Kritiker und Exegeten: Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft [1 ed.] 9783666531422, 9783647531427, 9783525531426

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Kritiker und Exegeten: Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft [1 ed.]
 9783666531422, 9783647531427, 9783525531426

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Rudolf Smend

Kritiker und Exegeten Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 53 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-53142-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Hans-Peter Müller  † Walter Dietrich Christoph Levin Christoph Bultmann meinen Assistenten 1965–1998

Inhalt

Vorwort .......................................................................................................................XI Die Buxtorfs (1564–1732) ............................................................................................ 1 Johannes Buxtorf I (1564–1629) ........................................................................... 1 Johannes Buxtorf II (1599–1664) .......................................................................17 Johann Jacob Buxtorf (1645–1704) ....................................................................28 Johannes Buxtorf III (1663–1732) .......................................................................32 Samuel Bochart (1599–1667) ....................................................................................36 Baruch de Spinoza (1632–1677) ................................................................................50 Richard Simon (1638–1712) .......................................................................................67 Johann Gottlob Carpzov (1679–1767) .....................................................................97 Jean Astruc (1684–1766) .........................................................................................108 Robert Lowth (1710–1787) ......................................................................................124 Johann David Michaelis (1717–1791) .....................................................................140 Johann Gottfried Herder (1744–1803) ...................................................................154 Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) ...............................................................176 Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) ..............................................192 Wilhelm Gesenius (1786–1842) ..............................................................................207 Friedrich Bleek (1793–1859) ....................................................................................226 Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) ..........................................................240 Heinrich Ewald (1803–1875) ...................................................................................258 Franz Delitzsch (1813–1890) ...................................................................................278 Abraham Kuenen (1828–1891) ................................................................................300 Adolf Kamphausen (1829–1909) ............................................................................317 Emil Kautzsch (1841–1910) .....................................................................................332

VIII

Inhalt

Julius Wellhausen (1844–1918) ...............................................................................343 Bernhard Duhm (1847–1928) .................................................................................357 Bernhard Stade (1848–1906) ..................................................................................372 Hermann Guthe (1849–1936) .................................................................................386 Karl Budde (1850–1935) ...........................................................................................404 Rudolf Smend (1851–1913) ......................................................................................420 Rudolf Kittel (1853–1929) ........................................................................................454 Karl Marti (1855–1925) ............................................................................................482 Johannes Meinhold (1861–1937) .............................................................................488 Hermann Gunkel (1862–1932) ...............................................................................501 Alfred Rahlfs (1865–1935) .......................................................................................515 Alfred Bertholet (1868–1951) ..................................................................................525 Otto Procksch (1874–1947) .....................................................................................543 Hugo Greßmann (1877–1927) ................................................................................560 Gustav Hölscher (1877–1955) ..................................................................................569 Martin Buber (1878–1965) ......................................................................................598 Ludwig Köhler (1880–1956) ....................................................................................634 Albrecht Alt (1883–1956) .........................................................................................648 Sigmund Mowinckel (1884–1965) ..........................................................................678 Otto Eißfeldt (1887–1973) .......................................................................................691 Walter Baumgartner (1887–1970) ..........................................................................708 Wilhelm Rudolph (1891–1987) ...............................................................................729 Johannes Hempel (1891–1964) ...............................................................................747 Wilhelm Vischer (1895–1988) ................................................................................770 Gerhard von Rad (1901–1971) ................................................................................794 Martin Noth (1902–1968) .......................................................................................825 Isac Leo Seeligmann (1907–1982) ..........................................................................847 Walther Zimmerli (1907–1983) ..............................................................................871 Hans Walter Wolff (1911–1993) ...............................................................................894

Inhalt

IX

Lothar Perlitt (1930–2012) ......................................................................................925 Diethelm Michel (1931–1999) .................................................................................934 Timo Veijola (1947–2005) ......................................................................................948 Nachweis der Erstveröffentlichungen....................................................................983 Bildnachweis.............................................................................................................987 Namenregister...........................................................................................................989

Vorwort

Am Beginn des Studienjahres 1900/01 bekamen die Berliner Studenten von ihrem Rektor, dem Kirchenhistoriker Adolf Harnack, diesen Rat auf den Weg: „Was Sie auch studieren mögen, vernachlässigen Sie die Geschichte nicht, die große Geschichte und die Ihrer Wissenschaft. Glauben Sie nicht, daß Sie Erkenntnisse einsammeln können, ohne sich mit den Persönlichkeiten innerlich zu berühren, denen man sie verdankt, und ohne den Weg zu kennen, auf dem sie gefunden worden sind. Keine höhere wissenschaftliche Erkenntnis ist eine bloße Tatsache; eine jede ist einmal erlebt worden, und an dem Erlebnis haftet ihr Bildungswert. Wer sich damit begnügt, nur die Resultate sich anzueignen, gleicht dem Gärtner, der seinen Garten mit abgeschnittenen Blumen bepflanzt.“1 Man würde diese Einsicht heute mit etwas anderen Worten ausdrücken, aber sie hat ihre Geltung nicht verloren. Mir wurde sie vertraut, als ich 1956/57 zwei Basler Preisaufgaben bearbeitete, die dem kritischen und exegetischen Lebenswerk W.M.L. de Wettes und den Methoden der Moseforschung galten. Nicht lange danach sagte mir lachend Martin Noth, er habe manchmal den Eindruck, dass die Alttestamentler mich mehr interessierten als das Alte Testament. Im gleichen Atem fügte er aber hinzu, ich solle meine wissenschaftsgeschichtlichen Nebenstudien nur ja nicht links liegen lassen; er selbst profitiere von ihnen. Auf seine Anregung ging es auch zurück, dass mir die Würdigung dreier seiner Bonner Vorgänger aus Anlass der 150-Jahrfeier der Universität (1968) übertragen wurde; leider musste schon bald der Nachruf auf ihn selber folgen. Ähnliche Anlässe und Aufträge, aber auch pure Neugier brachten es seitdem immer wieder mit sich, dass ich mich, meist über Monate, manchmal auch Jahre, mit einzelnen Vertretern der alttestamentlichen Wissenschaft beschäftigte, woraus sich nach und nach die Porträtskizzen ergaben, die nach zwei begrenzteren Vorgängern (Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, und From Astruc to Zimmerli, Tübingen 2007) dieser Band zusammenstellt. Die schon früher erschienenen Stücke wurden überarbeitet, eine Reihe neuer

1  A. Harnack, Reden und Aufsätze I (21906) 47f.

XII

Vorwort

hinzugefügt. Da sie alle unabhängig voneinander entstanden sind, kann man sie in beliebiger Reihenfolge lesen. Auf so etwas wie eine „Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft in Einzelporträts“ habe ich es nicht abgesehen. Sonst hätte es bei dem hier skizzierten Personenkreis nicht bleiben können, ein viel größeres Gewicht wäre auf Probleme, Methoden und Ergebnisse als solche zu legen gewesen, die einzelnen Gelehrten hätten noch konsequenter in den Zusammenhang der Schulen und Richtungen ihrer Zeit (oder in den Gegensatz dazu) gestellt werden müssen. Obwohl ich diese Faktoren nach Möglichkeit einbezogen habe, ging meine Absicht doch vor allem dahin, die „Persönlichkeiten“ vorzustellen – nicht nur, weil sie nach meiner Einsicht der bei weitem wichtigste Faktor in der Geschichte der Wissenschaft sind, sondern noch mehr, weil, cum grano salis gesagt, jede von ihnen zu ihrem Teil, auf ihre Weise und natürlich auch in ihren Grenzen die moderne alttestamentliche Wissenschaft überhaupt repräsentiert. Es gibt, so möchte ich weiter behaupten, unter den hier Porträtierten keinen einzigen, bei dem sich nicht irgendetwas lernen ließe. Der Weg dahin – und also auch dahin, „sich mit den Persönlichkeiten innerlich zu berühren“ – ist die Lektüre ihrer Schriften. Um Appetit auf eigenes Studium zu machen, habe ich möglichst viel im Wortlaut zitiert und dabei nicht nur die jeweilige Orthographie, sondern in manchen Fällen auch die ursprüngliche Sprache beibehalten; die Leserinnen und Leser, die ich mir vorstelle, werden sich dadurch nicht abschrecken lassen. Und schließlich: noch wichtiger als „sich mit den Persönlichkeiten innerlich zu berühren“ ist es, ihnen tätigen Respekt zu zollen in dem, was sie bei aller Verschiedenheit eint: im Dienst an dem einzigartigen Buch, das ihnen und uns die Synagoge und die Kirche, aber auch die Universität anvertraut haben. Ich kann unmöglich die vielen Menschen aufzählen, die in fünf Jahrzehnten auf mancherlei Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben; soweit sie noch leben, seien sie auch hier meiner Dankbarkeit versichert. Zwei Freunde aus dem kirchenhistorischen Nachbarfach möchte ich aber doch ausdrücklich nennen, die die Arbeit in fast täglichen Gesprächen mit gutem Rat begleitet haben, der eine in den ersten, der andere in den letzten Jahren: Gerhard Goeters und Martin Keßler. Und einen besonderen Dank sage ich einmal mehr Herrn Dr. Peter Porzig, der in vielen Arbeitsgängen das ganze Manuskript aufbereitet hat.

Göttingen, den 17. Mai 2017

Rudolf Smend

Die Buxtorfs 1564–1732

Dem gründlichen Betrachter des Basler Münsters fällt auf, dass dort vier Epitaphe, zwei im Kreuzgang und zwei in der Krypta, einem Johannes Buxtorf, Professor der heiligen Sprache(n), gelten; bei einem von ihnen tritt als zweiter Vorname Jacob hinzu. Die vier Buxtorfs sind Vater, Sohn, Enkel und Urenkel gewesen1 und haben in lückenloser Folge 142 Jahre lang auf einem und demselben Lehrstuhl gesessen. Der sogar in Basel einmalige Fall war nur dadurch möglich, dass die ersten beiden Namensträger kraft ihrer überragenden Bedeutung die beiden folgenden gewissermaßen nach sich zogen.

Johannes Buxtorf I 1564–1629 „Camensi Westphalo“ gilt das Epitaph für den ersten Basler Buxtorf an hervorragender Stelle des Münsterkreuzgangs hoch über dem Rhein. Der Mann, den seine Eigenschaften „urbi et orbi admirabilem reddiderunt“, der Stadt und der Welt bewunderungswürdig machten2, stammte also nicht aus der Urbs, nämlich Basel, sondern aus dem kleinen Kamen in Westfalen, dessen Name allerdings heute dem Orbis, soweit er in Mitteleuropa Auto fährt, durch das „Kamener Kreuz“ kaum weniger geläufig ist als Basel. Im frommen Basel gab man dem Weg von Kamen in die Urbs später ein großes Vorbild: „Wie einst Abraham aus Chaldaea gerufen wurde, um im fremden Land der Vater eines zahlreichen Volkes zu werden, dem Gott bestimmte, vor anderen seine Worte zu glauben, so wurde Johannes Buxtorf nicht ohne göttliche Weisung aus dem Land Westfalen nach Basel versetzt, um dort der Vater möglichst vieler durch (reine) Lehre und Tugend ausgezeichneter Männer zu werden, derer sich Gott zur Verkündigung seines Reiches aufs wirkungs1  Allerdings nicht ganz in gerader Linie: der vierte war nicht Sohn, sondern Neffe des dritten. 2  Maßgebliche Monographie: St.G. Burnett, From Christian Hebraism to Jewish Studies. Johannes Buxtorf (1564–1629) and Hebrew Learning in the Seventeenth Century (1996, im Folgenden: Burnett). Bleibend wertvoll aber auch E. Kautzsch, Johannes Buxtorf der Ältere. Rectoratsrede (1879, im Folgenden: Kautzsch).

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Die Buxtorfs

vollste bedienen würde.“ So ein reichliches Jahrhundert später, 1704, Samuel Werenfels (1657–1740), Karl Barths Basler Mustertheologe3, in seiner (lateinisch gehaltenen) Gedenkrede auf den dritten Buxtorf4; um 1590 war das natürlich noch nicht abzusehen, und ganz ohne Umwege war der Weg von Kamen nach Basel auch nicht gewesen, ebenso wenig wie der von Ur nach Palästina. Als sich der junge Kamener endgültig in Basel, der Urbs, ansässig machen und Margareta Curione heiraten wollte, die älteste Tochter seines Hausherrn Leo Curione und Enkelin des berühmten Humanisten Celio Secondo Curione – beider Epitaphe hängen nah dem seinen im Münsterkreuzgang –, wandte sich der künftige Schwiegervater an Joachim Buxtorf, Doktor der Rechte von Basel und Kanzler der Grafen von Waldeck in Korbach, den Onkel des Bewerbers, mit der Bitte um Auskunft über den Neffen. Der Kanzler antwortete am 31. Oktober 15925, der Vater des Johannes, sein eigener Bruder, ebenfalls mit Namen Johannes, sei dreißig Jahre Pfarrer in Kamen gewesen, der Großvater, Severin, mehr als dreißig Jahre Bürgermeister ebendort; die Mutter, „pariter honesta“, also wohl: von gleich guter Herkunft, lebe seit zehn Jahren als Witwe. Mit besonderem Interesse wird Curione, der eine große Familie zu ernähren hatte, die Mitteilung über das nach Bezahlung der Studien verbliebene Vermögen des künftigen Schwiegersohns gelesen haben: fünfhundert Reichstaler, bei vertrauenswürdigen Leuten angelegt und in wenigen Jahren verfügbar. Johannes Buxtorf war am ersten Weihnachtstag 1564 geboren, noch im Todesjahr des für ihn maßgeblichen Reformators Calvin. Sein Weg von Kamen nach Basel hatte zunächst über die Lateinschule in Hamm und das Gymnasium in Dortmund6 auf die Hohe Schule in Herborn geführt, wo er von 1585 bis 1588 Theologie studierte. Seine dortigen Lehrer waren Caspar Olevian, der „wichtigste Calvinschüler deutscher Zunge“7, und Johannes Piscator, später bekannt als Übersetzer und Kommentator der ganzen Bibel. Von ihm mit einem Empfehlungsschreiben an Johann Jakob Grynaeus in Basel ausgestattet, zog er im Frühjahr 1588 über Heidelberg dorthin weiter. Grynaeus (1540–1617), Antistes der Basler Kirche und Inhaber der ersten (neutestamentlichen) theologischen Professur, arbeitete seit Jahren an der Ausrichtung von Kirche und Universität auf ein streng reformiertes Bekenntnis8, und da kam ihm der Schüler Olevians und Piscators gerade recht: trotz seiner Jugend schien er der geeignete Mann für die Nachfolge des jüngst verstorbenen Professors der hebräischen Sprache oder, wie es dann auf seinem Grabstein heißen sollte, „linguae sanctae“ zu sein. Der vakante Lehrstuhl gehörte nicht zur theologischen Fakultät, die überhaupt nur zwei Professoren aufwies, einen für das Neue und einen für das Alte 3  Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1947) 124–26. 4  Vita eximii viri Joh. Jacobi Buxtorfii (1705) 10f. 5  Univ. Bibl. Basel Ms G I 66, 52f. 6  Und vielleicht die Universität Marburg; so D. Tossanus, Johannis Buxtorfii, senioris, Linguae Sanctae in Academia Basileensi professoris publici, vita et mors (1630) 6. 7  J.F.G. Goeters, TRE XXV, 238. 8  Vgl. E. Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart (1960) 213–15.

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Die Buxtorfs

Testament; beide traktierten auf exegetischer Grundlage auch das, was wir heute systematische und praktische Theologie nennen würden, ja dies wird überhaupt ihre eigentliche Aufgabe gewesen sein9. Keiner der damaligen Basler Professoren des Alten Testaments hat sich in das Gedächtnis dieser Wissenschaft eingegraben, mit einer Ausnahme, die die Regel bestätigt10: der auf seine alten Tage nach Basel verschlagene Karlstadt, Luthers ehemaliger Kollege und Widersacher, dessen lange vor seiner Basler Zeit geäußerter vorsichtiger Zweifel an der mosaischen Autorschaft des Pentateuchs11 noch heute zum Repertoire der Einleitungen in das Alte Testament gehört. An dergleichen dachte der Reformator Oekolampad gewiss nicht, als er die Aufgabe des Professors der hebräischen Sprache harmlos dahin bestimmte, er solle die Grammatik lehren und zugleich einige Bibelverse mit grammatischen Erläuterungen interpretieren12. Dieser Professor war, ebenso wie sein gräzistischer Kollege, Mitglied der rangmäßig und finanziell am niedrigsten gestellten philosophischen, der „Artistenfakultät“, seine Hörerschaft bestand aber naturgemäß vor allem aus Theologiestudenten. Indessen gewann das Studium des Hebräischen als der „dritten Sprache“ neben Latein und Griechisch im 16. Jahrhundert, genährt aus humanistischer und reformatorischer Wurzel, über die Hilfsfunktion zur Exegese hinaus allenthalben ein immer größeres Eigengewicht13. Man kann von da her der Verteilung des Alten Testaments auf die beiden Fakultäten, die es ja nicht nur in Basel gegeben hat, durchaus einen Sinn abgewinnen; der ihr zugrunde liegende (mindestens scheinbare) Dualismus der Aufgabe alttestamentlicher Wissenschaft hat in Basel noch lange nach der Aufhebung der in der philosophischen Fakultät angesiedelten Professur der hebräischen Sprache in Gestalt von zwei alttestamentlichen Professuren in der theologischen Fakultät, von denen die eine mehr philologisch, die andere mehr theologisch ausgerichtet war – böse Zungen sprachen von der „wissenschaftlichen“ und der „frommen“ Professur –, bis tief ins 20. Jahrhundert weitergelebt14. Unter Buxtorfs Vorgängern auf dem hebraistischen Lehrstuhl ragt Sebastian Münster hervor (dort 1529–52), berühmt als Kosmograph, aber kaum weniger wichtig als Pionier der hebräischen Studien im deutschen Sprachgebiet. Er be9  Vgl. E. Vischer, Die Lehrstühle und der Unterricht an der theologischen Fakultät Basels seit der Reformation (Festschrift zur Feier des 450jährigen Bestehens der Universität Basel, 1910, 111–242) 133f.137f. (in selbständiger Paginierung 23f.27f.). 10  Ich sehe davon ab, dass Seb. Münster nach Karlstadts Tod neben dem hebraistischen vorübergehend auch noch den alttestamentlichen Lehrstuhl einnahm. 11  „[…] defendi posse, Mosen non fuisse scriptorem quinque librorum“ (A. Bodenstein, De Canonicis Scripturis libellus, 1520, gegen Mitte, aufgrund von Dtn 34). 12 „Hebree lingue professor grammaticam prelegat et una aliquot versus Biblie interpretetur cum examinatione radicum declinationibus et coniugationibus adiunctis.“ (R. Thommen, Geschichte der Universität Basel 1532–1618, 1889, 307, vgl. 294, aber auch Vischer, Lehrstühle [Anm. 9], 120 [10]19). 13  Für England beschreibt das vorbildlich G. Lloyd Jones, The discovery of Hebrew in England: a third language (1983). 14  Vgl. R. Smend, Bibel und Wissenschaft (2004) 125–27.

Johannes Buxtorf I

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trachtete sich hierin als Dritten im Bunde mit Johannes Reuchlin und Konrad Pellikan15, als seinen eigentlichen Lehrer aber verehrte er, wohl ohne ihm je persönlich begegnet zu sein, den größten jüdischen Gelehrten jener Zeit, den aus Franken gebürtigen, vor allem in Venedig tätigen Elias Levita (1469–1549), dessen vielfältiges philologisches Oeuvre er in lateinischen Übersetzungen der christlichen Gelehrtenwelt erschloss16. Seine eigene philologische Produktion, vornehmlich Lehrbücher, Grammatiken und Lexika, gipfelte in einer Biblia Hebraica mit lateinischer Übersetzung und einem Kommentar, der ausgiebig die rabbinischen Erklärungen benutzt. Bei aller Anknüpfung an die jüdische Wissenschaft wahrte er, einst franziskanischer Priester und jetzt reformatorisch geprägter Theologe, dem Judentum gegenüber entschieden die christliche Position; er beklagte ausdrücklich, dass der verehrte Elias Levita Christus widerstand und Jude blieb17. Sein hebräischer Stil wird von berufener Seite18 als „schlecht“ eingeschätzt. Aus seiner Lehrtätigkeit verdient Erwähnung, dass er Calvin ins Hebräische eingeführt haben dürfte19. Indem der Antistes Grynaeus dem 23jährigen Johannes Buxtorf über dreieinhalb Jahrzehnte hinweg – inzwischen hatte der hebraistische Lehrstuhl fünf Besitzer gehabt20 – das Erbe dieses Mannes antrug, bewies er einen außergewöhnlichen Instinkt. Zur endgültigen Ernennung kam es 1590, nach einer zweijährigen Zeit des Studierens und Lehrens, auch einer kurzen Reise in die übrige Schweiz21, mit dem Abschluss der Promotion zum Magister, der kurioserweise eine Disputation darüber vorausging, ob die Tiere ganz ohne 15  Opus grammaticum consummatum (1542) Vorrede. 16  Vgl. L. Geiger, Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts (1870) 74–88; G.E. Weil, Élie Lévita. Humaniste et Massorête (1963) 221–34. Unentbehrliches bibliographisches Hilfsmittel hierfür und für alles Weitere: J. Prijs/B. Prijs, Die Basler hebräischen Drucke 1492–1866 (1964, im Folgenden: Prijs, Drucke); immer heranzuziehen auch J. Prijs, Die hebräischen Handschriften (Publikationen der Universitätsbibliothek Basel 21, 1994), wo St.G. Burnett und Th. Willi die Buxtorf-Papiere bearbeitet haben. 17  Vgl. Weil a.a.O. 225. 18  Prijs, Drucke 500. 19  Vgl. E. Doumergue, Calvin I (1899) 505f. 20  Nach Athenae Rauricae sive catalogus professorum Academiae Basiliensis (1778) 442f. 21  Als Motiv der Reise von Heidelberg nach Basel (1588) gibt die Leichenrede an: „ut Grynaeum & Hospinianum hic Basileae, Dominum Henricum Bullingerum Tiguri, et Dominum Theodorum Bezam Genevae, viros sempiternâ praedicatione dignissimos videret, audiret, et ad ipsorum pedes solidiorem divinae Theologiae doctrinam imbiberet“ (Tossanus [Anm. 6] 7). Die alte Basler Universitätsgeschichte machte daraus: „dein Tigurum profectus Henr. Bullingerum, & Genevae postea Theod. Bezam adiit, eorumque institutionem percepit“ (Athenae Rauricae [Anm. 20] 444). Ähnlich K.R. Hagenbach, Die theologische Schule Basels und ihre Lehrer (1860) 27: „In Zürich lernte er Bullinger, in Genf Theodor Beza kennen.“ Der Hinweis, dass Bullinger bereits 1575 verstorben war (Kautzsch, Rectoratsrede [Anm. 2] 13), ließ die moderne theologische Lexikographie kalt: „[…] studierte u.a. […] in Zürich unter Bullinger, in Genf unter Beza“ (RGG2 I, 1927, 1406, A. Bertholet); um eine Nuance vorsichtiger die Traditionskette: „[…] besuchte er Zürich, wo Heinrich Bullinger, und Genf, wo Theodor Beza lehrte“ (RE3 III, 1897, 613, E./C. Bertheau); „[…] besuchte B. Zürich, wo Heinrich Bullinger und Genf, wo Theodor Beza lehrten“ (BBKL I, 1975, 835, F.W. Bautz); „Nach kurzem Aufenthalt in Zürich, wo H. Bullinger, und Genf, wo Th. Beza lehrte“ (RGG4 I, 1998, 1927, J.Ch. Gertz).

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Die Buxtorfs

Vernunft seien oder nicht (utrum bestiae rationis sint omnino expertes necne). „Wir erfahren [leider!] nichts darüber, wie Buxtorf diese wahrhaft disputable Frage entschieden habe.“22 Im Haus des Leo Curione am Münsterplatz, wo er durch Grynaeus’ Vermittlung wohnte und die Kinder unterrichtete, dauerte es bis zur Endgültigkeit etwas länger. Im Herbst 1592 suchte Buxtorf noch einmal seine westfälische Heimat auf – Hinreise von Basel bis Köln zu Schiff, von dort nach Kamen zu Fuß –, dann tat er den längst bedachten Schritt: „[…] endlich, am 10. dieses Monats Januar“, meldete er kurz darauf einem Freund mit Worten aus Ovids Liebeskunst (!), „fiel die ersehnte Beute in meine Netze: ich stürmte heran, riss sie an mich und sagte: Du allein gefällst mir“23. Im Februar war Hochzeit. Das Ehepaar nahm Wohnung in der Bäumleingasse gegenüber dem Haus des Buchdruckers Hieronymus Froben, dem Sterbehaus des Erasmus von Rotterdam24. Der Ehe entsprossen fünf Söhne (darunter früh verstorbene Drillinge) und sechs Töchter, die (1659 gestorbene) Mutter überlebte vier der Kinder. Vom ältesten Sohn, Johannes II, wird noch zu reden sein, der zweite, Hieronymus, offenbar das schwarze Schaf der Familie25, endete als Offizier in polnischen Diensten, drei Töchter verbanden durch ihre Ehen das Haus Buxtorf noch enger mit dem angesehenen Basel: Maria heiratete den Leonhardspfarrer Samuel Grynaeus, Lucia den Buchdrucker Johann Ludwig König, Magdalena den Theodorspfarrer und späteren Antistes Theodor Zwinger; die vier Ehefrauen ihres Bruders Johannes II waren eine Werthemann, eine Werenfels, eine Bischoff und eine Lützelmann. Dass Johannes Buxtorf I „urbi et orbi“ bewunderungswürdig gewesen sei, ist, die damaligen Maßstäbe vorausgesetzt, nicht einmal sehr übertrieben. Seinen Ruf weit über Basel hinaus bezeugen die 25 „Epicedia [Trauergedichte] virorum clarorum“ in Mittel-, West- und Osteuropa, die der gedruckten Gedenkrede des Basler Gymnasiarchen Daniel Tossanus26 beigegeben wurden. Seine Werke waren weit verbreitet, er widmete sie wichtigen Personen und Institutionen und unterhielt einen ausgedehnten Briefwechsel; in der gelehrten Welt seiner Zeit gehörte er zur Prominenz. 1611 lehnte er eine Berufung an die Akademie in Saumur ab, 1625 eine besonders ehrenvolle an die Universität Leiden, in den Anfangswirren des Dreißigjährigen Krieges scheiterte ein Ruf nach Heidelberg. So blieb er der Urbs erhalten. Er behielt zeitlebens den Lehr22  Kautzsch 14. 23  „[…] tandem decimo die hujus mensis Januarij incidit in casses praeda petita meos: accurri, arripui, dixi, Tu mihi sola places“ (Brief an Jacob Zwinger 18.1.1593, Univ. Bibl. Basel Fr.-Gr. II 83 No. 257, vgl. Kautzsch 15); Ovid: ars 1,42; 2,2 (Hinweis von Prof. Fidel Rädle). 24  Bis vor Kurzem Galerie Beyeler (Nr. 9). – Johannes II wohnte nicht mehr dort, sondern im (1758 vergrößerten) Haus zur Hohen Sonne Rittergasse 21, ebenso Johann Jacob, dessen Witwe es 1735 verkaufte. Johannes III dürfte im Zerkindenhof Nadelberg 10 (heute Theologisches Seminar) gewohnt haben; jedenfalls verkauften ihn seine Erben ebenfalls 1735. 25  Vgl. Kautzsch 18f. 26  S.o. Anm. 6.

Johannes Buxtorf I

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stuhl in der philosophischen Fakultät bei; als 1610 durch den Tod des orthodox calvinistischen Systematikers Amandus Polanus von Polansdorf, Schwiegersohns des J.J. Grynaeus, der alttestamentliche Lehrstuhl frei wurde, schlug er das Angebot aus, ihn zu übernehmen; die eigentliche Exegese mit ihren theologischen Implikationen war weniger seine Sache, und außerdem hätte er bei den Theologen über kurz oder lang in die damals noch von Grynaeus besetzte, ihm vollends nicht gemäße neutestamentliche Professur aufrücken müssen27. Das fällt um so mehr auf, als es auch den Verzicht auf ein höheres Gehalt bedeutete. In dieser Hinsicht war Buxtorf in Basel nie zufrieden. Als 1610 die holländischen Generalstaaten die Widmung des „Thesaurus grammaticus“ mit einer Gabe von 300 Gulden quittierten, bedankte er sich in überschwänglichen Worten und fügte hinzu: „Wenn einer hier die Last von hundert Eseln auf sich bürdete, so wird ihm gleichwohl nicht mehr zu Lohn als einem Esel.“28 Dass Buxtorf trotzdem eine große Familie erhalten und darüber hinaus eine eigene umfangreiche hebräisch-aramäisch-jiddische Bibliothek aufbauen konnte, setzte die Erschließung einer weiteren Einnahmequelle voraus. So beteiligte er sich an der Herstellung hebräisch gedruckter Bücher und am Handel mit ihnen, „as a censor, editor, corrector, and business representative“ – dies alles in einem Umfang, dass man es „Buxtorf’s second job“ nennen kann29. Die jüdischen Kontakte, die sich dabei innerhalb und außerhalb Basels ergaben, brachten einen wissenschaftlichen Gewinn, der den finanziellen womöglich noch überstieg. Buxtorfs Basler Lehrveranstaltungen scheinen, warum auch immer, keinen großen Zulauf gehabt zu haben30. Gleichwohl erwarb er sich „urbi et orbi“ als Lehrer des Hebräischen einen Namen wie nach ihm nur Wilhelm Gesenius. Seine Wörterbücher und Grammatiken beherrschten über Generationen den Markt und prägten ebenso den Unterricht wie die Wissenschaft. Es kam nicht von ungefähr, dass er seine erste Grammatik, die „Praeceptiones“ von 1605, mit einer Vorrede an die Ratsherren der Stadt Hamm in Westfalen begann, wo er einst durch einen dankbar erwähnten Lehrer namens Georg Fabricius in die Anfangsgründe des Hebräischen eingeführt worden war. Auf das Lernen der Sprachen in den Schulen komme es gerade heute entscheidend an: durch die Unkenntnis der Sprachen hätten schreckliche Finsternisse lange die Kirche Christi verdunkelt, durch das Geschenk der Sprachen sei ihr nunmehr das Licht des göttlichen Wortes zurückgegeben; an der Bewahrung dieses Lichtes sei mit äußerster Anstrengung zu arbeiten. Nach den Ratsherren werden die jetzigen Schüler des Hebräischen und ihre Lehrer angeredet und mit allerlei nützlichen Empfehlungen versehen, beginnend mit der Maxime, in den Schulen sei es 27  Vgl. Kautzsch 20f. 28  Brief an Joh. Uytenbogard vom 15.3.1610. Übersetzung nach K. Buxtorf-Falkeisen, Johann Buxtorf Vater […] erkannt aus seinem Briefwechsel (1860) 16; vgl. Burnett 30. 29  Burnett 35. Diese Seite von Buxtorfs Tätigkeit herausgearbeitet zu haben, ist eins der Hauptverdienste des Burnettschen Buchs (vgl. dort 35–53). 30  Ebd. 24.

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besser, mit wenigen Worten viel, als mit vielen Worten wenig zu lehren, ‫ַהּיֹום‬ ‫ִכי‬ ‫ְמ ֻרָבה‬ ‫ ְוַהְמָלאָכה‬ ‫ָקֵצר‬: „Nam dies brevis est, & opus multum, ajunt Hebraei“ – das könnte auch als Buxtorfs Lebensmotto gelten. Die Grammatik mündet zum Abschluss des vorgesehenen einjährigen Kurses in eine kleine Chrestomathie aus messianischen Verheißungen (promissiones de Messia sive Christo) in vokalisiertem Hebräisch mit Angabe der vorkommenden schwachen Verbwurzeln am Rand und interlinearer lateinischer Übersetzung, die, um es nicht zu leicht zu machen, auf dem Kopf steht31. Allenthalben sieht man den Praktiker, der Buxtorf offenkundig gewesen ist; man sieht aber auch den Theologen, der seine philologische Arbeit von vornherein in den Dienst der Kirche stellt. Noch vor den „Praeceptiones“ hatte er, gemeinsam mit ihnen zu benutzen, 1600 als sein Erstlingswerk die „Epitome radicum Hebraicarum“ herausgebracht, ein Wörterbuch im Taschenformat für den studentischen Gebrauch, angeregt und mit einem Vorwort versehen von Polanus, dem Alttestamentler in der anderen Fakultät – sowohl die Aufgabenteilung als auch die Rangordnung kommt darin schön zum Ausdruck32. Der Titel des Bändchens zeigt an, dass die hebräischen Wörter in ihm nicht insgesamt alphabetisch, sondern wo möglich nach dem Alphabet der dreiradikaligen „Wurzeln“ (radices) angeordnet sind. 1607 übertrug er den Titel „Epitome radicum“ auf ein in der Anführung von Bedeutungen und Belegen stark erweitertes, im Format von Duodez auf Oktav vergrößertes Lexikon, das auch das biblische Aramäisch einbezog und also „Epitome radicum Hebraicarum et Chaldaicarum“ und seit der zweiten Auflage (1615), auf die bis ins 19. Jahrhundert zahlreiche weitere folgten, angemessen „Lexicon Hebraicum et Chaldaicum“ hieß. Auf dieses Buch bezieht sich Richard Simons Diktum: „La plus-part de ceux qui se vantent aujourdhui de sçavoir la Langue Hebraïque, n’ont presque point eu d’autre Maistre que le Dictionnaire de Buxtorfe, qu’ils ont jugé être le meilleur, parce qu’il est le plus abregé & le plus methodique.“33 Noch zweihundert Jahre nach seinem ersten Erscheinen sagte Wilhelm Gesenius von Buxtorfs Lexikon im Präsens: „Es empfiehlt sich durch zweckmäßige Anordnung und Auswahl“34. Wenn Gesenius allerdings hinzufügte, „hier und da“ sei „das Syrische benutzt“, dann war das mehr Tadel als Lob: Buxtorf hat die Nachbarsprachen oder, wie Gesenius sie nennt35, die „verwandten Dialekte“ nicht herangezogen, genau genommen das Arabische, mit dem er nicht vertraut war36. Dem steht aber gegenüber, dass er 31  Vielleicht ist von Interesse, um welche Texte es sich handelt: Gen 3,14f.; 49,8–10; Dtn 18,15– 19; Jes 7,10; 9,6; 11,1–5; Jer 23,5f.; Ez 34,23f.; Dan 9,24f.; Mi 5,2; Hag 2,7–10; Sach 6,11–13; 9,9f.; Mal 3,1; 4,5f.; Jes 53,4–12; Ps 6,1–10; 12; 15; 23; 32; 67; 110; 117; 121; 130 (hier nach der erweiterten Liste Epitome gramm. Hebr. 71658, 110–35). 32  Kautzsch 35 hat die Existenz dieses Büchleins schlichtweg bestritten, weil sich in Basel kein Exemplar erhalten hat. Aber die Bodleiana besitzt sogar zwei (Prijs, Drucke 278f.). 33  Histoire critique du Vieux Testament (1685) 359. 34  Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift (1815) 113. 35  Ebd. 112. 36  Burnett 127.

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die jüdischen Kommentare des Mittelalters vollständiger eingearbeitet hat als jeder seiner christlichen Vorgänger, wie denn überhaupt sein Lexikon auf neuer Stufe ein ebenso schlagendes „Beispiel eines erfolgreichen Wissenschaftstransfers“ ist wie das Werk Sebastian Münsters37. Mit Grund trägt die „Epitome“ von 1600 den hebräischen Obertitel ‫קצור‬  ‫השרשים‬  ‫„( ספר‬Kurzes Verzeichnis der Wurzeln“), unter stiller Bezugnahme auf den ‫השרשים‬  ‫„( ספר‬Verzeichnis der Wurzeln“) des David Kimchi (Radak); ihre unmittelbare Vorlage ist wahrscheinlich die „Epitome Thesaurus Linguae Sanctae Hebraeae“ des italienischen Dominikaners Sanctes Pagninus (zuerst 1529) gewesen38, diese „Quintessenz der wichtigsten rabbinischen Ausleger mit Angabe der Auctoritäten, genauen Citaten, Erklärung schwieriger Stellen“39. Buxtorfs Anschluss an die Wörterbücher von Kimchi und Pagninus zeigt, dass eigene Originalität ihm nicht zuoberst stand: „His intention was clearly not to break new philological ground but rather to refine existing works by providing far more references to other Jewish sources, particularly to biblical commentaries.“40 Aber Buxtorf leistete auch Pionierarbeit. Während die hebräischen Wörterbücher in Duodez und Quart von Auflage zu Auflage weiterliefen41, arbeitete er zwei Jahrzehnte lang an einem Folianten namens „Lexicon Chaldaicum, talmudicum et rabbinicum“, den erst 1639 der Sohn herausbringen konnte und der sicher zu einem erheblichen Teil dessen Werk gewesen ist. Aber der Sohn schrieb im Vorwort: „Maneat Parenti sarta tecta gloria Authoris“ und stellte dem Titelblatt ein besonders prächtiges Kupfer mit dem Porträt des Vaters gegenüber. Dieser habe, so das Vorwort, im Jahre 160942 die Arbeit begonnen („hanc telam est orsus“) und sie durch zwanzig Jahre „immensis laboribus & sudoribus“ fortgesetzt, wobei sie sich als immer weitläufiger erwies und unbeschadet aller natürlich auch hier unumgänglichen Anknüpfung an die Vorgänger sowohl in der Sammlung des Materials als auch in dessen Disposition immer selbständiger wurde. Halb spielerisch hatte der Vater schon 1615 dem „Lexicon“ ein „Lexicon breve rabbinico-philosophicum“ beigegeben, und der Sohn war bereits durch seine Erstlingsarbeit, das „Lexicon Chaldaicum et Syriacum“ von 162243 auf das große Werk vorbereitet, aber dieses bedeutete doch eine ganz andere Aufgabe. Die Umsicht und die Sorgfalt, mit denen Vater 37  Vgl. Th. Willi in G. Veltri/G. Necker (Hg.), Gottes Sprache in der philologischen Werkstatt (2004) 43. 38  Burnett 122 (mit Nachweis der in Buxtorfs Besitz befindlichen Ausgaben des Kimchi und des Pagninus). 39  Gesenius, Geschichte 113. 40  Burnett 126. 41  Das Taschenwörterbuch, 1600 Epitome genannt, erhielt spätestens 1613 den Titel „Manuale“. Mit seiner Bezweiflung eines „Manuale“ bereits von 1602 könnte Kautzsch 36 im Recht sein, da dieses Büchlein nur aus anderweitiger Nennung bekannt ist (Prijs, Drucke 293) und das „Manuale“ von 1613 ein Auszug aus der erweiterten „Epitome“ von 1607 sein dürfte (Kautzsch; Burnett 123113). 42  Der von Burnett 129 aus einem Brief des Sohnes von 1628 erschlossenen Jahreszahl 1608 vorzuziehen. 43  S.u. 18.

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und Sohn sie auf 2678 Folioseiten gelöst haben, ist von Constantijn L’Empereur („truly worthy of eternity“)44 bis zu Wilhelm Gesenius („ein höchst fleißiges und meist ausreichendes lexicalisches Hülfsmittel“)45, ja bis zu Emil Kautzsch (ein „unentbehrliches Hülfsmittel für den Fachgelehrten“)46 mit viel Lob bedacht worden. Es hat Generationen den Zugang zur nachbiblischen jüdischen Literatur erschlossen und bietet, obwohl es von vornherein auch seine Mängel hatte47 und inzwischen natürlich für den wissenschaftlichen Gebrauch längst nicht mehr ausreicht, durch die Reichhaltigkeit seiner aramäisch-lateinischen Belege und Beschreibungen dem Interessierten immer noch eine willkommene Orientierung, die leicht in ausgiebige Lektüre übergeht. Weniger Mühe hatte der Sohn mit dem anderen Folianten, den ihm der Vater hinterließ, den „Concordantiae bibliorum Hebraicae“, einer Neubearbeitung der 1581 in Basel erschienenen Konkordanz des Isak Natan mit der durchgehenden Änderung, dass die Stellen jeweils nach den (zudem ins Lateinische übersetzten) Formen gruppiert sind – wiederum nach dem Urteil des Berufensten „eine weit bequemere Methode, die die Beobachtung sehr erleichtert“48. Das Werk kam 1632 heraus, 1861 wurde es noch einmal mit einigen Änderungen neu aufgelegt – nicht als Dokument der Wissenschaftsgeschichte, sondern für den praktischen Gebrauch. Noch Emil Kautzsch, dessen Basler Rektoratsrede von 1879 dem vor genau 250 Jahren gestorbenen Buxtorf galt, nannte es mit Selbstverständlichkeit „eines der wichtigsten Hilfsmittel für die sprachliche und kritische Erforschung des alten Testaments“49. Erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, 1896, wurde es in dieser Funktion durch Solomon Mandelkerns Konkordanz abgelöst. Kaum weniger als Buxtorfs Lexika sind seine Grammatiken verbreitet gewesen. Auch hier verfasste er zunächst ein Schulbuch, die uns schon begegneten „Praeceptiones grammaticae de Lingua Hebraea“ (1605), in der dann oft wieder aufgelegten, erheblich umfangreicheren Neuausgabe von 1613 „Epitome grammaticae Hebraeae“ genannt50. Wie bei den Lexika kam bald ein größeres Buch hinzu, der „Thesaurus grammaticus Linguae Sanctae Hebraeae“, zuerst 1609. In dessen Vorwort stellt Buxtorf zwei „Defekte“ des Faches fest: die Beschränkung auf die einzelnen Wörter und deren Abwandlungen unter Verzicht darauf, „de conjuncti […] sermonis ratione“, also von der Syntax, zu handeln, und die 44  Zit. nach P.T. van Rooden, Theology, Biblical Scholarship and Rabbinical Studies in the Seventeenth Century (1989) 183. 45  Hebräisches und chaldäisches Handwörterbuch über das Alte Testament (21823) XXVI. 46  Kautzsch 8. 47  Vgl. C. Siegfried, ZAW 2 (1882) 182. 48  Gesenius, Handwörterbuch IX. 49  Ebd. 7. 50  Nebenbei: es ist nicht ohne Reiz, die „Epitome“ zusammen mit dem Referat des bekannten Föderaltheologen Coccejus zu lesen (Observationes Ad Clarissimi Johannis Buxtorfii Epitomen Grammaticae Hebraeae, in Joh. Cocceji Opera omnia theologica, exegetica, didactica, polemica, philologica, Frankfurt a.M. 1702, VII, unpaginiert).

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Vernachlässigung des außerbiblischen Hebräisch; diesen Mangel zu beheben habe sich einzig Sebastian Münster bemüht. So enthält der „Thesaurus“ nach der Laut- und Formenlehre eine fast ebenso lange Syntax, über die Gesenius allerdings zu Recht geurteilt hat, es sei „vieles dahin gezogen, was der Formenlehre gehört“51. Der Behebung des zweiten „Defekts“ dienen in der angeschlossenen Metrik eine Reihe nachbiblischer Gedichte und vor allem eine „Kurze Anleitung zur Lektüre unvokalisierter rabbinischer Texte“ (Instructio brevis ad lectionem rabbinicam absque punctis vocalibus) sowie eine Einführung ins Jüdisch-Deutsche (Lectiones Hebraeo-Germanicae usus et exercitatio) mit einer Reihe von Beispielen. Leider ist die „Instructio brevis“ in der 2. Auflage (1615), statt, wie zwischendurch angekündigt52, in erweiterter Fassung wiederzukehren, fortgefallen und auch später nicht mehr ersetzt worden. Insgesamt übertrifft für Gesenius der Thesaurus „an Ausführlichkeit, Genauigkeit und Methode alle frühern und die rabbinischen Grammatiken weit, wenn man gleich an Materie und Form die Bildung des Vfs. nach den letztern erkennt“53. Gleichzeitig mit der 2. Auflage des Thesaurus, 1615, erschienen die „Grammaticae Chaldaicae et Syriacae libri III“, wie er in zwei Büchern die Laut- und Formenlehre und die Syntax enthaltend und im dritten Buch unter der Überschrift „De praxi grammaticae“ eine Chrestomathie mit vielen nützlichen Erläuterungen anschließend. Buxtorfs Bienenfleiß produzierte zum nachbiblischen Hebräisch und seiner Literatur noch einige kleinere Werke, die man neben den großen nicht vergessen sollte: einen Briefsteller, 1603 als ‫שלומים‬ ‫אגרות‬ ‫ ספר‬oder „Sylvula epistolarum Hebraicarum familiarum“ eine jüdische Vorlage teilweise mit lateinischer Übersetzung wiedergebend, 1610 durch eine immer noch lesenswerte ausführliche „Institutio epistolaris Hebraica“ mit 100 Musterbriefen ersetzt, und 1613 unter dem Titel „De abbreviaturis Hebraicis“ eine Aufschlüsselung der in der rabbinischen Literatur gebräuchlichen Abkürzungen, daran angeschlossen eine Inhaltsangabe des Talmuds und eine alphabetisch angeordnete Bibliographie der rabbinischen Literatur („Bibliotheca rabbinica“) – großenteils aufgrund von Drucken und Manuskripten, die Buxtorf selbst besaß und die 1705 an die öffentliche Bibliothek der Universität Basel verkauft wurden54. Zwei Folianten, die Konkordanz und das „Lexicon Chaldaicum, talmudicum et rabbinicum“, musste Buxtorf also seinem Sohn zur Fertigstellung hinterlassen, den dritten konnte er selbst vollenden: die „Biblia Sacra Hebraica et Chaldaica“ von 1618/19, bekannt als „Basler rabbinische Bibel“, so genannt wegen der Zufügung nicht nur von Masora und Targumen, sondern, um den Rand, 51  Geschichte (Anm. 34) 110. 52  Vgl. Prijs, Drucke 328. 53  Gesenius, Geschichte 110. Unmittelbares Vorbild war die Grammatica Hebraea des Petrus Martinius (1590); Nachweise bei Sophie Kessler-Mesguich, Les études hebraiques en France de François Tissard à Richard Simon (2013) 220–22. 54  Prijs, Drucke 324; Burnett 272–84.

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auch von einer Anzahl rabbinischer Kommentare (Raschi, Ibn Esra, David Kimchi usw.). Das mit großem Aufwand hergestellte Werk ist im wesentlichen ein Nachdruck der berühmten venezianischen Bombergiana des Jakob ben Chajim (zuerst 1524/25), auf deren Bibeltext noch der von Kittels Biblia Hebraica in ihren ersten Auflagen beruhte, und, so Julius Wellhausen, „diesem Hauptwerke [der Bombergiana] gegenüber in jedem Betracht sekundär, so ein grosser Gelehrter Buxtorf auch war“55. Buxtorfs zentrales Anliegen war die Darstellung und Sicherung des unbedingt sicheren hebräischen Textes: „Textum Hebraeum antiquissima & verissima sua puritate et substantia, in minimo etiam apice, reliquimus. Impius enim, quisquis ei aliquid vel addiderit vel detraxerit, aut quovis modo in eo quid mutaverit.“56 Von vier einleitenden und kommentierenden Beilagen, die Buxtorf seiner Bibel zugedacht hatte, brachte er nur zwei zu Papier, „Tiberias“ über die Masora und „Babylonia“ über die Targume. Während „Babylonia“ bis zum heutigen Tag ungedruckt in der Basler Bibliothek liegt57, erschien „Tiberias“ bereits 1620, und zwar gleich doppelt, in Folio und gekürzt in Quart. Und darüber urteilte Wellhausen anders als über die Bibel: „Tiberias“ war ihm, noch vor dem Lexicon Chaldaicum, Buxtorfs „bedeutendstes Werk“, „das Product einer von keinem Christen und wenigen Juden erreichten Gelehrsamkeit und bewundernswerth einfach“. Um den deutschsprachigen Studenten des späten 19. Jahrhunderts von der Art der Masora überhaupt ein Bild zu geben, gab Wellhausen kurzerhand Buxtorfs Interpretation der Masora zu Gen 1,1–6 in deutscher Übersetzung wieder58. Auch bei diesem Buch folgte Buxtorf einem jüdischen Vorbild, des Elias Levita „Massoret hammassoret“ (Überlieferung der Masora) von 1538, von der er sich schon 1596 zu seinem Privatgebrauch eine lateinische Übersetzung angefertigt hatte59. Aber gerade zu diesem Vorbild setzte er sich an zentraler Stelle in Widerspruch, nämlich bei der Frage des Alters der Vokale und Akzente im hebräischen Bibeltext. Levita hatte, nicht ganz ohne Vorgänger – voran der spanische Dominikaner Raimundus Martinus im 13. Jh. –, die Tradition bestritten, nach der die Vokale und Akzente bereits auf die göttliche Offenbarung am Sinai oder doch wenigstens auf „die Männer der Großen Synagoge“ um Esra gleich nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil zurückgingen, und hatte dagegen ihren erst nachtalmudischen Ursprung zu erweisen unternommen. Die 55  (F. Bleek–) J. Wellhausen, Einleitung in das Alte Testament (41878) 566. 56  Vorwort, 7. Absatz. 57  F IX 41. Einige Proben gibt A. Merx, Johannes Buxtorfs des Vaters Targumcommentar Babylonia, in: ZWTh 30 (1887) 280–99.462–71; 31 (1888) 41–48; vgl. auch schon Joh. Buxtorf III, Catalecta philologico-theologica (1707) 348–51. 58  Wellhausen (Anm. 55) 652.568f. 59  Seine mehrfache Mitteilung darüber (vgl. Prijs, Drucke 297f. und Burnett 21139) rechtfertigt schwerlich die Annahme einer verschollenen (zweisprachigen?) Edition (Th. Willi, ThZ 53, 1997, 17127).

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Frage gewann bald eine gewisse kontroverstheologische Brisanz60. Während etwa Luther die „Punkte“ eher nonchalant für „ein new menschen fündlein“ der Rabbinen erklärte61 – ebenso dachten Zwingli62 und Calvin63 –, witterte die beginnende Orthodoxie hier eine Gefahr für die Lehre von der absoluten Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift, vollends nachdem die katholische Polemik begonnen hatte, sich die These des Elias Levita in dieser Richtung zunutze zu machen. So spielte im dogmatischen System des Baslers Polanus, wie er es in seinem „Syntagma theologiae Christianae“ (1609/10) entwickelte, die Integrität des hebräischen Bibeltextes in seiner uns vorliegenden Form, also unter Einschluss der Vokale und Akzente, eine wichtige Rolle64. Allerdings gingen die Argumente des Polanus nicht sehr weit über die Maxime hinaus, dass historisch nicht sein kann, was dogmatisch nicht sein darf. Unter diesen Umständen musste ihm philologische Unterstützung willkommen sein, und so liegt die Vermutung nahe, dass er seinen rangniederen hebraistischen Kollegen, mit dem er auch persönlich eng verbunden war65, dazu animiert hat, für die gemeinsame Sache des rechten Glaubens noch einige Kastanien aus dem Feuer zu holen. Buxtorf entledigte sich der Aufgabe, so gut es eben ging. Im selben Jahr, in dem des Polanus „Syntagma“ erschien, 1609, ließ er in seinem „Thesaurus grammaticus“ den Abschnitt über die Akzente in eine 14seitige Auseinandersetzung mit Levita münden66, wobei er die Apologetik des Polanus breit zitiert in den Mittelpunkt stellte67. Gegen die Argumente des Levita, im Talmud und der verwandten Literatur seien die Vokale und Akzente weder erwähnt noch vorausgesetzt, sie seien auch für das Verständnis der noch lebenden Sprache nicht nötig gewesen, zudem seien ihre Bezeichnungen überwiegend aramäisch, nicht hebräisch, kämpfte Buxtorf seinerseits mit allerlei Gegenargumenten und Autoritäten an, aber offenbar selbst nicht ganz davon befriedigt, so dass er diesen Passus 1615 aus dem Thesaurus (2. Aufl.) herausnahm und 1620 durch eine ausführlichere Erörterung des Problems in der „Tiberias“ ersetzte, die zwar neues Material, aber eigentlich keine neuen Argumente brachte. Im Zentrum steht der Versuch, die nachtalmudische palästinensische Masoretenschule („Tiberias“!), auf die Levita die Vokale und Akzente zurückführte, möglichst klein und die von der jüdischen Tradition postulierte um viele Jahrhunderte ältere „Große Synagoge“ des Esra und seiner Männer68 möglichst groß zu machen, damit die letztere als Ort für die Abschlussarbeiten an der alttestamentlichen 60  Einen guten Überblick gibt R.A. Muller, The debate over the vowel points and the crisis in orthodox hermeneutics, JMRS 10 (1980) 53–72. 61  WA LIII, 648, 1, vgl. XLIV, 683, 3–6. 62  Vgl. CR CI, 98. 63  Vgl. CR XXII, 305f. 64  P. 479–516. 65  Vgl. Burnett 21035. 66  P. 55–69. 67 61–64. 68  Vgl. zuletzt J. Kiefer, Festschrift Th. Willi (2007) 221–33.

