie so viel Sinn haben, daß sie ihre Aufmerksamkeit richten auf die lebendige Wirksamkeit des Glaubens, der auch sie zum Heil führen soll, so bald sie unterscheiden können das geistige Leben in der Freiheit der Kinder Gottes von allem nichtigen und verderblichen Wesen: so muß sie jenes von selber bewegen und das Verlangen in ihnen erregen, daß sie auch Theil daran haben. Wo dann der Christ dies Verlangen bemerkt, da kommt er ihm entgegen mit aller Liebe und Theilnahme; aber daß er um die sich besonders kümmern sollte, wenn sie ihm nicht besonders empfohlen sind, die eines andern Weges gehen, daß er sich ihnen gleichsam mit Gewalt aufdrängen sollte, das liegt nicht in seiner Art. Dahingegen insofern die, welche auf äußere Dinge halten, immer dasselbe Bestreben haben, welches hier die Pharisäer, und wenn sich mit ihrem Eifer so vieles Falsche verbindet: so hat dies seinen Grund in einem Mangel an Zuversicht; es kommt daher, weil der Mensch über das, was nicht die Wahrheit ist, niemals so viele Festigkeit haben kann als über das, was Wahrheit ist, und diese Unruhe zeigt sich in dem auf den Buchstaben Sehen und in dem Suchen nach äußerer Uebereinstimmung. Je größer die Zahl, desto größer wird ihnen die äußere Gewißheit, weil es an der innerlichen fehlt, und daher suchen sie immer Mehrere in ihre Gemeinschaft zu ziehen, und daher ist es geschehen, daß auch in der christlichen Kirche die Zahl derer so groß geworden ist, welche einen so großen Werth auf äußere Dinge legen. Und so ist denn die Frage der Pharisäer auch zu verstehen, die sie an den Erlöser richten, und wir werden uns nur daraus, daß er es auch von dieser Seite angesehen hat, die Antwort erklären können, die er ihnen gibt, und die wir in der Folge zum Gegenstand unserer Betrachtung machen wollen. Was ich so eben erinnert habe, das finden wir nun auch deutlich sich aussprechen in diesem Theil der christlichen Kirche, der von solchen Nebendingen noch voll ist, und es ist die Art und Weise, in welcher immer noch die, welche da hergekom|men, wie in einem Netze befangen sind. Und das werden wir denn auch sehr natürlich begreifen können. Denn wo es dem Menschen nicht vollkommene Wahrheit ist, daß vor Gott nichts anders gelten kann als die Gerechtigkeit aus dem Glauben, als der Glaube, der durch die Liebe thätig ist, wo diese Ueberzeugung nicht durch und durch klar, und das Herz unumstößlich gewiß ist, da ist natürlich, daß wenn man Viele sieht, welche einen Werth auf äußere Dinge legen und sagen, du mußt noch dies und jenes unterlassen, wie wenig es auch mit jenem innern Grund der Wahrheit zusammenhängt, daß da denn die, welche nicht ganz fest und 6 Vgl. Röm 8,21 26–28 Vgl. die Predigt am 2. Dezember 1832 über Mk 7,6–13 34–35 Vgl. vor allem Röm 1,17 35–36 Vgl. Gal 5,6

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klar sind, denken, es sei das Sicherste, diesen auch das Ohr zu leihen und neben dem Innern auch auf das Aeußerliche zu halten. Aber es ist immer ein Zeichen, daß das Herz nicht fest ist, ein Zeichen der innern Unsicherheit; und die Folge davon ist, daß wir uns immer weiter von der Klarheit, der Einsicht, von der Festigkeit des Herzens entfernen, daß, je mehr der Werth der äußeren Dinge wächst, das, was allein wahr ist, schwankend wird; und wenn wir uns auf solche Aeußerlichkeiten einlassen: so wird um so mehr, als dies zunimmt, der Antheil, der dem Glauben und der Liebe zugeschrieben wird, und ihr inneres freies Wesen das Geringere, und dann ist auch der Antrieb der christlichen Gesinnung nicht auf diese Weise heraustretend, die Wahrheit erscheint nicht, wie sie ist, und die ganze christliche Gemeinschaft gewinnt immer mehr Aehnlichkeit mit dem, was vorher auch gewesen ist; und bald erscheint sie von der einen Seite angesehen dem Zustand des Alten Bundes, bald von der andern Seite angesehen dem Zustand der heidnischen Völker ähnlich, und die Eigenthümlichkeit des Evangeliums verbirgt sich. Darum ist das Erste, wofür jeder selbst zu sorgen hat für sich, aber auch das Nothwendigste, was jeder schuldig ist, der Gemeine des Herrn zu leisten, daß das Eine, was Noth thut, allein gelte, daß wir uns rein halten von einer falschen Werthschätzung des Aeußern, | und daß uns solche Bestrebungen fremd bleiben, wie sie der ganzen Form der Erzählung nach bei den Schriftgelehrten waren. Je mehr der erleuchtete Theil der Christen die Freiheit der Kinder Gottes bewahrt, um so mehr dürfen wir auch die Hoffnung nähren, daß jener Schein immer mehr verschwinden werde; und wenn dann bei der Freiheit, die wir im Leben darstellen, auch die Liebe bewahrt wird und unser ganzes Leben nur erklärt werden kann aus derselben: dann kann auch immer mehr das Reich des Erlösers sich in seiner ganzen Herrlichkeit hinstellen und den Menschen als das Ziel dargestellt werden, das sie nur allein in ihm gewinnen können. Amen. Lied 465, 6. 7.

18 Vgl. Lk 10,42 22 Vgl. Röm 8,21 29 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 465: „Folget mir, ruft uns das Leben“ (Melodie von „Herr, nicht schicke deine Rache“)

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Am 25. November 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

23. Sonntag nach Trinitatis (Totensonntag), 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 11,16 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 119–136, Nr. VII Keine Drucktext Schleiermachers; Christliche Festpredigten, Bd. 2 (7. Sammlung) 1833, S. 549–569 (s. KGA III/2); Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, S. 598–609; 21843, S. 597–608. – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 405–420. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 468–478 Keine

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Lied 48, 1–3. 752.

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Text. Ev. Joh. XI, 16. „Da sprach Thomas, der da genannt ist Zwilling, zu den Jüngern: lasset uns mit ziehen, daß wir mit ihm sterben.“ M. a. Z. An einem Tage wie der heutige findet gewiß gerade in Beziehung auf denselben eine sehr große Verschiedenheit Statt unter denen, welche sich in den Häusern unserer christlichen Andacht versammeln. Gewiß sind immer so Manche darunter, welche in dem kirchlichen Jahre, das wir heute beendigen, irgend ein herber und schwerer Verlust getroffen hat, denen irgend ein geliebtes Haupt geschieden ist, das sie vermissen, sei es nun in dem Kreise ihres häuslichen, oder sei es in den Geschäften ihres öffentlichen Lebens. Und gewiß fehlt es auch nirgend an solchen, welche in das nun beginnende Jahr mit banger Erwar|tung hinaussehen, weil es ihnen wahrscheinlich ist, sie werden am Ende desselben nicht Alle mehr in ihrer Mitte haben, mit denen sie auf das innigste verbunden gewesen sind. Aber unter beiden 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 48: „Lob, Preis und Ehre bringen wir“ (Melodie von „Komm, heiliger Geist, Herre Gott“); Nr. 752: „Wer mit gläubigem Gemüthe“ (Melodie von „Jesu, meines Lebens Leben“)

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selbst wieder welche große Verschiedenheit, wenn wir auf die Abstufungen in den Bewegungen unseres Gemüthes sehen, sowol auf den verschiedenen Grad, als auf die mannigfaltigen Gründe, und die oft so sehr verschiedenen Wirkungen solcher schmerzlichen Gefühle. Aber eben deswegen, weil diese so verschieden sind, so ist eine Feier wie die heutige auch wichtig und bedeutend für viele, welche in dem unmittelbar sich abschließenden Zeitraume verschont geblieben sind in ihrem nächsten Kreise von den Pfeilen des Todes. Wie Viele giebt es nicht, die, mögen sie auch weiter und jedesmal weiter zurükksehen müssen, doch noch in ihrem Herzen den Stachel tragen, den ihnen ein solcher Verlust verursacht! die, wenn gleich immer wieder verschont geblieben, doch diesen Tag nie begehen können, ohne daß die Wunde ihres Herzens wieder aufreißt. Darum muß es uns Allen etwas sehr wichtiges sein, diese Feier dafür zu benuzen, daß wir uns verständigen aus dem göttlichen Wort sowol über das rechte Maaß als über die rechte Art und Weise unserer Empfindungen bei dem Abscheiden unserer Brüder. Dazu nun geben uns die verlesenen Worte der Schrift eine besondere Veranlassung. Der Schmerz, den der Tod des Lazarus verursachte, war zwar nur vorübergehend aber tief. Und es ist doch der einzige Todesfall, der uns erwähnt wird aus den Zeiten des Lebens unseres Erlösers in dem Kreise der Seinigen. Diesen hatte der Erlöser seinen | Jüngern angekündigt; und als er das unumwunden gethan hatte, sprach Thomas die Worte, welche wir mit einander vernommen haben. Wir können sie indeß nicht ganz und nicht sicher verstehen, wenn wir uns nicht etwas weiter zurükk des ganzen Zusammenhanges erinnern. Der Erlöser hatte die Nachricht erhalten von der Krankheit des Lazarus, war aber noch da geblieben, wo er eben war; aber nach wenigen Tagen sprach er zu seinen Jüngern, Lasset uns wieder nach Judäa ziehen; und als sie ihn warnten und sprachen, Wie? als du zum lezten Mal da warest, wollten sie dich steinigen, und nun willst du doch wieder hinziehen? Da gab er ihnen zuerst noch umwunden und dunkel zu verstehen, Lazarus schliefe, und er müsse hin und ihn aufwekken. Aber als sie ihn auch da noch abhalten wollten, da sagte er es ihnen deutlich heraus, und so beziehen sich denn diese Worte seines Jüngers auch mit auf die Gefahren, denen sie alle entgegengingen, indem ihr Meister nach Judäa in die Nähe von Jerusalem zurükkehren wollte. Auf jeden Fall aber war doch die Stimmung, die uns Johannes hier darstellt, durch diese Nachricht von dem Tode des Lazarus her22–24 Vgl. Joh 11,11–14 27–28 Vgl. Joh 11,6 29–30 Joh 11,7 Joh 11,8 32–34 Vgl. Joh 11,11 34–35 Vgl. Joh 11,14

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vorgerufen, und so lasset uns denn die Worte izt in dieser Beziehung näher erwägen. Freilich alle Lehre, die wir daraus schöpfen können, kann sich nicht beziehen auf alle verschiedenen Fälle, die gewiß in diesen Tagen so manches Gemüth bewegen. Denn sie beschränkt sich doch auf jeden Fall nur auf das Hinscheiden derjenigen, welche schon unsere Mitarbeiter sind an dem Werke des Herrn; nicht erstrekkt sie sich auf die, welche wir selbst erst anleiten sollen, um wirklich in diesen heiligen Kreis zu treten, nicht auf die große Zahl derjenigen, welche jährlich aus | diesem Leben scheiden, ohne noch zu der ersten Erkenntniß Gottes, zu dem ersten kindlichen Bilde des Erlösers in ihrer Seele gelangt zu sein. Aber wenn jenes doch immer das wichtigste und bedeutendste ist, so mögen wir uns wohl mit Recht darauf beschränken; und darum lasset uns sehen, was wir aus jenen Worten des Thomas in Beziehung auf den Grad und die Art und Weise unseres Schmerzes bei dem Verluste unserer Brüder lernen können. I. Was zuerst darin unverkennbar ist, m. a. Z., sie sind der Ausdrukk eines gewissen Verlangens abzuscheiden aus diesem Leben, eines gewissen Ueberdrusses an demselben, welcher durch diesen Todesfall verursacht wurde. Wenn wir uns dies als den augenblikklichen Ausbruch eines von einem großen Verluste tief bewegten Gemüthes denken, dem vielleicht durch ein einziges von denen, die ihm lieb und werth sind, doch viele Fäden seines Lebens abgeschnitten sind, dem sich nun kein Bild der nächsten Zukunft gestalten will, weil es in so vieler Hinsicht dem unmittelbar vorangegangenen nicht mehr ähnlich sein kann: so mögen wir es wohl verzeihen und entschuldigen; ja wir können wol auch das Stillschweigen sowol des Erlösers als der anderen Jünger zu diesem Ausruf des Thomas als eine solche Billigung oder wenigstens Entschuldigung ansehen. Aber was natürlich sein kann und eben deswegen auch vergönnt, als eine augenblikkliche Bewegung des Gemüthes, das bekommt doch einen ganz anderen Werth und eine ganz andere Bedeutung, wenn es sich in demselben festsezt. Empfinden wir nun auf diese Weise bei dem | Dahinscheiden der Unsrigen; wird uns so dadurch das ganze Bild des Lebens getrübt, daß wir den Zusammenhang mit demselben verlieren und glauben uns nicht mehr hineinfinden zu können: so lasset uns ja fragen, was wohl die natürliche Folge davon sein muß, wenn sich diese Verwirrung in dem Innern unsers Gemüthes befestigt. Auf der einen Seite freilich werden wir Alle eine große Wahrheit darin erkennen, daß, je mehrere 7 an dem] andem

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von denen vor uns dahinscheiden, mit denen wir zusammenzuwirken gewohnt gewesen sind, und in den liebsten und theuersten Beziehungen alles mit ihnen zu theilen, auf deren Thätigkeit sich überall in allem, was uns das wichtigste im Leben sein muß, die unsrige bezog, um desto weniger Wohlgefallen wir dann noch an unserm eigenen Leben haben können. So daß sich unser wol ganz mit Recht die Empfindung bemeistert, daß es je länger je mehr an seinem Werthe für das menschliche Wohl, für die gemeinsame Thätigkeit, in die wir mit verwebt sind, verliere; und daß, je mehr uns diejenigen fremd sind, die nun in die menschlichen Dinge am meisten eingreifen, je weniger von denen nur noch übrig sind, welche lange Gewohnheit, genaue Uebereinstimmung auf eine innige Weise mit uns verband, um desto eher wir uns gefallen lassen können, auch abgerufen zu werden aus diesem irdischen Schauplaz. Dieses, m. a. Fr., ist gewiß ein sehr richtiges Gefühl eben deswegen, weil es der Abdrukk ist von der göttlichen Ordnung in diesem menschlichen Leben. Denn so ist es ja der Wille Gottes, daß ein Geschlecht nach dem anderen aufgeht, erblüht, zu seinen vollen Kräften gelangt, nach Maaßgabe der verschiedenen Witterung, die den menschli|chen Dingen auf Erden begegnet, reichere oder sparsamere Früchte bringt, und dann auch wieder verwelkt und abstirbt, während ohnedies schon wieder ein anderes zu der frischen Blüthe und in die Zeit der Fruchtbarkeit gelangt ist. Wenn mit dieser göttlichen Ordnung unsere eigene Empfindung nicht übereinstimmte, sondern in Widerspruch wäre: so könnte ja auch unser Wille nicht mit dem göttlichen Willen übereinstimmen, so würden wir uns ja auch sträuben dieses Leben zu verlassen, um desto mehr je mehr es in der natürlichen Ordnung der Dinge liegt, daß es nicht mehr lange währen kann. Und darum ist auch alles wahr und richtig, was uns auf diesen Punkt führt, darum ist auch jede Empfindung wahr, die wir, wenn Einer aus dem Kreise unserer Wirksamkeit dahinscheidet, davon bekommen, daß von der eigenen Kraft unseres Lebens etwas verloren geht. Das also ist Wahrheit, m. g. Fr., in dem, was dieser Jünger aussprach, als die Nachricht gekommen war aus dem Munde des Herrn, daß ein so theures Glied, wenn auch nicht zu dem engeren apostolischen Kreise gehörend, aus ihrer Mitte geschieden war; es ist Wahrheit, ohnerachtet Thomas mit den Andern noch in der kräftigsten Zeit des Lebens stand. Aber, m. g. Z., eine jede Empfindung, die wahr ist und übereinstimmend mit der göttlichen Ordnung, muß auch eben deswegen die Ruhe des Gemüthes, den Frieden des Herzens erhöhen und nicht stören. Wenn wir uns in den göttlichen Willen bei einer jeden solchen Veranlassung so fügen, daß wir ihn in seiner ganzen Wahrheit erken-

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nen, daß wir dabei den Eindrukk immer aufs Neue in unser Herz fassen, daß auch unsere ganze Wirksamkeit in dem | Reiche Gottes auf Erden und in allen menschlichen Dingen an gewisse Bedingungen der Zeit gebunden ist, und natürlich aufhören müsse, wenn diese nicht mehr vorhanden sind: so darf sich doch dieses nie auf solche Weise festsezen, daß es sich in ein sehnsüchtiges Zurükkwünschen dessen, was nicht mehr da ist, verwandelt; so soll es nicht in ein niederdrükkendes Gefühl übergehen, welches eine Klage gegen die göttliche Ordnung selbst in sich schließt, so daß wir auf die Vergangenheit als auf ein Gut zurükksehen, das wir nie hätten verlieren sollen, weil es unersezlich ist. Denn wie dieses doch nichts anderes ist als Mißmuth über die göttliche Ordnung und Unzufriedenheit mit Gottes Wegen: so muß es unsere Lebensfrische und Thätigkeit schwächen, und alle Triebfedern zu gottgefälligen Handlungen lähmen und abspannen. Denn diese alle gehen nur hervor aus dem herzlichen Wohlgefallen an dieser Welt Gottes, wie er sie eingerichtet hat. Und was seiner Natur nach so wirkt, das kann auch in seinem Grunde nicht recht sein. Bringt der Schmerz eine solche Verstimmung hervor, so ist er auch nicht rein gewesen, sondern von Selbstsucht getrübt. Wie tief ein reines Gefühl erlittenen Verlustes auch in das Herz schneide: nicht nur darf es unsern eignen Lebensgehalt nicht schwächen, sondern es muß auch beitragen in Anderen fromme Ergebung in den göttlichen Willen, heitere Thätigkeit unter den Bedingungen, unter die Gott uns gestellt hat, hervorzubringen oder zu erhalten. II. Allein in den Worten dieses Jüngers Christi liegt, wenn wir auf den ganzen Zusammenhang derselben sehen, | noch etwas Anderes. Sie hatten vorher ihren Herrn und Meister gewarnt, er solle nicht nach Judäa gehen, weil man ihm da nach dem Leben stehe, und dieses wird uns dargestellt als ihre gemeinsame Stimme, als eine Empfindung, die sie alle theilten. Nun sagt ihnen der Herr, Lazarus wäre gestorben, und fährt fort, lasset uns zu ihm gehen, und darauf sagt Thomas, ja, lasset uns mit ihm gehen, auf daß wir mit ihm sterben. Es kann sein, daß er bei diesen Worten mit ihm nur an den eben entschlafenen Freund gedacht hat, aber dann war doch unter seinem Zuruf der Erlöser mit begriffen; und wie hätte dieser und seine Jünger dazu kommen können, mit Lazarus zu sterben, wenn nicht durch eben die feindseligen Gesinnungen, deren Ausbrüche ihnen früher schon dort gedroht 7 ist,] so 7. Sammlung, S. 556; Textzeuge: ist 27–29 Vgl. Joh 11,8

31–32 Vgl. Joh 11,14f

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hatten, und so wie sie vorher den Erlöser gewarnt hatten, daß er sie und sich nicht solle in diese Gefahr geben. Also in diesem Ausdrukke lag zugleich wenn auch nicht ein Entschluß doch ein Wunsch wenigstens, daß Alle nun möchten desselben Weges gehen. Das war also in der damaligen Gesinnung der Jünger und auf der Stufe der Einsicht, worauf sie standen, nichts anderes, als eben so Entschluß oder Wunsch, ihre bisherige Arbeit aufzugeben, und die bisherigen Bestrebungen fahren zu lassen, also auch die Hoffnung aufzugeben, daß durch die Thätigkeit des Erlösers und durch ihre Theilnahme daran ein Reich Gottes auf Erden sich bauen werde. Denn freilich, wären damals sie Alle mit ihm gestorben: wo wäre die Predigt des Evangeliums hergekommen, welcher Mund hätte sich dazu geöffnet, und wie wäre eine richtige Darstellung von dem großen Werk Gottes durch Christum unter den Menschen entstanden? In die|ser Aeußerung also zeigt sich eine Richtung und ein Uebermaaß des Schmerzes, wofür wir uns nicht genug hüten können! Damit die Jünger nicht fürchten möchten, nun der Erlöser selbst gestorben war, sei ihre Hoffnung, daß er Israel erlösen sollte, vergeblich, dazu vornämlich mußte er sichtbar wieder auferstehen von den Todten, zu ihnen reden und sie belehren über diesen ihnen noch unbekannten Zusammenhang des göttlichen Weges; dazu mußte die Kraft aus der Höhe über sie kommen, damit sie den Muth bekämen, auch des Gekreuzigten Zeugen zu werden und ihn zu predigen bis an das Ende der Tage. Wenn nun selbst der Tod des Erlösers kein Grund sein durfte, das gemeinsame Werk aufzugeben, die Hoffnungen, welche auf ihn sich begründet hatten, fahren zu lassen: wie viel weniger noch der Hintritt irgend eines andern! Wenn Johannes der Täufer zu seinen Zeitgenossen sagt, sie sollten nicht bei sich selbst denken, sie hätten den Abraham zum Vater, um darauf die Hoffnung zu gründen, es dürfe ihnen nicht fehlen, an den Segnungen des neuen Reiches Theil zu haben; denn, sprach er, Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwekken. Wenn nun dies von jenen gilt, wie sollten jemals wir Christen, wie groß auch der Verlust sei, welchen die Gemeine des Herrn erleiden kann an einem einzelnen, wie sollten wir jemals die Hoffnung aufgeben, daß das Werk des Herrn fortgehen werde und herrlicher wachsen von einem Tage zum andern, da wir hier die lebendigen Steine sind, die sich immer mehr aufbauen durch den Geist zu einem immer wachsenden und herrlicher sich erhebenden Tempel Gottes. Es ist wahr, m. a. Fr., auch das ist ebenfalls die | göttliche Ordnung, daß unter den Menschenkindern ein großer, ja oft sehr großer 17–18 Vgl. Lk 24,21 21 Vgl. Lk 24,49 22–23 Vgl. Lk 24,48; Apg 1,8 26– 30 Vgl. Mt 3,9; Lk 3,8 30–31 Lk 3,8; ferner Mt 3,9 36–38 Vgl. 1Petr 2,5

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Unterschied Statt findet, sowol was die geistigen Gaben betrifft, mit denen Gott sie ausgerüstet hat, als auch in Beziehung auf die Stelle, welche er ihnen angewiesen hat, und auf die äußeren Bedingungen der Wirksamkeit, durch die er den einen vor dem andern begünstigt. Dieser Unterschied ist da, und wir dürfen ihn uns nicht leugnen, so daß wenn wir die menschlichen Dinge im allgemeinen betrachten, wir auch nicht sagen können, ein menschliches Leben habe denselben Werth wie das andere. Und diese göttliche Ordnung, wo hätte sie sich wohl heller gezeigt, welches wäre der stärkste Ausdrukk derselben als der Unterschied zwischen dem Erlöser, dem eingeborenen Sohn, und allen anderen Menschenkindern! Das war der höchste Gipfel, auf welchen sich diese Verschiedenheit der Menschen steigern sollte, daß in dem sündigen Geschlecht der Menschen das Wort Fleisch werden und das Ebenbild Gottes unter ihnen wandeln sollte. Gegen diesen Unterschied verschwindet doch gewiß jeder andere, und doch sollte auch der so ausgezeichnete in seiner persönlichen Wirksamkeit kaum die Blüthe des männlichen Alters erreichen, und dann wieder von hinnen genommen werden. Und was sandte er an seine Stelle? Wodurch sollte nun das weiter gefördert werden, was er begonnen hatte? Den Geist der Wahrheit sandte er und goß ihn aus über die Seinigen, der es von dem seinigen nahm und ihnen verklärte, der die Gaben vertheilte und sich nach seinem Wohlgefallen in einem größeren oder geringeren Maaß nicht unbezeugt ließ an dem und jenem. Und ähnlich verhält es sich auch in allen menschlichen Dingen. O freilich, wenn wir uns das aus | vielfältigen Verwikkelungen bunt zusammengesezte Gewebe unserer gemeinsamen Angelegenheiten vergegenwärtigen im großen und im einzelnen: wieviel scheint da nicht oft auf einem einzigen theuren Haupt zu ruhen, wie oft wiederholt sich die Erfahrung, daß von einem Entschluß eines Einzigen, ob er zur Reife kommt oder nicht, ein großer Theil von dem nächst bevorstehenden Verlauf der menschlichen Dinge abhängt, Krieg und Frieden, Ordnung oder Zerstörung, Heil oder Verderben. So geht es in Beziehung auf die bürgerlichen Angelegenheiten der Menschen; dasselbe ist auch der Fall, wenn wir auf den Anbau ihrer verschiedenen geistigen Kräfte sehen, wo auch oft Einer vorleuchtet mit einem großen Beispiel, Bahnen ebnet, die vorher verschlossen waren; aber er muß eine Zeit lang in seiner Wirksamkeit bleiben, soll nicht das neu geöffnete Feld wieder verschüttet werden und nichts anderes bleiben, als was vor ihm auch war. Aber laßt uns nicht vergessen, der Erlöser war auf der einen Seite die Spize, 37 neu geöffnete] so 7. Sammlung, S. 561; Textzeuge: neue geöffnete 20–21 Vgl. Joh 16,14

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der höchste Gipfel dieser göttlichen Ordnung; aber er war auch auf der andern Seite der, durch welchen das in Erfüllung gehen soll, daß alle Thäler sollen gefüllt und alle Höhen geebnet werden. Und je mehr die Gemeinschaft der Menschen sich entwikkelt, je weiter sich die freundlichen Berührungen verbreiten, welche Alle als ein gemeinsames Band umschlingen, je größer die Einwirkungen sind, die sich von jedem Ort aus auf alle verbreiten: desto mehr verringert sich der Einfluß einzelner Menschen. Am Meisten soll ja das der Fall sein und ist es auch in der Gemeine des Herrn in Bezug auf alles, was zu den Angelegenheiten des Heils gehört. Auch hier sehen wir freilich, wie zunächst an die Stelle des Er|lösers der Geist, welchen er ausgegossen hatte, sich seine Apostel und wenige andere einzelne gestaltete zu besonderen Rüstzeugen, und auch späterhin sehen wir von Zeit zu Zeit, daß auch die Kirche Christi in solche Verwikkelungen nach außen oder in solche Verfinsterungen in sich selbst geräth, daß der Geist Gottes eine vorzügliche Kraft in einzelne legen mußte, ein vorzüglich helles Licht in einer oder in wenigen Seelen anzünden, damit so von einzelnen Punkten aus ein neues Leben entstehe, welches sich immer weiter verbreite, die Finsterniß durchdringe und die da todt waren in dem Namen des Herrn wieder erwekke zu einem neuen und frischen Leben. Aber das ist ja unsere wahre Zuversicht zu dem Reiche Gottes und seinem Bestehen, daß dieser Störungen immer weniger werden, und deshalb auch immer seltener die Nothwendigkeit, daß Einzelne hervorragen in dem Reiche des Herrn. Wenn der Geist Gottes sein Werk in dem menschlichen Geschlechte immer mehr vollbringen soll: so muß er immer mehr allseitig in demselben wirken, so muß sein Dasein und Wirken erkannt werden können in jedem menschlichen Leben, und in demselben Maaß muß die Ungleichheit abnehmen unter denen, die das Heil in dem Namen des Herrn gefunden haben und es nun auch weiter fortpflanzen wollen in der Welt. Darum so oft wir von irgend einem Einzelnen aus seinem Leben und Wirken das Gefühl bekommen, er sei in einem größeren oder geringeren Maaße immer doch ein besonderes Werkzeug Gottes und seines Geistes: so kann uns dann freilich wol, wenn wir denken, daß die Zeit seines Wirkens zu Ende geht, eine Bangigkeit aufsteigen in unserem Herzen; aber sie ist nicht das Werk des Glaubens. Der soll | es wissen, daß der Herr, wenn er abruft, auch wieder ruft und einsezt, daß es ihm nie fehlen wird an Werkzeugen, um das zu vollbringen, was in seinem Sohn und durch ihn ewig schon vollbracht ist, und in dem Laufe der Zeit immer mehr vollbracht werden soll durch das immer gleichmäßigere Zusammenwirken menschlicher von Gott erleuchteter und von Gott geleiteter 2–3 Vgl. Lk 3,5 (darin Jes 40,4)

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Kräfte. Und sehen wir nun gar auf die kleineren Kreise innerhalb der christlichen Gesellschaft: was wäre dann diese Verbindung der Gemüther in der Liebe, welche der Liebe Christi ähnlich ist, wenn nicht durch ihren Einfluß jeder einzelne Verlust sich bald ersezen sollte? Wenn das nicht wahr würde, was der Herr seinen Jüngern gesagt hat, Ihr mögt verlieren um meinetwillen oder durch mich, und wir mögen dann immer auch sagen, durch die von Gott gesezte Ordnung der Dinge Vater, Mutter, Bruder und Schwester, ihr findet es alles hundertfältig wieder in dem Reiche Gottes! Das lasset uns nur immer mehr wahr machen, laßt uns weder Fleiß noch Treue sparen an diesem Werk des Herrn, daß durch die gemeinsame Liebe möglichst bald jede Thräne getrokknet werde und jeder Schmerz sich lindere, auf daß nichts die Freude an dem Herrn und die Dankbarkeit gegen ihn, nichts die Zufriedenheit mit allen seinen heiligen Ordnungen, auch mit denen, die uns schmerzlich betrüben, stören möge. Das ist das Werk der christlichen Liebe, welche nicht nur im Einzelnen durch besonderen Zuspruch, sondern weit mehr noch durch heilsame Ordnungen, durch öffentliche Anstalten, welche sowol in der Gemeine des Herrn als auch in dem bürgerlichen Leben getroffen werden müssen, immer mehr daran arbeitet, daß der Gang des mensch|lichen Lebens ruhiger werde und ungestörter, daß wir, ohne aus dem Gleichgewicht unseres Innern gerissen zu werden, alles aufnehmen, was der Herr, der denen, die ihn lieben, alles zum Besten lenken will, über uns verhängt. III. Aber, m. a. Fr., wenn wir so auf der einen Seite freilich zugeben müssen, in diesen Worten des Jüngers unseres Herrn gebe sich eine solche Bewegung des Gemüthes zu erkennen, welche nicht von völliger Ruhe und Festigkeit seines Glaubens zeugt, sondern vielmehr von einer zu großen Weichheit seines Gemüthes: so müssen wir doch auf der anderen Seite gestehen, die rechte Art, wie das menschliche Gemüth bewegt werden soll bei solchen Veranlassungen, die finden wir doch in ihm; und wenn sich die nicht auch in seinen Worten zeigte, so wäre er nicht ein solcher Jünger des Herrn. Denn was wir wissen von dem, dessen Tod ihn auf solche Weise bewegte, das ist doch nur dieses, daß Lazarus und die Seinigen in einem genauen Verhältniß standen mit dem Erlöser, daß sie seine nächsten Gastfreunde waren in den unmittelbaren Umgebungen von Jerusalem, daß er gewöhnlich bei ihnen wohnte, wann er in jene Gegenden kam, und von ihrem Orte und ihrem Hause aus dann täglich den Tempel besuchte, um da zu lehren. Dieses Verhältniß war allerdings für den Erlöser und seine Jünger in 6–9 Vgl. Mt 19,29; Mk 10,29f; Lk 18,29f

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ihrer Lage etwas wichtiges und großes: aber es war doch immer nur etwas äußerliches, was leicht ersezt werden konnte auf andere Weise; und so waren die Jünger nicht verwöhnt durch ihren Herrn und Meister, daß sie Anspruch darauf gemacht hätten, es solle ihnen | gehen einen Tag wie den andern, und die Verhältnisse ihres äußeren Lebens sich ununterbrochen gleich bleiben, so daß es ihnen als etwas unmögliches erschienen wäre, einen solchen Verlust zu ertragen oder zu ersezen; vielmehr hatte er sie so gewöhnt an die mannigfaltigsten Wechselfälle, bald hier zu sein bald dort, bald Mangel zu haben bald Ueberfluß, je nachdem es ihm heilsam schien oder die Verbreitung seines Wortes Veränderungen forderte, oder je nachdem es Gründe gab, die ihn ausschlossen von dieser oder jener Gegend seines Landes. Zu solcher Unabhängigkeit von allen äußern Dingen waren sie gebildet, daß aus diesem Grunde der Tod des Lazarus sie nicht so hätte bewegen können. Und so sollen auch wir in dieser Beziehung urtheilen und empfinden. Alles, was einem einzelnen Leben einen großen Werth geben kann über andere hinaus, in denen dasjenige, was doch allein den Werth des Menschen ausmacht, eben so wirksam ist, ja auch das, was einen so vor anderen auszeichnet als Beförderer des Wohls der Gemeine, kann doch auch nur immer wieder etwas äußerliches sein. Und in diesem Glauben sollen wir fest stehen, daß allem, was wenn dieser oder jener nicht mehr da ist, auch nicht in derselben Gestalt fortdauern kann, der Herr eine andere Gestalt anweisen werde, dafür werde sich ein Weg und ein Ort auf eine andere Weise finden. So kann es denn nur der Werth gewesen sein, den dieser Jünger persönlich hatte in dem kleinen Kreise der Gläubigen als einer, der mit großer Liebe an dem Herren hing, weswegen die Nachricht von seinem Tode einen solchen Eindrukk auf das kleine Häuflein machte. Und, m. th. Fr., ist es nicht so? Wenn alle unsere | Empfindungen über das Hinscheiden einzelner Menschen rein sein sollen und gottgefällig, wenn sie nicht sollen uns selbst auf einen falschen Weg leiten und zur Störung unseres Friedens führen: so dürfen wir keinen andern als diesen Maaßstab anlegen. Viele große und herrliche Eigenschaften giebt es, die wir mit Freuden wahrnehmen in einzelnen Menschen; und wie vieles wissen sich nicht Manche anzueignen, was im Zusammenleben mit ihnen das Dasein erheitert und verschönert; aber dieses alles müssen wir uns in jedem Augenblikk entschlagen können, und dürfen keinen solchen Werth darauf legen, als ob, wenn uns solche hernach genommen werden, nun auch der Werth unseres eigenen Lebens verringert wäre; das einzige, wonach wir den Menschen schäzen müssen, das einzige richtige Maaß unseres Schmerzes, wenn einer aus dem Kreise unserer Wirksamkeit scheidet, kann immer nur der Antheil sein, den jeder hatte an dem göttlichen Geist, welchen Christus

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gesendet hat den Seinigen. Von allen noch so glänzenden Eigenschaften und Erwerbungen des menschlichen Geistes fragen wir, was sie leisten in der Welt, bleibt es, daß ich mich so menschlich und alltäglich darüber ausdrükke, oft nur zufällig, ob sie gutes bewirken oder übles. Die Quelle der Wahrheit ist nur der Geist der Wahrheit, die Quelle der Liebe nur der Geist der Liebe, den Christus über die Seinigen ausgegossen hat; was jeder durch diesen und für diesen ist, das allein bestimmt seinen Werth; und wie sehr einer geglänzt habe durch Thaten von anderer Art und wieviel Ruhm er anderwärts her bei den Menschen gewonnen hatte, das alles wird an dem Lichte der Wahrheit erbleichen und unscheinbar werden, wenn wir es vergleichen | mit dem, was ein Gemüth auch auf der bescheidensten Stelle in diesem menschlichen Leben wirkt, wenn es recht durchdrungen ist von jenem göttlichen Geist der Wahrheit und Liebe. Die Gaben, welche aus diesem kommen, vermögen allein etwas wahres und bleibendes in dem Leben der Menschen zu bewirken, was auf alle Weise verdient als ein gemeinsames Gut geachtet zu werden. Anders wissen wir nichts von Lazarus, als daß er, weil er ein Freund des Herrn war, in diesem Geist der Liebe und Wahrheit wandelte; und nie ist ein tieferer Schmerz ausgesprochen worden, als hier der über seinen Verlust. Doch, wie ich auch gleich anfangs gesagt habe, m. a. Z., noch ein anderes ist es mit denen, die Gott in den unmittelbaren Kreis unseres Lebens gestellt hat. Denn diese sind uns nicht nur dazu gegeben, daß sie uns helfen und beistehen sollen, sondern eben so sehr auch dazu, daß wir auf sie wirken und ihnen helfen sollen; und wenn sie von uns genommen werden und scheiden, und es bleibt uns das Bewußtsein zurükk, daß wir nicht an ihnen gewirkt haben, was wir gesollt und gekonnt hätten, daß wir nicht auch für sie und an ihnen Werkzeuge des göttlichen Geistes gewesen sind, und ihnen nicht auf alle Weise beigestanden und sie unterstüzt haben in dem Werke des Herrn, welches sie trieben, nach allen unseren Kräften, das ist dann freilich ein Schmerz anderer Art. Mögen wir, m. a. Fr., so zunehmen in der wahren Weisheit, die allein von oben kommt, daß wir uns diesen Schmerz mit jedem Jahre unseres Lebens immer weniger bereiten, und immer vollkommner die Stelle ausfüllen, auf die Gott uns gestellt hat; aber dann auch so, daß immer | unbegrenzter werde unser Vertrauen auf die Weisheit dessen, der alles leitet, daß wir es ihm anheim geben, wann und wie er diesen und jenen hinwegrufen wird aus unserem Kreise. Und gewiß, hören wir nur auf sein Wort, merken wir nur auf die Stimme seines Geistes, ehren und lieben wir die Menschen nur recht von Herzen in dem 33–34 Vgl. Jak 3,17

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Maaße, als dieser in ihnen wirkt: o dann werden wir nicht murren, wenn nach der göttlichen Ordnung bald dieser bald jener abgerufen wird; sondern werden fest vertrauen, daß jedes theure Haupt der gemeinen Sache und uns wieder ersezt wird, wenn auch nicht immer durch ein einzelnes andere, so doch gewiß durch das Zusammenwirken der Kräfte, die nach demselben geistigen Ziele hinsteuern, durch die gemeinsamen Werke der Liebe, die aus derselbigen geistigen Quelle fließt. In diesem Sinn also lasset uns des Todes gedenken, auf daß wir weise werden; weise, um die Wirkungen desselben in unserem Leben mit vollkommener Ergebung in den göttlichen Willen zu schauen und zu empfinden, und weise, um nach seinem Willen auch selbst gern zu scheiden, wann unsere Stunde schlägt, und er uns Ruhe geben will von der irdischen Arbeit. Amen. Lied 743.