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Bibel einschließlich der Masora und der Vokale und Akzente an Evidenz gewann. Darin, dass es diese „Synagoge“ gegeben habe, war er sich immerhin mit Levita einig69. Sie hielt sich noch ziemlich lange in der gelehrten Literatur, bevor ein späterer Basler, W.M.L. de Wette, auf einen wachsenden Konsens gestützt schreiben konnte, ihr Dasein unterliege „historischen Zweifeln“70, und bald darauf der Leidener Abraham Kuenen ihr in seiner Abhandlung „Over de mannen der groote Synagoge“71 den Garaus machte. Das sind zwei große Namen. Mit zwei großen Namen auf der Gegenseite hatte es Buxtorf auch schon zu Lebzeiten zu tun. Es handelte sich um zwei Hugenotten – Beweis dafür, dass die in Basel vertretene Position auch unter Reformierten nicht die einzige sein musste. Mit beiden war die Auseinandersetzung in der Sache scharf, in der Form von ausgesuchter Höflichkeit. 1606/7 führte Buxtorf brieflich gegenüber dem berühmten Leidener Philologen Joseph Scaliger (1540–1609) die kabbalistischen Schriften Sohar und Bahir ins Feld, in denen er den punktierten Bibeltext vorausgesetzt fand und die er für vortalmudisch hielt72. Scaliger ließ sich davon nicht überzeugen und wies umgekehrt auf das zunächst unvokalisierte Arabisch, die unvokalisierten Schriftrollen in der Synagoge und den Umstand hin, dass die Septuaginta offenbar einen unvokalisierten hebräischen Text voraussetzt73. Der zweite und schließlich siegreiche hugenottische Gegner erstand dem Buxtorfschen Standpunkt in Louis Cappel (Cappellus, 1585–1658), Professor in Saumur. Allerdings brach die eigentliche Kontroverse erst geraume Zeit nach dem Tod des älteren Buxtorf aus; zu seinen Lebzeiten kam es nur zu einem Vorgeplänkel, bei dem er nicht die glücklichste Figur machte. Cappel antwortete auf „Tiberias“ 1624 mit der Schrift „‫הנגלה‬ ‫“סוד הניקוד‬. Hoc est Arcanum punctationis revelatum. Sive de punctorum vocalium et accentuum apud Hebraeos vera & germana antiquitate, diatriba“, die bereits 1622 abgeschlossen war, aber erst 1624 in Leiden erschien, anonym und mit einem Vorwort des dortigen Orientalisten und Hebraisten Thomas Erpenius. Die Schrift, übersichtlich in einen positiv-darstellenden und einen negativ-polemischen Teil (pars ϰατασϰευαστιϰή und pars ἀνασϰευαστιϰή) gegliedert, kam einer vollständigen Widerlegung Buxtorfs gleich, mochten ihn auch Autor und Herausgeber mit superlativischen Prädikaten wie „clarissimus“ und „doctissimus“ zieren74. Cappel, seit Jahren mit Buxtorf in Kontakt, hatte 69  Vgl. die dritte Praefatio zu dessen Massoret hammassoret. 70  Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Bücher des Alten Testaments (51840) 15. 71  1876; deutsch: A. Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft (1894) 125–60. 72  Briefe vom 3.4.1606 und 17.3.1607, in P. Burman, Sylloges epistolarum a viris illustribus scriptarum II (1727) 363f.366f. Zu Sohar und Bahir inzwischen klassisch G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957) 171–223; Ursprung und Anfänge der Kabbala (1962) 34–174, bzw. Scholems Artikel EJ XVI, 1193–1215; IV, 96–101. 73  Brief vom 1.6.1607, in Scaliger, Epistolae (1627) 523f. Vgl. A. Grafton, Joseph Scaliger II (1993) 736. 74  Cappellus p. 196; Erpenius in der Praefatio.

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das Manuskript zunächst mit der höflichen Bitte um Stellungnahme an ihn als den ersten Sachverständigen und Betroffenen gelangen lassen75, es aber erst nach mehrfacher Mahnung zurückerhalten, zusammen mit dem Ratschlag, es angesichts des heiklen Charakters der Angelegenheit nicht zu veröffentlichen. Obwohl Buxtorf dabei eine eigene Untersuchung in Aussicht stellte, schwieg er anschließend so beharrlich, dass Cappel dem Gerücht Glauben schenkte, er sei gestorben, und 1627 unter dieser Voraussetzung an den Sohn einen Brief schrieb, in dem er den Vater in den höchsten Tönen pries und den Adressaten ganz selbstverständlich als seinen Nachfolger auf dem Basler Lehrstuhl betrachtete. Auf die eigenhändige Antwort des Totgeglaubten reagierte er erschrocken und erfreut mit einem „Laus sit DEO immortali“, aber eine substantielle Antwort auf das „Arcanum“ war dem Vater nicht mehr zu entlocken, und der Sohn ließ die wissenschaftliche Welt bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, bis 1648, darauf warten76. Man gewinnt daraus nicht den Eindruck, dass die beiden sich in dieser Sache, die ihnen doch so sehr am Herzen lag, so sicher waren, wie es nach außen den Anschein hatte. Ein einziges Buch hat Buxtorf in deutscher Sprache veröffentlicht, 1603 als eins seiner ersten überhaupt: „Synagoga Judaica: Das ist / Juden-schul“. Auskunft über Inhalt und Tendenz gibt der weitere Titel: „Darinnen der gantz Jüdische Glaub vnd Glaubens-Übung mit allen Ceremonien / Satzungen / Sitten vnd Gebräuchen / wie sie bey jhnen offentlich vnd heimlich im Brauche: Auß ihren eygenen Bücheren vnd Schrifften / so den Christen mehrtheils vnbekandt / vnd verborgen seind / grundlich erkläret: Item ein Außführlicher Bericht von jhrem zukünfftigen Messia: Sampt einer Disputation eines Juden wider einen Christen: darinnen der Christlich Glaub beschirmet / vnd der Jüdisch Vnglaube widerleget vnd zu boden gestürtzet wird.“77 Die Vorrede handelt von der Verstockung der Juden und mündet in ein Zitat aus Luthers Judenschrift von 1542, die Disputation am Schluss stammt von Calvin78. Man hat der so umschlossenen Darstellung nicht ganz zu Unrecht eine „gehässige Art“ nachgesagt, „mit welcher besonders Scandalosa darin zusammengestellt sind“79. Aber ich erinnere mich an einen Gymnasiasten vor bald 70 Jahren, der manchmal in der von einem fernen Vorfahren überkommenen lateinischen Ausgabe von 1680 herumschmökerte, übrigens im Wechsel mit Gottfried Arnolds nicht ganz unvergleichbarer „Kirchen- und Ketzer-Historie“, und den hier wie dort die Fülle und Lebendigkeit des gebotenen Stoffs immer wieder gefangen nahm. Zum Misstrauen gegen die theologische Tendenz sah er keinen Grund, vielmehr empfand er einen immensen Unterschied zu der Art, in der 75  Seine Briefe an die Buxtorfs, im Original in der Basler Universitätsbibliothek, sind großenteils bequem zugänglich bei J. Buxtorf (III), Catalecta philologico-theologica (1707) 474–90. 76  S.u. 24f. 77  Ich gebe den Titel nach der Basler Ausgabe von 1643. 78  Vgl. St.G. Burnett, BHR 55 (1993) 113–23. 79  K. Siegfried, ADB III, 669.

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ihm wenige Jahre vorher die nationalsozialistische Propaganda das Judentum dargestellt hatte. Die eigentliche These des Buches, dass nämlich das Judentum nicht auf der Bibel, sondern auf dem Talmud beruht, wodurch zugleich eine gewisse Parallele zum Verhältnis zwischen Schrift und Tradition im römischen Katholizismus gegeben ist, bemerkte er natürlich nicht, geschweige dass er sie hätte beurteilen können. Aber das Buch steht und fällt nicht mit dieser These, so oder so behält der wahrlich kompetente Scaliger recht: „c’est un bon livre“80. Für Buxtorf hat die theologische Polemik je länger desto weniger im Vordergrund seiner Arbeit gestanden, wie er denn auch in der Judenmission nicht sonderlich engagiert war81. Bezeichnenderweise ließ er ein zwischen 1603 und 1606 begonnenes Manuskript „Aus was Ursachen die Juden andere völker alzeit gehaßt und verachtet haben“82 unvollendet liegen, und ebensowenig ist es ein Zufall, dass er später die ihm von keinem Geringeren als dem hugenottischen Staatsmann Philippe du Plessis-Mornay angesonnene Edition des „Pugio fidei“ des Raimundus Martinus83 hinter seiner Hauptaufgabe zurückstellte, die in der Erschließung der Sprache und Literatur des Judentums bestand. Dabei hatte die Sprache immer den Anfang zu machen: „ex recta verborum intelligentia, rerum cognitio dependet“84. Und es blieb dann auch nicht bei der Literatur, so sehr deren Ausschöpfung in der „Juden-schul“ gelegentlich zu dem Eindruck führen könnte, man habe es dort statt mit richtigen mit „Papierjuden“ zu tun85. In Wahrheit ging Buxtorf häufig mit Juden um, zog sie an seinen Tisch, befragte sie und nahm 1619 sogar (in der Familie seines Druckers Abraham Braunschweig) an einem Beschneidungsfest teil, wofür er mehr als ein Jahresgehalt Strafe zahlen musste86 – der Vorfall ließ ihn ernstlich erwägen, Basel zu verlassen und nach Heidelberg zu gehen87, wo er hoch willkommen gewesen wäre: „Nichts“, schrieb ihm am Jahresende der dortige klassische Philologe und Bibliothekar Jan Gruter, die Sendung einer Handschrift begleitend, „geht mir so zu Herzen, als meine innigste Theilnahme Denen zukommen zu lassen, die ein Wohlgefallen des Erdballs sind, unter denen Du, mein Herr, den Reigen führest.“88 Buxtorf starb 64jährig am 13. September 1629 an der Pest. Wenige Tage vorher war er, schon von der Krankheit gezeichnet, noch einmal aufgestanden und 80  Scaligerana (1695) 73. 81  Vgl. Burnett 84. 82  Univ. Bibl. Basel MS A IX 78, vgl. Burnett 91–95. 83  Vgl. Burnett 95–98. Zum Gegenstand: I. Willi-Plein, Der „Pugio Fidei” des Raymund Martini als ein exemplarischer Versuch kirchlicher Auseinandersetzung mit dem Judentum, in: dies./Th. Willi, Glaubensdolch und Messiasbeweis. Die Begegnung von Judentum, Christentum und Islam im 13. Jahrhundert in Spanien (1980) 21–83. 84  Thesaurus Grammaticus (51651) Vorwort. 85  Burnett 101. 86  Vgl. St.G. Burnett, BZGAK 89 (1989) 135–44. 87  Ebd. 141. 88  Brief vom 6.12.1619, Univ. Bibl. Basel Ms G I 60,7. Übersetzung nach Buxtorf-Falkeisen (Anm. 28) 29. Vgl. Prijs, Drucke 5332.

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hatte in seiner Konkordanz die Arbeit am Gottesnamen ‫ אדני‬beendet. „So hat er“, heißt es in der Gedenkrede, „seine Lebensarbeit, die er im Namen Gottes begonnen, dem er sein ganzes Leben gedient, buchstäblich mit dem Namen Gottes geschlossen.“89

Johannes Buxtorf II 1599–1664 25 Epikedien wurden dem ersten Buxtorf nachgerufen, 55 dem zweiten, davon 10 aus England, 5 aus Frankreich, 2 aus den Niederlanden, 14 aus Deutschland, 7 aus der Schweiz, 17 aus Basel. In ihnen fand mit dem Sohn zusammen oft auch der Vater Erwähnung. So beginnt das Gedicht des hugenottischen Pfarrers und Bibelgelehrten Samuel Bochart mit dem Distichon: Siste viator iter; jacet hic Buxtorfius ille Maximus, eximio nec genitore minor.90

Als nicht nur gleichen Ranges, sondern auch ihrer Art nach zum Verwechseln ähnlich wurden sie von ihren Basler Mitbürgern gesehen: „non ovum ovo similius quam Buxtorfius pater et filius.“91 Und man gewinnt fast den Eindruck, der Vater habe wie der Besitzer einer Firma den ältesten und namensgleichen Sohn von Kindheit auf zu seinem Nachfolger herangebildet. Als Johannes II, 1599 geboren, mit vier Jahren in die Schule kam, da las er schon, so steht es schwarz auf weiß in der Gedenkrede seines Kollegen und Freundes, des Antistes Lukas Gernler (1625–75), die „drei Hauptsprachen“, also Latein, Griechisch und Hebräisch; den Gleichaltrigen war er „meilenweit“ (multis par[a]sangaris) voraus, Älteren brachte er Hebräisch bei92. 12jährig bezog er die Universität, noch nicht 15jährig war er Baccalaureus, 16jährig Magister artium. Dann wechselte er zur Theologie, wo er die Professoren Grynaeus (den Entdecker seines Vaters), Beck und Wolleb hörte und die reformierten Autoritäten Calvin, Zanchi und Ursin studierte, vor allem aber unter Anleitung des Vaters mit Leidenschaft („non tam amore […] quam furore quodam“) die „sacra philologia“ betrieb, genauer: Aramäisch („Chaldäisch“) und Syrisch lernte, viel Rabbinisches, aber auch Kabbalistisches las und, nicht zuletzt, dem Vater bei der Herstellung der „rabbinischen Bibel“ und des „Lexicon Chaldaicum, talmudicum et rabbinicum“ über die Schulter sah, vielleicht auch zur Hand ging93.

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89  Tossanus (Anm. 6) 16. Übersetzung nach Kautzsch 44. 90  L. Gernler, Oratio parentalis venerandi excellentissimique viri Dn. Johannis Buxtorfii (1665) 91  Buxtorf-Falkeisen (Anm. 28) 39. 92  Gernler, Oratio 15; Gernlers Rede ist für das Folgende die Hauptquelle. 93  Ebd. 18.

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Nach zwei Jahren, 1617, machte er sich, wie drei Jahrzehnte vorher in umgekehrter Himmelsrichtung der Vater, auf seine Bildungsreise, die „periodos Academica“. Zunächst hörte er in Heidelberg die dortigen Theologen Pareus, Scultetus und Alting und verkehrte mit ihnen, dann nahm er als Zaungast an der Synode von Dordrecht teil, wo er fast die ganze reformierte Prominenz beobachten konnte – besonders beeindruckte ihn Franz Gomarus, der „unentwegteste Vertreter der calvinistischen Orthodoxie“94 –, und bereiste anschließend mit den beiden Basler Synodalen Sebastian Beck und Wolfgang Meyer die Niederlande, England und Frankreich. Inzwischen war in Basel fast gleichzeitig mit den Canones von Dordrecht Vater Buxtorfs „rabbinische Bibel“ erschienen, gefolgt von der „Tiberias“. Schon unterwegs – er steuerte gewiss überall sogleich die Bibliotheken an, oder führte er den Folianten mit sich? – hatte der Sohn darin die schon in Basel begonnene Lektüre der Targume, also der aramäischen Bibelparaphrasen, fortgesetzt und dabei die Wörterbücher von Sebastian Münster und Elias Levita benutzt, aber „saepe absque fructu“: „Tantam enim in multis confusionem, corruptionem, imperfectionem & defectum sensi (quod tamen absque laboris tantorum virorum contemptu dictum velim) ut e re mea arbitrarer, Lexicon aliquod breve, ex continuata Paraphrasium perlectione, ad formam Lexici Hebraici95, in privatos usus mihi connotare.“ Wieder in Basel, zeigte er das Begonnene dem Vater und vervollständigte es auf dessen Rat unter Einbeziehung des syrischen Neuen Testaments zu einem stattlichen Buch von 640 Seiten, das 1622 als sein Erstling erschien: „Lexicon Chaldaicum et Syriacum; quo voces omnes tam primitivae quam derivativae, quotquot in sacrorum Vet. Testamenti librorum Targumim seu Paraphrasibus Chaldaicis […]: Denique in Novi Testamenti translatione Syriaca reperiuntur, accurate et methodice dispositae, & fideliter explicatae, copiose absoluteq; describuntur. Collectum, & in gratiam harum linguarum studiosorum in lucem editum a M. Johanne Buxtorfio Jun. MDCXXII. Basileae, Ex officina Ludovici Regis“ (= Ludwig König, der 1617–41 die Buxtorfschen Werke verlegte). Nicht nur der Sohn, sondern auch der Vater schrieb ein Vorwort96, den Anfang des Ganzen macht eine dankbare Widmung des Autors an seine beiden theologischen Lehrer Beck und Wolleb – der Dritte oder richtiger Erste, Grynaeus, war 1617 gestorben. Die Widmung sollte vielleicht auch die Absicht des Autors demonstrieren, sich trotz dieses ersten großen Schrittes in die Philologie für eine theologische und kirchliche Zukunft bereitzuhalten. Er unterzog sich denn auch dem „Examen praevium“ für das geistliche Amt, absolvierte aber danach zunächst noch eine letzte Etappe der Periodos academica: von Juli 1623 bis Juni 1624 hielt er sich in Genf auf. Dort verwalteten das Erbe Calvins und Bezas der Bibelübersetzer (ins Italienische und Französische) Giovanni Diodati und Théodore 94  K. Barth, KD II/2, 73. 95  Gemeint ist das väterliche „Manuale“, vgl. Anm. 41. 96  Daraus die obigen Angaben zur Entstehung des Buches.

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Tronchin, der kürzlich von einem orientalistischen auf einen theologischen Lehrstuhl gewechselt war; beide hatte er schon in Dordrecht kennen gelernt. Noch mehr profitierte er von zwei Trägern berühmter Familiennamen (und sie von ihm), die seine rabbinisch-talmudischen Interessen teilten, David Clericus und Benedict Turrettini. Er muss dort ähnlich Eindruck gemacht haben wie einst sein Vater in Basel: gegen Ende seines Aufenthalts erschienen in Genf zwei hohe Vertreter der Stadt Bern, um ihn in Augenschein zu nehmen und ihm dann einen Lehrstuhl für Logik (!) an der Akademie Lausanne anzubieten. Er ging nicht darauf ein, weil, wie Antistes Gernler es ausdrückte97, Gott den gebürtigen Basler zum Ruhm und Glück der Basler bestimmt hatte – „quod Virum Basileae natum Basiliensium gloriae & felicitati destinasset Deus“ –, profan ausgedrückt: weil der junge Mann schon tief in einer anderen Wissenschaft steckte und weil der Vater ihn in der Nähe haben wollte. Nach Basel zurückgekehrt, trat er zunächst in den Kirchendienst: 1624 wurde er Diaconus („Helfer“) communis ecclesiae Basiliensis, 1627 Diaconus an der Peterskirche. Beide Ämter versah er gern und eifrig, aber die gelehrte Arbeit, großenteils gewiss Hand in Hand mit dem Vater, ging immer nebenher und führte 1629 zu einer kleinen und einer großen Publikation: einer erweiterten Neuausgabe der väterlichen „Institutio epistolaris Hebraica“ und der lateinischen Übersetzung eines Hauptwerks des mittelalterlichen Judentums: des ‫נבוכים‬ ‫„( מורה‬Führer der Verwirrten“, Buxtorf: Doctor perplexorum) des Maimonides aus der hebräischen Übersetzung des arabischen Originals; nach außen hin wollte Buxtorf damit nur der Kenntnis der hebräischen Sprache dienen, in Wahrheit bestimmte ihn aber wohl ebenso sehr das Interesse am Autor und seinem Werk98. Beinahe wäre in diesen Jahren schon wieder eine Versuchung von auswärts, und diesmal eine sehr ehrenvolle, an ihn herangetreten: als, wovon schon die Rede war, 1625 der Vater eine Berufung nach Leiden ablehnte, wies er auf den Sohn hin, der auch ins Gespräch kam, aber dann hinter Constantijn L’Empereur zurückstehen musste99. Doch unerwartet, oder richtiger: unerwartet früh, entschied höhere Gewalt über seine Zukunft: nach dem plötzlichen Tod des Vaters war er unbestritten der gegebene Kandidat für dessen Nachfolge. Nach längerem Zögern, auch aus Verpflichtung gegenüber der Kirche, hörte er auf den dringenden Rat der Ärzte, seiner Gesundheit sei die „vita contemplativa“ in der Universität zuträglicher als die Mühen des Pfarramts, und ließ sich im Mai 1630 zum Linguae Sanctae Professor wählen, der er bis zu seinem Tod 34 Jahre lang blieb. Damit hatte aber seine akademische Karriere ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, vielmehr acquirierte er noch einen weiteren Lehrstuhl, in der theologischen Fakultät. Als einen Schritt auf dem Weg dorthin darf man den 97  Gernler, Oratio 22. 98  Vgl. Prijs, Drucke 353f. 99  Van Rooden, Theology (Anm. 44) 83f.

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theologischen Doktorgrad betrachten, den ihm die Fakultät 1642 verlieh, zusammen mit seinem orthodox calvinistischen Gesinnungsgenossen Friedrich Spanheim (1600–1649), der seine bisherige Genfer Professur mit einer in Leiden zu vertauschen im Begriff stand, für die er diesen Grad benötigte. Spanheim hatte seine Hand im Spiel, als vier Jahre später Buxtorf wie einst sein Vater zu überaus günstigen Bedingungen ebenfalls nach Leiden berufen wurde. „Doctorem Buxtorfium, singulare literarum praesidium, invidebat Basileae nostrae Belgium, suum esse volebat“, sagt Gernler100 –„den Doktor Buxtorf, den einzigartigen Hort der Wissenschaften, neideten unserem Basel die Niederlande und wollten, dass er der ihre sei“. „Unser Basel“ wehrte sich erfolgreich, indem es eine dritte theologische Professur einrichtete, in der gebotenen Eile und nicht ohne Schwierigkeiten zunächst, modern gesprochen, als Stiftungsprofessur, und sie mit Buxtorf besetzte, von dem Eingeweihte freilich wussten, „er habe kein Begehren, von Basel wegzugehen“101. Die Professur hieß „Professio locorum communium et controversiarum theologicarum“, bis sie 1786 in „Professio theologiae dogmaticae“ umbenannt wurde102. Dass die Liste von „Karl Barths Vorgängern auf dem Basler Lehrstuhl für Systematische Theologie“, die Ernst Staehelin 1956 seinem Kollegen zum 70. Geburtstag kredenzte103, auf diese Weise ausgerechnet mit einem der Buxtorfs beginnt, ist natürlich ein Curiosum, und es ehrt unseren Buxtorf jedenfalls halb und halb, dass er noch vor seiner Wahl an Bürgermeister Wettstein schrieb, „er glaube sich zu der neuen Professur nicht recht tauglich; lieber wäre ihm, wenn Theodor Zwinger104 den Lehrstuhl übernehmen würde und er selbst die [ranghöhere!] Professur des Alten Testaments“105. 1654 erfüllte der Tod S. Becks, durch den Zwinger in die neutestamentliche Professur aufrücken konnte, seinen Wunsch: er rückte nach und war fortan Professor sowohl des Alten Testaments in der theologischen als auch der hebräischen Sprache in der philosophischen Fakultät. Es wäre übrigens ein Irrtum, wollte man annehmen, Buxtorf habe die dogmatisch-kontroverstheologische Professur nur als Pfründe betrachtet, für die er nichts zu tun brauchte. Er trat sogleich an mit einer „Oratio de controversiarum theologicarum dijudicatione“ und lieferte dann durch die Semester eine fleißige Dogmatik mit den großen Abschnitten De principiis theologiae, De Deo, De creatione usw. und immer mit Zwischenstücken wie Argumenta Papistarum, Objectiones Papistarum, Bellarmini praesertim – das Manuskript hat sich in drei dicken Heften erhalten106. Wir haben hier in Reinkultur „Die Basler 100  Oratio 27. 101  A. Staehelin, Geschichte der Universität Basel 1632–1818 (1957) I, 249. Vgl. auch E. Vischer, Lehrstühle (Anm. 9) 36–40. 102  Staehelin a.a.O. 254. 103  ThZ 12 (1956) 162–87. 104  Dieser war seit 1630 Antistes und Professor des Alten Testaments. 105  A. Staehelin a.a.O. 25025. 106  Univ. Bibl. Basel A XII, 12–14.

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Kirche und Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie“107 vor uns, in großer sachlicher und persönlicher Nähe zu deren Zentralfigur, dem Antistes Gernler, der Buxtorf 1656 auf dem „dogmatischen“ und 1665 auf dem alttestamentlichen Lehrstuhl nachfolgte. Für die kompromisslose Strenge ihres Calvinismus ist charakteristisch, wie sich bei beiden gegenüber dem unentwegt reisenden Unionisten John Dury (Duraeus) die zunächst nur skeptische Haltung in scharfe Ablehnung verwandelt108. Als unmissverständliche Richtlinie für die Studenten verfassten beide unter Mitwirkung ihres Fakultätskollegen J.R. Wettstein einen „Syllabus controversiarum“ in 588 Fragen und Antworten (1662)109. Ein wesentlicher Teil von Buxtorfs akademischer Tätigkeit liegt uns in einer Reihe von Dissertationen vor, d.h. nicht sehr umfangreichen Abhandlungen, meist als Ausführung von Thesenreihen gefasst, die den damals sehr häufig veranstalteten akademischen Disputationen zugrunde lagen110; im Unterschied zu den uns geläufigen Dissertationen dienten sie längst nicht immer zur Erlangung der Doktorwürde. Buxtorf hat nicht nur einzelne Hefte dieser Art drucken lassen, sondern auch zwei Auswahlbände, 1645 die „Dissertationes philologico-theologicae“, 1659 die „Exercitationes ad historiam“. Den ersten Band erweiterte er 1662 um „aliquot elegantes et eruditae dissertationes“, die nicht von ihm, sondern von dem jüdischen Philosophen und Exegeten Isaak Abrabanel (Buxtorf: Abarbanel) stammten111. Das ist sehr bezeichnend: in allen diesen Abhandlungen, mögen sie von der hebräischen Sprache, den Gottesnamen, dem Dekalog, der Bundeslade oder der Ehernen Schlange handeln, spielt die jüdische Exegese eine große, oft beherrschende Rolle, und man kann sie dort, was die abzuhandelnden Gegenstände angeht, in großer Fülle studieren, wobei sich von selbst versteht, dass Buxtorf seinerseits nirgends von der unlöslichen Verbindung des Alten Testaments mit dem Neuen abgehen kann. Was dem heutigen Leser vor allem ins Auge fällt, ist das völlige Fehlen von literarischer und historischer Kritik. Hier ist in diesen Hinsichten wirklich vorkritische Exegese, die, wenn man sich einmal in sie vertieft, nicht langweiliger zu sein braucht als „nachkritische“. Wo Buxtorf mit zeitgenössischer historischer Kritik konfrontiert wurde, reagierte er kategorisch ablehnend112. Wahrscheinlich hat diese Haltung in einem Bereich nachgewirkt, wo man das nicht gleich erwarten würde, nämlich im Pietismus. Zu den nicht wenigen lutherischen Theologiestudenten, die der Name Buxtorf nach Basel zog, gehörte auch Philipp Jakob Spener (1635–1705). Er war 1659/60 einer von zwei Teilnehmern an Buxtorfs rabbinischem Unterricht und trat dem Lehrer persönlich und sachlich nahe, wie seine Briefe an ihn aus den Jahren 1660–64 bezeugen. 107  Titel der Dissertation Max Geigers (1951, als Buch 1952 erschienen). 108  Vgl. Geiger ebd. 84, nach Buxtorfs Briefen an J. Coccejus bei E. Staehelin, ThZ 4 (1948) 383f. 109  Dazu Geiger a.a.O. 68–70. 110  Vgl. Staehelin, Geschichte (Anm. 101) 162–66 und dazu korrigierend Prijs, Drucke 375. 111  Alles Einzelne bei Prijs, Drucke. 112  Vgl. etwa seine Äußerung über Hugo Grotius bei van Rooden, Theology (Anm. 44) 148201.

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Da er sich später zur Bibelkritik ähnlich verhielt wie Buxtorf, hat der beste Kenner Speners und des Pietismus den weitreichenden Satz gewagt: „Basel hat dem Pietismus eine bleibende Aversion gegen jede Form von historischer Bibelkritik und das stramme Festhalten an der Verbalinspirationslehre in die Wiege gelegt.“113 Buxtorf ist nie darin müde geworden, christlichen, aber auch jüdischen Lesern jüdisches Gut zu erschließen. Besonders reizvoll ist ein reichhaltiger Zitatenschatz, eine Art hebräischer Büchmann, 1648 erschienen unter dem Titel „Florilegium Hebraicum: Continens elegantes sententias, proverbia, apophthegmata, similitudines: ex optimis quibusque, maximè verò priscis, Hebraeorum scriptoribus, collectum“, geordnet nach den Stichworten der jedem Zitat beigegebenen lateinischen Übersetzung. Und 1660 kehrte er noch einmal zu seinen Anfängen zurück, indem er, wie einst den „Führer der Verwirrten“ des Maimonides, einen zweiten Klassiker des Mittelalters, den ursprünglich ebenfalls arabisch abgefassten apologetischen Dialog „Kuzari“ des Jehuda ben Samuel ha-Levi aus dem Hebräischen ins Lateinische übersetzte (‫כוזרי‬, Liber Cosri); diesmal druckte er auch die hebräische Vorlage ab114. Demgegenüber fällt auf, dass er ebenso wenig wie sein Vater zweisprachige Ausgaben rabbinischer Werke veranstaltete, die doch im Basler akademischen Unterricht eine so große Rolle spielten. Hier sprang die niederländische Schule des von beiden Buxtorfs sehr geschätzten Constantijn L’Empereur (1591–1648) ein115. Einen großen Teil seiner Arbeitskraft wendete Johannes II natürlich an das väterliche Oeuvre. Er vollendete, wovon schon die Rede war, die beiden Folianten, die der Vater als Torsi hinterlassen hatte, die hebräische Konkordanz (1632) und das Lexicon Chaldaicum, Talmudicum et Rabbinicum (1639), und besorgte Neuauflagen mehrerer anderer Schriften, vor allem der Schulbücher, meist mit kleineren Änderungen; besonders genannt sei die Beigabe einer Anleitung zum Studium der hebräischen Sprache und Literatur (Consilium universale, de Studio Hebraico methodicè, compendiosè, & utiliter instituendo & promovendo) zur „Epitome grammaticae Hebraicae“ seit ihrer 7. Auflage (1658, auch separat), der schon eine allerdings erst viel später116 gedruckte „Epistola de recte instituendo studio Rabbinico“ vorangegangen war – beides eindrucksvolle und über den Tag hinaus instruktive Dokumente der pädagogischen Verpflichtung, die alle Buxtorfs empfanden. Die „Synagoga Judaica“ des Vaters, 1603 und 1643 deutsch erschienen, gab Johannes II zum ersten Mal 1641 in der lateinischen Übersetzung seines Genfer Freundes David Clericus heraus. Mit alledem ist die 113  J. Wallmann, Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock (1995) 166; vgl. ders., Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus (21986) 129–39, bes. 138f. 114  Die scharfsinnigen Vermutungen Wallmanns (Spener 135–38) über Buxtorfs (und Speners) Stellung zum Inhalt des „Kuzari“ bedürfen noch der Verifizierung, für die die Aufarbeitung der Theologie des zweiten Buxtorf die Vorbedingung ist – auch sonst ein dringendes Desiderat, zu dessen Behebung viel Quellenmaterial bereitliegt. 115  Vgl. van Rooden a.a.O. 118f. und passim. 116  In: Museum Helveticum 8 (1748) 122–27 (hier nach van Rooden 11897).

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schwierigste und heikelste Aufgabe, die der Vater ihm hinterlassen hatte, noch nicht berührt: die Fortsetzung der Kontroverse mit Louis Cappel, die zu einem immer heftigeren „bellum litterarium de punctis vocalibus“117 werden sollte. Buxtorfs Antwort auf das „Arcanum punctationis revelatum“ des Cappel von 1622/24 kam zwar erst 1648 heraus, aber sie stand sachlich in genauer Kontinuität zu „Thesaurus“ und „Tiberias“ des Vaters von 1609 und 1620, und man darf sicher sein, dass das Problem den Vater und dann den Sohn seit damals immer beschäftigt hat. Trotzdem lässt sich der Verdacht des Hinauszögerns nicht leicht entkräften, auch nicht mit dem Hinweis auf die anderweitigen Leistungen der Zwischenzeit, vor allem das Lexicon Chaldaicum von 1639. Bewegung kam unterdessen von ganz anderer Seite ins Spiel, nämlich durch den Oratorianer Johannes Morinus (Jean Morin, 1591–1659), der den masoretischen Text rigoros zugunsten der Septuaginta, der Vulgata und des samaritanischen Pentateuchs herabsetzte; 1646 schrieb er einen langen Brief – mit den Worten des Herausgebers R. Simon eher „Libellus“ als „Epistola“ – an Johannes Buxtorf mit vielen Argumenten gegen das Alter der hebräischen Vokalzeichen118. Gleichwohl blieb Cappel für Buxtorf mit Recht der Hauptgegner, an dessen Adresse er 1648 die erste seiner großen Streitschriften richtete – „endlich“, „tandem“, wie Cappel festzustellen ein Recht hatte119. Cappels „Arcanum“ war 332 Seiten lang gewesen, Buxtorf antwortete auf 437 Seiten unter dem Titel „Tractatus de punctorum vocalium, et accentuum, in libris Veteris Testamenti Hebraicis, origine, antiquitate, & authoritate: Oppositus Arcano punctationis revelato, Ludovici Cappelli“. Dazu hier das Wichtigste nach einer älteren Inhaltsangabe: „Die Anlage der Schrift ist der des Gegners genau entsprechend, nur daß die Teile in umgekehrter Ordnung folgen. Voran geht in der pars ἀνασϰευαστιϰή die Widerlegung des Gegners, daran schließt sich in der pars ϰατασϰευαστιϰή die Begründung der eigenen Ansicht. Heben wir einige Züge zur Charakterisierung der Beweisführung heraus. Das Zeugnis des Ibn Esra, der in ausdrücklichen Worten sagt, daß man die Punktation von den Weisen von Tiberias empfangen habe, wird (I, 3) dahin gedeutet, daß man durch ihre Vermittlung die bereits seit alter Zeit bestehende Punktation erhalten habe. Daß die kabbalistischen und allegorisierenden Schriften der Juden von Vokalen und Akzenten bisweilen schweigen, ist erklärlich, denn sie lassen 117  A.G. Waehner, Antiquitates Hebraeorum I (1743) 126. 118  Publiziert von R. Simon in dessen Ecclesiae orientalis antiquitates (1683) 499–562; s.u. 73. 119  L. Cappel, Critica sacra (1650) 559 (Anfang der Iusta defensio, s. Anm. 123). Übrigens waren in den vierziger Jahren zwei kleinere Auseinandersetzungen vorangegangen, die eine über den Ritus des Abendmahls (Buxtorf, Exercitatio Sacra in historiam institutionis SS. Coenae Dominicae, 1642; Cappel, Ἐπίϰρισις de ultimo Christi paschale et sabbato deuteroproto, 1644; Buxtorf, Vindiciae exercitationis suae in historiam institutionis SS. Coenae Dominicae: Adversus animadversiones Ludovici Cappelli, Professoris Salmuriensis, 1646), die andere, in Vorbereitung auf das „bellum“, über das Verhältnis zwischen der hebräischen und der (von Cappel für älter gehaltenen) samaritanischen Schrift (Buxtorf, Dissertatio de litterarum hebraicarum genuina antiquitate, 1643; Cappel, Diatriba de veris et antiquis Ebraeorum literis, opposita D.J. Buxtorfii de eodem argumento dissertationi, 1645).

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dieselben absichtlich weg, um nun nach ihrer Art den bloß konsonantischen Worten jeden beliebigen Sinn unterlegen zu können (I, 5). Der Mangel der Akzente und ihre fehlende Erwähnung im Talmud beweist noch nicht, daß es damals keine Punkte gegeben habe, sondern höchstens, daß deren Namen noch nicht erfunden waren (I, 6). Qere und Ketib beweisen nur, daß es einige unpunktierte Exemplare gab, nicht daß man damals überhaupt nicht punktiert habe (I, 8). Aus den Übersetzungen, besonders der LXX, folgt nicht, daß es damals keine punktierten Handschriften gab, sondern nur, daß die Übersetzer bisweilen auf die Punkte keine Rücksicht nahmen oder ausdrücklich den griechischen Heiden den wahren Sinn des Gesetzes zu verschleiern suchten. Außerdem sind die Abweichungen vielfach dem verderbten Zustand der griechischen Übersetzung zuzuschreiben und beziehen sich nicht bloß auf die Vokale, sondern auch auf die Konsonanten (I, 9). Wenn aus den aramäischen Paraphrasen an einigen Stellen hervorgeht, daß ihnen unpunktierte Handschriften vorlagen, so folgt auch hieraus nicht, daß es damals keine punktierten gab (I, 10). Das Stillschweigen des Hieronymus über die Punkte ist kein vollgültiger Beweis, denn bei der Seltenheit punktierter Exemplare war es leicht möglich, daß ihm keins zu Gesicht kam; aus einigen seiner Angaben scheint aber sogar hervorzugehen, daß ihm die Punkte bekannt waren (I, 11). Die von Cappel scharfsinnig hervorgehobene Fülle einer durchgehend abweichenden und unmöglichen Vokalisation, die in der Punktation einiger Worte des Alten Testaments vorliegen, aus denen klar deren spätere Hinzufügung hervorging, werden von Buxtorf als gerade so von Hause aus beabsichtigt darzustellen versucht (I, 12). Ebenso bemüht er sich, die aramäischen Namen der Lesezeichen aus dem Hebräischen herzuleiten und ihre Erfindung durch Esra wahrscheinlich zu machen (I, 13). Die Absicht der ganzen Beweisführung Buxtorfs tritt am Schluss des ersten Teils heraus, wo er sagt, es komme vor allem darauf an, den hebräischen Text, so wie er ist, als Gegenstand der göttlichen Offenbarung bis zur kleinsten Partikel zu erkennen (I, 16). Der zweite Teil des Werkes beruht fast ganz auf dem Autoritätsbeweis: Talmudisten, Kabbalisten, jüdische Grammatiker, Historiker usw., alle stimmen überein gegen den einzigen Elias Levita, überall finden wir bei den Juden punktierte Exemplare als das wahre göttliche richtig überlieferte Wort, und so haben wir in unserer punktierten Bibel die durch göttliche Vorsehung erhaltene Offenbarung des Alten Testaments.“120 Es fiel Cappel nicht schwer, auf Buxtorfs weithin peinlich advokatenhafte Argumentation zu antworten; er tat es sogleich in den „Arcani punctationis Ludovici Cappelli vindiciae adversus Joh. Buxtorfii F. tractatum“, die allerdings erst nach fast drei Jahrzehnten (1689) von seinem Sohn Jacques herausgegeben wurden121. Dagegen erschien 1650 in Paris mit katholischer Hilfe (sein kon120  K. Siegfried, ADB III, 674f. (oben gekürzt und geglättet). 121  In: L. Cappellus, Commentarii et notae criticae in Vetus Testamentum (1689) 793–980. Auch hier die Gliederung in Pars ϰατασϰευαστιϰή und Pars ἀνασϰευαστιϰή.

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vertierter Sohn Jean Cappel, J. Morin122) sein zweites Hauptwerk, die bereits 1634 vollendete, aber von reformierten Glaubensgenossen in Leiden, Genf und Sedan beanstandete Critica sacra, in deren sechs Büchern er weitgehend unpolemisch darlegte, wie die verschiedenen Lesarten (in den Parallelstellen, den neutestamentlichen Zitaten, in Qere und Ketib, in den Handschriften und Übersetzungen und den älteren Schriften der Juden) „zu beurteilen seien, und wie die durch sie entstehende Unsicherheit das Ansehen der Schrift nicht erschüttere, auch für die Dinge quae ad fidem et mores pertinent von keinem Gewicht sei, und wie der ursprüngliche Text zu gewinnen sei“123. Das durfte Johannes Buxtorf natürlich nicht gutheißen, und so verfasste er wiederum eine Gegenschrift, um ein vielfaches schneller als die erste und mehr als doppelt so lang, 1026 Seiten: die „Anticritica: seu vindiciae veritatis Hebraicae adversus Ludovici Cappelli criticam quam vocat Sacram, ejusque defensionem: Quibus Sacrosanctae editionis Bibliorum Hebraicae authoritas, integritas, & sinceritas, à variis ejus strophis, & sophismatis: Quamplurima loca à temerariis censuris, & variarum lectionum commentis vindicantur, simul etiam explicantur & illustrantur“ (1653). Ein Sachverständiger hat diese Leistung „unter den Buxtorff’schen [sic] offenbar die beste“ genannt, durch die „Verbesserung einer Menge von Irrthümern und Verstößen, die Cappellus begangen hatte, namentlich aber eine viel richtigere Werthschätzung der Masorah und sehr brauchbare Bemerkungen über die Abweichungen der Uebersetzungen vom Grundtexte des A.T.“124. Schade nur, dass Buxtorf mit alledem „ein tiefgehendes Wissen und einen glänzenden Scharfsinn an eine unhaltbare Sache setzte“125. Man hat ihm eine „ungläubig-gläubige Ängstlichkeit“ nachgesagt126, der auf der Gegenseite eine viel größere Sicherheit und Souveränität gegenüberstand, und zwar von vornherein. Wie großartig liest sich der Satz, den Joseph Scaliger schon 1606 an den älteren Buxtorf schrieb: „De apicibus vocalibus Hebraeorum tam mihi 122  Vgl. M. Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift (2007) 230. 123  E. Bertheau, RE3 III, 720. Der „Critica Sacra“ beigegeben ist eine „Criticae adversus iniustum censorem iusta defensio“. Der Censor ist Buxtorf, der offenbar schon vor 1650 ein handschriftliches Exemplar der „Critica Sacra“ zu Gesicht bekommen hatte. 124  Siegfried a.a.O. 676. Vgl. schon R. Simon, Histoire (Anm. 33) 479: „Le même Buxtorfe, qui avoit reconnu que son Livre n’avoit pas eu tout le succés qu’il en esperoit, changea de méthode dans son Anticritique, ou Défense du Texte Hebreu contre la Critique de Cappelle. Ce dernier Ouvrage de Buxtorfe le fils merite d’être lû, principalement dans les endroits où il confere le Texte Hebreu avec les anciennes Versions, & où il examine les diverses Leçons qui avoient êté avancées par Cappelle. Il est beaucoup plus moderé dans ce dernier Ouvrage que dans les autres, parce qu’il avoit eu le tems [sic] de faire reflexion sur la matiere dont il traitoit. Mais avec tout cela, il y a un grand nombre d’erreurs dans ce Livre, que l’Auteur n’a pas voulu corriger, parce qu’il a persisté à défendre ses premieres opinions, c’est-à-dire ses vieilles erreurs. Il seroit aussi à desirer, qu’il n’y eust point tant mêlé de differens personnels, qui en rendent la lecture ennuyeuse. Au-reste, il a assez bien repris en quelques endroits la Critique de Cappelle; & quoi qu’il soit préoccupé en faveur de la Massore, exagerant trop l’utilité qu’on en peut recevoir, il ne laisse pas d’en parler avec plus d’exactitude que le même Cappelle.“ 125  Siegfried a.a.O. 673. 126  G. Schnedermann, Die Controverse des Ludovicus Cappellus mit den Buxtorfen über das Alter der hebräischen Punctation (1879) 31.

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constat rem novam esse, quam eos falli qui natos una cum lingua putant: quo nihil stultius dici potuit, aut cogitari.“127 Natürlich kam es dieser Seite zugute, dass sie die philologische Frage nicht gleich zu einer theologischen machte und von ihrer Lösung nicht die Autorität der heiligen Schrift abhängen ließ128. Dagegen machten die Basler die philologisch-theologische Frage sogar zu einer kirchlichen, indem sie sich gemeinsam mit den übrigen reformierten Schweizer Städten129 in der „Helvetischen Konsensus-Formel“ von 1675 zur Inspiration des hebräischen Alten Testaments nicht nur hinsichtlich der Konsonanten, sondern auch der Vokale bekannten und eine Kritik des masoretischen Textes von den Übersetzungen her verwarfen130. Der endgültige Wortlaut der Formel stammte von dem Zürcher J.H. Heidegger, aber als erster und eigentlicher Autor galt Lukas Gernler, der ihre Annahme gerade nicht mehr erlebte131. So fehlt nicht nur die Unterschrift des vor zehn Jahren verstorbenen zweiten Buxtorf – sozusagen für ihn unterschrieb der dritte –, sondern auch die seines wichtigsten theologischen Gewährsmannes und Gesinnungsgenossen. Von den Lebenden unterschrieb nicht Johann Rudolf Wettstein (1614–84), Sohn des Bürgermeisters Johann Rudolf Wettstein, der im Westfälischen Frieden die Unabhängigkeit der Schweiz durchsetzte, seinerseits immerhin Inhaber des ersten, neutestamentlichen Lehrstuhls, auf den Buxtorf 1654 nach dem Tode Theodor Zwingers denn doch nicht hatte vorrücken wollen. Wettstein, ein unzweifelhaft frommer und auch orthodoxer Mann, hatte gegen die Konsensformel Bedenken, die in die Zukunft wiesen, aber auch reformatorische Wurzeln hatten und sich mit den Argumenten der mit ihrer Zustimmung zur Formula zögernden Genfer Theologen berührten: „Wenn uns die Verschiedenheit der Lesarten im Neuen Testament keine Sorgen macht, warum können wir sie dann für das Alte Testament nicht anerkennen, wo doch schon das Altertum und auch die Juden an dieser Feststellung keinen Anstoß nahmen?“132 Es ist tröstlich, dass Wettstein seine Haltung nicht mit dem Verlust seines Lehrstuhls bezahlen musste, und ebenso tröstlich, dass Peter Werenfels (1627–1703), Antistes seit 1671, schon 1686 „die baslerische Kirche von der Verpflichtung auf dieses letzte orthodoxe Symbol befreite“133. Ein „Bild aus dem dunkelsten Winkel der orthodoxen Schreckenskammer“134 war damit verschwunden, die Buxtorfsche Position folgte allmählich nach, in 127  Scaliger, Epistolae (Anm. 73) 523, vgl. Grafton, Joseph Scaliger II, 73627. 128  Vgl. Schnedermann a.a.O. 13. 129  Genf trat erst 1679 bei. 130  Der Text bei E.F.K. Müller, Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche (1903) 862f. Vgl. R. Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz II (1974) 490–98. 131  Vgl. Geiger (Anm. 107) 131f. 132  Ebd. 310, vgl. überhaupt dort 283–313. 133  Ebd. 244. 134  K. Barth, Unterricht in der christlichen Religion I (1924/85) 286 doch wohl ironisch und mit daran anschließenden Erwägungen zur Sache; vgl. auch Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften (1923/98) 96–99.

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Deutschland sehr viel langsamer als in Westeuropa, wo Cappel weithin offene Türen einrannte. Aber nachdem „die deutschen Autoritäten zunächst nichts gemerkt und sich dann, nach dem Erscheinen der Gegenschrift von J. Buxtorf fil. (1648), eine Zeit lang im Widerlegen der neuen Wahrheit ergangen hatten, fand sich dieselbe eines Tages allgemein anerkannt […]. Gegenwärtig zweifelt kein Mensch an der Neuheit der Punkte.“ So Wellhausen 1878135. Unstrittig ist also das Bemühen, an das der zweite Buxtorf in der Nachfolge seines Vaters einen sehr großen Teil seiner Kraft verwendete, ein Schlag ins Wasser gewesen. Aber, dafür ist Richard Simon der unverdächtigste Zeuge, die falsche Voraussetzung machte nicht seine gesamte Arbeit am Bibeltext zunichte. Und so wie er den masoretischen Text maßlos überschätzte, so wurde dieser in der Nachfolge seiner Gegner oft unterschätzt136. Am Schluss seiner Anticritica nannte sich Buxtorf einen „Veritatis Hebraicae Professor et Interpres“; wenn irgendeinem dieser Titel zukam, dann ihm.

Johann Jacob Buxtorf 1645–1704 Johann Jacob Buxtorf, der jüngere Sohn des zweiten Johannes – der ältere, Johannes (1636–1710), wurde Landvogt zu Farnsburg im Baselbiet –, besetzte den väterlichen und großväterlichen Lehrstuhl seit 1664, also seit er 19 Jahre alt war, und 40 Jahre lang, noch länger als die beiden Vorgänger, bei denen es immerhin schon 34 und 39 Jahre gewesen waren. Die 35 Epikedien von 1704 stammen ausnahmslos aus Basel und Umgebung. Darin zeigt sich, wie sehr die Familie hier in zwei Generationen heimisch geworden war – in der Pfarrerund Professorenschaft hatte Johann Jacob es fast immer mit Verwandten zu tun –, zeigt sich aber auch ein drastischer Rückgang des Zusammenhangs mit der internationalen, ja schon der außerbaslerischen Gelehrtenwelt spätestens am Ende der Lebenszeit dieses dritten Buxtorf. Das stimmt dazu, dass er im Gegensatz zu der immensen literarischen Produktion von Vater und Großvater so gut wie nichts Eigenständiges veröffentlicht hat. Aber man meint aus den Epikedien viel menschliche Nähe und Wärme herauszulesen, und sowohl die Leichenpredigt des Johann Rudolf Zwinger137 als auch die akademische Gedenkrede des Samuel Werenfels138 bezeugt unzweifelhaft ein hohes Maß an Verehrung, ja Liebe. 135  Wellhausen (Anm. 55) 612. 136  Vgl. Wellhausen ebd. 624. 137  J.R. Zwinger, Der in Ewigkeit lebende und über Tod und Hölle Herrschende Jesus. Vorgestellt In dem Münster zu Basel den 6. April 1704. In einer Christlichen Leich-Versammlung bey Hochansehnlicher und Volckreicher Bestattung des Ehrwürdigen und Hochgelehrten Herrn Johann Jacob Buxtorffs (1704). 138  S.o. Anm. 4. Die Rede – ihr sind die Epikedien angefügt – ist im Folgenden die Hauptquelle, vgl. außerdem Athenae Rauricae (Anm. 20), 449–52.

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Die Biographie erinnert zunächst an die des Vaters. Dieser ließ den Sohn schon im zarten Alter Hebräisch lernen, so dass ausländische Besucher nicht nur den Vater, sondern auch den sechs- und siebenjährigen Sohn zu sehen wünschten und sich mit ihm wie mit einem Erwachsenen unterhielten. Er konnte sich früh auf Menschen einstellen und gewann Sympathien durch liebenswürdige Umgangsformen. Schon an dem Jüngling, sagte Antistes Gernler, bewundere er die Klugheit eines Alten („admirari in hoc juvene senilem prudentiam“)139. 1659 begann er das Studium in der philosophischen Fakultät, 1660 erwarb er den Grad des Baccalaureus, wofür er öffentlich eine hebräische Rede „De praestantia Linguae Hebraeae“ hebräisch vortrug, 1661 den des Magisters. Neben dem regulären Studium hatte ihn der Vater weiter im Hebräischen unterwiesen, und er setzte das während des folgenden Theologiestudiums unter Einbeziehung der Nachbarsprachen in einem Ausmaß fort, dass für die Theologie kein Platz mehr blieb. Er zwang den Sohn, das Studium abzubrechen, und erwirkte im Juni 1664, zwei Monate vor seinem Tod, beim akademischen Senat für ihn die Stelle eines „Vicarius in Hebraicae linguae Professione“ mit der festen Zusicherung der Nachfolge in der Professur, die der Sohn tatsächlich im November dieses Jahres antreten konnte – oder musste. Es dürfte allen Beteiligten klar gewesen sein, dass das sehr früh war. Der frischgebackene Professor oder Professors-Anwärter beriet sich zunächst mit zwei Freunden seines Vaters, einem Christen und einem Juden, dem großen Johann Heinrich Hottinger in Zürich und einem Rabbi namens Abraham in der Nähe von Basel, und beschloss dann, auch im Gedenken an Vater und Großvater, zunächst auf Bildungsreise zu gehen. Die Aufgaben der Hebräischprofessur versah während seiner Abwesenheit als „Vicarius“ Peter Werenfels, 18 Jahre älter als er, später Antistes und nacheinander Inhaber aller drei theologischen Professuren. Buxtorf schenkte ihm zum Dank für die Vertretung hundert Taler und einen vergoldeten Becher140. Die Reise begann im Frühjahr 1665 und dauerte vier Jahre. Wir sind über sie ganz gut durch Briefe unterrichtet, die Buxtorf von den meisten Stationen an Antistes Gernler schrieb141. Ich begnüge mich mit der kurzen Zusammenfassung in der Leichenpredigt des J.R. Zwinger: „Anfangs zwar naher Genff / von dannen in Franckreich / Niderland / Engelland / ferners naher Hamburg / von wannen er Ann. 1669. durch Teutschland wieder im Vatterland ankommen. Hat aller Orten was schöne Bibliothequen waren besehen / und gelehrte berühmte Leute salutirt / von denen er auch [er hieß ja Buxtorf!] mit Bezeugung sonderbarer Liebe und Hochachtung empfangen worden. In Engelland da er sich eine geraume Zeit aufgehalten / und den erschrecklichen Brand zu London Ann. 1666. mit angesehen / hat er die Ehr gehabt / daß er zu Ochsfort in die Bibliothecam Bodlejanam, zu Cambritsch aber in das Collegium 139  Werenfels 14. 140  A. v. Salis, Peter Werenfels (1897) 15. 141  Univ. Bibl. Basel Mscr. Ki. Ar. 24b.

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Emanuelis auffgenommen / und ihm an diesem letztern Ort zwey Zimmer (welches sonst nur Adelichen Personen beschicht) eingeraumet wurden.“142 Von den „gelehrten berühmten Leuten“ seien Voetius und Leusden in Utrecht, Coccejus in Leiden, Pococke in Oxford und last not least Lightfoot in (oder bei) Cambridge genannt. John Lightfoot (1602–75), nach dem Tod von Vater Buxtorf der „Princeps in Rabbinicis & Thalmudicis literis vir“, empfing den Sohn seines „Vorgängers“ mit vollkommener Freundlichkeit; er beherbergte ihn zwei Tage, zeigte ihm seine Bibliothek und seine Manuskripte, offenbarte ihm alle Geheimnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit und konnte endlich kaum dazu gebracht werden, diesen Sprössling der Buxtorfe (hanc Buxtorfiorum prolem) fortzulassen143. Wieder in Basel, widmete er sich mit Geschick und Hingabe seinen akademischen Pflichten. Das Epitaph144 rühmt offenbar ohne Übertreibung die Lebensklugheit (prudentia), die sein scharfsichtiges Urteil (perspicax iudicium) gezügelt hat, die Gewandtheit in den Geschäften (in rebus agendis dexteritas) und die äußerst angenehme Art (mores suavissimi), in der er die väterliche und großväterliche Wissenschaft betrieben hat. Solche Eigenschaften machten ihn zu einem geschätzten und begehrten Mann. Jahrelang verwaltete er, wie übrigens auch schon sein Vater, die Universitätsbibliothek, zweimal war er Rektor und siebenmal Dekan, und das so gut, dass ihn die Kollegen am liebsten ständig mit diesem Amt betraut hätten; auch im Senat spielte er eine maßgebliche Rolle. Er vertrat in Disputationen gern die Gegenseite, war überhaupt eine vermittelnde, unpolemische Natur, ein Meister des kultivierten Gesprächs mit einem Einschlag von sokratischer Ironie. Außer Erbaulichem las er vieles, was sich auf vernünftige Lebensführung bezieht; Francis Bacons „Sermones fideles“ waren ihm neben dem hebräischen Psalter immer zur Hand145. Den ihm nahegelegten Aufstieg in die theologische Fakultät lehnte er ab146, hierin dem Großvater verwandter als dem Vater; man kann sich auch nicht ganz leicht vorstellen, dass er „de controversiis“ mit der gewünschten Schärfe gehandelt haben würde. Die Unterschrift unter die Konsensformel von 1675 wird ihm aber schon aus Pietät keine Skrupel gemacht haben, da er dort das Vermächtnis von Vater und Großvater vollzogen sehen durfte. Die erhaltenen Vorlesungsmanuskripte über Genesis, Exodus, Josua, Hosea, Amos und Proverbien147 lassen auf eine gründliche Erläuterung der Texte schließen, die sich durchaus nicht auf Lexikon und Grammatik beschränkte. Im hebräischen (oder auch „chaldäischen“) Sprachunterricht stellte Buxtorf keine hohen Anforderungen. Die Studenten brauchten nicht mühsam Vo142  A.a.O. 28f. 143  Werenfels 20. 144  Es befand sich lange Zeit in der Barfüßerkirche, zuletzt an deren südlicher Außenwand, und wurde erst 2011 ins Münster zurückversetzt. 145  Werenfels 25.30. 146  Ebd. 28f. 147  Univ. Bibl. Basel A XII 4.6.15; 7,29.

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kabeln und Grammatik auswendig zu lernen, sondern bekamen diese Dinge nach grober Kenntnisnahme der Wurzeln und der Flexion vom Professor anhand der biblischen Texte nahegebracht; er ließ dann allenfalls in den großväterlichen Lehrbüchern nachschlagen. Er war der Meinung, dass derartige kontinuierliche und wiederholte Lektüre auch dem Gedächtnis nützlicher sei als die üblichen Lernmethoden148. Ob er damit wohl die Zustimmung von Vater und Großvater gefunden hätte? Ein Grund dafür, dass er im Unterschied zu beiden kein Forscher war, lag in seiner schwachen Gesundheit. Schon in seiner Jugend litt er an Asthma, dazu kamen gefährdete Nieren, häufige Gichtanfälle und eine geerbte Magen-DarmKrankheit, die ihn einen Ausgleich anderswo als in der harten Arbeit an Pult oder Schreibtisch suchen ließ. Er starb nach qualvollem Leiden, bei dem zu dem extrem gesteigerten Asthma noch eine Fußgeschwulst hinzukam. Die „Leichversammlung“ im Münster war „Hoch-ansehnlich und Volckreich“ 149. „Vielleicht war der wissenschaftlich Belangloseste der Vier der Interessanteste – menschlich.“150

Johannes Buxtorf III 1663–1732 Der vierte Buxtorf war der Sohn jenes Landvogts und also der Neffe Johann Jacobs, den nur zwei Töchter überlebten. So erklärt sich, dass er nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit oder auch Rigorosität wie seine beiden Vorgänger auf die hebraistische Professur oder überhaupt eine Universitätslaufbahn vorbereitet wurde. Sehr begabt, interessiert und fleißig scheint aber auch er gewesen zu sein151. 1663, also noch zu Lebzeiten des Großvaters, geboren, war er 1679 Baccalaureus, 1680 Magister und wandte sich dann der Theologie zu und dort besonders, die Vorfahren vor Augen, der Bibel und ihren Sprachen, wobei ihn der Onkel im Hebräischen förderte. Nach dem theologischen Examen (1685) setzte er zunächst seine Studien fort, trat 1689 als Prediger in den Dienst einer Baronin Strunkede in Mark bei Unna in Westfalen, die aber schon im folgenden Jahr starb, woraufhin auch er sich auf seine Bildungsreise begab oder wenigstens in die Niederlande, um dort, wohl in Leiden, orientalische Sprachen zu studieren. 1694 kehrte er in die Schweiz zurück und wurde für ein Jahrzehnt Pfarrer in Arisdorf im Baselbiet. Nach dem Tod des Onkels im April 1704 war die Sukzession nicht so problemlos wie 1629 und 1664. Es gab drei Bewerber, Johannes Buxtorf, Jakob 148  Werenfels 24f. 149  S.o. Anm. 137. 150  E. Jüngel brieflich 18.8.2010. 151  Vgl. Athenae Rauricae (Anm. 20) 452–54.

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Christoph Iselin und Johann Ludwig Frey152. Sie hatten Probevorträge zu halten153, und vielleicht tat noch einmal „der Klang des Namens Buxtorf seine Wirkung“154. Nicht bald darauf kamen auch die beiden Konkurrenten zum Zuge, Frey wurde später einer der beiden Gründer des Frey-Grynaeischen Instituts. Johannes Buxtorf wird sein Amt ohne Tadel versehen haben, wobei ihm zugute kam, dass er „ein ohnvergleichlicher Prediger und ein Exzellenter Musicus“ war155; zeitweise spielte er in der Leonhardskirche die Orgel156. Seine Vorlesungen hielt er vornehmlich über die Psalmen, daneben traktierte er „miscellanea philologica“157. Sein einziges Buch, „‫קבוצים‬  ‫ ספר‬sive Catalecta philologico-theologica“, erschienen 1707, enthält 278 solcher „miscellanea“ und schließt 58 lateinische Briefe verschiedener Leute an Großvater und Urgroßvater an – eine ideale Lektüre, wenn man sich mit deren Welt vertraut machen will158. Das Buch ist dem Baron Strunkede in Mark gewidmet, den das Vorwort an einen gemeinsamen Besuch in Kamen erinnert, die nah bei Mark gelegene Heimat der Buxtorfs, bevor der erste Johannes nach Basel kam. So schließt sich der Kreis. Der dritte Johannes starb 1732. Wie beim dritten Buxtorf, so stammen auch beim vierten die Epikedien159 durchweg aus Basel; ihre Zahl ist auf 21 gesunken. Der Kampf von Urgroßvater und Großvater um die Veritas Hebraica, wie sie sie verstanden, wurde anderswo weitergeführt, am energischsten durch den Leipziger, dann Lübecker lutherischen Theologen J.G. Carpzov, dessen Critica sacra in Wahrheit eine Anticritica gewesen ist, mit der Front gegen die großen Ketzer Spinoza und Simon und unter ausdrücklicher Berufung auf den zweiten Buxtorf. Es ist schwer vorstellbar, dass das Buch, 1728 erschienen, dem vierten Buxtorf nicht zu Gesicht gekommen ist; eine sachliche und persönliche Beziehung scheint sich aber nicht mehr ergeben zu haben. Gegen Ende des Jahrhunderts rief die aufgeklärte alttestamentliche Wissenschaft durch den Mund ihres Göttinger Hauptvertreters den „Tag“ aus, der „Buxtorfs Finsternisse“ zerstörte. Der Göttinger, es war Johann Gottfried Eichhorn160, wurde alsbald seinerseits, wenngleich nicht im Buxtorfschen Namen, von dem künftigen Basler W.M.L. de Wette unsanft in 152  Vgl. Staehelin, Geschichte (Anm. 101) 228. 153  Vgl. Prijs, Drucke LXII. 154  Staehelin a.a.O. 155  Erinnerung eines ehemaligen Mitschülers bei Staehelin a.a.O. Buxtorf predigte in der Peterskirche, vgl. J.J. Bruckner, Der Tod der Heiligen, Werth gehalten vor dem Herrn. […] Bey Hochansehnlicher Ehrenbestattung des Ehrwürdigen und Hochgestellten Herrn Johann Buxtorffs […] (1732) 3. 156  Die Matrikel der Universität Basel, hg.v. H.G. Wackernagel u.a., IV (1975) 11. 157  Staehelin a.a.O. 204. 158  Verzeichnis der Korrespondenten bei Prijs, Drucke 539f. 159  Gedruckt im Anschluss an die Brucknersche Leichenpredigt (s. Anm. 155). 160  ABBL III/5 (1791) 858; vgl. auch Eichhorn in: J.D. Michaelis, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt (1793) 177. Das Wort hielt sich bis ins 20. Jahrhundert (s. K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit, 1929, 212).

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seine Schranken verwiesen161. In Basel blieb unterdessen die Familie Buxtorf in Blüte, und einmal stellte sie auch noch einen Theologieprofessor, den als „schüchtern und schwächlich“162 geltenden Johann Rudolf Buxtorf (1747–1831), der sich 1821/22 vergeblich gegen die Berufung de Wettes nach Basel sperrte; vielleicht glaubte er damit im Sinn seiner berühmten Vorfahren zu handeln, und vielleicht war das sogar richtig163.

161  Vgl. R. Smend, W.M.L. de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament (1958) 19.32–34. 162  P. Wernle, Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert II (1924) 462. 163  Über ihn vgl. A.U. Sommer, Die stillschweigende Orthodoxie im Bienenstock des Herrn: Johann Rudolf Buxtorf (1747–1831), in: ders. (Hg.), Im Spannungsfeld von Gott und Welt. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart des Frey-Grynaeischen Instituts in Basel 1747–1997 (1997) 81–89.

Samuel Bochart 1599–1667

„Es klingt wie ein Mährchen, dass Bochart ein Pastor war“ (und nicht ein Professor, ein deutscher gar), schreibt 1878 der deutsche Professor Julius Wellhausen1. Dieser Pastor gehörte in die Zeit „von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts“, als „nebst der classischen auch die heilige Philologie recht in der Mode war“. „Vor allem glänzten die Franzosen auf diesem Gebiete durch die vollkommene Beherrschung des traditionellen Materials bei jüdischen und patristischen Schriftstellern und durch die echt wissenschaftliche Benutzung desselben – während die früheren Hebraisten meist sich einfach den Rabbinen gefangen gaben oder eine rein dogmatische Kritik übten. […] Auch Samuel Bochartus (1599–1667) war Franzose, sein Phaleg et Canaan und sein Hierozoikon, gelehrte Werke ersten Ranges, sind aus Vorstudien zu Predigten über die Genesis erwachsen“2. Aber nicht zu vergessen: „Mit den Franzosen hielten die Engländer Schritt.“3 Gleiches ist von den Holländern in ihrem „gouden eeuw“ zu sagen, wogegen die deutsche Bibelwissenschaft erst im Lauf des 18. Jahrhunderts zur westeuropäischen aufschloss, um dann allerdings für eine lange Zeit den Ton anzugeben. Bochart gehört in die Generation des zweiten Buxtorf, dessen Geburtsjahr auch das seine war und mit dem er das Los teilt, bis heute keinen Biographen gefunden zu haben4. Er wurde in Rouen geboren und wuchs dort auf. Von beiden Eltern her stammte er aus vornehmer, vielfältig in der Öffentlichkeit hervorgetretener Familie. Zu seiner Berufswahl trug sicherlich bei, dass sowohl sein Vater René Bochart (1560–1614) als auch seine beiden Onkel Pierre du 1  (F. Bleek–) J. Wellhausen, Einleitung in das Alte Testament 4656. 2  A.a.O. 651 (mit einer Umstellung). 3 Ebd. 4  Grundlage aller Beschäftigung mit ihm ist die dem ersten Band seiner Opera omnia vorangestellte Abhandlung des Stephanus Morinus „de clarissimo Bocharto et omnibus ejus scriptis“ (im Folgenden: Morin). Allerlei Material bietet z.B. E.-H. Smith, Samuel Bochart. Recherches sur la vie et les ouvrages de cet auteur illustre (Caen 1833). Die neuere kritische Würdigung beginnt mit Ed. Reuß’ Artikel „Samuel Bochart“ (ReTh 8, 1854, 129–56) und hat in dem Bochart-Kapitel in Z. Shalev, Sacred Words and Worlds. Geography, Religion, and Scholarship, 1550–1700 (2012, 141–203, im Folgenden: Shalev) ihren vorläufig letzten Höhepunkt; wertvoll dort auch die bibliographischen Anhänge (270–308).

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Moulin (Molinaeus, 1568–1658) und André Rivet (Rivetus, 1572–1651) reformierte Theologen und Pastoren waren; die beiden letzteren sollten ihm auch als Professoren, in Sedan und Leiden, begegnen. Den ersten Unterricht genoss er beim Vater. Einen Aufenthalt in Paris, wo er den vielgereisten und vielgelehrten Schotten Thomas Dempster (1579–1625) durch seine philologischen und poetischen Talente beeindruckte – die Ausgabe seiner Werke enthält „Juveniles quidam lusus poetici“5 –, folgten Jahre des Studiums an den beiden Hugenottenakademien Sedan und Saumur, sodann in Leiden, Oxford6 und wiederum Sedan. In Sedan wurde er mit der strengeren, in Saumur mit der milderen Form der calvinistischen Orthodoxie vertraut, wie sie sich nach der Dordrechter Syn­ ode (1618/19) ausbildete; man hat seine Position als die eines „Saumurois hors les murs“ charakterisiert7. In Leiden setzte er seine theologischen Studien fort, doch wichtiger war, dass dort Thomas Erpenius (van Erpen, 1584–1624) lehrte, „welcher durch seine arabische Grammatik die arabische Philologie des Abendlandes auf eine feste Grundlage zu stellen berufen war“8. Er war von Haus aus Theologe, hatte zeitweilig in Paris und Saumur studiert und gab seine Position in der Bibelwissenschaft zu erkennen, indem er 1624 das „Arcanum“ des Louis Cappel mit einem Vorwort versah9. Cappel (1585–1658) wirkte von 1613 bis 1621 und seit 1624 in Saumur und dürfte Bochart in die biblische Philologie eingeführt haben. Fraglos war er sein eigentlicher Lehrer10. Man greift kaum fehl, wenn man vermutet, dass Bochart auf seinen Rat nach Leiden und auch nach London gegangen ist, wo Cappel selber sich zwei Jahre aufgehalten hatte, „vorzugsweise eifrig mit der Erlernung der arabischen Sprache beschäftigt“11. Das Arabische war es auch, was – neben den Einsichten des „Arcanum“ – der Cappel-Schüler den Buxtorfs entscheidend voraus haben sollte. „Sed ut dicam quod res est,“ schrieb er später, „nihil mihi tam profuit quam Arabicae linguae qualiscunque cognitio. Cum enim in reliquis Hebraicae dialectis, praeter aliquot Scripturae versiones aut paraphrases, vix quicquam habeatur quod sit alicujus momenti. Arabes abhinc annis fere nongentis omnes omnino scientias magna cura excoluerunt. Et de singulis multa scripserunt, iis plerumque verbis quae vel mere Hebraica sunt, vel cum mere Hebraeis magnam habent affinitatem. Itaque si quis Arabum scrinia sedulo compilaret, plura ex iis eliceret ad so5  Opera omnia (4Leiden/Utrecht 1712) I, 1167–76. Nach dieser Ausgabe wird auch im Folgenden zitiert. 6  Früher angenommene Reihenfolge: Oxford – Leiden; hier nach Shalev 151f. 7  F. Laplanche, L’écriture, le sacré et l’histoire. Érudits et politiques protestants devant la Bible en France au XVIIe siècle (1986) 250. 8  J. Fück, Die arabischen Studien in Europa (1955) 59. 9  S.o. 14. 10  Möglicherweise hatte Bochart die Anfangsgründe des Hebräischen aber auch schon bei Cappels älterem Bruder Jacques (1570–1624) gelernt, der in Sedan seit 1599 als Professor dieses Fach vertrat; vgl. E. Bertheau, RE3 III, 718. 11  Bertheau ebd. 719.

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lidam sacrae linguae cognitionem pertinentia, quam vel ex vasta illa Talmudicorum farragine [Mischfutter], vel ex magistrorum commentariis omnibus.“12 Bochart kam früh in seine endgültige Position. 1625 übernahm er ein Pfarramt in Caen, unweit seiner Vaterstadt Rouen in der Normandie gelegen. Er blieb der Stadt und der Gemeinde bis ans Ende, also über vier Jahrzehnte treu, obwohl es für ihn auch andere Möglichkeiten gegeben hätte: 1646 war er für einen Lehrstuhl in Leiden im Gespräch, 1649 schlug er eine dortige Pfarrstelle aus13. Offenbar versah er sein Amt mit Hingabe und ließ ihm durch seine ungewöhnlich aufwendige gelehrte Arbeit nichts abgehen. Auch mit Aktuellerem hatte er sich zu befassen. Man bedenke: als er geboren wurde, war es gerade ein Jahr her, dass Heinrich IV. das Edikt von Nantes erließ, und zur Zeit seines Todes steuerte die Politik Ludwigs XIV. bereits deutlich auf dessen Aufhebung hin. Der Streit der Konfessionen und die zunehmende Unterdrückung der Hugenotten betrafen mittelbar und zuzeiten unmittelbar auch ihn. In diesem Zusammenhang entzog er sich kirchlichen Aufgaben, die über seine Gemeinde hinausgingen, nicht, sondern erfüllte sie, in späteren Jahren namentlich durch Mitwirkung in der Nationalsynode, mit dem Einsatz seiner ganzen Kraft, „quoniam in rebus religionis velitatim [plänkelnd] agere nesciebat“14. Aufsehen erregte er erstmals durch seine Disputation mit einem reisenden Jesuiten namens François Vernon (1575–1649), die hier mit den Worten des für unser Bild vom 17. Jahrhundert so wichtigen Bayleschen „Dictionnaire historique et critique“ berichtet sei15: „Dieser Mann [Vernon], welcher mit einer vom Hofe erhaltenen besondern Sendung zu disputiren versehen, und einigermaßen, mit dem Amte eines Controversisten, bekleidet war, übte durch das ganze Königreich eine gerichtliche Gewalt, wobey er den Bochart den 4 des Herbstmonats [September] 1628 herausforderte, und nicht eher zu schreyen aufhörte, als bis er einen bestimmten Tag und Ort erhalten hatte, den Kampfplatz öffentlich mit ihm zu betreten. Die Disputation geschah auf dem Schlosse zu Caen, in Gegenwart einer großen Anzahl Personen von beyderley Religion. Der Herzog von Longueville, Statthalter der Provinz, fand sich dabey ein, so ofte es seine Geschäffte zuließen, und es wohnten derselben von beyden Theilen ernennte Gevollmächtigte bey. Man disputirte von dem 22 des Herbstmonats, bis auf den 3 des Weinmonats [Oktober], und man durchwanderte das weite Feld der Religionsstreitigkeiten, in den neun Sitztagen, welche hintereinander gehalten wurden, fast völlig. Die unterzeichneten und wohl gegeneinander gehaltenen Acten, wurden von beyden Seiten herausgegeben; allein, Bochart setzte den Seinigen viele Dinge hinzu, welche der hitzige Geist seines Widersachers gleich auf der Stelle in Ordnung zu bringen verhindert hatte; und er fügte den Streit wegen des Nachtmahls und des ehelosen Standes bey, welche man zu untersuchen ei12  Opera omnia II, Praef. 62. 13  Shalev 166f. 14  Morin 7. 15  Ich zitiere J.Ch. Gottscheds Übersetzung I (1741) 599.

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nig geworden war, aber nicht hatte ausmachen können, weil Vernon die Wahlstatt verlassen hatte.“ Die Biographie, aus der Bayle schöpft, zählt auf, worüber disputiert (oder eben geschrieben) wurde: „de sinceritate nostrae Versionis Gallicae Bibliorum, & vitiis Vulgatae; quae dederunt locum agendi de imaginibus, de traditionibus, de intercessione Sanctorum, bonis operibus, missâ, Presbyteris, cibis vetitis, caelibatu, certitudine salutis, S. Scripturae auctoritate, Ecclesiâ, primatu S. Petri, Papae potestate, B. Virgine, Sanctis, reliquiis, libero arbitrio, meritis, votis, abstinentiis, justificatione, purgatorio, limbo, precibus pro mortuis, numero Sacramentorum, Eucharistiâ, aequivocis & c.“16. Es versteht sich, dass Bochart nach dieser Darstellung aus dem Waffengang „mit einem vollkommenen Siege zurück kam“17 und dass die Gegenseite ein Gleiches von ihrem Helden behauptete. Immerhin darf vorausgesetzt werden, dass die Protestanten in ein solches Treffen niemanden schickten, der nicht für eine breite theologische, speziell kontroverstheologische Bildung und als versierter Disputant bekannt war; in der Tat hatte Bochart in dieser Hinsicht von seiner Studentenzeit her einiges vorzuweisen18. In den selben Oktober 1628 fällt auch ein Ereignis von ungleich größeren Dimensionen: die mächtige Hafenstadt La Rochelle, die „atlantische Zitadelle Calvins“19, ergab sich nach elfmonatiger Belagerung der von Kardinal Richelieu gesteuerten Übermacht, mit weitreichenden Folgen: „Durch die Eroberung von La Rochelle hat Richelieu auf Jahrhunderte die französische Einheit geschaffen“20 – natürlich auf Kosten der Calvinisten. Diese brachte der Lauf der Dinge aber nicht dazu, auf die hergebrachte gesellschaftlich-juristisch-politische Komponente ihrer Theologie zu verzichten. Das gilt auch für Bochart. Sein Standpunkt ähnelt dem des durch seine besondere Fassung der Prädestinationslehre („Universalismus hypotheticus“) berühmten Moïse Amyraut (1596– 1664), bei dem er in Saumur studiert hatte21. Er fixierte ihn 1650 in einem Brief an den englischen Kirchenmann George Morley (1598?–1684), der in den revolutionären Geschehnissen jener Jahrzehnte als „a staunch Calvinist and yet an unwavering defender of the episcopacy and liturgy of the Church of England“22 auf der monarchischen Seite stand; er war Hofkaplan Karls II. und nach der Restauration von 1660 Bischof von Worcester, später von Winchester. Bochart hatte Morley gefragt, warum die königstreuen englischen Exulanten in Frankreich die Gemeinschaft mit den dortigen Hugenotten scheuten. Morleys Antwort war gewesen, diese stünden bei ihnen im Verdacht, dasselbe zu denken 16  Morin 3 (b 2). 17  Bayle/Gottsched a.a.O. 18  Vgl. die Angaben bei Shalev 152.154. 19  C.J. Burckhardt, Richelieu (1984) I, 245. Vgl. insgesamt dort 227–350. 20  C.J. Burckhardt, Betrachtungen und Berichte (1964) 129. 21  Vgl. ausführlich A. Galland, Les pasteurs français Amyraut, Bochart, etc., et la royauté de droit divin, BSHPF 77 (1928) 14–20.105–34.225–41.413–23; kurz Laplanche (Anm. 7) 251. 22  ODNB XXXIX, 220.

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wie die englischen Presbyterianer, indem sie 1. das Bischofsamt als tyrannisch und antichristlich verwürfen, 2. den Presbytern die höchste Gewalt in der Kirche zusprächen, von der man nicht anderswohin appellieren könne, und 3. behaupteten, die Könige könnten mit Waffengewalt zur Ordnung gerufen und gegebenenfalls verhaftet und schließlich auch hingerichtet werden (wie 1649 in London mit Karl I. geschehen). Bochart antwortete in der „Epistula, qua respondetur ad tres quaestiones“, die sogleich auch ins Französische übersetzt und später in die Opera omnia23 aufgenommen wurde. Er konnte Morley in allen drei Punkten mit einer Vielzahl von Argumenten beruhigen und besorgte das am eingehendsten hinsichtlich des dritten Punktes mit Ausführungen, die geradezu einer kurzgefassten biblischen Geschichte und Theologie des Königtums gleichkommen, wobei aber immer mehr oder weniger deutlich der französische und der englische König im Hintergrund stehen24. Man hat die Schrift in ihrer positiven Stellung zum Königtum sogar mit Bossuets etwas späterer, für den Dauphin bestimmter „Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture Sainte“ zusammenstellen können25; gewiss lag Bochart auch daran, seine hugenottischen Glaubensgenossen möglichst weit von den englischen Independenten abzurücken und ihnen in Frankreich das Leben nicht noch schwerer zu machen26. Bedenkt man den Ernst der Lage und die Leidenschaft der Parteien, dann kann man mit Ed. Reuß27 Bocharts „calme, sa sagesse, ses sentiments de conciliation et de tolerance“ nur bewundern. Seine königsfreundliche Haltung wurde ihm nicht gedankt28. So sehr er sich in den beiden Kontroversen von 1628 und 1650 bewährt haben mag, seine eigentlichen Interessen lagen doch anderswo, und darin folgte er der Bibelwissenschaft seiner Zeit, wenn denn gilt: „the seventeenth century excelled above all in the study of biblical realia“29. In diesem Bereich lieferte er seine beiden opera magna, 1646 die „Geographia sacra“ und 1663 das „Hierozoicon“. Wer von einer „Geographia sacra“ eine Topographie des Heiligen Landes erwartet, sieht sich schon beim ersten Blättern enttäuscht: nicht einmal von den schönen und in ihrer Weise aufschlussreichen Landkarten, die der große Band enthält, gibt auch nur eine einzige halbwegs detailliert das Gebiet von Palästina wieder, und dem entspricht der Text. Das Werk besteht aus zwei Teilen etwa gleichen Umfangs, aber ziemlich verschiedenen Inhalts, die mit den zunächst rätselhaften Namen Phaleg und Chanaan überschrieben sind. Untertitel sagen, 23  I, 988–1023. 24  Ebd. ab 994. 25  Vgl. bes. Galland a.a.O. 123f. 26  Galland lässt offen, ob der von ihm konstatierte Wegfall des „et Deo, quae sunt Dei“ aus Bocharts Zitat von Mt 22,21 (Opera I, 997) in der (mir nicht vorliegenden) französischen Version ein politisches Motiv hatte. 27  A.a.O. (Anm. 4) 155. 28  Vgl. Galland 414. 29  B.S. Childs, Festschrift J. Barr (1994) 331.

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was gemeint ist: „Phaleg“ handelt (agit) „De Dispersione Gentium et terrarum“, „Chanaan“ „De coloniis & sermone Phoenicum“. Phaleg/Peleg figuriert in der Völkertafel der Genesis als Ururenkel des Noahsohns Sem und Urururgroßvater Abrahams; er hat seinen Namen daher, „quod in diebus ejus divisa est [‫ ]נפלגה‬terra“30, womit die „Dispersio“, die Zerstreuung, gegeben ist. Nicht nur die Überschrift nimmt Bochart aus der Genesis, sondern auch die Anlage des Ganzen: die vier Bücher „Phaleg“ traktieren in engem Anschluss an die Texte einleitend die Geschichte Noahs und den Turmbau zu Babel (I) und dann, der Völkertafel folgend, die Nachkommen (posteri) Sems (II), Japhets (III) und Hams (IV). Man könnte geradezu von einer selektiven Genesis-Auslegung sprechen und wäre damit auch der Entstehungsgeschichte des „Phaleg“ nicht fern. Bochart legte nämlich in Predigten („excellentissimis sermonibus“) die ganze (oder fast die ganze31) Genesis aus32, und daraus ergaben sich die gelehrten Studien, deren wichtigsten Niederschlag wir im „Phaleg“ vor uns haben. Diesem sollte, wie das Vorwort mitteilt, eigentlich ein „Libellus de Paradiso“, genauer „de loco Paradisi Terrestris“ vorangehen; leider haben sich über diesen Gegenstand nur zwei Manuskripte, eins lateinisch und gelehrt, eins französisch und predigtmäßig, erhalten33, dazu aber ein Brief Bocharts an Louis Cappel, in dem er Calvins (und Scaligers) Meinung variiert, die ihm als die „verissima“ erscheint und nach der „Edenis hortus in ea Babyloniae parte jacebat, in qua fluvii duo [sc. Euphrat et Tigris] in unum alveum conjuncti fluunt“34. Die Völkertafel Gen 10 will in genealogischer Form eine Geographie bzw. Ethnologie der Menschheit geben; sie beansprucht insofern Vollständigkeit, wenigstens für die antike Welt, als ja mit der Sintflut eine totale Vernichtung vorangegangen ist. In den „unendlichen Bemühungen der Gelehrten, die genannten Namen zu identifizieren“35, bedeutet der „Phaleg“ einen Markstein. Bochart geht noch ganz „vorkritisch“ von der vollen Wahrheit und Allgemeingültigkeit des – inspirierten – Bibeltextes aus, zieht aber zu dessen Interpretation und Illustration eine bis dahin nicht gekannte Fülle von außerbiblischem Material heran, die auf allen Seiten Bewunderung erregte und auch heute noch imponieren kann. „Eine stupende Gelehrsamkeit steht hier in willigem Dienste eines fruchtbaren Scharfsinns und ungemeiner Combinationsgabe“, konstatiert Ludwig Diestel36, um allerdings sogleich hinzuzufügen: „ein Werk, sehr anregend, doch wenig aufhellend, voll geistreicher Hypothesen, doch arm an 30  Gen 10,25, vgl. 11,16–19 und Bochart, Opera omnia I, 37.92. 31  Er kam bis Gen 49,18 (Morin 4). 32  Handschriftlich ist nur wenig erhalten, postum erschien 1714 eine dreibändige Ausgabe (Shalev 16974). 33  Shalev 168f. 34  Opera omnia I, Einleitungsteil (nach Morins „Dissertatio de Paradiso terrestri“) 29. Der Brief ist noch einmal abgedruckt in B. Ugolinis Thesaurus Antiquitatum Sacrarum VII (Venedig 1747) zwischen Traktaten anderer Autoren zu diesem Thema. 35  H. Gunkel, Genesis (41917) 152. 36  Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869) 465.

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sicheren Ergebnissen“. Schon im ersten Satz verkündet Bochart die Maxime, die ihn auf seinem ganzen Weg durch die Völker und Länder begleiten wird, und zitiert dafür Tertullian: am Anfang steht immer die Wahrheit, alles Erste ist wahr, alles Spätere abgeleitet und eine „corruptio veritatis“37. Bis zur confusio linguarum nach dem Turmbau zu Babel gab es ja auch nur eine Sprache, das Hebräische natürlich, von dem Bochart dann allenthalben mehr oder weniger deutliche Spuren findet38. Hinsichtlich der Priorität des Hebräischen hatte er einen unmittelbaren Vorgänger in seinem Onkel Rivet mit dessen Auslegung von Gen 11 aus dem Jahr 163339. Der ältesten Sprache entspricht die „Scriptura antiquissima, ex quâ petitum aut detortum quicquid antiquum in gentibus, ut [und nun folgt gleich das erste Beispiel:] fabula de Saturno & liberis, quae tota latet in Historia Noae“40. Schon früher haben, berichtet Bochart, Gelehrte in Saturn und seinen drei Kindern, die die Weltherrschaft unter sich aufteilten, Noah und seine drei Söhne verborgen gesehen (viderunt latere), aber er selbst will nun durch einen Vergleich der „fabula de Saturno“ mit der „historia Mosis de Noâ“ den Nachweis so gründlich liefern, „ut vix sit dubitandi locus“. Nachdem das in vierzehn Punkten geschehen ist41, entdeckt Bochart Ham in Jupiter, Japhet in Neptun, Sem in Pluto42, und dann kommt die Enkelgeneration an die Reihe: Chanaan steht hinter Merkur43, Nimrod hinter Bacchus (bar-chus, Gen 10,8 – „quis non videt?“), Magog hinter Prometheus44. Dass die anschließende, von Phantasie und Material überbordende Kommentierung der Völkertafel sich weithin in solchen Bahnen bewegt, hielt ein reichliches Jahrhundert später den Göttinger Johann David Michaelis nicht davon ab, seine eigene „hebräische Geographie“ ebenfalls als Erläuterung von Gen 10 zu entwickeln und als „Nachlese“ (spicilegium) ausdrücklich an Bocharts „Phaleg“ anzuknüpfen45. Er begann mit dem Satz: „De geographia Hebraeorum extera, id vero est, de gentibus, regionibus, urbibus, extra Palaestinam sitis, quarum mentio fit in codice Hebraico sacro, doctius nemo copiosiusque egit Bocharto, ad cujus librum aeternitate dignum, Phaleg et Canaan, recurri ab interpretum optimis solet, si qua difficilior incidit quaestio geographica.“46 Zu den „interpretum optimi“ gehörte unter den Nachfolgern der große Wil37  Opera omnia I, 1. – Tertullian: adv. Prax. 2,2. 38  Vgl. Opera omnia I, 49–61 und Phaleg passim. Dazu A. Borst, Der Turmbau von Babel III/1 (1960) 1278f. 39  Vgl. A. Rivet, Opera theologica I (1651) 255f.; dazu Borst a.a.O. 1297. 40  Bochart, Opera omnia I, 1f. 41  Ebd. 1–5. 42  Ebd. 5–10. 43  „[…] quia cum Chamo patre creditur Chanaan obscoeno spectaculo se oblectasse [Gen 9,22]. Mercurius fingitur esse Jovi lasciviae minister, & amorum pararius“. 44  Ebd. 10–12. 45 J.D. Michaelis, Spicilegium geographiae Hebraeorum exterae post Bochartum I/II (1769/80). 46  Ebd. III.

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helm Gesenius, der in der Tat sowohl den „Phaleg“ als auch das „Spicilegium“ für seine Lexika ausgiebig benutzte. Allerdings hatte er dabei einen grundsätzlichen Vorbehalt: „Schade, daß die beyden letztern Schriften noch einer Ansicht entbehren, ohne welche die geographischen Vorstellungen der Hebräer so wenig, als eines andern alten Volks vollständig begriffen werden möchten; der mythischen Ansicht nehmlich, welche Voß [der Homerübersetzer!] und Bredow zuerst für die Weltkunde der Griechen und Römer geltend machten47. Aus ihr möchten die Mythen von der Lage des Paradieses und die Völkergenealogie Gen. 10 einzig erklärlich seyn, und eine Darstellung des Gegenstandes aus diesem Gesichtspunkte wäre ein ebenso belehrendes, als zu interessanten Resultaten führendes Unternehmen. Mit vielen geographischen Nahmen des Auslandes hat man offenbar viel zu bestimmte Begriffe verbunden, und mit Unrecht die geographischen Vorstellungen der Hebräer immer mit der wirklichen Geographie in Uebereinstimmung setzen wollen, uneingedenk, daß die ganze Kenntniß der Hebräer von auswärtiger Geographie, besonders vom Westlande, sich auf einige dunkele von phönizischen und israelitischen Schiffern erhaltene Notizen, die kaum über eine Nahmenkenntniß hinausgingen, beschränken mochte: gleich verworren, als wenn die Griechen von Scythien, oder die römischen Dichter von Asia und Indien reden. Mancher Nahme ging vielleicht von einem speziellen aus, war aber bey ihnen zu einem allgemeinen erweitert worden.“48 „Extra Palaestinam“ liegen trotz der Überschrift „Chanaan“ auch die Schauplätze des zweiten Teils der „Geographia sacra“. Der Horizont ist nicht ganz so weit wie der (mindestens dem Anspruch nach) universale (oder wie man heute sagen würde, globale) im „Phaleg“ gemäß Gen 10, aber er umfasst doch das ganze Mittelmeer mit vielen Orten und Gegenden Europas, Asiens und Afrikas. Denn es handelt sich, wie die Überschrift weiter ausgeführt wird, um die Kolonien und die Sprache der Phöniker. Sie sind die Nachkommenschaft (suboles) der Kanaanäer, die von Josua aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die phönikische Sprache ist, so Bochart, ein Dialekt der hebräischen gewesen, und so haben die Phöniker mit ihren Fahrten und Eroberungen auch den „Hebraismus“ weit verbreitet, wobei er nicht so sehr verdorben wurde, „dass nicht aus seinen Überresten noch vieles gewonnen werden könnte, was in dunkle Stellen der Schrift Licht bringt (ut non ex ejus ruderibus multa possint erui, quae obs-

47  Vgl. J.H. Voß, Mythologische Briefe I/II (1794); G.G. Bredow, Untersuchungen über einzelne Gegenstände der alten Geschichte, Geographie und Chronologie I/II (1800/02). Beide gingen in Anknüpfung und Widerspruch von dem Göttinger Philologen Chr. G. Heyne aus. Klassisch wurde und blieb „Die Griechen und ihr Mythus“, das Anfangskapitel von Jacob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte (I, 1898, 15–53; Werke, Krit. Gesamtausg. XIX, 2002, 5–35); dort (25 bzw. 13) auch Bezugnahme auf Gen 10. 48  W. Gesenius, Hebräisch-Deutsches Handwörterbuch über die Schriften des Alten Testaments I (1810) XXVIIIf.

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curis Scripturae locis lucem afferant)“49. Diese Überreste (rudera, eig. Trümmer) sind die wesentlichen Quellen im „Chanaan“-Teil der „Geographia sacra“. Hier hat der Gelehrte es zwar nicht wie in der Genesis mit inspirierten „scripta Mosis“50 zu tun, aber doch mit einem reichen Material, zu dem der Zugang nicht allzu schwer ist, wenn gilt, dass „Phoenicius est Hebraei dialectus à prototypo suo non multum dissimilis“, ja dass man fast von einem „promiscue“ sprechen kann51. Die Gliederung lieferten im „Phaleg“ die biblischen Namen der Völkertafel, hier tun es im „Kolonien“-Teil die Orte und Landschaften (Phoenices in Cypro, in Aegypto, in Sardinia, Athenis etc.), im „Sprachen“-Teil die literarischen und sonstigen Quellen „von Sanchuniathon bis zu den Kirchenvätern und Grammatikern herab“ (Phoenicia ex Herodoto, ex Josepho, Punica ex Servio etc.), wobei immerhin nach Gesenius52 ein hoher Grad von – damals möglicher – Vollständigkeit erreicht ist. Das kombinatorische Verfahren ist vorwiegend eine phantasievolle Etymologie, von der schon flüchtiges Blättern mancherlei Beispiele liefert, angefangen damit, wie Bochart sogleich die Brücke von den Phönikern zu den alttestamentlichen Enakitern schlägt53. Über dergleichen hat nicht erst Ed. Reuß sich amüsiert54, aber wiederum konnte Gesenius auch hier nach Richtigstellung einiger grundlegender Sachverhalte – voran die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Hebräisch und Kanaanäisch/ Phönikisch55 – mancherlei Vorarbeit für seine eigene Forschung finden. Im Abstand von zwei Jahrhunderten erinnerte die damals führende Darstellung an „das nach seinen Vorzügen und Fehlern allbekannte Werk von Bochart“56, und noch heute steht der Name Bochart bei den Vertretern der phönikischen Philologie und Epigraphik in Ehren. Gesenius konnte sogar von dem „großen Sam. Bochart“ sprechen, dies aber erst im Blick auf dessen zweites opus magnum, das Hierozoicon von 1663, das „einen seltenen Schatz von philologischen Materialien enthält, besonders insofern die Worterklärung durch Natur- und Sachkenntnisse des Alterthums bedingt ist“; im Vergleich mit der Geographia sacra sei es „vollendeter und minder reich an Hypothesen“57. Der Gegenstand ist aber auch ungleich handfester. Bochart bespricht in großer Ausführlichkeit – schon quantitativ übertrifft das Werk die „Geographia sacra“ bei weitem – alle in der Bibel vorkommenden Tiere nach ihren Bezeichnungen im Grundtext und den sicheren oder mutmaßlichen Äquivalenten in den anderen Sprachen. Er gliedert in zwei Teile zu 49  Opera omnia I, 344. 50  Vgl. ebd. 325. 51  Ebd. 329. 52  Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift (1815) 223. 53  Opera omnia I, 345–48. 54  ReTh 8, 144. 55  Vgl. nur Geschichte (Anm. 52) 16–18. 56  F.C. Movers, Die Phönizier II/2 (1850) 41. 57  Geschichte 119f. (Hervorhebung R. S.).

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jeweils mehreren Büchern, die in zahlreiche Kapitel zerfallen. Die Bücher sind: De Animalibus in Genere (I), De domesticis Quadrupedibus (II, mit 57 Kapiteln das umfangreichste „Buch“), De feris Quadrupedibus (III), De Quadripedibus oviparis (IV); De mundis Avibus (I), De immundis Avibus (II), De Serpentibus (III), De Insectis Animalibus (IV), De Aquaticis Animalibus (V), De dubiis vel fabulosis Animalibus (VI). Schon die Einteilung der Vögel in reine und unreine zeigt die Rolle, die die Bibel in diesem System spielt. „Leider“, bemängelt Ludwig Diestel diesmal, „stehen die zoologischen Kenntnisse des Verf. hinter seiner übrigen Gelehrsamkeit weit zurück; es fehlt das Bewusstsein, dass diese Studien nur in Autopsie der Wirklichkeit ihre rechte Grundlage finden: die Anschauung würde sonst eine Menge von blossen Ansichten leicht abrogirt haben.“58 Aber Bochart ist kein Zoologe des 19., sondern ein orthodoxer Theologe des 17. Jahrhunderts, er studiert nicht die Natur, sondern literarische Dokumente der Vergangenheit, seine Methode ist nicht die Beobachtung, sondern die Philologie, insbesondere die Etymologie, wie ihn denn auch Richard Simon sehr pointiert „un pur Grammairien, un grand faiseur d’étymologies“ nennt“59. Dem Hierozoicon fehlen „Natur- und Sachkenntnisse“ natürlich nicht, im Gegenteil, aber es sind ganz überwiegend die „des Alterthums“, nicht der Gegenwart. Die „Fülle klassischer und morgenländischer Gelehrsamkeit“, die Gesenius dem Hierozoicon nachrühmt60, übertrifft noch die der Geographia sacra, besonders was die morgenländische Seite angeht und hier das Arabische. Die zahlreichen und oft sehr lesenswerten arabischen Zitate machte Bochart dem allgemeinen Publikum dadurch zugänglich, dass er ihnen lateinische Übersetzungen beifügte, ebenso wie er auch sonst mit nichtlateinischen Einsprengseln verfuhr. Außerdem konnte er, nachdem er noch in der Geographia sacra die arabischen Buchstaben durch lateinische ersetzen musste, nunmehr die arabischen, syrischen, samaritanischen und äthiopischen Drucktypen der einige Jahre vorher abgeschlossenen Londoner Polyglotte verwenden – die Erstausgabe des Hierozoicon erschien in London und war König Karl II. gewidmet. Durch sieben (!) Register erschlossen und mehrfach separat sowie in den Opera omnia aufgelegt, fand das Werk trotz seines Umfangs zahlreiche Benutzer und Leser, auch wenn immer weniger von ihnen mit Bochart an den ungeheuren Sachverstand Adams bei der Benennung der Tiere61 oder die (übrigens auch bei Bochart nicht ganz problemlose) Redegabe von Bileams Eselin62 geglaubt haben dürften. Noch heute ist es eine unerschöpfliche Fundgrube für das, was man sich in alten Zeiten und verschiedenen Sprachen über die Tiere erzählte, vom Kamel über den Raben bis zur Heuschrecke; die schönste der leider raren Abbil58  Geschichte (Anm. 36) 471. 59  Réponse au Livre intitulé Défense des sentimens de quelques Theologiens de Hollande sur l’Histoire Critique du Vieux Testament (1686) 72. 60  Geschichte 119. 61  Opera omnia II, 53–72. 62  Ebd. 191–98.

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dungen liefert ein Rudel Einhörner63. 1745/47 trat dem Hierozoicon das schlankere Hierobotanicon des Schweden Olaus Celsius zur Seite, und noch 1793–96 besorgte E.F.K. Rosenmüller eine handliche Neuausgabe in drei Bänden. Offenbar entsprach er damit einem Bedürfnis, denn der „bedeutendste Lexikograph für NT und Septuaginta“64, Johann Friedrich Schleusner, wünschte gleich auch noch eine entsprechende Neuausgabe der Geographia sacra, und zwar „dringend“65. Der bedeutendste Lexikograph für das Alte Testament griff diese Anregung zwar nicht auf, doch er machte 1815, als immerhin schon das „kritische“ Zeitalter seiner Wissenschaft angebrochen war, dem großen Franzosen das seltene Kompliment: „selbst, wenn er irrt, gewährt er oft reiche Belehrung“66. Das Hierozoicon-Jahr 1663 erbrachte auch noch ein Opusculum, das neben dem Morley-Brief das bekannteste wurde. Wieder war es ein Brief, gerichtet an einen Vergil-Übersetzer namens Jean Regnault de Segrais, und er handelt von der Frage, ob Aeneas jemals in Italien war67. Bocharts Antwort: nein. Sein Kronzeuge gegen Vergil, der zwar der „absolutissimus Poëtarum omnium“ war68, aber eben „Poëta, non Historicus“69, ist Homer, die „origo vera omnis veteris Mythologiae“70: in der Ilias (20,307f.) kündigt Poseidon/Neptun dem Aeneas die Herrschaft über die Trojaner, nicht über die Römer an. Bochart verwirft den Versuch, Homer und Vergil dadurch zu harmonisieren, dass Aeneas nach Troja zurückgekehrt sei71. Sein eigener Haupteinwand, den er in einem erstaunlich kundigen Vergleich des – auf phönikischer Seite ja erst spärlich vorhandenen – Vokabulars durchführt, besteht darin, dass die lateinische Sprache zwar mancherlei fremde Elemente enthält, aber keine, die aus dem Phrygischen kommen; daher ist es nicht wahrscheinlich, „quod Latini orti sint à Phrygiis, quoniam nulla unquam reperta est colonia, quae non reliquerit, si non integram linguam, partes saltem quasdam & vocabula quaedam ejus, eo in loco, quem incoluit“72. Man sieht, dass Bochart sich weiter in der Welt der „Geographia sacra“ bewegt hat, kann sich allerdings schwer vorstellen, dass er mit biblischen, 63  Ebd. 955f. 64 RGG 2V, 193 (Arnold Meyer). 65  GAGS 1794, 623. 66  W. Gesenius, Geschichte 119. – Dem sei hinzugefügt, was genau ein halbes Jahrhundert später Ernest Renan schrieb: „Plusieurs mauvaises étymologies et quelques naïvetés ne doivent pas faire oublier que Bochart posait vers 1650 les bases de la science comparative des antiquités sémitiques.“ (Revue des deux mondes 60, 1865, 239). 67  De quaestione, num Aeneas unquam fuerit in Italia (Opera omnia I, 1062–89, aus dem Französischen). – Vgl. dazu Shalev 183 und A. Momigliano, Ausgewählte Schriften II (1999) 212f. 68  Ebd. 1089. 69  Ebd. 1077. 70  Ebd. 1063. 71  Ebd. 1064. 72  Ebd. 1077. – Auf der Landkarte vor Opera omnia I, 361 liegt die Troas mit Ilium und Ida M(ons) in Phrygia minor.

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gar „heilsgeschichtlich“ bedeutsamen Stoffen ähnlich kritisch hätte umgehen können wie hier mit einem zentralen Stück des römischen Gründungsmythos. Der äußere Höhepunkt von Bocharts Leben fällt in die Zeit zwischen den beiden Opera magna. 1652 lud Königin Christina (1626–89, Königin 1632/44– 54), die Tochter und Nachfolgerin Gustav Adolfs und demnächstige Konvertitin, den damals schon berühmten Autor der „Geographia sacra“ an ihren Hof in Stockholm, wie sie es mehrfach mit namhaften Gelehrten hielt; dem Größten von ihnen, René Descartes, war es schlecht bekommen: er starb Anfang 1650 in Stockholm an einer Lungenentzündung. Nicht so Bochart; seine Reise glückte aufs beste und kam seiner weiteren Arbeit zustatten. Als Initiator der königlichen Einladung galt der niederländische Universalgelehrte Isaac Voss (1618–1689), der sich damals am schwedischen Hof aufhielt und mit dem später Richard Simon die Klingen kreuzen sollte73. Bochart hatte einen Begleiter in dem jungen Katholiken Pierre Daniel Huet (1630–1721), nachmaligem Lehrer des Dauphin und Bischof von Soisson und Avranches. Auf der Hinreise wurden sie in Leiden von dem berühmten Philologen Claude Saumais (Salmasius, 1588–1653) begrüßt, der mit aller Welt und so auch längst mit Bochart in wissenschaftlicher Korrespondenz stand74 und der kurz vorher in Stockholm zu Gast gewesen war. Die Reise – Voss hat sie in Versen beschrieben – ging durch die „sterilia Vestphaliae arva“ über Bremen, Hamburg, Schleswig und Kopenhagen nach Stockholm, wo der Gast „humanissime“ empfangen und am Hof mit Ehren überhäuft wurde (multis honoribus in aula est cumulatus). Bochart widerstand aber allen weitergehenden Verlockungen und gab sich ganz der königlichen Bibliothek hin (se totum dabat Bibliothecae Regiae), um dort die kostbaren Handschriften, vor allem die arabischen, zu studieren, die dann dem Hierozoicon zugutekamen, während Huet Entdeckungen zu Origenes machte75. Später erzählte man sich, Bochart habe außerdem z.B. vor der Königin Flöte und mit ihr Federball gespielt, aber Bayle versichert, da handle es sich um „tausend [!] thörichte Mährchen“76. Bei ihrer Heimkehr fanden sich Bochart und Huet 1653 als Mitglieder einer 1652 gegründeten Akademie der Wissenschaften von Caen vor. Sie scheint für Bochart fortan eine zweite geistige Heimat neben der reformierten Kirche gewesen zu sein. Er starb in einer ihrer Sitzungen am 16. Mai 1667, nachdem er mit Wohlgefallen einen philosophischen Vortrag des einzigen Sohnes seiner einzigen Tochter angehört hatte77. Sicherlich konnte Pierre Bayle bei den Kundigen auf breite Zustimmung rechnen, wenn er schrieb, Bochart sei „einer der gelehrtesten Männer in der 73  S.u. 88f. 74  Zur wechselvollen Beziehung Saumaise–Bochart vgl. Shalev 156.158.16666.191–93. 75  Das Vorstehende nach Morin 6. 76  Bayle–Gottsched (Anm. 15) 595f. (D). 77  Vgl. Morin 35f.