8–9 Vgl. Ps 90,12 14 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 743: „Mit Fried und Freud fahr ich dahin“ (in eigener Melodie)

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Am 2. Dezember 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 7,6–13 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 361–371, Nr. XXIX; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 95.

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Tex t . Marcus VII, 6–13. „Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Wohl fein hat von euch Heuchlern Jesaias geweissagt, wie geschrieben steht: Das Volk ehret mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir. Vergeblich aber ist es, daß sie mir dienen, dieweil sie lehren solche Lehre, die nichts ist, denn Menschen Gebot. Ihr verlasset Gottes Gebot, und haltet der Menschen Aufsätze, von Krügen und Trinkgefäßen zu waschen; und desgleichen thut ihr viel. Und er sprach zu ihnen: Wohl fein habt ihr Gottes Gebot aufgehoben, auf daß ihr eure Aufsätze haltet. Denn Moses hat gesagt: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren; und wer Vater und Mutter flucht, der soll des Todes sterben. Ihr aber lehret: Wenn einer spricht zum Vater oder Mutter: Corban, das ist, wenn ichs opfere, so ist dir's viel nützer, der thut wohl. Und so laßt ihr hinfort ihn nichts thun seinem Vater oder seiner Mutter; und hebet auf Gottes Wort durch eure Aufsätze, die ihr aufgesetzet habt; und desgleichen thut ihr viel.“ | M. a. Fr. Wir beginnen heut ein neues kirchliches Jahr, und unsere nächsten Sonntage sind dazu bestimmt, uns zu bereiten auf das Fest der Geburt des Erlösers. Demungeachtet habe ich nicht geglaubt, die Reihe unserer Betrachtungen über dies Evangelium unterbrechen zu müssen; denn was könnten wir an diesem Tage wol Besseres thun, als uns das Bild des Erlösers, seine Art und Weise, mit den Menschen zu handeln, seine Lehren und An1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 95: „Heilger Jesu, Heilgungsquelle“ (Melodie von „Wachet auf, ruft uns die Stimme“) 4–5 Vgl. Jes 29,13 8 Vgl. oben S. 530,7 11 Ex 20,12; Dtn 5,16 12 Vgl. Ex 21,17

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weisungen zu vergegenwärtigen, zumal in Vergleich mit dem, was zu seiner Zeit galt unter denen, bei welchen sich allein unter den damaligen Völkern die Erkenntniß des Einen Gottes bewahrt hatte; und davon handelt ja das, was wir so eben vernommen haben. Freilich muß uns gleich einfallen eine andere Stelle der Schrift, die wir gewohnt sind, an diesem Tage unserer Betrachtung zum Grunde zu legen, und uns aufmerksam machen darauf, daß wir uns fragen, ob denn auch die Weissagung in Erfüllung gegangen sei, in welcher es von ihm heißt: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmüthig und demüthig; denn das, was hier von dem Erlöser gesagt wird, gehört so wesentlich zu dem Bilde, welches uns von ihm vorschwebt, daß wir etwas Widersprechendes mit demselben gar nicht aufnehmen können. Aber neben der Sanftmuth des Erlösers haben seine Jünger sehr bald im Anfange seines öffentlichen Lebens auch jenes Andere wahrgenommen, um dessentwillen von ihm gesagt wird, der Eifer um das Haus Gottes verzehrete ihn, und so gehört denn auch das zu seinem vollständigen Bilde, daß wir uns deutlich machen, wie sich mit seiner Sanftmuth der Eifer um das Haus seines Vaters verträgt. Und so ist es auch mit seiner Rede hier. Sie steht in genauer Beziehung zu der Frage, welche ihm die Schriftgelehrten und Pharisäer vorgelegt hatten, warum seine | Jünger nicht die Gebräuche beobachteten, welche in den Aufsätzen der Aeltesten vorgeschrieben waren. Da antwortet er ihnen mit solchem Eifer und mit Worten, die freilich, wenn wir sie an und für sich betrachten, nicht der Ausdruck der Sanftmuth sind. Aber laßt uns nur das ganze Verhältniß betrachten. Zuerst, wenn er sie führt auf eine prophetische Stelle, welche das ganze Volk trifft; denn Jesaias sagt vom ganzen Volke, dieses Volk ehret mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir: so wirft er die Schuld davon doch auf die, welche das Volk leiteten, und sucht dasselbe frei zu sprechen, und es gegen die, welche es auf solchen falschen Weg leiteten, in Schutz zu nehmen; und darin können wir die Sanftmuth des Erlösers nicht verkennen, die sich überall derer annahm, welche mühselig und beladen waren, wie das Volk durch diese äußerlichen Vorschriften und Gebote, zu denen noch so viele hinzugekommen waren, und durch diese schon an und für sich lästigen Gesetze. Indem er das Volk davon befreite: so finden wir stillschweigend darin das wieder, was wir gewiß als einen Ausdruck der Sanftmuth des Erlösers ansehen, wo er den Menschen zuruft, kommt her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Aber um sie fähig zu machen der Erquickung, mußte er erst das Band lösen, durch welches sie an die Vorschriften der alten Lehrer gebunden waren; er mußte sie erst frei machen von dem Zu4–6 Schleiermacher bezieht sich auf die von der Perikopenordnung für den 1. Sonntag im Advent vorgesehene Evangeliumslesung Mt 21,1–9. 8–9 Vgl. Mt 21,5 (darin Sach 9,9) 14 Vgl. Joh 2,17 (darin Ps 69,10) 18–20 Vgl. Mk 7,5 25–26 Vgl. Jes 29,13 35–36 Mt 11,28

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sammenhang mit denen, welche sie auf diesen falschen Weg leiteten, und darum konnte er auch in dieser Sanftmuth nur mit solchem Eifer gegen die reden, von denen er mit ganzem Rechte sagte, daß sie das Wesen der göttlichen Gebote verdunkelten und die Menschen vom wahren Wesen abhielten und an die Zusätze der Menschen verwiesen. | Dies nun erläutert der Erlöser auf zwiefache Weise. Das zweite Mal stellt er eine Lehre von den ihrigen dar als im vollkommenen Widerspruch gegen eines von den größten und wichtigsten Geboten in den Gesetzen des Alten Bundes, aber das erste Mal thut er nichts dergleichen. Er sagt: „ihr habt Gottes Gebote aufgehoben, auf daß ihr eure Aufsätze haltet, indem ihr nämlich menschliche Vorschriften von Waschungen und Reinigungen, von Dingen, die zum täglichen Leben gehören, gebt;“ aber von solchen, die in der That im Widerspruch mit den göttlichen Geboten wären, sagt er nichts. Was sollen wir daraus schließen? Es werden immer doch solche gewesen sein, welche bei sich dachten, man kann ja das Eine thun, ohne das Andere zu lassen; wir bestreben uns, das Wesen der Gebote des Alten Bundes zu erfüllen, und wenn ja zu den Hauptgesetzen jene späteren hinzugefügt sind: warum sollen wir sie doch nicht achten, weil sie ja auch von frommen Knechten des Herrn hergekommen sind? Und gegen diese Einwürfe hat sich der Erlöser nicht verwahrt; darum müssen wir in den Sinn dieser Worte noch tiefer eingehen. Es wird Allen erinnerlich sein, daß jene zehn Gebote, die als der Kern des Alten Bundes angesehen werden, die aber für uns keinen andern Werth haben, als insofern sie ein Zeugniß ablegen, daß die Liebe es ist, die das Gesetz erfüllt, aber daß diese zehn Gebote getheilt wurden in eine der Zahl nach größere Hälfte, welche von dem Verhältnisse zu Gott handelte, und in eine kleinere Hälfte, welche von den Verhältnissen der Menschen unter sich handelt. Der Widerspruch, auf welchen der Erlöser aufmerksam macht, ist aus der zweiten Hälfte genommen, und so mögen wir, weil er diesen besonders aus ihrem ersten Anfange herausnimmt, schließen, daß er bei dem Ersten jene erste Hälfte im Sinne gehabt habe. Was sollen wir nun aber weiter daraus abnehmen? Offenbar nichts anders als dies, daß er habe zu verstehen geben wollen, | solche äußeren Gebote, wenn sie aufgestellt und befolgt werden in einer Beziehung auf Gott, vertragen sich nicht mit der Gesinnung, die Allem, was der Mensch in Beziehung auf Gott denkt und thut, zum Grunde liegen soll. Er will sagen, indem ihr solche Aufsätze haltet und Gott dadurch meint, einen Dienst zu leisten: so hebt ihr das wahre Gebot Gottes, daß ihr keine anderen Götter haben sollt als ihn, und ihn lieben von ganzer Seele und aus allen Kräften, so hebt ihr dies damit auf. Das also hat er sagen wollen, daß, wer etwas dazu beiträgt, solche Vorstellungen in den Gemüthern der Menschen zu befestigen, daß 21 Vgl. Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21 Mk 12,30; Lk 10,27

23–24 Vgl. Röm 13,10

37–38 Vgl. Mt 22,37;

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es Gott um etwas Aeußerliches dieser Art zu thun sei, der lenkt sie dadurch von der wahren Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit ab, und sucht ihren Vorstellungen von Gott solche Richtung und Gestalt zu geben, daß sie nicht mehr den Gott sich darstellen, welcher im Geist und in der Wahrheit angebetet sein will, sondern ein erdichtetes Wesen, wie es andere Menschen zur Verehrung sich aussuchen; daß es nicht mehr ein wahrer Gottesdienst, sondern ein Götzendienst sei, wenn man Gott zu Ehren und zu Willen so etwas festsetzt. Und davon werden wir die Wahrheit uns nicht verleugnen, und indem uns dies einleuchtet, werden wir auch den Eifer des Erlösers gegen diese Menschenlehre begreifen. Betrachten wir es genauer: so werden wir es schwerlich leugnen können, daß es sich wirklich so verhält, daß jede solche Vorschrift und auch jedes solche Gebot das innere Gottesbewußtsein im Menschen nothwendig auf solche Weise verfälscht. Wenn wir uns vorhalten das Ziel, welches dem Erlöser vorschwebt, und welches er so ausdrückt, daß nun die Zeit gekommen sei, da Gott solche Anbeter haben wolle, die ihn anbeten im Geist und in der Wahrheit, wenn wir das als das Augenmerk, als das Ziel, worauf er sah, uns einprägen | und fragen, worauf können solche Vorschriften, daß Gott ein Wohlgefallen an äußern Dingen habe, beruhen; läßt sich ein natürlicher Zusammenhang davon denken mit der Vorstellung von einer geistigen Allmacht, welche Alles in der Welt ordnet, von einem Wesen, das der Urquell des Guten ist, und dessen Wesen in der Liebe besteht, vor dem kein Unterschied ist zwischen dem Innern und Aeußern, sondern welchem überall Alles gegenwärtig ist und nahe vor ihm? Wenn wir dies festhalten: so müssen wir sagen, mit dieser Vorstellung fallen alle jene äußeren Satzungen der Pharisäer, und wenn wir fragen, wie mußten sich ihre Vorstellungen von Gott gestalten, wenn sie bei ihm ein Wohlgefallen an solchen Aeußerlichkeiten voraussetzten: so können wir nicht glauben, daß das ihnen erschienen sei als Ueberlieferung von dem Willen Gottes, sondern das war nichts anders als eine willkürliche Einbildung, daß sein Wohlgefallen auf solche Gegenstände gerichtet sei, und aus der Vorstellung, daß das Wohlgefallen Gottes durch solche Aeußerlichkeiten erworben werden könne und darauf jedes Glück auf Erden beruhe, daraus ging nichts anders hervor, als solcher Aberglaube, welcher völlig gleich war mit dem Götzendienst der Heiden. Darum sagt der Herr, wo solcher Gottesdienst mit äußeren Lippen und Geberden Platz gewonnen hat, da entfernt sich das Herz von Gott, weil Gott selbst in den Herzen der Menschen ein anderes wird, und nicht das, was ihnen eigentlich einwohnen sollte. Darum sagt er auch, es sei nicht möglich, noch etwas Einzelnes aufzubehalten; wo dies sei, müsse alles Andere untergehen, und je mehr dieser 31 daß das] daß daß 2 Vgl. Joh 4,23.24

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äußere Dienst dauert, desto todter müsse das Herz werden in Beziehung auf das wahre Wesen Gottes. Das war der Eifer, welcher zusammenhängt mit der Sanftmuth des Herrn, und deswegen mußte er seinen Eifer zeigen gegen die, welche diese Aufsätze aufrecht hielten, und jedem neuen Geschlecht wieder aufbürdeten. | Darum, m. G., geziemt es uns, diesem Eifer des Erlösers volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber wenn wir nun die Geschichte der christlichen Kirche seit jenen Tagen mit einander erwägen, wenn wir uns die gegenwärtige christliche Welt vor Augen stellen: was können wir anders als mit Schmerz bekennen, daß sich doch wieder eben dies in mancherlei andern Gestalten und auf mancherlei Weise eingeschlichen hat in den Glauben und das Leben der Christen. Wie viele gibt es noch unter denen, welche den Namen des Herrn bekennen, die da glauben, daß auf äußerliche Weise Gott müsse gedient werden, die noch immer an solchen äußerlichen Gebräuchen hängen und dadurch das reine Bewußtsein von Gott, der im Geist und in der Wahrheit angebetet sein will, verdunkeln, und so auch unmöglich das wahre Bild von dem Erlöser im Herzen haben können. Darum mögen wir wol, indem wir ein neues Jahr unsers kirchlichen Lebens beginnen, uns das auf’s Neue einprägen, daß dieser Eifer des Erlösers auch uns geziemt, eben so verbunden mit der herzlichen Liebe zu allen unsern Brüdern und aus ihr hervorgehend, wie es bei ihm war, mit der Liebe, die ihnen das Herz festmachen wollte in dieser Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, in diesem vollen Genuß der Freiheit der Kinder Gottes, welche nichts mehr wissen von einem Gebot Gottes, in der Richtung ihres Herzens auf ihn, in dem vollen Bewußtsein der geistigen Verehrung Gottes. Dieser wollen wir uns denn aufs Neue weihen; wir wollen suchen, den Unterschied recht fest zu halten und in Wort und That deutlich zu machen zwischen jenen äußeren Werken [und] diesem innern Dienst Gottes, welcher so beschaffen ist, daß etwas, das in einem viel wahrern und vollkommenern Sinne ein gutes Werk genannt werden kann, aus nichts Anderm hervorgehen kann als aus der Liebe, und allen Dienst der Gebräuche nur in sofern für etwas achten, als dadurch diese Richtung eines klar sehenden Geistes, eines von der göttlichen Liebe erwärmten Herzens auf den Stifter von beiden, der | Wahrheit und Liebe, genährt wird und erhalten, auf daß nicht aufs Neue die Gewissen verwirrt werden, und das auf’s Neue entstehe, daß menschliche Aufsätze auf solche Weise befolgt werden, daß dadurch das Herz sich von dem wahren inneren Gottesdienst entfernt, und die Liebe zu ihm verdunkelt wird. Nun aber laßt uns auch das Zweite, was der Erlöser als ein einzelnes Beispiel anführt, mit einander betrachten. In jenen Geboten, welche als der Kern der alten Gesetzgebung immer besonders herausgestellt werden, war 15–16 Vgl. Joh 4,23.24

23 Vgl. Röm 8,21

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in dieser zweiten auf die menschlichen Verhältnisse sich beziehenden Hälfte das erste dieses, du sollst Vater und Mutter ehren; und darauf machen auch die Jünger des Herrn aufmerksam, und sagen, es sei das erste Gebot, welches Verheißung habe. Das war aber so. In dem Gesetze, wie es überhaupt gegeben war in Beziehung auf das Land, welches Gott dem Volke geben wollte, da hatte jedes Gebot, welches dazu gehörte, auch seinen Theil an der Verheißung; denn das war die ganz allgemeine Verheißung, die gegeben war, wenn ihr solches Gebot haltet, wird es euch wohl gehen in dem Land, welches Gott euch gibt; wenn ihr es aber nicht haltet, wird Gott seine Hand von euch abwenden. Jenes war der Segen, dieses der Fluch des Gesetzes. So hatte zwar das ganze Gesetz zugleich solche Verheißung, weil es zugleich auf solchem Verhältnisse ruhte, das überhaupt allen Verhältnissen des Volks zum Grunde lag; aber wohl hatten die Apostel recht, daß sie sagten, unter den einzelnen Geboten sei dies das erste, welchem die Verheißung folge; denn den frühern war zwar auch schon etwas beigefügt, aber es war die Drohung; hier aber tritt zuerst im Einzelnen jene gnädige Verheißung Gottes hervor. Darum wählt der Erlöser auch dies zum Beispiel und zeigt, wie jene Menschen im Widerspruch ständen gegen das göttliche | Gebot; denn natürlicher Weise mußte das hier die gewöhnlichste Art sein, wie diese Ehrfurcht sich konnte zu erkennen geben, wenn die Kinder, nachdem sie selbstständig geworden, nun die Pflicht der Dankbarkeit gegen die Eltern übten und ihnen die Last des Alters erleichterten. Nun aber hatten jene Menschensatzungen gelehrt, daß von allen Gütern ohne Ausnahme keine gottgefälligere Anwendung gemacht werden könne, als wenn sie hingegeben würden zum äußern Gottesdienst, zur Verschönerung des Tempels, und also zum Nutzen derer, welche diesen äußern Gottesdienst zu versehen hatten. Und so zeigt nun der Herr, wie diese Satzung gerade in Widerspruch stände mit dem göttlichen Gebot, von welchem alle andere Gebote, die sich auf die Verhältnisse der Menschen beziehen, ausgehen. Darin sehen wir denn zugleich, wie wenig Werth der Erlöser legt auf jenen Tempeldienst, nicht daß er das Gesetz hätte auflösen wollen, aber es schwebte ihm deutlich vor, daß die Zeit bald kommen werde, wo die Anbetung Gottes im Tempel nicht mehr statt finden könne. Wenn wir uns nun setzen in die Stelle eines Volkes, welches ganz und gar an solchem äußern Dienst hängt und in demselben die Hoffnung des göttlichen Wohlgefallens sucht, zugleich so, daß dieser äußere Gottesdienst gebunden war an bestimmte Räume; denn das war damals eingerichtet, als das Volk noch von abgöttischen Völkern umgeben war, und beständig darauf gesehen wurde, 2 Vgl. Ex 20,12; Dtn 5,16 10–11 Vgl. Dtn 11,26–28

2–4 Vgl. Eph 6,2 31 Vgl. Mt 5,17

8–9 Vgl. Dtn 5,16; ferner Ex 20,12 31–33 Vgl. Joh 4,21–23

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daß sie nicht zu den Götzen sich wieder hinwendeten, darum war das geordnet, daß sie nirgends opfern durften als an bestimmten Orten und durch die Hand derer, welche sich diesem Dienst ausschließlich gewidmet hatten – wenn wir nun das denken und das Heiligthum zerstört: so müssen wir sagen, das mußte für sie der Grund sein einer tiefen Trauer und eines bitteren Schmerzes. Sie hatten nun einmal keine andere Weise, wie sie die heilige Ehrfurcht vor Gott ausdrücken konnten, als indem sie ihre Opfer zum Tempel brachten, und diese wurde ihnen durch die Zerstörung | des Tempels geraubt. Da mußte also das Gemüth betrübt sein, und jeder, dessen Frömmigkeit auf solchem Verhältniß ruht, muß natürlicher Weise fragen, ob denn nicht sein Verhältniß zu Gott ein höchst ungewisses sei. Solche äußere Gebote aber unterdrücken diese Frage, und das war nun gerade der Charakter jener Menschensatzungen, daß die Verwendung der Güter für den Dienst des Tempels etwas Heilsameres sein sollte, als die für den natürlichen Ausdruck der kindlichen Gefühle, welche unter allen Menschen der natürliche Abdruck sind von dem Verhältnisse, in welchem wir alle als Kinder Gottes zum himmlischen Vater stehen. Das faßt der Erlöser zusammen und sagt, es ist dasselbe Gefühl, wodurch wir Vater und Mutter ehren und wodurch wir den Vater im Himmel ehren, und dies opfert ihr auf, um nicht solche äußerliche Vorschriften zu verletzen. So also müssen wir den Eifer des Herrn begreifen, als innerlich ruhend und hervorgehend aus seinem sanftmüthigen Herzen, welches nichts anderes suchte, als den Menschen zu dienen, damit sie in das rechte Verhältniß zu Gott gerathen möchten, sie in der wahren Anbetung Gottes zu unterweisen, und mit seiner Kraft dazu zu unterstützen. Und so, so sollen wir denn auch sorgen, daß unsere Frömmigkeit aus Einem Stück bestehe, nicht ihren Werth setze in solche Aeußerlichkeiten, und keine andere Art suche, den Menschen wahrnehmbar zu werden, als eben durch das, was aus der Richtung des inneren Menschen auf die Wahrheit, und auf das Erfülltsein derselben von der Liebe, die der Liebe des Erlösers gleich ist, hervorgeht, und keine menschliche Lehre und Wort soll einen Werth haben, als insofern sie damit zusammenstimmt. Wenn wir betrachten, wie so Vieles auch in dieser Beziehung unter den Christen ist, wovon man nicht anders sagen kann, als es ist gemeint als Ausdruck der Frömmigkeit, als Streben, die Menschen zusammenzuhalten in der Wahrheit, aber in dem, was ein Buchstabe ist, der Buchstabe aber ist es, der | da tödtet und der Geist nur, der lebendig macht: so erfahren wir so oft, wie dadurch die Liebe beschränkt wird und auf einen engen Raum eingeschränkt; und so ist doch ein Widerspruch zwischen dieser Art, unsere Frömmigkeit zu bewahren, und zwischen dem Sinn des Erlösers, der uns allen Menschen befreunden will, und ihnen zeigen nicht dieses oder jenes Aeußerliche, das sie thun sollen, sondern sie wahrnehmen lassen das Inner35–36 Vgl. 2Kor 3,6

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liche, aus welchem von selbst alle Gebote hervorgehen, und um dessen Willen die Menschen nicht anders können als Gott preisen. Und so möge sich denn immer in uns der Eifer um die Wahrheit und die Sanftmuth des Herzens eben so vereinigen wie in ihm, damit immer mehr sein Bild in uns gestaltet werde und fest in uns stehe, um ganz in seiner Weise und seinem Geist seinem und unserm himmlischen Vater zu dienen. Amen. Lied 100.

7 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 100: „König, dem kein König gleichet“ (Melodie von „Schmücke dich, o liebe Seele“)

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Am 9. Dezember 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 4,15 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 137–149, Nr. VIII SW II/3, 1835, S. 427–435; 21843, S. 441–449. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 3, 1874, S. 469–475 Keine Keine

Am 2. Sonntage des Advents 1832.

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Lied 112. 111.

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Text. Ebräer IV, 15. „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unserer Schwachheit; sondern der versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde.“ M. chr. Z. Diese ersten Sonntage unseres kirchlichen Jahres, wie sie besonders bestimmt sind zu der Vorbereitung auf die würdige Feier der Erscheinung unseres Erlösers in dieser irdischen Welt, eignen sich eben deshalb auch ganz besonders dazu, daß wir gemeinschaftlich allgemeine Betrachtungen anstellen über das Verhältnis, welches obwaltet zwischen ihm und uns, und daß wir uns dieses in seinen großen Zügen lebhaft vor Augen stellen. Dazu gehört denn ganz vorzüglich und wesentlich dieses, daß er auf der einen | Seite sein mußte Einer von uns als der Anfänger und Vollender unseres Glaubens, als der, der uns würdigte seine Brüder zu nennen; auf der anderen Seite aber gesondert von allen Menschenkindern und weit erhaben über Alle, als derjenige, in welchem die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater erschien, und ohne den wir nicht könnten zum Vater kommen. 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 112: „Also hat Gott die Welt geliebt“ (Melodie von „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich“); Nr. 111: „Wie sollen wir dir, Vater, danken“ (Melodie von „Die Tugend wird durchs Kreuz geübet“) 15 Vgl. Hebr 12,2 18– 19 Vgl. Joh 1,14

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Betrachten wir unsern christlichen Wandel im Glauben an ihn, und die Art, wie sich unsere lebendige Gemeinschaft mit ihm mehr und mehr entwikkelt und stärkt: so finden wir gewiß Alle und wissen es, daß unser Glaube sich nährt aus diesen beiden Wurzeln. Aber wenn wir die Geschichte der christlichen Kirche betrachten: so erblikken wir auch unter den Bekennern desselben Herrn, die es nicht nur dem Namen nach sind – denn wie kämen sie sonst zu dem gleichen Glauben, zu den gleichen Hoffnungen, zu der gleichen Kraft der Liebe, durch die der Glaube thätig ist, – aber unter diesen finden wir von Anfang an schon, und von einer Zeit zu der andern sich unter verschiedenen Gestalten erneuernd, einen lebhaften Streit über eben diese beiden Eigenschaften des Erlösers. Und das ist leicht genug zu erklären. Denn wenn wir uns nun von dem Leben selbst in die Betrachtung zurükkziehen, und eines von jenen beiden abgesondert von dem andern uns vergegenwärtigen und darüber nachdenken: so wird es fast einem jeden scheinen, als ob, indem er das andere hinzudenken will, er an dem ersten verlieren müsse. Darum halten sich nun unter den Christen so viele ausschließlich an der reinen Menschheit des Erlösers fest, und andere wieder ausschließlich an seiner göttlichen Würde, und beide Theile sind bereit, das andere um des ihrigen willen auch ganz aufzugeben, | wenn es nöthig wäre. Alle Worte und Aussprüche der heiligen Bücher unseres neuen Bundes nehmen keinen Theil an diesem Streit und sind nicht Ursache daran; sie halten sich alle näher an eben jene Unmittelbarkeit des Lebens in Christo, von welchem sie das reinste, verständlichste und vollgültigste Zeugniß ablegen wollen. So ist es auch in unserm Text. Lesen wir das beides, Er konnte Mitleiden haben mit unserer Schwachheit, er ist versucht worden wie wir ohne Sünde: so müssen wir uns eben sowol nach dem einen wie nach dem anderen von jenen beiden hinwenden; so müssen wir ihn als einen unseres Gleichen und zugleich unendlich über uns erhaben erkennen. Und so laßt uns denn diese Worte in unserer Betrachtung dazu anwenden, daß wir uns überzeugen, wie in beidem, wovon hier die Rede ist, beides die Gleichheit des Erlösers mit uns und die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater unzertrennlich mit einander verbunden, ja eins ist und dasselbe. I. Lasset uns zuerst das ins Auge fassen, was unser Text ausdrükkt mit den Worten, Er ist versucht worden allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde. 34–35 Vgl. Joh 1,14

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Versuchung und Sünde, wir haben alle beständig die Erfahrung davon, wie sich beides zu einander verhält. Ueberall geht die Versuchung vor der Sünde her, eine Sünde, der nicht einmal eine Versuchung voranginge, deutete freilich von der einen Seite angesehen auf eine um so größere Gewalt des bösen und verderbten in dem Menschen, aber auf der anderen Seite würde uns doch eine | solche That nicht als ein eigener neuer Augenblikk, als eine frische Aeußerung des Lebens, sondern nur als eine Nachwirkung von dem, was schon lange bestanden hat, erscheinen. Aber wie jedesmal der Sünde die Versuchung vorangegangen ist: so wissen wir auch, daß nur allzuoft auf die Versuchung auch wirklich die Sünde folgt. Aber wo beginnt diese leztere? Wenn die Lust, wie die Schrift sagt, empfangen hat, und die Begierde ist aufgeregt, sie wird aber, ehe sie ihren Gegenstand ergreifen kann, zurükkgedrängt durch die Macht des Gewissens; wenn auf die Seele solchergestalt eingewirkt worden ist von außen, daß die Leidenschaft in derselben aufgeregt ist und gegohren hat, aber es giebt eine Stärke des Willens, welche diese Wogen des Gemüthes anhalten kann und sagen, Bis hierher und nicht weiter! und so wird sie gebändigt, ehe sie noch in der Gestalt, in den Bewegungen, in den Worten herausgetreten ist: o, so ist das ein schöner Sieg; aber er ist nicht ohne Sünde. Jene Bewegungen selbst, sie waren schon Sünde, und auf dem innersten Grund der Seele bleibt ein dunkler Flekk zurükk, den nicht so leicht etwas wieder abwaschen kann. Ja, wenn vor der Versuchung nur überhaupt schon irgend Sünde in uns gewesen ist: so wissen wir auch, eine jede übt eine solche Nachwirkung aus, daß, wenn ähnliche Fälle wiederkehren auch nach einem solchen mühsam errungenen Siege, sie immer noch von der früheren Gewalt der Begierde und der Leidenschaft eine größere Kraft empfangen. Ja, wenn wir noch weiter zurükkgehen: so werden wir sagen müssen, es giebt in dem menschlichen Gemüth leider Vorbereitungen auf die Sünde, welche selbst noch gar nicht als Sünde erscheinen, aber schon wirksam sind, ehe | uns auf diesem oder jenem Gebiet unsres Lebens eine Versuchung entstehen kann. Haben sich schon Gewöhnungen in Einem gebildet, oder hat er sich von manchem entfernt: wie nun der Augenblikk eintritt, so hat das eine oder andere eine Macht in der Seele, die ihn dann unwiderstehlich fast der Sünde anheimfallen macht. Was gehört also dazu, daß der Erlöser versucht worden sein soll in allem, jedoch ohne Sünde? Also in dem innersten seines Gemüthes nirgends eine solche Bewegung, welche der in dem Augenblikke darauf wieder erwachende Geist hätte dämpfen müssen oder mißbilligen; also von der ersten Kindheit an in seinem Leben keine solche Gewöh12 Vgl. Jak 1,15

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nung an das, was den Menschen späterhin zur Sünde reizt und lokkt, keine solche Entwöhnung und Entfremdung von dem, was ihm beschwerlich ist und seine Trägheit gefangen nimmt. So mußte er sein, um versucht werden zu können in allem, aber ohne Sünde. Was aber, m. a. Fr., was bleibt wol übrig, was wir dann noch in seinem Leben und in den Bewegungen seiner Seele Versuchung nennen könnten? Seine menschliche Seele, das zeigt sich in dem Ganzen seiner Erscheinung, wie sie uns in allen einzelnen Zügen seines Lebens zu Tage liegt, das ist auch schon darin ausgesprochen, wenn von ihm gesagt wird, er sei Fleisches und Blutes theilhaftig geworden wie alle Menschen, er sei uns gleich geworden in allem ausgenommen die Sünde – seine menschliche Seele, sage ich, hatte dieselbe Beweglichkeit in allen Stükken, welche die unsrige hat; der Gegensaz von Lust und Unlust, von Freude und Schmerz, wie in der unsrigen, war auch in seiner Seele, und in solchen Gegensäzen seine Kraft bewäh|ren müssen, das heißt versucht werden. Alles also, was uns innerlich bewegt und so, daß uns hernach daraus die Sünde entsteht, das bewegte ihn auch, aber ohne daß die Sünde in ihm entstand. Er konnte sagen, Meine Seele ist betrübt bis zum Tode1: aber in dieser Betrübniß war keine Spur von einem Willen oder auch nur einem Wunsch, nur einen Schritt zurükkthun zu dürfen auf dem Wege, der ihm vorgeschrieben war. Er konnte sagen, Ich danke dir, Vater, daß du es verborgen hast vor den Weisen und hast es den Unmündigen offenbaret2; und in diesem Ausspruche finden wir den Ausdrukk einer reinen Freude daran, daß das Evangelium durch ihn den Armen verkündiget wurde: aber in dieser Freude keine Spur von Abneigung, Widerwillen, Feindschaft gegen diejenigen, die da aufgebläht waren in ihrer Weisheit und ihn von sich stießen, keine Abneigung, auch ihnen auf ihre Fragen zu antworten, keinen Wunsch, daß es auch so bleiben möchte, und sie immer möchten ausgeschlossen sein von dem Genuß seiner Güter. Er wußte, daß er gekommen sei ein Feuer zu entzünden, und wünschte freilich, daß es bald brennen möge: aber der Wunsch wurde zu keiner Ungeduld über den langsamen Weg, den der Vater für seine Sache bestimmt hatte. Und so war er auch äußerlich allen Wechseln des Lebens ausgesezt, die uns bewegen, und wenn das, dann auch uns versuchen. So weit also, als sie eine solche Ungleichheit in das irdische Leben bringen, die uns Andere vom rechten Wege verlokkt, versuchten sie ihn auch: aber Sünde entstand nicht daraus. Er ging durch 1 2

Matth. 26, 38. Matth. 11, 25.