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Welt gewesen“78. Trotzdem war das Urteil von Anfang an zwiespältig, viel Lob wurde immer von oft nicht weniger Tadel begleitet, man kann die Rezeptionsgeschichte des großen Werks79 beinahe gleichmäßig auf diese beiden Seiten verteilen80. Bochart selbst sind Selbstkritik und Revisionsbereitschaft nicht fremd gewesen, und er hat in der langen Praefatio zum „Phaleg“ – die zum Hierozoicon ist noch länger – die schönen Sätze versteckt: „Non omnia possumus omnes. Nihil ignorare solius est Dei.“81 Das ist doch noch mehr als das Lückenbewusstsein eines Enzyklopädikers! Zum Schluss noch einmal Bayle über Bochart: „Seine Wissenschaft, so weitläufig dieselbe auch gewesen, war nicht seine vornehmste gute Eigenschaft: er besaß eine Bescheidenheit, die unendlich höher zu schätzen war, als alle seine Wissenschaft.“82

78  A.a.O. 598. 79  Souverän dargestellt von Shalev 190–202. 80  Vgl. Ch.L. Schlichter, Apologia, in qua vir illustris Sam. Bochartus ab eruditorum quorundam sinistris criminationibus modeste vindicatur. Sectio prima, quae S. B. a viris doctis mirifice laudatum sistit. Sectio secunda, qua S. B. a viris doctis valde taxatum complectitur. In: Bibliotheca Bremensis nova historico-philologico-theologica 2/1 (1762) 170–95; die dort angekündigte Sectio tertia scheint nicht erschienen zu sein. 81  Opera omnia I, 43. 82  Bayle a.a.O. 599. Vgl. auch Morins Darstellung von Bocharts Charakter a.a.O. 36.

Baruch de Spinoza 1632–1677

„Alle unsere heutigen Alttestamentler, vielleicht oft ohne es zu wissen, sehen sie durch die Brillen die Baruch Spinoza geschliffen hat.“ Dieser Satz stammt von Heinrich Heine1, nur dass er bei ihm nicht von den Alttestamentlern, sondern von den Philosophen handelt. Natürlich ist er in beiden Fällen eine Übertreibung: weder sehen „alle“ Philosophen und „alle“ Alttestamentler durch Spinozas Brillen, noch wissen sie „vielleicht“ oft nicht, dass sie es tun; sie wissen es, wenigstens gilt das für die Alttestamentler, in aller Regel wirklich nicht. Man schmückt Spinoza gern mit dem Titel „Vater der historischen Bibelkritik“– einem fragwürdigen Titel, denn so ein Ding wie die historische Bibelkritik ist nicht auf einmal, sondern in Etappen entstanden und hat also mehrere Väter, von denen jeder unseren Respekt verdient. Will oder soll man aber einen besonders herausheben, dann ist es wohl doch Spinoza – wenn zwei, dann sind es er und Richard Simon, der sechs Jahre jünger war als er und dessen „Histoire critique“ acht Jahre nach Spinozas „Tractatus“ erschien. Man muss sich klarmachen, dass man mit Spinoza einen Außenseiter heraushebt. Er hieß nicht Magister noch Doktor gar, geschweige denn Professor – eine Berufung nach Heidelberg lehnte er ab –, er war ein Autodidakt und Privatgelehrter, der weitgehend von Zuwendungen seiner Freunde und doch ganz unabhängig lebte; eigenen Verdienst hatte er nicht aus Buchhonoraren, sondern, bescheiden genug, vom Schleifen optischer Gläser, das Heine zu seinem Bild verhalf. Ja noch mehr: Spinoza „war weder ein Forscher noch besaß er die ungeheure Kapazität des Wissens von Gelehrten“2. Und nicht zuletzt bestand, was man sich gerade im Blick auf sein Verhältnis zur Bibel nicht verschleiern darf, sein Außenseitertum darin, dass er nach Selbstverständnis und bürgerlicher Stellung weder Jude noch Christ war, mag ihn auch die Welt als einen Juden – und was für einen! – wahrgenommen haben und das heute noch tun3. 1  Die romantische Schule, Zweites Buch III (Düsseldorfer Ausg. VIII/1, 187). 2  K. Jaspers, Die großen Philosophen I (1957) 890. 3  Die Literatur über ihn ist Legion. Im deutschen Sprachbereich bleibt grundlegend J. Freudenthal, Spinoza. Leben und Lehre (1904/27). Gute Durchblicke bietet The Oxford Companion to Spinoza ed. D. Garrett (1995, darin 383–407 R.H. Popkin, Spinoza and Bible scholarship),

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Geboren (am 24. November 1632) und aufgewachsen war er im Amsterdamer Judenviertel, das im Zweiten Weltkrieg grausam entvölkert und danach abgerissen wurde. Ganz in der Nähe wohnte seit 1639 Rembrandt van Rijn (1606– 69), und es wäre verwunderlich, wenn die beiden auf so grundverschiedene Weise genialen Interpreten der Bibel sich nicht hin und wieder auf der Straße begegnet wären; die Feuilletons stellen von Zeit zu Zeit Spekulationen darüber an, ob sie sich vielleicht näher gekannt haben, ja ob Spinoza einmal vor Rembrandts Staffelei gesessen hat und wir das Ergebnis womöglich noch besitzen4. So reizvoll das ist, man hält sich besser an die beglaubigten Porträts; sie zeigen in Übereinstimmung mit zeitgenössischen Zeugnissen, nach denen Spinoza „ein kleiner Mann, mit einem schönen Antlitz, heller Hautfarbe, schwarzem Haar und schwarzen Augen“ gewesen ist5, einen gänzlich unholländischen Menschen. Und in der Tat: hinter dem geläufigen lateinischen Vornamen Benedictus und dem ihm zugrundeliegenden hebräischen Baruch verbirgt sich ein portugiesischer Bento – alle drei bedeuten „gesegnet“. Die Familie (neben de Spinoza auch Espinoza und andere Schreibweisen) gehörte zu den Marranen, zwangsgetauften Juden in Spanien und Portugal, die unter der christlichen Decke in einer Art Doppelleben ihr Judentum beibehielten, nach Möglichkeit aber emigrierten, um es offen wieder anzunehmen; durch marranische Emigranten wurde Amsterdam zu einem Hauptzentrum des damaligen Judentums. Es liegt nahe, in den wirklichen oder scheinbaren Ambivalenzen der geistigen Existenz Bento-Baruch-Benedict Spinozas das marranische Erbe nachwirken zu sehen, wie es am kühnsten der Jerusalemer Philosoph Yirmiyahu Yovel 1989 in einem zweibändigen Spinoza-Werk getan hat, dessen erster Band überschrieben ist „The Marrano of Reason“ – „Der Marrane der Vernunft“6; dass damit nicht der ganze Spinoza erklärt sein kann, versteht sich von selbst. einen zuverlässigen Leitfaden für das hiesige Thema immer noch G. Bohrmann, Spinozas Stellung zur Religion. Eine Untersuchung auf der Grundlage des theologisch-politischen Traktats (1914; vgl. E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie I, 1949, 257), eine ausführliche Erörterung der im Traktat verhandelten Probleme jetzt der von O. Höffe herausgegebene Sammelband „Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat“ (Klassiker auslegen 54, 2014). Die maßgebliche Edition ist die Heidelberger Akademieausgabe, hg.v. C. Gebhardt (1925, 21972), nützlich die lateinisch-deutsche Studienausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (darin I, 1979, der Tractatus theologico-politicus, hg.v. G. Gawlick und F. Niewöhner). Alle Quellen sind in deutscher Übersetzung am leichtesten zugänglich in den von C. Gebhardt begründeten „Sämtlichen Werken“ in Meiners Philosophischer Bibliothek; dort Bd. 3 der Theologisch-politische Traktat, hg.v. G. Gawlick (1984), Bd. 6 der Briefwechsel (1986) sowie Bd. 7 Lebensbeschreibungen und Dokumente (1998), beide hg.v. M. Walther (der Einfachheit halber danach im Folgenden zitiert als „Traktat“, „Briefwechsel“ und „Dokumente“). – Leider ist mir N.K. Levene, Spinoza’s Revelation. Religion, Democracy and Reason (2004; darin 77–135: Spinoza’s Bible) nicht rechtzeitig zu Gesicht gekommen. 4  So P. de Mendelssohn, Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.2.1977 (Nr. 48). Kurz davor schrieb H.L. Goldschmidt in der Neuen Zürcher Zeitung (19./20.2.1977, Nr. 42). 5  Dokumente 235, ähnlich 236. 6  Obertitel „Spinoza and Other Heretics“, deutsche Ausgabe unter dem Gesamttitel „Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz“ (1994).

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Bento/Baruch verlor seine Mutter Hanna Debora, als er noch nicht ganz sechs, seinen Vater Michael, Kaufmann und aktives Mitglied der Gemeinde, als er einundzwanzig Jahre alt war. An der Fortführung des väterlichen Geschäfts, zusammen mit seinem Bruder Gabriel, konnte er sich nicht lange beteiligen, sein Weg musste eine andere Richtung nehmen. Die Voraussetzungen dafür hatte nach dem siebenjährigen Besuch der Gemeindeschule mit dem Namen ‫( עץ חיים‬Baum des Lebens) der der Talmudschule (‫ )ישיבה‬geschaffen, die ‫( כתר תורה‬Krone des Gesetzes) hieß und von ihrem Gründer, dem orthodoxen und gelehrten Rabbi Saul Levi Morteira (ca. 1596–1660), geleitet wurde. Spinoza scheint mehr dessen Schüler als der des geistig bedeutenderen, liberaleren Manasse ben Israel (1604–57), eines Marranen, gewesen zu sein; vielleicht hat gerade das an seiner oppositionellen Haltung mitgewirkt. Von seinen frühen Studien berichtet die älteste Biographie: „Er war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als er Schwierigkeiten aufwies, die die größten Gelehrten unter den Juden Mühe hatten zu lösen, und obwohl eine so große Jugend noch kaum das Alter der Unterscheidungsgabe ist, besaß er trotzdem genug davon, um zu bemerken, daß seine Zweifel seinen Lehrer in Verlegenheit brachten. Aus Furcht, ihn zu reizen, stellte er [der Lehrer] sich, als sei er von seinen Antworten vollkommen befriedigt, und er begnügte sich, sie aufzuschreiben, um sich ihrer zu ihrer Zeit und an ihrem Orte zu bedienen. Da er [nun wieder Spinoza] nur die Bibel las, kam er bald so weit, daß er keines Auslegers mehr bedurfte. Er machte so richtige Bemerkungen, daß die Rabbiner ihm nur nach Art von Ignoranten erwiderten, die, wenn sie ihre Vernunft am Ende sehen, ihren Bedrängern vorwerfen, daß ihre Meinung wenig mehr mit der Religion in Einstimmung sei. Ein so närrisches Verfahren machte ihm klar, daß es unnütz wäre, sich über die Wahrheit belehren zu lassen […]. Er entschloß sich also, nur bei sich selber Rat zu suchen, aber keine Mühe zu sparen, um die Wahrheit zu entdecken. Es gehörte ein großer Geist und eine außergewöhnliche Stärke dazu, um als noch nicht Zwanzigjähriger einen Entschluß von dieser Bedeutung zu fassen. In der Tat bewies er bald, daß er nichts unbesonnen in Angriff genommen hatte. Denn indem er nun von neuem begann, die Schrift zu lesen, durchdrang er ihr Dunkel, enthüllte ihre Geheimnisse und schuf sich Licht durch die Wolken, hinter denen, wie man ihm gesagt hatte, die Wahrheit verborgen sei. Nach der Prüfung der Bibel las er und las er wieder den Talmud, mit derselben Genauigkeit. Und da es niemanden gab, der ihm in der Kenntnis des Hebräischen gleichkam, so fand er keine Schwierigkeit darin, allerdings auch nichts, was ihn befriedigt hätte. Aber er war so einsichtsvoll, daß er erst seine Gedanken reifen lassen wollte, bevor er sie guthieß.“7 Der hier angelegte Konflikt verschärfte sich im Lauf der Zeit und fand sein dramatisches Ende, indem Spinoza am 27. Juli 1656 vor versammelter Gemeinde aus der Synagoge ausgestoßen wurde. Denkwürdiger Zufall: am Vortag hatte 7  Dokumente 22f. (J.-M. Lucas).

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nicht weit entfernt das Amsterdamer Konkursgericht die Inventarisierung von Rembrandts Besitz abgeschlossen. Der Spruch über Spinoza, noch heute im Gemeindearchiv der Stadt Amsterdam aufbewahrt, lautet folgendermaßen: „Die Herren des Vorstandes tun Euch kund, daß sie schon längst von den schlechten Meinungen und Handlungen Baruchs de Espinoza Kenntnis hatten und durch verschiedene Mittel und Versprechungen bemüht waren, ihn von seinen bösen Wegen abzulenken. Da sie aber keine Besserung erzielten, im Gegenteil von den schrecklichen Ketzereien, die er übte und lehrte, und von den ungeheuerlichen Handlungen, die er beging, täglich mehr Nachricht erhielten, und da sie hierfür viele glaubwürdige Zeugen hatten, die in Gegenwart des genannten Espinoza aussagten, Zeugnis ablegten und ihn überführten, und nachdem dies alles in Gegenwart der Herren Rabbiner geprüft worden war, beschlossen sie mit deren Zustimmung, daß der genannte Espinoza verbannt und ausgeschieden werde aus dem Volke Israel, wie sie ihn jetzt mit dem folgenden Banne in den Bann legen: ‚Nach dem Beschlusse der Engel und dem Urteile der Heiligen bannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir Baruch de Espinoza, mit der Zustimmung des heiligen Gottes und dieser ganzen heiligen Gemeinde, vor den heiligen Büchern des Gesetzes mit den 613 Vorschriften, die in ihnen verzeichnet sind, mit dem Banne, mit dem Josua Jericho bannte, mit dem Fluche, mit dem Elisa die Knaben verfluchte, und mit allen den Verwünschungen, die im Gesetze geschrieben sind. Verflucht sei er am Tage und verflucht sei er bei Nacht, verflucht sei er, wenn er sich niederlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht; verflucht sei er, wenn er ausgeht, und verflucht sei er, wenn er zurückkehrt. Gott möge ihm nie verzeihen! Sein Zorn und sein Eifer wird gegen diesen Menschen entbrennen und über ihn alle die Flüche bringen, welche im Buche des Gesetzes geschrieben sind. Und Gott wird seinen Namen unter dem Himmel vernichten, und Gott wird ihn zum Bösen ausscheiden von allen Stämmen Israels mit allen Flüchen des Himmels, die im Buche des Gesetzes geschrieben sind. […]‘ Wir verordnen, daß niemand mit ihm mündlich oder schriftlich verkehre, niemand ihm irgend eine Gunst erweise, niemand unter einem Dache oder innerhalb vier Ellen bei ihm verweile, niemand eine von ihm verfaßte oder geschrieben Schrift lese.“8

Der grausame Text – ihm haben sich später die offiziell-christlichen Reaktionen auf den „Theologisch-politischen Traktat“ mutatis mutandis kongenial angereiht9 – zeigt, welches Risiko es einmal bedeuten konnte, wenn man Bibelkritik übt. Denn in ihr, mag sie damals auch noch nicht voll ausgereift und ausformuliert gewesen sein, hat man nicht nur den Kern der „Ketzereien“, sondern unmittelbar und mittelbar auch die Grundlage und Rechtfertigung der „Handlungen“ zu sehen, die hier verurteilt werden. Spinoza hielt sich nicht mehr an das alttestamentliche Gesetz, weil es für ihn kraft seiner Kritik nicht mehr, zumindest nicht mehr vollständig (in seinen 613 Vorschriften) verbindlich war – so wird man im Vorgriff auf Späteres sagen dürfen. Eine damalige Äußerung Spinozas besitzen wir nicht; es ist halbwegs glaubhaft bezeugt, dass er seiner 8  Ebd. 230f., vgl. Freudenthal (Anm. 3) I, 72. 9  Vgl. Dokumente 254–58.

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Verurteilung mit einer spanisch abgefassten Apologie begegnet ist10, aber er hat sie nicht veröffentlicht, es sei denn später innerhalb der bibelkritischen Partien des „Theologisch-politischen Traktats“, der uns bald beschäftigen wird. Spinozas Geschick war immer noch glimpflicher als am gleichen Ort anderthalb Jahrzehnte früher das des Uriel da Costa (1585–1640), der, marranischer Herkunft wie er, aufgrund einer ähnlich kritischen Haltung zur jüdischen Tradition in jahrelangem zeitlichem Abstand zweimal mit dem Bann belegt und in einem peinlichen Bußzeremoniell wieder aufgenommen worden war: öffentlicher Widerruf, 39 Geißelhiebe, Prostration auf der Schwelle der Synagoge, wobei alle Gemeindeglieder, unter ihnen möglicherweise der achtjährige Spinoza, über ihn hinwegschritten; kurz darauf hatte da Costa sich erschossen. Nicht so Spinoza. Er soll auf die Ankündigung des Banns mit den Worten reagiert haben: „da man es so will, betrete ich mit Freuden den Weg, der mir geöffnet ist, mit dem Troste, daß mein Auszug unschuldiger sein wird als der der ersten Hebräer aus Ägypten“11. Die Biographen pflegen danach von „verborgenen“ oder „dunklen Jahren“ zu reden, aber wir wissen aus ihnen erheblich mehr als aus der ebenso genannten Übergangszeit des Apostels Paulus. Vor allem: Spinoza war nicht allein, weder jetzt noch später, sondern verkehrte regelmäßig mit einer ganzen Reihe von Nichtjuden ähnlicher Gesinnung, so mit dem ehemaligen Jesuiten Franciscus van den Enden (1602–74), in dessen Schule er nicht nur Latein lernte, sondern auch manches von antik-humanistischer Tradition und aufklärerischem Denken (Descartes!) erfuhr, und mit den „Kollegianten“, einer den Mennoniten nahestehenden Glaubensgemeinschaft, die in Rijnsburg bei Leiden ihr Zentrum hatte. Nach Rijnsburg zog Spinoza 1660, von dort wechselte er 1663 nach Voorburg bei Den Haag und 1669 nach Den Haag, wo er am 21. Februar 1677, seit langem durch Lungentuberkulose geschwächt, im Alter von 44 Jahren starb. Zwei Jahre vorher hatte er seine Ethik abgeschlossen, die „Ethica ordine geometrico demonstrata“. Sie enthält sein philosophisches System, dessen Grundlinien ihm offenbar seit dem Abschied aus Amsterdam festgestanden hatten und das dann, ganz kompliziert und ganz einfach wie es ist, von Lessing bis Jaspers viele Geister beglückt hat, die, in der Pascalschen Alternative gesprochen, mit dem Gott der Philosophen mehr anzufangen wussten als mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Ich deute seinen Ort in der Geistesgeschichte an, indem ich drei moderne Bücher, die sich mit ihm beschäftigen, wenigstens mit ihren Titeln nenne. „Radikale Aufklärung“ (Radical Enlightenment) heißt, 2001 erschienen, einer der Wälzer, in denen der amerikanische Historiker Jonathan G. Israel jene Zeit und Welt unter Aufbietung einer Unmenge souverän bewältigten Materials dargestellt hat. Im Mittelpunkt steht dabei Spinoza. Gegen die herr10  Vgl. Dokumente 47.62.234. 11  Ebd. 28.

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schende Meinung verficht Israel die These, dass „no one else during the century 1650–1750 remotely rivalled Spinoza’s notoriety as the chief challenger of the fundamentals of revealed religion, received ideas, tradition, morality, and what was everywhere regarded, in absolutist and non-absolutist states alike, as divinely constituted political authority“12. Auch im Folgeband, „Bekämpfte Aufklärung“ (Enlightenment Contested, 2006), ist Spinoza, nunmehr als Gegenpart, noch die Hauptfigur im Hintergrund und oft auch im Vordergrund. Der zweite Titel ist der des zweiten Bandes von Yirmiyahu Yovels schon erwähntem Spinoza-Werk. Er lautet „Die Abenteuer der Immanenz“ (The Adventures of Immanence). Davon ausgehend, dass für Spinoza „die irdische Existenz alles ist, was es gibt, daß sie die einzige Quelle ethischer Werte und politischer Autorität ist und daß, dies anzuerkennen, eine Vorbedingung für die menschliche Emanzipation ist“13, bespricht Yovel anhand des Begriffs „Philosophie der Immanenz“, den er für treffender hält als „Pantheismus“ oder „Naturalismus“, die Nachwirkung Spinozas bei Kant, Hegel, Heine, Hess, Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud. Den dritten Titel trägt die 2008 erschienene Neuausgabe einer Frankfurter Dissertation aus dem Jahr 1968: „Spinozas Metaphysik als Antitheologie oder Selbstbehauptung aus Vernunft“. In subtiler und kritischer Erörterung des Gedankengangs der „Ethik“ bestimmt ihr Verfasser, der Spinozaspezialist Manfred Walther, als Spinozas Absicht und geschichtlichen Beruf die „Überwindung des epochalen nachmittelalterlichen Zerfalls religiöser Heilsgewißheit aus der Kraft autonomer Vernunft“14. Radikale Aufklärung, Abenteuer der Immanenz, Metaphysik als Antitheologie: es ist nicht zu erwarten, dass Spinozas Bibelkritik im Widerspruch zu dem steht, was diese drei Formeln in verschiedener Nuancierung besagen. Vielmehr können wir neben der „Metaphysik als Antitheologie“ und im Zusammenhang mit ihr von vornherein auf so etwas wie eine „Bibelkritik als Antitheologie“ gefasst sein. Es wurde schon angedeutet, dass Spinozas Bibelkritik in seinem „Tractatus theologico-politicus“ vorliegt, der gemäß seinem Untertitel „einige Abhandlungen“ enthält, „in denen gezeigt wird, daß die Freiheit zu philosophieren nicht nur unbeschadet der Frömmigkeit und des Friedens im Staat zugestanden werden kann, sondern daß sie nur zugleich mit dem Frieden im Staat und mit der Frömmigkeit selbst aufgehoben werden kann“15. Das handliche Buch, 233 Seiten im lateinischen Text, erschien 1670 anonym und mit dem fingierten Verlagsort Hamburg; in Wahrheit war es Amsterdam. Zugunsten des „Traktats“ hatte Spinoza die Arbeit an seinem Hauptgeschäft, der Ethik, für mehrere Jahre unterbrochen. Von 1665 stammt die briefliche Äußerung: „Ich verfasse 12  Ebd. 159. 13  Deutsche Ausgabe (Anm. 6) 259. 14  So K. Hecker, Spinozas allgemeine Ontologie (1978) 84. 15  Traktat 1.

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eben eine Abhandlung über meine Auffassung von der Schrift. Dazu bestimmen mich: 1. die Vorurteile der Theologen; diese Vorurteile hindern ja, wie ich weiß, am meisten die Menschen, ihren Geist der Philosophie zuzuwenden; darum widme ich mich der Aufgabe, sie aufzudecken und sie aus dem Sinne der Klügeren zu entfernen; 2. die Meinung, die das Volk von mir hat, das mich unaufhörlich des Atheismus beschuldigt: ich sehe mich gezwungen, diese Meinung womöglich von mir abzuwehren; 3. die Freiheit, zu philosophieren und zu sagen, was man denkt; diese Freiheit möchte ich auf alle Weise verteidigen, da sie hier bei dem allzugroßen Ansehen und der Frechheit der Prediger auf alle mögliche Weise unterdrückt wird.“16 Mit dem zweiten dieser drei Punkte verweist Spinoza auf seine eigene Situation, mit dem ersten und dritten auf die theologisch-kirchlich-politische Konstellation in den Niederlanden. Die „Theologen“ und die „frechen Prediger“ sind die Vertreter der calvinistischen Orthodoxie, die sich 1618/19 in der Synode von Dordrecht definiert hatte. Sie standen auf Seiten der oranisch-monarchischen „Statthalterpartei“, die in jenen Jahren gegenüber der republikanisch-liberalen „Regentenpartei“ unter der Führerschaft des „Ratspensionärs“ Johan de Witt politisch vorübergehend im Hintertreffen war, aber gleichwohl eine starke Macht darstellte und schon bald, 1672, auf Dauer die Herrschaft gewann. De Witt wurde in diesem Jahr ermordet; Gottfried Wilhelm Leibniz hat sich einige Jahre später von Spinoza erzählen lassen, er sei von seinem Hauswirt nur mit Mühe davon abgebracht worden, sogleich am Ort des Mordes ein Papier anzuheften, auf dem stand: „Ultimi barbarorum!“17 Zweifellos hat Spinoza zu denen gehört, die der Regentenpartei nicht ohne erhebliches Risiko – warum sonst die Anonymität und der fingierte Verlagsort? – geistigen Rückhalt gaben18. Aber der „Theologisch-politische Traktat“ ist weit mehr als die „politische Tendenzschrift“, die man ihn genannt hat19. Eine leichte Lektüre ist er nicht, schon weil Spinoza sich oft zu widersprechen scheint und wohl auch wirklich widerspricht. Der deutsch-jüdisch-amerikanische Philosoph Leo Strauss entsprach einem Bedürfnis, als er 1952 eine 60seitige „Anleitung zum Studium von Spinozas Theologisch-politischem Traktat“20 herausbrachte – nur dass man bei deren Lektüre manchmal versucht ist, sich noch eine Anleitung zum Studium von Straussens Anleitung zu wünschen21. Strauss 16  Briefwechsel 141f. 17  Dokumente 247. 18  Vgl. J. Israel, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall 1477–1806 (1995) 785– 90.916–27 und passim. 19  C. Gebhardt in seiner Ausgabe des „Traktats“ (31908) XVI. Kritisch dazu Dokumente 246f. (M. Walther); der dort zitierte Satz Gebhardts bezieht sich allerdings nicht auf den „Tractatus theologico-politicus“, sondern auf den (unvollendeten) „Tractatus politicus“. 20  How to Study Spinoza’s Theological-Political Treatise, in: Persecution and the Art of Writing (1952) 142–201. Deutsch in: Texte zur Geschichte des Spinozismus, hg.v. N. Altwicker (1971) 300–61. 21  Sehr hilfreich: Heinrich Meier, Die Denkbewegung von Leo Strauss (1996).

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erörtert auf scharfsinnige, aber vielleicht unvermeidlich ebenfalls komplizierte Weise die komplizierte Frontstellung, in der Spinozas Buch nicht nur in politischer Hinsicht geschrieben ist. Nach Lage der Dinge sind die erhofften Leser nicht Juden, sondern Christen, aber nicht die einfachen – die lesen nur die Bibel selbst, keine philosophischen Bücher –, sondern die „potentiellen Philosophen“ unter ihnen22, genauer gesagt solche, „die freier philosophieren würden, stünde ihnen nicht die Meinung im Wege, die Vernunft müsse die Magd der Theologie sein“23. Aber auch sie dürfen nicht überfordert werden. Spinoza erinnert gern an den Apostel Paulus, der „Grieche war mit den Griechen und Jude mit den Juden“24, und dementsprechend gebärdet er sich als „Christ mit den Christen“25 und pflegt darüber hinaus auf weite Strecken, aber nicht immer leicht erkennbar, die Rede „ad captum vulgi“, nach der Fassungskraft des Volkes26, und setzt sie in großem Umfang ebenso bei den biblischen Autoren voraus: sie haben sich sowohl esoterisch als auch exoterisch geäußert – sogar bei Mose stellt Spinoza einmal fest, dass er etwas „selbst geglaubt hat oder wenigstens hat glauben wollen“ (doch wohl ohne es zu glauben)27. Daraus ergibt sich, folgt man Strauss, ein großer Teil der Widersprüche, die den aufmerksamen Leser des „Traktats“ irritieren. Es könnte auch Strategie dahinterstecken: „Jene, die sich durch seine [Spinozas] andersgläubige Behauptungen verletzt fühlen, werden durch mehr oder weniger orthodoxe Bekenntnisse beschwichtigt werden.“28 Die Behutsamkeit eines solchen Verfahrens entspricht dem Caute, „vorsichtig“, das auf dem Siegelring des beglaubigtermaßen mutigen Mannes stand und das man neuerdings auch auf seinen Grabstein hinter der Nieuwe Kerk in Den Haag geschrieben hat29. Die Frontstellung, die aus dem angeführten Brief von 1665 hervorgeht, bleibt davon unberührt, und man darf voraussetzen, dass Spinoza sie während des gesamten Untersuchungsgangs fest im Auge behält. Das letzte Kapitel im „theologischen“ Teil des Traktats, das fünfzehnte, wird sie noch einmal in einer sehr grundsätzlichen Gegenüberstellung von Vernunft und Glauben oder auch Philosophie und Theologie erneuern und fundamentieren. Was die Bibel betrifft, so wird Spinoza dort die Summe ziehen: „Ich habe gezeigt, daß die Schrift nichts Philosophisches, sondern allein die Frömmigkeit lehrt und daß ihr ganzer Inhalt der Fassungskraft und den vorgefaßten Meinungen des Volkes angepaßt ist.“30 Spinoza legt Wert auf die Feststellung, dass er gerade darum „die Heilige Schrift oder die Offenbarung hinsichtlich ihrer Nützlichkeit und Notwendigkeit sehr hoch“ schätzt: nur sie lehrt, „daß der 22  Strauss (deutsch) 321. 23  Traktat 12. 24  Ebd. 61.102. 25  Strauss 349f. 26  Vgl. etwa Traktat 47.96.120f.221 und Strauss 336f. 27  Traktat 118, vgl. Strauss 336. 28  Strauss 343. 29  Abbildung bei J.E. Dunkhase, Spinoza der Hebräer (2013) 97. 30  Traktat 221.

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schlichte Gehorsam der Weg zur Seligkeit ist“ – „durch das natürliche Licht“, also die Vernunft, können wir das „nicht begreifen“. Da nun „ausnahmslos alle Menschen gehorchen können und nur sehr wenige (verglichen mit der ganzen Menschheit) durch die bloße Leitung der Vernunft eine tugendhafte Lebensführung erreichen, so müßten wir an dem Heil fast aller Menschen zweifeln, wenn wir das Zeugnis der Schrift nicht hätten“31. Für die „sehr wenigen“ – natürlich gehört er selbst zu ihnen – ist Spinozas Philosophie bestimmt, in ihrem Sinn und also zugunsten der „Freiheit, zu philosophieren“ relativiert er durch seine Kritik „das Zeugnis der Schrift“, dessen sie im Unterschied zu „fast allen“ nicht bedürfen. Wird also diesem Zeugnis „oder der Offenbarung“ die „Nützlichkeit und Notwendigkeit“ nicht abgesprochen, so doch die Wahrheit in einem den Philosophen akzeptablen Sinn. Die Philosophen, anders als die Theologen, werden kein „Geschrei erheben“, wenn Spinoza ausführlich nachweist, dass „die Bibel, so wie sie ist“, kein „Brief“ ist, „den Gott den Menschen vom Himmel gesandt hat“, dass das Wort Gottes „fehlerhaft, verstümmelt, verfälscht und widerspruchsvoll“ ist, dass wir „nur Fragmente davon besitzen und daß die Urschrift des Bundes, den Gott mit den Juden geschlossen hat, verlorengegangen ist“32. Betrachtet man die Gliederung des „Traktats“, dann stellt man mit Überraschung fest, dass die methodologisch-„einleitungsmäßige“ Partie, die ihn im Besonderen zu einem oder sogar dem Gründungsdokument der historischen Bibelkritik gemacht hat, nicht am Anfang steht. Spinoza geht vielmehr gleich medias in res und handelt in Kapitel I–VI – ich gebe die Überschriften – „Von der Prophetie“ (I), „Von den Propheten“ (II), „Von der Berufung der Hebräer und ob die Prophetengabe ihnen allein eigen gewesen“ (III), „Vom göttlichen Gesetz“ (IV), „Von dem Grunde, weshalb die Zeremonien eingesetzt worden, und vom Glauben an die Geschichten, aus welchem Grunde und für wen er nötig ist“ (V) und schließlich „Von den Wundern“ (VI), also von zentralen Gegenständen des Alten Testaments, man kann auch sagen: der alttestamentlichen Theologie. Die hier geübte Kritik, die eine Offenbarungs-, ja Religionskritik überhaupt impliziert, geht der Bibelkritik im engeren Sinn voran, ja sie ist deren Voraussetzung und Grundlage: so die vielleicht etwas übersteigerte, aber schwerlich abwegige These einer älteren Schrift wiederum von Leo Strauss, erschienen 1930 unter dem Titel „Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft“, neu herausgegeben 1996 im ersten Band seiner Gesammelten Schriften33. Stößt man durch die Vernebelungen der exoterischen, da und dort auch ironischen Rede hindurch, dann entdeckt man schnell den roten Faden, der sich durch die ersten sechs „Traktat“-Kapitel zieht: alle genannten Gegenstände der alttestamentlichen Theologie werden von der Vernunft, aber auch von der hei31  Ebd. 231. 32  Traktat 195. 33  Hg.v. Heinrich Meier, S. 1–330, s. dort 321f.

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ligen Schrift selber in mehr oder weniger enge Schranken gewiesen. Die Propheten, die Träger der angeblichen Offenbarung also34, hatten keinen vollkommeneren Geist, sondern ein lebhafteres Vorstellungsvermögen als die Anderen35. Ihre Gewissheit war „lediglich eine moralische“36. Sie waren und sprachen sehr verschieden, und das zeigt, „daß Gott sich keines besonderen Stils der Rede bedient, sondern daß er lediglich entsprechend der Bildung und der Fähigkeit des Propheten geschmackvoll, bündig, streng, ungebildet, weitschweifig oder dunkel spricht“37. Die Prophetengabe ist „nicht den Juden allein eigen gewesen […], sondern allen Völkern gemeinsam“38. Die Erwählung und Berufung der Hebräer bestand „bloß in dem zeitlichen Glück und den günstigen Verhältnissen ihres Reiches“39, sie ist keine „ewige gewesen“40, heute „haben daher die Juden gar nichts mehr, was sie sich vor allen Völkern zuschreiben könnten“41. Was das Gesetz angeht, so unterscheidet Spinoza ein „Gesetz, das von der Notwendigkeit der Natur abhängt“, und eins, „das vom Belieben der Menschen abhängt“42; mit der zweiten Art haben wir es im Alten Testament zu tun, und so war auch „der Dekalog bloß in bezug auf die Hebräer ein Gesetz“43. Entsprechendes gilt von den Zeremonien, die „nur so lange, wie das Reich bestand, von Nutzen sein“ konnten44. Hier macht Spinoza einen kurzen Ausflug ins Neue Testament45, indem er von den „christlichen Zeremonien“ Taufe, Abendmahl usw. erklärt, sie seien, „falls sie überhaupt von Christus oder von den Aposteln eingesetzt wurden (worüber ich noch nicht völlig sicher bin), nur als äußerliche Zeichen der allgemeinen Kirche eingesetzt wurden, aber nicht als Dinge, die zur Glückseligkeit 34  Der Begriff des Propheten ist weiter gefasst als unter uns gewohnt, vgl. H. Donner, Aufsätze zum Alten Testament (1994) 243. 35  Traktat 22.31 u.ö. 36  Ebd. 34. 37  Ebd. 36. 38  Ebd. 59. 39  Ebd. 53. 40  Ebd. 61. 41  Ebd. 63. 42  Ebd. 65. 43  Ebd. 72. 44  Ebd. 79. 45  Gegenstand seiner Arbeit an der Bibel sind prinzipiell beide Testamente, aber faktisch hat das Alte bei weitem das Übergewicht. Seiner eigenen Erklärung, um das Neue kümmerten sich schon andere und er könne nicht gut Griechisch (Traktat 184 – worauf das kurze Kapitel X über die vorwiegend als Lehrer tätigen Apostel folgt), darf man vielleicht die Überlegung hinzufügen, dass bei aller Gleichrangigkeit der beiden Teile des Kanons Kritik an seinem von Hause aus jüdischen Teil in der christlichen Öffentlichkeit immer noch weniger Anstoß erwarten ließ als Kritik an seinem von vornherein christlichen Teil; das zum Alten Testament Gesagte galt dann ja weitgehend mutatis mutandis auch für das Neue. Überdies enthält das Alte Testament erheblich mehr Material für die dem Titel nach zweite, die „politische“ Absicht des Traktats, also für das, was Spinoza in kritischer Nachbarschaft zu Thomas Hobbes über den Staat, seine Grundlagen, seine Aufgaben und deren Grenzen gedacht und in Kap. XVI–XX ausgeführt hat. Vgl. auch Strauss (Anm. 20) 330–33.

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beitragen oder irgendwelche Heiligkeit in sich bergen“46. Ähnlich gilt von den Geschichten, die die Bibel erzählt, „daß ihre Kenntnis und der Glaube an sie nur für das gewöhnliche Volk höchst notwendig ist, weil sein Geist nicht imstande ist, die Dinge klar und deutlich zu erfassen. [… Wer sie] nicht kennt und trotzdem durch das natürliche Licht das Dasein Gottes und die weiteren […] Lehren kennt und den wahren Lebenswandel hat, der ist völlig glückselig, ja er ist glückseliger als das gewöhnliche Volk, weil er außer den wahren Anschauungen noch den klaren und deutlichen Begriff hat“47. Schließlich die Wunder! Für Spinoza müssen „alle wirklichen Geschehnisse, von denen die Schrift berichtet, sich wie überhaupt alles notwendig nach den Naturgesetzen zugetragen haben. Findet sich irgend etwas, von dem man unumstößlich beweisen kann, daß es den Naturgesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten lässt, so muß man ohne weiteres annehmen, daß es von Frevlerhänden in die Heilige Schrift eingefügt worden ist.“48 Das ist auf seine Weise schon ein literarkritisches Urteil, eine Interpolationshypothese aus inhaltlichen Gründen, vergleichbar dem angeführten Zweifel an der Einsetzung von Taufe und Abendmahl durch Christus und hinüberführend zu den Fragen, die Spinoza nun beschäftigen. Das vielleicht schon durch seine Bezifferung herausgehobene siebente Kapitel, De interpretatione Scripturae, setzt ein mit einer bewegten Klage über die bösen Folgen des theologischen Umgangs mit der Bibel und entwickelt dagegen die „wahre Methode der Schrifterklärung“. Von dieser gilt zuoberst, dass sie sich „in nichts von der Methode der Naturerklärung unterscheidet, sondern völlig mit ihr übereinstimmt“. Dies wird erläutert: „ebenso wie die Methode der Naturerklärung in der Hauptsache darin besteht, eine Naturgeschichte zusammenzustellen, aus der man dann als aus sicheren Daten die Definitionen der Naturdinge ableitet, ebenso ist es zur Schrifterklärung nötig, eine getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien den Sinn der Verfasser der Schrift in richtiger Folgerung abzuleiten“49. Dazu kommt mit gleichem Gewicht die Forderung, dass „die Erkenntnis […] fast von allem, was in der Schrift enthalten ist, aus der Schrift selbst geschöpft werden [muss], gerade so wie die Erkenntnis der Natur allein aus der Natur“ – was auf den ersten Blick an das reformatorische „scriptura ipsius interpres“ erinnert, in Wahrheit aber gegen die von dem großen mittelalterlichen Philosophen Maimonides oder anders von Spinozas Amsterdamer Freund, dem Cartesianer Lodewijk Meyer (1630–81) hauptsächlich mit Hilfe der Allegorie geübte Eintragung philosophischer Wahrheiten in die Bibel gerichtet ist50. Einer übernatürlichen Erleuchtung bedarf es bei der Auslegung 46  Traktat 87. 47  Ebd. 89. 48  Ebd. 106. 49  Ebd. 114f. 50  Ebd. 115f.; vgl. M. Greschat in: Text – Wort – Glaube, hg.v. M. Brecht (1980) 331f.; E. Jüngel, Wertlose Wahrheit (1990) 112f.

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der Schrift nicht; wer auf sie wartet, bemerkt Spinoza spitz, „dem fehlt es offenbar an natürlichem Licht, und ich bin weit entfernt zu glauben, daß diese Leute eine übernatürliche göttliche Gabe besitzen“51. Ebenso ist bei diesem Geschäft eine äußere Autorität wie die der Hohepriester oder der Pharisäer oder der Päpste fehl am Platz, vielmehr steht „die höchste Autorität der Schriftauslegung jedem einzelnen zu“, und demgemäß darf die Methode „auch nicht so schwierig sein, daß nur die scharfsinnigsten Philosophen sie handhaben können, sondern sie muß sich nach der natürlichen, allgemeinen Denkfähigkeit der Menschen richten“52. Die Geschichte der Schrift hat drei Aufgaben: 1. die Untersuchung der hebräischen Sprache, in der das Alte Testament geschrieben ist, die aber auch den Charakter des Neuen Testaments geprägt hat, 2. die Zusammenstellung und Ordnung der Aussprüche (sententiae) eines jeden biblischen Buches, um aus dem Zusammenhang (ex contextu orationis) ihren Sinn zu vermitteln, 3. die Auskunft über die Schicksale (casus) der biblischen Bücher, soweit sie sich noch feststellen lassen, „also über das Leben, die Sitten und die Interessen des Verfassers der einzelnen Bücher, wer er gewesen ist, bei welcher Gelegenheit, zu welcher Zeit, für wen und schließlich in welcher Sprache er geschrieben hat; dann über das Schicksal (die fortuna) jedes einzelnen Buches, nämlich wie man es zuerst erhalten hat und in wessen Hände es gekommen ist, ferner wie viele Lesarten (variae lectiones) es davon gibt und durch wessen Beschluß es unter die heiligen Schriften aufgenommen wurde, und schließlich, auf welche Weise all die Bücher, die wir heute die heiligen nennen, zu einem Ganzen vereinigt worden sind“53. Die dritte dieser Aufgaben hat ein Jahrhundert nach Spinoza die sog. Einleitungswissenschaft übernommen, die in der „allgemeinen Einleitung“ die Geschichte von Text und Kanon – hier legte ein Jahr nach Spinozas Tod Richard Simon durch seine „Histoire critique“ den Grund – und in der „speziellen Einleitung“ die der einzelnen Bücher behandelt. Sie ist, durchaus im Zusammenhang mit den ersten beiden von Spinoza genannten Aufgaben, die unerlässliche Voraussetzung der sog. Biblischen Theologie, die es ebenfalls seit einem Jahrhundert nach Spinoza als besondere Disziplin gibt, und zwar als die wichtigste innerhalb der Bibelwissenschaft, wenigstens soweit diese im Rahmen der theologischen Fakultät betrieben wird. Das entspricht durchaus Spinozas Meinung, sofern er schreibt: „Erst wenn wir diese Geschichte der Schrift besitzen […], erst dann wird es an der Zeit sein, daß wir uns anschicken, den Sinn der Propheten und des Heiligen Geistes zu erforschen.“54 51  Traktat 132. 52  Ebd. 137. 53  Ebd. 116–19. 54  Traktat 119.

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Aber auch in einer schmerzlichen Einschränkung ist uns Spinoza beispielhaft vorangegangen: „Wenn nun unsere Methode […] die einzig wahre ist, so muß man überall, wo sie uns das volle Verständnis der Schrift nicht eröffnen kann, die Hoffnung auf ein solches überhaupt aufgeben.“55 Und er weiß ziemlich viele Schwierigkeiten zu nennen, angefangen bei unserer mangelhaften Kenntnis des alten Hebräisch – hier war er zu einem Urteil berechtigt, denn er hatte selbst eine hebräische Grammatik geschrieben56. Zu den Avantgardisten gehörte er mit der Einsicht, dass in der hebräischen Bibel von Haus aus nur die Konsonanten standen, wogegen die Vokale und Akzente „erst in viel späterer Zeit von Leuten erfunden und eingeführt worden sind, denen wir keinerlei Autorität zugestehen können“57 – eine Einsicht, die noch fünf Jahre nach dem „Traktat“ von den schweizerischen Reformierten in der „Helvetischen Konsensus-Formel“ feierlich verworfen wurde58. Aber auch die zweite und die dritte Aufgabe einer „Geschichte der Schrift“ bieten so viele Schwierigkeiten, dass Spinoza unumwunden gesteht: „bei sehr vielen Stellen kennen wir den Sinn der Schrift entweder gar nicht oder vermuten nur aufs Geratewohl, ohne Gewißheit.“59 Aber dann kann er doch in einer wichtigen Hinsicht wenigstens scheinbar Entwarnung geben: „die Lehren der wahren Frömmigkeit werden mit den gebräuchlichsten Worten ausgedrückt, weil sie ganz allgemeingültig und ebenso einfach und verständlich sind“; darum „ist kein Grund vorhanden, uns um das übrige so sehr zu sorgen“60. Ich kann Spinozas Version dessen, was wir „spezielle Einleitung“ nennen, und damit das Konkreteste und für den heutigen Alttestamentler zunächst Interessanteste im Tractatus theologico-politicus nur in kürzester Zusammenfassung vorführen; vielleicht kommt das Charakteristische aber gerade dadurch deutlicher heraus als in einem ausführlicheren Referat61. Es handelt sich um die Kapitel VIII, IX und X des „Traktats“. Im Pentateuch geht Spinoza die Liste einzelner „Postmosaica“ durch, die schon im 12. Jahrhundert Abraham Ibn Esra aus Toledo aufgestellt hat, ergänzt sie und gelangt weit über Ibn Esra hinaus zu dem Schluss, aus alledem gehe „sonnenklar (luce meridiana clarius) hervor, daß der Pentateuch nicht von Mose geschrieben ist, sondern von einem anderen, der viele Jahrhunderte nach Mose gelebt hat“62. Mosaische Ausnahmen, die die Regel bestätigen, sind das 55  Ebd. 123. 56  Compendium Grammatices Linguae Hebraeae (Akademieausg. I, 283–403, vgl. 623–31). 57  Traktat 126. 58  S.o. 27. 59  Traktat 129. 60  Ebd. 130. 61  Ein solches bietet immer noch vorbildlich unter Einbeziehung der Vorgänger und der Nachfolger (einschließlich der Apologeten) C. Siegfried, Spinoza als Kritiker und Ausleger des Alten Testaments (Schulprogramm Schulpforta 1867, 1–53). Vgl. neuerdings etwa E. Curley in Höffes Sammelband (Anm. 3) 109–25. 62  Traktat 144.

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„Buch der Kriege Gottes“, das „Buch des Bundes“ und das „Buch des Gesetzes Gottes“, alle drei in der Bibel erwähnt (Num 21,14; Ex 24,4.7; Jos 24,26). Der Pentateuch bildet zusammen mit den Büchern Josua, Richter, Samuel und Könige ein einziges großes Geschichtswerk, dessen Verfasser vermutlich Esra gewesen ist. Allerdings ist Esra durch vorzeitigen Tod oder anderes gehindert worden, letzte Hand an diese Bücher zu legen; es finden sich in ihnen zahlreiche Wiederholungen und Widersprüche, etwa chronologischer Art, die darauf schließen lassen, dass das reiche Material aus verschiedenen Autoren zusammengestellt ist, ohne dass eine genauere Abstimmung und Ordnung erfolgte; vermutlich war das Deuteronomium das erste Buch, das Esra schrieb. Die Bücher der Chronik sind lange nach Esra, vielleicht sogar erst nach der Wiederherstellung des Tempels durch Judas Makkabäus, entstanden. Die Psalmen wurden zur Zeit des zweiten Tempels gesammelt und in fünf Bücher geteilt, die Sprüche Salomos entstammen derselben Zeit oder frühestens der des Josia. Die Bücher der Propheten enthalten nur Fragmente, die aus anderen Büchern und nicht in einer von den Propheten beabsichtigten Ordnung zusammengestellt wurden. Beim Buch Hiob greift Spinoza eine Vermutung Ibn Esras auf, nach der es aus einer fremden Sprache ins Hebräische übersetzt ist; in diesem Fall hätten auch die Heiden heilige Bücher gehabt. Das Buch Daniel ist erst ab Kapitel 8 authentisch; die vorangehenden Kapitel, vermutlich aus „chaldäischen“ Jahrbüchern übernommen, sind jedenfalls ein Hinweis darauf, dass Bücher auch dann heilig sein können, wenn sie nicht hebräisch abgefasst sind. Daniel bildet zusammen mit den Büchern Esra, Esther und Nehemia das Werk eines einzigen Geschichtsschreibers, der lange nach Judas Makkabäus schrieb und dafür die offiziellen Annalen des zweiten Tempels benutzte. Daraus ergibt sich, dass der Kanon erst in makkabäischer Zeit entstanden sein kann: er geht auf die Pharisäer zurück, nicht auf Esra, zu dessen Zeit die „große Synagoge“ noch nicht stattgefunden hat. Spinoza kritisiert mehrere Entscheidungen bei der Kanonbildung, so die Aufnahme der Chronik und die Verwerfung von Weisheit und Tobias, und bedauert, „daß so heilige und treffliche Dinge von der Auswahl dieser Leute abhängig waren“63. Das ist ein Rundumschlag, der noch heute, wo wir so manches gewohnt sind, beeindrucken kann. Er kann das umso mehr, wenn man – was hier nicht möglich ist – den ganzen Gedankengang auf sich wirken lässt. Auf den 34 lateinischen Seiten dieser drei Kapitel lässt Spinoza nicht einfach Behauptung auf Behauptung folgen, sondern beobachtet sorgfältig bis in entlegene Einzelheiten hinein64, argumentiert geduldig und ausführlich mit der größtmöglichen Logik, wie er es – „more geometrico“ – auch in einer Geschichte der Natur tun würde65, umgeht die Schwierigkeiten nicht und ist sich bei seinen Resultaten ih63  Ebd. 172. 64  Vgl. etwa ebd. 1711 und dazu Th. Willi, Chronik I (2009) 114. 65  Vgl. Jüngel (Anm. 50) 118 im für die Spinoza-Interpretation wichtigen Zusammenhang ebd. 112–31 und dazu L. Perlitt, ThR 49 (1984) 103f.

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res jeweiligen Wahrscheinlichkeitsgrades bewusst – lauter Selbstverständlichkeiten, die aber in unserer Wissenschaft bis zum heutigen Tage nicht ganz selten aufs sträflichste vernachlässigt werden. Dass, auf die Ergebnisse gesehen, Spinoza der zünftigen Wissenschaft Entscheidendes vorweggenommen hat, ist schon einem anderen Außenseiter bewusst gewesen, nämlich Hegel, der zur „kritischen Behandlung der mosaischen Bücher und dergleichen“ bemerkt: „Was spätere christliche Theologen hierüber Kritisches geschrieben haben, wodurch gewöhnlich gezeigt werden soll, daß diese Bücher erst später redigirt worden und zum Theil jünger sind als die babylonische Gefangenschaft, – ein Haupt-Kapitel für die protestantischen Theologen, womit die neueren sich vor den älteren auszeichnen und viel Prunk getrieben haben, – dieß Alles findet sich schon in dieser Schrift Spinoza’s.“66 Wer da und dort von der hohen Warte heutiger Erkenntnisse über Spinozas Aufstellungen die Nase rümpft, bedenke: der Mann lebte im 17. Jahrhundert, und er hatte, wofür er ja nun doch entschuldigt sein sollte, noch nicht Richard Simon gelesen, nicht Astruc, nicht Michaelis, nicht Semler, nicht Herder, nicht Eichhorn, nicht de Wette, nicht D.F. Strauß, nicht Kuenen, nicht Wellhausen, nicht Gunkel, nicht Noth. Was er gelesen hatte, war die Bibel und waren manche der jüdischen und christlichen Erklärer, die wir heute herablassend als „vorkritisch“ zu bezeichnen pflegen. In seinem 9. Kapitel konnte er immerhin geltend machen, „daß ich hier nichts schreibe, was ich nicht oft und lange bedacht hätte, und obgleich mir von Kindheit an die gewöhnlichen Ansichten über die Schrift eingeflößt worden sind, so habe ich am Ende doch die hier geäußerten annehmen müssen“67. Spinoza konnte seine Nachfolger nicht lesen, aber sie hätten ihn lesen können und hätten davon, nicht nur zur Bestimmung ihrer eigenen Position, manchen Gewinn gehabt. Aber nur wenige haben es getan68. Ein einziger hat die Ehre der Zunft gerettet und der war ein Unzünftiger fast wie Spinoza: Johann Gottfried Herder. Bei ihm lässt sich die Benutzung des „Traktats“ in wichtigen Zusammenhängen nachweisen, in seinem Hauptwerk zum Alten Testament, „Vom Geist der Ebräischen Poesie“ (1782/83), ist er geradezu „als grundierender Text […] mit hinzuzudenken“69. Die Genauigkeit von Herders Spinoza-Lektüre geht eindrucksvoll aus einem zehnseitigen Exzerpt des Prophetenkapitels im „Traktat“ hervor, das vor kurzem mit einem Faksimile der Handschrift von Günter Arnold publiziert wurde70. Und Arnold, der unerreichte Kenner, hat 66  G.W.F. Hegel, Jubiläumsausg. XIX, 369 (Geschichte der Philosophie III,2). 67  Traktat 163. 68  Vgl. R. Otto, Studien zur Spinozarezeption im 18. Jahrhundert (1994) 347–58. Im Einzelfall dürfte noch manches zu erhellen sein; vgl. etwa St. Bitter, Die Ehe des Propheten Hosea (1975) 16814. 69  G. Arnold in: Biblische Theologie und historisches Denken, hg.v. M. Keßler und M. Wallraff (2008) 142. 70  Ebd. 136–70.

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auch noch ein Herder-Zitat beigebracht, das den ganzen Sachverhalt schlagend charakterisiert: „In der Kritik über die Schriften des alten Testaments haben seitdem [seit Spinoza] manche manches als eine neue Entdeckung, dazu weit unvollkommener gesagt, das in Spinoza bereits gründlicher stand […]. Freilich ist in diesem Werk, wie in allen seinen andern Schriften alles hart gesagt und vieles übertrieben. Für die Poesie der Propheten z.B. hatte er nur einen metaphysischen Sinn.“71 Hier musste, auf den Spuren von Robert Lowth, Herder selbst kommen! Viel prinzipieller stellte der Neukantianer Hermann Cohen bei Spinoza einen auf antijüdischer Grundhaltung beruhenden „vollständigen Defekt des Prophetismus“ und weitere Mängel fest72; ihm widersprach auf breiter Front der junge Leo Strauss mit dem zutreffenden Ergebnis: „Die wesentlichen Ergebnisse der Bibelwissenschaft Spinozas sind hinreichend in der faktischen Beschaffenheit des Gegenstandes dieser Wissenschaft motiviert.“73 Dass Spinoza bei denen, die ihre Augen nicht verschließen, im Grundsätzlichen durchgedrungen ist, hat niemand deutlicher bezeugt als 1920 der junge Karl Barth: „Die literarischen Denkmäler einer vorderasiatischen Stammesreligion des Altertums und die einer Kultreligion der hellenistischen Epoche, das ist die Bibel. Also ein menschliches Dokument wie ein anderes, das auf eine besondere Beachtung und Betrachtung einen apriorischen dogmatischen Anspruch nicht machen kann. […] das ist eine Einsicht, die heute als verkündigt in allen Zungen und geglaubt in allen Zonen vorausgesetzt werden darf. Wir brauchen diese offene Tür nun nicht immer wieder einzurennen.“74 Nicht als ob damit und also damit, dass wir mutatis mutandis „durch die Brillen sehen, die Baruch Spinoza geschliffen hat“, alle Probleme gelöst wären! Das ist bei Barth nicht der Fall und war es doch auch bei Spinoza nicht. Die Aufgabe, die seine Bibelkritik der Theologie gestellt hat75, harrt immer noch einer wirklichen Bewältigung, die gewiss nicht darin wird bestehen können, dass wir nur durch die Brillen sehen, die er geschliffen hat.

71  Ebd. 141. 72  Jüdische Schriften III (1924) 371. 73  1924, Gesammelte Schriften I (1996) 382. 74  Das Wort Gottes und die Theologie (1925) 76 (= Vorträge und kleinere Arbeiten 1914– 1921, 2012, 674). 75  Besonders scharf formuliert von M. Walther, ZThK 88 (1991) 80.

Richard Simon 1638–1712

Zu den Unterschieden zwischen den beiden großen Bibelkritikern des 17. Jahrhunderts gehört für uns, dass wir von Spinoza wissen, wie er ausgesehen hat, von Simon nicht; es gibt kein Bild von ihm und hat vielleicht nie eins gegeben. Einer frühen Biographie verdanken wir immerhin einige Angaben zur Person. Danach war er klein, hatte keine einnehmende Physiognomie, aber Geist und Temperament und ein ausgezeichnetes Gedächtnis, dazu eine natürliche Heiterkeit als Gegengewicht zum Ernst seiner Wissenschaft. Er war ein guter Freund und pflegte eine regelmäßige Korrespondenz mit denen, die ihn schätzten. Ein eifriger Katholik, unterschied er bei den Protestanten zwischen ihren Schriften und ihrer Person; bei allem heftigen Streit hatte er unter ihnen illustre Freunde, mit denen er brieflich und mündlich aufs herzlichste verkehrte. Bei der Arbeit lag er gewöhnlich auf einem dicken Teppich zwischen mehreren Kissen, neben sich auf dem Fußboden Bücher und Schreibutensilien. Er aß nur abends und so wenig, dass es gerade zum Leben reichte1. Wir besitzen von ihm nicht wenige Briefe, die mancherlei Aufschlüsse über sein Leben, Denken und Handeln und vor allem seine vielfältigen Beziehungen geben2. Aber in ihrer frühen Sammlung3 trifft man selten „etwas von persönlicher Note“, so dass man oft den Eindruck hat, dass die „persönlichen Dinge getilgt sind oder wohl überhaupt nicht vorhanden waren“4. Künftigen Biographen mit psychologischem Spürsinn bietet dieser fraglos sehr interessante Mann noch ein reiches, aber mit Takt zu bestellendes Betätigungsfeld. Am 13. Mai 1638 in der Hafenstadt Dieppe geboren, war Simon fast gleichaltrig mit Ludwig XIV., dem „Sonnenkönig“, dem er im Leben um drei Monate, 1  Bruzen la Martinière, Eloge historique de Richard Simon, prêtre, in: R. Simon, Lettres choisies (1730) I (separate Paginierung 1–100) 99f., vgl. 15. 2  Vgl. F. Stummer, Richard Simon in seinen Lettres choisies, in: Festschrift Sebastian Merkle (1922) 317–35. 3  Lettres choisies I–IV (1700/02/04/05, nouvelle ed. 1730, hiernach zitiert). 4  Stummer a.a.O. 321.

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im Tod um drei Jahre voranging5. Seine Biographie6 gliedert sich in zwei Teile, mit dem Jahr 1678 als Zäsur: damals brachte er sein bekanntestes Werk heraus – oder versuchte das wenigstens –, die „Histoire critique du Vieux Testament“, und verlor anschließend die Mitgliedschaft in der ordensartigen Priesterkongregation der Oratorianer. Mit den Oratorianern war er schon früh in Berührung gekommen. Der Handwerkersohn besuchte als Schüler ihr Kolleg in Dieppe und hielt sich nach einem Zwischenspiel in der entsprechenden Anstalt der Jesuiten in Rouen (1657/58) kurze Zeit in Paris auf, um bei den Oratorianern der Hauptstadt das Noviziat anzutreten. Aber er bekam dort bald kalte Füße und zog sich in die Vaterstadt zurück, wo er, selbst mittellos, in dem begüterten späteren Abbé Hyacinthe de la Roque (1636–1728) nicht nur einen Mäzen, sondern auch einen Freund gewann, mit dem er drei Jahre lang (1659–62) in Paris an der Sorbonne studierte. In dieser Zeit legte er den Grund zu seiner immensen Gelehrsamkeit. Ein von ihm selbst aufgestelltes Verzeichnis7 registriert, dass er in Dieppe Philosophie und Griechisch studiert hat, in Rouen Logik und Moral, in Paris, teilweise bei Jesuiten, die Klassiker der Scholastik, voran Thomas und Petrus Lombardus, dazu theologische Zeitgenossen, vor allem aber die Bibel mitsamt Kommentaren, besonders „häretischen“, also protestantischen, und last not least Hebräisch und Syrisch (später auch Arabisch). Nach Dieppe zurückgekehrt, war er auch dort nicht müßig, sondern las wiederum Theologisches, die Magdeburger Zenturien und eine Konziliengeschichte, mit Vorrang aber wieder Bibelkommentare, darunter die Paraphrasen des Erasmus und Bezas Noten; das Verzeichnis schließt 5  In den damit gegebenen historischen Rahmen stellt ihn P. Gaxotte, La France de Louis XIV (1946, deutsch: Ludwig XIV. Frankreichs Aufstieg in Europa, 1951) 209f.214f. 6 Heute maßgeblich und immer heranzuziehen: P. Auvray, Richard Simon 1638–1712. Etude bio-bibliographique avec des textes inédits (1975, im Folgenden: Auvray). Daneben behauptet sich die populärere Darstellung von J. Steinmann, Richard Simon et les origines de l’exégèse biblique (1960, im Folgenden: Steinmann). Hervorragend zwei Lexikonartikel: A. Molien, DThC XIV (1941) 2094–2118 und J. Le Brun, DBS XII (1996) 1353–83. Immer noch nützlich ist die Lausanner Dissertation von A. Bernus: Richard Simon et son Histoire critique du Vieux Testament (1869, im Folgenden: Bernus). Unter den deutschsprachigen Darstellungen behält die von K.H. Graf (BThW 1, 1847, 188–242, im Folgenden: Graf) schon wegen ihres für unsere Wissenschaft so wichtigen Verfassers das größte Gewicht. Genannt sei aber auch H. Graf Reventlow in: Historische Kritik in der Theologie, hg.v. G. Schwaiger (1980) 11–36. Die in meinen Augen wertvollsten Einzeluntersuchungen aus neuerer Zeit stammen von einem evangelischen Alt- und einem katholischen Neutestamentler: W. McKane, Selected Christian Hebraists (1989) 111–50; M. Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift (2007) 185–221. Die jüngste Monographie, das prätentiöse Riesenwerk von Sascha Müller, Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (2004), eine von G.L. Müller, dem späteren Präfekten der römischen Glaubenskongregation, betreute Dissertation, mitsamt ihrem übersichtlicheren Ableger Richard Simon […] Eine Biographie (o.J., wohl 2005, Geleitwort von R. Voderholzer, heute Bischof von Regensburg), unternimmt es, Simon auf den Leisten der „Unfehlbarkeit der zeit- und raumumspannenden kirchlichen Überlieferungsgemeinschaft“ zu schlagen. 7  Bei Auvray 200.

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mit einem Hinweis auf seine Unvollständigkeit („etc...“) und darauf, dass noch „outre plousieurs estudes profanes“ hinzukämen. Wieder hielt es ihn nicht lange in der Vaterstadt. Noch 1662 war er aufs neue in Paris, nunmehr mit dem festen Vorsatz, Oratorianer zu werden. Er wurde und blieb es mit der Zwischenstation der Priesterweihe 1670 durch gut anderthalb Jahrzehnte bis zum abrupten Ende 1678. Je länger desto mehr war er ein prominentes und auffälliges, aber kein problemloses Ordensmitglied. Schon im ersten Jahr wäre er beinahe zu den Jesuiten abgeschwommen, die er ja gut kannte und deren Theologie ihm mehr zusagte als der an Augustin orientierte Jansenismus, wie er ihn unter den Oratorianern erlebte. Aber er war überhaupt kein Mann von Richtungen und Parteien, sondern folgte seinem eigenen Kopf. Bei den Oratorianern widersetzte er sich sogleich der Vorschrift, dass die Novizen sich im ersten Jahr ausschließlich geistlichen Übungen zu widmen hätten, und erreichte, dass er, sogar unter Beteiligung seines unmittelbaren Vorgesetzten, seine wissenschaftlichen Studien fortsetzen konnte. Bereits 1663/64 unterrichtete er Philosophie im Kolleg in Juilly nordöstlich von Paris, wohin er später noch mehrfach zurückkehrte; aber sein Standquartier war die Zentrale des Oratoriums in der Rue Saint-Honoré, einen Steinwurf vom Louvre entfernt und also wenigstens geographisch nah bei der Macht8. Er war dort rastlos tätig, verkehrte lebhaft mit vielen Gelehrten innerhalb und außerhalb des Oratoriums, katalogisierte in dessen Bibliothek die orientalischen Handschriften, unterrichtete einen italienischen Prinzen (1671), katechisierte einen konvertierten Juden (1672), verteidigte in seiner ersten Schrift (1670) die Juden in Metz, die man wegen Kindermords angeklagt hatte, edierte bzw. übersetzte, immer in übergeordnetem sachlichem Interesse und mit eigenen Zutaten, den Erzbischof Gabriel von Philadelphia (1671), den Orientreisenden Dandini (1675) und den Rabbiner Leon von Modena (1674) – letzteren unter dem ersten seiner Pseudonyme (Recared Sçiméon), auf das er, ein Freund literarischer Verwirr- und Versteckspiele, später außer anderen Pseudonymen gern auch die Anonymität folgen ließ. In diesen und weiteren Schriften zeigen sich eine enorme Beschlagenheit weit über die biblischen Sachverhalte hinaus und eine wacher, hilfsbereiter Sinn für vielerlei kirchliche, juristische, theologische, liturgische, ethnographische, historische Probleme namentlich des christlichen Orients, auch in Beziehung auf das Judentum. 1676/77 scheiterte der von protestantischer Seite – das Edikt von Nantes war noch nicht aufgehoben – initiierte Plan einer französischen Bibelübersetzung unter maßgebender Mitwirkung Simons. Der Hergang ist nicht ganz durchsichtig 9, aber 8  Seit 1811, immer noch unter dem Namen Oratoire, „Temple“ der reformierten Gemeinde; vgl. etwa B. Champigneulle, Paris (Prestel 1980) 83f. 9  Vgl. Bernus 24–28; Auvray 36–38; P.M. Bogaert/B. Chédozeau, Les Bibles en Français (1991) 153. Das Konsistorium in Charenton und die Professoren in Genf scheinen die Aufgabe verschieden aufgefasst zu haben, und offenbar spielte auch Geld eine Rolle. Simon formulierte ein Programm (s.u. 82f.) und übersetzte probeweise je ein Kapitel Hiob und Proverbien. Vielleicht gehört auch die annotierte Übersetzung des Pentateuchs in diesen Zusammenhang, von

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in jedem Fall war die Affaire eine Kleinigkeit gegenüber dem Drama, das das folgende Jahr bereithielt und das mit dem stillen Hauptgeschäft all dieser Jahre zusammenhing, der „Histoire critique du Vieux Testament“. Im Oratorium hatte Simon es mit einer Vielfalt von Individualitäten zu tun. In leitender Funktion wirkte Pasquier Quesnel (1634–1719), Verfasser der verbreiteten „Réflexions morales sur le Nouveau Testament“ (seit 1668), damals ein halber, später ein ganzer (und führender) Jansenist und einige Jahre nach Simon aus der Kongregation ausgeschieden. Simons genauer Altersgenosse war der vielseitige Philosoph, insbesondere Metaphysiker, Nicolas Malebranche (1638– 1715), der es unternahm, „Augustin und Descartes, Philosophie und Christentum, Wissenschaft und Religion in höherer Einheit zu verbinden“10; Simon hatte zu ihm ein gutes Verhältnis und trieb mit ihm ein wenig Hebräisch und Aramäisch („Rabbinisch“)11. Seinem originellsten Gesprächspartner unter den Oratorianern sagte er dagegen nach, er habe weder Griechisch noch Hebräisch gekonnt12; und doch besitzt dieser Mann wie Simon selbst einen festen Platz in der Geschichte der Bibelkritik, ja er ist darüber hinaus „eine der geistesgeschichtlich interessantesten Erscheinungen des 17. Jahrhunderts“ genannt worden13: Isaac La Peyrère (Peyrerius, 1594–1678), der 1665 als Laienmitglied zu den Oratorianern in Aubervilliers bei Paris stieß. Er hatte ein bewegtes Leben hinter sich14. In Bordeaux geboren und calvinistisch getauft, zum Juristen ausgebildet, wurde er 1640 Sekretär des Prinzen Henri de Condé (1588–1646), knüpfte in dessen Umgebung viele Verbindungen, war sogar Vertrauter und Gesprächspartner der (1654) zum Katholizismus konvertierten und abgedankten Königin Christine von Schweden sowie mehrfach in internationalen Missionen unterwegs. 1656 wurde er in Brüssel als Ketzer inhaftiert, aber bereits 1657 nach erfolgter – schwerlich aufrichtider Bruzen la Martinière (s. Anm. 1) 43f. berichtet und die in der vermutlich einzigen, 726 Folioseiten starken Kopie S.J. Baumgarten vorgelegen hat (vgl. dessen Nachrichten von merkwürdigen Büchern X, 1756, 471–76). Sie galt lange als verschollen, doch als ihr Verlust 1985 auf einer Wolfenbüttler Tagung wieder einmal von den Spezialisten beklagt wurde, konnte ein anwesender Nichtspezialist aus zufälliger Kenntnis ihren Verbleib (Hofbibliothek Aschaffenburg Ms. 48) nachweisen (vgl. Wolfenbüttler Forschungen 41, 1988, VII). Dem Vernehmen nach steht ihre Edition durch die Professoren Le Brun und Woodbridge bevor, die bereits 1983 die wichtigen „Additions aux ‚Recherches curieuses sur la diversité des langues et religions‘ d’Edward Brerewood“ herausgegeben haben. Vgl. auch unten 94155. 10  A. Buchenau, RGG 2III, 1875. 11  Auvray 23f., vgl. auch Steinmann 42–44 („une amitié ébauchée“). 12  Lettres choisies II, 30. Vgl. aber hinsichtlich des Griechischen H.J.M. Nellen, HBOT II, 818. 13  H.J. Schoeps, Philosemitismus im Barock (1952) 3. 14  Unbegreiflicherweise hat die RGG in ihrer 4. Auflage den Artikel über ihn gestrichen; nicht einmal im Register kommt er noch vor. Vgl. aber K. Grünwaldt, BBKL IV, 1145–55 und vor allem R.H. Popkin, Isaac La Peyrère (1596–1676). His Life, Work and Influence (1987); daran anschließend: A. Grafton, Defenders of the Text (1991) 204–13.

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ger – Revokation in Rom in die katholische Kirche aufgenommen; 1659 kehrte er als Bibliothekar des nächsten Condé (Louis, „le Grand Condé“, 1621–1686) nach Paris zurück. Nachdem er schon 1626 auf einer reformierten Provinzialsynode der Ketzerei bezichtigt worden war und 1641 Kardinal Richelieu das Erscheinen einer ihm von La Peyrère gewidmeten Schrift unterbunden hatte, erschien 1643 anonym „Du Rappel des Juifs“15, die zugleich juden-, christen-, heidenund frankreichfreundliche Vision eines messianischen Zeitalters mit einem wiedergekehrten Jesus und einem von Palästina aus die Welt regierenden König von Frankreich. Ebenfalls anonym folgten 1655 die Zwillingsbändchen „PraeAdamitae. Sive Exercitatio super Versibus duodecimo, decimotertio, & decimoquarto, capitis quinti Epistolae D. Pauli ad Romanos. Quibus indicuntur Primi Homines ante Adamum conditi“ und „Systema Theologicum, ex Praeadamitarum hypothesi“; bereits im ersten Jahr kamen fünf Ausgaben und eine Vielzahl von Gegenschriften heraus. Bei seiner berühmten Hypothese, nach der der biblische Adam nicht der erste Mensch, sondern der erste Jude war und es schon vor ihm eine Menschheit gegeben hat – wodurch sich z.B. das alte Rätsel um die Herkunft von Kains Frau sehr befriedigend löste –, ging La Peyrère von einer eigenwilligen Interpretation von Röm 5,12–14 und von chronologischen, ethnologischen und astronomischen Beobachtungen seiner Zeit aus, aber notwendigerweise waren damit auch Konsequenzen für das Verständnis des Alten Testaments verbunden, das in dieser Sicht nur noch die jüdische Geschichte – und also z.B. die Sintflut als einen partikular-jüdischen und nicht weltweiten Vorgang – beschrieb. Im Dienst seiner Hypothese hatte La Peyrère den Pentateuch unter die Lupe genommen und „zuerst die Genesis als tertiäre literarische Bildung erkannt und daraus die Widersprüche, Wiederholungen und Transpositionen erklärt“16. Davon konnten sich Spinoza und Simon einiges zunutze machen: Spinoza besaß nachweislich die „Prae-Adamiten“17, und Simon diskutierte gern mündlich und schriftlich mit dem kuriosen Konfrater. Natürlich nahm er ihm seine großen Thesen nicht ab, aber er versorgte ihn auch auf deren Gebiet mit zusätzlichem Material, wies ihn auf jüdische Vorläufer hin und machte ihn – offenbar ohne Echo – auf den „Messias“ Sabbatai Zwi aufmerksam, der damals (1670) in Adrianopel sein Wesen trieb18. Umgekehrt wird er mit Interesse zugehört haben, wenn der Ältere von seinen Widerfahrnissen berichtete: immerhin war er nicht nur ausgiebig in den Niederlanden, sondern auch in Grönland und 15  Das Titelblatt ist abgebildet bei R.H. Popkin, EJ X, 1425. 16 (F. Bleek–)J. Wellhausen, Einleitung in das Alte Testament (41878) – im Folgenden „(Bleek–)Wellhausen“ – 653. Die dort Anm. 1 mitgeteilte Zwischenbilanz La Peyrères ist bei H. Holzinger, Einleitung in den Hexateuch (1893) 34f. aus ihrem Zusammenhang ergänzt. (Neben Holzinger lege man H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 31982, 60f.!) 17  Vgl. Spinoza – Lebensbeschreibungen und Dokumente, hg.v. M. Walther (1998) 264. 18  Lettres choisies II, 14; vgl. G. Scholem, Sabbatai Zwi. Der mystische Messias (1992) 932 mit Anm. 18.

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Island gewesen und hatte darüber Bücher geschrieben (1647, 1663), und in Rom hatte ihn, als er konvertierte, Papst Alexander VII., umgeben von Kardinälen, lächelnd mit den Worten empfangen: „Embrassons cet homme qui est avant Adam.“ Es wäre verwunderlich, wenn La Peyrère und Simon nicht von Zeit zu Zeit miteinander gelächelt und auch gelacht hätten; Humor besaßen beide. In späteren Jahren hat der Jüngere über den Älteren, nach ihm befragt, brieflich eingehende Auskunft gegeben19. Über einen anderen Pariser Oratorianer, den er zwar nicht mehr persönlich kennengelernt hatte20, dessen Interessen sich aber mit seinen eigenen eng berührten, schrieb er sogar eine Vita 21, allerdings eine ziemlich maliziöse. Jean Morin (1591–1659), wie La Peyrère von Haus aus Hugenotte, aber anders als jener schon in jungen Jahren und aus Überzeugung konvertiert, Autor historischer und kirchenrechtlicher Arbeiten, vielfältig im Dienst der Kongregation tätig, hatte 1628 eine dreibändige Ausgabe der Septuaginta besorgt, in deren Vorwort er auf die Wichtigkeit des damals im Westen noch nicht publizierten Samaritanischen Pentateuchs hinwies. Von diesem lag seit kurzem in der Bibliothek der Oratorianer eine Handschrift, die Pietro de la Valle 1616 in Damaskus gekauft hatte. Diese Handschrift – er fand dann noch zwei hinzu – setzte Morin instand, im Pentateuch-Band (VI, 1632) der Pariser Polyglotte (1628–45) die Editio princeps des Samaritanus und seines Targums vorzulegen – in Sachen der Samaritaner das „entscheidende Ereignis in der Forschungsgeschichte“22. Morin umgab die Edition mit einer Reihe von Abhandlungen, in denen er vom Samaritanus und den Samaritanern nicht nur um ihrer selbst willen handelte, sondern auch im Blick auf die großen Kontroversen seiner Zeit um den Bibeltext23. 19  Lettres choisies II, 21–31 (1688); dort 27 Alexander VII., 31 Grönland. 20  „Le P. Morin étoit déja mort quand je suis entré dans l’Oratoire“ (Lettres choisies I, 14). Ich würde schon darum zögern, Morin mit M. Reiser (s. Anm. 6, 206 u.ö.) Simons Lehrer zu nennen. 21  P. 1–117 des Sammelbandes Ecclesiae orientalis antiquitates, clarissimorum virorum Card. Barberini … et aliorum dissertationibus epistolicis enucleatae (Leipzig/Frankfurt 1683). Zu Morin vgl. vor allem P. Auvray, RB 66 (1959) 397–414. 22  F. Dexinger, TRE XXIX, 750. 23  Ich lasse drei Titel sprechen: Exercitationes ecclesiasticae in utrumque Samaritanorum Pentateuchum. De illorum religione et moribus. De antiquis Hebraeorum literis et siclis [Münzen (Schekel)]. Cabbalisticis scripturae sanctae interpretationibus, eiusque obscuris locis Samaritano codice illustratis. Variis Masorae et Iudaicorum Bibliorum corruptelis, aliisque id genus quam plurimis; quibus accedunt memorabilia quaedam utriusque Pentateuchi specimina (1631); Exercitationes biblicae de hebraei graecique textus sinceritate, germana LXXII. Interpretum translatione dignoscenda, illius cum Vulgata conciliatione, & iuxta Iudaeos divina integritate; totiusque Rabbinicae antiquitatis, & operis Masorethici aera, explicatione & censura (1633); Diatribe elenctica de sinceritate hebraei graecique textus diagnoscenda, adversus insanas quorumdam hereticorum calumnias. Accedunt appendix in qua nonnulla divinitatis et incarnationis Iesu-Christi Domini nostri illustrissima testimonia in hebraeo textu nunc corrupta talmudis et rabinorum antiquorum authoritate restituuntur, et animadversationes in censuram ad Samaritanorum Pentateuchum (1639).

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Immerhin gehörte Morin der Generation Cappels und des zweiten Buxtorf an, er war sechs Jahre jünger als der eine und acht Jahre älter als der andere. Simon gab inhaltreiche Briefe heraus, die Morin an beide schrieb24, und fasste dessen Intention – und seine eigene Stellung zu ihr – ebenso kurz wie kritisch dahin zusammen, Morin habe den heutigen hebräischen Bibeltext so weit wie möglich destruieren wollen, um die Septuaginta und den Samaritanus (und natürlich die Vulgata) aufzuwerten und damit der Kirche einen Dienst zu tun, habe dabei aber nicht bedacht, dass die Kirche, indem sie die alte Übersetzung der Septuaginta und die neue des Hieronymus autorisierte, niemals den hebräischen Text verwerfen noch auch die Juden bezichtigen wollte, ihn verdorben zu haben. Doch bei aller deutlichen Antipathie brauchte Simon nicht zu heucheln, wenn er vorausschickte: „Es gibt niemanden, der über die Bibelkritik mehr und mit mehr Gelehrsamkeit geschrieben hat als Pater Morin, Priester des Oratoriums.“25 Ein solches Kompliment hätte man mit noch größerem Recht auch Simon selber machen können, mindestens seit 1678, dem Jahr der „Histoire critique du Vieux Testament“. Dieses Werk hat ihm seit Herder26 in mehreren Variationen und in – sinnloser – Konkurrenz zu Spinoza auch den Titel „Vater der Kritik A. und N.T. in den neuern Zeiten“ eingetragen. Den Begriff der Kritik im Sinne Simons gab es schon vor ihm im Titel von Büchern über die Bibel; er selbst erwähnt am Ende der „Préface de l’auteur“ zur „Histoire critique“ die Critica sacra des Louis Cappel27 und die Sammlung der Critici sacri, die zuerst 1660 in London herauskam. Als er seinerseits geradezu als Blickfang den Begriff „Histoire“ voransetzte – die Heiligkeit fiel hier fort –, konnten er und seine Leser nicht ahnen, welch lange und wechselvolle Zukunft – welche „Geschichte“! – die Verbindung der beiden Begriffe vor sich hatte, so wie umgekehrt – und das ist bedauerlicher – die wenigsten von denen, die heute das Schlagwort „historisch-kritisch“ als mehr oder weniger abgegriffene Münze benutzen, mit dem Namen Simon eine nähere Vorstellung verbinden. Den Titel von 1678 erläutert K.H. Graf so: „Richard Simon schlug einen ganz neuen Weg ein; statt allerlei zur Bibel Gehöriges systematisch oder kritisch in bestmöglichster Ordnung abzuhandeln, erzählte er die Geschichte der Bibel von Anfang bis auf seine Zeit, und damit war auf einmal in das Ganze wissenschaftlicher Zusammenhang gebracht; an die Stelle vereinzelter, einer andern Wissenschaft dienstbarer Unter24  Ecclesiae orientalis antiquitates (s. Anm. 21) 499–562 (an Buxtorf), 564–77 (an Cappel). 25  R. Simon, Histoire critique du Vieux Testament (1685) 464; ausführlichere Wiedergabe bei P. Gibert, HBOT II, 771. – Ich zitiere die Histoire critique nach der Ausgabe Rotterdam 1685, die 2008 von P. Gibert in einem schönen Band mit vorzüglicher Einleitung und verdienstlichen Anmerkungen, aber leider ohne Angabe der Seitenzahlen des Originals neu herausgegeben wurde. 26  1. Brief das Studium der Theologie betreffend (Werke, Deutscher Klassiker Verlag, IX/1, 149), vgl. Reiser a.a.O. 185. 27  S.o. 25f.

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suchungen, trat ein eigner Zweig der Wissenschaft, welcher selbständig auftreten und sich auf allen Seiten frei bewegen konnte. Die Geschichte der Bibel liess sich freilich nicht erzählen wie die Geschichte von Thatsachen, die in bestimmten, klaren Dokumenten vorliegen; sie musste zum Theil erst aus verschiedenartigen Erscheinungen, aus dunkeln Andeutungen, aus Muthmassungen erschlossen werden, sie erforderte also kritische Untersuchungen, und da diese nicht als schon erledigt vorausgesetzt werden konnten, so mussten sich Kritik und Erzählung mit einander verbinden: daher nannte Simon sein Werk eine kritische Geschichte. Was die Bibel ursprünglich war, welche Veränderungen sie erlitten, welche Schicksale sie bis auf unsre Zeit gehabt, dies waren die Fragen, welche in einer kritischen Geschichte der Bibel beantwortet werden sollten, und in deren Beantwortung alle die Verhandlungen über den Text, den Kanon, die Uebersetzungen, die Ausleger in nothwendigem Zusammenhange vorkamen, die gewöhnlich in den Einleitungen vereinzelt vorgetragen zu werden pflegten.“28 Dem sei hinzugefügt: indem die „Histoire critique“ ebensosehr Erzählung wie Erörterung sein will, liest sie sich leichter und schöner als manches dem Stoff nach vergleichbare Werk. Julius Wellhausen hat sie sogar „eins der geschmackvollsten gelehrten Werke“ genannt, „die je geschrieben worden“29. Verblüffend einfach bestimmen die ersten Sätze die Aufgabe und ordnen sie ein: „Man kann nicht bezweifeln, dass die in der Heiligen Schrift enthaltenen Wahrheiten unfehlbar und von göttlicher Autorität sind, da sie unmittelbar von Gott kommen, der dafür den Dienst von Menschen in Anspruch nimmt, seine Dolmetscher (Interprétes [sic]) zu sein. Es gibt auch niemand, er sei Jude oder Christ, der nicht anerkennt, dass diese Schrift, als das reine Wort Gottes, zugleich das erste Prinzip und das Fundament der Religion ist. Aber weil es Menschen waren, die die heiligen Schriften wie auch alle anderen Bücher bewahrten, und weil die ersten Originale verloren sind, war es unvermeidlich, dass verschiedene Veränderungen eintraten, sowohl aufgrund der Länge der Zeit als auch durch die Unachtsamkeit der Abschreiber (copistes). Daher hat St. Augustin denen, die die Schrift studieren wollen, vor allen Dingen ans Herz gelegt, sich der Kritik der Bibel zu widmen (de s’appliquer à la Critique de la Bible) und die Fehler in ihren Exemplaren zu korrigieren. ‚Der Verbesserung der Handschriften (codicibus emendandis) hat zuerst der Scharfsinn derer zu gelten, die die göttlichen Schriften kennenlernen wollen‘“30 – und so auch der Scharfsinn des Verfassers dieser „Histoire critique“. Das Ganze gliedert sich in drei Bücher (livres). Deren erstes handelt in 31 Kapiteln vom hebräischen Bibeltext seit Mose bis zur Gegenwart, das zweite in 25 28  Graf 171f. 29  (Bleek–)Wellhausen 3. Wellhausen hat die „Histoire critique“ streckenweise auch im Einzelnen benutzt, vgl. Die Composition des Hexateuchs (31899) 1891.193.1971. 30  Augustin, De Doctr. Christ. II,14. – Histoire critique 1. I. ch. I p. 1.

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Kapiteln von den wichtigsten Übersetzungen, das dritte in 24 Kapiteln von aktuellen Übersetzungsproblemen und von jüdischen und christlichen Bibelauslegern. Die Orientierung in dem (in der Ausgabe von 1685) 546 zweispaltige Quartseiten umfassenden Band31 wird durch ausführliche Kapitelüberschriften (die das Inhaltsverzeichnis vorwegnimmt) und ein detailliertes, 41-seitiges Register (leider ohne die Bibelstellen32) sowie durch zahlreiche Stichworte am Rand (vor allem Namen und Belegstellen) sehr erleichtert. Der Stil ist oft gerühmt worden, und der Nichtfranzose glaubt dem zustimmen zu dürfen, zumal er weiß, dass Simon in einer Sprache schrieb, „welche damals durch Meisterwerke der Litteratur sich zur gebildetsten Sprache Europa’s erhoben hatte“. Aber der Elsässer K.H. Graf gießt sogleich Wasser in den Wein: „Leichtigkeit und Gewandtheit im Ausdrucke“, auch „Klarheit“ könne man ihm nicht absprechen, doch sei er „von einer scharfen gedrängten, geistreichen Darstellung“ weit entfernt. „Man vermisst oft nur allzusehr einen methodischen Gang, Abschweifungen stören den Verlauf der Entwickelung, Unordnung in der Gedankenfolge verursacht oft unangenehme Wiederholungen, und die Rücksicht auf Zeitfragen oder einzelne Gegner hat in einigen Punkten eine Ausführlichkeit veranlasst, welche mit dem Uebrigen in keinem Verhältniss steht. Der Styl hat überhaupt etwas Lockeres und oft Weitschweifiges.“33 Zu einem guten Teil dürfte das die Gesprächssituation spiegeln, in der sich Simon oft und offenbar gern befand34, und für die Lektüre ist es eher ein Vorteil. Man braucht nicht lange zu blättern, bis man auf die Stelle stößt, die die Zäsur in Simons Biographie bewirkt hat. Das Inhaltsverzeichnis enthält für Kapitel V des ersten „Buches“ den Satz: „Moïse ne peut être l’Auteur de tout ce qui est dans les Livres qui lui sont attribués.“35 Es empfiehlt sich, den etwas diffe31  Vorworte, 120 Seiten 1685 angefügter Diskussion und Register nicht mitgezählt. 32  Hier, wie auch durch ein Personennamenregister, hat Gibert Abhilfe geschaffen (a.a.O. 919–45). 33  Graf 173f. 34  Ob es auch in diese Richtung geht, wenn Simon sich schon zu Anfang (gleich nach dem obigen Augustin-Zitat) „offenkundig mehr solcher Damen wünscht“ (Reiser a.a.O. 187) wie die, als die er die beiden Kleriker Sunia und Fretela bei Hieronymus missversteht? Wellhausen machte der Irrtum gegen die „Solidität von Simon’s Gelehrsamkeit“ misstrauisch ([Bleek–] Wellhausen 22). 35  „Mose kann nicht der Verfasser von allem sein, was in den Büchern steht, die ihm zugeschrieben werden.“ – E. Nestle, RE3 XVIII, 362, sagt nicht, dass es sich um das erste „Buch“ handelt, nennt den Satz „die Überschrift“ des Kapitels, obwohl er weniger als deren Hälfte ausmacht, und gibt seinen Wortlaut so wieder: „Moyse ne peut être l’auteur de tout les livres qui lui sont attribués“ – was doch wohl nicht ganz dasselbe ist. Ebenso in allen drei Punkten Kraus (s. Anm. 16) 66 ohne Nachprüfung und ohne Nennung Nestles und der RE. Auch von den übrigen sieben Zitaten, um die Kraus seine schwungvollen Ausführungen zu Simon (ebd. 65–70 und noch einmal 85f.) gruppiert, stammt keins direkt aus dessen Werken oder auch nur halbwegs fachnaher Sekundärliteratur, vielmehr sind zwei aus K. Barths Kirchlicher Dogmatik (I/2, 622) und fünf aus der deutschen Ausgabe von P. Hazards Crise de la Conscience Européenne (Die Krise des europäischen Geistes, 1939, 126f.220f.224) übernommen, und zwar jeweils in

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renzierteren ersten Satz des Kapitels hinzuzunehmen, den Simon sicherlich vor der Überschrift und dem Inhaltsverzeichnis geschrieben hat. Dort heißt es „[…] que Moïse n’est pas seul l’Auteur de tout le Pentateuque, de la manière qu’il est aujourd’hui“36. Der Punkt war nach seiner negativen Seite für Simon nicht von zentraler Bedeutung37, und er brauchte hier auch nicht mehr eigentlich bahnbrechend zu wirken. Vielmehr führte er die von Ibn Esra bis Spinoza geführte Liste einzelner „Postmosaica“ fort und stellte darüber hinaus, um eine einheitliche Autorschaft auszuschließen, in lockerer Beweisführung Wiederholungen, chronologische Unstimmigkeiten, Stilverschiedenheiten und andere Indizien zusammen, immer dicht an den Texten und in ausgiebiger Diskussion mit der ihm bestens bekannten jüdisch-christlichen Tradition (dies besonders in Kap. VI)38. Sein eigener positiver Beitrag, den er in den Anfangskapiteln des ersten Buches entwickelte, bestand in einer Hypothese, die fast ebenso berühmt werden sollte wie die seines Ordensbruders La Peyrère von den Präadamiten und die nicht viel plausibler war als sie: der Hypothese von den Propheten, die als „öffentliche Schreiber“ (écrivains publics, auch écrivains divins) die Geschichte der hebräischen „Republik“ schrieben und deren in öffentlichen „Archiven“ (archives publiques) gesammelte Akten führten und redigierten, wobei jeder auf seine eigene Weise und nach den jeweiligen Umständen verfuhr und also nicht nur übernahm und kombinierte, sondern auch änderte, kürzte und hinzufügte, sich aber gegebenenfalls auch irrte. Dergleichen fand Simon in anderen Staaten, so in Ägypten, wo ja Mose erzogen wurde39. Es versteht sich, dass es sich bei Israel um eine ganz besondere „Republik“ handelte und dass den Erzeugnissen von Schreibern, die zugleich Propheten und damit inspiriert waren, eine ganz besondere Qualität zukommen musste. Diese erstreckt sich in der Bibel auf alle Gattungen: „Au reste, soit qu’un Livre soit une Histoire, ou une simple Parabole, ou une Histoire mêlée de Paraboles, il n’en est pas pour cela moins vrai, ni moins divin.“40 Der Weite des Inspirationsbegriffs – er geht ja hier entschieden der Gestalt der dort gebotenen deutschen Übersetzungen und gegebenenfalls mit umstandsloser Übernahme der dort (meist wenig präzise) angemerkten Fundstellen. Die prominenten Zwischenquellen werden mit einer Ausnahme, wo Hazard keine Fundstelle angibt (Kraus 707 vage: „Vgl. Hazard...“), konsequent verschwiegen. Pikanterweise sind auch die Barth-Zitate schon aus zweiter Hand (H.J. Holtzmann, Kanon und Tradition, 1859, 59f.) genommen, was Barth korrekt vermerkt und Kraus wohl einfach überlesen hat; wo Barth Holtzmann (ebd. 604) missversteht, darf man bei Kraus (a.a.O. 683) natürlich keine Richtigstellung erwarten. Ein bei (Holtzmann und) Barth französisch gebliebenes Zitat lässt auch Kraus (ebd. 68) unter Berufung auf seine Wichtigkeit unübersetzt. Höchstwahrscheinlich hat er von Simon nie etwas in der Hand gehabt. Leider ist das Verfahren für sein „Standardwerk“ (RGG4 IV, 1735) insgesamt charakteristisch. 36  Histoire critique (s. Anm. 25) 31. 37  W. McKane (s. Anm. 6) 114: „a minor item“. 38  Übersicht bei F. Stummer, Die Bedeutung Richard Simons für die Pentateuchkritik (1912) 37–44. 39  Histoire critique 15f. 40  Ebd. 58, zitiert u.a. bei Le Brun (s. Anm. 6) 1368.

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über die eigentliche Prophetie hinaus – entspricht die Dringlichkeit, mit der Simon stets hervorgehoben hat, dass die Autoren Menschen geblieben sind: „Ce sont des hommes qui ont esté les instruments de Dieu, & pour estre Prophetes n’ont pas cessé d’estre hommes.“41 Daher die evidente Menschlichkeit ihrer Erzeugnisse; vollends an eine Unfehlbarkeit (infallibilité) ist bei den „copistes“ ebensowenig zu denken wie bei den Kopisten des Homer und des Aristoteles42. Damit relativiert sich aber auch die Wichtigkeit der mosaischen Autorschaft ganz erheblich. Grob gesagt, löst Simon das Verfasserproblem beim Pentateuch so, dass er das Gesetz dem Mose, die Geschichte den Schreiber-Propheten zuspricht43. Natürlich lässt sich da nicht reinlich scheiden, und zumal in der Erzählung der Genesis, die Mose zeitlich ebenso vorausliegt wie den SchreiberPropheten, bleibt viel, was er selbst geschrieben oder aus älteren Urkunden zusammengestellt haben kann. Rechnet man hinzu, dass Mose es ja war, der jene Leute eingesetzt hat, und dass sie der gleiche Geist lenkte wie ihn, dann kann man in einem weiteren Sinn doch sagen, „que tout le Pentateuque est veritablement de Moïse“44, und dann verliert der Satz aus der Überschrift von Kapitel V endgültig die Schärfe, die er bei oberflächlicher Kenntnisnahme haben mag und in der Tat auf verhängnisvolle Weise gehabt hat. Die von Mose inaugurierte Bewegung führte über den Pentateuch hinaus durch das übrige Alte Testament in das babylonische Exil und in die Zeit, wo die „Schreiber“ nicht mehr Propheten waren und wo durch ihren „Chef“45 Esra „le dernier Recueil des Livres Sacrés“, die endgültige Sammlung der heiligen Schriften erfolgte. Simon durcheilt diese Geschichte „très rapidement“46, aber nicht kritiklos. So äußert er an der von Elias Levita und vielen anderen aufgrund der Tradition angenommenen „Großen Synagoge“ des Esra und seiner Männer auf den Spuren Morins47 entschiedene Zweifel48, die zweihundert Jahre später von Abraham Kuenen endgültig zum Siege geführt wurden49, und zum abschließenden Vorgang der Sammlung bemerkt er unter anderem: „Da diese letzten Schriftsteller (écrivains) unter Esra, wie man gewöhnlich annimmt, alle alten Urkunden (mémoires), deren sie habhaft werden konnten, zusammenge41  So im „Brief über die Inspiration“ (s.u. 88) 5. 42  Ebd. 7. – Zur Frage der Inspiration vor allem, in Auseinandersetzung mit Spinoza, Kap. XXV der „Histoire critique du Texte du Nouveau Testament“ (1689, p. 298–303). 43  „On attribuera à Moïse les Commandemens & Ordonnances qu’il donna au Peuple; au lieu qu’on pourra faire auteurs de la plus grande partie de l’Histoire ces mêmes Ecrivains publics. Moïse en qualité de Legislateur a écrit tout ce qui appartenoit aux Ordonnances, & il aura laissé aux Scribes ou Prophetes le soin de recueillir les Actes de ce qui se passoit de plus important, afin de le conserver pour la posterité“ (Histoire critique 17, auch bei Stummer a.a.O. 362). 44  Histoire critique 3. 45  Ebd. 25. 46  Bernus 89 zu Kap. VIII der Histoire critique. 47  Exercitationes biblicae (Anm. 23) 279f. 48  Histoire critique 52. 49  S.o. 14.

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stellt und daraus eine abgekürzte Sammlung (un recueil en abregé) gemacht haben, in die sie einige Zusätze (quelque chose) einfügten, so ist es schwierig, die Veränderungen, die sie vorgenommen haben, von denen zu unterscheiden, die jeder Prophet im besondern vor dieser Zeit in den Werken (ouvrages) vorgenommen hatte, die er aufgrund der Aufzeichnungen (mémoires) seiner Vorgänger gesammelt hatte und die sich in den Archiven erhalten hatten.“50 Eine Erwägung wie diese verrät, dass Simon schon Probleme gesehen hat, die in späterer Literarkritik unter anderen Vorzeichen verstärkt wiederkehren sollten. Aber bis dahin hatte es noch gute Weile; ein Dreivierteljahrhundert sollte vergehen, bis Jean Astruc, im selben bourbonischen Paris schreibend wie Simon, die Pentateuchkritik endgültig in Gang brachte – übrigens in der Verfasserfrage apologetisch hinter Simon zurückfallend: für Astruc enthält der Pentateuch nichts Nachmosaisches. Und weder vor noch nach Astruc ist die Nachgeschichte der Propheten-Schreiber-Hypothese ein Siegeszug gewesen. Hier genüge das durchaus repräsentative Urteil eines der führenden Pentateuchkritiker des 19. Jahrhunderts, der diese Hypothese „die schwächste Seite des ganzen Werkes“ (der „Histoire critique“) genannt hat: sie schwebe „nicht nur ganz in der Luft“, sondern habe „auch nur aus einer gänzlichen Verkennung der geschichtlichen und religiösen Verhältnisse erwachsen“ können, indem „geflissentlich der Prophetismus der vorexilischen Periode mit dem späteren Schriftgelehrtentum zusammengeworfen“ wurde51. Ebenso sind natürlich die Verhältnisse verkannt, wenn man Simons Schreiber-Propheten allzu flott in einem Atem mit Größen nennt, die im 19. und 20. Jahrhundert unter Namen wie „J1 J2, E, P, PS, D1, D2, etc.“ postuliert wurden52. Es ist vielen Lesern aufgefallen, dass die ersten acht Kapitel der „Histoire critique“ sich mehrfach mit den Kapiteln VII–X von Spinozas Tractatus theologicopoliticus berühren, ja manchmal mit ihnen geradezu parallel laufen53. Schon das zeitliche Verhältnis macht die Beeinflussung Simons durch Spinoza sehr wahrscheinlich: der Tractatus erschien 1670, die Histoire 1678, und es ist ganz undenkbar, dass Simon bei der Abfassung seines eigenen Werkes das des großen Zeitgenossen und Vorgängers nicht gekannt hat54. Umso mehr verwundert die Tatsache, dass der Name Spinoza in jenen acht Kapiteln, aber auch im übrigen ersten Buch und den beiden weiteren Büchern der „Histoire critique“ kein einziges Mal fällt. Woran auch immer das liegen mag, Simon hat es noch vor dem Druck in der doch wohl nach dem Haupttext geschriebenen – und daher unpaginierten – Préface de l’auteur korrigiert. Er habe, beginnt er dort den zweiten 50  Ebd. 26 (in der Übersetzung von Stummer a.a.O. 45). 51  Ed. Reuß, RE2 XIV, 260f. 52  Steinmann 101; dagegen mit Recht McKane a.a.O. 114. 53  Belege bei D. Barthélemy, Critique textuelle de l’Ancien Testament (1982) 47f. 54  Ausführliche Diskussion (besonders mit P. Auvray) bei J.D. Woodbridge, Richard Simon’s Reaction to Spinoza’s „Tractatus Theologico-Politicus“, in: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, hg.v. K. Gründer u. W. Schmidt-Biggemann (1984) 201–26.

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Absatz, zum Nutzen derer, die die Heilige Schrift gründlich kennenlernen wollten, zwischendurch viele Grundwahrheiten (principes) zur Sprache gebracht, die sehr nützlich seien, die größten Schwierigkeiten der Bibel zu beheben und zugleich den Einwänden (objections) zu begegnen, die man gegen die Autorität der Heiligen Bücher zu erheben pflege. Gleich darauf kommt er „par exemple“ positiv auf seine Propheten-Schreiber zu sprechen, und – offenbar als erstes und prominentestes Beispiel für die „objections“ – negativ auf die „falschen und verderblichen“ (fausses et pernicieuses) Meinungen Spinozas, den er auch auf den folgenden Seiten fest im Visier behält. Er hebt die Differenz schwerlich nur darum hervor, weil er sich gleich zu Anfang bei kirchlichen Autoritäten und konservativen Lesern salvieren will, vielmehr weil sie wirklich besteht und von tiefgreifender Natur ist. Man hat sie etwa auf die Formel gebracht, dass Simon „approved of Spinoza’s critical principles for studying the Scriptures but rejected the author’s conclusions as false, pernicious and impious“55. In diesem Wort „impious“ steckt, der Übereinstimmung in den kritischen Prinzipien und der Ablehnung von Spinozas Ergebnissen vorausgehend, der Tatbestand, in dem Simon sich a limine von Spinoza geschieden weiß. Ich erinnere an die Eingangsworte der „Histoire critique“ über die Unfehlbarkeit und unmittelbar göttliche Herkunft der Wahrheiten in der Heiligen Schrift und die Übereinstimmung von Juden und Christen in deren Einschätzung als das reine Wort Gottes56. Spinoza, weder Jude noch Christ und also nicht nur Häretiker, sondern Atheist57, entbehrt damit zwangsläufig des entscheidenden Schlüssels zur Bibel. Es ehrt Simon, dass er gleichwohl sagen konnte: „Damnanda quidem Spinosae malignitas; sed non statim ea omnia quae habet de sacris Scriptoribus damnanda sunt, quod in aliquibus cum viris pietate & eruditione conspicuis consentiat.“58 Merkwürdigerweise ist ein ähnlicher grundlegender Verdacht wie gegen Spinoza auch gegen Simon selbst geäußert worden, allerdings ohne die Folgerung, die Simon für Spinoza zog. Kein Geringerer als Lessing hat an entlegener Stelle zu Simon notiert: „Glaubte überhaupt von der christlichen Religion so viel, als nichts.“59 Das dürfte bei Lessing ein Lob sein, aber träfe es auch zu? Wenn nicht geradezu des Atheismus, so ist Simon doch wiederholt der Ketzerei beschuldigt worden, und noch Wellhausen spricht von der „ketzerischen Tendenz“ der Histoire critique, die Simon „hinter der Polemik gegen die Protestanten zu verstecken sucht“60. Wellhausens älterer Gesinnungsgenosse Ed. Reuß glaubt, nicht als einziger, zu wissen, dass Simon „gegen das Wesen des Katholizismus innerlich 55  Woodbridge ebd. 220; vgl. dort auch die vorangehenden Seiten. 56  S.o. 74. 57  So Simon ausdrücklich in Bibliothèque critique II, 314, hier nach Woodbridge a.a.O. 218. 58  Castigationes ad Opusculum Isaaci Vossii, s. Anm. 123, 41. 59  G.E. Lessings sämtliche Schriften (Lachmann–Muncker) XVI, 235 (Zur Gelehrten-Geschichte und Literatur); vgl. Reiser a.a.O. 192f. 60  (Bleek–)Wellhausen 3.