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31–32 Vgl. Lk 12,49

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gute und böse Gerüchte, bewundert als ein Prophet, angestaunt als Wunderthäter, geringgeschäzt als | einer, der die Schrift nicht wisse, beargwohnt als ein Verführer des Volks: aber jenes erregte ihn nicht zu Eitelkeit und Uebermuth, und dieses vermochte nicht ihn einzuschüchtern. Er wußte bald nicht, wo er sein Haupt hinlegte, weil er vermieden wurde und hinweggewünscht: aber niemals konnte ein solcher Zustand seinen Muth lähmen oder seine Freudigkeit stören. Er fand sich oft gepflegt in seinem irdischen Leben und getragen von den Händen zarter Liebe und Verehrung: aber ohne die mindeste Spur von Verweichlichung seines Gemüthes war er immer da, wo er war, nicht weil es ihm wohlging, sondern weil sein Beruf es so mit sich brachte. Er hatte Mangel hier und Ueberfluß dort, er fühlte diese Ungleichheit des irdischen Lebens wie wir: aber auf die sich gleichbleibende Aeußerung seiner geistigen Kraft, auf den Blikk, mit dem er immer schaute auf die Werke, die ihm sein Vater im Himmel zeigte, hatte diese Ungleichheit keinen Einfluß; in keinem Augenblikk war er verdrossen oder mißmüthig, seine Freudigkeit, sein Gehorsam, seine Liebe, Alles blieb sich immer gleich. Das, m. th. Fr., das ist das Versuchtsein des Erlösers ohne Sünde. Wenn wir es begreifen wollen, so können wir es nur, indem wir das Menschenkind zugleich betrachten als das Fleisch gewordene Wort, in welchem die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater erschien, als den, der von sich sagen konnte, daß er Eins sei mit dem Vater, als den, der das große Wort von sich sagen durfte, daß er nichts aus ihm selbst thue, denn was der Mensch aus ihm selbst heraus thut, das trägt auch die Spuren der menschlichen Schwäche nicht nur, sondern der menschlichen Gebrechlichkeit an sich; sondern alles, was er that, das that er aus dem reinen Gehorsam gegen das ihm | offenbare und in ihm lebende Gebot, gegen den Willen seines Vaters, den er immer vollbrachte. II. Und eben dieses führt uns nun zu dem zweiten Theile unserer Betrachtung, wie nämlich der Verfasser unseres Briefes in den Worten unseres Textes sagt, Wir konnten nicht einen solchen Hohenpriester haben, der nicht hätte Mitleiden haben können mit unserer Schwachheit. Das war eben das wahre Ergebniß von seinem Versuchtwordensein in allem, doch ohne die Sünde, daß er nun auch konnte Mitleiden haben mit unserer Schwachheit. Wenn aber unser Text das so aus14–15 Vgl. Joh 5,19f Joh 5,19

21–23 Vgl. Joh 1,14

23–24 Vgl. Joh 10,30

24–25 Vgl.

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drükkt, wir konnten nicht einen solchen Hohenpriester haben, der nicht hätte Mitleiden haben können mit unserer Schwachheit: so sehen wir daraus deutlich, er hat dabei eines anderen Hohenpriesters gedacht, von welchem eben dieses allerdings gesagt werden konnte. Und so stand es eben mit dem aus den Menschen genommenen Hohenpriester des jüdischen Volks, mit dem der Verfasser den Erlöser in diesen Worten und an vielen Stellen des Briefes vergleicht. Dieser war schon durch seine Geburt zu dem großen Beruf bestimmt, der Vermittler zu sein zwischen Gott und dem Volke, und deshalb von Kindheit an anders betrachtet und geleitet als Andere. Durch ihn sollten alle Wünsche, alle Opfer und Gaben des Volkes dem Höchsten dargebracht werden; denn die anderen Priester und diejenigen, welche den Dienst versahen in den geringeren Geschäften des Tempels, waren nur seine Werkzeuge und gehorchten seiner Anordnung. Persönlich aber war er dazu berufen, das allgemeine Opfer der Versöhnung | an dem einen großen Tage des Jahrs darzubringen für alle noch unerkannten und noch ungebüßten Fehltritte des Volks; aber zugleich war er auch so sehr ausgesondert und getrennt von dem übrigen menschlichen Leben, daß er keine unmittelbare Anschauung hatte von denjenigen Zuständen der Menschen, welche es am meisten nothwendig machen, Gebet und Fürbitte um Vergebung vor Gott darzubringen. Darum galt nun, weil das ihm selbst so fremd und fern stand, auch von ihm das, was die Schrift von dem Volke selbst sagt durch den Mund der Propheten, Dieses Volk naht mir mit seinen Lippen, aber sein Herz ist ferne von mir. Er mußte freilich zuerst für sich und seine eignen Sünden Gott Opfer darbringen; aber auch so, und ohnerachtet hiedurch das Bewußtsein in ihm genährt wurde, daß auch er ein sündiger Mensch sei, war er doch so gut als gar nicht mitverwikkelt in die Lagen noch mitergriffen von allen den Bewegungen des Gemüthes, die aus der Noth der Erde, von allen den sündlichen Regungen, die aus den Verhältnissen des Wetteifers und des Streites unter den Menschen hervorgehen. Denn über das alles war er weit erhaben, und stand auf einer Höhe, an die kein anderer reichte. Darum nun waren auch seine Gebete nur Worte, und seine Opfer, die er darbrachte, nur Gaben, von denen der Verfasser unseres Briefes sagt, Sie vermochten nichts anderes als nur ein Gedächtniß der Sünde zu erhalten1. Einen solchen Hohenpriester sollten und konnten wir nicht haben; sonst 1

Hebr. 10, 3.

6–7 Vgl. Hebr 2,17; 6,20; 7,26; 8,1; 9,11; 10,21 u. ö. 14–17 Vgl. die rituellen Bestimmungen zum Versöhnungstag (Jom Kippur) in Lev 16; 23,26–32; Num 29,1–11 24–25 Jes 29,13 (aufgenommen in Mt 15,8 und Mk 7,6)

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wären auch wir nicht weiter gediehen, und immer wäre das menschliche Geschlecht auf demselben Flekk | geblieben, nichts vor Gott bringen zu können als das immer wieder sich erneuernde Gedächtniß der immer wieder begangenen Sünden, und immer hätte die Sünde dieselbe Gewalt ausgeübt über die menschlichen Gemüther. Damit nun der Erlöser ein solches vollkommenes Mitgefühl haben konnte mit unserer Schwachheit, weit unterschieden von jenem Hohenpriester seines Volkes, dazu nahm er, wiewol er mit diesen Gaben und Kräften ausgestattet, auch äußerlich gleichsam Gott ähnlich hätte unter den Menschen wandeln können, aber darum mußte er statt dessen Knechtsgestalt annehmen, um gleichsam in das volle Gewühl der Menschen mitten hinein geworfen zu werden, und die mancherlei Art, wie sie sich verirrten, alle die Wege, welche die verlornen Schaafe seines Volkes einschlugen, mit seinen eigenen Augen zu sehen. Und weil er in sich selbst zwar das Bewußtsein hatte von der Kraft, die ihn immer zu seinem Vater und zu dem Anschauen von dessen Werken und dessen Willen emporhob, und ihn eben dadurch auch über die Sünde erhob, zugleich aber dieselbe Beweglichkeit des menschlichen Gemüthes in sich trug: darum konnte er eine klare Einsicht davon haben, woran es uns fehle und ein lebendiges Mitgefühl mit unserer Schwachheit. Schwachheit ist Mangel; und wie er in sich den Reichthum und die Fülle der göttlichen Macht inne wurde in seinem ganzen Dasein, so konnte er in den Verirrungen der Menschen, wie ihnen jede auch die kleinste Versuchung zur Sünde wurde, darin konnte er das erkennen, was ihnen fehlte, und was er allein ihnen zu geben im Stande war. Das war das Mitgefühl, welches er haben konnte mit unserer Schwachheit. Er konnte es fühlen aus der Gleich|heit seiner menschlichen Seele mit der unsrigen, aus der Gleichheit der Bewegungen, die in ihm waren wie in uns, aber in uns einen anderen Ausschlag nehmen als in ihm, weil in ihm die Fülle der Gottheit wohnte, die uns fehlt, indem die Menschen alle abgewichen waren von Gott und des Ruhmes ermangelten, den sie vor Gott haben sollten. Und wie eben deswegen, weil jener Hohepriester des jüdischen Volks nicht solches Mitgefühl haben konnte mit der Schwachheit seiner Brüder, auch seine Gebete nur Worte waren und Worte blieben: so war im Gegentheil dieses Mitleiden des Erlösers die Fürbitte, mit der er uns als unser Hoherpriester vertrat, nicht Worte und Empfindung, sondern That. So wie das Opfer, welches jener darbrachte, nichts anderes konnte als ein Gedächtniß der Sünde stiften: so war dessen, der da Mitleid haben 8–11 Vgl. als Hintergrund Phil 2,6f 31 Vgl. Kol 2,9 33 Vgl. Röm 3,23 39–40 Vgl. Hebr 10,3

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konnte mit unserer Schwachheit und zugleich sich in dem menschlichen Leben bewährte als in allem versucht aber ohne die Sünde, unseres Hohenpriesters Opfer sein ganzes Leben, welches er darbrachte für unsere Sünde, nicht um ein Gedächtniß derselben zu stiften, sondern auf daß seine Kraft in uns überginge durch den Geist, welchen er den Seinigen sandte, und wir nun in der Gemeinschaft mit ihm von seinem Leben durchdrungen würden und in demselben geheiligt wären vor Gott, und als eins mit ihm auch so wie er selbst, freien Zugang hätten zu dem Vater. Einen solchen Hohenpriester, m. a. Z., mußten wir haben! Aber wohlan, wie er unser Hoherpriester ist, der einzige, welcher den Namen verdient, der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen und der, dessen hohepriesterliche Verrichtung ewiglich gilt: so sind auch wir dazu be|rufen, ein priesterliches Volk zu sein. Er war in allem versucht wie wir, aber ohne die Sünde; wir werden versucht, und wir fallen. Aber halten wir fest an ihm, so stehen wir auch immer wieder auf; und je mehr sein Leben in uns übergeht, um desto mehr auch wächst die Kraft, die er uns mittheilt, und die uns allein von ihm kommen konnte; um desto leichter stehen wir wieder auf, um desto seltener allmählig fallen wir, und um desto größere Gewalt erlangen wir auf diesem Wege über alles, was uns versucht, und uns gewöhnlich zur Sünde führt. Und also erbauen wir uns in seiner Kraft gemeinschaftlich zu einer solchen Stadt, auf dem Berge gebaut, auf dem wahren, himmlischen Zion, welche sich nicht verbergen kann. Da sollen, ohnerachtet aller menschlichen Schwäche und Gebrechlichkeit, die guten Werke, die gottgefälligen Thaten entstehen, welche die Gemüther der Menschen lokken, den Vater im Himmel zu preisen, daß er den Menschen solche Macht gegeben hat, die da ruhet in seinem Sohne. – Wir sind selbst der Schwachheit unterworfen, mit der er nur Mitleiden haben konnte! Aber wenn wir fest an ihm halten: so giebt es doch auch bald etwas, was hinter uns liegt, und was wir vergessen dürfen, dafern wir nur niemals aufhören, uns zu strekken nach dem, was vor uns liegt. Erstarken wir in dem Glauben an ihn; zeigt sich seine Kraft mächtig in den Schwachen; siegt immer mehr sein Geist in uns über die Gewalt des Fleisches: dann verwandelt sich auch in uns das Bewußtsein der menschlichen Schwachheit und das eigene Leiden an derselben immer mehr in das priesterliche Mitgefühl mit denjenigen, die noch von stärkeren irdischen Banden gefesselt sind. In seinem Dienst reichen wir ebenso | den Schwachen die Hand, wie er die seinige dem ganzen menschlichen Geschlechte gereicht hat; 8–9 Vgl. Eph 2,18; ferner Röm 5,2 13–14 Vgl. wohl 1Petr 2,9 Mt 5,14 30–33 Vgl. Phil 3,13 34 Vgl. 2Kor 12,9

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und als seine Diener in dem geistigen Tempel Gottes laden wir die Menschen ein mit der Stimme seiner Liebe, daß sie zu ihm kommen sollen, die Mühseligen und Beladenen, um Ruhe und Erquikkung zu finden für ihre Seelen. Dann erst wird es uns immer anschaulicher, wie recht der Apostel hat zu sagen, Alles ist euer! Auch das wird immer mehr unser, wodurch Er sich über Alle erhebt, auch in uns wird die selige Gemeinschaft mit Gott, unserem himmlischen Vater, immer genauer, auch in uns fühlen wir dann nur sein Leben und sprechen wahrhaft, das was wir leben, das leben wir in seinem Geist und nicht mehr im Fleisch, und dann ist sein Opfer, dann ist sein hohepriesterliches Gebet auch an uns erfüllt, und das Wort erhört, daß wir Eins sind mit ihm, wie er es ist mit dem Vater. Amen. Lied 101, 6–8.

2–4 Vgl. Mt 11,28 5 1Kor 3,22 9–10 Vgl. Gal 2,20 in Verbindung mit Röm 8,12f 10–12 Vgl. Joh 17,11.22f 13 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 101: „Komm, beuge dich“ (Melodie von „Preis, Lob, Ehr, Ruhm“)

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3. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 7,14–23 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 372–382, Nr. XXX; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 475. Tex t. Marcus VII, 14–23. „Und er rief zu sich das ganze Volk, und sprach zu ihnen: Höret mir alle zu, und vernehmet es. Es ist nichts außer dem Menschen, das ihn könnte gemein machen, so es in ihn gehet; sondern das von ihm ausgehet, das ist es, das den Menschen gemein machet. Hat jemand Ohren zu hören, der höre. Und da er von dem Volk ins Haus kam, fragten ihn seine Jünger um dieses Gleichniß. Und er sprach zu ihnen: Seid ihr denn auch so unverständig? Vernehmet ihr noch nicht, daß alles, was außen ist, und in den Menschen gehet, das kann ihn nicht gemein machen? denn es gehet nicht in sein Herz, sondern in den Bauch, und gehet aus durch den natürlichen Gang, der alle Speise ausfeget. Und er sprach: Was aus dem Menschen gehet, das macht die Menschen gemein. Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen gehen heraus böse Gedanken, Ehebruch, Hurerei, Mord, Dieberei, Geiz, Schalkheit, List, Unzucht, Schalksauge, Gotteslästerung, Hoffahrt, Unvernunft. Alle diese böse Stücke gehen von innen heraus, und machen den Menschen gemein.“ |

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M. a. Z. Wenn der Erlöser so nach jenem Gespräch mit den Pharisäern, welches wir neulich mit einander in Erwägung gezogen haben, ausdrücklich das ganze Volk zu sich ruft, um ihnen in der Kürze in Beziehung auf jenes seine Lehre ans Herz zu legen: so muß das, was er nun ihnen sagt, allerdings etwas sehr Großes und Wichtiges und gleichsam der Kern alles 1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 475: „Herr Jesu, Gnadensonne“ (in eigener Melodie) 19–20 Vgl. die Predigt am 2. Dezember 1832 über Mk 7,6–13; vgl. auch bereits die Predigt am 18. November 1832 über Mk 7,1–5

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dessen gewesen sein, was er den Menschen zu sagen hatte. Wenn er sich aber hernach verwunderte, daß auch seine Jünger das nicht gleich verstanden, sondern erst einer Erläuterung bedurften: so erkennen wir daraus eben so deutlich, wie das keinesweges etwas Leichtes gewesen sei, sondern daß gerade Er dazu kommen mußte, um diese Lehre den Menschen zu geben. Und das macht auch diesen Theil unsers Evangeliums besonders dazu geeignet, in dieser Zeit, wo wir über das ganze Verhältniß des Erlösers zu uns, den Werth seiner Erscheinung, über das Wesen dessen, was er den Menschen bringen sollte, nachzudenken angewiesen sind, darauf unsere gemeinschaftliche Aufmerksamkeit zu richten. Darum laßt uns in Erinnerung dessen, was wir in der letzten Frühbetrachtung besprochen, die allgemeine Anwendung erwägen, die der Erlöser davon in unseren heutigen Textesworten macht. Die Pharisäer hatten den Erlöser gefragt, warum seine Jünger nicht nach den Aufsätzen der Aeltesten wandelten; und das bezog sich auf die äußern Reinigungen, auf das, was dem Menschen von außen kommt. Es war daher nur ein weiterer Fortschritt der Gedanken des Erlösers in dieser Beziehung, daß er sagt, nicht nur das, was dem Menschen so äußerlich anhaftet, kann ihn nicht gemein machen, sondern auch das Aeußere, wenn es in ihn eingeht, kann es nicht, d. h. es kann ihn nicht geringer stellen; aber freilich nur in Beziehung auf Gott und das Verhältniß zu ihm; nicht nur jenes, sondern | auch das nicht, was in den Menschen eingeht, kann den Menschen gemein machen. Darin eröffnet er denn freilich auf sehr bestimmte Weise seine Meinung über das Gesetz Mosis, welches die Veranlassung dazu gegeben hatte, indem wirklich einzelne Gebote nicht nur Vorschriften enthielten in Beziehung auf äußerliche Reinigungen, sondern auch eine Menge von Vorschriften in Beziehung auf das, was der Mensch für Nahrung nehmen solle oder nicht, indem Einiges dem Menschen dargestellt wurde als ihn verunreinigend und gemein machend. Wenn wir erwägen, wie der Erlöser im Anfang seiner Laufbahn sagt, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen und zu ergänzen: so scheint dies, daß er hier das Gesetz für unwesentlich erklärt, auf ganz klare Weise mit jenem in Widerspruch zu stehen; aber darin erkennen wir das eigenthümliche Verhältniß, in welchem der Stifter des Neuen Bundes zu dem Alten Bunde steht; denn er kann sich nicht wirklich widersprochen haben, das Eine muß daher mit dem Andern zusammengehen. Wie mag das nun aber sein? Wenn wir die Beispiele des Herrn erwägen, welche er in der Bergpredigt auf einander folgen läßt: so sind sie alle von der Art, daß sie von der äußern Handlung, welche verboten wird, auf die Gesinnung zurückführen und sie dadurch ergänzen; und so war durch jene Ergänzung von 11 Vgl. die Predigt am 2. Dezember 1832 über Mk 7,6–13 14–15 Vgl. Mk 7,5 15–16 Vgl. Mk 7,2–4 30–31 Vgl. Mt 5,17 37–40 Vgl. Mt 5,21–48

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selbst und zwar in höherm Sinne für die Beobachtung des Gesetzes gesorgt. Wenn hier der Erlöser sagt, es ist nichts außer dem Menschen, welches ihn könne gemein machen: so hebt er freilich den Werth der äußeren Befolgung der Gesetze auf und will dafür sorgen, daß dies beides nicht verwechselt werde, solche äußerliche Handlungen und das Urtheil der Menschen über das, was uns Gott angenehm oder unangenehm machen könne. Diese Verwechselung wollte er abwenden, aber keinesweges das Gesetz auflösen; wie denn | alles dafür spricht, daß er selbst das Gesetz beobachtet hat, weil er unter das Gesetz gethan war, aber von dem Werth und dem Zusammenhang desselben mit dem göttlichen Leben sich befreite. Und wenn nun jenes Gesetz zugleich dasjenige war, wodurch das äußere Leben der Menschen in dem jüdischen Volke geordnet werden sollte, und es sich also bezog auf die Sitten und Gewöhnungen, auf die äußeren Verhältnisse, welche sich unter ihnen gestalteten, und auf die dafür gegebnen Gesetze, so wie auf das Land, welches sie nach diesen Gesetzen bewohnen sollten: so lehrt uns der Erlöser, wie der Christ gegen Gesetze von derselben Art steht; nämlich eben so, daß er sich niemals das zuschreiben soll, das Gesetz aufzulösen, aber daß er sich sein Urtheil frei halten soll über den eigentlichen Werth des Gesetzes, und daß er dies Urtheil zu äußern, so weit es in seinen Kräften steht, verpflichtet ist, damit es auch so von Andern möge aufgenommen werden, aber so, daß dadurch der Gehorsam gegen die Gesetze nicht leide. Und dieses ist allerdings ein wichtiges Stück im Geiste der christlichen Lehre. Denn wenn wir auf der einen Seite bestimmt dazu berufen sind, zu scheiden unser Verhältniß zu Gott, unser Zusammensein zu einer Gemeinde, die Christo angehört, und unser Zusammensein im bürgerlichen Leben und Gesetz: so soll die Erlösung durch Christum und das göttliche Leben, zu welchem wir durch die Gemeinschaft mit Christo angeleitet werden, dahin führen, daß sich der Geist des christlichen Lebens auch im bürgerlichen Leben abspiegele und darin erkannt werde, und darum sollen christliche Völker in der Verwaltung der Gesetze und der öffentlichen Ordnung sich immer mehr von andern Völkern unterscheiden; darum soll die Kraft des christlichen Glaubens eine erhebende, verbessernde, reinigende Wirkung ausüben auf das irdische Leben. Das kann nur geschehen, wenn Alles, was jeder in seinem Geist erkannt hat, dazu mitgetheilt wird, daß es ein gemeinsames Gut werde, daß das Gute im | Leben sich Bahn mache, aber alles unter der Bedingung, die der Erlöser sich selbst stellte, daß jeder das Gesetz befolgt, welches die Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, vorgeschrieben. Aber laßt uns noch eine andere Seite in dem Ausspruch des Erlösers betrachten. Wenn er sagt, „nichts, was in den Menschen von außen eingeht, vermag ihn zu verunreinigen“: so meint er freilich zunächst das, was als 8–9 Vgl. Gal 4,4

37 Vgl. Röm 13,1

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Speise und Trank in den Menschen eingeht zum Behuf seines leiblichen Lebens; aber wenn man hernach auf den Gegensatz sieht, was aus dem Menschen herausgeht als Zeichen des geistigen Lebens: so hat er nicht nur dies gemeint, sondern, indem er auch hier schon sagt, was in den Menschen eingeht, das kann ihn deswegen nicht verunreinigen, weil es nicht in sein Herz eingeht, sondern im Gebiet des leiblichen Lebens bleibt: so müssen wir schließen, daß er dies zugleich habe angewendet wissen wollen auf das Geistige, ungeachtet in seinem Gespräch mit den Jüngern dies nicht unmittelbar, aber doch als eine mittelbare Folge von dem, was er dort gesagt, zu erkennen ist, daß auch Geistiges, was von außen in den Menschen eingeht, ihn nicht könne gemein machen, sofern es nicht in sein Herz eingeht und er es selbst zu dem Seinigen macht. Und dies, m. Th., ist ein sehr wichtiges Stück in dem christlichen Leben. Wenn der Erlöser, wie er in die Welt gekommen war, sich das hätte zum Gesetz machen wollen, daß das, was Sündliches und Verderbliches in ihn eingehe, so weit er es mit seinen Augen sehe, mit seinen Ohren höre, insofern er sich in der Vorstellung mit ihm beschäftigte, daß dies ihn verunreinigte: so hätte es nicht möglich sein können, daß er der Erlöser der Welt gewesen wäre, weil er sich von Allem hätte abwenden müssen, weil Alles ihn hätte verunreinigen müssen. Und so wäre es auch mit seinen Jüngern gewesen. Wie hätten sie jemals den Beruf erfüllen können, das Evangelium zu | verkünden und unter allen Völkern Jünger ihm zu machen, wenn sie sich von dem sündlichen Leben der Menschen hätten ausschließen wollen. Darum sagt auch Paulus, daß das nicht seine Meinung sein könne, daß man auch die meiden solle, welche außerhalb der Gemeine des Herrn gegen den Geist des christlichen Lebens handeln, denn sonst, sagt er, müssen wir aus der Welt gehen. Und so ist diese Gemeinschaft der Gläubigen mit dem sündlichen Leben der Menschen etwas ganz Nothwendiges, wenn das Reich des Erlösers sich erweitern soll, sich immer weiter ausbreiten nach außen und befestigen im Innern. Wenn da die Meinung ist, daß alles, was man hört, uns verunreinigen könne, auch wenn es nicht in das Herz eingeht: so wäre gar keine Gemeinschaft möglich zwischen den Kindern der Finsterniß und denen des Lichts; dann könnten die Segnungen des Christenthums niemals ein Gemeingut der Menschen werden. Darum ist dies auch eine Lehre des Erlösers, die uns warnen soll gegen alles uns selbst Ausschließen von der Gemeinschaft mit dem Leben verderbter Menschen, und zwar aus dem Grunde, aus welchem er seine Zuhörer und das ganze Volk warnen wollte, jene Gesetze, die sie freilich zu befolgen verpflichtet waren, nicht so zu verstehen, als ob das, was leiblicher Weise in den Menschen eingehe, ihn verunreinigen könne. Was wir Verderbliches sehen und hören, alle diese Wahrnehmungen, wie die Menschen beherrscht werden von Lüsten, alles das kann uns nicht ver23–26 Vgl. 1Kor 5,9f

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unreinigen, wir sollen uns getrost hinein begeben, um recht Viele zur Seligkeit zu führen, es kann uns nicht gemein machen, insofern es nicht ins Herz eingeht; denn das ist der ganze Punkt, auf welchen der Erlöser Nachdruck legt. Und also ist es auch etwas Nothwendiges, daß alles Unreine in uns eingehe und eingehen kann, ohne uns selbst zu verunreinigen; denn ohne genaue Kennt|niß von der Art, wie das Verderben sich in den Menschen zeigt, wenn es Raum gewinnt und sich entfaltet, wissen wir auch nicht, wie das Werk der christlichen Liebe sie allmählig davon entwöhnen soll, um sie vorzubereiten, damit sie den Samen des göttlichen Wortes zur rechten Stunde aufnehmen können; dies Werk der christlichen Liebe wären wir nicht im Stande zu erfüllen; und auch im Einzelnen wären wir nicht im Stande, die, welche uns nahe gestellt sind, zu bewahren, wenn wir uns hüten wollten, daß das, was sie verunreinigt, auf keine Weise in uns eingehe, wenn wir uns gegen jede Wahrnehmung der Sünde verschließen wollten. Aber nun laßt uns auch den zweiten Ausdruck des Erlösers, der so wesentlich zum ersten gehört, eben so mit einander betrachten. Da sagt er, „was aus dem Herzen des Menschen herausgeht, das verunreinigt ihn, denn von innen, aus dem Herzen der Menschen gehen böse Gedanken und alle die verderblichen Lüste hervor,“ wie er sie dann einzeln in unserm Texte aufzählt. Was, m. a. F., was liegt in diesen Worten des Erlösers, wenn wir sie uns genau vorhalten, recht klar? Offenbar dieses, daß keiner, wenn solche arge Gedanken aus ihm hervorgehen, sich damit entschuldigen kann, daß sie in ihn hineingegangen wären; denn eben dies beides sondert der Erlöser und trennt es ausdrücklich. Was wir von außen sehen und wahrnehmen, kann nur Zusammenhang gewinnen mit dem, was aus unserm Herzen herausgeht, indem es selbst in unser Herz eingeht; aber was dann geschieht, ist des Menschen eigene That, und er kann sich nicht entschuldigen, daß es von außen in ihn eingegangen wäre. Denn wenn nicht die verwandte Lust in seiner Seele geschlummert hätte: so würde sich auch sein Herz nicht geöffnet haben, um es aufzunehmen; es wäre in seinem Verstande, in seiner Vorstellung geblieben, aber nicht ins Herz eingegangen. Das, was die Ursache davon ist, daß die Sünde ins Herz eingeht, | ist auch die Ursache, daß es als arge Gedanken und Lüste aus uns herausgeht; das ist das inwohnende menschliche Verderben. Und darum sollen auch wir, wie auf der einen Seite das, was von außen kommt, uns nicht verunreinigen kann, auf der andern Seite uns damit nicht entschuldigen, daß es ins Herz eingegangen ist. Denn ist es eingegangen: so ist das ein Zeichen, daß das Verderben in uns war. Wenn wir uns eine Vorstellung machen von einer reinen Seele: so wissen wir das nicht besser zu bezeichnen, als daß wir sagen, sie wäre ein vollkommener Spiegel, der die Gegenstände, die sich ihm darstellen, zwar aufnehme, aber ohne daß etwas davon in ihn eingehe, und als ein Flecken darauf zurückbleibe, sondern der das aufgenommene Bild gleich wieder verliere und immer klar und glänzend bleibe. Diese Unfähigkeit, was von

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außen Unreines uns berührt, in uns aufzunehmen, wäre, sagen wir, das Zeichen der Unschuld, und je häufiger wir das bei einem Menschen wahrnehmen: desto weniger schreiben wir ihm einen Antheil an dem menschlichen Verderben zu. Und beides hängt also auf das Allergenaueste zusammen, daß das, was von außen eingeht, uns nicht verunreinigen kann, falls es nur nicht ins Herz eingeht, und daß wir uns niemals entschuldigen können, wenn sich das Böse in uns gestaltet, mit den Umgebungen, die es erwecken; denn diese bewirken nur, daß es zur Wahrnehmung komme, aber sie können es nicht hervorbringen. Das Hervortreten des Bösen als Wort und That, auf welche Weise es sei, verunreinigt zwar den Menschen; aber eben deswegen, weil es zeigt, was in seiner innern Lebenskraft von Gott Entferntes, Mißfälliges und seine Seligkeit Störendes schon wirklich vorhanden ist. Darum gehört auch das sehr zu dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums, jedes einzelne Gemüth auf das ihm einwohnende Verderben als auf das seinige aufmerksam zu machen und niemals es erklären zu wollen aus dem Zusam|menhange, in welchem der Einzelne mit der ganzen großen Masse der Menschen steht. Um das Reich Gottes zu gründen, wovon Christus der Grundstein ist, und um ihm seine Herrschaft über die Menschen, wozu er von Gott berufen ist, zu sichern, dazu gehört das Eine so nothwendig als das Andere. Es ist nothwendig, daß es Zeiten geben muß, wo die Menschen im Großen von dem Christenthum ergriffen werden, wo ganze Völker auf einmal in gewissem Sinne zur Taufe gebracht werden und sich den Bekennern des Evangeliums hinzufügen; aber eben so nothwendig gehört dazu, daß ein Verhältniß entstehe zwischen jeder einzelnen Seele und dem Erlöser, und das beruht darauf, daß jeder Einzelne sich des allgemeinen Verderbens als des seinigen bewußt werde, und dieses das Wesen seines Glaubens sei, daß jeder nur in der Gemeinschaft mit dem Herrn, wie die Apostel das auch als etwas Persönliches darstellen, die Heilung finden könne, und das neue Heil in jeden Einzelnen übergehen muß, und daß keiner seine Rechtfertigung finden könne und seine Zufriedenheit in sich selbst oder in dem Gesammtzustande, sondern jeder sich frage, was aus seinem eigenen Herzen hervorgehe, um zu sehen, was Zeichen und Zeuge ist seines eigenen Verderbens, oder das, was Zeichen und Zeuge ist von der Gemeinschaft mit dem Erlöser. Und dazu führt uns noch die Beantwortung einer Frage, welche uns nahe liegt. Wenn der Herr sagt, „was von außen in den Menschen eingeht, so es nur nicht in das Herz eingeht, das könne ihn nicht verunreinigen“, aber auf der andern Seite sagt, „aus dem Herzen kommen böse Gedanken und arge Lüste hervor“: auf welchem Wege nun soll der Mensch – das ist die Frage, die uns so nahe liegt, wenn wir jene Aussprüche zusammenstellen – auf welchem Wege soll der Mensch zu der Gemeinschaft mit dem Guten kommen? Und welche andere Antwort könnten wir geben, als nur

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durch den lebendigen Antheil, den | er hat an dem, welcher uns in Allem gleich geworden ist, außer der Sünde, und der allein in dieser Welt solch ein Herz gehabt, aus welchem niemals ein arger Gedanke, niemals eine verderbliche Lust hervorgegangen ist, sondern der sich selbst das Zeugniß geben konnte von seinem Einssein mit seinem Vater, von seiner lebendigen Gemeinschaft mit demselben, von seinem beständigen Hinsehen auf dessen Worte und Werke. Also das, was uns zu dem höhern Leben führen muß, und die eigentliche Kraft desselben, die muß von außen immer eingehen. Das Wort mußte Fleisch werden, und der Mensch Jesus mußte erscheinen in der Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, auf daß er Gnade um Gnade und Wahrheit um Wahrheit ans Licht brächte, und wir sie nähmen, beide aus seiner Fülle. Aber was auf der einen Seite wahr ist, muß eben so auch auf der andern Seite wahr sein. Wenn wir sagen müssen, daß das Böse, was von außen in den Menschen eingeht, nicht in sein Herz könne eingehen, wenn nicht eben der Keim desselben in seinem Herzen schon liegt: so müssen wir auf der andern Seite sagen, daß, was von der Herrlichkeit des Sohnes vom Vater aus Christo hervorgeht und strahlt, in das Herz nur eingehen könne, insofern auch dies in sich aufzunehmen, eine Empfänglichkeit in ihm wäre, aber solche, die niemals zum wirklichen Leben Kraft würde gewonnen haben, wenn nicht von außen immer einginge die Fülle der Gnade und Wahrheit, die von ihm zu nehmen ist. So ist beides dasselbe in dem Geheimniß unsers Lebens, daß auf der einen Seite der Keim des Bösen liegt und gar zu leicht geweckt und zum Leben gebracht wird durch Alles, was von außen eingeht, aber ins Herz nur eingehen kann vermöge dieses Keims; daß aber zugleich in dem Menschen das Abbild Gottes, zu welchem wir geschaffen worden, nie so gänzlich erloschen gewesen war, daß, als der Strahl von oben herab als Ausfluß der Herrlichkeit des Sohnes vom Vater in ihm erschien, er nicht hätte | den Weg finden können in sein Herz. Dies beides ist zusammen, und das Geheimniß, daß er uns gleich sein mußte, daß alles, was von ihm ausging als Menschliches, in uns eingehen konnte, und daß die Heiligkeit in ihm vorhanden war, durch welche wir versöhnt werden konnten mit Gott, dies ist eins und dasselbe. Wir können uns nicht erkennen als nur in ihm, und ihn nicht anders als in uns. Je mehr uns das erfüllt: desto gewisser werden wir, daß es kein anderes Heil gibt, als in diesem Zusammenhang seines Heils mit dem unsrigen, und dazu möge er uns immer mehr hinein führen als dem wahren und beseligenden Genuß seines Lebens. Amen. Lied 444.

1–2 Vgl. Hebr 2,17 in Verbindung mit 4,15 4–5 Vgl. Joh 10,30 6–7 Vgl. Joh 5,19f 8–12 Vgl. Joh 1,14.16 26–27 Vgl. Joh 1,14 37 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 444: „Sollt er was sagen und nicht halten“ (Melodie von „O daß ich tausend Zungen hätte“)

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Am 23. Dezember 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

4. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 3,5–6 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 150–170, Nr. IX Keine Drucktext Schleiermachers; Christliche Festpredigten, Bd. 2 (7. Sammlung) 1833, S. 48–73 (s. KGA III/2); Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, S. 299–313; 21843, S. 299–313. – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 41–59. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 233–245 Keine

Am 4. Sonntage des Advents 1832.

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Lied 98. 103, 1–7.