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gleichgiltig war, darum aber nicht um ein Haar breit näher dem Protestantismus stand, dessen Grundideen ihm durchaus fremd waren“; Simon ist für ihn „seiner ganzen Natur und Geistesrichtung nach ein Verstandesmensch, sagen wir geradezu ein Rationalist“61 – ein „strenger Rationalist“, verstärkt leichthin ein Nachredner62. Seit langem kann man es besser wissen. Aufgrund ausgebreiteter Kenntnis und namentlich anhand der „Lettres choisies“ hat Friedrich Stummer 1922 gezeigt, dass Simon, „obwohl er an den Vertretern der Kirche manches zu tadeln hatte und manches von ihnen erdulden mußte, doch innerlich fest mit der Kirche verbunden geblieben“ und „der eifrige Anwalt des Katholizismus“ gewesen ist63. Das dürfte inzwischen die Mehrheitsmeinung sein; W. McKane entspricht heutigem Konsens, wenn er schon als Ausgangspunkt seiner Untersuchung formuliert: Simon „combines critical boldness with Catholic conservatism“64. M. Reiser hat geradezu eine „Hermeneutik“ Simons skizziert und sie „eine stimmige Konzeption“ genannt, „die es ermöglicht, unbedingte Kritik und unbedingten Glauben widerspruchslos zu vereinbaren; eine Konzeption, die den historischen Gegebenheiten im ganzen Umfang gerecht werden kann, ohne in Konflikt mit den Wahrheiten der Regula fidei zu geraten; eine Konzeption, die vor der Vernunft bestehen kann, ohne ihr die Alleinherrschaft zu überlassen“65. Bei der Bildung und Durchführung dieser Konzeption kam Simon gegenüber dem orthodoxen Protestantismus seines und des folgenden Jahrhunderts nicht nur sein elastischerer Inspirationsbegriff zustatten, sondern auch die ein Jahrhundert zuvor im Tridentinum endgültig verfügte Gleichstellung der Tradition mit der Schrift im Gegensatz zum reformatorischen „sola scriptura“, das, recht verstanden, für evangelische Theologie unaufgebbar ist66 – im „Fragmentenstreit“, der genau ein Jahrhundert nach der „Histoire critique“ die Gemüter erregte, hatte nicht nur Lessing, sondern auch Goeze einen Aspekt der Wahrheit zu verteidigen67. Noch etwas kam Simons Unternehmen zustatten, nämlich die Art des Stoffes, den er in der „Histoire critique“ vorwiegend bearbeitete. Julius Wellhausen hat die landläufige Rede von Simon als dem „Begründer der Einleitung in unserem Sinne“ dahin präzisiert, er sei es, „sofern er das literargeschichtliche Element 61 RE2 XVI, 261.257. 62  Kraus (Anm. 16) 65. – Dasselbe ausführlicher: Graf Reventlow (Anm. 6) 30–34. 63  Stummer (Anm. 2) 332. – Seiner Eigenschaft als Anwalt ließ es sich auch zuordnen, wenn er die in der Bibel begegnenden Unstimmigkeiten und Dunkelheiten herausarbeitete, ja wenn er überhaupt „Kritik“ übte und damit zumindest scheinbar die orthodox-protestantische Lehre von der Klarheit der Schrift schwächte. 64  McKane a.a.O. 111. 65  Reiser a.a.O. 215. Vgl. jetzt auch Reisers Artikel über die Histoire critique im Handbuch der Bibelhermeneutiken (2016) 551–62. 66  Vgl. die Auseinandersetzung K. Barths mit Simon KD I/2, 621f. 67  Obwohl ich auch Simon und Lessing nicht ganz so nah beieinander sehen würde wie Reiser (a.a.O. 212–14) im Gefolge anderer, finde ich den Gedanken an eine „Rettung“ Simons durch Lessing (ebd. 193) recht reizvoll.

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in seine Untersuchung“ aufnehme; doch trete „dasselbe noch nicht selbständig, geschweige denn als die Hauptsache hervor“68. Literargeschichte bieten in ihrer Weise die soeben besprochenen Anfangskapitel der „Histoire critique“, deren stoffliche Berührung mit Spinozas „Tractatus“ ja nicht von ungefähr kommt. Was folgt, betrifft den Text im engeren Sinn einschließlich seiner Übersetzungen, es ist im späteren Sprachgebrauch nicht „höhere“ sondern „niedere“ Kritik, „lower criticism“ oder auch „allgemeine“, nicht „spezielle“ Einleitung69. Man hat den Eindruck, dass Simon hier schnell in sein eigentliches Element kommt: „c’est dans ce domaine surtout qu’il déploie toute sa supériorité“70. Hier ist das Feld schon in ganz anderer Intensität bearbeitet, hier hat er Vorgänger, an deren Fragen und Antworten er ausgiebig anknüpfen kann, deren Schwächen und Defizite er kennt und seinerseits meidet. Zuoberst stellt er bei ihnen die Vertrautheit mit den Sprachen, voran natürlich der hebräischen; fast mit Genugtuung berichtet er seinem Freund de la Roque von einem Gespräch zwischen Cappel und Morin, bei dem sich herausstellte, dass dieser „n’avoit qu’une conoissance trèsmediocre de la Grammaire Hebraique“71. Auf diesem Gebiet lag umgekehrt die große Stärke der beiden Buxtorfs, mit der allerdings einherging, dass sie in die Ansichten der Rabbinen vernarrt waren, ohne andere Autoren zu konsultieren72. Einen weiteren Mangel teilte mit ihnen der durch die endgültige Abhebung der masoretischen Bearbeitung vom Konsonantentext Wirkungsreichste unter den Vorgängern: „Les ouvrages Critiques de Louïs Cappel & des deux Buxtorfs ne sont pas tout-à-fait exacts, parce qu’ils n’ont point eu de bons Manuscrits de la Bible & quelques autres secours necessaires.“73 In diesem gar nicht zu überschätzenden Punkt hat Simon schon durch seine jahrzehntelange Benutzung der Pariser Bibliotheken vor allen Vorgängern und Konkurrenten einen kaum einholbaren Vorsprung; als der Empiriker, der er ist, weiß er ihn zu nutzen. Als ersten größeren Gegenstand nimmt er den Samaritanus voraus, den er von seinem eigentlichen Entdecker Morin über- und von dessen Widersacher, dem Zürcher Johann Heinrich Hottinger (1620–67)74 unterschätzt findet (Kap. X–XII), und kommt über die dortigen Buchstaben (XIII) zur hebräischen Sprache und den Sprachen überhaupt, ihrer Geschichte und ihrem Wesen (Hebräisch die älteste, sie hat den übrigen orientalischen „tous les avantages de simplicité & d’antiquité“ voraus75, XIVf.). Nach dieser „Digression“76 ist der Weg frei für die umfassende Erörterung des hebräischen Bibeltextes und, damit aufs 68  (Bleek–)Wellhausen 2f. 69  In der „allgemeinen“ Einleitung pflegt dann neben dem Text der Kanon behandelt zu werden; vgl. bei Simon Kap. IX über die Einteilung der biblischen Bücher. 70  Bernus 91. 71  Lettres choisies I, 29. 72  Histoire critique, Préface de l’auteur xxxx 2. 73  Lettres choisies I, 23 (Hervorhebung R.S.). 74  Exercitationes Anti-Morinianae: de Pentateucho Samaritano (1644). 75  Histoire critique 88. – Vgl. aber auch A. Borst, Der Turmbau von Babel III/1 (1960) 1292f. 76  So ausdrücklich in der Überschrift und im vorletzten Satz von Kap. XV.

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engste zusammenhängend, seiner „wichtigsten“ Übersetzungen, die die zweite Hälfte des ersten und das ganze zweite Buch (Septuaginta: II–X, Vulgata: XI– XIV) ausmacht. Es geht, gelegentlich auch in weiteren „Digressionen“, um eine überwältigende Fülle von Detailfragen, in denen auf Schritt und Tritt Simons stupende Vertrautheit mit den Texten in ihrer verschiedenen Gestalt und der jüdisch-christlichen gelehrten Tradition zutage tritt. Dahinter stehen natürlich und werden ausgiebig diskutiert die Grundprobleme, die damals kontrovers waren und es zum Teil noch lange geblieben sind. Wie sehr sich gerade Simons Position über die Zeiten hinweg bewährt hat, belege ich mit einem Zeugnis aus dem 19. und einem aus dem 20. Jahrhundert. Ed. Reuß, nicht durchweg Simons Freund, schreibt 1884 fast widerwillig über dessen Beitrag zur eigentlichen Textgeschichte: „In denjenigen Punkten, welche damals unter den Gelehrten bereits Gegenstand divergirender Forschungen geworden waren, ist nicht zu leugnen, dass Simons klarer Verstand und gründliches Studium gerade bei der Ansicht stehen blieb, welche sich auch der neueren Wissenschaft bewärt hat.“77 Und W. McKane, einer der führenden britischen Textforscher der jüngsten Vergangenheit und zugleich einer der besten Kenner Simons, sieht ihn „close to the principles which are set out in the preface of the Old Testament part of the New English Bible“ (1970, von G.R. Driver)78. Simons Position lässt sich nicht besser zusammenfassen als mit McKanes Worten: „It is this fundamental perception that the sense of the Hebrew consonantal text is not narrowly defined which principally governs Simon’s attitude to the Septuagint over against the Hebrew text ‚of to-day‘, and to Jerome’s Hebraica veritas over against the Old Latin which was translated from the Septuagint. He thus seeks to puncture the claim that the Hebrew Bible has a simple and unqualified primacy over the ancient versions. His distinction between the consonantal text and the text vocalized by the Massoretes and the function which he assigns to the ancient versions in textual criticism bring him close to the principles [… s.o.]. Simon will have nothing to do with the extreme views which aim to discredit either the Massoretic text or the Septuagint. We are not to say ‚only the Hebrew‘ with the Jews, or ‚only the Septuagint‘ with some Christians; or ‚only the Vulgate‘. Both the Hebrew text and the versions are to be used and judgments are to be made ‚according to the rules of criticism‘. The Hebrew text takes precedence, but it should not be severed from the versions and allowed a sole supremacy.“79 Nachdem das zweite Buch mit den protestantischen Bibelübersetzungen geschlossen hat (XXIII–XXV)80, setzt das dritte erneut mit dem Übersetzungsthema ein, aber nunmehr prinzipiell und programmatisch; und es handelt sich 77 RE2 XIV, 260, auffälligerweise von Eb. Nestle in seiner Neubearbeitung (3XVIII, 1906, 364) nicht beibehalten. 78  McKane a.a.O. 125. 79 Ebd. 80  Histoire critique 336 über Luther: „Il étoit impossible qu’un homme qui ne sçavoit plus bien la Langue Hebraïque, pût être juste dans la Traduction d’un Livre aussi difficile à traduire

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tatsächlich um ein Programm, nämlich das der 1676/77 gescheiterten „ökumenischen“ Bibelübersetzung, das Simon hier eingeschaltet (Kap. I.II) und dem er noch zwei auch theologisch, insbesondere kontroverstheologisch sehr aufschlussreiche Kapitel (III.IV) über „difficultés“ einer Bibelübersetzung angefügt hat81. Der (ab V) folgende Hauptteil des Buches, „la critique des meilleurs auteurs, tant juifs que chrétiens, qui ont écrit sur la Bible“, gehört zusammen mit seinem neutestamentlichen Pendant82 zu den Glanzstücken in Simons Oeuvre. M. Reiser nennt es die „erste umfassende Geschichte der Bibelwissenschaft“ und urteilt: „Simons Darstellung, die kaum einen bedeutenden Namen ausläßt, ist als Exegesegeschichte bis heute nicht ersetzt.“83 Dazu die Charakteristik durch W. McKane: „Simon’s qualifications to make aesthetic judgements about translations of the Hebrew Bible, or more comprehensive critical evaluations about commentaries on it, are impressive. He makes them stylishly with a wit which is sometimes mordant. He gives away his bons mots without any fuss as natural products of his mastery of words and of his unfaltering modulation of many gradations of sensibility and irony. They emerge in the course of his review of biblical scholarship and they are of a kind to make those who read them wish that they had written them.“84 Also: tolle lege! Die von McKane85 und Reiser86 gegebenen Proben können dabei Anreiz und Anleitung liefern. Damals bestand für das große Publikum zur Lektüre der „Histoire critique“ fürs erste keine Gelegenheit; mehr Aufsehen als ihr Inhalt erregten notgedrungen die Umstände ihrer Veröffentlichung oder richtiger Nichtveröffentlichung87 – Simon spricht im Rückblick von dem „bruit dans tout Paris, sans qu’on l’eût encore vûë“88. Hier kommt der Name Bossuet ins Spiel. Jacques-Benigne Bossuet (1627–1704), damals Erzieher des Dauphin, davor Bischof von Condom in der Provinz, danach Bischof von Meaux nahe Paris – Simon nennt ihn gern „Monsieur de Condom“, später „Évêque de Meaux“ –, als Redner, Prediger, Seelsorger und Schriftsteller der führende Theologe des damaligen Frankreich, absolutistisch, antijansenistisch, antiprotestantisch gesonnen und agierend, war eine der einflussreichsten Personen am Hof Ludwigs XIV. Wenn jemand, dann hatte er die Macht, Unliebsames zu unterbinden, und dafür genügte ihm im Fall von Simons „Histoire critique“ ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis mit jenem einen Satz über die mosaische Autorschaft am Pentateuch, den ruhig und richtig qu’est le Vieux Testament.“ 81  Dazu besonders lesenswert McKane 142–50 „The concept of ‚obscurity‘“. 82  S.u. 91f. 83  Reiser a.a.O. 5.221. – K.H. Grafs durchaus berechtigte Bedenken (a.a.O. 188f.) legen den Maßstab des 19. Jahrhunderts an. 84  McKane a.a.O. 138. 85  Ebd. 138–41. 86  A.a.O. 221–29. 87  Vgl. zum Folgenden Auvray 45–53 und Giberts Introduction zu seiner Ausgabe. 88  Lettres choisies IV, 54.

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einzuschätzen er weder fähig noch willens war. Das Buch hatte problemlos das „nihil obstat“ der Pariser theologischen Fakultät und des Oratoriums erhalten und lag in 1300 gedruckten Exemplaren beim Buchbinder; Simon hoffte nun noch auf die Erlaubnis des Königs, es ihm widmen zu dürfen, was in mancher Hinsicht von Vorteil gewesen wäre. Aber die Majestät war auf Reisen, und in der Wartezeit sah ein Gewährsmann Bossuets den ersten Bogen mit Titel und Inhaltsverzeichnis, spielte ihn Bossuet zu, Bossuet alarmierte den königlichen Kanzler, dieser den Polizeichef und der den zuständigen Kommissar. Am 30. April 1678 wurden 600 Exemplare konfisziert, am 28. Mai die übrigen 700. Ihre Vernichtung wurde am 17. Juli angeordnet und am 18., 20. und 22. Juli durchgeführt; nur einige wenige, kaum mehr als ein Dutzend, entgingen den Flammen, auch sie offenbar zumeist nur vorläufig. Die dadurch entstandene Situation zeigt ein Brief Simons vom Februar 1679, in dem er eine „seconde édition“ bei dem niederländischen Verleger Elzevier in Aussicht stellt, die aber „pleine des fautes“ sein würde, „parce qu’Elzevir n’a point d’autre exemplaire qu’une copie manuscrite qui a été faite sur l’imprimé, qui n’est print exacte“. Die Vorlage der handschriftlichen Kopie war nach Simons Angaben eins von zwei inzwischen in England befindlichen Exemplaren, nach denen Bossuet vergeblich gefahndet hatte89. Verständlicherweise ist der Druck von 1678 eine extreme Rarität geblieben90; es war ein Ereignis, als kurz vor der Jahrtausendwende der Leidener Antiquar Smitskamp für 24000 niederländische Gulden ein Exemplar anbot, mit handschriftlicher Titelseite und dahinter einem Auszug aus dem „arrêt de condamnation“, im Original unterzeichnet von keinem Geringeren als dem Minister Colbert91. An Bossuets maßgeblicher Rolle bei den Vorgängen kann kein Zweifel sein. „Nach ihm steht und fällt die Tradition mit der Behauptung, daß Mose der Verfasser des gesamten Pentateuch sein müsse.“92 Wahrscheinlich handelte er aber nicht nur auf eigene Faust; Simon vermutete als Hintermänner die Jansenisten von Port-Royal, denen er „trop librement de Saint Augustin“ gesprochen hatte93. Doch auch seine eigene Kongregation ließ ihn fallen: am 18. Mai beschloss die Spitze des Oratoriums, ohne ihn angehört zu haben, seinen Ausschluss. Er reagierte würdig in der ihm eigenen Freiheit; schon Jahre vorher hatte er gegenüber de la Roque geäußert: „On a bien eu raison de dire: Alterius non sit, qui suus esse potest.“94 Sogar auf ein Angebot des Erzbischofs, in Paris zu bleiben, ging er nicht ein: „comme j’ai de l’aversion pour tout ce qui s’apelle affaire, j’ai mieux aimé aller vivre en solitaire à la Campagne, que de demeurer dans un 89  Ebd. 58f. 90  Vgl. Graf 2002; Auvray 472. 91  Smitskamp Oriental Antiquarium Catalogue 614 (1997) No. 141. 92  S. Müller (s. Anm. 6) 116 bzw. 103. 93  Lettres choisies IV, 56, vgl. Bruzen de la Martinière (oben Anm. 1) 29f. 94  Lettres choisies I, 200 und dazu Auvray 504.

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lieu où je n’aurois aucune tranquillité d’esprit“95. So zog er sich für einige Jahre auf die Pfründe in dem kleinen Ort Bolleville zurück, die er seit 1676 besaß und bis 1682 behielt. Auf Buchtiteln nannte er sich auch über 1678 und 1682 hinaus „Prêtre de l’Oratoire“ oder „Le Prieur de Bolleville“, die Priesterpflichten erfüllte er bis zu seinem Tod. Was wurde darüber aus der „Histoire critique“? In der Perspektive des Autors des deutschsprachigen „Standardwerks“ zur Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft „gewann das Buch Simons keine weite Verbreitung. Es wurde verboten, eingezogen und verbrannt. […] Die große Wende führt dann Johann Salomo Semler [1725–91] herauf. Er bringt Richard Simons Einleitungswerk in einer deutschen Übersetzung heraus und bricht überall der freieren Denkweise die Bahn.“96 Etwas ausführlicher: „Die Vernichtung des eben veröffentlichten Werkes wurde angeordnet, und von den 1300 gedruckten Exemplaren konnten nur wenige gerettet werden. Die Geschichte aber dieser wenigen geretteten Exemplare ist außerordentlich spannend. Anhänger Richard Simons versuchten, neue Ausgaben herzustellen; aber alle diese in den Jahren 1680 bis 1685 her­ ausgegebenen Nachdrucke sind ungenau und teilweise entstellt. […] Doch eines der intakten Exemplare kam später in die Hände Johann Salomo Semlers. Er veranlaßte im Jahre 1776 eine deutsche Übersetzung und führte auf diese Weise die wichtigen Forschungen des französischen Gelehrten in Deutschland ein.“97 Weit gefehlt! Das Buch, das – richtiger: dessen erster Band, von dreien – 1776 auf Semlers Veranlassung deutsch erschien, war nicht die „Histoire critique du Vieux Testament“, sondern ihr nach Qualität und Quantität ebenbürtiges neutestamentliches Gegenstück; Simons Arbeit am Neuen Testament ist unserem Standardwerk gänzlich entgangen. Dass ausgerechnet – wozu es in der Tat „außerordentlich spannender“ Umstände bedurft hätte – eins jener „wenigen geretteten Exemplare“ so folgenreich in Semlers Hände gekommen sein soll, beruht in jeder Hinsicht auf freier Phantasie, und das gilt auch von der Behauptung, dass „das Buch Simons keine weite Verbreitung fand“. Vielmehr trifft schon lange vor Semler der Satz zu: „L’Allemagne est certainement le pays où l’Histoire critique du Vieux Testament fut lue avec le plus de soin et exerça le plus d’influence“98. Erste Voraussetzung dafür war die „weite Verbreitung“, die sehr bald nach der Katastrophe von 1678 einsetzte. 1680 kam mit dem fingierten Erscheinungsort Paris, in Wirklichkeit in Amsterdam die Elzevier-Ausgabe heraus, ein geschmackvoll gedruckter, handlicher Band, der ungeachtet seiner dem normalen Leser kaum ins Auge fallenden Schönheitsfehler für den Hausgebrauch bis heute völlig ausreicht. Er erfuhr bald zwei Neuauflagen und diente 1681 einer lateinischen, 1682 einer englischen Ausgabe zur Grundlage. Eben95  Lettres choisies II, 119f. 96  H.-J. Kraus, EvTh 16 (1956) 377 (= Biblisch-theologische Aufsätze, 1972, 284). 97  Kraus, Geschichte (Anm. 16) 65f. 98  Bernus 140. Ausführlich dazu J.D. Woodbridge, German Responses to the Biblical Critic Richard Simon: from Leibniz to J.S. Semler, in: Historische Kritik (s. Anm. 6) 65–87.

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falls in den „neutralen“ Niederlanden, bei dem Verleger Reinier Leers in Rotterdam, folgte dann 1685, nunmehr mit aller Sorgfalt von Simon selbst redigiert und damit keineswegs „ungenau und teilweise entstellt“, der endgültige große zweispaltige Druck. Er bietet unter dem Text eine Reihe von Anmerkungen, in denen sich da und dort ein nicht sehr ertragreiches Geplänkel zwischen Simon, Bossuet und dem Zensor Pirot seit 1678 niedergeschlagen hat, und stellt noch vor die alte „Préface de l’auteur“ in Kursivdruck eine ebenso, nämlich 14 (unpaginierte) Seiten lange neue „Préface“, die auf geschickte Weise die „Histoire critique“ bei Katholiken und Protestanten einführt99. Obwohl der Verfasser sich als niederländischen Protestanten ausgibt und von Simon in der dritten Person spricht, muss angenommen werden, dass er, wie bei jenen Anmerkungen, kein anderer als Simon selbst ist100. Das Werk „erregte alsbald lebhafte Verhandlungen, welche auf protestantischer Seite namentlich von Joh. Clericus, dem damaligen Hauptkritiker der Reformirten, geführt wurden“101. Einige erste Dokumente daraus konnte Simon schon in die Ausgabe von 1685 hineinnehmen, beginnend mit einem Brief, den ein gebürtiger Jude, jetzt anglikanischer Priester (später Anabaptist) namens Charles-Marie de Veil102 am 14. Mai 1678 unter dem unmittelbaren Eindruck der „Histoire critique“ an den Physiker Robert Boyle geschrieben und in dem er sich gegen die Gleichstellung der Tradition mit der Schrift gewandt hatte103. Simon replizierte am 16. August 1678 unter dem Pseudonym R. de l’Isle, Prêtre de l’Eglise Gallicane104: mit zahlreichen Väterzitaten bekräftigte er die römisch-katholische Position bis dahin, dass beim Fehlen eines Schriftzeugnisses „la seule Tradition suffisoit pour autoriser les dogmes“105. Den Ton seiner Polemik in diesem Fall, aber auch darüber hinaus hat K.H. Graf als „geringschätzig und gehässig“ charakterisiert: „Er hatte das Gefühl seiner Ueberlegenheit, und wusste, dass es ihm nicht Viele in rabbinischer und biblischer Gelehrsamkeit gleich thun konnten; die Unbefangenheit aber, die er im Urtheile über ältere Schriftsteller und geschichtliche Gegenstände bewiess, wusste er gegen seine Zeitgenossen und gegen die, welche seine eignen Leistungen angriffen, nicht zu bewahren, seine Eigenliebe fand sich durch jeden Widerspruch gekränkt, er verschloss sich gegen jede Anerkennung des Verdienstes seiner Gegner, und gab manchem derselben, der an Gelehrsamkeit tief unter ihm stand, Gelegenheit, 99 Bei Gibert im Anhang a.a.O. 831–46. 100 So schon Le Clerc (Belege bei Graf 209x); vgl. neuerdings etwa Auvray 78f. 101 (Bleek–)Wellhausen 3. 102 Vgl. Simon, Lettres choisies I, 874. 103 Lettre de Monsr. de Veil, Docteur en Theologie, & Ministre du Saint Evangile, à Monsr. Boyle, de la Societé Royale des Sciences à Londres, Pour prouver contre l’Auteur d’un Livre intitulé critique du vieux testament, que la seule Ecriture est la regle de la Foi – abgedruckt in Simon, Histoire critique (1685) 547–57. 104 Histoire critique (1685) 557–62. 105 Ebd. 558.

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sich durch Bewahrung der Ruhe und Mässigung, welche der wissenschaftlichen Polemik zukommt, weit über ihn zu stellen.“106 Ebenfalls noch 1678, am 10. Dezember, kam unter dem Titel „Lettre à un ami“107 ein umfangreicherer Diskussionsbeitrag heraus, wiederum von einem Protestanten, dem gelehrten Ezechiel Spanheim (1629–1710), älterem Sohn des Genfer, dann Leidener Theologen Friedrich Spanheim, mit dem der zweite Buxtorf zu tun gehabt hatte108, seinerseits auch schon früh im Streit um die masoretische Vokalisation für diesen Buxtorf Partei ergreifend, 1651 Professor in Genf, seit 1655 in verschiedenen diplomatischen, politischen und kirchlichen Positionen tätig. Der „Brief an einen Freund“ rühmt manches an der „Histoire critique“ und bedauert ihre Unterdrückung; die etwas oberflächlichen Referate zeigen mehr Interesse als Sachkunde, etwa in der Parallelisierung Simons mit Spinoza109. Simon antwortete am 10. September 1679, auch diesmal ohne seinen Namen zu nennen, vielmehr als „un Theologien de la Faculté de Paris“ (!)110; er stellte einiges richtig, stimmte den Lobsprüchen (auf ihn selbst!) lebhaft zu, verteidigte auch hier die hohe Wertung der Tradition und kam darauf hinaus, „Spanheim würde besser daran gethan haben, nicht von Dingen zu sprechen, von denen er nichts verstehe“111. Simons Anteil an der zweiten Runde der „Verhandlungen“ ist leicht greifbar in einem Band mit dem Rückentitel „Simon Oeuvres diverses“, der sich äußerlich wie ein Zwilling zur „Histoire critique“ ausnimmt112, aber aus ursprünglich selbständigen Einzelschriften besteht. Den Anfang macht die 48 genau nach Art der „Histoire critique“ gedruckte zweispaltige Seiten lange „Réponse“ auf die „Histoire critique“ aus der Feder eines Pierre Ambrun, angeblich „Ministre du Saint Evangile“, also reformierter Pfarrer, 1685 bei Leers erschienen und auch schon der letzten Ausgabe der „Histoire critique“ angefügt113. Wiederum ist Simon selbst der Verfasser, und zugrunde liegt eine ungedruckte Verteidigungsschrift aus der Zeit der Unterdrückung des Buches von 1678114. In diesem Meisterstück eines apologetisch-polemischen Pamphlets „werden nur die Gründe widerlegt, welche die Gegner bewogen hatten, das Werk zu verbieten, und diesen die Billigung entgegengestellt, die es in Rom gefunden, und die verderblichen Consequenzen, welche für die Protestanten daraus gezogen werden muss106 Graf 201f. 107 Vollständig: Lettre à un amy, Où l’on rend compte d’un Livre, qui a pour titre, Histoire critique du Vieux Testament, Publié à Paris en 1678. In der Histoire critique (1685) 563–322. 108 S.o. 21. 109 A.a.O. 573; vgl. Stummer, Bedeutung (oben Anm. 38) 56. 110 Erschienen bei Elzevier 1680, abgedruckt in Histoire critique (1685) 623–67. Immerhin ist dem Titel sowohl 1680 als auch 1685 hinzugefügt: „Attribuée au Pere Simon de l’Oratoire“. Vgl. auch Lettres choisies II, 279–332. 111 Graf 202. 112 Bei Auvray 80 (vgl. 762) deren „deuxième volume“ genannt. 113 Vgl. Bernus 136. 114 Vgl. Auvray 474.79f.

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ten: der Verfasser habe freilich in seinen Urtheilen über die Kirchenväter das Unglück gehabt, mehr den Meinungen der römischen Curie, als denen der gallicanischen Kirche zu folgen, die in Bezug auf die Tradition mit jener nicht übereinstimme; auf der einen Seite hätten die Jansenisten gegen ihn geschrien, auf der andern die Mönche, weil sie geglaubt, als Oratorianer sei er ein Jansenist, daher das allgemeine Geschrei. Neben wenigen und unbedeutenden tadelnden Bemerkungen, die zur angenommenen Rolle gehören, ist der angebliche Protestant sehr freigebig mit Lobeserhebungen für den Verfasser des recensirten Werkes und mit bissigen Bemerkungen gegen seine Gegner. Gleich zu Anfang sagt er, ‚es gebe wenig Leute in der katholischen Kirche, welche Alles, was die heilige Schrift beträfe, so ergründet hätten, wie Simon, und überhaupt sei eine solche biblische Gelehrsamkeit unter den Doctoren seiner Kirche etwas Seltenes.‘“115. An den Zensor Pirot – in Wahrheit eher an Bossuet – adressierte Simon 1686 seinen 50 zweispaltige Seiten langen „Brief über die Inspiration“, in dem er sich noch einmal unter Aufbietung neuen Materials und alter und neuer Gegner zu den theologischen Zentralfragen der „Histoire critique“ äußerte, ohne dabei seine Position wesentlich zu ändern; gerade so aber ist diese Schrift nicht nur eine erneute Apologie, sondern auch eine handliche und übersichtliche Einführung in das große Werk116. Andere Adressaten fasste Simon härter an, so den niederländischen Universalgelehrten Isaac Voss (Vossius, 1618–1689), der nach wechselnden Tätigkeiten, darunter als Bibliothekar Königin Christines in Stockholm, seit 1673 seine Tage als Kanonikus in Windsor verbrachte, wo König Karl II. bemerkte, „that Vossius would believe anything, if only it were not in the Bible“117. Noch Goethe118 schätzte seinen „hellen Verstand und ernsten Willen“ und fand bei ihm (im Zusammenhang der Farbenlehre) „originelle Vorstellungsarten, wenn sie auch mit den unsrigen nicht übereinstimmen“. Auch Simon stimmte mit Voss in einigen „Vorstellungsarten“ nicht überein. In der „Histoire critique“119 destruierte er Vossens noch über Morin hinausgehende Meinung von der Priorität der Septuaginta gegenüber dem hebräischen Text120, worauf Voss mit einer „Responsio ad Objectiones nuperae Criticae Sacrae“ reagierte121, die über die Septuagintafrage hinaus Simon Voreingenommenheit für die Rabbinen und Gesinnungsge115 Graf 208f., vgl. auch die dort noch folgenden Auszüge. 116 Lettre à Monsieur l’Abbé P., D. & P. en Th., touchant l’inspiration des Livres sacrés, datiert 15.11.1686, mir vorliegend als Bestandteil der „Oeuvres diverses“ (des „zweiten Bandes“) Rotterdam 1699. 117 ODNB LVI, 606. 118 Sämtliche Werke (Frankfurter Ausg.) I/23,1, 724. 119 L. II ch. IV gegen Anfang (1685: 204–08) u. passim. 120 Zuerst J. Vossius, De Septuaginta interpretibus eorumque translatione et chronologia (1661). 121 Zunächst angehängt an J. Vossius, De Sibyllinis aliisque, quae Christi natalem praecessere Oraculis (1680/85).

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meinschaft mit Spinoza vorwarf122. Es folgte ein schneller und heftiger Notenwechsel, den Simon nach Vossens „ad tertias P. Simonii Objectiones Responsio“ (1686) nicht fortsetzte. Immerhin bieten die „Opuscula critica adversus Isaacum Vossium“, die der „zweite Band“ enthält123, dem „Brief über die Inspiration“ vergleichbar eine Reihe lesenswerter Explikationen und Variationen zur „Histoire critique“ und zu guter Letzt eine Verstärkung der Argumente zugunsten einer für das Ganze nicht unwichtigen Einzelheit, der Spätdatierung des samaritanischen Pentateuchs: „Esdras non interpolavit Samaritarum Pentateuchum, sed ipsi Samaritae Legis Codices a Judaeis Esdrae temporis acceperunt: & ita sensisse Hieronymum non dubito, cui Samaritarum libri cogniti fuerunt.“124 Der namhafteste Gegner – mochte er seinen Namen auch nicht auf den Titel seiner Anti-Simon-Schriften setzen – war Jean Le Clerc (Johannes Clericus, 1657–1736), ein abtrünniger Genfer Calvinist, seit 1684 Professor am Remonstrantenseminar in Amsterdam, ein überaus produktiver, thematisch breiter Autor, Editor und Briefschreiber, hierin und in anderer Hinsicht seinem älteren Kontrahenten durchaus vergleichbar125: beide bewegt durch den kritischen Geist ihrer Epoche, beide von ihrer theologischen Herkunft abgewandt, Simon vom Augustinismus bei den Oratorianern in Richtung auf den Molinismus, Le Clerc von der calvinistischen Orthodoxie und ihrer Prädestinationslehre in Richtung auf Arminianismus bzw. Remonstrantentum, beide aus ihren bisherigen Gemeinschaften ausgeschlossen und weitgehend auf eigene Rechnung kämpfend, beide gern anonym oder pseudonym publizierend, beide später fast gleichzeitig mit einer Übersetzung des Neuen Testaments hervorgetreten, Simon 1702, Le Clerc 1703, und last not least: beide pflegten die kräftige Auseinandersetzung. Diese Gemeinsamkeit führte sie naturgemäß nicht zusammen, sondern auseinander. Ihre Beziehung begann Ende 1684 mit einem langen und verehrungsvollen Brief Le Clercs, auf den Simon ungerührt mit der Bemerkung reagierte, er wäre kürzer geworden, wenn Le Clerc sich mehr Zeit genommen hätte126. Dann ging es Schlag auf Schlag. 1685 veröffentlichte Le Clerc „Sentimens de quelques théologiens de Hollande sur l’Histoire critique du Vieux Testament composée par le P. Simon de l’Oratoire. Où en remarquant les fautes de cet Auteur, on donne divers Principes utiles pour l’intelligence de l’Ecriture Sainte“ (457 Seiten); der Form nach handelt es sich um zwanzig Briefe, die über die Gespräche einiger befreundeter Theologen berichten, in Wirklichkeit ist Le Clerc der 122 Dazu und zum Folgenden Stummer, Bedeutung (Anm. 38) 61–69, 123 Castigationes ad Opusculum Isaaci Vossii de Sibyllinis Oraculis, & Responsionem ad Objectiones nuperae Criticae Sacrae; Excerpta ex Disquisitionibus criticis Richardi Simonis, Gallicanae Ecclesiae Theologi; Hieronymi le Camus Theologi Parisiensis Judicium De nupera Isaaci Vossii ad iteratas P. Simonii Objectiones Responsione (alle drei Edinburgh 1685). H. le Camus ist R. Simon, vgl. Réponse au Livre intitulé Sentimens (1686) 147. 124 Judicium (s. vorige Anm.) 62. 125 Auf die Parallelen macht Auvray 80f. aufmerksam. 126 Vgl. Réponse (1686) 5.

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Verfasser. Simon antwortete als „Prieur de Bolleville“; um keine Zeit zu verlieren, nahm er während des Schreibens nur Kaffee und Schokolade zu sich127 – er „dopte“ sich damit, sagt ein moderner Biograph und findet sich an Balzac erinnert128. Das Buch, 256 Seiten stark, erschien 1686 bei Leers als „Réponse au Livre intitulé Sentimens de quelques Theologiens de Hollande sur l’Histoire Critique du Vieux Testament. Outre les Réponses aux Theologiens de Hollande on trouvera dans cet Ouvrage de nouvelles Preuves, & de nouveaux Eclaircissemens pour servir de supplément à cette Histoire critique.“ Noch 1686 reagierte Le Clerc mit einer diesmal 459seitigen „Défense des sentimens de quelques Théologiens de Hollande sur l’Histoire critique du Vieux Testament. Contre la Réponse du Prieur de Bolleville“, worauf dieser natürlich – die Titelgebung hatte mittlerweile eine gewisse Automatik gewonnen – eine „Réponse au Livre intitulé Défense des sentimens de quelques Théologiens de Hollande sur l’Histoire Critique du Vieux Testament. Par le Prieur de Bolleville“ schreiben musste129. Damit war das Kriegsbeil fürs erste begraben. Der sachliche Ertrag des mit allen Mitteln polemischer Rhetorik geführten Streits wird von denen, die sich die Mühe gemacht haben, diese fast 1400 Seiten durchzulesen130, nicht allzu hoch eingeschätzt: „Beaucoup de temps perdu, d’érudition gâchée, à peu près sans résultat.“131 Es ging um eine Vielzahl von Themen, vor allem aber immer wieder um die „écrivains publics“, die Simon unentwegt verteidigte, wobei er um Variationen und Modifikationen nicht verlegen war. Le Clerc lieferte viele Gegenargumente und hatte, was den Pentateuch angeht, auch eine Alternative zur Hand, die sich allerdings ebenso wenig durchsetzen konnte wie die These Simons, vielmehr eher als Kuriosität in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist, übrigens auch von Le Clerc später preisgegeben wurde: den Pentateuch habe jener israelitische Priester verfasst bzw. kompiliert, der nach 2 Kön 17,27f. auf Befehl des Assyrerkönigs in Bethel die jetzigen Landesbewohner die Furcht Jahwes lehrte132. Zweifellos stritt Le Clerc eleganter als Simon, aber es wird zutref127 Bernus 972. 128 Steinmann 201. 129 1687 wieder bei Leers, vorgebunden der Brief an den Zensor Pirot über die Inspiration, diesen abgerechnet 171 zweispaltige Seiten. Die genannten Schriften Simons sind in seinem „zweiten Band“ enthalten. 130 Eingehende Referate: Stummer (Anm. 38) 69–85; R. Voeltzel, Jean Le Clerc (1657–1786) et la critique biblique (in: B. de Gaiffier u.a., Religion, érudition et critique à la fin du XVIIe siècle et au début du XVIIIe, 1968, 33–52) 36–52. 131 Auvray 83. 132 Sentiments 1685, 129. Den Zusammenhang gibt Holzinger (Anm. 16) 38f., ohne Nennung des Namens Holzinger exzerpiert von Kraus (Anm. 16) 371. Wichtig Holzingers Hinweis: „Gegen RSimon bemerkt er [Le Clerc], für die Geschichte eines Buchs genügt die Kenntnis seiner äusseren Schicksale nicht, sondern man muss womöglich zeigen, dans quel dessein l’Auteur l’a composé, quelle occasion lui a fait prendre la plume, et à quelles opinions ou à quels évenemens il peut faire allusion dans cet Ouvrage, sur tout lors qu’il ne s’agit pas d’un livre qui contienne des réflexions générales ou des veritez éternelles, qui sont les mêmes dans tous les Siécles et parmi tous les peuples du monde“ (Sentiments 6). Kraus übernimmt auch dieses Zitat,

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fen, dass auch seine Abhängigkeit von Simon „kaum zu übersehen“ ist, ja dass ihr Streit „im letzten Grunde ein Streit zwischen Lehrer und Schüler“ war133. Im Stoff und der Methode, aber auch in den Resultaten der „Histoire critique“ fand Le Clerc sehr vieles schon vor, woran er kritisch anknüpfen konnte, so wie Simon seinerseits von Cappel und Morin ausgegangen war. Und noch eines Mannes ist hier zu gedenken, dessen Horizont weiter ging als der aller Genannten und der auf sie alle direkt oder indirekt eingewirkt hat: Hugo Grotius (Huigh de Groot, 1583–1645) aus Delft, Remonstrant wie Le Clerc, auf biblischem Gebiet Verfasser der „Annotationes in libros Evangeliorum“ (1641) und der „Annotata ad Vetus Testamentum“ (1644), „mit denen er“ nach verbreiteter Meinung134 „die konfessionsübergreifende historisch-philologische Methode der Schriftauslegung begründete“. Simon schätzte ihn hoch135, bemängelte aber wortreich, dass er allzu viel mit unnötigen Zitaten und Parallelen prunkte136. So intensiv die „Verhandlungen“ über das große Buch auch sein mochten, Simons Fleiß war in den Jahren nach 1678 nicht nur mit ihnen beschäftigt. 1682 kam, unter irreführendem Titel137, erstmals die Vita Morini mit ihren Beilagen heraus, 1684 eine neue „Histoire critique“, nämlich „de la Créance & des Coûtumes des Nations du Levant“, ebenfalls 1684 (ergänzt 1706) eine zwar nicht im Titel, wohl aber in der Sache ebenfalls durchaus kritische „Histoire de l’origine et des progrès des revenus ecclésiastiques“, vor allem aber arbeitete Simon an seinem zweiten Hauptwerk, der neutestamentlichen „Histoire critique“. Sie geriet ihm zu drei Bänden138, die thematisch den drei „livres“ von 1678/85 entsprechen und sie an Seitenzahl fast um das Doppelte übertreffen: Histoire critique du texte du Nouveau Testament, Où l’on établit la Vérité des Actes sur lesquels la Religion Chrêtienne est fondée (33 Kapitel, 1689); Histoire critique des versions du Nouveau Testament, Où l’on fait connoître quel a été l’usage de la lecture des Livres Sacrés dans les principales Eglises du monde (44 Kapitel, 1690); Histoire critique des principaux commentateurs du Nouveau Testament, depuis le commencement du Christianisme jusques à nôtre tems [sic] (60 Kapitel! 1693). Verleger ist wiederum Leers in Rotterdam, der Druck entspricht dem von 1685. Obwohl die insgesamt vier Bände „Histoire“ zunächst durch ihre Uniformität übergeht aber Holzingers bedenkenswerte Feststellung, damit habe Le Clerc „die Grundsätze der Tendenzkritik aufgestellt“ (Hervorhebung von H.); ob dieser Begriff Kraus wohl ungeläufig oder unsympathisch ist? 133 Stummer, Bedeutung (Anm. 38) 84. 134 Hier nach R. Tuchtenhagen, BBKL XVII, 507. 135 Vgl. besonders Histoire critique des principaux commentateurs du Nouveau Testament (1693) 803–15. 136 Histoire critique du Vieux Testament (1685) 443f. 137 Ecclesiae Orientalis Antiquitates; vgl. Auvray 702 und oben 72. 138 Dazu kam aus aktuellem Anlass noch ein Ergänzungsband, der Simons unablässige Weiterarbeit bezeugt: Nouvelles observations sur le texte et les versions du Nouveau Testament (Paris 1695).

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beeindrucken, hat sich die in ihnen vollzogene Trennung von Altem und Neuen Testament in der Einleitungswissenschaft als wegweisend erwiesen. An Gelehrsamkeit und Scharfsinn steht das neutestamentliche Werk hinter dem alttestamentlichen nicht zurück, an „Modernität“ ist es ihm einen Schritt voraus, indem es auf textkritischer Basis und in Diskussion mit den gelehrten Vorgängern stärker auf Fragen eingeht, die wir eher der „höheren Kritik“ oder der „speziellen Einleitung“ zurechnen würden. Man pflegt herauszuheben: die Überschriften der Evangelien139, die Autorschaft des Hebräerbriefs140, die Authentizität des Markusschlusses141 und der Perikope von der Ehebrecherin Joh 7,53–8,11142 oder das „Comma Johanneum“ 1 Joh 5,7b.8a143. Wenngleich Literarkritik hier noch nicht in größerem Stil getrieben wird und etwa die synoptische Frage einstweilen vor der Tür bleibt144, hat Simon, wie ein späterer Meister der Einleitungswissenschaft urteilt, doch „auf ein unaufhörliches Werden im NT die Aufmerksamkeit gerichtet und mit Geschmack und Tact die philologisch-historische Kritik am NT begonnen“145; ja, in den Augen eines anderen Meisters liefert er „bereits den wesentlichen Inhalt, wie ihn seither die Einleitungswissenschaft zu bearbeiten pflegt“146. „Definitiv eingeführt hat“ diese Disziplin dann „Johann David Michaelis in Göttingen, dessen ‚Einleitung in die göttlichen Schriften des neuen Bundes‘ bei ihrem ersten Erscheinen (1750, einbändig) ganz auf Simon’s Leistungen fusst.“147 Mit den drei „Histoires critiques“ ist der literarische Ertrag von Simons „neutestamentlicher Periode“148 nicht erschöpft. 1702 erschien nach langer Vorbereitung in vier Oktavbänden anonym das „Neue Testament von Trévoux“, mit vollem Titel „Le Nouveau Testament de nôtre Seigneur Jésus-Christ. Traduit sur l’ancienne édition latine. Avec des Remarques literales & critiques sur les principales difficultez.“ In Anknüpfung an das 1676/77 gescheiterte Projekt und seine Ausführungen zur Bibelübersetzung in den beiden „Histoires critiques“ legt Simon damit eine Alternative zu den französischen Übersetzungen seiner Zeit vor, unter denen die durch Louis-Isaac Le Maistre de Sacy (1611–84) geprägte „Bibel von Port-Royal“ (1665–93; letzte Neuausgabe 1998) herausragt; „de Sacy’s Bible translation“, so lautet eine moderne Charakteristik, „is still more ideolo139 Histoire critique du texte chap. II; Anfang und Ende davon (p. 14f.22) in deutscher Übersetzung bei W.G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (1958) 46f. 140 Ebd. XVI. 141 Ebd. XI, 114–22; vgl. Kümmel a.a.O. 47–50. 142 Ebd. XVIII. 143 Ebd. XVIII. 144 Auvray 103. 145 A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament (1894) 8. 146 H.J. Holtzmann, Einleitung in das Neue Testament (1885) 4. 147 Ebd. 148 Auvray gliedert seine Biographie zwischen „Formation“ und „Conclusion“ in die beiden Perioden „de l’Ancient“ und „du Nouveau Testament“.

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gical than literal, calculated to re-enforce piety and apologetics rather than to explore the philology of the Hebrew and, for the New Testament, Greek texts underlying the Vulgata“149. Simons Alternative liegt auf der Hand150. Allerdings überrascht, dass er aus der Vulgata übersetzt; offenbar konnte er sich damit als guten Katholiken zeigen und Leser erreichen, die mit dem offiziellen Text ihrer Kirche vertraut waren151. Umso mehr greifen die „Remarques literales & critiques“ auf den griechischen Grundtext zurück; sie enthalten übrigens auch eine Fülle von Sacherklärungen. Durch böse Erfahrung gewitzt, ließ Simon das Werk nicht in Paris drucken, sondern in Trévoux, einem Ort des souveränen Herzogtums Dombes, das nicht der offiziellen Pariser Zensur unterworfen war. Gleichwohl wurde die Approbation zweier Herren der Sorbonne eingeholt, die auch eine spätere Neuausgabe in Paris einschloss. Weihnachten 1701 war der Druck fertig. Aber noch lebte Bossuet, und er ergriff die Gelegenheit, seinen Coup von 1678 zu wiederholen, wofür sich Gründe wiederum leicht an den Haaren herbeiziehen ließen. Die folgenden Monate sind angefüllt mit Unterredungen, Briefen, Pamphleten. Der Kardinal-Erzbischof Louis Antoine de Noailles schrieb eine von Bossuet inspirierte „Ordonnance“152, Bossuet selber eine „Première“ und eine „Seconde instruction“, Simon eine „Remontrance“153, die sogar sein wohlgesonnener Biograph „un chef-d’oeuvre de malice“ nennt154. Das Ergebnis des ungleichen Kampfes war vorgezeichnet: Besitz und Lektüre des Neuen Testaments von Trévoux wurden am 15. September 1702 vom Pariser Erzbischof, am 29. September vom Bischof von Meaux, also Bossuet, für ihre Diözesen bei Strafe der Exkommunikation verboten; am 22. Januar 1703 folgte ein Verbot durch den Staatsrat für das ganze Königreich. Nach K.H. Graf wäre das Werk ohnehin gescheitert: „Simon’s Arbeit war durchaus verfehlt, für die Gelehrten zu populär, für das Volk zu gelehrt. Was sollte das Volk mit den vielen Lesarten machen, während ihm in den sachlichen Anmerkungen kaum das Nothwendigste geboten wurde? Eine gelehrte Uebersetzung durfte sich aber nicht an die Vulgata binden, und musste in dem Commentare tiefer eingehn. Eine gute Bibelübersetzung zu machen, war Simon eben darum nicht im Stande, weil es ihm an dem fehlte, was er verächtlich ein mystisches Wesen nannte; er war nicht durch innere Erfahrung in die Tiefen des Christenthums eingedrungen. Gelehrsamkeit kann aber diesen Mangel nicht ersetzen und aus flacher socinianisirender Exegese kann niemals 149 B.E. Schwarzbach, HBOT II, 567. Vgl. weiter ebd. 566–75; B. Chédozeu/F. Delforge in Bogaert (Anm. 9) 135–50 (dort übrigens 152 eine Abbildung der Titelseite von Simons Übersetzung). 150 Seine Kritik an den „Messieurs de Port-Royal“ findet sich in Kap. XXXV–XXXIX der Histoire critique des versions du Nouveau Testament. 151 Vgl. dazu auch Lettres choisies II, 351–54. 152 Simon, Lettres choisies II, 333–45. 153 Ebd. 346–90. 154 Auvray 134. Dort 125–41 eine reich belegte Darstellung der wenig erbaulichen Vorgänge; vgl. auch Steinmann 334–40.

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eine ansprechende Bibelübersetzung hervorgehn.“ Die Folge der erneuten Katastrophe war für Simon: „Zu einer Uebersetzung des A.T. verging ihm natürlich die Lust.“155 Lust zu großen neuen Arbeiten hatte er in seinem letzten Jahrzehnt auch sonst nicht mehr. Er lebte in seiner Vaterstadt Dieppe und beschäftigte sich vor allem damit, „aus seinen Papieren und reichhaltigen Excerpten das Wichtigste zu sammeln und fragmentarisch in den Druck zu geben“156. Zu den ersten Sammlungen von „Lettres choisies“ (1700–1705) kamen die vier Bände der „Bibliothèque critique ou Recüeil de diverses pièces critiques dont la plûpart ne sont point imprimées ou ne se trouvent que très difficilement“ (1708–10). In beiden Werken spiegeln sich die Auseinandersetzungen aus Simons Vergangenheit und Gegenwart – Lust und Nötigung zu vielfältiger Kritik waren weder ihm noch seinen Gegnern vergangen. Seinen grimmigsten Gegner überlebte er um einen Tag weniger als acht Jahre: Bossuet starb am 12. April 1704, Simon am 11. April 1712. Über das Grab hinaus behielt scheinbar Bossuet das letzte Wort: die erst 1753 als zweiter Band seiner „Oeuvres Posthumes“ gedruckte „Défense de la Tradition et des Saints Pères“ ist größtenteils eine – verständnislose – Polemik gegen Simon. Bossuet kämpft hier wie überhaupt weniger auf biblischem als auf patristischem Terrain. Er sieht bei Simon „L’infaillibilité de l’Eglise ouvertement attaquée“ (Livre/Buch II), zeichnet ihn als „partisan & admirateur des Sociniens, & en même temps ennemi de toute la Théologie & des Traditions Chrétiennes“ (III); als „ennemi & téméraire Censeur des Saints Pères“ (IV), insbesondere des heiligen Augustinus, dessen Theologie er ihm anschließend acht „Bücher“ (V–XII) oder gut 300 Seiten lang um die Ohren schlägt. In der Tat war Simon kein besonderer Freund dieser Theologie gewesen, nicht nur was die Dogmatik und ihren philosophischen Hintergrund, sondern auch was das Verfahren mit der Bibel angeht; ich begnüge mich damit, einen einzigen Satz anzuführen: „il [Saint Augustin] a quelquefois accommodé l’Ecriture à ses idées, au-lieu qu’il devoit former ses idées sur [= aufgrund] l’Ecriture“157. Genau zweihundert Jahre nach der „Histoire critique du Vieux Testament“, 1878, erschien das Buch, das die moderne „historisch-kritische“ Arbeit am Alten Testament zur Blüte gebracht hat: der erste Band der damals von Julius Wellhausen geplanten „Geschichte Israels“, später158 „Prolegomena zur Geschichte Israels“ genannt. Im gleichen Jahr 1878 machte Wellhausen der „His155 Graf 236. – Die Anlage des oben Anm. 9 erwähnten Manuskripts zum Pentateuch ähnelt derjenigen des Neuen Testaments von Trévoux so sehr, dass sich der Gedanke an einen auch zeitlichen Zusammenhang nahelegt; die bevorstehende Edition wird darüber Aufschluss geben. Vgl. auch Auvray 151. 156 Graf 237. 157 Histoire critique du Vieux Testament 400; vgl. McKane (Anm. 6) 147. 158 In der 2. Ausgabe (1883).

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toire critique“ das größte bei ihm mögliche Kompliment, indem er sie „an geschichtlicher Bedeutung“ mit W.M.L. de Wettes „Beiträgen zur Einleitung in das Alte Testament“ von 1806/07 auf eine Stufe stellte159. Obwohl die historische Kritik am Alten Testament nicht mit Siebenmeilenstiefeln, sondern in vielen kleineren Schritten vor sich gegangen ist, wird man die drei Jahreszahlen 1678, 1806/07 und 1878 als ihre entscheidenden Stationen herausheben dürfen. Um Simons Position etwas genauer zu bestimmen, gehe ich noch zehn Jahre weiter und stelle neben Wellhausen dessen „höchst orthodoxe[n], aber höchst gelehrte[n] und gescheute[n] Freund“160 Theodor Zahn (1838–1933), den „um die Wende zum 20. Jahrhundert […] führenden Theologen der konservativ-kirchlichen Richtung in Deutschland“161. Er begann am 17. November 1888 seine programmatische Leipziger Antrittsvorlesung „Der Geschichtsschreiber und sein Stoff im Neuen Testament“ folgendermaßen: „Der französische Katholik Richard Simon, welchen man nicht ohne Recht als den Begründer der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft betrachtet, hat vor jetzt 200 Jahren [1689] in der Vorrede zu seiner ‚Histoire critique du texte du Nouveau Testament‘ das Urtheil ausgesprochen: Da die christliche Religion wesentlich aus Thatsachen bestehe, so sei die scholastische Methode in der Theologie diesem Gegenstand unangemessen und ungeeignet, ihre eigenen Zwecke zu erreichen. Indem ich mich bei dem Eintritt in den hochansehnlichen Kreis der Professoren dieser Universität von ganzem Herzen zu diesem Urtheil und insbesondere zur Voraussetzung desselben bekenne, wollte ich einerseits einer Ueberzeugung Ausdruck geben, welche heute nur eine Minderheit unter den wissenschaftlich thätigen theilt, meinte aber doch andererseits auch eine Wahrheit auszusprechen, welche nicht leicht bestritten werden kann. Das Christenthum ist ein Inbegriff geglaubter, erlebter und erhoffter Thatsachen; und alle christliche Theologie ist nur Ergründung, Deutung und Darstellung dieser Thatsachen.“162 Ich erinnere auch an den Untertitel der „Histoire critique“ von 1689163, aus dem man geradezu einen „apologetischen Ton“ herausgehört hat164. Mindestens was die Geschichte des ältesten Christentums angeht, lässt sich von Simon aus leichter eine Linie zu dem „Konservativen“ Zahn als zu dem „Kritiker“ Wellhausen ziehen. Ein weniger konservativer Neutestamentler urteilt, dass Simon „durch seine 159 (Bleek–)Wellhausen 4. 160 J. Wellhausen, Briefe (2013) 44. 161 U. Swarat, RGG4 VIII, 1779. 162 ZKWL 9 (1888) 581; auch in: Th. Zahn, Altes und Neues III (1930) 1; vgl. auch Altes und Neues NF (1928) 162, wo Zahn neben den Gegensatz zur „scholastischen Methode früherer Zeiten“ bei Simon auch die „zu den Protestanten“ stellt, „welche sich auf ihren esprit particulier d.h. auf das Zeugnis des hl. Geistes beriefen“; Zahn führt hier aus der Vorrede von 1689 die Begriffe „choses de fait“ und „matières de fait“ an. Zum Tatsachenbegriff ergiebig R. Staats, ZThK 70 (1973) 316–45. 163 S.o. 91. 164 Graf Reventlow (Anm. 6) 30.

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dogmatischen Voraussetzungen daran gehindert wird, aus seinen Erkenntnissen die sich aufdrängenden geschichtlichen Konsequenzen zu ziehen“165. Dabei ist noch etwas Anderes, tiefer Greifendes im Spiel, nämlich das Fehlen der eigentlich historischen Dimension. J. Le Brun hat geradezu von einer „absence de critique historique“ gesprochen – sehr verwunderlich angesichts von vier starken Bänden „Histoire critique“! – und dazu ausgeführt: „malgré (ou à cause de) son intelligence critique, Simon n’est pas conduit à une vision proprement historique des temps bibliques […]. Au-delà de la question de l’lauteur d’un texte, il n’essaie pas de poser le problème, sinon le résoudre, de la validité historique de témoignages très posterieurs aux faits qu’ils mentionnent. L’intérêt pour les milieux ou les institutions où s’est formé le texte, pour ‚l’histoire du texte sacrè et des différents changements qui lui sont arrivés depuis que les premiers originaux ont été perdus‘ (H.C.V.T. p. 180), masque la question de l’éventuelle ‚histoire‘ dont le texte rend compte.“ Das ist umso verwunderlicher, als, wie Le Brun zu Recht feststellt, Simon besonders in seinen frühen Schriften durchaus ein Interesse an anderen Zeiten und Kulturen bewiesen hat166. Statt diesem – wirklichen! – Problem hier weiter nachzugehen, stelle ich Simon zum Schluss nochmals in einen anderen Horizont, indem ich einem weiteren französischen Historiker das Wort gebe, der sein Gedächtnis erneuert hat, Marc Bloch (1886–1944), Mitbegründer der „Annales“, als führendes Mitglied der „Résistance“ ermordet. Er schreibt in seinem unvollendeten, nach seinem Tod erschienenen letzten Buch: „Richard Simon, der in der Gründergeneration unserer Wissenschaft einen Ehrenplatz einnimmt, hinterließ uns nicht nur bewundernswerte Lehrstücke der Exegese. Wie wir wissen, verwandte er seinen Scharfsinn eines Tages auch auf die Rettung einiger Unschuldiger, die unter der stupiden Anklage eines Ritualmordes standen167. Das war alles andere als ein Zufall. Auch hier ging es um das Bedürfnis nach intellektueller Redlichkeit. In beiden Fällen konnte es auf dieselbe Weise befriedigt werden. Das praktische Handeln, das ständig auf die Berichte anderer angewiesen ist, hat genauso wie die Forschung Interesse an der Überprüfung ihres Wahrheitsgehalts. Zu diesem Zweck verfügt es über keine anderen Instrumente. Oder besser gesagt, es verfügt über die Instrumente, die von der Forschung entwickelt wurden. […] In unseren Werkstätten ist [die kritische Methode] keine bescheidene Hilfskraft mehr. Weit größere Horizonte tun sich ihr auf, und die Geschichtswissenschaft darf es zu ihren unbestreitbarsten Ruhmestaten zählen, daß sie mit der Entwicklung ihrer Methode den Menschen einen Weg zur Wahrheit und damit auch zur Gerechtigkeit gewiesen hat.“168 165 W.G. Kümmel (Anm. 139) 46. 166 J. Le Brun (Anm. 6) 1370. 167 Es handelt sich um die Juden von Metz, s.o. 69. 168 M. Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers (22008) 150f. Die Kenntnis dieser Stelle verdanke ich G. Lauer, Die Rückseite der Haskala (2008) 11. Vgl. dort auch 79–89!

Johann Gottlob Carpzov 1679–1767

„Another Buxtorf“, einen neuen (um nicht zu sagen: den fünften!) Buxtorf nenne man in Deutschland den Leipziger Theologieprofessor und Archidiakon Johann Gottlob Carpzov, wusste 1729 ein Engländer seinen Landsleuten zu berichten1. Die Titulierung war als hohes Lob gemeint, und sie war nicht aus der Luft gegriffen. Carpzov betrachtete die „Anticritica“ des zweiten Buxtorf (1653) als Vorbild seiner eigenen „Critica sacra Veteris Testamenti“ (1728)2, die zusammen mit seiner „Introductio ad libros canonicos bibliorum Veteris Testamenti“ (1714–21) in einem noch umfassenderen Sinn als sämtliche Arbeiten der Buxtorfs das orthodoxe Bild vom Alten Testament repräsentiert – erst 1780–83 wurde Carpzovs Doppelwerk von Johann Gottfried Eichhorns im Stoff gleicher, in der Tendenz gegenläufiger „Einleitung in das Alte Testament“ abgelöst, aber die „Introductio“ blieb noch lange im Gebrauch, und sei es wegen der seitenlangen, sauber nach Konfessionen geordneten Aufzählung der älteren exegetischen Literatur, die sie zu jedem biblischen Buch bietet3. Man findet sich auch darin an die Buxtorfs erinnert, dass Carpzovs Tätigkeit in einem festen familiären Zusammenhang stand. Die Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche bespricht sechs Carpzovs4, und Werner Elert fand, das seien noch zu wenige5. Während des 17. und 18. Jahrhunderts brachte die Familie, in Sachsen ansässig, in ziemlich gleichmäßiger Verteilung ein reichliches Dutzend Doktoren der Theologie und der Rechte hervor, die sich, da fast alle durch Gelehrsamkeit, lutherische Orthodoxie und den Vornamen Benedikt ausgezeichnet, nicht immer leicht auseinanderhalten lassen. Johann Gottlob Carpzovs Onkel war Johann Benedikt II. (1639–99), auch er schon, und zwar aufgrund persönlicher Begegnung, vom jüngeren Buxtorf beeinflusst, Professor der morgenländischen Sprachen und dann der Theolo1  J.G. Carpzov, A Defence of the Hebrew Bible in Answer to the Charge of Corruption Brought against it by Mr. Whiston. Trans. by M. Marcus (1729), The Translators Preface V. 2  Vgl. den vorletzten Absatz in deren Vorwort. 3  Vgl. noch F. Bleek, Einleitung in das Alte Testament (31870) 17.156. 4  3III (1897) 725ff.; daraus einiges im Folgenden. 5  Morphologie des Luthertums I (1931) 3112.

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gie in Leipzig, daneben Archidiakonus, später Pfarrer an der Thomaskirche, scharfer Gegner des Pietismus, heftig im Streit mit Spener, Francke und Thomasius, Verfasser einer Schrift gegen Richard Simon, die die Anrede enthält „O Simon, Simon, ecce, ut te Satanas concupivit“6, einer Disputatio academica de ϑεοπνευστίᾳ Scripturae sacrae und eines Collegium Rabbinico-Biblicum in libellum Ruth, das nach seinem Tode sein Sohn Johann Benedikt III. herausgab. Der Neffe, so könnte es nach dieser Aufzählung scheinen, brauchte nachher nur noch zu repetieren. Sein Vater (1647–1707) hieß Samuel Benedikt, war in Dresden zunächst Hof-, dann als Speners Nachfolger Oberhofprediger und teilte, wenngleich in feinerer Weise, die kirchliche Position seines Bruders. Die Familie blieb ihrer Eigenart in ihrem letzten Vertreter noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts treu: 1767, im Todesjahr des Johann Gottlob, erschien ein Liber doctrinalis theologiae purioris, dessen Verfasser, Johann Benedikt V., als Professor in Helmstedt und Abt zu Königslutter noch bis 1803 lebte, seine Vorlesungen in alter Weise nur lateinisch hielt, sich aber damit abfinden musste, dass seine Tochter den Rationalisten Henke heiratete. Johann Gottlob Carpzov, geboren 1679 in Dresden, studierte in Wittenberg, Leipzig und Altdorf, besuchte als sächsischer Gesandtschaftsprediger England und Holland (dort besonders die Universität Leiden), wurde 1704 Diakonus an der Kreuzkirche in Dresden, 1708 dasselbe an der Thomaskirche in Leipzig und 1714 ebendort Archidiakonus. Dort ergab es sich, dass er Kinder von J.S. Bach taufte und dass seine eigene Tochter Patin einer Bach-Tochter wurde7. Daneben wirkte er an der Universität, seit 1709 als Baccalaureus, seit 1713 als (außerordentlicher) Professor der Theologie, seit 1719 der orientalischen Sprachen8; 1724 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert. Seinen eigentlichen Mentor fand er in dem seit 1709 in Dresden tätigen Valentin Ernst Löscher (1673–1749). Er pflegte die barocke briefliche Anrede an ihn mit den Worten „Insonders Hochgeneigter Patron und Vater in Christo“ zu beschließen9, die Critica sacra schickte er ihm mit der Bitte um „die hohe Güthe, […] das Buch so wohl als dessen Autorem, in Dero Schuz“ zu nehmen10. Mit Löscher teilte er die Aversion gegen den damals in Sachsen einflussreichen Pietismus, vor dem er 1730 nach Lübeck auswich, um die dortige Superintendentur zu übernehmen. Hier konnte er sein starkes kirchenpolitisches Temperament ausleben. Er hielt oder machte die Hansestadt, unterstützt von einem willigen 6  J.B. Carpzov, Historia critica Veteris Testamenti autore Richardo Simone […] oratione inaugurali discussa (1684) 35. 7  Vgl. Bach-Dokumente, hg. vom Bach-Archiv Leipzig II (1969) 177.200; M. Petzoldt/J. Petri, Johann Sebastian Bach (1988) 146f. 8  Vgl. im übrigen zum Biographischen und Bibliographischen J.Ch. Adelung, Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico II (1787) 133– 36 sowie C. Siegfried, ADB IV (1876) 23–25. 9  Brief vom 10.12.1709 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Sup. ep. 73, 200) u.ö. 10  Brief vom 3.6.1728 (ebd. 73, 202).

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Magistrat, energisch vom Unwesen der Katholiken, Reformierten und Pietisten, besonders der Herrnhuter, frei, getreu dem alttestamentlichen Gebot der „Heiligung des abgesonderten Volkes Gottes“ (Lev 20,26), über das er 1739 in der Marienkirche eine programmatische Predigt hielt, die er im Druck mit einer Widerlegung der Theologie ausgewählter herrnhutischer Gesangbuchstellen versah11. Der schlimmste Ort und geradezu schon ein Reizwort war für ihn Halle, als Wirkungsstätte nicht nur von Francke, sondern ebenso von Thomasius und Wolff. Im Kampf an allen diesen Fronten hat er seine nicht geringen Mittel als Theologe und Hierarch unablässig eingesetzt, offenkundig ohne jeden Zweifel am Recht der eigenen Sache in „grundverderbten Zeiten“12. Zum Gefährlichsten der „ultima mundi senecta“, in der er zu leben meinte, gehörten für ihn die Angriffe auf die volle Integrität und Authentizität des Bibeltextes. Er sah darin eine Gefahr für den Glauben, eine Waffe für den Skeptizismus und dessen noch schlimmere Frucht, den Atheismus. „Wenn die Fundamente eingerissen werden, was soll der Gerechte tun?“, fragte er mit einem (textlich nicht unproblematischen) Psalmvers (11,3) und antwortete, indem er seinen Studenten gegen jene „serpens lues“ und „grassans pestis“ das nötige Gegengift verabreichte. Diesem Zweck diente ganz ausdrücklich nicht nur die Critica Sacra13, sondern auch die Introductio. Sie erwuchs aus dem akademischen Unterricht und war wie er dazu bestimmt, zu lehren, „quae circa asserendam Scripturae Sacrae autoritatem, eamque a μισοβίβλων et Pseudo-Criticorum strophis vindicandam, tum circa librorum sacrorum appellationes varias, Scriptores, argumenta, scopum, chronologiam et partitionem tenenda Theologiae consecraneo essent“. Zunächst also – und das doch wohl durchaus, wie Carpzov angibt, im Sinne der Studenten – die Absicht und Tendenz, danach der Stoff14! In der Critica sacra wird vorgeführt, wie der göttliche Ursprung und damit die Autorität der Schrift zu erweisen ist, und zwar einerseits, ziemlich harmlos, bei einfacheren Gemütern, die es zu stärken oder zu bekehren gilt, andererseits in der Polemik gegen die Adversarii Scripturae, darunter die Atheisten. Hierbei gibt es zwei Arten von Argumenten: inductiva, die die fides humana, und convictiva, die die fides divina erzeugen. Letztere sind eigentlich nur ein einziges, nämlich das Wirken des Heiligen Geistes. Die argumenta inductiva gliedern sich ihrerseits in interna, d.h. in der Schrift selbst enthaltene, und externa, d.h. solche, die von außen hinzutreten. Für die argumenta interna sind die Stichworte: contentorum Scripturae veritas; doctrinae Sanctitas; mysteriorum sublimitas; consolationum suavitas; incredibilis Scrip11  J.G. Carpzov, Die Heiligung des abgesonderten Volkes Gottes (21740). 12  Brief an E.S. Cyprian vom 15.1.1744, bei Th. Wotschke, Briefe des Lübecker Superintendenten Johann Gottlob Carpzov (ZGSHG 25 [1926] 414–49) 435. Diese Sammlung ist die wichtigste gedruckte Quelle für unsere Kenntnis von Carpzovs Wirken. 13  Vgl. zum Vorstehenden den ersten Absatz ihrer Praefatio. 14  Dazu kommt noch die Aufzählung der vorhandenen Kommentare. Introductio I, Praef. zweiter Absatz und passim.

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turae efficacia et potestas; vaticiniorum eventu comprobata veritas; styli majestas et singularitas; harmoniae librorum concinnitas. Dazu die wichtigsten unter den argumenta externa: tam libri, quam argumenti antiquitas; Scriptorum Sacrorum ἀξιοπιστία; perpetua et non interrupta omnium seculorum testificatio; constans sanctorum Martyrum obsignatio; coetus illius, qui scriptorum Biblicorum custos est, tum et ipsius codicis sacri, conservatio. Wer sich dem allen boshaft verschließt, gegen den ist das „Hebe dich, Satan, von mir!“ aus Mt 16,23 geboten, bis er vielleicht doch den Argumenten Raum gibt15. Gewiß hat Carpzov diese Argumente in seinen Leipziger Vorlesungen allesamt ausgiebig behandelt, in seine Lehrbücher ist ein guter Teil davon je an seinem Ort eingegangen. Den Anfang machte die Introductio. Ihr erster Teil, über die geschichtlichen Bücher, kam 1714 heraus, der zweite, über die poetischen Bücher, 1720, der dritte, über die prophetischen Bücher, 1721; er enthält eine Praefatio, die sich mit einer Rezension des ersten Teils in den Mémoires pour l’Histoire des Sciences et des beaux Arts16 auseinandersetzt, und Paralipomena zu allen drei Teilen17. Die Neuausgaben von 1731 und 1741 enthalten keine Veränderungen. Sogleich nach Fertigstellung der Introductio begann die Arbeit an der Critica sacra. Auch dieses Werk sollte drei Teile umfassen, von denen der erste den hebräischen Text, der zweite die Übersetzungen, der dritte die nichtkanonischen Schriften, also Apokryphen und Pseudepigraphen, ja auch noch Talmud und Koran als die von den Ungläubigen der heiligen Schrift entgegengestellten Bücher behandeln sollte18. Über die Gegenstände der ersten beiden Teile veranstaltete Carpzov von 1721 bis 1726 21 öffentliche Disputationen, die mit ihrem Datum und mit kurzen Angaben über den jeweiligen Respondenten am Anfang der vollständigen Critica sacra verzeichnet sind. Diese, 1728 erschienen, 1748 wieder aufgelegt, bietet die ersten beiden Teile wie im Programm vorgesehen und überwiegend als Neudruck jener Disputationen, als dritten Teil aber eine Polemik gegen die „Pseudokritik“ William Whistons, der 1722 in seinem „Essay towards restoring the true Text of the Old Testament, and for vindicating the Citations made thence in the New Testament“ eine weitgehende jüdische Verfälschung des ursprünglichen Textes in antichristlichem Sinn nachzuweisen und Wege zu seiner Wiederherstellung aus den alten Übersetzungen, Philo, Josephus, dem Neuen Testament und anderen 15  Critica sacra 69–89. 16  1719, 197–216. 17  Darunter der Neudruck eines Programms von 1714 gegen J. Toland (III, 469–80). Die Disputation de ecclesiae Judaicae prophetis in genere, mit der Carpzov 1714 die Würde eines Lizentiaten der Theologie erwarb, ist in das Anfangskapitel von Bd. III eingegangen. 18  Critica sacra 18f. Dort auch die Abgrenzung gegen die Philologia sacra, deren Behandlung in dem berühmten Werk des Salomo Glassius (zuerst 1623–36) Carpzov hoch schätzte (Critica sacra 24f.), und gegen die weitgehende Einbeziehung der Philologia sacra in die Critica sacra durch August Pfeiffer (1688), der ihm im Blick auf diese Disziplin als der „primus omnium“ unter den Lutheranern galt (ebd. 25f.).

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Quellen zu zeigen unternommen hatte19. Whistons Position war der orthodoxen entgegengesetzt und bot zugleich so viele Angriffsflächen, daß Carpzov die Gelegenheit zu einem leichten Sieg bekam, wobei sich die Erörterungen in den ersten beiden Teilen der Critica sacra variieren und vervollständigen ließen. Carpzov erwarb mit der Disputation dieser Anti-Pseudokritik 1724 den Grad eines theologischen Doktors und war vielleicht ganz froh, einen zu den ersten beiden Teilen passenden Ersatz für die ihm stofflich ferner liegende Behandlung der nichtkanonischen Literatur am Ende der Critica sacra zu haben. Die Zunahme der Amtsgeschäfte schon in den letzten Leipziger Jahren und dann vollends in Lübeck sorgte dafür, dass diese Art wissenschaftlicher Arbeit an die zweite Stelle trat. Immerhin kam mitten in der Lübecker Zeit noch einmal ein ziemlich pompöses Werk zustande, der Apparatus historico-criticus antiquitatum et Codicis sacri et gentis Hebraeae, uberrimis annotationibus in Thomae Goodwini Mosen et Aaronem (1748). Der Umfang der Annotationes übertrifft den des zunächst abgedruckten Goodwinschen Textes bei weitem; es sind auch wieder einige ältere Disputationen beigegeben. Den Plan einer Einleitung in das Neue Testament20 hatte Carpzov noch in der Leipziger Zeit aufgegeben; er versah stattdessen die ganz in seinem Sinn geschriebene Commentatio critica ad libros Novi Testamenti in genere des J.W. Rumpaeus (1730) mit einem empfehlenden Vorwort. Der entscheidende Gesichtspunkt für die Critica sacra ist bei Carpzov ihre Unterscheidung von der profanen Kritik. Weil die heilige Schrift durch die göttliche Vorsehung vor aller Verderbnis geschützt worden ist, braucht die Kritik hier nicht wie bei den profanen Autoren Fehler festzustellen und zu verbessern. Der Kritik mit Clericus auf beiden Gebieten die gleiche Aufgabe zuzuweisen, hat böse Folgen, wie sich an Richard Simon zeigt, der, diese Anregung begierig aufgreifend, die Autorität der heiligen Schrift gleich im ersten Absatz seiner Historia critica Veteris Testamenti untergräbt21, indem er von den irrtumsfreien Autographen deren Abschriften unterscheidet, die von Menschen aufbewahrt und weiter abgeschrieben wurden und dabei infolge der Länge der Zeit und mangelnder Sorgfalt der Abschreiber viele Veränderungen erfuhren, die nun auf normale Weise zu verbessern sind22. Das ist in Carpzovs Augen eine arglistige Täuschung. Denn das Alte Testament wurde nicht einfach menschlicher Obhut anvertraut, sondern dem Gebrauch der Kirche, und durch die göttliche Gnade bewahrt kam es unversehrt bis auf unsere Zeit. Dieser Umstand verbietet die Anwendung der sonst geläufigen Kritik; die oracula divina kön19  Über die bemerkenswerte Figur Whistons vgl. J.E. Force, William Whiston (1985), über seine Stellung zur Bibel und die dadurch in England ausgelöste Debatte H. Graf Reventlow, Bibelautorität und Geist der Moderne (1980) 596–604. 20  Vgl. Introductio I Praef. und die Praef. zu Rumpaeus, beidemale im vorletzten Absatz. 21  Es sollte doch deutlich sein, dass ich hier Carpzovs und nicht meine Meinung wiedergebe (zu S. Müller, Kritik und Theologie, 2004, 4022440). 22  S.o. 74.

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nen nicht humanae censurae et examini unterworfen werden. Was dabei herauskäme, sieht man an den Meinungsverschiedenheiten über die Lesarten im Neuen Testament; es gäbe keine Sicherheit mehr über den Wortlaut des heiligen Textes. Eben das wünscht man sich in Rom23! Was die Entstehung der Bibel angeht, heißt der Schlüsselbegriff Theopneustie. Es handelt sich dabei um eine besondere Offenbarungsform24, die noch über das gewöhnlich unter Inspiration Verstandene hinausgeht25. Um sie in Carpzovs Sinn kurz zu beschreiben, halte ich mich an die neun canones, die er zum Abschluss einer längeren Erörterung aufgestellt hat26. 1. Das göttlich Inspirierte ist in keinem Bestandteil aus Geist oder Willen der Schriftsteller hervorgegangen, sondern völlig Gott und seinem Geist zuzurechnen. Damit wird die Meinung von Katholiken und Hugo Grotius abgelehnt, bei geschichtlichen Gegenständen, die die Schriftsteller schon vorher gewusst hätten, seien sie nicht inspiriert gewesen; ebenso die arminianische, bei Nebenumständen seien sie ihrer menschlichen Natur und Schwäche überlassen gewesen; vor allem aber die, sie hätten die ältere Geschichte aus Annalen oder alten Denkmälern geschöpft (I. Peyrerius, R. Simon, J. Clericus). 2. Was die biblischen Schriftsteller schon vorher wussten, musste ihnen, um in die heilige Schrift einzugehen, aufs neue durch Inspiration eingegeben werden. Sie handelten ja nicht als private Schriftsteller, sondern als Sekretäre Gottes, in völliger Abhängigkeit von seiner unmittelbaren Einwirkung. So lässt sich z.B. nicht sagen, das Evangelium des Johannes gehe in geringerem Maß auf Theopneustie zurück als seine Apokalypse, weil er im Evangelium Dinge berichte, die er selbst erlebt habe. Sonst gälte ja auch nicht πᾶσα γραφὴ ϑεόπνευστος (2 Tim 3,16) – ein für Carpzov natürlich sehr wichtiges, von ihm häufig angeführtes Wort. 3. Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form geht auf Gott zurück, also Disposition, Worte und Stil. Theopneustie ist eben mehr als einfache Offenbarung. Dass die biblischen Schriftsteller verschieden schreiben, liegt daran, dass der heilige Geist sich, als er sie inspirierte, ihrer Eigenart akkommodiert hat. 4. Anders als bei der Offenbarung (Num 12,6–8; Hebr 1,1) gibt es bei der Inspiration keine Verschiedenheit der Arten und Stufen. Damit entfällt auch die jüdische Anschauung von einer Rangfolge der drei Kanonsteile vom Gesetz über die Propheten hinab zu den Hagiographen. 5. Es ist unmöglich, dass die heilige Schrift Barbarismen, Solözismen oder falsche Redeweisen enthält; sonst würde entweder dem heiligen Geist ein Fehler zugeschrieben oder die wörtliche Inspiration geleugnet. 6. Es ist Lästerung, Gottes Sekretäre der Lüge oder des Irrtums zu verdächtigen. 23  Critica sacra 16f. 24  Ebd. 38f. 25  Ebd. 43. 26  Ebd. 56–62.

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7. Wirkliche Widersprüche innerhalb der Schrift kann es nicht geben; die göttliche Wahrheit kann nur eine sein, der heilige Geist kann sich nicht selbst widersprechen. Trotzdem bestehende scheinbare Widersprüche können aufgehoben und ausgeglichen werden, wobei die heilige Schrift gleichsam das Fundament, die heilige Hermeneutik und die Logik gleichsam das Instrument des Ausgleichs sind. Carpzov verweist auf die diesbezüglichen Bemühungen des Juden Menasse ben Israel, des Lutheraners Michael Walther und des Reformierten Joh. Scharpius sowie, da in unserer Sicht doch einige insolubilia bleiben, auf die Ausführungen Joh. Gerhards über die Gründe, aus denen Gott gewollt hat, dass die Schrift einiges ziemlich dunkel Gesagte enthalte. 8. Die heilige Schrift ist von allen menschlichen Schriften durch einen großen Unterschied an Autorität und Wirksamkeit getrennt und von der dreisten Zensur und Korrektur durch die Pseudokritiker befreit. 9. Wo wir die Namen der inspirierten Schriftsteller nicht kennen, macht das für die Autorität der Schrift nichts aus, es ist eine historische, keine dogmatische Frage. Dagegen die deutliche Nennung des Schriftstellers in anderen Büchern anzuzweifeln bedeutet den Krieg gegen die Glaubwürdigkeit der Schrift selbst. Man kann sich ohne viel Phantasie vorstellen, wie eine Einleitungswissenschaft aussehen muss, die diese Maximen nicht nur nicht verletzen, sondern vielmehr konsequent und militant durchführen will. Was ihrer Carpzovschen Ausprägung in späterer Sicht vor allem gefehlt hat, sei mit Worten zweier Exegeten des ausgehenden 18. Jahrhunderts belegt, Rosenmüller und Eichhorn. Zunächst Rosenmüller: „Eine Kritik, welche von den bereits im System festgesetzten Begriffen von Inspiration, Authentie und Integrität des Textes ausgehet, hat eben dadurch schon im voraus eines der ersten Erfordernisse einer richtigen Kritik, Unbefangenheit, aufgeopfert. Die stete Sorge, dem System nichts zu vergeben, beengt den Geist, und hemmt jede freyere Untersuchung. Ein solches Verfahren erinnert an Damastes [= Prokrustes], der jeden Fremden, mit Verlust der natürlichen Länge desselben, einem seiner eisernen Betten anzupassen suchte.“27 Und Eichhorn: „Carpzov bot (1728) noch einmahl das ganze Heer von jüdischen und christlichen Sophistereyen auf, welche Rabbinen und dogmatische Systeme der freyen Ansicht des A.T. und einer gesunden Exegese entgegenstellten.“28 Man wird ihn einen Advokaten nennen dürfen, dem der Wille und die Fähigkeit abgingen, das Recht auch auf der Gegenseite zu sehen. Wer der prinzipiellen Unterscheidung der Critica sacra von der profanen Kritik nicht zustimmte, für den konnten Carpzovs Beweisgänge keine Überzeugungskraft besitzen. Denn gerade das, worin er sich den Gegnern überlegen, ja unüberwindlich glaubte, war in ihren Augen seine entscheidende Schwäche, dass er 27  E.F.K. Rosenmüller, Handbuch für die Literatur der biblischen Kritik und Exegese I (1797) 494. 28  J.G. Eichhorn, Geschichte der Litteratur von ihrem Anfang bis auf die neuesten Zeiten III/1 (1810) 498; ähnlich V/1 (1807) 557.

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nämlich bei seinen Argumentationen immer wieder, wie einen Joker im Kartenspiel, die Theopneustie und die göttliche Providenz zu Hilfe nahm. So schon beim ersten und wichtigsten Thema der Critica sacra, der Integrität des hebräischen Bibeltextes. Sie steht Carpzov in Übereinstimmung mit seinen oben aufgeführten canones aus folgenden Gründen fest: 1. Die Theopneustie und der Heilszweck der Schrift lassen nicht zu, dass ihr Text auch nur die geringste Verfälschung erlitten hat. 2. Sonst wären auch neutestamentliche Worte wie Mt 5,18 („kein ἰῶτα und keine ϰεραία werden vergehen“), Joh 5,39 (ἐραυνᾶτε τὰς γραφάς) und Röm 3,2 („denen die λόγια τοῦ ϑεοῦ anvertraut sind“) sinnlos. 3. Die göttliche Vorsehung muss den Kanon dauernd unversehrt bewahren; „alioquin Deus suum non assecutus esset finem“. 4. Juden und Christen bis hin zu den Masoreten und den Druckern haben gut für die Schrift gesorgt. 5. Seit der Zeit der Apostel, wo die Schrift in Ordnung war (s. 2), gab es keine Gelegenheit mehr, sie zu verfälschen29. Nachdem Carpzov dies alles festgestellt hat, begibt er sich ins Handgemenge mit den Gegnern, wobei er deren Argumente durchaus sorgfältig referiert und gelegentlich auch mit Recht zurückweist, z.B. eine etwas phantastische Theorie R. Simons über Blattvertauschungen30. Anderswo kommt er in Schwierigkeiten, so bei den Abweichungen des Wortlauts paralleler Texte in verschiedenen Büchern, einem Hauptargument des Cappellus. Hier übertrumpft er eigene Harmonisierungsversuche (etwa: manche der erwähnten Personen hätten zwei oder sogar drei Namen gehabt) noch bei weitem mit dem schlagenden Hinweis, der heilige Geist müsse eben schwerwiegende Gründe gehabt haben, als er dem einen Schriftsteller die eine, dem anderen die andere Lesart eingab; aus unserer Unkenntnis dieser Gründe dürfen wir der Schrift keinen Strick drehen31. Heikel sind natürlich die vom hebräischen Text abweichenden Zitate des Alten Testaments im Neuen. Auch hier hat der heilige Geist seine Gründe gehabt. So wollte er etwa, indem er die Septuaginta benutzte, dem an sie gewöhnten Leser oder Hörer Verwirrung ersparen, oder indem er sowohl vom hebräischen als auch vom griechischen Text abwich, natürlich nur ein wenig (paululum), tat er das zugunsten der applicatio32. Eindeutiger (und kürzer) geht es bei den Abweichungen der Versionen. Diese sind, anders als der göttliche (hebräische) Text, der Verderbnis ausgesetzt gewesen; es wäre absurd, aus ihnen einen authentischen Text herstellen zu wollen. Esto vero solus Deus verax, omnis autem homo mendax (Röm 3,4)33! Dieser Satz, derart als Prinzip verwendet, erträgt eigentlich nicht die Konzession auch nur eines „paululum“ und muss sie, wo sie gar 29  Critica sacra 97–106. 30  Ebd. 116–18. 31  Ebd. 120f. 32  Ebd. 122–24, vgl. 854–99. 33  Critica sacra 124f.

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nicht zu umgehen ist, sowohl herunterspielen als auch durch Verweis auf den heiligen Geist sanktionieren. Carpzov polemisiert in solchem Zusammenhang wiederholt – ungern und ohne Nennung des Namens, der dann freilich mit Hilfe des Registers leicht einzusetzen ist – gegen den Tübinger Pfaff, „weil er von der authentia et autoritate, auch integritate scripturae so gar nachtheilig geschrieben, und durch seine famam und autoritaet die unerfahrnen leicht verleiten möchte“34. Pfaff hatte eine völlige Integrität des Bibeltextes in Abrede gestellt und nur an einer solchen festgehalten, bei der die vorhandenen Textfehler keinen Artikel des Glaubens und auch nicht „textus sacri certitudinem“ in Mitleidenschaft zögen. Das konnte Carpzov nicht zugeben. Wohl aber musste er notgedrungen der Unterscheidung beistimmen, die Pfaff in Übereinstimmung mit anderen zwischen der integritas Scripturae und der integritas codicum vollzog; Mängel der zweiten tangieren aber die erste nicht, sie sind ohnehin äußerst gering und durch die Noten der Masoreten richtiggestellt35. Scharf widerspricht Carpzov, wo Pfaff, natürlich wiederum nicht als einziger, aus der Septuaginta bzw. dem Neuen Testament auch nur auf eine andere Punktation des hebräischen Konsonantentextes schließt; die Punkte, sowohl die, die die Vokale, als auch die, die die Akzente bezeichnen, sind von vornherein dabei gewesen36. Bei der langen Beweisführung spielt natürlich auch hier die göttliche Providenz ihre Rolle: „An etiam credibile est, Deum verbum suum ita scriptum populo suo exhibere voluisse, ut tot in locis ipsis fuerit obhaerendum, et de vera lectionis divinatione diu cogitandum?“37 Ich muss darauf verzichten, von Carpzovs Vorgehen in der später so genannten speziellen Einleitung, also der Behandlung der einzelnen biblischen Bücher, Beispiele zu geben. Meist würden sie nur das schon Gesagte illustrieren, und das Besondere an Carpzovs Arbeit liegt nicht in einzelnen exegetischen Thesen, sondern in der Konsequenz, mit der hier noch einmal die einschlägigen Grundsätze der Orthodoxie aufgestellt und durchgeführt wurden. Seine Maxime war, „non tam nova quam vera sectari“38. Wenn er in der Polemik gegen Whiston von England sagte: „semper aliquid novi portat“39, dann sollte das natürlich kein Kompliment sein. Gleichwohl ist seiner Introductio noch nach einem Jahrhundert durch keinen Geringeren als August Tholuck „epochemachende Bedeutung“ zugesprochen worden40. Sehr zu Unrecht. Wenn Carpzov etwas bewirkt hat, dann dies, dass die deutschen Theologen in ihrer Mehrzahl ein paar Jahrzehnte länger ein gutes Gewissen hatten, wenn sie sich auf diesem 34  Brief an Löscher vom 3.6.1728 (s. Anm. 9). 35  Critica sacra 93–97, vgl. 283–387. 36  Ebd. 122.124, vgl. 242–75. 37  Ebd. 249. 38  Introductio I, letzter Absatz der Praefatio. 39  Critica sacra 789. 40 RE 1II(1854) 588f. (2III, 1878, 149).

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Felde den neuen Ideen aus dem Westen verschlossen. „Noch stand am Anfange des Jarhunderts R. Simon als ein unüberwundener Riese, auf den bis dahin nur Kinderpfeile geschossen waren, vor den Augen der Theologen.“41 Das mag sein, aber war er denn, nachdem Carpzov seine Kanone bedient hatte, umgefallen? Wenn schon nicht seine Antworten, oder doch nur einige von ihnen, so hatten doch seine Fragen Bestand, oder doch mindestens das Recht, diese Fragen zu stellen, und das war zweifellos die Hauptsache. Man hat ganz ansprechend gemeint, die „Hemmung, welche Carpzov der Bibelkritik in den Weg warf“, sei „von einem höheren Standpunkt aus als eine Förderung zu betrachten, indem sie die Wissenschaft nöthigte, sich mit dem gediegenen Material Carpzov’s gründlich auseinanderzusetzen und die historische Kenntniß von der Entstehung der alttestamentlichen Bücher fester zu begründen“42. Ob das in größerer Breite zutrifft, wage ich nicht zu sagen; insgesamt haben die wirklich epochemachenden Bibelkritiker der Folgezeit auch und gerade einen Carpzov doch wohl eher links oder vielmehr rechts liegen gelassen, als dass sie sich mit ihm eingehender beschäftigt hätten. Für Eichhorn war Carpzovs Neubearbeitung von Goodwin43 „der Schutthaufen […], den die Unkritik […] zusammengebracht hat“44. Ein Schutthaufen mag für verschiedene Zwecke benutzt werden können; Gegenstand „gründlicher Auseinandersetzung“ ist er kaum. Mitten im 19. Jahrhundert fand ein Exeget manche von Carpzovs Argumenten darum interessant, „weil dieselben schlagend an die Polemik der heutigen Apologeten erinnern“45, und ein anderer nannte die konservativen Isagogiker Hävernick und Keil im Verhältnis zu Carpzov „Erneuerer seines Standpunktes in neuester Zeit“46. Wenn das damals noch möglich war – vom 20. Jahrhundert sei hier geschwiegen –, kann man Carpzov beinahe als entschuldigt ansehen. Ohnehin sollte einen Stein auf ihn auch als kritischer Exeget nur der werfen dürfen, der sich wirklich der „Unbefangenheit“ und der Freiheit von „Sophisterey“ rühmen darf, die Carpzov vermissen ließ. Carpzov umgekehrt rühmte sich, von Kindesbeinen an die heilige Schrift geliebt und sich mit ihr beschäftigt zu haben47, und der Critica sacra schrieb er zu: necessitas (sogar urgentissima), jucunditas (sogar perjucunditas), utilitas und arduitas48. Ich denke, man kann ihm darin folgen, auch wenn man die Critica sacra so betreibt, dass Carpzov sich zu noch heftigerer Polemik veranlasst sehen würde als gegen die damals Lebenden und Toten. 41  Tholuck ebd. 42  C. Siegfried, ADB IV (1876) 23. 43  S.o. 102. 44  J.G. Eichhorn, Litterärgeschichte II (1814) 587. 45  L. Diestel, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche (1869) 33329. 46  Siegfried a.a.O. 24. 47  Introductio I Praef. zweiter Absatz. Vgl. auch die Verse M. Walthers vor dem ersten Kapitel. 48  Critica sacra 7f.

Jean Astruc 1684–1766

Ein deutscher Redner1 freut sich immer, wenn er mit einem Goethe-Zitat beginnen kann. Das ist in diesem Falle leicht, denn über Jean Astruc hat Goethe sich tatsächlich geäußert. Enttäuscht von der geringen Resonanz seiner naturwissenschaftlichen Schriften stellte er beim Publikum das Verlangen fest, dass jeder „in seinem Fache bleibe“, „daß ein Talent das sich in einem gewissen Feld hervortat, dessen Art und Weise allgemein anerkannt und beliebt ist, aus seinem Kreise sich nicht entferne, oder wohl gar in einen weit abgelegenen hinüberspringe“. Aber, so Goethe, „jedes energische Talent“ ist „ein allgemeines, das überall hinschaut und seine Tätigkeit da und dort nach Belieben ausübt. Wir haben Ärzte, die mit Leidenschaft bauen, Gärten und Fabriken anlegen, Wundärzte als Münzkenner und Besitzer köstlicher Sammlungen. Astruc, Ludwig des Vierzehnten Leibchirurg, legte zuerst Messer und Sonde an den Pentateuch, und was sind nicht überhaupt schon die Wissenschaften teilnehmenden Liebhabern, und unbefangenen Gastfreunden schuldig geworden! Ferner kennen wir Geschäftsmänner als leidenschaftliche Romanleser und Kartenspieler, ernsthafte Hausväter jeder andern Unterhaltung die Theaterposse vorziehend. Seit mehreren Jahren wird uns zum Überdruß die ewige Wahrheit wiederholt, daß das Menschenleben aus Ernst und Spiel zusammen gesetzt sei, und daß der Weiseste und Glücklichste nur derjenige genannt zu werden verdiene, der sich zwischen beiden im Gleichgewicht zu bewegen versteht, denn auch ungeregelt wünscht ein jeder das Entgegengesetzte von sich selbst, um das Ganze zu haben!“2 Der deutsche Redner freut sich, dass das Zitat ihm Gelegenheit gibt, in aller Ehrfurcht ein triumphierendes „Hier irrt Goethe“ zu sagen – Astrucs Ludwig war nicht der vierzehnte (1643–1715), sondern der fünfzehnte (1715–74)3 –, 1  S. 108–23 wurden auf einer Konferenz vorgetragen, die aus Anlass des 250jährigen Jubiläums von Astrucs „Conjectures“ und Lowths „Praelectiones“ im April 2003 in Oxford stattfand. Der Konferenzband (Sacred Conjectures, ed. J. Jarick, 2007) enthält zu beiden Themen manches Förderliche. 2  Frankfurter Ausg. I/24, 417f. (Zur Morphologie. Erster Band). 3  Der Galionsfigur der deutschen Klassischen Philologie war es beschieden, Goethe noch

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aber er freut sich vor allem – und hofft, sein Publikum folge ihm darin – über das hübsche Bild vom Chirurgen, der mit seinen Instrumenten auch die Bibel behandelt. Heute ist der Mediziner Astruc, Verfasser einer imposanten Reihe von Büchern und zu Lebzeiten weit über seinen engeren Wirkungskreis hinaus eine Berühmtheit, nur noch wissenschaftsgeschichtlichen Spezialisten bekannt, während der Bibelgelehrte nach wie vor in jedem Lehrbuch der Einleitung in das Alte Testament figuriert. Wie haben die Beschäftigungen sich bei ihm selbst zueinander verhalten? Sicher: an der Bibelwissenschaft hat er als „Liebhaber“ und „Gastfreund“ teilgenommen. Aber war sie ihm darum so etwas wie Kartenspiel oder Theaterposse? Oder gab es bei ihm tiefere Gründe für gerade dieses „Entgegengesetzte“? Und hatten beide Beschäftigungen auch etwas Gemeinsames, etwa im Sinne des Goetheschen Bildes? Gehörte er in alledem zu den „Weisesten“ und „Glücklichsten“? Wir kennen Astruc, den Menschen einer uns nun schon recht fernen Zeit, nicht gut genug, um diese Fragen ganz zureichend beantworten zu können, aber einige Aufschlüsse halten sein Leben und Werk doch bereit. Jean Astruc wurde am 19. März 1684 in Sauve, einer Stadt des Languedoc, sozusagen im Dreieck mit Nîmes und Montpellier, geboren. Er blieb dieser Landschaft immer verbunden; zu seinen großen Werken gehören eine „Naturgeschichte“ des Languedoc4 und eine Geschichte der medizinischen Fakultät in Montpellier, letztere abgefasst, als er längst in Paris lebte, und erst nach seinem Tod erschienen5. Sein Familienname begegnet in dieser oder ähnlicher Form bei Juden in Spanien und Südfrankreich nicht selten6, so dass man auch für ihn eine jüdische Herkunft vermutet hat, die ein Motiv für sein Interesse am Alten Testament gewesen sein könnte7. Aber mit größerer Wahrscheinlichkeit lässt sich dieses Interesse auf den Einfluss seines Vaters Pierre Astruc8 zurückführen, der zur Zeit der Geburt des zu überbieten: nicht nur lebte Astruc am Hof Ludwigs XIV., er war auch getaufter Jude, und die Kritik der Bibel durch Simon (†1712), Spinoza (†1677) und Clericus (†1736) „folgte nach“ (U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie, 1921, 31998, 28). 4  Mémoires pour l’histoire naturelle de la province de Languedoc (1737). 5  Mémoires pour servir à l’histoire de la Faculté de Médecine de Montpellier (1767). Darin (293) ein ganz kurzer eigener Lebenslauf und, nachträglich vorangestellt (xxxiii–lii), ein ausführliches Elogium auf Astruc aus der Feder seines jüngeren Kollegen A.-Ch. Lorry, das die Grundlage aller seitherigen biographischen Darstellungen und so auch der folgenden bildet. Ergiebig: E. Ritter, BSHPF 65 (1916) 274–87; P. Alphandéry, RHPhR 4 (1924) 54–72; A. Lods, RHPhR 4 (1924) 109–39.201–27; A.-M. Latour, DBF 3 (1939) 1391–94; J. Doe, Journal of the History of Medicine 15 (1960) 184–97 (mit Bibliographie); P. Huard/M.-J. Imbault-Huart, Biographies médicales et scientifiques: 18e siècle (1972) 7–30 (mit Bibliographie); P. Huard, Dictionary of scientific biography 1 (1981) 322–24; A.M. Acosta, Eighteenth-Century Studies 35 (2001) 256–66. 6  Vgl. J. Heller, EJ (D) 3 (1929) 607f. 7  Vgl. etwa Doe 186. 8  Über ihn Ch. Bost, BSHPF 66 (1917) 59–77.

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Sohnes als reformierter Pfarrer in Aigremont wirkte, einem Ort nahe der Familienheimat Sauve. Damals stand die durch das Edikt von Nantes (1598) den Hugenotten gewährte Freiheit zur Ausübung ihres Glaubens kurz vor dem Ende. Pierre Astruc gehörte zu den Verfolgten und wurde im Sommer 1684 in Abwesenheit zum Tode verurteilt und in effigie hingerichtet. Im Frühjahr 1685 erlangte er, die Füße in Ketten, seine Begnadigung um den Preis der Konversion zur katholischen Kirche. So betraf ihn die Aufhebung des Edikts im Oktober 1685 nicht mehr; sein Vetter Jacques Astruc, mit dem er in Genf Theologie studiert hatte, musste gleich vielen Amtsbrüdern ins Exil gehen. Umgekehrt hatte aber Pierre in späteren Jahren (1703/04) unter den gewaltsamen Aktionen der „camisardischen“ Hugenotten zu leiden, die besonders die abtrünnigen Pfarrer aufs Korn nahmen; zeitweise musste er von Sauve nach Montpellier ausweichen. Im Übrigen scheint er nicht schlecht gelebt zu haben. Er bekam seinen Übertritt mit einer Pension honoriert und übte den Beruf eines Advokaten aus. In seiner großen und vielseitigen Bibliothek trieb er gelehrte Studien, vor allem auf dem Gebiet des Altertums. Sein Sohn Jean hat ihm an versteckter Stelle ein Denkmal gesetzt, nämlich dort, wo er in der Naturgeschichte des Languedoc den Bericht des jüdischen Reisenden Benjamin von Tudela aus dem 12. Jahrhundert bespricht und sich dabei als Kenner des Hebräischen erweist. Das habe er, sagt er, vom Vater, dem er Liebe und Verehrung bewahre. Die Sprachkenntnisse seien noch der kleinste Teil seiner Gelehrsamkeit gewesen, und seine Gelehrsamkeit sei noch unendlich übertroffen worden durch seine Tugend und Rechtschaffenheit9. Für des Vaters Kenntnis des Hebräischen pflegt man darauf hinzuweisen, dass zu seiner Genfer Studienzeit Michel Turrettini dort den hebräischen Lehrstuhl innehatte, der Angehörige einer berühmten Theologenfamilie und Autor einer einzigen Schrift, die immerhin den Titel trug: „De Scripturae Sacrae auctoritate adversus Pontificios“10. „Das theologische Virus bringt man, scheint’s, nicht so leicht aus dem Blut“, ist von einem in dieser Sache Erfahrenen11 gesagt worden, und so wird auch in Pierre Astruc etwas von der Genfer Theologie und ihrer Biblizität geblieben sein, und er wird es seinen beiden Söhnen vermittelt haben. Ihrer Erziehung widmete er sich mit der größten Sorgfalt; sie hatten außer ihm keine Lehrer. In der Schule des Vaters, berichtet Jean, hätten sie Ordnung und Methode gelernt, „ohne die die Wissenschaft oft nutzlos und immer ermüdend“ sei12. Nicht nur der ältere der Söhne, Jean, brachte es zu etwas; der jüngere, Anne-Louis, wurde ein angesehener Jurist und starb als Professor des französischen Rechts an der Universität Toulouse. Jean ging zum Studium nach Montpellier und entschied sich, nachdem er 1700 den Grad eines Magister artium erworben hatte, für die Medizin. 1702 9  Mémoires (s. Anm. 4) 192. 10  Ritter a.a.O. 275f. 11  Adrian Leverkühn: Th. Mann, Große komm. Frankf. Ausg. X/1, 516. 12  Lorry a.a.O. xxxiv.

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wurde er Baccalaureus und Lizentiat, 1703, noch nicht 19-jährig, Doktor. In den folgenden Jahren tat er sich so sehr hervor, dass ihn sein Lehrer Pierre Chirac, übrigens ein ehemaliger Theologe, als er selbst von 1706 bis 1709 den Herzog von Orléans in den Spanischen Erbfolgekrieg begleiten musste, mit Zustimmung der Fakultät seine anatomischen Vorlesungen halten ließ. Nach einem Zwischenspiel auf dem Lehrstuhl für Anatomie in Toulouse (1710/11) kehrte er ins heimische Montpellier zurück, wieder um Chirac zu entlasten. 1716 erhielt er dort eine Professur, auf der er bis 1728 verblieb. 1720 gewährte ihm der König eine Pension, 1721 wurde ihm die Aufsicht über die Mineralwasser des Languedoc übertragen, in späteren Jahren das hohe Amt eines „Capitoul“ in Toulouse. 1728 wechselte er nach Paris, von wo er im Frühjahr 1729 einer Einladung König Augusts II. (des „Starken“) von Polen (und Sachsen) folgte13. Eine längere Bindung mochte er dort aber nicht eingehen, und so sehen wir ihn spätestens 1730 wieder in Paris, nunmehr als Leibarzt Ludwigs XV. und ein Jahr später als Professor der Medizin am Collège Royal de France. Die größte Genugtuung bereitete ihm, dass ihn 1743 die medizinische Fakultät der Sorbonne einmütig als Mitglied kooptierte; bis zu seinem Tod war er der regelmäßigste Teilnehmer an ihren Sitzungen. Der glänzenden Karriere entsprach Astrucs gesellschaftliche Position, zu der gehörte, dass er hochgestellte und wohlhabende Patienten hatte. Eine seiner Patientinnen war Madame de Tencin, ehemalige Nonne, Schwester eines mächtigen Kardinals, Mätresse des Herzogs von Orléans (des „Regenten“), Mutter d’Alemberts (den sie als Baby auf den Stufen einer Kirche ausgesetzt hatte), erfolgreiche Romanschriftstellerin, berühmt durch ihren Salon, in dem auch Astruc verkehrte. Er gehörte sogar zur bevorzugten Gruppe der „sieben Weisen“, die dort jeden Dienstag dinierte; die anderen sechs waren Fontenelle, Marivaux, Mairan, Mirabaud, de Boze und Duclos – sämtlich Mitglieder der Academie française. Auch Montesquieu und Marmontel verkehrten dort und die Lords Bolingbroke und Chesterfield14. Astruc war in diesem Kreis einer der Ältesten und wird in den Diskussionen meist den konservativeren Part übernommen haben. Er stand der Madame de Tencin besonders nahe, und sie bedachte ihn nicht nur in ihrem Testament, sondern arrangierte auch die Ehe zwischen seiner Tochter und Etienne de Silhouette, einem vielseitigen Mann, Protégé der Madame Pompadour, zeitweise Finanzminister. Außer der Tochter gab es einen Sohn, dem ebenfalls eine ansehnliche Laufbahn bevorstand. Jean Astruc sei ein glücklicher Vater und ein treuer Freund gewesen, bemerkt sein größter Lobredner, aber er fügt hinzu, mehr als ein paar Augenblicke habe er seinen Kindern und seinen Freunden nie widmen können, 13  Es scheint sich um zwei Aufenthalte gehandelt zu haben. Akten dazu im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden 10026 Geheimes Kabinett Loc. 754/10 und 2735. 14  Vgl. P.-M. Masson, Madame de Tencin (1909) 183–88 und passim; H. Nicolson, The Age of Reason (1960) 214–33, bes. 226.