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Text. Hebräer III, 5. 6. „Und Moses zwar war treu in seinem ganzen Hause als ein Knecht, zum Zeugniß dessen, das gesagt werden sollte; Christus aber als ein Sohn über sein Haus; welches Haus sind wir, so wir anders das Vertrauen und den Ruhm der Hoffnung bis an das Ende fest behalten.“ M. a. Fr. Wenn wir in dieser Adventszeit in denjenigen Betrachtungen, wobei wir das Evangelium des Marcus zum Grunde legten, aufmerksam gemacht worden sind darauf, wie unser Erlöser in allen seinen Anordnungen und Einrichtungen niemals etwas äußerliches bezwekkte, noch weniger sich damit begnügte, vielmehr auf dergleichen gar keinen Werth legte, sondern allein auf das, was im Innern | des 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 98: „Ihr Völker, höret Christi Wort“ (Melodie von „Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich“); Nr. 103: „Mein Lebensfürst! dein freundliches Regieren“ (Melodie von „Mein Salomo, dein freundliches Regieren“) 9–1 Vgl. oben die Predigten am 1. Sonntag im Advent (2. Dezember) über Mk 7,6–13 und am 3. Sonntag im Advent (16. Dezember) über Mk 7,14–23

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Menschen lebt und aus ihm hervorgeht; wenn wir in unserer neulichen Betrachtung gesehen haben, wie Er, um der Erlöser der Welt zu sein, freilich mußte versucht werden gleich wie wir, aber ohne die Sünde: so finden wir in den Worten unsers heutigen Textes zu beiden, wie es sich gegen einander verhält, den eigentlichen Schlüssel. Hier nämlich wird uns die gesammte Thätigkeit des Erlösers deutlich gemacht in ihrem Verhältniß zu dem, was in dem alten Bunde statt fand, Er als Stifter des neuen wird gegenübergestellt dem Stifter des alten, und eben aus dieser Entgegensezung sehen wir, wie der Eine nur konnte äußerliches begehren, einrichten, vollbringen, der Andere aber nothwendig mußte und nur konnte auf das innere sehen; aber wir sehen daraus auch zugleich, wie eben dies davon abhing, daß Er in dem Hause seines Vaters walten konnte, wie der Sohn. Und so lasset uns denn unsere Adventszeit mit dieser Betrachtung beschließen, daß wir, den Worten unsers Textes nachgehend, vergleichen das Wesen des neuen mit dem des alten Bundes. Indem aber beides hier zurükkgeführt wird auf die Stifter derselben und dabei ohnerachtet der Verschiedenheit, ihre Treue gerühmt, die Verschiedenheit selbst aber wieder nachgewiesen in ihren Geschäften: so lasset uns denn auf beide Stükke mit einander achten, zuerst wie der Eine und wie der Andere, jeder auf seine Weise treu gewesen ist, aber dann auch, was eben deswegen nur der Eine und was nur der Andere auszurichten vermochte.

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I. Dies nun ist das Erste, was unser Text, aus einem Buch genommen, in welchem überall die Vergleichung zwi|schen dem neuen und alten Bunde das wesentliche des Inhalts ausmacht, von Mose rühmt, er sei treu gewesen als ein Knecht; von Christus aber sagt er, Er sei treu gewesen als der Sohn. Lasset uns zuerst, m. a. Fr., in dem Sinn und Geist jener Zeit das Verhältniß eines Knechts zu seinem Herrn ins Auge fassen. Das war dabei eine Regel, welche fast keine Ausnahme litt, daß der Knecht war dem Herrn ursprünglich fremd, größtentheils von anderer Abstammung und aus anderem Volk, zum wenigsten aber aus einem ganz andern Lebenskreise her, und also auch aus ganz andern Einsichten und Gewöhnungen und Beziehungen in allen Theilen des menschlichen Lebens. Aber dazu nun kam noch eine solche Ungleichheit, daß in ihrem Zusammenleben nur der Wille des Einen galt, der Andere aber gar nichts zu wollen hatte, sondern 33 von anderer] vonanderer 1–4 Vgl. oben die Predigt am 2. Sonntag im Advent (9. Dezember) über Hebr 4,15

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nur auszuführen. Was schon hieraus nothwendig im allgemeinen folgt, das ist das, was unser Erlöser selbst in einer Rede an seine Jünger, wo Er ihnen die tröstliche Zusicherung giebt, daß sie nicht mehr Knechte seien, mit den Worten ausdrükkt, Der Knecht weiß nicht, was sein Herr thut1. Und das haben wir nicht etwa nur auf das gesammte Leben und Wirken des Herrn zu beziehen, dem der Knecht so ganz fern stand, daß er überhaupt nur das wenigste davon sehen konnte; sondern es ist von dem zu verstehen, was der Herr gerade in Beziehung auf seinen Knecht thut, daß er ihm nämlich gebietet und daß er ihm Aufträge giebt. Davon also sagt der Erlöser, ein Knecht weiß nicht, was sein Herr thut, das heißt, der Grund, welchen die Befehle, die | er empfängt, im Gemüthe und Verstande seines Herrn haben, die Absichten, welche dadurch erreicht werden sollen, der Zusammenhang, in welchem sie unter einander stehen, das alles bleibt ihm fern und verschlossen; und so ist seine Treue nichts anders als, wie auch schon in alten Zeiten eben dies Verhältniß bezeichnet wurde, nicht die Treue eines lebendigen selbstthätigen Wesens, sondern nur die Treue eines freilich lebendigen, aber nur Werkzeuges in der Hand eines Andern. Dasselbe spricht sich denn auch natürlicher Weise aus in dem Verhalten des Herrn gegen seinen Knecht; er betrachtet ihn nämlich auch gar nicht anders als so; er schäzt seine Eigenschaften nicht nach dem, was sie in dem Menschen und für den Menschen an sich selbst werth sind, sondern nur nach dem, wozu grade er sie in seinem Dienst gebrauchen kann. Und eben so ist deswegen auch der Knecht gar nicht ein Gegenstand der Liebe und des Wohlgefallens für seinen Herrn; sondern dieser rühmt sich seiner freilich, wenn er treu ist, wie hier gesagt wird, in demselben Sinn und auf dieselbe Weise, wie wir uns eines brauchbaren, wohlgearbeiteten Werkzeuges rühmen und uns des Besizes erfreuen, den wir daran haben, aber ohne ein solches Wohlgefallen oder eine Liebe von der Art, wie sie nur stattfinden kann zwischen denen, welche in Beziehung auf die Gemeinschaft, in welcher sie mit einander stehen, auch gleicher Art sind und gleiches Wesens. Lasset uns nun sehen, m. a. Fr., wie sich dies zeigt in dem Verhältniß, in welchem Moses stand zu dem Gott seines Volks. Was wollte der Höchste mit ihm? Der Vater aller Menschenkinder, dessen allmächtige Liebe auf Alle gerichtet ist, für den kein Einzelner im voraus 1

Joh 15, 15.

16–19 Die Auffassung, der Sklave sei ein lebendiges Werkzeug, findet sich verschiedentlich bei Aristoteles; vgl. vor allem Politica I 4 (1253b), Opera ed. Causabon Bd. 2, S. 179; Politica ed. Ross S. 5f.

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irgend | einen besondern Werth haben kann, was kann der eigentlich gewollt und beabsichtigt haben mit solcher Auswahl, wie er sie machte an den Nachkommen des Abraham? Wir haben den Schlüssel dazu, wir sehen es ein; er wollte, daß ihm übrig bleiben sollte mitten unter dem Verderben der Welt, mitten unter der Verfinsterung des Geistes, mitten unter dem Versunkensein der Menschen, von aller lebendigen Erkenntniß und aller lebendigen Beziehung auf Gott weit hinweg in das nichtige und irdische dieses Lebens, daß ihm an diesen ein Saame übrig bleiben sollte, aus welchem dereinst ein besseres hervorgehen könnte. Nicht als ob dieses Volk wesentlich selbst besser gewesen wäre, oder als ob in dem alten Bunde das schon enthalten gewesen wäre, was Gott zur Offenbarung bringen wollte im menschlichen Geschlecht! Denn wie könnten wir auch nur wenige Blätter in jenen Büchern lesen, ohne lebhaft davon getroffen zu werden, wie unvollkommen die Erkenntniß Gottes noch war selbst in denen, die in seinem Namen zum Volke redeten, wie fern auch diese von einem solchen Verhältniß zu ihm waren, dessen wir uns jezt rühmen? Das, wie gesagt, kann uns nicht verborgen bleiben! Unvollkommen und Schattenwerk war eben auch dies alles; aber doch wollte der Höchste, daß das Volk zusammengehalten werden sollte in einer, wenn auch nur unvollkommenen, wenn auch in mancher Hinsicht nur äußerlichen Erkenntniß Gottes, damit aus diesem – denn unter gözendienerischem Wahn konnte er nicht entsprießen – geboren werden könnte derjenige, welcher das göttliche Leben über Alle bringen sollte. Um dieses einzigen Nachkommen Abrahams willen war die ganze Nachkommenschaft desselben heilig; als die Umgebung, | aus welcher dieser hervorgehen könnte, sollte jene geschont werden und ein eigenthümliches Dasein behalten: das war die Führung Gottes mit dem jüdischen Volk, das war der Sinn, in welchem allein es sein auserwähltes war, das die Richtung aller Gebote, welche er ihm geben ließ, aller Einrichtungen, die unter ihm gemacht wurden, und der ganzen Art, wie er es führte durch eine Reihe von Verirrungen hindurch. Aber wie war es mit Moses? Der war ganz seinem Volke angehörig, in diesem lebend, wie es einen Gegensaz bildete zu allen andern; und das war die Eigenschaft, um welcher willen Gott ihn erwählt hatte zum Führer dieses Volkes. Gerade dadurch, daß er, erzogen an dem königlichen Hofe Aegyptens, doch durch keine Hoffnung auf irdischen Glanz und äußere Hoheit hatte abwendig gemacht werden können von dem Sinn, der ihn seinem Volke verband, dadurch hatte er sich bewährt als ein solcher, welcher im Stande sein würde, es eben in diesem Gegensaz zu allen andern in dem Wahn des Gözendienstes versunkenen Völkern 18–19 Vgl. Hebr 8,5; 10,1

36–37 Vgl. Ex 2,1–10

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mit den Überlieferungen seiner Vorfahren von Gott und göttlichen Dingen zusammenhalten, und ein solcher war es, den Gott brauchen konnte an der Spize dieses Volks. Aber wie weit war der sonst große Mann eben deswegen davon entfernt, den eigentlichen Zusammenhang und den wahren Grund der göttlichen Führungen zu begreifen! Nur in diesem Sinne, daß es die Heiden austreiben und mitten unter ihnen als dem Gott seiner Väter dienend leben solle, leitete er das Volk, das ihm anvertraut war; in diesem Sinne schärfte er den Eifer desselben gegen die Völker, die Gott vor Israel hertreiben und in dessen Gewalt geben wollte, in eben diesem Sinne | vertrat er das Volk bei Gott, wenn er es ihm um nur eines zu erwähnen, als eine Sache vorhielt, welche seine eigene Ehre beträfe, daß das Volk nicht deshalb zu Schanden würde, weil es seine Stelle in Aegypten verlassen hatte, wenn es nun in der Wüste verschmachtete, ohne einen bessern Zustand erreicht zu haben1. Das war Moses Treue in dem Dienst, zu dem er sich seinem Gott einmal hingegeben hatte; und wenn er alle die Vorschriften ordnete, die er einzeln von Gott bekam: so hatte er immer nur die Zeit im Auge, wenn endlich das Volk angelangt sein würde in dem Lande, das ihm der Herr gelobt hatte, und keine erwekkte in ihm das Bedürfniß, über diesen engen Kreis hinaus zu sehen. Von jenem großem Zwekke der Auswahl dieses Volks, aus welchem eben der Sohn, der ganz anders im Hause seines Vaters schalten sollte, geboren werden könnte, davon wußte er nichts, sondern wenn wir ihm das zuschreiben, so sind wir nicht in der Wahrheit Christi und der Worte unsers Textes. Denn das sagt Christus, daß der Knecht nicht weiß, was sein Herr thut, und das sagt unser Text, daß Moses treu war als ein Knecht, und aus beidem zusammen ergiebt sich nur dieses, daß er weiter nicht um sich gewußt hat, wenn auch vielleicht eine einzelne Andeutung von solchen, die mehr in den heiligen Büchern zu suchen gewohnt sind als darin liegt, und doch auch nur auf erkünstelte Weise, so kann verstanden werden, als hätte Moses eine Einsicht gehabt in diesen Zusammenhang der göttlichen Fügungen, und den schon seinem We|sen nach im Geiste gesehen, der ganz anders als er walten sollte im Hause seines Vaters. 1

4 Mos. 14, 13–16.

9 Vgl. Dtn 4,38; auch 9,4f 25–26 Vgl. Joh 15,15 28–34 Möglicherweise denkt Schleiermacher hier besonders an Ernst Wilhelm Hengstenbergs „Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten“, deren erste drei Teilbände zwischen 1829 und 1832 erschienen waren; Hengstenberg erneuerte darin die seit dem Urchristentum immer wieder geübte, von der auf einen geschichtlich-buchstäblichen Sinn abzielenden historisch-kritischen Exegese abgelehnte christologisch-allegorische Auslegung zahlreicher alttestamentlicher Texte.

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Und fragen wir, was konnte denn nun das Werk sein von all der Treue, die Moses bewies, wie zeigte er sich nun als ein Knecht im Hause seines Herrn? Einzeln empfing er seine Gebote von außen her; so wurden sie gegeben. Wenn er rathlos war in sich selbst, so ging er in die Hütte, welche die Wohnung des Höchsten darstellte, und da kam denn, wir wissen nicht auf welche Weise, der Wille Gottes ihm zu; und was ihm so zugekommen war, das that er denn, und diese Vollziehung des Einzelnen, selbst nicht verstandenen, das war seine Treue als ein Knecht, und darüber hinaus konnte er es nicht bringen. Darum war es aber auch nicht gut möglich, daß so treu er auch war, so sehr auch der Herr ihm dies Zeugniß gab schon während seines Lebens, so sehr es ihm gegeben worden ist in dem Gedächtniß seines Volks und noch aufs neue wiederholt in diesen Blättern des neuen Bundes, doch es nicht fehlen konnte, daß er mit seinem Hinsehen auf das Wohl seines Volkes, als eines im Gegensaz gegen andere Theile des menschlichen Geschlechts stehenden, nicht hätte doch sollen in irgend einen Zwiespalt gerathen mit dem, dessen Knecht er war. Denn so lesen wir es: der Herr sprach, Das ganze Volk, welches gegen mich gemurret hat und mir nicht gehorchen wollte, soll in der Wüste umkommen und das Land, das ich ihren Vätern verheißen habe, nicht sehen, alles was zwanzig Jahr ist und darüber1. Und Moses hatte zwar damals nicht mitge|murrt, aber er kam doch auch nicht ins Land hinein, sondern mußte sich versammeln zu seinen Vätern deswegen, weil er obgleich nicht gegen den Herrn gemurrt, aber sich doch beklagt hatte, daß er ihn gesezt an die Spize dieses halsstarrigen Volks und dieses verkehrten Geschlechts, und daß er selbst ihn am Ende nicht würde schüzen können vor ihrer blinden Wuth, sondern sie würden seinem Leben ein Ende machen2. Das waren Augenblikke des Zwiespalts, welche zeigen, wie wenig seine Treue, die er in seinem ganzen Leben bewiesen hatte, Grund hatte in einer wahren Uebereinstimmung seines Willens mit dem richtig erkannten göttlichen Willen, sondern in entscheidenden Augenblikken mußte sich aufs deutlichste kund geben, daß es ihm an einer solchen fehle. Darum weil doch ein Knecht nur kann geachtet werden nach seinem Verhalten, und die Unangemessenheit desselben nicht darf ungestraft bleiben, durfte auch Moses das Land nicht sehen, welches Gott von Anfang an dem 1 2

4 Mos. 14, 29. 4 Mos. 11, 11 flgd.

4–7 Vgl. vermutlich etwa Ex 33,7–11; Lev 1,1; auch Ex 29,42 35–1 Vgl. Num 20,7– 12; Dtn 32,48–52; 34,1–5, bes. 4 37 Vgl. Num 14,29f 38 Vgl. Num 11,11–15

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Volke bestimmt hatte, sondern mußte mitbegriffen werden in jenes große göttliche Strafwort, welches über sie alle ausgesprochen wurde. Und dieser Zwiespalt hing nicht von einem besondern Umstande ab; er war vielmehr unvermeidlich, er hätte irgend wann, irgend wie zum Vorschein kommen müssen, weil seine Treue nur war und sein konnte die Treue eines Knechts. Noch viel weniger konnte sich irgend ein anderer als Moses darüber erheben; es war nicht möglich, daß irgend ein Menschenkind in einem andern Verhältniß hätte zu Gott stehen können als in diesem, ehe denn der Sohn erschien auf Erden. Denn auch diejenigen, welche | im alten Bunde Propheten des Höchsten waren, an die das Wort des Höchsten geschah, wußten keinen größern Ehrentitel für sich, noch konnte man ihnen einen anderen beilegen, als daß sie seien Knechte des Herrn, und dem lag allerdings das dunkle Gefühl zum Grunde, von der großen Scheidewand zwischen der Menschen Sinn und Geist und dem Sinn und Geist Gottes, davon, daß ihr äußerliches Thun, seinen Geboten gemäß, nicht seinen Grund hatte in ihrer Einsicht in seinen Willen und in den Zusammenhang seiner Führungen. Wenn aber auch die Diener Christi in dem neuen Bunde sich in ihren Briefen und sonst Knechte nennen: so meinten sie das gewiß nicht im Widerspruch mit jenem großen Wort des Herrn, als Er zu seinen Jüngern sagte, Ihr seid nun nicht mehr Knechte; sondern das war noch die Nachwirkung von jenem Geist, der auch ihre Zeit noch beherrschte, und sie wollten sich dadurch über ihren Beruf nur auf die Weise ausdrükken, wie es allen verständlich sein mußte, die das neue Leben noch nicht aufgenommen hatten in ihren Geist, in wie genauem Verhältniß sie ständen zu dem, in dessen Namen sie handelten. Aber wie war es nun mit Christo, welches ist die Treue des Sohnes? Lasset uns, m. a. Fr., hier zuerst, damit wir uns nicht verwirren, den Unterschied nicht übersehen, der öfters in unserer heiligen Schrift vorkommt, zwischen Kind und Sohn. Denn von dem Kinde zwar sagt der Apostel Paulus, So lange der Erbe ein Kind ist, ist kein Unterschied zwischen ihm und einem Knecht; und so, sagt er, waren auch wir, so lange wir Kinder waren, gefangen unter den Sazungen; aber von dem Sohn, dem erwachse|nen selbständig gewordenen kann das nicht gelten. Knecht und Sazungen, knechtischer Zustand und Gefangensein unter Sazungen, das ist ihm eins und dasselbe und hängt wesentlich zusammen. Der Knecht empfängt den Willen seines Herrn einzeln und von außen, und dieser einzelne Wille ist ihm eben eine Sazung und 1–2 Schleiermacher bezieht sich auf die von ihm selbst oben angeführte Stelle Num 14,29f. 18–19 Vgl. Röm 1,1; Gal 1,10; Phil 1,1; Tit 1,1; 2Petr 1,1; Jak 1,1; Apg 4,29; u. ö. 21 Vgl. Joh 15,15 32–36 Vgl. Gal 4,1–5

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ein Gebot. Als der Herr zu seinen Jüngern sagte, Ihr seid nun nicht mehr Knechte, so fügte Er hinzu, Ihr seid meine Freunde; denn ich habe euch alles kund gethan, was mir der Vater offenbaret hat, und nun seid ihr meine Freunde, so ihr das thut und dem gemäß handelt. Als Freunde hat Er sie behandelt, indem Er ihnen den göttlichen Willen, wie Er ihn erkannte, kund gab und mittheilte, nicht in einzelnen Vorschriften und Geboten als eine Sazung, sondern als den Geist, als die eigenthümliche Art und Weise seines ganzen Lebens. Aber Er hatte es ihnen doch kund gethan, und wenn auch nicht als Sazung, hatten sie es doch von außen empfangen durch ihn, und ihre Treue, wenn wir es genau nehmen, so daß sie sich nun nicht mehr hätten sollen im Sinne des alten Bundes Knechte nennen, war die Treue eines Freundes gegen seinen ihm befreundeten Herrn. Aber anders noch ist die Treue des Sohnes: denn dieser, ist er anders rechter Art, nachdem er mündig geworden, hat er in menschlichen Verhältnissen betrachtet, durch das lange Leben mit dem Vater unter seinen Augen, von ihm erzogen, von ihm eingeweiht in seine Bestimmung, auch den Willen desselben in Beziehung auf alle seine Verhältnisse in sich aufgenommen; und der Vater sendet ihn nun in seinen Geschäften, ohne ihm besondere Vorschriften zu geben, ohne ihn wieder durch Sazungen zu leiten, in sein Haus, | damit er darin schalte als derjenige, in dessen Willen und Gebot alle Andern den Willen und das Gebot des Vaters erkennen sollten. Dieses, m. a. Fr., ist die Art und Weise der Treue des Sohnes, so schaltete er im Hause des Vaters! Was Er sagte, das war der Wille Gottes. Und den empfing Er nicht von außen und konnte ihn auch nicht von außen empfangen weder einzeln noch im Ganzen, er war ihm angeboren; und so wie diese Fülle der göttlichen Kraft in ihm in den Besiz seiner menschlichen Kräfte gekommen war, so daß er in seinem männlichen Alter da stand, so konnte Er nichts anderes thun mit allen seinen Kräften als den Willen seines Vaters, weil nichts anderes in ihm lebte als dieser. Das ist es, was Er selbst von sich sagt, das ist das große in den Worten, daß Er nichts vermöge von ihm selber zu thun, weil Er sein ganzes Dasein und sich selbst, sein ganzes Wesen nicht trennen konnte oder sondern von dem seines Vaters: denn Er war Eins mit ihm. Darum brauchte Er nicht zu hören auf irgend ein Gebot, in keinem Augenblikk zu warten, daß der Wille des Vaters, in dessen Hause Er schaltete, ihm auf irgend eine Weise kund würde, sondern Er trug ihn in sich; sowol was Er selbst that, indem er seine Bestimmung erfüllte, als was er als Gesez des Lebens, als Bestimmung des Menschen aussprach, das war der lebendige Ausdrukk des göttlichen Willens. Darum vermochte er auch niemals in einen Wider1–3 Vgl. Joh 15,15

32–33 Vgl. Joh 5,19

34–35 Vgl. Joh 10,30

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spruch zu gerathen mit dem Willen seines himmlischen Vaters. Wenn er selbst von sich sagt, daß er dieses oder jenes von dem Willen seines Vaters nicht wisse: so war das niemals der Wille, den er zu thun hatte, – denn den wußte er immer, – sondern es war der allmäch|tige Wille, nach welchem der Vater die äußerlichen Begebenheiten und Erfolge der Welt leitet. Von diesem wol sagt er, daß er ihn nicht wisse, sondern Zeit und Stunde und was sie herbeiführen werden, habe der Vater seiner Macht vorbehalten: aber den Willen Gottes, den er zu thun hatte, den wußte er immer; der lebte in jedem Augenblikk, sobald er in irgend ein Verhältniß kam, in ihm, und nichts anderes als dieser, und darum konnte er auch niemals in Widerspruch mit demselben gerathen. Darum war auch ein Zwiespalt zwischen ihm und dem Vater, zwischen der Richtung seines Willens und dem, was der Vater ihm zumuthete, nicht möglich; und auch sein Gehorsam bis zum Tode war eben so sehr eine freie That aus dem eignen freien Willen hervorgehend, wie er denn sagt, Ich habe Macht mein Leben zu lassen und es zu behalten. Und hieran ohnstreitig erkennen wir am deutlichsten, wie wenig es möglich war, daß irgend ein Zwiespalt sein konnte zwischen ihm und dem Willen des Vaters. Eine solche Treue, so fern von aller Aengstlichkeit, so vollkommen frei und so richtig und genau, auf der einen Seite Gehorsam gegen den Willen des Vaters, auf der andern Seite aber nichts anders als freie Aeußerung des eigenen Geistes, eine solche Treue, die nicht gebunden war an irgend einen Buchstaben und nicht zu harren brauchte auf ein Zeichen des göttlichen Befehls, sondern immer sicher war dessen, was sie zu leisten hatte, das war die Treue des Sohnes. II. Wohlan! so lasset uns nun auch sehen, welches denn die Werke und Geschäfte waren, die jeder von beiden, der | eine als Knecht kraft einer solchen Treue, der andere kraft seiner Treue als Sohn, mithin auch vermittelst der in ihm wohnenden Herrlichkeit, zu vollbringen hatte. Es könnte freilich auf den ersten Anblikk scheinen, als sei es kaum möglich, beide mit einander zu vergleichen. Länger hat Moses sein Volk geführt als das ganze irdische Leben des Erlösers gewährt hat; er hat seinem Volke die ganze Gesezgebung vollendet und alle Einrichtungen begründet, deren es bedurfte; der Erlöser hingegen mußte sein Werk im Stich lassen zu einer Zeit, wo er selbst sagt, Ich habe euch noch vieles zu sagen, aber ihr könnt es noch nicht tragen. Und dennoch können wir behaupten, daß Moses noch weniger das 6–8 Vgl. Mt 24,36 in Verbindung mit Apg 1,7 38 Vgl. Joh 16,12

16–17 Vgl. Joh 10,18

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Werk, wozu er gesandt war, selbst vollbracht hat als der Erlöser, wenn wir auch bei den Tagen seines irdischen Lebens stehen bleiben. Denn jener mußte ja versammelt werden zu den Vätern, ehe das Volk in das Land geführt werden durfte, welches der Herr den Vätern desselben gelobt hatte. Die Geseze hatte er ihm gegeben eben für jenes Land, damit es bewohnt würde nach denselben, und da, sagt er ihnen vorher, würde es ihnen wohlgehen, wenn sie sie hielten, aber wenn sie es nicht thäten, würde sein Fluch sie begleiten. Das Gesez war also gegeben eben für jenes Land, in welches hernach das Volk einzog, er aber nicht mit; er sah nur von fern von dem Berge an den Grenzen desselben das schöne Land, wo die Einrichtungen gelten sollten, die er gegeben, aber das wahre Leben in ihm erblikkte er nicht. Darum können wir wohl in dieser Hinsicht beide mit einander vergleichen. Aber was hat nun Moses mit seiner Treue als ein Knecht des Herrn hervorgebracht? Nicht, m. a. Fr., als ob ich den alten Bund | herabsezen wollte! er war eine nothwendige Vorbereitung und ohne ihn hätte die Herrlichkeit des neuen nicht erscheinen können; davon sind alle Blätter der heiligen Bücher des neuen Bundes voll, das erkennen diejenigen unter den Jüngern des Herrn am meisten an, die am lebendigsten erfüllt sind von der Herrlichkeit des neuen, und die den großen Unterschied am bestimmtesten erkennen zwischen beiden; darum wollen wir uns auch buchstäblich halten an das, was die Schrift selbst hierüber sagt. Moses gab seinem Volke Gebote, wie er sie einzeln für dasselbe von dem Herrn empfing, der zu ihm sprach, Das sage dem Volk, das sie es thun sollen; und so finden wir ohne alle scheinbare Ordnung unter einander geworfen, wie es ihm Gott eben klar machte, die einzelnen Formeln des Gesezes, bald dies bald jenes, die äußerlichsten Gebote unter einander gemischt mit dem, was noch am kräftigsten als Zaum und Zügel wirken konnte gegen die zerstörenden Kräfte, die sich im Innern des noch ungeheiligtern Menschen regen. Aber was wird von diesen Gesezen gesagt? Daß sie eine unerträgliche Last gewesen seien für das Volk, so daß niemand im Stande gewesen sei sie zu erfüllen. Eben deswegen mußte der Gott immer aufs neue versöhnt werden, der ihnen mit solchem Ernst und solcher Strenge befohlen hatte, von keinem Buchstaben zu weichen in diesen Büchern des Gesezes. Je genauer sie es aber befolgten, um desto weniger fanden sie doch eine Befriedigung darin, weil sie sich immer noch bewußt sein mußten 6 denselben] demselben

30 ungeheiligtern] 7. Sammlung, S. 65: ungeheiligten

3–5 Vgl. Dtn 32,50 6–8 Vgl. Dtn 11,26–28 10–11 Vgl. Dtn 34,1–5; auch 32,49.52 24–25 Vgl. z. B. Ex 25,2; 27,20; 31,12f; Lev 1,1f; 4,1f; 7,22f; Num 28,1f; 30,2; ferner Dtn 6,1; u. ö. 31–32 Vgl. Lk 11,46; ferner Mt 23,4

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auch ungekannter und ungesühnter Schuld; und alle Gebräuche konnten nichts anders thun, als ein Gedächtniß stiften der Sünde. Solches Umherirren, daß ich so sage, in den Wüsten des Ge|sezes, befolgen und nicht befolgen desselben, dabei aber im beständigen Bewußtsein der Sünde leben, das war der Wechsel, in dem die Zöglinge Moses ihr irdisches Leben vollbrachten, und darum seufzten sie auch alle nach einer Zeit, wo diese unerträgliche Last von ihnen würde genommen werden, ohne jedoch den Geist und das Wesen derselben irgend bestimmt zu erkennen. Christus, waltend mit der Treue des Sohnes, hat kein Gebot gegeben, auch nicht ein einziges. Denn wenn er zu seinen Jüngern sagt, Ein neues Gebot gebe ich euch, nämlich daß ihr euch unter einander lieben sollt mit der Liebe, mit welcher ich euch geliebt habe: so sieht wol jeder gleich, daß er nur das Wort entlehnt aus den Blättern des alten Bundes, eben um auf jenen Unterschied aufmerksam zu machen zwischen beiden. Denn wer vermag Liebe zu gebieten? Versuchet es! sie hängt weder von der Willkühr ab noch kann sie erzwungen werden, auch die sinnlichste am wenigsten des Menschen würdige vermöget ihr nicht zu gebieten, und noch weniger gewiß die Liebe, mit welcher er uns geliebet hat! Aber indem er dies sein einziges neues Gebot nennt, hat er eben zu erkennen gegeben, daß er kein Gebot zu geben gekommen sei. Und wenn er sagt, daß er das Gesez des alten Bundes ergänzen wolle: so geschieht auch dieses nur so, daß es dann nicht mehr als Sazung beobachtet werden kann, sondern nur um den Geist zu enthüllen, in dem es gegeben ist. Nicht als ob er als Sohn nicht hätte können Gebot und Sazung geben, aber nur nicht, wenn wir von ihm die Macht erhalten sollten Kinder Gottes zu werden, nicht wenn wir auch die Sohnschaft empfangen sollten. Denn um ein solches Verhältniß zu | gründen, in welchem nur die Liebe gilt, mußte er die Feindschaft überwinden und die Liebe in uns erwekken durch die Kraft der seinigen. Das war das Werk, wozu er sich seine Jünger erwählte es an ihnen zu vollbringen; und das war das Vermächtniß, welches er ihnen hinterließ, daß sie sich mit derselben Liebe unter einander lieben sollten, mit welcher er sie geliebt hatte. Das war die Frucht seiner Wahl; dazu hatte er sie an sich gezogen, und sie mit dem Geist und der Kraft seines Lebens gleichsam erfüllt. Dazu können auch wir, wie die Reben aus dem Weinstokk, Kraft und Leben von ihm einsaugen! Solches Vermächtniß zurükkzulassen, solche Gaben 2 Vgl. Hebr 10,3 in Verbindung mit Ps 111,4 12–13 Vgl. Joh 13,34; ferner 15,12 22–23 Vgl. Mt 5,17 27–28 Vgl. Gal 4,5 33–34 Vgl. Joh 13,34; 15,12 37 Vgl. Joh 15,4f

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von oben herabzubringen, dazu war er gekommen, aber nicht wieder Gebot und Sazung. Und Moses baute dem Herrn ein Zelt, dazu empfing er die bestimmten Maaße und mit der Treue des Knechts arbeitete er so, wie es ihm vorgeschrieben war, und in diesem war ein kleines Heiligthum, darin verwahrte er die Lade des Bundes und die Zeugnisse; und wenn er in Verlegenheit war um den göttlichen Willen und nicht wußte, was er zu thun hatte, so ging er in dies Zelt hinein und nie kam er heraus ohne Rath und Vorschrift über den einzelnen Fall, um dessentwillen er hineingegangen war, und wenn er herauskam, glänzte sein Antliz von der Nähe des Herrn. Aber obgleich dies glänzte, so daß er es bedekken mußte, weil die Kinder Israels nicht hineinschauen konnten1: so blieb er selbst doch in demselben Dunkel wie vorher, eben so wenig eins mit seinem Herrn, wie der Knecht es niemals sein kann. Diese Hütte verwandelte sich her|nach in einen Tempel, ein prachtvolles Meisterstükk alter Kunst, aber auch natürlich ausgesezt allen menschlichen Geschikken; und wie der besondere abgeschlossene Geist, in welchem das Volk gelebt hatte, und unter welchem es zusammengehalten werden sollte, bis die Zeit käme, in welcher die Verheißungen Gottes in Erfüllung gehen sollten, als dieser es immer aufs neue in Zwiespalt mit andern Geschlechtern der Menschen verwikkelte: da wurde auch dies heilige Gebäude zerstört; freilich wieder aufgebaut in spätern Zeiten; nun aber kam der Erlöser, um zu verkündigen, Es kommt die Zeit und sie ist schon da, daß man weder hier anbeten wird zu Jerusalem, noch da, wo ihr Samariter meint, daß es recht sei, sondern, wer Gott anbeten will, der wird ihn anbeten im Geist und in der Wahrheit; denn solche Anbetung will Gott haben2. Wenn wir nun die große Menge von heiligen Gebräuchen und schwierigen Einrichtungen, die für jene Hütte und für jenen Tempel gemacht wurden, betrachten: so fühlt sich der menschliche Geist leicht befangen von einem dumpfen Erstaunen und einer unfruchtbaren Verwunderung über ein so zusammengeseztes, ein so genau abgemessenes Ge1 2

2 Mos. 30, 34. 35. Joh. 4, 21. 23.

3–6 Vgl. Ex 25–31, bes. 25,10–21 15 Vgl. 1Kön 6 22–23 Im Zuge der Eroberung Jerusalems durch die Neubabylonier 587/86 v. Chr. wurde der Tempel zerstört, nach Ende des Babylonischen Exils in den Jahren 520–515 v. Chr. wieder aufgebaut. Nachdem Antiochos IV. Epiphanes den Jahwekult im Tempel vorübergehend zugunsten der Verehrung des Zeus Olympios abgeschafft hatte, wurde der Tempel nach dem Makkabäeraufstand im Jahr 164 v. Chr. feierlich wieder geweiht. 33 Schleiermacher wiederholt diese Stellenangabe auch in der 7. Sammlung, S. 68; tatsächlich handelt es sich um Ex 34,34f.

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bäude, über so schwer zu enträthselnde Vorschriften zu allerlei äußerem Verhalten, wodurch freilich immer aufs neue und in andern Gestalten das Verhältniß des Volkes zu Gott zur Anschauung kam. Wenn aber nun diese Anstalt die ganze Zeit des alten Bundes beherrschte, wenig verstanden, aber doch von allen denen mit Genauigkeit ausgeübt, die ihren Ruhm darin sezten, dem, der ihnen diese Ordnungen gebracht hatte, nachzufolgen | in der Treue des Knechts: ach! was war dieses ganze Werk anders, als, wie die Schrift sagt, eine Einrichtung, die doch nicht konnte lebendig machen, ein Gehorsam, der den Menschen doch nicht konnte mit Gott befreunden, sondern immer nur wieder ein Zeugniß war der Sünde und ein Ausdrukk eines ungestillten Verlangens! Der Bund aber, den der Erlöser gekommen war zu stiften, die Vereinigung, die er unter den Gläubigen bewirkte, und ihnen empfahl als das Vermächtniß und die Frucht seines Lebens und Daseins, wird uns auch häufig in der Schrift dargestellt als ein Tempel Gottes, aber nicht von Holz und Stein gebaut, sondern als ein geistiger lebendiger Tempel, in dem auch Opfer dargebracht werden, aber nur die geistigen eines Gehorsams, der Gott wohlgefällt, in dem auch Ordnungen walten, aber keine äußerlichen, als so weit es nothwendig ist, damit menschliche Dinge bestehen können: sondern was darin waltet, das ist derselbe Geist der Liebe, und was darin gilt, das ist der den Menschen durch den Sohn, dem er ursprünglich einwohnte, nun auch mitgeteilte Wille Gottes, den sie in sich haben sollen, wie er ihn in sich hatte, so sie nur hören auf den Geist, den er ihnen gesendet hat um ihn zu verklären. Und er selbst, er ist in diesem geistigen Tempel jenem Heiligthum zu vergleichen: denn so sagt die Schrift, daß ihn Gott aufgestellt habe zum Gnadenstuhl, das heißt, als den Ort in dem geistigen Tempel Gottes, der die Zeugnisse seiner Liebe und Treue verwahrt – denn dadurch hat Gott seine Liebe bezeugt, daß er seinen Sohn gegeben hat für das Leben der Welt, als den Ort, wo ganz besonders seine Nähe wohnt. Und wie wir jezt Alle Priester sind und den freien Zugang | ins Heiligthum haben: so ist keiner, der, ungewiß in sich selbst darüber, was der Wille Gottes sei, wenn er in diese Hütte hineintritt, wenn er sich in die geistige Gegenwart des Erlösers vertieft, wenn er ihn sucht mit den Augen des Geistes, nicht sollte Rath und Vorschrift finden, und zwar nicht nur wie Moses für den einzelnen Fall, sondern so daß ihm immer aufs neue der Erlöser verklärt, und er mit demsel8–9 Vgl. Gal 3,21 15–19 Vgl. vor allem 1Petr 2,4f; auch Eph 2,19–22; 1Kor 3,16; 2Kor 6,16 25–26 Vgl. Joh 16,14 27–28 Vgl. Hebr 4,16 in Verbindung mit Röm 3,25 (mit Bezügen auf Ex 25,17.20; Lev 16,15) 30–31 Vgl. Joh 3,16 38– 1 Vgl. 1Kor 12,13

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ben Geist immer aufs neue getränkt und übergossen wird, der uns führt von einer Klarheit zur andern. Das ist das Werk des Erlösers, der allein schalten konnte mit der Treue des Sohnes, nicht zu vergleichen mit dem, was hervorgebracht werden konnte durch die Treue des Knechts, nicht äußerlich, sondern innerlich, nicht vergänglich, sondern ewig, nicht zurükklassend irgend ein ungestilltes Bedürfniß, sondern daß keiner wieder hungern darf und dürsten, nicht nur ein Zeugniß von der Entfernung des Menschen von Gott, sondern das Wiederbringen der seligsten Gemeinschaft mit ihm, und das ewige Bewußtsein seiner Liebe, welche er dadurch bewiesen hat, daß er den Sohn für uns gegeben hat, da wir noch Sünder waren. So denn, m. g. Fr., wollen wir ihn aufs neue aufnehmen als den Sohn, den Gott uns gegeben, als den, der für immer schaltet mit der Treue des Sohnes im geistigen Hause des Vaters! Und wir können und sollen dies Haus sein, so wir anders den Glauben und den Ruhm der Hoffnung festhalten, und nicht lassen und wanken von dem, der uns dargestellt ist als der Gnadenstuhl von Gott, und der nicht wieder nur ein neues Gedächtniß der Sünde stiftet, sondern der uns frei gemacht hat, wie er selbst sagt, daß nur der Sohn uns frei machen kann, durch den auch wir | nun nicht mehr Knechte sind, auch nicht mehr unmündige Kinder, sondern indem wir seine Freunde geworden sind, auch von ihm die Sohnschaft empfangen haben, auf daß wir in der Kraft seines Geistes immer mehr den Willen des himmlischen Vaters wie er erkennen, ihn auch in unserm Herzen finden, und mit kindlicher Treue ausüben im ganzen Leben, auf daß auch wir etwas seien zum Lobe seiner Herrlichkeit. Amen. Lied 103, 8.

1–2 Vgl. 2Kor 3,18 10–11 Vgl. Röm 5,6 16–17 Vgl. Hebr 4,16 in Verbindung mit Röm 3,25 (mit Bezügen auf Ex 25,17.20; Lev 16,15) 17–18 Vgl. Hebr 10,3 in Verbindung mit Ps 111,4 18–19 Vgl. Joh 8,36 27 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 103: „Mein Lebensfürst! dein freundliches Regieren“ (Melodie von „Mein Salomo, dein freundliches Regieren“); die 8. und letzte Strophe lautet: „So ruh ich denn, mein Heil, in deinen Armen! Du selbst sollst mir mein ewger Friede seyn. In deine Huld, o Herr, hüll ich mich ein: ich leb und athme nur durch dein Erbarmen. Und da du mir mein Ein und Alles bist, Hab ich genug, wenn dich mein Geist genießt.“

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Am 25. Dezember 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Weihnachtstag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 4,4 Nachschrift; SAr 71, Bl. 15r–21v; Woltersdorff Keine Keine Keine

Frühpredigt von Schleiermacher, am ersten Weihnachtstage 1832. |

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Frühpredigt Am ersten Weihnachtstage 1832.

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Gelobet sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen! Amen. Grund der Betrachtung. Galater Cap. 4. v. 4. „Da aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren vom Weibe, und unter das Gesetz gethan.“

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M. a. Fr! Es giebt unter denen, die mit uns den Namen des Erlösers bekennen, und auf ihn die Hoffnung des Heils gründen, doch gar nicht wenig kleine Gemeinschaften, welche dies schöne herrliche Fest, so wie auch die andern großen Feste unserer Kirche nicht mit begehen. Es wird uns schwer uns diese Beraubung zu denken und uns in solche Vorstellungen hinein zu versetzen, wie sie dabei zum Grunde liegen: wahr auf der einen Seite, aber auch streng auf der andern, und nicht ganz angemessen, der Art und Weise, wie wir sonst in unserm Leben zu denken und zu handeln pflegen. Denn freilich kann man sagen, jede christliche Erbauung, jede sonntägliche Zusammenkunft müsse ein lebendiges Andenken seyn, an den Erlöser in seinem ganzen Verhältniß zu den Menschen, und dagegen scheinen wir selbst 5 den] dem 4 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 131: „Ewig sey dir Lob gesungen“ (Melodie von „Lasset uns den Herren preisen“) 5–6 Eingangsvotum in Anlehnung an Lk 2,14

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ein Zeugniß abzulegen, indem wir uns an einzelnen Tagen, einzelne Momente seiner Erscheinung in der Welt, besonders vergegenwärtigen. In Beziehung auf das heutige Fest, kann noch besonders gesagt werden, daß ja doch | was der Erlöser gethan, um der Menschheit das Heil zu erwerben, nicht mit der Geburt anfange; sondern erst mit seiner lebendigen Wirksamkeit unter den Menschen; und doch werden wir uns von der schönen Gewohnheit, dies freudige Fest zu begehen nicht trennen wollen, wenn wir gleich auch dies Besondere eben so zugeben müssen, wie jenes Allgemeine. Aber wenn auch die lebendige Thätigkeit des Erlösers zum Heil der Menschen noch nicht mit seiner Geburt begonnen hat, so ist Er doch von seiner Geburt an schon derjenige gewesen, welcher allein den Rathschluß Gottes hinausgeführt hat, und eben darauf weisen auch ganz besonders die verlesenen Worte des Apostels hin; er rechnet die Erfüllung der Zeit von da an, wo Gott seinen Sohn in die Welt sandte, noch nicht als den Lehrer, sondern als den, der geboren war vom Weibe, und nach Sitte und Weise seines Volkes unter das Gesetz gethan. Und so lasset uns denn nach Anleitung dieser Worte mit einander unsere Aufmerksamkeit darauf richten: was eben die besondere Betrachtung der Geburt des Erlösers, so wie der Apostel sie hier beschreibt, für einen Werth für uns habe. 1. Wenn er zuerst sagt: „als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, geboren vom Weibe,“ so ist eben unser erster Gedanke wol der: von einer Sterblichen konnte auch kein anderer geboren werden, als wieder ein Sterblicher, und so werden wir auch gleich von der Geburt des Erlösers hingeführt auf seinen Tod, wie auch anderwärts geschrieben | steht: „Darum mußte Er Fleisches und Blutes theilhaftig werden, wie alle Menschenkinder, damit Er sterbe und durch seinen Tod diejenigen erlösen könnte, die aus Furcht des Todes ihr ganzes Leben lang Knechte bleiben sollten.“ Aber als solch sterblich Geborner müssen wir auch das uns in Erinnerung bringen, daß Er allem dem ausgesetzt war, was wir im täglichen Leben die Zufälligkeiten des irdischen Lebens zu nennen pflegen. Unter diese scheinbaren Zufälligkeiten gehört denn auch jenes große, so weit unsere Betrachtungen reichen, allgemeine Gesetz des irdischen Lebens, daß eine große Menge von denen die geboren werden auch wieder zeitig, und ehe noch der Geist sich in ihnen entwickeln konnte scheiden müssen. Wird Er, wenn wir so den sterblich gebornen Erlöser betrachten, daß Er eben so wie jeder andere Fleisch und Blut angenommen hatte, auch diesem unterworfen und ausgesetzt, und wir sollen uns die Möglichkeit denken, Er hätte in den ersten Tagen das Zeitliche wieder verlassen müssen: so vermögen wir diese Vor11–12 Vgl. Eph 1,9f; 3,9

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stellung nicht fest zu halten, und der Glaube stößt sie von sich. Aber was liegt darin, wenn wir es tiefer untersuchen? Offenbar ist der Glaube daran, daß das zarte Leben des Erlösers mußte geschont und bewahrt werden, schon der erste Teil unsers Glaubens an die göttliche Vorsehung in Beziehung auf das Reich Gottes: wie sie im ersten Anfang über dasselbe waltete daß der, der in die Welt gesandt war, um dasselbe zu stiften, nicht eher aus der Welt gerufen werden konnte, bis sein Werk so weit gediehen war, daß es fortbestehen konnte; eben so waltete die göttliche Vorsehung von den ersten Tagen an über dies himmlische Gewächs. Und was auch geschehen möge in der Welt, das ist dasselbige Vertrauen, welches wir zum Leben des | Erlösers haben, welches uns versichert, nichts könne geschehen, wodurch das Werk Gottes rückgängig gemacht werde, nichts könne geschehen, wodurch sein Reich auf Erden einer Gefahr unterliegen müsse, wodurch es überwunden werden könne, von allem was ihm entgegenstehe, sondern Alles was geschieht, geschieht um denen die Gott lieben, um denen die in das Leben des Erlösers miteingepflanzt sind, wie sie eingepflanzt sind in seinen Tod, um denen zum Guten mitzuwirken. Aber fragen wir nun weiter, wie geschah es denn, daß dies zarte, allem demselbigen, wie alle andern ausgesetzte menschliche Leben des Erlösers bewahrt und verschont blieb?: so konnte es eben nur geschehen durch den Dienst und die Wege derer, welchen dies Leben anvertraut war, und so werden wir denn zurückgeführt, auf dies große, eben so sehr natürliche als geistige Verhältniß, vermöge dessen immer das neue Geschlecht der Menschen anvertraut ist der Liebes Sorge und Pflege des früheren. Das ist wahr, daß der Erlöser, wie Er zur Welt geboren war als ein Menschenkind, noch nicht konnte seine Thätigkeit zum Heil der Welt beginnen, daß Er erst mußte, – wie von ihm geschrieben steht – zunehmen, wie an Alter, so an Weisheit und Gnade bei Gott und Menschen; aber Er mußte doch ein solcher werden, und Er durfte nicht irgend etwas anders werden, und was Er wurde, das wurde Er doch durch den Einfluß derer, welchen Gott ihn anvertraut hatte. | Wenn nun nicht der Glaube wäre gewesen, an die Wahrheit der göttlichen Verheißungen, wenn nicht der Glaube gewesen wäre, daß eben die in dem Volke des alten Bundes noch aufbewahrte Erkenntniß Gottes zu einem größern und herrlicheren Reiche Gottes auf Erden sollte ausgebildet werden, wenn nicht dieser Glaube gewesen wäre, und auch in denen gewesen wäre, welchen das Leben des Erlösers anvertraut war: wie hätte Er anders können, als gerade nur nicht auf solche Weise wie andere 16 miteingepflanzt] miteinpflanzt 15–17 Vgl. Röm 8,28 auf 1Sam 2,26)

23–24 der Menschen] den Menschen

16–17 Vgl. Röm 6,5

26–28 Vgl. Lk 2,52 (darin Bezug

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Menschenkinder, sondern auf eine auch in seinem menschlichen Leben sich fortsetzende übernatürliche Weise derjenige werden, der Er geworden ist? Darum meine a. Fr. ist eben dies Fest auch unter uns ein besonderes Fest des schönen Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern. Was wir alle thun können und sollen für das künftige Geschlecht, alle, und nicht nur die welchen die Jugend anvertraut ist durch die Bande des Bluts, sondern Alle, die auf dieselbe lebendig und geistig wirken können, was wir können dazu thun um sie dazu vorzubereiten, daß sie das Leben des Erlösers in sich aufzunehmen vermögen, das geschieht nur vermöge desselben Glaubens, der auch der Pflege und Sorge des zur Welt gebornen Erlösers zum Grunde liegen mußte: Darum ist eben dies Fest ein so eignes Fest der Freude, für das schönste und herrlichste Verhältniß welches uns Alle ohne Ausnahme angeht, – denn wer hätte nicht mit der Jugend zu schaffen, und lebte nicht auf irgend eine Weise für sie mit ihnen – für unsere Wirksamkeit im Reiche Gottes. Aber eben so gewiß ist auch dies, daß wenn unsere Liebe und Sorge wesentlich | einen andern Grund hätte, und wesentlich etwas anderes wäre als die Sorge und Treue, welche die Mutter und der Vater des Erlösers an seiner Kindheit ausübten, wenn sie etwas anderes wäre, so könnte sie uns nur etwas Verderbliches seyn, wodurch nicht dem Leben des Geistes vorgearbeitet würde, daß er kräftig werde, sondern wodurch nur auf menschliche Weise die menschliche Eitelkeit genährt und gepflegt und das Vergängliche und Irdische über das Geistige erhoben würde. Lasset uns m. g. Fr! hierbei zweierlei besonders nicht verhehlen. Einmal dies. Wie sehr wir auch überzeugt sein mögen von dem Verderben der menschlichen Natur, von der Unvermeidlichkeit, mit welcher Jeder der in das irdische Leben geboren ist, mit Ausnahme jenes Einen der Sünde anheim fällt, wir müssen wol sagen, es müsse doch gewesen seyn, ein unzerschnittener Faden, vom ersten Anfang des menschlichen Geschlechts an, woran der Zusammenhang desselben mit dem göttlichen Leben, mit derjenigen göttlichen Mittheilung, wodurch der Mensch ein lebendiger Geist wurde, ungestört fortging von einem Geschlecht zum andern; eben diese Kraft der Liebe war doch noch dieselbe, die sie von Anfang an gewesen war, und durch diese von dem geistigen Leben durchdrungen, und auf sie sich beziehende Liebe war auch das göttliche Ebenbild im Menschen, wenngleich größtentheils zerstört, wenngleich unkräftig in jeder einzelnen Beziehung, die wir ins Auge fassen mögen, doch keinesweges aufgehoben, und vernichtet: denn eben diese Liebe, vermöge welcher Gott genannt werden will, als der Vater, war dies Mittel, wodurch das Heil der Welt durch das Fleisch gewordene Wort, konnte erreicht werden. Freilich sagen wir eben deswegen weil in dem Erlöser jene Fülle der Gottheit wohnte, schon von seiner Geburt an, | indem Er immer Alles, was die Sündlichkeit derer, die 38–39 Vgl. Joh 1,14

40 Vgl. Kol 2,9; ferner 1,19

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ihn umgaben[,] hätte an ihn bringen wollen, von sich gewiesen hat, auch dadurch hätte Er nur versucht werden können, freilich versucht werden müssen, aber versucht werden können ohne die Sünde; aber doch werden wir sagen: wenn Er sich nicht hätte der Liebe mit Wohlgefallen zuwenden können die von Anfang seines irdischen Lebens ihn trug und pflegte, so wäre sein eigenes Leben in seinem ersten Anfang an, schon ein, in seinem ersten Keime verletztes gewesen. Und so werden auch wir denn keine bessere Prüfung uns selbst auferlegen können, und es wird nichts seyn, woran wir auf so einfache Weise ermessen können, wie wir selbst zu dem göttlichen Leben, welches der Erlöser wiedergebracht hat, stehen, als wenn wir uns untersuchen in Beziehung auf unsere Wirksamkeit an der Jugend, ob auch unsere Liebe und Treue von der Art ist, daß das höhere Geistige was in ihr vorhanden ist, sich derselben mit Wohlgefallen zuwenden kann, daß wir sie mit Frieden und mit Freude und Ruhe dem entgegenbringen, was ihnen freilich immer nur durch die Wirkung des göttlichen Geistes aufgehen kann, aber daß wir doch mit Liebe und Treue den Boden bearbeiten der den Saamen des göttlichen Wortes aufnehmen kann, und den Boden reinigen von jedem Unkraut das dem Gedeihen des göttlichen Saamens hätte wehren können. Und was kann uns zu größerer Aufmunterung hierzu dienen, als die jährliche Wiederkehr dieses schönen Festes, indem wir uns dadurch erinnern, was menschliche Treue an dem Erlöser thun mußte und thun konnte, um uns in dem Verhältnisse zu denen, die auch zum Reiche Gottes herangebildet werden sollen, so zu stellen, daß wir wissen, sie sollen in sein Leben hinein wachsen, ihre Kindheit in die seinige, damit sie auch zu ihrer Zeit das männliche Alter Christi in sich aufnehmen können. Und wenn wir so in diesen fest|lichen Tagen unsere Liebe zur Jugend reinigen, das Gottgefällige darin stärken, und sie zu läutern suchen von dem was noch darin alles sinnlich und eitel seyn kann, dann werden wir ein uns selbst und dem künftigen Geschlecht zum Heil gereichendes Weihnachtsfest gefeiert haben. Aber lasset uns auch das Zweite nicht übersehen, nämlich dies: wenn der Erlöser nicht gewesen wäre das ewige Wort, welches Fleisch wurde, so hätte auch alle Liebe und Treue ihn nicht zum Erlöser machen können, das mußte gegeben seyn von Oben. Und eben so finden wir darin auch wieder die Grenzen in unserer Wirksamkeit für die Jugend. Mittheilen können wir ihr nicht, wenn wir nicht desselben theilhaftig geworden sind, durch die Gnade Gottes, das Leben Christi! unser Werk kann es nicht seyn. Aber fragen wir, wie kommen sie dazu? so wissen wir ja, was darüber unser gemeinsamer Glaube ist. Nicht wird in Jedem wieder auf ähnliche Weise, wie im 21 dem Erlöser] den Erlöser 2–3 Vgl. Hebr 4,15

25 Vgl. Eph 4,13

32 Vgl. Joh 1,14 im Kontext von 1,1f

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Erlöser das Wort Fleisch, nicht wird der Einzelne auf wunderbare Weise aus einem Kinde der Erde, ein Kind des Lichts; sondern es ist die gewaltige Kraft des Worts, eben des ewigen Worts, das in der Person des Erlösers Fleisch geworden ist, es ist die Gemeinschaft der Christen, in welche eben dies ewige Wort gesandt ist, und welches seine Stelle vertritt in der Welt, seitdem Er aus derselben geschieden ist, durch welche wir die Wirksamkeit des göttlichen Wortes erforschen, der Glaube kann nur kommen aus der Predigt die wir Alle ablegen, nicht das Werk eines Einzelnen kann es seyn, sondern das Werk des gemeinsamen Lebens, des Gesammteindrucks den die christliche Welt auf das jugendliche Gemüth macht. Und so haben wir denn freilich jeder seinen Theil daran weil nur aus unserm Zusammenseyn und Wirken jene Gemeinschaft bestehen kann, aber Keiner einen besonderen, und Keiner kann den seinigen ermessen. Und darum nur um | so kräftiger wird unsere Gemeinschaft das Bild des Erlösers darstellen, und nur in dem Maaße, als wir zu Einem lebendigen Ganzen uns verbinden, und als überall aus unserer Thätigkeit der Geist hervorscheint, der seine Wohnung nehmen soll in der menschlichen Seele, nur in dem Maaße kann das Werk Gottes am künftigen Geschlechte gedeihen. 2. Aber lasset uns auch das Zweite noch betrachten, was der Apostel sagt, daß nämlich, als die Zeit erfüllet ward, Gott seinen Sohn sandte, unter das Gesetz gethan. Dies m. a. Fr. war ein ganz eigenthümliches und besonderes Verhältniß, worauf sich auf eine vorzügliche Weise, auch die Worte des Apostels „als die Zeit erfüllet war“ beziehen. Der Erlöser konnte nicht anders als unter das Gesetz gethan seyn, denn Er war für seine Person, wie Er es selbst bestimmt sagt, gesandt ausschließlich zu den verlornen Schaafen aus dem Hause Israel; aber das Gesetz unter welches Er gethan war, dessen Reich sollte zu Ende gehen, das sollte bald aufhören in demselben Werth und Wirksamkeit zu bestehen, weil überall das Gesetz der Welt Raum geben sollte dem Gesetz des Glaubens. Das wußte der Erlöser, das sah sein geistiges Auge vorher, es gehörte ganz wesentlich zu den Werken, von welchen Er sagt, daß sein himmlischer Vater sie ihm zeige, aber doch war Er nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu ergänzen, und es so lange aufrecht zu erhalten, als es überhaupt noch bestehen konnte. Aber eben darum konnte Er nicht eher zur Welt gegeben werden, als bis die Zeit in dieser Beziehung erfüllt war, bis daß nicht mehr ein solcher Widerspruch miteinander bestand, wie es früher würde der Fall gewesen seyn, daß Er 5 welches] möglicherweise zu korrigieren in welche 7 Vgl. Röm 10,17 32–33 Vgl. Mt 5,17

25–27 Vgl. Mt 15,24; ferner 10,6

31–32 Vgl. Joh 5,20

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nicht durch seine eigene That das Gesetz aufheben sollte, und daß doch das Ende desselben herbeigekommen war. | Von dieser Betrachtung können wir wol nicht umhin auf unsere eigene Verhältnisse hinzusehen; denn es ist mit uns, m. g. Fr. eben so. Wir alle sind auch unter das Gesetz gethan, nicht mehr unter ein solches, welches wir neben der Gerechtigkeit die aus dem Glauben kommt, und abgesondert von demselben, noch könnten für ein Gesetz halten; in dem Sinn, daß die Befolgung desselben uns gerecht mache vor ihm; aber wir sind unter ein Gesetz gethan, weil ohne ein solches das menschliche Leben in seiner Unvollkommenheit unmöglich bestehen kann. Aber eben deswegen, weil alle menschlichen Gesetze nur gemacht sind für den Zustand der Menschen, der schon da ist, weil ohne ein solches das menschliche Leben in jener Unvollkommenheit unmöglich bestehen kann. Aber eben deswegen, weil alle menschlichen Gesetze nur gemacht sind für den Zustand der Menschen, der schon da ist, weil sie hervorgerufen werden durch die Gebrechen und Fehler, welche sich schon gezeigt haben, so giebt es keins, dem nicht sein Ende bevorstände früher oder später, so giebt es keins, welches nicht verwandelt werden müßte, aus einer unvollkommnen in einer vollkommenen Gestalt; aber darum lasset uns fest daran halten, so wenig der Erlöser dazu gekommen ist das Gesetz aufzulösen, so wenig kann irgendwer berufen seyn das Gesetz aufzulösen, unter welches er gethan ist. Daß es sein Ende erreicht, das muß eben so in allen künftigen Zeiten das Werk seyn, welches ohne einen menschlichen Willen geschieht, welches sich von selbst ergiebt, wie sich zu jener Zeit das von selbst ergab. Und wenn Jemand sich bewußt ist der Unvollkommenheit des Gesetzes, unter welches er geth[an] ist, und wenn er auch das Bessere weiß an die Stelle des andern zu denken, der ist doch zu nichts anderem berufen, als wie der Erlöser sagt, das Gesetz zu ergänzen, und dadurch aufrecht zu erhalten, von dem Buchstaben in den innern Geist desselben zu dringen, damit es so seine heilsame Wirkung thue, wie der Erlöser that. Dann wird von selbst, ohne die That irgend eines einzelnen Menschen, aber durch das Zusammenwirken menschlicher Kräfte, ein Vollkommenes an die Stelle des Unvollkommenen treten. Wie kann es eine größere heilsamere Veränderung in menschlichen Dingen geben als die, welche der Apostel beschreibt im Zusammenhange mit den Worten unsres Textes „als wir Kinder waren da wa|ren wir gefangen unter den Satzungen, als aber Gott seinen Sohn sandte, da geschah es um die zu erlösen die sich in diesem Zustande der Knechtschaft befanden, damit sie 23 sich von selbst] von sich selbst 32 Vollkommenes] Vollkommenes, 6 Vgl. Röm 1,17; auch 3,22 1 Vgl. Gal 4,3–5

25 geth[an]] Blattrand durch Abriss beschädigt

19–20 Vgl. Mt 5,17

27–28 Vgl. Mt 5,17

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die Kindschaft empfingen.“ Das war die größte Veränderung, welche mit dem menschlichen Geschlechte hervorgehen konnte, daß der Geist befreit wurde, von dem Gefangenseyn unter den Satzungen, und daß Gott offenbarte die neue Satzung, welche eine Befreiung war von den Werken des Gesetzes und gegründet auf den Glauben. Und wie gering muß uns jede Veränderung scheinen, welche auf dem Gebiete erfolgen muß, wo die Satzung immer Satzung bleibt, aber ohne daß wir sie ansehen als einen Zustand der Knechtschaft, eben weil wir berufen sind nach Weisheit und Treue das äußerliche Gesetz dem geistigen Zustand der Menschen angemessener zu machen, und in Übereinstimmung zu bringen mit der Freiheit der Kinder Gottes. Aber eben deswegen, weil alle diese Veränderungen um so geringer sind, als jene, so dürfen sie auch um so weniger auf eine die Kraft des Gesetzes zerstörende Weise erledigt werden. Und wenn wir so den Erlöser ohnerachtet Er unter das Gesetz gethan war, und sich beständig bekannt hat als der, der unter das Gesetz gethan sei, – aber freilich eben so nothwendig auch alles, was nur Menschensatzung war, von sich weisen mußte, als Er sich auf der andern Seite berufen fühlte das Gesetz zu vollenden und zu ergänzen, – wenn wir, sage ich, den Erlöser betrachten, so wirkend und lebend in der Welt: wie sollten wir uns nicht freuen daß uns ein ähnlicher Beruf geworden, und daß wir auch die irdischen Angelegenheiten in denen wir leben und wirken nicht suchen sollen, auf andere Weise zu größerer Vollkommenheit zu bringen, als in der Gewöhnung | zu bleiben, zu welcher wir unser Leben unter das Gesetz gethan, aber auch das Gesetz zu vollenden. Und unser geselliger Zustand in der Welt kann sich nur vollenden dadurch, daß immer mehr aller anscheinende Widerspruch, – und er kann nicht anders als nur scheinbar seyn, – aufgehoben werde, zwischen dem Gesetz des Glaubens, aus dem wir allein unser geistiges Leben haben, und dem Gesetz durch das wir unsere irdischen Angelegenheiten besorgen, damit auch darin der menschliche Geist sich spiegelt, damit auch darin wir als solche erkannt werden, welche heranreichen zur Ähnlichkeit mit dem vollkommenen Mannesalter Christi. – So m. g. Fr.! so lasset uns ihn begleiten durch seine ganze irdische Wirksamkeit, damit die unsrige immer mehr der seinigen ähnlich werde; so lasset uns unter einander erbauen zu dem Menschen Gottes, durch welchen

31 Mannesalter] Mannesarter 10–11 Vgl. Röm 8,21

17–18 Vgl. Mt 5,17

30–31 Vgl. Eph 4,13

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sich das des Fleisch gewordenen ewigen Worte Gottes offenbart, auf daß wir nichts anders seyen, als, Er in uns, und wir in ihm. Amen! Lied 127.

1 das des Fleisch gewordenen ewigen Worte Gottes] Kj das Fleisch gewordene ewige Wort Gottes oder das [scilicet: Wort] des Fleisch gewordenen ewigen Wortes Gottes 1 Vgl. Joh 1,14 2 Vgl. Joh 15,4.5 3 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 127: „Er kommt, er kommt, der starke Held“ (Melodie von „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich“)

Am 26. Dezember 1832 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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2. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 3,27–28 Drucktext Schleiermachers; Predigten von Dr. F. Schleiermacher (Reihe 4) 1833, S. 171–189, Nr. X Keine Drucktext Schleiermachers; Christliche Festpredigten, Bd. 2 (7. Sammlung) 1833, S. 123–146 (s. KGA III/2); Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, S. 343–356; 21843, S. 343–356. – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 96–112. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 268–279. – Kleine Schriften und Predigten, Bd. 3, ed. Gerdes u. Hirsch, 1969, S. 205–218 Keine

Am zweiten Weihnachtstage 1832. Lied 145. 154. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallens. Amen. Text. Galater III, 27. 28. „Denn wie viele euer getauft sind, die haben Christum angezogen. Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu.“ M. a. Z. Was wir hier izt mit einander vernommen haben, erinnert uns an die unter den Menschen statt findende mannigfaltige Ungleichheit, von welcher wir wohl sagen müssen, eben so wol als der Tod hängt auch sie mit der Sünde zusammen; sie ist deren Werk und ihr Sold, um so mehr als sie fast überall der Tod des Friedens wird, | 2 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 145: „Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich“ (in eigener Melodie); Nr. 154: „Von dieser Erden Staube“ (Melodie von „Nun lob, mein Seel, den Herren“) 3–4 Lk 2,14 als Eingangsvotum 12–14 Vgl. Röm 6,23

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welcher so genau zusammenhängt mit der Verherrlichung Gottes, und der Tod der Liebe, durch welche sich am meisten sein Segen offenbart. Je mehr sich die Menschen jenen Arten des Verderbens hingeben, die am meisten Einfluß auf das gemeinsame Leben ausüben, wie Eigennuz, Herrschsucht und Eitelkeit, um desto mannigfaltiger verzweigt sich auch die Ungleichheit, und um desto drükkender lastet sie fast ohne Ausnahme auf Allen, nicht minder auf denen, welche erhoben, als auf denen, welche niedergehalten werden. Und wo wohlwollende menschliche Einbildungskraft träumt von einem bessern Zustand der Dinge auf Erden, da richtet sie auch gleich ihren Blikk auf diese Ungleichheit als auf die Bedingung, unter welcher solcher nicht statt finden könne, und gestaltet sich bald so bald anders eine Aufhebung derselben und die Wiederkehr einer brüderlichen Gleichheit unter denen, denen Gott die Erde gegeben hat, daß sie sie beherrschen sollen. Die Worte unsers Textes nun reden auch von einer Aufhebung dieser Ungleichheit, indem sie diejenigen Gestaltungen derselben herausheben, welche den Lesern des Apostels als die größten erscheinen mußten, hier ist kein Jude und als dem von Gott auserwählten Volke angehörig, besser als ein anderer, hier ist kein Grieche, bei dem verderblichen Wahn des Aberglaubens und Gözendienstes hergekommen, und dadurch tief unter jenen gestellt, hier keiner ein Freier, gewohnt über andere zu gebieten, hier keiner ein Knecht und darum verachtet und gering geschäzt als ein lebendiges Werkzeug nur für den Willen Anderer, hier ist keiner ein Mann, damals mit einer fast unbegrenzten Willkühr gebietend auch über die Gefährtin seines Lebens, hier keiner ein Weib, der Willkühr eines Man|nes unterworfen, und deshalb auch in dem Reiche Gottes weniger als jene; in Christo Jesu seid ihr Alle Eins. Und dies, m. a. Fr., wird in den Worten des Apostels nicht bezogen auf irgend etwas einzelnes oder besonderes, was der Erlöser dazu gethan hätte, sondern nur auf das, was er gewesen ist, auf unsern Glauben an ihn als den ins Fleisch gekommenen Sohn Gottes, darauf, daß wir ihn anziehen und unser Leben in das seinige hingeben. Und so werden wir wohl unsere festliche Stunde auf eine würdige und angemessene Weise ausfüllen, wenn wir mit einander betrachten, wie die Erscheinung des Erlösers in der Welt der rechte Grund zur Wiederherstellung der wahren Gleichheit unter den Menschenkindern sei. Laßt uns zuerst uns die Frage beantworten, wie und wodurch der Erlöser der Grund 1 Verherrlichung] Verrherrlichung 23–24 Schleiermacher bezieht sich mit dieser Formulierung auf Aristoteles, vgl. vor allem Politica I 4 (1253b), Opera ed. Causabon Bd. 2, S. 179; Politica ed. Ross S. 5f.

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derselben ist; und dann zweitens, wie und auf welche Weise sich nun auch die Gleichheit der Menschen durch ihn wieder herstellt. Das sei es, wozu der Herr uns seinen Segen verleihen wolle in dieser Stunde der Betrachtung.

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I. Wenn wir, m. a. Z., zuerst fragen, wie und wodurch ist die Erscheinung des Erlösers ein solcher Grund zur Wiederherstellung der Gleichheit unter den Menschen, und uns dabei eben diese mannigfaltige vielgestaltige Ungleichheit vor Augen schwebt: so werden wir leicht darüber einig werden, daß wir sie gewöhnlich auf zweierlei zurükkführen, wenn wir nämlich von demjenigen absehen, was seinen unmittelbaren Grund in der Einrichtung der menschlichen Natur hat, und mehr eine Verschiedenheit ist als eine eigent|liche, einen Vorzug des Einen vor dem Andern begründende, Ungleichheit. Jugend und Alter, was ist das anders als eine Verschiedenheit des Orts auf unserer Laufbahn, welchen zu derselbigen Zeit verschiedene Menschen einnehmen? aber wo jezt der Eine ist, da war der Andere vorher, und jener kommt hin, wo dieser früher gewesen ist. Die Mannigfaltigkeit, in welcher sich in verschiedenen Gegenden der Erde der Mensch nach Leib und Seele darstellt, was ist sie anders als nur eine Verschiedenheit in der Art und Weise, wie sich der menschliche Geist, das menschliche Leben, auf diesem ihm hier beschiedenen Wohnplaz offenbart? Mann und Weib, was sind das anders als zwei von Gott zum Fortbestehen des menschlichen Daseins auf Erden geordnete Gestaltungen, die eine eben so unentbehrlich und wesentlich als die andere, und jede ausgerüstet mit eigenen gottgefälligen Kräften! Alles andere aber führen wir zurükk einestheils auf Vorzüge, die dem Menschen einwohnen durch seine Geburt, anderntheils auf solche, welche er sich während seines Lebens erwirbt, auf welche Weise es auch sei durch eigene Thätigkeit oder mehr durch die Anderer. Aber wenn wir beides genau ins Auge fassen wollen, wie wenig vermögen wir das eine vom andern zu unterscheiden! wie uneinig sind wir immer selbst darüber, und können zu keiner festen Entscheidung kommen, was von den Vorzügen, welche der einzelne Mensch in seinem Leben darstellt, nun wirklich als Keim in seinem ersten Dasein eingeschlossen sein Eigenthum war, und was ihm erst zugebracht wurde in seinem Leben durch Erziehung und durch Verkehr mit andern Menschen. Doch mögen wir beides unterscheiden können oder nicht, mag beides sich auf bestimmte oder auf uns verborgene Weise mit | einander verbinden, auf dies beides führen wir alles zurükk. Nun wohl! und wenn wir uns nun fragen, wie und wodurch ist der Erlöser der Grund, daß diese Ungleichheit aufhören soll: was können wir anders als die einfache Antwort geben, Er hatte

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einen Vorzug durch die Geburt vor allen Menschen, gegen welchen alle andern Vorzüge dieser Art verschwinden und nicht mehr in Betracht gezogen werden können, so daß sie Alle unter einander gleich sind ihm gegenüber; und er hatte einen Vorzug in der Entwikklung seines ganzen menschlichen Lebens bis zur Vollkommenheit seines männlichen Alters, welcher nirgend anders als bei ihm gefunden wird, so daß auch deswegen unter ihm alle einander gleich sind. Wie wäre es möglich, m. a. Fr., daß wir das Fest der Geburt des Erlösers feiern könnten, seine Erscheinung wirklich in das innere des Gemüths aufs neue aufnehmen, ohne hiervon durchdrungen zu sein! Allerdings das ist unser gemeinsamer Glaube, daß er geboren ist als derjenige, welcher von Gott den Menschen gegeben war zum Heil und zwar als der einige seiner Art, daß er geboren ist als der eingeborne Sohn Gottes, als das Fleisch gewordene Wort, als der, in welchem, so lange er auf Erden leben und wandeln sollte, die Fülle der Gottheit wohnete. Aber wie? kann man sagen, gehörte er nicht doch einem einzelnen Volke besonders an? war dies nicht eben deswegen das Volk der göttlichen Wahl, weil der Erlöser der Welt aus demselben sollte geboren werden? Und ist daraus nicht erst eine neue Ungleichheit entstanden? Denn standen nicht, eben weil er diesem Volke besonders angehört, auch alle die seines Stammes und ihm so viel näher verwandt waren nach der menschlichen Natur, auch ihm dem | göttlich bevorzugten eben so viel näher, und hatten mithin einen großen Vorzug vor allen andern? Der Erlöser selbst scheint dies ja zuzugestehen und zu bestätigen, indem er sagte nicht nur, sondern auch darnach handelte und lebte, daß er selbst nur gesandt sei zu den verlorenen Schaafen vom Hause Israel. Aber wie sah er selbst dies an? als eine nothwendige, in dem göttlichen Willen gegründete Beschränkung seiner Wirksamkeit auf Erden, eine Beschränkung, die eben darin ihren natürlichen Grund hatte, daß seine Verhältnisse sollten rein menschliche und sein ganzes Leben allen Gesezen des menschlichen Daseins sollte untergeben sein. Nur als solche Beschränkung sah er es an, daß er als Einer auch unter seinem Volk bleiben sollte; denn seinen Jüngern gab er, als er von der Erde schied, den Auftrag, sie sollten sich in dieser Beschränkung nun nicht mehr halten, sondern sich vertheilen und ausgehen unter alle Völker, und sie zu Jüngern machen und sie lehren das zu thun, was er gelehrt und befohlen hatte. Und nur diejenigen aus dem Volke des alten Bundes, welche dies eben so als eine Beschränkung ansahen, konnten gläubig werden an den Erlöser, und mußten immer zugleich darüber zur Klarheit kommen, daß dies, zum Volk des alten Bundes 5–6 Vgl. Eph 4,13 13–14 Vgl. Joh 1,14 14–15 Vgl. Kol 2,9; ferner 1,19 27 Vgl. Mt 15,24; ferner 10,6 33–37 Vgl. Mt 28,18–20

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zu gehören, gar kein Vorzug sei, der ihnen an und für sich einen besonderen Werth gebe, sondern daß sie als solche nur unter derselben Sünde, der alle Menschen unterlagen, zusammengehalten waren, damit und weil aus ihnen sollte der Sohn Gottes geboren werden. Aber noch ein anderes scheint uns freilich übrig zu bleiben, als eine erst durch den Erlöser entstandene wesentliche Ungleichheit. Wenn irgendwo unter einem Geschlecht | der Menschen das Wort des Lebens schon lange gewohnt hat; wenn der mildernde göttliche Geist unter einem Volke schon von einem Geschlecht zum andern sich wirksam bewiesen hat; wenn die schönen Ordnungen des geistigen Tempels Gottes das menschliche Leben auf vielfältige Weise gereinigt haben und veredelt: erfreuen sich dann nicht diejenigen eines wahren Vorzuges durch ihre Geburt, welche unter einem solchen das Licht der Welt erblikken? ist ihnen nicht schon vor ihrem Eintritt in die Welt ein Segen bereitet, von dem diejenigen weit entfernt sind, wir haben hier nicht von denen zu reden, zu welchen das Wort Gottes noch gar nicht durchdrungen ist, aber auch die eben erst den göttlichen Schein desselben aufgefangen haben, zu welchen erst seit kurzem die erfreulichen Töne der Boten, welche den Frieden bringen, gekommen sind? So scheint es uns freilich, m. a. Fr.! aber wer von uns wird sich nicht auch zu erinnern wissen, daß wir uns, wenn uns so vielerlei Mängel überall in der irdischen Kirche des Erlösers entgegentreten, mit rechter Inbrunst zurükkgesehnt haben nach jenen Zeiten der ersten Liebe! Wie oft wenden wir uns nicht mit eben soviel Beschämung als ehrfurchtsvoller Bewunderung jenen Anfängen des Evangeliums zu, worin sich uns ein Eifer zeigt, von dem wir das Gleiche vergeblich unter uns suchen, eine Gewalt des göttlichen Wortes, die Menschen frei zu machen, welche leicht auch die am meisten verführerischen Bande löst, durch welche die Menschen zurükkgehalten werden könnten, die Worte des Friedens nicht zu vernehmen, noch das Leben aus Gott zu ergreifen! wie scheint uns da die Kraft des Evangeliums so viel größer, so viel reiner, so viel stärker, als ob es in die|sen späteren Zeiten vor Alter geschwächt wäre. Aber das eine ist eben so einseitig als das andere. Wie das Wort des Herrn ewig ist, so ist auch seine Wirkungsart eine ewige, und die Zeit für sich allein kann sie weder erhöhen noch herunterbeugen. Ja wenn das göttliche Leben dem Menschen angeboren werden könnte, dann möchte etwas sein an dem ersten; und wiederum wenn dasselbe veralten könnte und abnehmen, wie die irdische Erscheinung des Menschen am Ende aus Schwäche vergeht, dann wäre etwas wahres an dem andern; aber das eine ist eben so wenig wahr als das andere. Alles Leben, welches aus der Fülle 2–4 Vgl. Gal 3,22f; ferner Röm 11,32

19 Vgl. Röm 10,15 (darin Jes 52,7)

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des Erlösers entsprießt, ist ewig jung und frisch; die Aeußerungen desselben können erleichtert werden durch Uebung, und auch wieder erschwert, wenn die irdischen Werkzeuge ihre Beweglichkeit verlieren: aber was uns auf diese Weise alt zu sein scheint auf der einen oder unreif auf der andern Seite, das ist nicht das seinige, sondern das unsrige. In uns ist und bleibt die Ungleichheit, in ihm ist sie nicht, vielmehr auch diese soll in ihm und durch ihn verschwinden; ja in sofern wir in ihm sind, ist sie auch gewiß verschwunden. Und was sollen wir von der einzigen Vollkommenheit sagen, welche sich uns in der Erscheinung des Erlösers darstellt, wenn wir sie verfolgen von den ersten Anfängen seines Lebens an bis zu seinem öffentlichen Wirken und zur Vollendung seines irdischen Berufs. Ich sage, von den ersten Anfängen des Lebens an: denn wenn uns auch von diesen keine einzelnen Züge überliefert sind, o wie leicht und gern ergänzt sich der Glaube diesen Mangel, indem er sich an die Worte hält, daß das Kind zunahm an Weisheit | und Gnade bei Gott und den Menschen! In welches liebliche Bild kindlicher Reinheit und Unschuld, freudiger Entwikklung seiner geistigen Lebenskraft gestalten wir uns das Heranwachsen des Erlösers, nicht sowol vermöge reinerer Umgebung beschüzt gegen alles störende und verführerische von einer Stufe zur andern, sondern vielmehr noch von innen her alles von sich weisend, was auch nur äußerlich den Hauch der Sünde an die Oberfläche seines Lebens bringen könnte. Und sehen wir nun auf sein reiferes Alter, welche Vollkommenheit könnten wir der seinigen vergleichen, die er auf das allereinfachste ausdrükkt, wenn er sagt, Ich und der Vater sind Eins; oder was eins und dasselbige ist, wenn er von sich sagt, Der Sohn kann nichts thun von ihm selber, aber die Werke, die ihm der Vater zeigt, die thut er, und der wird ihm immer größere zeigen. So war sein ganzes Leben von der ersten Entwikkelung bis zu seiner vollen Kraft und Reife nichts als ein immer weiteres, immer helleres Umherschauen und Arbeiten von einem Augenblikk zum andern an dem geheimnißvollen ewigen Werke Gottes, welches zu vollbringen er gekommen war. Mit dieser Reinheit und Wahrheit, mit dieser Lebendigkeit der Einsicht, die gleich in That überging, was will sich mit ihr vergleichen? Wenn uns diese Gestalt vor Augen schwebt, wie sie den Grund und die Kraft eines solchen Lebens vom ersten Anfang ihrer Erscheinung an in sich trug: als wie unbedeutend verschwindet uns dann die sonst scheinbar so große Ungleichheit der Menschen in Absicht auf die Entwikklung und Ausbildung ihrer geistigen Kräfte! Im Vergleich mit dieser Unfähigkeit den Irrthum in sich 16–17 Vgl. Lk 2,52 (darin Bezug auf 1Sam 2,26) Joh 5,19f

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aufzunehmen, wie erscheint doch die menschliche Weisheit, die so | leicht und so begeistert ihre Einfälle über die Natur und den Zusammenhang der Dinge für Wahrheit hält, ohnerachtet gewöhnlich schon das nächste Geschlecht sie wieder umstößt! O wie der Apostel sagt, Hier ist kein Jude, kein Grieche, kein Freier, kein Knecht, kein Mann und kein Weib: so hätte er auch sagen können, hier ist kein Weiser und kein Einfältiger, sondern in Christo Jesu seid ihr auch darin Alle Einer. Oder erscheint uns die menschliche Weisheit jemals größer als indem sie bekennt, etwas größeres ließe sich nicht denken als dies reine Gemüth, welches sich selbst Gott darbringt für die Sünden der ganzen Welt, als diese heiligende Liebe, welche das ganze menschliche Geschlecht umfaßt, um es mit ewiger Wahrheit zu durchdringen und zu sättigen, als dieser allgemeine Bund des Glaubens und der Liebe, der nur auf ihn geschlossen werden konnte! Wenn wir nun die Frage, welches denn der richtige Maaßstab sei für die noch bestehende Ungleichheit unter Jüngern des Herrn, nicht anders beantworten können als so, so viel ist jeder in der Wahrheit, und so viel wird mit seiner geistigen Kraft jeder wirken in seinem irdischen Leben, als er das Leben des Erlösers in sich wirken läßt, und als er auch wirklich anerkannt wird als ein wahrer Jünger dessen, den Gott zum Heil der Welt gesandt hat: so ist ja eben damit schon gesagt, daß der Erlöser auch hier der Grund der Gleichheit ist, denn die Ungleichheit liegt nur in uns. Er ist für Alle derselbe, allen gleich sich darbietend, gleich sich hingebend. Darum mögen wir sagen, in ihm sind alle mündig geworden, und der Unterschied zwischen den Weisen und Unmündigen hat aufgehört. Er konnte in den Tagen seines Fleisches wol sagen, Ich danke dir Va|ter, daß du es den Weisen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart: denn da redet er nur von der nichtigen und falschen Weisheit dieser Welt, wie er sie an seinen Zeitgenossen vor Augen sah; aber durch ihn werden die Unmündigen mündig, wie er selbst sagt, daß er sie durch die Wahrheit frei macht; denn wo die Wahrheit ist, da ist auch die Mündigkeit des Geistes. So ist denn keiner, der sich über den andern erheben könnte und dürfte; denn nur durch ihn sind alle von Gott gelehrt; und keiner ist, der etwas wäre durch sich selbst, sondern alle empfangen nur aus derselben Quelle den Geist, jeder nach dem Maaß, wie Gott es beschlossen hat. Sehet da, m. chr. Z., das ist der Grund, das ist die Kraft, vermöge deren der Erlöser die Ungleichheit unter den Menschen aufheben und die wahre Gleichheit unter ihnen wiederherstellen kann und soll. Aber was sollen wir sagen? Die Ursach ist da, wir müssen sie anerkennen 27–28 Vgl. Mt 11,25

31 Vgl. Joh 8,32.36

34 Vgl. 1Thess 4,9

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in dem, dessen Geburt wir als die freudigste Erscheinung, seitdem der Herr das menschliche Geschlecht auf Erden gepflanzt hat, in diesen Tagen feiern; aber wie sieht es aus um die Wirkung? Ist sie denn da, diese Gleichheit unter den Menschen? Sehen wir nicht noch überall auch da wo das Evangelium bekannt wird denselbigen Gözendienst, zu welchem die einen kriechen im Staube vor denen, welche durch einen jener scheinbaren Vorzüge über sie erhöht sind? Sehen wir nicht noch vermöge derselben Eitelkeit wie sonst einen äußerlich sehr gewichtigen Theil der Menschenkinder auf den großen Haufen herabsehn, als ob nur dieser der Nichtigkeit des irdischen Lebens verfallen wäre, da sie doch selbst, wenn sie auf den wahren Grund ihrer Selbsterhö|hung zurükkgehen wollten, sich selbst als ganz nichtig und als gar nichts anerkennen müßten! Und nicht nur zeigt sich das in dem irdischen Leben der Menschen und in ihren äußern Verhältnissen, sondern wie steht es, wenn wir auf die Gesammtheit derer sehen, welche den Namen des Erlösers bekennen[,] auch um das kirchliche Zusammenleben und Wirken? Er freilich hat zu seinen Jüngern gesagt, Ihr sollt euch nicht lassen Meister nennen, Einer ist euer Meister, Christus; ihr aber seid unter einander Brüder, und ihr sollt keinen Vater nennen auf Erden; denn Einer ist euer Vater, der im Himmel ist1. Aber was hören wir? Giebt es nicht überall solche, die sich Meister nennen lassen und zwar eben Meister in Christo, und werden sie nicht nur gar zu bereitwillig als solche anerkannt und geehrt? Und die höheren Vorsteher der Gemeinden bis zu dem hinauf, welcher sich anmaßt geehrt werden zu müssen als der Statthalter Christi, lassen sie sich nicht Väter nennen, Väter des Glaubens, verehrungswürdige Väter, als wenn das Wort Christi nicht wäre, das doch gerade für sie geredet ist? Wie weit sind wir also davon entfernt, daß die Erscheinung des Erlösers jene Ungleichheit aufgehoben hätte, und die brüderliche Gleichheit wiederhergestellt auf Erden! Und doch, wo eine Ursache ist, muß auch eine Wirkung sein; und so lasset uns dennoch fragen, wie stellt sich durch Christum die Gleichheit wieder her? II. Zuerst, was der Apostel sagt, in Christo, das heißt, in der Gemeinschaft der Gläubigen als solcher; aber | dann auch zweitens, wie bedenklich es auch scheine davon zu reden, in unsern 1

Matth. 23, 9. 10.

8 Eitelkeit] Eitelkeit, 37 Vgl. Mt 23,8–10

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irdischen und geselligen Verhältnissen; denn das erste für sich allein, m. a. Z., bietet freilich keine bedeutende Schwierigkeit dar. In Christo ist zuerst deswegen keine Ungleichheit, weil keine Vergleichung ist: denn ohne diese, was will denn die Ungleichheit sagen? Werde ich es nicht inne, fühle ich es nicht, daß ein anderer über mir steht, daß seine Erhabenheit mich drükkt: wo wäre dann für mich die Ungleichheit? und eben so auf der andern Seite, werde ich es selbst nicht inne, ist es nicht Sache meines Bewußtseins, daß ich über dem andern stehe: so ist auch in mir nicht die Ungleichheit, sondern ich stelle mich ja dem andern gleich. Aber in Christo ist keine Vergleichung und darum auch keine Ungleichheit. Denn das ist kein christliches Werk, m. a. Z., wenn wir uns einander gegenüberstellen, um uns zu messen in Christo! Nur die Kinder legen Maaß und Gewicht an das, was sie empfangen haben, und schäzen sich danach höher oder geringer. Und dasselbe wäre denn auch unser Fall. Denn wessen freuen wir uns am meisten einer an dem andern, und was sind wir vorzüglich geneigt zu bewundern einer an dem andern? Doch nur das, was der Mensch ist durch die Gnade Gottes, also das empfangene! Darüber freuen wir uns, wenn der Geist Gottes mächtig ist in dem Schwachen; das bewundern wir am liebsten, wenn der göttliche Geist einige unter uns zum besten Aller von einer Klarheit zur andern führt, und der Schwäche des menschlichen Geistes aufhilft. Und wenn wir auf den Andern sehen und uns so seiner freuen, und das mit dem Geist der brüderlichen Liebe thun: so sehen wir dann nicht zu gleicher Zeit auf uns selbst, oder fragen bei uns selbst | nach mehr oder weniger. Christi freuen wir uns in den Andern, und ihn sehen wir in ihnen; und eben dies Sehen Christi in den Menschenkindern, das füllt in solchem Augenblikk unser ganzes Dasein aus, und wir wissen nicht weiter um uns selbst. Hingegen wenn wir ein andermal auf uns selbst sehen, und das sollen wir doch? Ja wohl, m. a. Fr., dann sollen wir aber bloß auf uns selbst sehen, und nicht auf Andere; denn freilich sollen wir uns vergleichen, aber nicht mit Andern und nach menschlichem Maaß, denn das giebt dem trägen Herzen nur Gelegenheit zu tausend Entschuldigungen, sondern allein mit dem Erlöser. An ihm haben wir uns zu messen, nicht aber zu fragen, wieviel andere vom göttlichen Leben schon in sich aufgenommen haben, ob mehr oder weniger, sondern nur, ob wir auch wirklich uns ihm hingegeben haben, ob es eine Gemeinschaft des Lebens zwischen ihm und uns giebt; und diese ist an und für sich ein Gegenstand des Dankes ohne Maaß; und zu messen haben wir nur an uns selbst, ob wir darin zugenommen 19–20 Vgl. 2Kor 12,9 Röm 8,26

20–21 Vgl. 1Kor 12,7

21 Vgl. 2Kor 3,18

22 Vgl.

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haben, und wie. So giebt es denn keine Vergleichung zwischen einem von uns und Andern, und wo keine Vergleichung ist, da ist auch keine Ungleichheit. So ist denn in dem wahren Leben der Christen als solcher, wie sie Brüder geworden sind durch ihn, und von ihm allein die Macht bekommen haben Kinder Gottes zu sein, die Ungleichheit immer schon aufgehoben, weil es an allem Anlaß fehlt sie wahrzunehmen. Aber eben so auf der andern Seite kann keine Ungleichheit sein, wo keiner von dem andern streng abgesondert und getrennt werden kann; und so ist es unter den Christen. Sie sind nicht nur einander gleich als Viele, | sondern, wie der Apostel sagt, sie sind Alle Einer in Christo; keiner kann sich gänzlich von den übrigen trennen, so daß er sich ihnen gegenüberstellte für sich allein; keiner kann etwas sein ohne die andern oder sie ohne ihn. Diese beiden Worte des Apostels, das, was wir hier in unserm Texte lesen, Ihr seid alle Einer in Christo, und was er bei einer andern Gelegenheit sagt, Keiner rühme sich eines Menschen, also keiner möge sagen, ich gehöre zu Petrus, ich zu Paulus, sondern alles ist euer1, diese gehören wesentlich zusammen, denn so ist unter den Christen alles Ein gemeinsames Leben und Wirken, Ein gemeinsames Werk und Ein gemeinsamer Besiz, und eben deshalb auch Ein gemeinsames Verdienst und Eine gemeinsame Schuld. Darum wo keine Sonderung ist, da ist auch keine Ungleichheit. Aber freilich wenn dieser unselige Geist der Sonderung, des etwas für sich allein sein wollens, wenn dieser eitelste Hochmuth des menschlichen Gemüthes sich wieder anfängt der Gemüther zu bemächtigen, so daß beides entsteht, die Trennung und die Vergleichung: dann tritt auch Zwiespalt ein, und dann ist das schöne Wort des Erlösers vernichtet. Wo er ist, da ist diese Gleichheit, die jene Sonderung nicht zuläßt. Wo seine Liebe waltet, wo die einzige Regel, die er den Seinigen hinterläßt, befolgt wird, daß wir uns unter einander lieben mit der Liebe, mit welcher er uns geliebet hat: o da giebt es keine Betrachtung über irgend eine Ungleichheit, kein Bewußtsein von irgend einem minder oder mehr, sondern die Gleichheit eines seligen Friedens. Aber nun laßt uns auch noch fragen, wie es in Be|ziehung auf dies Werk des Erlösers steht, wenn wir nun auf die Gesammtheit der menschlichen Verhältnisse sehen? Denn wir sollen doch nicht, sagt der Apostel, aus dieser Welt hinausgehen wollen2, sondern in dieser 1 2

1 Kor. 3, 22. 1 Kor. 5, 30.

29–31 Vgl. Joh 13,34; 15,12 38 Vgl. 1Kor 3,21.22 39 Schleiermacher wiederholt diese falsche Stellenangabe in der 7. Sammlung, S. 141; tatsächlich handelt es sich um 1Kor 5,10.

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Welt soll das Reich Gottes gegründet werden; und wir vermögen wahrlich nicht eben jenes geistige Dasein, jenes innere göttliche Leben und die mannigfaltigen Werke, zu welchen der Mensch in dieser Welt berufen ist, die Ordnungen, unter denen das allein geschehen kann, von einander zu trennen. Fragen wir nun, auf welche Weise sich denn hier aus demselben Grunde die Gleichheit wiederherstellt: so müssen wir freilich darauf zurükksehen, was ich vorher schon in Erinnerung gebracht habe, daß das göttliche Leben ja keinem unter uns angeboren ist. Wie sehr auch im Schooß der christlichen Kirche geboren und erzogen, jeder muß es sich doch immer erst besonders aneignen; der Glaube muß ein lebendiges Ereigniß im Gemüth des Menschen werden, und mit demselben das göttliche Leben in demselben beginnen, und für Jeden giebt es eine Zeit, wo das noch nicht war, als es aber erschien, da wurde ihm seine Berufung klar. Und nun laßt uns nur denken an das eine Wort des Apostels1, Jeder bleibe in dem, worin er berufen ist; bist du ein Knecht, so bleibe ein Knecht, aber wisse, du bist ein Gefreiter Christi; dabei aber sagt, Kannst du aber frei werden, so gebrauche deß viel lieber. Wenn der Knecht ein Gefreiter Christi ist, dann ist ja die Gleichheit wieder hergestellt aus der Ungleichheit. Aber nicht etwa nur auf dies nämliche Verhältniß allein laßt uns dies Wort des | Apostels anwenden! Denn der gesagt hat, Ihr seid Einer in Christo, der hat auch in der Gesammtheit der menschlichen Verhältnisse diese Gleichheit gesehen und gefaßt, wenn er gleich damals noch keine Veranlassung hatte, davon zu reden, deswegen nicht, weil zu den Hohen und Gewaltigen der Erde das Evangelium noch nicht hindurchgedrungen war. Aber worauf beruht denn hier alles? nicht auf den Ordnungen der menschlichen Gesellschaft? Diese stellt aber der Apostel dar als ein göttliches Werk, wenn er sagt, die Obrigkeit ist von Gott geordnet. Also, ist einer darin berufen, so bleibe er auch darin; das gilt von dem einen, wie von dem andern! Eben so wie er gesagt hat, die Obrigkeit ist von Gott verordnet, und trägt das Schwert der Gerechtigkeit zum Schuze der Guten gegen die Bösen2: so sind auch alle Gewaltigen auf der Erde, die Ansehn haben, um so mehr, als sie das rechte Maaß gebrauchen, und dasjenige beschüzen, was zu beschüzen ist, sich auch keiner Ungleichheit bewußt vor ihren Brüdern in Beziehung auf den Herrn. Denn wenn sie zum Schuze der Guten gesezt sind: so dienen sie diesen und sind sich ihres rechten Verhältnisses zu ihren Brüdern ganz so bewußt, daß auch von ihnen 1 2

1 Kor. 7, 20–22. Röm. 13, 1–4.

28–29 Vgl. Röm 13,1

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gilt, was der Erlöser selbst sagt, Er sei gekommen zu dienen, und der, welcher der vornehmste sein will unter euch, der diene den andern. Und so ist auch jenes Wort des Apostels, Kannst du aber frei werden, so gebrauche deß viel lieber, nicht zu den Knechten allein gesagt, nein, es gilt den Gewaltigen und Hohen eben so gut, wie den Niedrigen. Denn wahrlich, was kann es drükkenderes | geben für ein von Gott erleuchtetes Gemüth, als wenn einer sich bewußt ist, daß er die Gleichheit aller Menschen nicht nur vor dem, der seinen Thron im Himmel hat, sondern die Gleichheit aller Menschen in dieser Gemeinschaft des Erlösers auf Erden anerkennt und nach Vermögen pflegt, was kann es, sage ich, drükkenderes geben für einen solchen, als wenn er inne wird, daß ein falsches Gefühl der Ungleichheit das Leben der Menschen noch beherrscht, und daß deshalb eine schüchterne Unterwürfigkeit so manche schöne Kräfte für das geistige Leben von recht freier Wirksamkeit zurükkhält? Darum gilt auch ihnen dies Wort, auch ihnen ist gesagt, Kannst du frei werden von solcher Last, so gebrauche deß viel lieber; glaubt ihr, daß die Zeit gekommen ist, diese einengenden Schranken, die auf viel verzweigte Weise euch trennen von euern Brüdern[,] um ein weniges zu erweitern oder hie und da niederzureißen und eure Brüder euch näher zu bringen: o so gebrauchet deß viel lieber! Und wollten wir es läugnen, könnten wir es, daß das ein seliges Werk ist, welches von einer Zeit zur andern unter christlichen Völkern immer weiter fortschreitet? Das Verhältniß zwischen Knecht und Herrn, o wie hat es sich gemildert im Laufe der Zeiten, wie viel Raum findet darin schon das Bewußtsein der brüderlichen Gleichheit zwischen denen, die im Hauswesen herrschen und denen, die da dienen! Und jene große Kluft zwischen der Gewalt, welche die Geseze giebt und aufrecht hält, und denen, die sie befolgen und gehorchen, wie weit ist sie nicht schon ausgefüllt worden, seitdem die christliche Demuth nicht aufhört zu lehren, daß auch die Weisheit in den Dingen dieser Welt keinem angeboren sei, und keiner allein der Träger dersel|ben, sondern daß, wer ihrer bedarf, sie überall aufsuchen muß und sie nehmen wo er sie findet; so daß nur durch eine Vereinigung aller menschlichen Kräfte das Gute und die wahre Zufriedenheit bewirkt werden kann, und daß hierzu jede menschliche Kraft will benuzt sein, wenn anders diejenigen, welche zur Leitung der menschlichen Dinge berufen sind, von dem Gebrauch dessen, was ihnen anvertraut ist, eine fröhliche Rechenschaft vor Gott sollen ablegen können. Ja, so geht es fort, so soll es fortgehen von einem Geschlecht zum andern; und sollte je wieder eine Zeit kommen, wo um uns her 1–2 Vgl. Mt 20,28.26f; Mk 10,45.43f 3–4 1Kor 7,21 ferner Mt 5,34 16–17 Vgl. 1Kor 7,21

8–9 Vgl. Ps 11,4; 103,19;

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menschliche Ordnungen getrübt und Ruh und Friede auch für uns gestört werde: dann werden wir an der reineren Liebe, welche das Christenthum uns einpflanzt, dann werden wir es an der größern Kraft, welche wir dem Evangelium verdanken, auch zu unserer Freude erkennen, daß der Erlöser in der That gekommen ist, die Ungleichheit und ihre unseligen Folgen aufzuheben, weil er der ist, der über Allen steht. Und so sei er deswegen uns als solcher aufs neue willkommen, denn auch er schämte sich nicht, uns Brüder zu heißen! Und weil wir alle unter einander gleich sind, weil wir nur etwas sein können durch ihn: so ist es seine mittheilende Liebe, die uns alle zu sich hinanziehen will, die uns hält und trägt, und in der wir uns bewußt werden können, daß wir mit ihm und durch ihn Gemeinschaft haben mit seinem und unserm Vater im Himmel. Amen. Lied 135, 4–6.

14 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 135: „Heiland, den uns Gott verhieß“ (Melodie von „Gott sey dank in aller Welt“ bzw. „Nun komm, der Heiden Heiland“)

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Am 30. Dezember 1832 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sonntag nach Weihnachten, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 7,24–30 Gedruckte Nachschrift; SW II/5, S. 383–393, Nr. XXXI; Zabel Keine Keine Teil der Homilienreihe zum Markusevangelium 14. August 1831 bis 2. Februar 1834

Lied 642, 1–5.

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Tex t . Marcus VII, 24–30. „Und er stand auf und ging von dannen in die Gränze Tyrus und Sidon; und ging in ein Haus, und wollte es niemand wissen lassen, und konnte doch nicht verborgen sein. Denn ein Weib hatte von ihm gehört, welcher Töchterlein einen unsaubern Geist hatte, und sie kam, und fiel nieder zu seinen Füßen. (Und es war ein griechisch Weib aus Syrophönice.) Und sie bat ihn, daß er den Teufel von ihrer Tochter austriebe. Jesus aber sprach zu ihr: Laß zuvor die Kinder satt werden; es ist nicht fein, daß man der Kinder Brot nehme, und werfe es vor die Hunde. Sie antwortete aber, und sprach zu ihm: Ja Herr; aber doch essen die Hündlein unter dem Tisch von den Brotsamen der Kinder. Und er sprach zu ihr: Um des Worts willen so gehe hin, der Teufel ist von deiner Tochter ausgefahren. Und sie ging hin in ihr Haus, und fand, daß der Teufel war ausgefahren, und die Tochter auf dem Bette liegend.“

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M. a. Fr. Es gemahnte mich zwar an diesem letzten Sonntag des Jahres, Euren Gedanken darauf besonders die | Richtung zu geben; aber doch sind wir gewiß alle mit dem Gedanken daran und also an die zunächst abgelaufene Zeit und mit dem, was uns in der Zukunft bevorstehen mag, beschäftigt. Das hat uns gewiß auch zum Dank gegen Gott aufgefordert, und wir

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1 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 642: „Auf, ihr Christen, Gott zu loben“ (Melodie von „Sollt ich meinem Gott nicht singen“) 20–1 Sofern hier überhaupt der gemeinsame Dank im Gemeindegottesdienst gemeint ist, bezieht Schleiermacher sich möglicherweise auf das agendarische Gebet vor der Epistellesung: „Herr Gott, himmlischer Vater! wir danken Dir und Deiner großen Gnade und Barmherzigkeit, daß Du Deinen eingebornen Sohn um unsertwillen hast Mensch werden lassen, und durch ihn uns von der Sünde und dem ewigen Tode gnädiglich | geholfen hast, und bitten Dich, erleuchte

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haben ihn ausgesprochen für die größte seiner Wohlthaten. Es hat sich aber so gut gefügt, daß wir in unseren Frühbetrachtungen zur Adventszeit in dem Verlauf unsers Evangeliums stehen bleiben konnten, und so scheint mir auch für den letzten Sonntag des Jahres, was wir jetzt mit einander vernommen haben, sehr angemessen zu sein, um auf Betrachtungen dahin zu führen. Es erinnert uns aber dasselbe zugleich an einen solchen Theil unsers Lebens, der in der Gegenwart uns genugsam beschäftigt und oft sehr lebhaft unser Gemüth ergreift, aber den wir hernach vergessen und nicht in Anschlag bringen, wenn wir auf die Vergangenheit zurücksehen; ich meine alles, was uns vorkommt in diesem menschlichen Leben in unserm Zusammensein mit Andern, nebenbei, außer unserem Beruf liegend. So war es hier mit dem Erlöser. Er befand sich überhaupt an den Grenzen seines Berufskreises; denn diese hatte er sich einmal gesteckt unter den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel. Nun aber hatte er sich begeben an die äußersten Grenzen seines Landes, wo schon heidnische Völker wohnten, und so war es denn auch ein griechisches, also heidnisches Weib, welches zu ihm kam und ihre Bitte an ihn richtete. Und eben so war denn auch dieses ganze Geschäft etwas außerhalb seines eigenthümlichen Berufs Liegendes; denn er war doch nicht gesandt für die leibliche Noth und die natürlichen Uebel des Lebens, sondern an die verlorenen Schaafe, um das geistige Leben, dessen sie verlustig gegangen waren, ihnen wiederzubringen. Alle seine Wunder aber lagen auf dem Gebiet und hatten es zu thun mit den leiblichen und natürlichen Uebeln der Menschen. Freilich diejenigen, die durch diese und mannigfaltige ähnliche Ausdrücke | beschrieben werden in der Schrift, wie Besessensein, einen unsauberen Geist haben und andere, das waren Leiden, die sich in den verwirrten Thätigkeiten des Gemüths ausdrückten, aber doch immer im Zusammenhang standen mit krankhaften Zuständen des Körpers, und so, daß diese als Grund derselben unsere Herzen durch Deinen heiligen Geist, daß wir für solche Deine Gnade Dir dankbar seyen, und derselben in aller Noth und Anfechtung uns trösten, durch denselben Deinen Sohn Jesum Christum, unsern Herrn. Amen.“ (Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen, Berlin 1829, S. 38f; KGA III/3, S. 1037) – Denkbar sind auch Bezüge auf das gesungene Lied Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 642: „Auf, ihr Christen, Gott zu loben“ (Melodie von „Sollt ich meinem Gott nicht singen“): „[...] Zwar, kein Mensch kann ihn ermessen; Gottes Gnade, welch ein Meer! Wer sind wir, und was ist er? Doch wer kann des Danks vergessen? und er nimmt das Scherflein an, das ein Armer opfern kann. [...] Preis dem Bischof unsrer Seelen! Dank dem Hirten seiner Schaar! Nie ließ er ein Gut uns fehlen; treu nahm er der Heerde wahr. [...] Daß sein geist'ger Tempel stehet auch in Stürmen unversehrt, daß sein Friede drinnen wehet, das ist ew'gen Dankes werth. [...] Doch mit Herzenskümmernissen kämpft der Seinen Dankgefühl, weil wir, ach, bekennen müssen, wir sind ferne noch vom Ziel. [...] Nein, du kannst uns nicht verlassen, schonest, trägest und vergiebst; wie du unaussprechlich liebst, das kann kaum die Seele fassen. Groß, ja groß ist Menschenschuld; göttlich groß ist Gottes Huld.“ 13–14 Vgl. Mt 15,24 (diese Stelle stammt aus der Parallele zum markinischen Predigttext); auch Mt 10,5f

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angesehen werden konnten, und daß das, was die Menschen in diesen Zuständen thaten, ihnen nicht zugerechnet werden konnte. Also dies war etwas außer seinem Beruf Liegendes. Aber auch Er hatte einen solchen Kreis seines Lebens neben seiner eigentlichen Berufsthätigkeit, wie wir ihn alle haben, und zum großen Theil hat er ihn mit solchen Hülfsleistungen gegen die Menschen ausgefüllt; aber auf der andern Seite freilich auch war dies bedingt durch ein freies und geselliges Verkehr mit den Menschen, indem er in solchen Zeiten, die seinem eigentlichen Beruf nicht gewidmet waren, sich ihnen niemals entzog. Hier haben wir ein Beispiel, wie er sich darin verhielt, und dies ist lehrreich für uns in dem Theil des Lebens, den ich vorher bezeichnet habe. Auch für uns ist es nicht ein Geringes, was wir im geselligen Zusammenhang mit den Nebenmenschen verleben, es liegt außerhalb unsers eigentlichen Berufs, aber wir dürfen es nicht gering achten; es ist von großem Einfluß auf den Beruf selbst, von entscheidender Wirksamkeit auf die Gestaltung der nächsten Zukunft, wie wir Einer auf den Andern wirken in den auf freie Weise sich bildenden Verhältnissen mit den Menschen. Und wenn wir auf das sehen, was der letzte Erfolg war von diesem augenblicklichen Handeln des Erlösers: so werden wir wol sagen müssen, in demselben Sinn und auf dieselbe Weise ist es uns nicht gegeben, böse Geister auszutreiben; aber doch muß mancher böse Geist gerade auf diese Weise ausgetrieben werden auch unter uns, doch gibt es so Manches, was das Leben der Menschen stört und beeinträchtigt, wodurch ihr äußeres Zusammensein von ihrem Innern her mit mancherlei Krankhaftem belastet wird, | es gibt gar Vieles der Art, was am besten, ja oft gar nicht anders kann ausgetrieben werden als durch die Wirkungen, die wir auf Andere in solchen Augenblicken ausüben. Sehen wir auf ein Jahr unsers Lebens zurück: wie viel Gelegenheit haben wir da nicht gehabt, uns unsern Brüdern hülfreich zu beweisen, manche düstere Wolke von ihrem Gemüth wegzutreiben, sie in Beziehung auf sich selbst und in Beziehung auf ihre äußeren Angelegenheiten zu berichtigen und einen neuen Pulsschlag in ihr Leben hineinzubringen, wie viel Gelegenheit haben wir dazu nicht alle in einem solchen Zeitabschnitt; und doch ist es keine einer Regel unterworfene, nicht zu unseren gewöhnlichen Pflichten zu rechnende Angelegenheit. Da lohnt es sich, daß wir sehen, wie der Erlöser in dieser Hinsicht verfahren ist. Und da muß uns freilich zuerst etwas allerdings sehr auffallen. Es wird uns erzählt, hier habe sich eine heidnische Frau an ihn gewandt und eine solche Hülfsleistung von ihm begehrt, wie er sie Vielen schon geleistet. Und er hat zu ihr gesprochen in solchen herabwürdigenden Ausdrücken von ihrem Zustande, wie es die meisten seiner Volksgenossen gewohnt waren. Diese sahen sich an als Gottes Hausgenossen, als das Volk seiner Wahl, und von Anderen redeten sie auf ähnliche Weise, wie der Erlöser es hier thut. Können wir glauben, es sei dies Ernst gesehen, und wir hätten recht, ähnliche Zustände nicht als Vorurtheil anzu-

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sehen, sondern dies auch in unser Leben hineinzutragen, um einzelne Menschen, die in unserm Sinne nicht zu den Kindern des Herrn gehörten, so zu betrachten, wie hier die thaten, die im eigentlichen Sinne zu seinem Volle gehörten? Das können wir von dem Erlöser, der uns versichert, daß er Eins sei mit dem Vater und nichts thue, als was der ihm zeige, und auf der andern Seite sagt, daß sein | Vater solche Unterschiede nicht beachte und seine Sonne aufgehen lasse über Gerechte und Ungerechte, und über die, welche seine Kinder wären eben so gut, wie über die andern, die nicht dazu gehörten, – von dem Erlöser können wir so etwas nicht denken. Wenn wir nun fragen, was konnten diese Worte für Einfluß haben auf die Frau, die sich mit ihren Bitten an ihn wandte: so können wir wol sagen, daß von zehn sich neun würden davon haben abschrecken lassen, welche seine Menschenfreundlichkeit und seine Wunderkräfte in Betracht ziehend sich an ihn gewandt hätten. Diese wurde nun nicht abgeschreckt, und gewiß wußte dies auch der Erlöser, daß sie das nicht werden würde; denn es gehörte mit zu seinen ausgezeichneten Gaben, daß er, wenn ihm ein Mensch entgegentrat, sogleich wußte, was in ihm war und mit untrüglicher Gewißheit das Innere aus dem Aeußern erkannte; und so mögen wir denn gewiß sagen, daß es nicht seine Absicht gewesen sei, diese durch seine Rede zurückzuscheuchen. Und schon dies, m. G., ist eine große Regel für uns. Wenn wir in die Vergangenheit zurücksehen: so wird es Wenige geben, die sich in dieser Beziehung nichts vorzuwerfen hätten; ja, wenn wir uns auf einzelne Fälle besinnen: werden wir sehen, daß in der Art und Weise, wie wir umgehn mit Andern, noch manche Unvollkommenheit sei. Es dürfte freilich nicht sichtbar sein, daß wir uns schroff über Andere erheben und ihnen bemerklich machen, daß wir sie zurückstellen; das ist es freilich nicht allein, was solche Wirkung hervorbringt; aber wenn wir mit unsern Brüdern zusammenkommen außerhalb des Kreises unsers Berufs, offenbar dazu, damit der Eine mit der inneren Kraft seines Lebens auf den Andern wirke und mit dieser Einwirkung das Leben erquicke, wenn dies der Fall ist: wie oft erkennen wir nicht an uns selbst und Andern, daß diese Wirkung nicht erreicht ist? Wenn wir sehen, daß sich Einer diesen Stunden auf unbefangene Weise nicht hingibt, daß er seine | eigene Stimmung vorherrschen läßt, statt daß er damit anfangen sollte, sich zu überwinden und Andern etwas zu sein in diesen Stunden; wodurch er am besten dann auch auf sich zurückwirkt; wenn wir uns da gehen lassen, ich will nicht sagen, in der Darlegung solcher Grundsätze, wie sie hier in den Worten des Erlösers zu liegen scheinen, sondern in der Darlegung von Launen, indem wir immer nur auf uns selbst sehen: so werden schon dadurch die Menschen zurückgeschreckt, und jedes freundliche Verkehr unterbrochen und aufgehoben, und viel Gutes, was 4–5 Vgl. Joh 10,30

5 Vgl. Joh 5,19f

6–9 Vgl. Mt 5,45

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sonst bewirkt werden könnte, geht auf diese Weise verloren. Hätte der Erlöser zu thun gehabt mit einer, die so hätte zurückgeschreckt werden können: so würde er nicht so geredet haben, als er geredet hat. Aber fragen wir, hat er ihr nicht das Recht gegeben, sich von ihm abzuwenden; mußte sie nicht glauben, es würde vergebens sein, der ersten Bitte noch eine zweite hinzuzufügen, nachdem er die erste so abgewiesen: so müssen wir gestehen, daß das auch nicht die Meinung des Erlösers gewesen sei. Er hat nicht gewollt, daß diese Frau oder einer von denen, die zugegen waren, glauben sollte, das sei seine Meinung, und es solle ein solcher Unterschied sein zwischen den Genossen der Juden und den übrigen Menschen, wie zwischen Kindern und Hunden. Wenn das aber sein Wille nicht gewesen sein kann: warum hat er denn so gesprochen? Da müssen wir zurückgehen auf etwas, dessen wir uns alle bewußt sind, nämlich, daß wir uns oft an die Denkungsart anderer Menschen anschließen, nicht als ob das unsere eigne, deutlich ausgesprochene Meinung sei, aber das gibt sich kund in dem ganzen Ton der Rede, wie er freilich in so kurzen Reden, als hier in dieser, nicht zu erkennen ist. Und so müssen wir glauben, daß jene Frau, als sie seine Rede hörte, die Meinung bekam, es sei sein rechter Ernst nicht. Es gibt manche bedenkliche Gemüther, welche Zweifel haben, ob das auch wol recht gethan sei und sich mit der strengen Rechtschaffenheit und dem strengen Ernst des Christen vertrage, | auf solche scheinbare Weise Worte und Denkungsarten anzunehmen, die nicht die unsrigen sind. Aber wir sehen an diesem Beispiel, wenn es nur so geschehen kann, daß ein Irrthum daraus nicht hervorgehen kann: so ist es doch ein Bestandtheil des Lebens, den man mit Grund aufnehmen kann. Und freilich kann das sehr lehrreich gewesen sein für Manche, die zugegen waren, sei es unter den Jüngern des Erlösers – denn auch unter ihnen gab es noch manche schwache Gemüther, die sich von diesem Vorurtheil nicht frei machen konnten, – aber noch mehr für Andere. Denn es war das ein gar zu schlagendes Beispiel davon, wohin es führt, wenn ein solcher Unterschied im Leben gemacht wird. Wenn er sie so behandelt hätte, als es das Vorurtheil verlangte: so wäre ihm ja die Gelegenheit zu Erweisungen der Liebe, die ihm nur so kommen konnte, vorübergegangen, und der Erlöser hätte die Tochter des Weibes dem unsauberen Geiste Preis gegeben, wovon er sie hätte durch Erfüllung der Bitte befreien können. In solchen Fällen, wo es uns so nahe liegt, was für Wirkungen solche Vorurtheile haben können, da ist es recht, die Aufmerksamkeit gerade darauf hinzulenken, und das war der Fall mit dem, was der Erlöser hier that, und so benutzte er diese Gelegenheit auch zu einer Wirkung auf Alle, die zugegen waren, die davon mußten getroffen werden, wie verkehrt und wie wenig angemessen der Gerechtigkeit und Liebe solche Vorurtheile seien. Und das ist ein zweites Stück von der rechten Weisheit in dieser Hinsicht, wenn wir in Beziehung auf die Art, wie dergleichen Stunden fürs

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Leben wirken können, recht dazu beitragen, eine Wahrheit ins Gemüth der Menschen einzupflanzen, sie aufmerksam zu machen auf eine Weise, die nicht verletzen kann, auf ihre Ansichten und Vorurtheile, und ihnen klar zu machen, was unmittelbar vor Augen steht, was für Widersprüche darin liegen, wenn solche Vorurtheile Wurzel gefaßt | haben; wie denn solche Fälle sich besonders dazu eignen, dies klar vor Augen zu legen. Diese Gelegenheit konnte der Erlöser nicht ungenutzt vorüberlassen, und wenn wir ähnliche ungenutzt lassen vorübergehen: so bringen wir uns damit um manches Gute, was wir sonst hätten thun können. Denn wenn wir uns zur Rechenschaft ziehen vor Gott: so werden wir sagen, es ist eine von Gott uns dargebotene Gelegenheit, die wir vorübergehen ließen, um Gutes zu stiften, da die Umstände es zuließen. Nun aber diese ließ sich nicht einschüchtern, und mußte wol die Ueberzeugung haben, es sei nicht die Absicht des Erlösers, sie mit ihrer Bitte zurückzuweisen; und da ergriff sie seine Rede selbst und wandte sie zu ihrem Vortheil, um ihn darauf aufmerksam zu machen, wenn sie wirklich ernstlich gemeint sei, was darin Unrichtiges liege. Denn wenn der Erlöser sagt, daß doch die Kinder zuerst satt werden müßten: so war das Unrichtige darin, daß von seinen Stammesgenossen keinem etwas abgegangen wäre, wenn er auch hier dieser Heidin etwas zukommen ließe. Daß er dies aber öfter that, sehen wir auch aus andern Gelegenheiten, wo wir hören, daß die Menschen mit Kranken zu ihm kamen. Da hat er gewiß niemals gefragt, ob sie auch alle zu seinem Volke gehörten. Also daß seine Rede etwas Unrichtiges würde gewesen sein, wenn sie Ernst gewesen wäre, darauf machte sie ihn aufmerksam und sagte, ich verlange nichts, was nachtheilig wäre für deine Stammgenossen, es ist gleichsam ein Brosamen, der von den Tischen, woran du die Deinen speisest, abfällt, ohne daß etwas den Deinigen dadurch abgeht. Und was sagt der Erlöser? Er sagt, „Um dieses Wortes willen so gehe hin, der Teufel ist von deiner Tochter ausgefahren.“ Um dieses Wortes willen, was liegt wol darin, m. G.? Nun es war freilich ein Wort des Glaubens; aber es war doch nicht das allein. Es war eine große gewichtige Rede, die mit einer gewissen Schärfe das Wort des Erlösers ergriff und was gegen sie gewandt schien, nun auf|nahm und gegen ihn zurückwandte, aber wol wissend, daß es nur ein Spiel des Gedankens sei, und daß es nicht gegen ihn gehe, so wenig wie das seinige gegen sie gemeint war. Es war nicht nur ein Wort des Glaubens, sondern zugleich ein solches, was der Absicht des Erlösers zu Hülfe kam und die falsche Ansicht in Beziehung auf den vorliegenden Fall widerlegte, und ohne den Unterschied zwischen denen, die zum Volk des Alten Bundes gehörten, und denen, die dem Götzendienst anhingen, ganz aufzuheben, doch die Grenzen so steckte, daß gar mancherlei Erweisungen der Liebe von den Einen auf die Andern ausgehen könnten. Und so war es eine Bezeugung des Beifalls, die der Erlöser aussprach, wenn er sagte, um dieses Wortes willen gehe

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hin. Und so gibt er durch diesen Beifall selbst zu erkennen, was in solchen Lebensverhältnissen ein recht kräftiges Wort für einen Werth hat, wenn gleich er dadurch nicht belehrt werden konnte; aber die Wirkung entging ihm nicht, die es auf Andere machen konnte, und so freute er sich dieser Sicherheit und Wahrheit in der Rede der Frau, die so mit einem Schlage das Rechte traf. – So wollen wir also daraus lernen, daß der Erlöser auch dies nicht für eine geringe Einsicht achtete, sondern den wohlthätigen Einfluß, den es im Leben haben kann, herausstellte, indem er es gleichsam belohnte, da er sagt, um dieses Wortes willen thue er es nun; es sei ihm deutlich geworden, daß ein Verhältniß zwischen ihm und ihr gestiftet sei, was da erfordere, daß er ihre Bitte erfülle. Aber wir wissen nicht, ob etwas Weiteres daraus erfolgte, ob ein Glaube an den Erlöser der Welt in der Frau begründet worden, oder ob der, zu dem sie gekommen, nichts Anders war, als der an seine wunderthätigen Kräfte. Wir können das nicht wissen; aber ganz abgesehen davon, so erkennen wir doch das Wohlgefallen des Erlösers an der Art, wie die Frau die menschlichen Verhältnisse, unter denen sie lebte, beurtheilte; und so werden wir sagen müssen, daß eben dies auch für uns | einen Werth haben soll, und uns die rechte Weise unsers Verhaltens zeigen. Auch zugestanden, daß es für uns nicht solche Vorurtheile gibt, die auf unser Handeln einen Einfluß ausüben; aber wo ein so richtiges Urtheil, eine so wohlwollende Ansicht menschlicher Verhältnisse und die sich auf so treffliche Weise zu erkennen gibt uns erscheint: da ist immer ein Fall des menschlichen Lebens, wo wir uns freuen können, wie der Erlöser es that, wo wir unsere Wirksamkeit anknüpfen, und womit wir solche Gedanken verbinden können, die zur Belehrung und Besserung auf andere Menschen wirken. So führt uns diese Erzählung auf alle Weise in diesen wichtigen Theil des Lebens zurück und ist lehrreich, worauf es dabei ankommt, so daß wir sie zum Maßstabe nehmen können in Beziehung auf unser Urtheil über die Vergangenheit und daraus lernen, das Leben einzurichten, was vor uns liegt. Könnten wir den rechten Werth legen auf solche Nebenstunden des Lebens und sie mit solcher Wahrheit und Freiheit behandeln, wie wir es hier an dem Erlöser sehen: dann würden auch wohlthätige Wirkungen von da ausgehen, und gewiß könnten manche Uebel verhütet werden. Wenn wir das im Auge haben, was dem Theil der menschlichen Gesellschaft, unter welchem wir leben, noth thut und Rücksicht nehmen auf die Vorurtheile und keine Gelegenheit vorbei gehen lassen, ohne uns, wie der Erlöser es auch nicht that, eine Ueberlegenheit anzumaßen, durch treffende Worte aufmerksam zu machen auf das, was sich nachtheilig erweist und auf falschen Grundsätzen beruht: dann würden wir noch viel mehr Gutes stiften und uns auch über diese Stunden mit freudigem Muth Rechenschaft geben kön41 freudigem] freudigen

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nen, wie wir sie zur Wirksamkeit benutzt haben. So möge denn diese menschenfreundliche Wirksamkeit des Erlösers die rechte Wirkung auf uns haben, daß wir ihm nachfolgen. Dann wird es auch uns gelingen schon durch die bloße Kraft der Rede, – denn wir begreifen hier freilich nicht den Zusammenhang, aber wenn der | Erlöser sagt, um dieses Wortes willen gehe hin: so will er das andeuten, – auch uns wird es gelingen, manche Gelegenheit zu schönem Wirken zu gewinnen, damit Alles zusammenstimme zu dem großen Werke, daß Einer dem Andern, wie es in der Schrift heißt, wohlgefalle zum Guten und zur Besserung. Amen. Lied 642, 6.

8–9 Vgl. Röm 15,2 10 Vgl. Berliner Gesangbuch 1829 Nr. 642: „Auf, ihr Christen, Gott zu loben“ (Melodie von „Sollt ich meinem Gott nicht singen“)

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Verzeichnisse

Editionszeichen und Abkürzungen Das Verzeichnis bietet die Auflösung der Editionszeichen und Abkürzungen, die von Schleiermacher und dem Bandherausgeber sowie in der zitierten Literatur benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten, im Kopftext zu den einzelnen Predigten oder im Literaturverzeichnis erfolgt. Nicht verzeichnet werden die Abkürzungen, die für Vornamen stehen. Ferner sind nicht berücksichtigt Abkürzungen, die sich von den aufgeführten nur durch das Fehlen von Abkürzungspunkten oder Spatien, durch Klein- bzw. Großschreibung oder die Flexionsform unterscheiden.

// [] ] )* PS []

Seitenwechsel Zeilenwechsel, Markierung zwischen Band und Teilband, zwischen mehreren Editoren, zwischen Erscheinungsorten, zwischen Reihengliedern Strophenwechsel in Liedern Ergänzung des Bandherausgebers Lemmazeichen Streichung unsichere Lesart Lücke im Manuskript

1Joh 1Kor 1Petr 1Sam 1Thess 1Tim 2Kön 2Kor 2Petr 2Tim

Der erste Brief des Johannes Der erste Brief des Paulus an die Korinther Der erste Brief des Petrus Das erste Buch Samuel Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher Der erste Brief des Paulus an Timotheus Das zweite Buch der Könige Der zweite Brief des Paulus an die Korinther Der zweite Brief des Petrus Der zweite Brief des Paulus an Timotheus

a. a. O. ABBAW

am angegebenen Ort Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin Abkürzung Abteilung andächtige Freunde Anmerkung

| /

Abk. Abt. a. Fr. Anm.

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Verzeichnisse

Apg / Apostelgesch. Aufl.

Die Apostelgeschichte des Lukas Auflage

Bd. / Bde. bes. Bl. BSLK bzw.

Band / Bände besonders Blatt Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche beziehungsweise

ca. Cap. cm

circa Capitulum (Kapitel) Zentimeter

d. h. d. i. d. J. d. M. Dr. Dtn

das heißt das ist des Jahres des Monats Doktor Deuteronomium (Das fünfte Buch Mose)

ebd. ed. / edd. ELAB Eph etc. Ev. evang. evtl. Ex

ebenda edidit /ediderunt Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin Der Brief des Paulus an die Epheser et cetera Evangelium evangelisch eventuell Exodus (Das zweite Buch Mose)

f flgd.

und der folgende Vers / und die folgende Seite folgende

Gal geb. Gen g. Fr. GStA PK

Der Brief des Paulus an die Galater geborene Genesis (Das erste Buch Mose) geliebte Freunde Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin

h. HA Hebr heil. hg. v. Hiob

heilig Hauptabteilung Der Brief an die Hebräer heilig herausgegeben von Das Buch Hiob (Ijob)

Editionszeichen und Abkürzungen

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Hr. Hrn.

Herr Herrn

Jak Jer Jes Joh

Der Brief des Jakobus Der Prophet Jeremia Der Prophet Jesaja Das Evangelium nach Johannes

Kap. KGA Kj Kol korr.

Kapitel Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe Konjektur Der Brief des Paulus an die Kolosser korrigiert

Lev Lk / Luc. / Luk.

Leviticus (Das dritte Buch Mose) Das Evangelium nach Lukas

m. A. m. a. F. m. a. Fr. Mal Marc. / Mk Matth. / Mt m. a. Z. m. chr. m. chr. Fr. m. chr. Z. m. Fr. m. G. m. Gel. m. gel. Fr. m. g. Fr. m. g. Z. mitt. m. Th. m. th. Fr. m. th. Z.

meine Andächtigen meine andächtigen Freunde meine andächtigen Freunde Der Prophet Maleachi Das Evangelium nach Markus Das Evangelium nach Matthäus meine andächtigen Zuhörer meine christlichen (in der Anrede an die Predigthörer) meine christlichen Freunde meine christlichen Zuhörer meine Freunde meine Geliebten meine Geliebten meine geliebten Freunde meine geliebten Freunde meine geliebten Zuhörer mittags meine Theuren meine theuren Freunde meine theuren Zuhörer

nachm. Nr. Num

nachmittags Nummer Numeri (Das vierte Buch Mose)

o. D. Offb o. T.

ohne Datum Die Offenbarung (Apokalypse) des Johannes ohne Titel

p. Phil / Philipp. pp.

perge (und so weiter) Der Brief des Paulus an die Philipper perge perge (und so weiter und so weiter)

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Verzeichnisse

PredSal Preuß. Prof. Ps

Der Prediger Salomo (Kohelet) Preußisch Professor Psalmen (Der Psalter)

r Rep. Röm

recto (Vorderseite bei Blattangaben) Repositorium Der Brief des Paulus an die Römer

S. s. Sach SAr

SnE SnT SnW sog. Sp. Spr Str. SW

Seite siehe Der Prophet Sacharja Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Schleiermacher-Archiv, Depositum 42a (mit folgender Angabe der Mappennummer) Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Schleiermacher-Archiv (hg. v. Hermann Fischer u. a.) Sonntag im Advent Das Buch Jesus Sirach Schleiermacher-Nachlass (= Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Nachlass F. D. E. Schleiermacher) Sonntag nach Epiphanias Sonntag nach Trinitatis Sonntag nach Weihnachten sogenannt Spalte Sprüche / Sprichwörter Salomos (Proverbia) Strophe Schleiermacher: Sämmtliche Werke

Tit

Der Brief des Paulus an Titus

u. u. a. u. ö. u. s. w.

und und andere und öfter und so weiter

v v. vgl. v. J. v. M. vol. vorm.

verso (Rückseite bei Blattangaben) versus (Vers) / von / vor vergleiche vorigen Jahres vorigen Monats Volume (Band) vormittags

z. B.

zum Beispiel

SB SBB SchlA SiA Sir SN

Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Druckschriften und Archivalien auf, die in den edierten Texten, den editorischen Beigaben (Apparaten und Predigtkopftexten) und in der Einleitung des Bandherausgebers genannt sind. Dabei sind folgende Regeln zu beachten: 1. Verfasser- und Ortsnamen werden in einer heute üblichen Schreibweise angegeben. 2. Die Titelangabe erfolgt nicht in diplomatisch getreuer Wiedergabe der Titelblätter; ausführliche Titel können in einer sinnvollen Kurzfassung angeführt werden, die nicht als solche gekennzeichnet wird. Entsprechendes gilt für die Archivalien. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so bestimmt sich deren Reihenfolge nach Gesamtausgaben, Teilsammlungen und Einzelwerken. Gesamtausgaben und Teilsammlungen werden chronologisch, Einzelwerke (unter Übergehung des Artikels) alphabetisch angeordnet. 4. Bei denjenigen Werken, die in Schleiermachers Bibliothek nachgewiesen sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern das Sigle „SB“ (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek) mit anschließender Listennummer hinzugefügt. 5. Die im Band benutzten Archivalien werden im Anschluss an die Druckschriften als Anhang aufgeführt, geordnet nach Archiven und deren innerer Systematik.

* * * Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5, Leipzig 1774–1786 [SB 8] Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen. Mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Brandenburg, Berlin 1829 [SB 11] Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 43, Neudruck der 1. Auflage von 1898, Berlin 1971 Allgemeine Preußische Staatszeitung, Berlin, vom 18. Februar 1832; vom 20. Februar 1832; vom 19. Mai 1832

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Verzeichnisse

Allgemeiner Wohnungsanzeiger für Berlin auf das Jahr 1823(–1836), hg. v. J. W. Boike, Berlin 1823(–1836) [SB 2235] Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland. Amtsblatt des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes 39 (1890), S. 576–599 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Textausgabe, Frankfurt a. M. / Berlin 1970 Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jahrgang 1830, Potsdam 1830 Amts-Blatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin, Jahrgang 1832, Potsdam 1832 Annalen der Preußischen innern Staats-Verwaltung, hg. v. Karl Albert von Kamptz, Bd. 1–23, Berlin 1817–1839 Aristoteles: Opera, ed. I. Casaubon, Bd. 1–2, Leiden 1590 [SB 74] : Politica, ed. W. D. Ross, Oxford 1957 Arndt, Andreas / Virmond, Wolfgang: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, SchlA 11, Berlin / New York 1992 Aus Schleiermacher’s Leben: s. Schleiermacher Bahl, Peter: s. Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Ausgsburgischen Konfession 1930, 10. Auflage, Göttingen 1986 Berliner Gesangbuch: s. Gesangbuch [1829] Berliner Intelligenz-Blatt, Berlin, vom 22. Mai 1832; vom 24. Mai 1832 Birt, Theodor: s. Catalogi Blumner, Martin: s. Schleiermacher: Rede am Sarge Zelter’s Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hg. v. Friedrich Wilhelm Riemer, Bd. 1–6, Berlin 1833–1834 Catalogi studiosorum Marpurgensium cum annalibus coniuncti series recentior 1653–1830, ed. Theodor Birt, Nachdruck der Ausgabe Marburg 1903–1914, Nendeln / Liechtenstein 1980 Claudius, Matthias: Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, Teil I–II, Hamburg / Wandsbeck 1775 [vgl. SB 2290] : Sämtliche Werke, hg. v. Rolf Siebke / Hansjörg Platschek, 6. Auflage, München 1987 Dettke, Barbara: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 89, Berlin/ New York 1995 Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, hg. vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband, Bd. 1: Verzeichnis der Pfarrstellen und der Pfarrer, bearbeitet v. Otto Fischer, Berlin

Literatur

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1941; Bd. 2: Verzeichnis der Geistlichen in alphabetischer Reihenfolge, bearbeitet v. Otto Fischer, T. 1, Berlin 1941 Fischer, Otto: s. Evangelisches Pfarrerbuch Foerster, Erich: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirchenbildung im deutschen Protestantismus, Bd. 1–2, Tübingen 1905–1907 Freymäurer-Lieder, mit ganz neuen Melodien, Leipzig 1788 Gelehrtes Berlin im Jahre 1845. Verzeichniss im Jahre 1845 in Berlin lebender Schriftsteller und ihrer Werke, hg. v. Wilhelm David Kroner, Berlin 1846 Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen. Mit Genehmigung Eines hohen Ministerii der geistlichen Angelegenheiten, Berlin [1829] [SB 2349] Goethe, Johann Wolfgang von: s. Briefwechsel Hecker, Max: Zelters Tod. Ungedruckte Briefe, Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 7 (1927/28), S. 104–172 Heinrici, Georg: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889 Hengstenberg, Ernst Wilhelm: Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten, Bd. I, 1– 2, Berlin 1829; Bd. II, Berlin 1832 Hennig, Johannes: Ein junger Freund Schleiermachers und Neanders, in: Theologische Studien und Kritiken N. F. 106 (1934/35), S. 403–405 Jonas, Ludwig: s. Schleiermacher: Ludwig Jonas Königlich privilegirte Zeitung Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen. Vossische Zeitungs-Expedition, Berlin, vom 20. Februar 1832; vom 19. Mai 1832; vom 22. Mai 1832 Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, als: Abendmahls-, Beicht-, Confirmations-, Einweihungs-, Grab-, Tauf-, Trau- und Verlobungsreden, Bd. 1–8, Magdeburg 1829–1842 Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Neue Folge, Bd. 1–6, Magdeburg 1823–1829 Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1810–1850, bearbeitet v. Peter Bahl, Bd. 1–3, Berlin / New York 2010 Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen 1734–1837, hg. v. Götz von Selle, 2 Bde. (Text, Hilfsband), Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen Bd. IX, Hildesheim / Leipzig 1937 Meckenstock, Günter: Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers, in: KGA III/1, S. 769–1033

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: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, in: KGA I/ 15, S. 637–912 Meding, Wichmann von: Bibliographie der Schriften Schleiermachers, nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, SchlA 9, Berlin / New York 1992 [Mesmer, Franz (Friedrich) Anton:] Mesmerismus, oder System der Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhaltung des Menschen, hg. v. Karl Christian Wolfart, Bd. 1, Berlin 1814 : Mesmerismus Bd. 2: s. Wolfart Nowak, Kurt: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002 Patsch, Hermann: Wie aus Claudius Goethe wurde. Ein apokryphes Claudius-Zitat in Schleiermachers Grabrede auf Karl Friedrich Zelter, in: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 10 (2001), S. 38–49 : s. Schleiermacher: Schleiermachers Grabrede Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, SchlA 12, Berlin / New York 1992 Rintel, Wilhelm: s. Schleiermacher: Rede am Sarge Zelters Sattler, Walther: Vergessene Dokumente aus dem musikalischen Leben Schleiermachers, Zeitschrift für Musikwissenschaft 7 (1925), S. 535–544 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Sämmtliche Werke, 3 Abteilungen, 30 Bde in 31, Berlin 1834–1864; Abt. II: Predigten, Bd. 1–10, 2. Aufl., Berlin 1843–1844. (SW II/5–6: Predigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser, hg. v. Friedrich Zabel, Erster – Zweiter Theil, Berlin 1835) : Kritische Gesamtausgabe, hg. v. H.-J. Birkner, H. Fischer u. a.; Abt. I: 15 Bde in 18, 1980–2005; Abt. II: bisher 5 Bde. in 6, 1998ff; Abt. V: bisher 9 Bde., 1985ff, Berlin / New York : Predigten, Sammlung 1–7, Reutlingen 1835 [nach der Ausgabe ‚Sämmtliche Werke‘] : [Predigten ed. Grosser] Sämmtliche Werke, Reihe I. Predigten [einzige], Bd. 1–5, hg. v. E. Grosser, Berlin 1873–1877; 2. Aufl., Bd. 1, 1876 : Predigten, ausgewählt von Hans Urner, Berlin 1969 : Kleine Schriften und Predigten, hg. v. H. Gerdes / E. Hirsch, Bd. 1–3, Berlin 1969–1970 : Am Sarge Carl Friedrich Zelter’s, gesprochen im grossen Saale der SingAkademie von Dr. Friedr. Schleiermacher am 18. Mai 1832, in: Der Sing-Akademie gewidmet. Worte gesprochen in der Sing-Akademie an dem Sarge des Herrn Direktors Carl Friedrich Rungenhagen am 24. De-

Literatur

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cember 1851 morgens von dem Prediger Dr. Henry, mit einigen Beilagen und der von Schleiermacher am 18. Mai 1832 zum Gedaechtniss Zelter’s in der Sing-Akademie gehaltenen Rede, Berlin 1852, S. 24–26 : Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1–4, Berlin 1863 : Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hg. v. W. Gaß, Berlin 1852 : Christliche Festpredigten, Bd. 2 [Nebentitel: Predigten, 7. Sammlung], Berlin 1833 [SB 1712] : Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Zweite umgearbeitete Ausgabe, Bd. 1– 2, Berlin 1830–1831 (KGA I/13,1–2) : Confirmationsrede, in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 268–272 : Confirmationsrede, in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 263–267 : Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen, zweite umgearbeitete Ausgabe, Berlin 1830 (KGA I/6, S. 317–446) : Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 (SW I/13) : Predigt am Sonntage Septuagesimä 1832 als am Dankfest nach der Befreiung von der Cholera in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen von Dr. Fr. Schleiermacher, Berlin 1833 : Predigten von Dr. F. Schleiermacher, [Reihe 2, Berlin 1832] : Predigten von Dr. F. Schleiermacher, [Reihe 3, Berlin 1832] : Predigten von Dr. F. Schleiermacher, [Reihe 4, Berlin 1833] : Rede am Grabe, in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 273–275 : Rede am Grabe des Professor Dr. K. W., in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 276–279 : Rede am Sarge Zelters. Gehalten von Schleiermacher. Am 18. März [sic!] 1832, in: Carl Friedrich Zelter. Eine Lebensbeschreibung, nach autobiographischen Manuscripten bearbeitet v. Wilhelm Rintel, Berlin 1861, S. 300–304 : Rede am Sarge Zelter’s, gehalten am 18. Mai 1832 von Dr. Friedrich Schleiermacher, in: Martin Blumner: Geschichte der Sing-Akademie zu Berlin, eine Festgabe zur Säcularfeier am 24. Mai 1891, Berlin 1891, S. 193–195 : Rede an Nathanaels Grabe den 1. November 1829, in: Magazin von Casual-, besonders kleineren geistlichen Amtsreden, Bd. 4, Magdeburg 1834, S. 280–285 : Schleiermachers Grabrede auf Carl Friedrich Zelter. Eine kommentierte kritische Edition, Wolfgang Virmond zum 60. Geburtstag, in: Schleiermacher’s „To Cecilie“ and other writings by and about Schleiermacher,

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Verzeichnisse

ed. Ruth Drucilla Richardson, New Athenaeum / Neues Athenaeum, vol. 6, Lewiston u. a. 2001, S. 58–76 Schmidt, Bernhard: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, SchlA 20, Berlin / New York 2002 Schottländer, Johann Wolfgang: s. Zelter Selle, Götz von: s. Matrikel der Georg-August-Universität Der Sing-Akademie gewidmet. Worte gesprochen in der Sing-Akademie an dem Sarge des Herrn Direktors Carl Friedrich Rungenhagen am 24. December 1851 morgens von dem Prediger Dr. Henry, mit einigen Beilagen und der von Schleiermacher am 18. Mai 1832 zum Gedaechtniss Zelter’s in der Sing-Akademie gehaltenen Rede, Berlin 1852 Verzeichniss der auf der Universität Bonn immatriculirten Studirenden im Winter-Semester 1821–1822, Bonn 1822 Virmond, Wolfgang: s. Arndt, Andreas Vossische Zeitung: s. Königlich privilegirte Zeitung Willich, Ehrenfried von: Aus Schleiermachers Hause. Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes, Berlin 1909 Wolfart, Karl Christian: Dissertatio inauguralis medica de genii morborum mutatione hominum vitae rationi tribuenda, Marburg 1797 : Das Faulfieber, besonders in Beziehung auf desselben Erscheinung und Ausbreitung im Kriege in Aforismen dargestellt, Halle a. d. Saale 1814 : Grundzüge der Semiotik in Lehrsätzen, als Leitfaden zu Vorlesungen, Berlin 1817 : Guntha, ein altdeutsch Mährlein. Schauspiel, Frankfurt a. M. 1809 : Herman. Schauspiel, Leipzig 1810 : Hülfs-Tafeln wider die Indische Seuche als Resultat eigner praktischer Erfahrungen, Berlin 1832 : Indra’s Verheißung. Allegorisches Festspiel, Berlin 1809 : Die Katakomben. Trauerspiel, Berlin [1810] : Der Magnetismus gegen die Stieglitz-Hufelandische Schrift über den thierischen Magnetismus in seinem wahren Werth behauptet, Berlin 1816 [SB 2160] : Mesmerismus: s. [Mesmer, Franz (Friedrich) Anton] : Mesmerismus, oder System der Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhaltung des Menschen, hg. v. Karl Christian Wolfart, Bd. 2: Erläuterungen zum Mesmerismus, Berlin 1815 : Nosologische Therapie, Bd. 1, Berlin 1826 : Die Rheinfahrt. Ein romantisches Gedicht, Berlin 1823 : Ueber den Genius der Krankheiten, Frankfurt a. M. 1801 : Weihnacht-Klänge geistlicher Lieder, Leipzig 1825 Zelter, Karl Friedrich: Karl Friedrich Christian Fasch, königlich preußischer Kammermusikus, Berlin 1801 [SB 2175]

Literatur

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: Carl Friedrich Zelters Darstellungen seines Lebens, hg. v. Johann Wolfgang Schottländer, Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. 44, Weimar 1931 : s. Briefwechsel

* * * Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin Nachlass F. D. E. Schleiermacher: Nr. 71 Eigh. Ms. – Notizen zu Studien über die Lehren Jesu o. D. 20 Bl. verschiedenen Formats Nr. 451 Tageskalender 1831 Nr. 452 Tageskalender 1832 Nr. 454 Tageskalender 1834 Nr. 531 Evangelium Matthäus (Nachschrift Hegewald) 104 Bl. 4° Nr. 538 Römerbrief (Nachschrift Hegewald) 67 Bl. 4° Nr. 549 Dogmatik (Nachschrift Hegewald) 270 Bl. 4° Nr. 553 Praktische Theologie (Nachschrift Hegewald) 129 Bl. 4° Nr. 563 Moral (Nachschrift Hegewald, 1824/25) 210 Bl. Nr. 596/1–5 Predigten zum Lukas-Evangelium. Nachschriften 1815–1832, 49 Bl. 4° Nr. 606 Predigt zum Markus-Evangelium. Nachschrift. o. D. 5 Bl. 4° Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin Kirchenbücher der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin Nr. 10/88 Dorotheenstadt: Bestattungen 1830–34 Bestand 14 (Konsistorium der Provinz Brandenburg) Nr. 4114 Acta betreffend Jerusalems- und Neue Kirche Bestand 29 (Superintendentur Berlin Land I) Nr. 96 Acta betreffend Hilfe bei der Cholera Bestand 10400 (Ephoralarchiv Friedrichswerder I) Nr. 39 Acta betreffend die Cholera Nr. 162 Acta betreffend die Agende und den vorschriftmäßigen Gebrauch in den Kirchen. 1820–1918 Bestand 10405 (Dreifaltigkeitskirche) Nr. 465 Acta betreffend die Vermietung der Kirche

630

Verzeichnisse Bestand 10408 (Jerusalems- u. Neue Kirche) Nr. 520 Acta betreffend Besetzung und Besoldung der Predigerstellen

Freies Deutsches Hochstift (Frankfurt) Hs–1101

Schleiermachers Rede am Sarge Zelters in der Singakademie

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin I. HA, Rep. 76 Kultusministerium, VIII C (Immediat-Commission zur Abwehrung der Cholera) Nr. 5 Acta betreffend Instructionen und Verordnungen im Allgemeinen X. HA, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg Nr. 876 Acta betreffend die Vereinigung der lutherischen und reformirten Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv Medizinische Fakultät Nr. 1377 Anstellung und Besoldung von Professoren sowie Errichtung neuer Lehrstühle Nr. 1456 Verhandlungen über Prof. Dr. Karl Wolfart wegen unmoralischen Verhaltens im Privatleben (Acta betrf. die Angelegenheit des Professors Wolfart) Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz: Depositum 3 (Ludwig Jonas) Korrespondenz Kasten 1, Mappe 89 Depositum 5, Nachl. Runge-DuBois-Reymond, Nr. 33 Nachlass Ludwig Jonas Mappe 7 F. D. E. Schleiermacher 26 Briefe an Jonas Schleiermacher-Archiv Depositum 42a (Angaben nach Archivverzeichnis): Mappe 71 Woltersdorff N – 3 Predigten (1832) Mappe 121 1834–1835 Sechs durch Sydow erstellte Verzeichnisse

Namen Das Namensregister verzeichnet die in diesem Band genannten historischen Personen in einer heute gebräuchlichen Schreibweise. Nicht aufgeführt werden die Namen biblischer, literarischer und mythischer Personen, die Namen von Herausgebern, Übersetzern und Predigttradenten. soweit sie nur in bibliographischen oder archivalischen Angaben vorkommen, die Namen der an der vorliegenden Ausgabe beteiligten Personen, soweit ausschließlich die Arbeit an dieser Ausgabe betroffen ist, sowie der Name Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. Bei Namen, die im Schleiermacherschen Text oder die sowohl im Text als auch im zugehörigen Apparat vorkommen, sind die Seitenzahlen recte gesetzt, Bei Namen. die in der Bandeinleitung oder den Apparatmitteilungen des Bandherausgebers genannt werden, sind die Seitenzahlen kursiv gesetzt. Adelung, Johann Christoph 278. 279.285.354.402.403.419.435. 451.530 Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum XXI.42.251 Altrock, Fräulein von 251 Altrock, Rittmeister von 250 Ambrosius XXV Antiochos IV. Epiphanes 584 Aristoteles 575.597 Arndt, Andreas XI.XII.XIII Bach, Carl Philipp Emanuel 238 Bach, Johann Sebastian XXIX. XXXI.241 Berger, Ludwig XXXI Blanc, Ludwig Gottfried XIX Bräunig, Karl Gottlob XXXV. XXXVI Burghalter, August Ferdinand XXVI Claudius, Matthias 239.240 Deibel, August XXXV Dettke, Barbara XXI

Einsiedler, Johann Heinrich XXXI Eyssenhardt, Friedrich August XII Fasch, Johann Friedrich 238 Fasch, Karl Friedrich Christian XXIX.XXXI.238 Fischer, Karoline XXXVI.267 Fischer, Luise XII.XXXVI.267 Flöricke, Karl Ludwig 239 Foerster, Erich XV.XIX.42 Friedrich II, der Große 238 Friedrich Wilhelm III. XXI.XXII. XXXIV.XXXIX.42.88 Gaß, Joachim Christian XIX Geißler, Heinrich Adolf XI Gesenius, Wilhelm 42 Goethe, Johann Wolfgang von XXIX.239 Graun, Karl Heinrich XXX.237 Grell, August Eduard LVII−LIX Grundmann, Angelica Auguste LIX Grundmann, Carl LIX Grunow, August Christian Wilhelm XXXIV

632

Namen

Hecker, Max 239 Heegewaldt, Johann David XXXIV.XXXVI−XXXVII.267 Heegewaldt, Ludwig August XXVI.XXXIII−XXXVIII. XXXIX.266–268 Heinrichshofen, Gotthelf Theodor Wilhelm von XXXIX–XLI Heinrici, Georg XIV Hengstenberg, Ernst Wilhelm 42.577 Hennig, Johannes XXXIV.XXXVII. XXXVIII Henry, Paul Emil LVII–LIX Herbig, Friedrich August LIII Herodes Agrippa I. 117.503 Herodes I, der Große 117.503 Hoßbach, Peter Heinrich Wilhelm XXIII Jonas, Ludwig XIV.XXII.XXXVIII. XL–XLI.LIV Klein, Bernhard XXXI Knobloch XXXVIII Kober, Adolf August XI Köhler, P. XXXI L’Estocq, Anton Wilhelm von XXVI Luther, Martin 118.417.450 Marheineke, Philipp Konrad X. XI.XXX.XXXI Mariamne 117.503 Meding, Wichmann von XXXIX Mesmer, Franz (Friedrich) Anton XXXIII.252 Napoleon I. 229 Neander, August Johann Wilhelm XXV Nicolovius, Georg Ludwig XXX Nowak, Kurt X.XIV Oberheim, Ludwig Otto Heinrich XI Oppen, Elisabeth von LII Patsch, Hermann XXXII.LVII–LIX

Pelkmann, Friedrich Samuel XIX.XXVIII Ponge, Elisabeth LIX Radziwill, Anton Heinrich Fürst XXIX Redern, Friedrich Wilhelm von XXIX Reich, Andreas X.XV.XIX.XX. XXIV.XXVI.XXVIII Reimer, Georg Andreas XII. XXXVIII.XXXIX Rellstab, Ludwig XXVII.XXXII Rintel, Johanna Urania Adelheid LX Rintel, Ludwig Wilhelm LX Rintel, Wilhelm LX Rosenstiel, Friedrich Philipp XXVII Rosenstiel, Louise Elisabeth XXVII Rungenhagen, Karl Friedrich LVIII Schadow, Johann Gottfried XXXI Schleiermacher, Elisabeth XII Schleiermacher, Henriette XII.LIV Schleiermacher, Nathanael XXXIX Schmidt, Bernhard XIX.XX Schulz, Johann Abraham Peter 240 Seibt, Ilsabe XX Siegel, Ludwig XXXI Spontini, Gaspare Luigi XXIX Sydow, Adolf XI.XII.XXVI.LIII Thaer, Albrecht 460 Twesten, August XIV Virmond, Wolfgang XI.XII.XIII Wegscheider, Julius August Ludwig 42 Willich, Ehrenfried von XII.XIV.XXVI.XXXVI.267 Wilmsen, Friedrich Philipp XI.154 Wolfart, Johann Heinrich XXXIII. 251 Wolfart, Karl (Carl) Christian XXVI.XXVIII.XXXII–XXXIII. XXXIX.250–254 Wolfart, Marie Susanne Judith 251

Namen Wolfart, Philipp Ludwig XXXIII. 251 Woltersdorff LII–LIII Zabel, Friedrich Wilhelm XXXVIII. XL.XLI.LIII–LV Zelter, Adolph Raphael 239 Zelter, Clara Antigone 239 Zelter, Dorothea Auguste Cäcilia 239

633

Zelter, George 238 Zelter, Georg Friedrich 239 Zelter, Johanna Sophia Eleonora 239 Zelter, Juliane Caroline Auguste XXIX.239 Zelter, Karl Friedrich XXVI. XXVIII−XXXIII.LVI−LIX.237− 241

Bibelstellen Halbfett gesetzte arabische Seitenzahlen weisen Bibelstellen nach, über die Schleiermacher gepredigt hat. Die in Schleiermachers Texten vorkommenden Bibelstellenangaben werden durch recte gesetzte arabische Seitenzahlen verzeichnet. Kursiv gesetzte arabische und römische Seitenzahlen geben solche Bibelstellen an, die im Sachapparat und in der Bandeinleitung genannt sind. Die Abfolge der biblischen Bücher ist an der Lutherbibel orientiert. Das erste Buch Mose (Genesis) Gen 1,1–30 1,26–28 1,26 1,28 2,2 2,15 3,19 11,1–9 13,1–12 41,53–54 42–43 50,20

458 73 87.458.463.514. 529 87.413.458.463. 514.529 23 455 XXVIII.254 126 341 479 479 314

Das zweite Buch Mose (Exodus) Ex 1 2,1–10 16,29 20,2–17 20,7 20,10 20,12 21,17 25–31 25,2 25,10–21

479 576 17 551 450.451 18 549.554 549 285.584 582 584

25,17–22 25,17 25,20 27,20 29,42 30,34–35 31,12–13 31,17 33,7–11 34,34–35

13 585.586 585.586 582 578 584 582 23 578 584

Das dritte Buch Mose (Leviticus) Lev 1,1–2 1,1 4,1–2 7,22–23 16 16,2 16,13–14 16,15 23,26–32 24,5–9

582 578 582 582 562 13 13 585.586 562 17

Das vierte Buch Mose (Numeri) Num 6,24–26 11,11–15 14,13–16 14,29–30 14,29 20,7–12

XXVIII.254 578 577 578.579 578 578

Bibelstellen 21,4–9 21,8–9 28,1–2 29,1–11 30,2

310 310 582 562 582

Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium) Dtn 4,38 5,6–21 5,11 5,14 5,16 6,1 9,4–5 11,26–28 18,15 23,25–26 32,48–52 32,49 32,50 32,52 34,1–5 34,4

577 551 450.451 18 492.549.554 582 577 554.582 448 17 578 582 582 582 578.582 578

Das erste Buch Samuel 1Sam 2,26 21,2–7

589.601 17

Das erste Buch der Könige 1Kön 3,9–12 6 19,11–12

507 584 131

Das Buch Hiob (Ijob) Hiob 1,21

268

Der Psalter Ps 11,4 16,10 32,1 45,8 69,10 85,3

607 208 419 91 550 419

90,10 90,12 103,19 104,4 110,1 111,4 118,26 119,105 124,8

635 95.266 548 607 506 299 583.586 41.184 188 XIX.XXVIII.237. 250

Die Sprüche Salomos (Sprichwörter) Spr 3,12 10,12 14,34 16,18 21,1 22,2

90.93.98 365 224–236.XVI 231 394 413

Der Prediger Salomos (Kohelet) PredSal 3,20 12,7

278 254

Der Prophet Jesaja Jes 9,1 9,5 29,13 32,15 40,4 42,2 42,3 52,7 53,3–4 53,7–8 53,12 54,13 55,11 61,3

175.483 298.410 549.550.562 209 544 295 429 600 259 371 130.131 67 170 93

Der Prophet Jeremia Jer 31,31 31,33–34 31,33

67 67 149

636

Verzeichnisse

Der Prophet Sacharja Sach 9,9 13,7

550 157.169

Der Prophet Maleachi Mal 3,1 3,23–24

448 448

Das Buch Jesus Sirach Sir 48,1–12 48,10

448 448

Das Evangelium nach Matthäus Mt 2,1–18 3,1–12 3,9 3,16 3,17 4 4,13 4,16 4,17 4,18 4,21 5,6 5,14 5,17–19 5,17 5,21–48 5,34 5,45 6,7–8 6,22 6,24–34 6,24 6,25 6,31 6,33 7,2 7,13 7,21 7,28–29 8,5

402 430 542 36 37.160 LI 358.561 175.483 408.440 64 64 259.421.422 15.564 451 146.532.554.567. 583.592.593.594 567 607 323.612 417 12.31.115.260 XV.454–465 461 490 453–465.XV 12.202.352.421. 492.494.515.531 221 332 123 82 358.361

8,20 8,23–27 8,25 8,26 8,27 8,28 9,1 9,2 9,6 9,12 9,18–22 9,18–26 9,18 9,20–22 9,27–30 9,27 9,30 9,32–33 10,2–4 10,5–6 10,6 10,15 10,16–22 10,17 10,22 10,24 10,27 10,37 10,38 10,41 11,3 11,5 11,7–19 11,10 11,19 11,20–24 11,23 11,25 11,28–29 11,28 11,29 11,30 12,10 12,13 12,19 12,20 12,22–30

177 304.513.523 306 305.512 327 326 361 75 76 26.43.109.193 358 382 382 258 258 196 196 328 63 610 592.599 424 307 168 275 107.168.254.275 218 136.137 190 80 133.380.397 522.560 104 448 105 361 361 560.602 259 429.550.565 430 531 75 75 295 429 113

Bibelstellen 12,22 12,24 12,30 12,32 12,34 13,3–8 13,3–23 13,4 13,8 13,18–23 13,23 13,24–52 13,31–32 13,36 13,58 14,15–21 15,1–20 15,8 15,14 15,19 15,21–28 15,22–28 15,24 16,1–4 16,13–14 16,14 16,16 16,17 16,18 16,19 16,20 16,24 16,26 17,3 17,5 17,9 17,20 18,11 18,12–14 18,15–17 18,20 18,21–22 19,6 19,8 19,28

113.328 77 115 118 209.221.280. 446.534 227 246 227 248 178 248 220 242 219 306 487.512 532 562 26 116.221 328 258 109.145.592. 599.610 458 127 448.469 299.469 127 471 316 196 138.190 451.483 448 37 196 523 48.109.193 109 81 158.190 429 493 138 279

19,29 19,30 20,1–16 20,26-28 20,28 20,29–34 21,1–9 21,1 21,5 21,9 21,28–31 22,37 22,44 23,1–33 23,2 23,4 23,8–10 23,8 23,9–10 23,13 23,37 24,36 25,21 25,23 26,17–20 26,31 26,38 26,39 26,46 26,55 26,63–65 26,64 27,3–5 27,23 27,45 28,2 28,9–10 28,16–20 28,18–20 28,19–20 28,19 28,20

637 83.136.137.545 7 189 607 299 258 178.550 179 550 41.184 189 551 299 259 316 147.582 603 172.281 603 316 74 581 7.189.266 7.189.266 144 157.169 560 144.194.195. 307.510 173 147.157 158 196 271 184 161 205 211 211 599 287 149.263 10.364

Das Evangelium nach Markus Mk 1,4–8 430 1,11 37.160

638 1,15 1,16 1,19 1,21 1,29 2,1 2,17 2,18–22 2,22 2,23–3,5 2,23–7,30 3,6–12 3,13–21 3,17 3,20 3,21 3,22–30 3,22 3,31–35 3,31 4,1–9 4,1 4,2–8 4,3–20 4,4 4,8 4,10–25 4,13–20 4,20 4,21–34 4,26–34 4,26 4,35–41 4,35 4,37 4,38 4,39 4,41 5,1–20 5,1 5,21–23 5,21–34 5,21–43 5,25–30 5,25–34

Verzeichnisse 408 64 64 358.361 62 358.361 26.43.109.193 17 XVIII 16–24 XVIII.LIII 39–48 62–69.113.135 323 361 135 112–120.136 77 134–141 68 178–186.217.242 136 227 246 227 248 216–223.242 178 248 220 242–249 131 303–310.326. 327.358.512. 513.523 327 327 306 512 327 325–333.358 326 379 357–366.379 382 264 258.380

5,35–43 6,1–6 6,5–6 6,7–11 6,7–13 6,7 6,8 6,12–29 6,13 6,14–29 6,15 6,30–34 6,31–33 6,31–34 6,32 6,34–44 6,34 6,35–44 6,45–56 7,1–5 7,1–23 7,2–4 7,5 7,6–13 7,6 7,14–23 7,21 7,24–30 8,11 8,28–29 8,29–30 8,34 8,36 9,4 9,9 9,25–26 9,32 9,33 9,38–39 10,5 10,9 10,29–30 10,31 10,43–45 10,45

379–388.358 402–410 306 424–431.445 466 445 468 444–452 469 466 469 466–474.492 490 492 487 511 488.491 486–494.487. 510.512 509–516 530–536.566 532 567 550.567 549–556.535. 566.567.573 562 566–572.573 116.221 609–616.328 458 469 196 138.190 451.483 448 196 328 258 358.361 520 138 493 83.545 7 607 299

Bibelstellen 11,1–10 11,1 11,9 12,30 12,34 12,36 12,38–40 13,9 13,12–13 14,12–17 14,36 14,48–49 14,61–64 15,13–14 15,28 15,33 16,9–14 16,18

178 179 41.184 551 312 299 259 307 307 144 144.307.510 147.157 158 184 130.131 161 211 523

Das Evangelium nach Lukas Lk 2,1–20 2,14 2,35 2,52 3,1–20 3,5 3,8 3,22 4,24 4,25–27 4,27 4,28–29 4,28–30 4,31 4,32 4,36 5,8 5,31–32 5,31 6,38 6,39 6,40 6,45 7,1 7,19

402 587.596 267.312 589.601 430 544 542 37.160 419 419 419 419 144 358.361 82 82 33 109 26.43.193 221 26 107.168.254.275 209.221.280.446. 534 358.361 133.397

7,20 7,22 7,24–35 7,34 7,48 8,4–8 8,4–15 8,5 8,11–15 8,19–21 8,21 8,22–25 8,24 8,26 8,40–48 8,40–56 8,42 8,43–46 8,43–48 8,51–52 8,52–55 9,8 9,12–17 9,19–20 9,20–21 9,23 9,25 9,33 9,45 9,51–55 9,52–54 9,53–56 9,54 9,55 9,58 10,3 10,13–16 10,15 10,19 10,20 10,27 10,42 11,14–26 11,14 11,15 11,23 11,33

639 380 522.560 104 105 522 227 103.246 227 178 139 139 304.513.523 305.306.512 326 358 382 382 264 258 382 383 469 487.512 469 196 138.190 451 448 258 64 323 301 301 323 177 307 361 361 523 469 551 420.531.533.536 113 113.328 77 115 115

640 11,34 11,39–52 11,46 12,3 12,10 12,14 12,22 12,49 13,18–19 13,24 13,31 13,32 14,26 16,1–30 16,31 17,6 17,11–19 17,12–18 17,18 17,19 18,9–14 18,13 18,29–30 18,31–33 18,31 19,1–4 19,1–10 19,1 19,2 19,4 19,5–10 19,9 19,10 19,11–27 19,17 19,28–36 19,29–40 19,29 19,36–38 19,37 19,38 19,42 20,42–43 21,12–17 22,7–15 22,37 22,42

Verzeichnisse 12.31.260 259 147.582 218 118 490 490 130.560 242 332 501 501 136.137 449 449 523 301 522 301 522 107 107 83.545 105 100 100 99 100 101 100 99–111 102 26.48.102.193 104 7 100 178 179 103 179 41.184 74 299 307 144 130.131 144.194.307.510

22,52–53 23,21 23,34 23,39–43 23,42–43 23,44 23,46 24,1–3 24,13–15 24,13–51 24,17–20 24,21 24,25–26 24,27 24,33–37 24,36–39 24,39 24,41 24,46–47 24,47–49 24,47 24,48 24,49

147.157 184 160.230.347. 356.360 161 161 161 260 204–215 212 211 128 128.156.533.542 121–133.142 122 124 210 210.211 211 124.128 368 124.127 214.542 131.209.215. 270.542

Das Evangelium nach Johannes Joh 1,1–2 1,4 1,5 1,14–17 1,14

1,16 1,17 1,19–31 1,29 1,35–37 1,35–42 1,42

591 262 158.171 167 38.61.133.149. 160.167.170.171. 182.215.258.261. 265.275.295.296. 309.313.372.397. 522.557.558.561. 572.590.591.595. 599 167.572 167 430 82 82 63 64

Bibelstellen 1,45–46 1,46 1,45–51 1,47–51 1,49 1,51 2,1–11 2,4 2,12 2,17 2,25 3,1–2 3,1–21 3,2 3,4 3,8 3,9 3,14 3,16 3,17–18 3,17 4,1–42 4,5–42 4,7–26 4,7 4,8 4,9 4,10 4,13–14 4,14 4,15 4,16 4,18–19 4,19 4,20 4,21–23 4,21 4,23–24 4,23 4,25–26 4,27 4,28–29 4,31

27 35 101 25–38.52.57. 58.70.99.108 57.59.101 59.215 104 145 358.361 550 179 448 449 448 449 207 449 310 585 408 48.109.170.218. 300 369 49.101 49 52 52 50 50.55 51 55 51 53 52 57.101 51 554 284.584 22.23.24.51.285. 290.337.338.412. 461.552.553 284.552.584 49–61.70.99 53 51 53

4,32 4,34 4,40 4,42 4,47 5,1–16 5,2–7 5,8 5,11 5,17 5,19–20

5,19 5,20 5,24 5,36 5,38 6,3–15 6,23–65 6,30–31 6,33 6,35 6,38 6,39 6,44 6,45 6,48 6,50–51 6,51 6,53–58 6,53 6,63 6,66–68 6,66 6,68 7,6 7,8 7,16 7,17 7,32–33 7,48 8,11 8,28–29 8,28 8,31–36

641 53 53.123.201 54 54 358.361 23 75 23.76 23 23 36.63.103.111. 159.222.377.471. 510.561.572.601. 612 11.23.140.561.580 152.188.592 191.200 408 196 487.491.512 491 491 491 190 123 408 63 67 190 491 190 491 128 128.221.284.285 287 275 221.284 145 145 140 385.410 145 275 522 63 140 30

642 8,32 8,35–36 8,36 8,46 8,59 9,1–38 9,1–41 9,2–3 9,4–5 9,4 9,5 9,6 9,7 9,13–15 9,16 9,17 9,20–21 9,22 9,25 9,26 9,27 9,32–33 9,34 9,35–38 10,1–16 10,11–12 10,11 10,16 10,18 10,30 10,31 10,39 11,6 11,7 11,8 11,11–14 11,11 11,12–14 11,14–15 11,14 11,16 11,46–57 11,47–50 11,53–54

Verzeichnisse 602 24 586.602 146 144 70.101 70 71 71 21.42.71.72.103. 514 71 76 76.78 76 76.77.78 77.78.101 79 77.79 78 77 77 77 77 70–84.99 193 193 260 48.141.263.281 581 111.123.152.159. 173.561.572.580. 601.612 144 144 538 538 538.541 538 383.538 383 541 538 537–548 145 114 146

11,53 12,1–4 12,12–19 12,13 12,23 12,24 12,32 12,45 12,47 13,1 13,2 13,16 13,23 13,25 13,31–16,33 13,33 13,34 14,6 14,8 14,9 14,10 14,11 14,19 14,20 14,23 14,25 14,26 14,27 14,30–31 14,30 14,31 15,1–8 15,1–17,1 15,4–5 15,5 15,12 15,13–14 15,13 15,15 15,16 15,18

145 179 178 41.184 146 131.150.152.172. 186 133.174 36 109 146.307 143.166 168 143.152.257 152.257 142.166 154 169.194.457.583. 605 30.231 257 255–265.36. 152.159. 285.289 261.262.264 257 154 257.261 381 154 257.261.369.377 191.299.419 142–153.165. 166.173 154.160.173 166.174 151 151 283.583.595 151.284 169.457.583.605 194 198 575.577.579.580 63.372 115.168.275

Bibelstellen 15,20 15,26–27 16,5 16,7 16,11 16,12–14 16,12 16,13–14 16,13–15 16,13 16,14–15 16,14 16,16 16,28 16,29–30 16,32 16,33 17 17,1 17,4–5 17,4 17,6–8 17,6 17,8 17,11 17,18 17,20 17,22–23 17,22 17,24 18,8 18,11 18,36 18,37 19,15 19,25–26 19,25–27 19,26–27 19,30 20,14–21,14 20,21

107.115.168.254. 275.307 301.378 154.166.261 283–290.131. 151.166.172. 261.364 174 369 154.287.307.581 291–302.119.364 284 24.29.166.283. 377.434 292 287.543.585 154 154 154 154–163.165. 166.171 164–177.155.190 305 307 188 305 305 281 188.408 123.565 401 263.281 565 123 10.161.268 155 42 42.173.279.323. 491 158 184 158 156.161 141.156 160.260.297 211 401

20,22 20,23 20,25 20,27 20,29 21,1–14 21,2 21,12 21,15 21,20 21,22 21,25

643 271 271 210 210 301 212 37 258 58 152.257 152 130.298

Die Apostelgeschichte Apg 1,3–4 214 1,3 207.211 1,4–5 270 1,4 368 1,6–7 214 1,7 207.581 1,8 166.170.209.214. 263.270.271.307. 368.542 1,12–14 272 1,15–26 269 1,15 272 1,16–18 271 1,21-22 269–282 1,23 273 1,26 273 2 67.283.312 2,1–4 283 2,1–11 233 2,1–13 368 2,4 270 2,11 289.440 2,14 67.433 2,27 208 2,34–35 299 2,36 498 2,37–38 433 2,37–41 376 2,37 376 2,41 369.376 2,43 514 2,47 440 3,1–10 514

644 3,12 3,13 4,1–21 4,8–12 4,8 4,12 4,18 4,29 4,31 5,1–3 5,12–16 5,17–28 5,17–33 5,29–32 5,29–33 5,29 5,34–37 5,34 5,38–39 5,38 6,1–5 6,1–6 6,5 6,8–7,53 6,8–7,59 6,8–15 6,15 7,2–53 7,52 7,54 7,55 7,57 7,59 8,1 8,4–5 8,5–6 8,14–17 8,18–19 8,18–23 8,26 8,27 8,28 8,29 8,30–33 8,30 8,31 8,34

Verzeichnisse 433 274 312 317 270.433 133.410.438 312 579 312 433 514 312 392 317 312 433 312 311 311–324.392 392 334–345.352 352 342 319 342.369 353 392 353 353 353 353.393 355.392 346–356 54.355.369 369 54.369.374 369 377 433 368.370.373 371 375 368.373 371 375 375 375

8,35 8,36.38 8,39 8,40 9,1–3 9,1–19 9,3–4 9,3 9,5 9,20–30 10 10,1–2 10,7 10,9–16 10,9–20 10,14 10,15 10,17–22 10,22 10,23 10,24 10,28 10,30–33 10,31 10,32 10,33 10,34–35 10,34–36 10,34–43 10,34 10,40–41 10,44–46 10,44–48 10,44 10,46 10,47–48 10,47 11,1–16 11,1–18 11,3 11,5–10 11,5–12 11,8 11,9 11,11 11,12 11,13–14

375 367–378 368.374 374 324 279 390 281 389–401 480 280.376.432 414 414 436.442 376 436 436 437 439 437 376 421.438 411 411–423 411.415.418 420 421 442 432.439 406 274 439 420 439 440.441 376 441 432 280.421 436 436.442 434 436 436 437 437 437.439

Bibelstellen 11,15 11,17 11,18 11,19–21 11,25–26 11,27–30 12,1–2 12,1–4 12,2–3 12,5–11 12,19–23 12,19 12,24 13,1–3 13,2 14,26 15,1–12 15,1–29 15,1 15,2 15,8 15,28 15,30 15,36–41 16,9–12 16,16–18 16,19–40 17,23–25 17,28 17,30 18,18–23 22,3–21 22,3 22,6 26,1–23 26,12–13 26,14–15 26,14 26,16–19 26,16 26,19 28,3–6

439 432–443 435 370.476 480 475–485 279 496 503 497 495–508.117 497 497 370 482 370 421 532 484 484 273.277 484 370 370 517 517–529 518 258 528 160.220 370 279 323.392 324 279 324 395 324.355.389 396 400 396.400 523

Der Brief des Paulus an die Römer Röm 1,1 1,16

579 321

1,17 1,18–3,20 1,18 2,12–16 2,17–19 3,12 3,22 3,23 3,25 4,7 4,25 5,1–3 5,2 5,5 5,6 5,7–8 5,19 6,4–6 6,4 6,5 6,23 7,7–23 7,15 7,18 7,22 7,23 8,12–13 8,16–17 8,16 8,21 8,26 8,28 8,29 8,33 8,34 8,37 9–11 9,20–21 9,20 9,21 10,2 10,15 10,17

645 234.422.535.593 30 232 30 26 563 593 29.372.418.421. 422.522.563 585.586 419 126 192 564 192 586 192–203 193.198.200 308 205.208 589 596 30 31 31 31 31.416 565 446 210.374 290.321.535.536. 553.594 604 8.86.98.163.308. 324.345.527.545. 589 203 201 201 98.480 420 420 420 371.423 396 600 209.397.592

646 11,32 11,33 12,4–5 12,15 12,21 13,1–4 13,1–5 13,1 13,4 13,10 14,1–6 14,7–8 14,8 14,9 15,2 16,25

Verzeichnisse 336.359.600 131.152 181 156 118.138.324.356 606 315.321 568.606 315 551 3.10 3–15 524 11 616 149

Der erste Brief des Paulus an die Korinther 1 Kor 1,23 1,30 2,4 2,13–15 3,11 3,16 3,21–22 3,22 4,1–2 5,9–10 5,10 5,30 7,20-22 7,20 7,21 7,40 10,18 10,24 12 12,3 12,4–5 12,7 12,12–13 12,12–14 12,12–27 12,13 12,21

132.196 163 388 24 377.471 585 347.605 565.605 401 569 605 605 606 375 607 231 279 457.507 228 270.295 295 19.604 181.295 348 66 300.585 66

12,23 13,2 13,4 13,12 14,33 15,6 15,9 15,10 15,20 15,28

66 523 11 443 368.370 274 400 66.231.279.389 203 366

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 2Kor 1,20 256 3,3 67 3,6 555 3,17 287 3,18 282.339.388.434. 443.472.586.604 4,4 298 5,14 280.398.479.534 5,20 301 6,16 585 7,10 98 11,23 66.231.279.389 12,9 564.604 Der Brief des Paulus an die Galater Gal 1,6 321 1,8 391.392 1,10 579 1,12 258 2,1–14 532 2,9 66 2,10 484 2,19–20 149 2,20 125.201.264.280. 565 2,21 337 3,1 172 3,13–14 149 3,13–22 438 3,13 150 3,19 149.197 3,21 585 3,22–23 160.197.336.359. 600

Bibelstellen 3,22–24 3,23–29 3,23 3,24 3,26 3,27–28 3,27 3,28 4,1–5 4,3–4 4,3–5 4,3–7 4,4 4,5 4,19 5,2 5,6 5,17 5,18 5,25–6,10 6,2 6,8 6,10

398 5 5.247 5 5 596–608 5 300 579 398 391.593 446 587–595.5.146. 150.209.336. 359.418.568 583 215.235.299 337 533.535 295.354.416 226 460 460 314.465 479

Der Brief des Paulus an die Epheser Eph 1,6 505.527 1,9–10 588 1,22-23 290 2,14 299 2,18 564 2,19–22 585 2,21–22 378 3,9 588 4,1–6 485 4,3 431 4,4–6 485 4,6 529 4,13 591.594.599 4,15–16 290 4,22–30 504 4,22 504 4,25 504 5,14 355 5,27 378 6,2 554

6,10–20 6,12 6,14–16 6,14–17 6,17

647 524.528 189 524 528 293.321

Der Brief des Paulus an die Philipper Phil 1,1 1,14–18 2,4 2,6–7 2,7 2,9–10 2,9 2,10 2,11 2,17 2,21 3,5–6 3,13 3,15 4,4 4,6 4,11–12

579 519 507 563 471 302 125.262.421 494 171 392 457 390 35.120.201.400. 564 407 187–191 86.92 343

Der Brief des Paulus an die Kolosser Kol 1,15 1,18 1,19 1,22 1,24 1,26–27 2,9 2,19 3,14

153.298 290 288.590.599 378 197 149 258.288.563.590. 599 290 176.343.364.378. 407

Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher 1Thess 4,9 5,23–24

602 XX

648

Verzeichnisse

Der erste Brief des Paulus an Timotheus 1Tim 2,1 6,16

268 231

Der zweite Brief des Paulus an Timotheus 2Tim 1,7 3,16 4,6 4,13

XVI 347 392 425

Der Brief des Paulus an Titus Tit 1,1

579

Der erste Brief des Petrus 1Petr 2,4–5 2,5 2,9–10 2,9 3,15 4,8–11 4,8 4,11

585 542 395 98.457.564 355.434.438 282 365 282

Der zweite Brief des Petrus 2Petr 1,1

579

2,9–10 2,9 2,10 2,14–15 2,14 2,17 3,5–6 3,6 4,12 4,15 4,16 5,8–9 6,20 7,26 8,1 8,2 8,5 8,10 9,11 10,1 10,3 10,21 12,2 12,6 12,8 12,9 12,11–12 12,13 13,8 13,9 13,14

133 258 202 588 560 562.572 573–586.285 147 440 557–565.471. 572.574.591 13.585.586 195 562 562 562 285 576 149 562 397.576 562.563.583.586 562 557 90.93.98 86 86 85–98 96 129.386 12.37.471.472 254

Der erste Brief des Johannes

Der Brief des Jakobus

1Joh 3,2 4,16–21 4,16 4,18 4,19 5,4

Jak 1,1 1,15 1,17 1,22 3,1–12 3,17 5,20

214 323 257.323 323 175.452 190

579 559 223.281 265 438 547 419

Der Brief an die Hebräer Hebr 1,3 1,9

38.152.173.200. 298 91

Die Offenbarung des Johannes Offb 2,5 3,19

423 90.93.98