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da er, immer mit ernsten und nützlichen Studien beschäftigt, sein Leben lang in sein „Kabinett“ eingeschlossen gewesen sei15. Im Jahr seines Todes, 1766, eröffnete Astruc sein Lehrbuch der Geburtshilfe (L’art d’accoucher réduit à ses principes) mit dem Geständnis, dass er auf diesem Gebiet keine praktische Erfahrung habe. Aber er sei 1745 von der Pariser medizinischen Fakultät mit der Abhaltung eines Kursus für Hebammen beauftragt worden und habe die sechs Monate bis zum Beginn dieses Kursus dazu benutzt, die gesamte Literatur über die Geburtshilfe, die in den letzten dreißig Jahren lateinisch und französisch erschienen war, zu lesen oder wieder zu lesen. Das meiste habe er dabei in der Sache gut gefunden, aber ohne Ordnung und Methode, voll von Unnützem, Wiederholungen, vagen oder schlecht wiedergegebenen Beobachtungen und anspruchsvollen Ausführungen über schwierige medizinische Fragen, die nicht hierhin gehörten. Seinem Kursus habe er eine „Kompilation“ aus diesen Werken zugrunde gelegt, die deren Fehler vermied und die er dann vergessen habe. Jetzt veröffentliche er sie in neuer Bearbeitung zur Vervollständigung seines Werkes über die Krankheiten der Frauen, damit sie bei Kursen für Hebammen in der Provinz nützlich sein könnten. Er habe sich dabei dreierlei vorgenommen, das in didaktischen Werken unerlässlich sei: exakte Methode und Ordnung – alles an seinem Platz, Fortschritt vom Leichten zum Schwierigen –, Kürze, Klarheit. Nur mit zwei Gegenständen, nämlich der Geschichte der Geburtshilfe und dem Kaiserschnitt, sei er etwas anders verfahren; dort habe er auch viel zitiert. Das Buch beginnt mit je einem Motto aus Horaz und der Genesis und bespricht anhangsweise zwei Fragen auf der Grenze zur Theologie, die uns kurios vorkommen mögen, die aber damals offenbar die Gemüter bewegten: die Gültigkeit einer Taufe durch Injektion und das Verfahren Adams und Evas mit ihren ersten Kindern16. Mutatis mutandis charakterisiert dieser Schwanengesang das schriftstellerische Werk eines reichlichen halben Jahrhunderts. Es umfasste das gesamte Gebiet der Medizin, so wie auch Astrucs Vorlesungen in einem dreijährigen Turnus dieses gesamte Gebiet umfassten. Unter seinen Talenten wurde das der Lehre am höchsten gerühmt. Er war, so heißt es, Professor „von Natur und von Neigung“. Seine imposante Gestalt und sein großer Charme beeindruckten die Hörerschaft, und er trug in elegantem Stil so vor, dass auch die Anfänger mühelos folgten und das Wesentliche behielten17. Er diktierte viel und machte längst nicht alles zu Büchern. Vielerorts, auch im Ausland, kursierten Nachschriften seiner Vorlesungen, von denen er manche zu Gesicht bekam und gegebenenfalls sanktionierte, andere nicht. Noch in unserer Zeit sind hin und wieder sol-

15  Lorry a.a.O. li. 16  Vgl. dazu Acosta a.a.O. 260–63. 17  Lorry a.a.O. xxxixf.

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che Manuskripte aufgetaucht, zum Beispiel, sehr lesenswert, das einer Vorlesung über Alterskrankheiten, die der 78-jährige 1762 hielt18. Das Oeuvre hatte 1702 mit des 18-jährigen „Tractatus de motus fermentativi causa“ begonnen, der die Gegenschrift eines Anatomen namens Vieussens hervorrief, worauf wiederum Astruc antwortete: „Brevis responsio criticis animadversionibus Francisci Renati Vieussens in Tractatum de causa motus fermentativi“, ebenfalls 1702. Es ging noch einmal hin und her (Astruc, nunmehr 1703: „Responsio ad secundam animadversionem in Tractatum de causa...“). Derartige gelehrte Kontroversen hat Astruc auch später geführt, andere hat er geschlichtet. Nach der Gärung behandelte er 1710 die Bewegung der Muskeln, 1710 und 1714 die Verdauung, 1719 die Wasserscheu (Dissertatio medica de hydrophobia). Als 1720 die Pest Marseille erreichte, griff er mit mehreren Schriften in die medizinische Diskussion ein (darunter „Dissertation sur l’origine des maladies épidémiques, et principalement sur l’origine de la peste“, 1721), hatte aber leider mit seiner These, dass die Pest durch Ansteckung verbreitet werde, und mit seinen Vorschlägen zu Prophylaxe und Therapie bei den akademischen Autoritäten keinen Erfolg. Sein berühmtestes Werk „De morbis venereis“, erschien 1736 und erfuhr viele Neuauflagen und Übersetzungen, darunter ins Französische – es war das letzte Buch das Astruc lateinisch publiziert hatte. „Dieses Werk […] ist ohne Zweifel das vollständigste und nützlichste so bisher von dieser Materie zum Vorschein gekommen“, urteilten die „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“; der Verfasser zeige „so viele Gelehrsamkeit und Fleiß in der Ausführung, als Bescheidenheit und starke Urtheilskraft in der Beurteilung aller Meynungen und Sätze, so hieher gezogen werden können“19. Spätere haben ihm angekreidet, dass er Syphilis und Gonorrhoe nicht unterschied, aber damit wäre er seiner Zeit weit voraus gewesen20. Mit dem Nachweis, dass es sich beim antiken Aussatz um ein anderes Phänomen handelt und dass die Geschlechtskrankheiten aus Amerika nach Europa gekommen sind und sich durch Ansteckung übertragen, ist er durchgedrungen. In dem einen Jahr 1743 erschienen im Ausland ohne Astrucs Autorisierung gleich drei seiner Vorlesungen, nämlich in Genf ein „Tractatus pathologicus“ und ein „Tractatus therapeuticus“, in London „A treatise on all the diseases incident to women“. Die letztgenannte Publikation veranlasste ihn, diesen Gegenstand nunmehr in eigener Verantwortung zu bearbeiten, und nachdem 1759 noch ein zweibändiger „Traité des tumeurs et des ulcères“ dazwischengeschoben war, erschienen 1761 vier Bände des „Traité des maladies des femmes“, denen 1765 zwei weitere folgten und 1766 gewissermaßen als siebter Band „L’art d’accoucher“, woraus vorhin zitiert wurde. Wie ist Astrucs Leistung auf seinem Fachgebiet beurteilt worden? Sogar ein Kollege, der ihn zuvor kritisiert hat, endet doch damit, er sei „le Medecin le 18  Vgl. F.D. Zeman, Journal of the History of Medicine 20 (1965) 52–57. 19  GAGS 1740, 831 (wohl A. v. Haller). 20  Doe a.a.O. 188.

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plus consideré, le plus grand, et le plus heureux praticien de l’Europe“21. Letzteres scheint in Paris nicht die einhellige Meinung gewesen zu sein: der Baron Friedrich Melchior Grimm, Musikfreunden aus Mozarts Biographie bekannt, nennt ihn „un savant médecin“, „un des meilleurs médecins de la Faculté de Paris quant à la théorie“, aber „un praticien médiocre“22. Wie immer es damit gewesen sein mag – unschlagbar war er als Gelehrter. Ein „homme des livres“23, besaß er eine große und vielseitige, teilweise wohl vom Vater geerbte Bibliothek, und bei seiner Übersiedlung nach Paris scheinen die dortigen noch größeren Bibliotheken eine Rolle gespielt zu haben24. Für seine eigenen Arbeiten sind die reichlichen und wohlgegliederten Mitteilungen aus der neueren, aber auch der älteren, ja der ganz alten Literatur charakteristisch, und vielfach haben sie wohl sein Urteil geprägt. Ihm wurde ein „Eifer für die Verteidigung der traditionellen medizinischen Verfahren und auch für den Fortbestand der anerkannten Hierarchien“ zugeschrieben25. Er wandte sich gegen die Inokulation oder Variolation, die riskante Vorläuferin der Schutzimpfung gegen Pocken26, und gegen die Gleichstellung der Chirurgen mit den Ärzten27. An der Erneuerung der Medizin zu seiner Zeit, für die etwa die Namen Boerhave, Morgagni, Haller stehen, scheint er keinen wesentlichen Anteil gehabt zu haben28. Seine Leistungen als Arzt und Professor brauchte das ja nicht zu beeinträchtigen. Die Vielseitigkeit seiner Bibliothek zeigt an, was er den meisten seiner Kollegen voraushatte. Es gab über ihn das Bonmot, er wisse alles, sogar Medizin29. Wenn er seinem Lehrbuch der Hebammenkunst ein Motto aus Horaz und eins aus der Bibel voranstellte, war das bei ihm weniger als bei anderen ein gelehrtes Spiel, sondern zeigte an, in welchen Welten er lebte und in welchen Zusammenhängen er seine eigene Arbeit sah. Und was die Bibel angeht: hier machte er eine Entdeckung, die in die Zukunft wies. Ein elsässischer Alttestamentler des 19. Jahrhunderts hat Goethes Bild aufgegriffen, das ich an den Anfang stellte, und hat Astruc einen „véritable homme de l’art“ genannt, der sein Skalpell ergriffen und in seiner ganzen Karriere kaum je einen glücklicheren Gebrauch davon gemacht habe als bei dieser Gelegenheit30. Man mag es symbolisch finden, dass in dem gleichen Jahr 1753, in dem Albrecht von Haller seine Göttinger Akademieabhandlung „De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus“ ver21  GAGS 1760, 1332. 22 Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister etc., ed. M. Tourneux IV (1878) 402; VII (1879) 37. 23  Alphandéry a.a.O. 61. 24  Lorry a.a.O. xlii. 25  Alphandéry a.a.O. 65. 26  Vgl. R. Thomssen, Schutzimpfungen (2001) 20f. 27  Acosta a.a.O. 260f. 28  Doe a.a.O. 184f. 29  Ebd. 187 (Marquis de Rochefort). 30  A. Westphal, Les sources du Pentateuque I (1888) 104.

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öffentlichte31, die man den „Anlaß für einen dramatischen Umschwung in der Anschauung des Lebens“ genannt hat32, Astruc mit seinem Beitrag zur Bibelwissenschaft herauskam. 1753 also erschien das Buch, dessen Titel noch heute jeder Theologiestudent memorieren sollte: „Conjectures sur les memoires originaux Dont il paroit que Moyse s’est servi pour composer le Livre de la Genese.“ Dazu der Untertitel: „Avec des Remarques, qui appuient ou qui éclaircissent ces Conjectures.“ Als Erscheinungsort ist Brüssel angegeben, in Wahrheit war es Paris. Der Name des Verfassers fehlt, aber dass er Astruc hieß, wusste bald jeder. Unter dem Titel steht als Motto der Satz des Lukrez (I, 926f.; IV, 1f.): „Avia Pieridum peragro loca, nullius antè Trita solo.“ „Ich durchstreife die unwegsamen Orte der Pieriden, die vorher von niemandes Sohle berührt wurden.“ Das Buch war auch in Astrucs Produktion ein Novum, aber er hatte sich lange darauf vorbereitet. Mit der Veröffentlichung zögerte er, wie er eingangs in einem „Avertissement“ mitteilt, weil er fürchtete, die vorgeblichen Freigeister (les pretendus Esprits-forts) könnten das Buch dazu missbrauchen, die Autorität des Pentateuchs herabzusetzen. Aber ein gelehrter und frommer Mann, dem er das Manuskript zeigte, habe diese Skrupel zerstreut: schon andere hätten dergleichen vertreten, und die These ändere ja den Text der Genesis nicht, könne vielmehr manche Schwierigkeiten beseitigen oder erklären, die sich bei ihrer Lektüre einstellten. Wenn sich seine „Vermutungen“ als falsch oder gefährlich erweisen sollten, werde er sie preisgeben. Die Voreingenommenheit für seine Ideen werde bei ihm niemals den Sieg über die Liebe zur Wahrheit und zur Religion davontragen. Wie immer bei Astruc ist der Gedankengang ein Muster an „Ordnung und Methode“. Er beginnt mit den Voraussetzungen (réflexions préliminaires). Mose hat nicht erlebt, was er in der Genesis erzählt. Er weiß es also entweder durch Offenbarung oder durch die Berichte von Zeugen. Die erste Möglichkeit scheidet aus – der Leser ist überrascht, wie sang- und klanglos es geschieht –, weil sich Mose nicht auf Offenbarung beruft. Wenn also Berichte von Zeugen: handelte es sich um mündliche oder schriftliche Tradition? Bei mündlicher wäre die Genauigkeit vieler Angaben unverständlich, also muss sie schriftlich gewesen sein; Astruc beruft sich dafür auf Clericus und Simon und mehr noch auf den Abbé Fleury und Laurent François33, aber er treibt ihre Mutmaßungen weiter mit der Behauptung, „daß Moses alte Berichte (des mémoires anciens), welche die Geschichte seiner Vorfahren von der Schöpfung der Welt an ent31  In: Commentarii Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis II, 114–58. 32  R. Toellner in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, hg.v. R. Vierhaus (1985) 194. 33  J. Clericus, Dissertatio de scriptore Pentateuchi Mose, in: Genesis sive Mosis prophetae liber Primus (Tübingen 1730) XXV; R. Simon, Histoire critique du Vieux Testament (1785) 46f.; C. Fleury, Les mœurs des Israëlites (1722) 7f.; L. François, Preuves de la religion de JesusChrist, contre le Spinosistes et les Deistes I (1751) 458–63.

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hielten, in Händen hatte; daß er diese Berichte, um nichts davon zu verlieren, in Stücke (morceaux) zerteilt habe, nach den Vorfällen (faits), die darin erzählt wurden; daß er diese Stücke, eines nach dem andern, ganz eingerückt habe, und daß aus allem diesem zusammengenommen das erste Buch Mosis entstanden sei“34. Für die Behauptung gibt es vier Beweise (preuves): 1. die Wiederholung gleicher Begebenheiten, 2. den Wechsel zwischen den Gottesnamen Elohim und Jehovah (so las er noch), 3. das Fehlen dieses Wechsels, aufs Ganze gesehen, im weiteren Pentateuch, von Ex 3 an, wo Mose nicht mehr auf Tradition angewiesen ist, sondern als Zeuge erzählt, 4. die Anachronismen (antichronismes). Damit ist der Weg frei für die Arbeit am Text. Hören wir Astrucs Bericht, der zu den klassischen Dokumenten unserer Wissenschaft gehört: „Diesen Überlegungen zufolge war es ganz natürlich, daß ich den Versuch wagte, das erste Buch Mosis auseinanderzunehmen (décomposer), alle die verschiedenen darin untereinandergemengten Stücke voneinander abzusondern, diejenigen, die von einerlei Art sind und allem Ansehen nach zu den nämlichen Berichten gehört hatten, zusammenzusetzen und dadurch jene Originalberichte (mémoires originaux), von welchen ich glaube, daß Moses sie gehabt hat, wieder in ihre vorige Ordnung zu bringen. Die Unternehmung war nicht so schwer, als man es sich wohl hätte vorstellen mögen. Ich durfte nur alle die Stellen (endroits) zusammennehmen, wo Gott immer Elohim genannt wird; diese habe ich auf eine Seite gesetzt, die ich A genannt habe, und ich habe sie als lauter Stücke oder, wenn man will, Fragmente (fragmens) eines ersten Originalberichts betrachtet, den ich mit dem Buchstaben A bezeichne. Daneben habe ich auf eine andere Seite, die ich B nenne, all die anderen Stellen hingesetzt, in denen Gott kein anderer Name beigelegt wird als der Name Jehovah, und dadurch habe ich alle Stücke oder wenigstens alle Fragmente eines zweiten Berichts B zusammengesammelt. Indem ich diese Verteilung anstellte, nahm ich weder auf die Einteilung des ersten Buchs Mosis in Kapitel, noch der Kapitel in Verse Rücksicht, denn es ist gewiß, daß diese Einteilungen neu und willkürlich sind. So wie ich weiter fortkam, erkannte ich, daß ich noch andere Berichte annehmen müßte. Es gibt in dem ersten Buche Mosis einige Stellen, z. B. bei der Beschreibung der Sintflut, wo die nämlichen Sachen sogar bis zu dreimal wiederholt werden. Da der Name Gottes in diesen Stellen nicht gebraucht wird und folglich gar keine Ursache vorhanden ist, sie auf irgend einen der ersten Berichte zu beziehen, so habe ich für das Beste gehalten, diese dritten Wiederholungen, als zu einem dritten Bericht C gehörig, auf eine dritte Seite C hinzusetzen. 34  Conjectures 9, in der anonymen deutschen Übersetzung Muthmassungen in Betreff der Originalberichte, deren sich Moses wahrscheinlicherweise bey Verfertigung des ersten seiner Bücher bedient hat (1783) 10f.; ich folge dieser Übersetzung auch weiter. Übrigens hat 1999 P. Gibert in den „Classiques de l’histoire des religions“ eine verdienstliche Neuausgabe der Conjectures veranstaltet.

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Es gibt noch andere Stellen, in welchen Gott ebenfalls nicht genannt wird und welche folglich eigentlich weder zur Seite A noch zur Seite B gehören. Da, wo die darin erzählten Vorfälle mir nicht zur Geschichte des hebräischen Volks gehörig zu sein schienen, habe ich sie auf eine vierte Seite D gebracht und sie auf einen vierten Bericht bezogen. Ich zweifle sogar daran, daß alle diese Stellen zu einem und eben demselben Berichte gehören, und ich hätte sie vielleicht in mehrere zerteilen sollen; allein die Erörterung dieser Frage ist nicht wichtig genug, zu verdienen, daß man sich dabei aufhielte. Ich werde sie an einem anderen Orte untersuchen.“35 Es folgt die Wiedergabe von Gen 1 – Ex 2, und zwar im französischen Text der Genfer Bibel von 1610. Dafür nennt Astruc praktische Gründe36; man hat es aber gern auch als Zeichen dafür genommen, dass Astruc sich bei seinen Bibelstudien in der väterlichen Tradition wusste37. Er meinte zwar, Mose habe die ihm vorliegenden Berichte in der Art der Tetrapla in Kolumnen nebeneinandergesetzt38, bei ihm erscheinen sie aber im Nacheinander des jetzigen Bibeltextes, nur in der Anordnung, dass A (der „Elohist“) in der linken, B (der „Jehovist“) in der rechten Hälfte der Seite und die C- und D-Stücke in der Mitte stehen. Es ist das Prinzip, das später besonders Eißfeldt in seiner Hexateuchsynopse befolgt hat, wobei schon der flüchtigste Blick auf das Erscheinungsbild beider Synopsen zeigt, wie sehr sich die Analyse seit Astruc verfeinert hat. Der dritte Teil der „Conjectures“ setzt sich mit den Einwänden auseinander, die Astruc voraussieht. Zunächst: vor Mose habe man noch nicht schreiben können. Dagegen Astruc: in der Exoduserzählung wird Lesen und Schreiben vorausgesetzt; der Phöniker Kadmos hat zur Zeit des Mose das Alphabet nach Griechenland gebracht; davor gab es schon die Hieroglyphen (I). Ferner: aus Ex 6,2f. („Ich bin Abraham, Isaak und Jakob als El Schaddai erschienen, aber mit meinem Namen ‚Jehovah‘ habe ich mich ihnen nicht geoffenbart“) scheint hervorzugehen, dass die Patriarchen den Namen „Jehovah“ noch nicht gekannt haben. Dagegen Astruc: dort ist gemeint, „daß Gott den Patriarchen in dem ganzen Umfange der Bedeutung Schaddai, aber nicht der Bedeutung Jehovah bekannt gewesen ist“ (II). Schließlich: wenn Bericht D, der sich übrigens in zehn kürzere Berichte zerlegen läßt, von den Nachbarvölkern stammt, wie konnte Mose ihn hebräisch wiedergeben? Astrucs Antwort: Hebräisch war die Sprache aller Kanaanäer und der Familie des Abraham; außerdem konnte Mose übersetzen (III–V). In diesem Zusammenhang macht Astruc eine einsichtsvolle Zwischenbemerkung, die den Sicherheitsgrad des von ihm Vorgetragenen betrifft: „Man trägt nur Mutmaßungen (conjectures) vor, welche an35  Conjectures 17f. (Muthmassungen 19–21). 36  Ebd. 18–21 (23). 37  Schon zu Astrucs Lebzeiten gab es sogar das Gerücht, der Vater habe die „Conjectures“ verfasst und der Sohn sie nur zum Druck gebracht (vgl. Huard/Imbault-Huart a.a.O. 286); ich sehe dafür keine Anhaltspunkte. 38  A.a.O. 433 (484).

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zunehmen oder zu verwerfen freisteht. Man kann also, wenn man es für gut befindet, die zehn letzteren Berichte auf eine kleinere Anzahl einschränken; man kann im Gegenteil die beiden ersteren (also A und B) in mehrere verteilen; denn am Ende hindert nichts, daß es mehr als einen Bericht gegeben hätte, worinnen die Verfasser Gott den Namen Elohim gegeben hätten, und auch mehr als einen, worinnen die Verfasser ihm den Namen Jehovah gegeben hätten; da man aber nichts ohne irgend einen Grund, wenigstens Scheingrund behaupten soll, so soll man auch nichts verwerfen, ohne auch wenigstens wahrscheinliche Gründe dazu zu haben.“39 Nach der Widerlegung der vorauszusehenden Einwände entwickelt Astruc, vorwiegend im Rückgriff auf die „Beweise“ der Einleitung, vier „Vorteile“ (avantages) seiner Hypothese: 1. „Sie rettet (sauve) das Sonderbare der Abwechslung in dem Gebrauche der Gottesnamen“; dabei werden auch die Ausnahmen erörtert, mit dem Ergebnis, daß sie die Regel bestätigen (VI, VII). 2. „Sie rettet (wieder: sauve) die meisten in dem ersten Buche Mosis befindlichen Wiederholungen, indem sie solche in verschiedene Berichte austeilet“ (VIII, IX). 3. „Sie macht die in dem ersten Buche Mosis befindlichen Antichronismen, das heißt, Unordnungen in der Chronologie, verschwinden“ (X–XIII). 4. „Sie spricht den Moses von den Nachlässigkeiten und sogar von den Fehlern frei (disculpe), welcher man ihn zu beschuldigen sich untersteht, und welche man in dem ersten Buche Mosis zu finden glaubt“; sie rühren daher, dass die Kopisten die Kolumnen des mosaischen Textes fehlerhaft zu einer einzigen vereinigt und dabei den Anschein einer chronologisch richtigen Reihenfolge erweckt haben (XIV, XV). Dieser Punkt gibt Astruc Anlass, abschließend ein Problem zu erörtern, das er am Anfang des Buches übergangen hat, indem er dort stillschweigend voraussetzte, dass Mose der Autor des Pentateuch gewesen ist. Die „Nachlässigkeiten“ und „Fehler“ waren nämlich ein Argument in der Kritik Spinozas gewesen – ein Argument, das Astruc nunmehr entschärft zu haben meint. Er nimmt sich bei dieser Gelegenheit auch Hobbes, de la Peyrère, Clericus und Simon vor, um ihre Bestreitung der mosaischen Autorschaft zu widerlegen. Eigentlich müsste dafür nach seiner Überzeugung schon das Zeugnis des Philippus (Joh 1,45), zu schweigen von dem Zeugnis Christi (Joh 5,46), genügen, die sich beide ausdrücklich auf Mose berufen, aber Astruc tut aus seinem Eigenen noch etwas hinzu wie die Witwe im Evangelium (Mk 12,41–44) ihr Scherflein und hofft dafür wie sie gelobt zu werden. Von Esra, wie Spinoza meint, kann der Pentateuch nicht herrühren, weil ihn nach dem babylonischen Exil die Samaritaner nicht übernommen haben können, so dass er also schon vorher vollständig vorhanden gewesen sein muss, aber auch nicht von dem anonymen Priester aus 2Kön 17,28, an den Clericus denkt, denn, von seiner Unbekanntheit einmal abgesehen, wie sollte er noch die Berichte zur Verfügung gehabt haben, aus denen der Pentateuch zusammengesetzt ist? (XVI). 39  Ebd. 315 (347).

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Eher anhangsweise, aber in fast quälender Ausführlichkeit erörtert Astruc noch das Edomiterkapitel Gen 36 (v. 31: „ehe ein König regierte in Israel“) mit dem Ergebnis, dass auch hier „nichts ist, welches in Verlegenheit setze, nichts, welches den Zeitpunkt des Moses übersteige, und folglich nichts, welches den Verteidigern der Religion das Mißtrauen, das sie äußern, noch den vorgeblichen Freigeistern den Ton des Triumphs einflößen sollte, den sie sich geben“ (XVII)40. So bestätigt sich durchgehend, was Astruc an anderer Stelle über seine Hypothese gesagt hat, dass nämlich durch die „neue Einrichtung“ des Genesis-Textes (ce nouvel arrangement) „Moses von allen Fehlern der Nachlässigkeit und der Unachtsamkeit, die ihm sogar die vorsichtigsten Kommentatoren zur Last gelegt hatten, freigesprochen wird (pleinement disculpé), welches die Ehrfurcht und den Glauben (le respect et la foi), so man ihm als dem weisesten Gesetzgeber und einem der größten Propheten, die Gott erweckt hat, schuldig ist, verstärken und zu gleicher Zeit den Glauben, den er als der deutlichste, genaueste und der wahrhafteste unter den Geschichtschreibern (le plus clair, le plus exact, et le plus vrai des Historiens) verdient, vermehren muß“41. Man kann nicht deutlicher sagen, als Astruc selbst es getan hat, dass seine „Conjectures“ eine apologetische Absicht verfolgen. Das Schlüsselwort des Buches ist „sauve/retten“ (nebenbei: der Name von Astrucs Geburtsort! Und ein zweites, seriöseres Nebenbei: eben 1753/54 beginnt Lessing die Reihe seiner „Rettungen“!). Kein Geringerer als Ernest Renan hat in Zweifel gezogen, dass Astruc dabei aufrichtig war: wollte er nicht vielleicht, so Renan, „indem er in einem Punkt [mosaische Autorschaft] lauthals seine Zustimmung zur traditionellen Meinung bekanntgab, sich das Recht verschaffen, in einem anderen Punkt [Benutzung von Quellen] eine neue Meinung auszusprechen, die gewagt erscheinen konnte?“42 Adolphe Lods hat Astruc gegen diesen Verdacht in Schutz genommen, mit Recht43. Astruc stand in Sachen Bibel, Religion und Kirche wie auch sonst eindeutig auf der Seite der Tradition gegen Freigeister, Materialisten und Enzyklopädisten; die Gegenseite – d’Alembert, Grimm, Voltaire – hat es noch über seinen Tod hinaus mit bissigen Invektiven quittiert44. Gleichwohl zeigt das „Avertissement“, dass er im Blick auf die „Conjectures“ nicht ganz sorgenlos war. So ließ er ihnen alsbald zwei phi-

40  Ebd. 495 (556). 41  Ebd. 438 (489f.). – Vgl. François a.a.O. 458: „Moyse et le premier Historien que nous connoissions.“ 42  Vorwort zu A. Kuenen, Histoire critique des livres de l’Ancient Testament I (1866) XXIII. 43  Lods (s. Anm. 3) 206. 44  Vgl. Ritter a.a.O. 279–86; Huard/Imbault-Huart a.a.O. 11.

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losophische Traktate folgen, einen über die Seele und einen über die Freiheit45, die offenbar die Nebenabsicht hatten, „comme un garant de sa foi“ in dieser Richtung beruhigend zu wirken46. Die Sorgen waren unbegründet. Unbegründet war aber auch die Hoffnung des Autors, falls er sie gehabt hat, auf eine ergiebige Diskussion der „Conjectures“ in seinem Vaterland; sie blieben dort nahezu ohne Echo47. Dagegen meldete sich in Deutschland sofort, wenngleich ohne Nennung seines Namens, der unvermeidliche Johann David Michaelis, und zwar in zwei Göttinger Rezensionsorganen, deutsch und lateinisch, letzteres besonders wortreich48. Er behandelte das Buch „sehr von oben herab“49. Astrucs Motto von den „unbetretenen Pfaden“ schien ihm „eine Frucht davon zu seyn, daß er nicht genug vor dem Schreiben gelesen hatte“, vor allem nicht die Produkte des Hauses Michaelis50. Der weitere Disput ist wenig ertragreich und lässt erkennen, dass Michaelis die Tragweite der von Astruc entdeckten Möglichkeit, dem Quellenproblem in der Genesis mit Hilfe der Gottesnamen zu Leibe zu rücken, nicht aufgegangen ist51. Offenkundig war es diese Rezension, durch die sich der Abt Jerusalem legitimiert fühlte, Astrucs These mit der ganzen Unbefangenheit des Dilettanten (gegenüber dem Dilettanten!) „ungegründet und läppisch“ zu nennen52. Dagegen blieb Michaelis nicht auf seinem hohen Ross. Er kam nach Jahrzehnten noch einmal auf die Sache zurück, nunmehr im Wissen um die Autorschaft des „berühmten Medicus“ und mit Komplimenten für seinen „großen Scharfsinn“53 und schloss ein ausführliches (nicht durchweg korrektes) Referat mit dem Ausblick: „Herr Hofrath Eichhorn hat das Astrücksche System, mit dem er mehr 45  Dissertation sur l’immatérialité et l’immortalité de l’âme. Dissertation sur la liberté (1755). 46  So schon Lorry a.a.O. 1; dagegen Alphandéry a.a.O. 67f. Vgl. Astrucs doppelte Erklärung: „La hardiesse, avec laquelle le Matérialisme s’enseigne, m’a engagé à composer cette Dissertation“ (Diss. sur l’immatérialité I). „Cette Dissertation, comme on voit, n’a été entreprise, que pour la défense de la Religion“ (Diss. sur la liberté VIIf.). 47  Vgl. J.-R. Armogathe, in: Le siècle des Lumières et la Bible (hg.v. Y. Belaval und D. Bourel, 1986) 437f.; B.-E. Schwarzbach ebd. 764. 48  GAGS 1754, 973–76; Relationes de libris novis 11 (1754) 162–94. Als Verfasser bekennt er sich in seiner Einleitung in die göttlichen Schriften des Alten Bundes I/1 (1787) 268. Sein eigenes Exemplar der Conjectures, das sich in der Tübinger Stiftsbibliothek befindet (vgl. H. Holzinger, Einleitung in den Hexateuch, 1893, 41), enthält außer dem Namen keinerlei Eintragungen von seiner Hand. 49  Holzinger a.a.O. 41; vgl. Westphal a.a.O. 116: „quelle hauteur“! 50  GAGS 1754, 974 (der dortige Dr. Christian Benedict ist Johann Davids Vater). Weder Astruc noch, schon aus geographischen Gründen weniger entschuldigt, Michaelis kannten des Hildesheimers H. B. Witter „Jura Israelitarum in Palaestinam“ (1711), wo am Anfang der Genesis die Wiederholungen und der Wechsel des Gottesnamens beobachtet sind; vgl. A. Lods, ZAW 43 (1925) 134f.; P. Gibert in: Jarick, Conjectures (Anm. 1) 174–89. 51  Vgl. R. Smend, Johann David Michaelis (1898) 6. 52  J.F.W. Jerusalem, Briefe über die mosaischen Schriften und Philosophie I (21772) 107, vgl. 108. 53  Einleitung (s. Anm. 48) 268.

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übereinstimmet, als ich, im zweiten Theil seiner Einleitung umgearbeitet, in manchen Stücken verbessert, auch es wahrscheinlicher und gefallender vorgestellt, als Astrüc. Hiervon Auszüge zu geben, wäre unnöthig und zu weitläufig, Herrn Eichhorns Meinung wird man bey ihm selbst lesen.“54 Damit gab Michaelis die Staffette an seinen Göttinger Amtsnachfolger weiter, der sie ohnehin längst in der Hand hatte, dabei allerdings in einer bei ihm auch sonst zu beobachtenden Manier55 seinen Anschluss an Astruc zart verschleierte56. In der Sache gelangte er ein Stück über Astruc hinaus. Er fügte den „Beweisen“ aus den Wiederholungen und dem Wechsel der Gottesnamen zwei weitere hinzu, nämlich den „Beweiß aus der Schreibart“ und den „aus der Verschiedenheit des Charakters“57, wodurch die „jehovistische“ und die „elohistische“ Quelle eine bei Astruc kaum schon sichtbare äußere und innere Physiognomie anzunehmen begannen, führte mit diesem Hilfsmittel die Quellenscheidung in der Genesis noch einmal und gründlicher durch und bezog schließlich auch den übrigen Pentateuch ein; und hier verließ er Astrucs Weg. „Mit dem dritten Kapitel [des Buches Exodus] hören alle die Eigenheiten auf, welche den Geschichtschreibern im ersten Buch Mose und in den beiden ersten Kapiteln des zweiten charakteristisch waren, und das Werk eines Einzigen läuft bis ans Ende der Mosaischen Bücher fort.“ So heißt es ganz à la Astruc in den ersten drei Auflagen von Eichhorns Einleitung ins Alte Testament58, aber die vierte von 1823 präzisiert und verändert: „die beyden Hauptbenennungen von Gott wechseln von nun an mit einander ohne Unterschied ab, bis zuletzt Jehova der größtentheils allein von Gott gebrauchte Name wird, weil sich Israel, dessen Geschichte erzählt wird, unter seine Herrschaft und seinen Schutz begeben hat. Moses ist von nun an der Hauptheld der Geschichte; und wenn wir eigenhändige Aufsätze von ihm noch besitzen sollten, so könnte er nur erst von hier an den Griffel geführt haben.“59 Also nicht mehr das Werk eines Einzigen, nämlich des Mose, das von Ex 3 an die Quellenkritik überflüssig macht, sondern vielleicht einzelne „Aufsätze“ von ihm, und so hat es die Quellenkritik von hier an nicht mehr mit den beiden großen „Urkunden“ der Genesis (und ihren Nebenquellen) zu tun, sondern mit mancherlei „Aufsätzen“, mögen sie von Mose stammen oder nicht. Es kommt in Sicht, dass nicht nur eine einzige Hypothese den komplizierten Verhältnissen im Pentateuch gerecht werden kann. 1823 lag längst die Fragmentenhypothese auf dem Tisch und im Grunde auch schon 54  Ebd. 301. 55  S.u. 182–84. 56  Vgl. M. Siemens, Hat J.G. Eichhorn die Conjectures von J. Astruc gekannt, als er 1779 seine Abhandlung über „Mosis Nachrichten von der Noachischen Flut“ veröffentlichte?, ZAW 28 (1908) 221–23. 57  Einleitung ins Alte Testament 1II (1781) 310ff.319ff. Hier ließ er einen Göttinger Repetenten weiteres Material zusammenstellen: J.F.W. Möller, Über die Verschiedenheit des Styls der beyden Haupt-Urkunden der Genesis (1792). 58  II (11781) 409; (21787) 348; (31803) 387. 59  Ebd. 178.

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die Ergänzungshypothese. Aber die Urkundenhypothese behielt und behält ihr Recht, allerdings mit Differenzierungen, die Astruc voraussah, als er in jener Zwischenbemerkung schrieb, am Ende hindere „nichts, daß es mehr als einen Bericht gegeben hätte, worinnen die Verfasser Gott den Namen Elohim gegeben hätten“. Und so begannen die beiden Gelehrten, die als „Astruc’s bedeutendste Nachfolger“ (Wellhausen60) die „elohistische“ Urkunde durch deren Zweiteilung präziser erfassten und damit, wie man sich zu sagen angewöhnt hat, die „ältere“ durch die „neuere Urkundenhypothese“ ablösten61, mit einer Verbeugung vor Astruc: „der Arzt, der wie in seiner Kunst, so auch hier einen ungemein hellen Blick besaß“, lautet die Charakteristik durch Karl David Ilgen62, „zwar ein Laie, aber ein Kopf von wirklich kritischer Begabung“, die durch Hermann Hupfeld63. Diese Urteile klingen fast so wie das Wellhausens über de Wette, er sei „ein gescheiter Kerl“, mit dem Zusatz, bei ihm stehe ja schon alles, was er selber im Alten Testament gemacht habe64. Diesen Zusatz hätte er aber bei Astruc nicht machen können, denn dem war die historische Kritik ganz fremd, deren Begründer – nach Vorläufern, die es hier wie überall gegeben hat – erst de Wette gewesen ist und die dann Wellhausen – ebenfalls nach Vorläufern – mit der literarischen zusammengeführt hat. Astrucs Argumentation in historischen Fragen, also vor allem bei der Verteidigung der mosaischen Autorschaft, „ist im einzelnen von einer, auch für sein Zeitalter ungewöhnlichen Naivität“, in der „Erkenntnis historischer Zusammenhänge“ bedeutet seine Hypothese „einen Rückschritt gegenüber den Auffassungen le Clercs und insbesondere Spinozas“65, und im Licht der Wirkungsgeschichte, die die „Conjectures“ gehabt haben, könnte man heute auch sonst noch mehr über „cette solution“ als solche lächeln, als Père de Vaux schon 1953 in seinem Kopenhagener Jubiläumsvortrag über sie glaubte lächeln zu können66. Aber de Vaux hat damals die Bedeutung dieser „solution“ auf dem Weg zu Wellhausen ausdrücklich anerkannt; und was Astrucs apologetische Absicht angeht, soll nun doch noch Wellhausen das Wort haben, der über die „Conjectures“ seines Vorgängers gesagt hat: „in der That ist diese Kritik die einzige Weise, die biblischen Bücher zu begreifen und zu vertheidigen“67. Dass dazu das Skalpell noch ganz anders angesetzt werden muss, als Astruc es getan hat, mindert sein Verdienst nicht im Geringsten. Die späteste Äußerung Voltaires über die „Conjectures“, im Jahre 1776, lautet: „Dieses Buch hat nicht gehalten, was es versprach.“68 Zu Anfang sagte ich in Ehrfurcht: hier irrt Goethe. Jetzt füge ich in Ehrfurcht hinzu: hier irrt Voltaire. 60  (F. Bleek–)J. Wellhausen, Einleitung in das Alte Testament (41878) 655. 61  Vgl. O. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament (31964) 213f.216f. 62  Die Urkunden des Jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt I (1798) X. 63  Die Quellen der Genesis (1853) 11. 64  S.u. 192. 65  M. Soloweitschik, EJ (D) 3 (1929) 612f. 66  Congress Volume Copenhagen 1953 (VT.S I) 183. 67  (Bleek–)Wellhausen 46551. 68  La Bible enfin expliquée par plusieurs aumoniers de S.M.L.R.D.P. (1777): Oeuvres complêtes de Voltaire, nouv. ed. 30 (1880) 501.

Robert Lowth 1710–1787

„Hauptmerkmal der hebräischen wie altorientalischen Versdichtung ist der von Lowth entdeckte Parallelismus membrorum im Vers.“1 Lowths „Praelectiones de sacra Poesi Hebraeorum“ erschienen 1753, im gleichen Jahr, in dem Jean Astrucs „Conjectures“ den Startschuß zur Quellenscheidung im Pentateuch gaben. Während die Pentateuchforschung weit über Astruc hinausgelangte und trotzdem bis heute keine einhelligen Ergebnisse erzielt hat, ist Lowths Entdeckung in den zweieinhalb Jahrhunderten, die inzwischen verflossen sind, zwar öfters differenziert, aber niemals ernsthaft angefochten worden. Die „Conjectures“ sind vergangen, die „Praelectiones“ sind, zumindest was den Parallelismus membrorum betrifft, geblieben. Wer war ihr Autor? Robert Lowth2 wurde am 27. November 1710 in Winchester geboren. Sein Vater William Lowth (1660–1732) war ein gelehrter Geistlicher, dessen literarische Produktivität sich hinter der seines berühmten Sohnes nicht zu verstecken brauchte. In der durch Richard Simons „Histoire critique du Vieux Testament“ ausgelösten Kontroverse bezog er, unmittelbar in Antwort auf Jean LeClerc (Johannes Clericus), Stellung durch „A Vindication of the Divine Authority and Inspiration of the Old and New Testament, in answer to a treatise lately translated out of French, intitled ‚Five Letters concerning the Inspiration of the Holy Scriptures‘“ (1692); einige Jahre später fügte er ein neues Vorwort hinzu, „wherein the antiquity of the Pentateuch is asserted and vindicated from some late 1  K. Seybold, TRE XXVI, 745. – Reiches Material in: Parallelismus membrorum, hg.v. A. Wagner (2007). 2  Das Bibliographische und Biographische im Folgenden meist nach DNB, ODNB und dem Introductory Memoir von P. Hall in: Sermons and Other Remains of Robert Lowth (1834); vgl. auch Memoirs of the Life and Writings of the Late Right Reverend Robert Lowth, D.D. (1787) (anonym, aber von Lowths Sohn Robert). Ein achtbändiger Reprint von Lowths „Major Works“, besorgt von D.A. Reibel, erschien 1995. Viel zu Lowths Werk, seinem Hintergrund und seiner Nachwirkung enthalten die Aufsätze von S. Mandelbrote, A. Cullhed, S. Prickett, Ch. Bultmann, J. Rogerson, M. Witte und W.G.E. Watson in: Sacred Conjectures, ed. J. Jarick (2007). Vgl. auch immer noch Th.H. Robinson, Hebrew poetic form: the English tradition, in: Congress Volume Copenhagen 1953, 128–49.

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objections“ (2. Aufl., 1699). In die gleiche Richtung gingen die in vielen Auflagen verbreiteten „Directions for the profitable reading of the Holy Scriptures: together with some observations for the confirming their Divine authority, and illustrating the difficulties thereof“ (1708). William Lowth verteidigte nicht nur die Bibel gegen ihre Kritiker, sondern auch die Kirche von England gegen die Dissenters; seine Predigt über „The characters of an Apostolic Church, fulfilled in the Church of England, and our obligations to continue in the communion of it“, gehalten 1722, löste eine mehrjährige Kontroverse aus. Vor allem aber war er Exeget und Philologe. Am bekanntesten wurde seine Kommentierung aller Propheten (1714–26, später in einem Folioband vereinigt), von der man gesagt hat: „Its tone is pious but cold, and he fails to appreciate the spiritual and poetical character of the prophetical writings, while he is far too eager to discover Messianic interpretations.“3 Er bekundete sein Hauptinteresse, indem er dem Kommentar das Motto voransetzte: „The Testimony of Jesus is the Spirit of Prophecy“ (Apk 19,10). Seine Gelehrsamkeit ging weit über die Bibel hinaus. Er versah die meisten antiken Autoren in seinen Exemplaren mit Glossen und teilte seine Beobachtungen selbstlos anderen mit, die sie bei ihren Arbeiten verwenden konnten; unter anderen sind sie Editionen des Josephus und des Clemens Alexandrinus zugute gekommen. Über alledem vernachlässigte er seine pastoralen Pflichten nicht. Robert Lowth stand in mancher Hinsicht auf dem gleichen Boden wie sein Vater und dürfte dessen Werk stärker vor Augen gehabt haben, als das in seinen eigenen Schriften unmittelbar zum Ausdruck kommt; bei ihm stehengeblieben ist er aber nicht, und an Originalität war er ihm zweifellos überlegen. Seine Karriere verlief wie im Bilderbuch: 1722 Schüler am College in Winchester, 1729 Student am New College in Oxford, dort 1733 B.A., 1737 M.A., 1741 Professor of Poetry in Oxford, 1748 Begleitung seines Jugendfreundes, des späteren Schatzkanzlers Bilson-Legge, bei einem offiziellen Besuch in Berlin, 1749 Begleitung zweier junger Lords auf einer weiteren Europareise, 1750 Archdeacon von Winchester, 1753 Rektor von Woodhay in Hampshire, 1754 D.D. von Oxford, 1755 First Chaplain bei Lord Hartington, Lord-Lieutenant von Irland, Ablehnung des Bischofsamts von Limerick und stattdessen Prebend in Durham und Rektor in Sedgfield, 1765 Mitglied der Royal Society und der Göttinger Sozietät der Wissenschaften (in seinen Büchern fügte er seitdem seinem Namen außer dem D.D. ein F.R.SS.LOND. AND GOETTIN. hinzu), 1766 Bischof von St. Davids und kurz danach von Oxford, 1777 Bischof von London; Erzbischof von Canterbury zu werden, lehnte er 1783 bei geschwächter Gesundheit ab. Wenngleich er also nicht im Palast von Lambeth, sondern „nur“ in dem von Fulham endete, dem Sitz der Bischöfe von London, hatte seine Stimme auch am Königshof Gewicht. Nach dem Urteil von John Wesley (1703–91), den er mit Ehrerbietung behandelte, war er „in his whole behaviour worthy of a Christian 3  DNB XXXIV, 217 (E. Venables).

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bishop“4. Besonders gerühmt wurde er als Liturg5. Seine gedruckten Predigten sind, vergleicht man sie mit denen seines Zeitgenossen Laurence Sterne (1713– 68), bei aller Ähnlichkeit der im Grunde untheologischen, aufgeklärt-moralischen Grundhaltung und bei allem rhetorischen Können eher enttäuschend; ihnen fehlt die Poesie, sie wecken die biblischen Texte nicht zum Leben. Das überrascht, wenn man bedenkt, dass Lowths bleibende wissenschaftliche Leistung die Herausstellung des Poetischen in der Bibel gewesen ist. Aber vielleicht stellt sich die Aufgabe der Predigt einem Lordbischof anders als einem Yorick. Lowth hat auch selber Gedichte gemacht, englische und lateinische. Das erste, das wir kennen, stammt von dem 14jährigen und heißt „On a thunder storm by night“6, eine lange Ode des 19jährigen „On the Genealogy of Christ“7 wurde an einem Fenster der College Chapel in Winchester verewigt. Gern variierte er Antikes, so Horaz, Prodicus und Properz in den Oden „To the people of Great Britain“ (12 Strophen)8, „The Choice of Hercules“ (27 Strophen)9 und „Ad ornatissimam puellam“, letztere auch in zwei englischen Übersetzungen von der Hand Geistlicher („To a young lady, curling her hair“ und „To a lady who was fond of dress“) verbreitet10. Mögen diese Produkte auch „thoroughly conventional“ sein11, so bewirkten sie doch, dass man ihren Urheber als einen „Poeta“ feierte, wie es namentlich durch den Göttinger Kollegen Johann David Michaelis geschah12. Die Lektüre seiner Prosa, englisch oder lateinisch, ist immer ein Genuss – ich denke, die im Folgenden mitgeteilten Proben erschließen sich leicht. Lowth selbst kannte seine schriftstellerischen Qualitäten sehr wohl, wie sein Lob für das gelungene Werk eines Mr. Lind zeigt: „No man can write better English than Lind, except myself.“13 Wenn er sich nicht auf die Lebenden beschränkte, reichte er einem anderen die Palme, nämlich Jonathan Swift, als „one of the most correct, and perhaps the best of our prose writers“. Auf eine Äußerung Swifts bezog er sich, um die Notwendigkeit desjenigen unter seinen eigenen Büchern zu demonstrieren, das die mit Abstand weiteste Verbreitung finden sollte. Swift hatte sich über den schlechten Zustand der englischen Sprache beklagt und dafür besonders angeführt, „that in many instan4  Ebd. 214. 5  Hall, Introductory Memoir 40. 6  Sermons and Other Remains 445–47. 7  Ebd. 447–54. 8  Ebd. 472–76. 9  Ebd. 477–86. 10  Ebd. 487–91. 11  So V. Freimarck in der Einleitung zum Neudruck (1969) der englischen Übersetzung der Praelectiones von G. Gregory (R. Lowth, Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews I/ II, 1787) XII*. 12  In seiner Besprechung der Praelectiones (Relationes de libris novis 10, 1754, 317–22) und im Vorwort zu seiner Ausgabe dieses Buches (I, 1758) IV–X. 13  Hall, Introductory Memoir 25.

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ces it offended against every part of Grammar“. Lowth fand, dieser Vorwurf sei, falls er impliziere, „that our Language is in its nature irregular and capricious; not hitherto subject, nor easily reducible, to a System of rules“, in dieser Hinsicht „wholly without foundation“. Vielmehr sei die englische Sprache „perhaps of all the present European Languages by much the most simple in its form and construction. Of all the ancient Languages extant that is the most simple, which is undoubtedly the most ancient: but even that Language itself does not equal the English in simplicity.“ Englisch also noch einfacher als Hebräisch!14 Den Beweis ließ sich Lowth einiges kosten: er schrieb ein ganzes Buch, genannt „A Short Introduction to English Grammar“, 1762 in erster, 1763 in zweiter15 und dann in vielen weiteren Auflagen erschienen, mit und ohne Nennung des Verfassers. Lowth will zunächst Englischsprechende zum rechten Verständnis und Gebrauch ihrer so einfachen eigenen Sprache anleiten, indem er sie lehrt „what is right by showing what is wrong“, er will aber auch dem zu Hilfe kommen, der fremde Sprachen lernt: „When he has a competent knowledge of the main principles of Grammar in general“ – Lowth rechnet mit einer abstrakt vorhandenen Universalgrammatik – „exemplified in his own, he then will apply himself with great advantage to the study of any other language.“16 Schnörkellos und sehr fasslich werden nacheinander beschrieben: Buchstaben, Silben, Wörter, Artikel, Substantiv, Pronomen, Adjektiv, Verbum, unregelmäßige Verben, Adverb, Präposition, Konjunktion, Interjektion, Sätze (also die Syntax, der ausführlichste Abschnitt), Interpunktion. Beispiele aus vielfältiger Literatur belegen „right“ und „wrong“, den Schluss macht die grammatische Analyse einiger Evangelienverse. „Lowth’s grammar“, so wird berichtet und man glaubt es gern, „was probably the most influential, and widely used text-book for the rudimentary instruction of English produced in the eighteenth Century. It was the basis for numerous other grammars published between 1763 and 1840, and could claim a distinct authority which no other grammar had before Webster.“17 Natürlich ist auch die Nase darüber gerümpft worden, zuletzt von den Strukturalisten. Aber zumindest eins dürfte unbestritten sein: das Buch hat sich in ungewöhnlichem Ausmaß bewährt – nicht nur bei den Engländern, denen es zugedacht war, sondern auch bei solchen, die Englisch als Fremdsprache lernen und verstehen wollten; es ist mehrfach ins Deutsche übersetzt worden18. Als Lowth seine Grammatik schrieb, war er schon ein bekannter Schriftsteller. Zuletzt vorangegangen war (1758) seine Biographie des Bischofs William of Wykeham (1324–1404), der die beiden von ihm besuchten Bildungsstätten gegründet hatte, das Winchester College und das New College in Oxford. 14  Umgekehrt verstanden im ODNB XXXIV, 615 (S. Mandelbrote). 15  Von dort (vi–viii) die obigen Zitate. 16  Ebd. xivf. 17  So das Vorwort zum Nachdruck in: English Linguistics 1500–1800, ed. by R.C. Alston, No. 18 (1967). 18  Vgl. D.A. Reibel im Nachdruck der 2. Auflage (1995) xxvif.

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Das Buch ist in einer damals nicht selbstverständlichen Weise aus den Quellen gearbeitet, teilt sie wörtlich mit und erörtert ihren Wert. Es erstrebt nicht „elegance and ornament, but evidence and truth“19. Gerade so aber ist es eine sehr lebendige Erzählung geworden, die in der Verteidigung ihres Helden gegen allerlei Herabsetzungen ihren würdigen Abschluss findet. Zur Verteidigung, aber auch zum Angriff war Lowth glänzend begabt. Unter den Kontroversen, auf die er sich einließ, erregte diejenige mit William Warburton, Bischof von Gloucester (1698–1779), das meiste Aufsehen. Warburton, berühmt durch sein voluminöses Werk „The Divine Legation of Moses demonstrated“ (zuerst 1737/41), herrschte nach den Worten des großen Geschichtsschreibers Edward Gibbon als „dictator and tyrant of the world of literature“; seine Verdienste waren „degraded by the pride and presumption with which he pronounced his infallible decrees; in his polemic writings he lashed his antagonists without mercy or moderation“20. Lowth, nicht als einziger, löckte wider den Stachel. Ein erster privater Briefwechsel, im Herbst 1756, endete einigermaßen glimpflich, indem beide Herren sich gegenseitig trotz eigentlich unüberbrückbarer Gegensätze ihre Hochachtung versicherten, ja von Freundschaft sprachen. Aber als Warburton Jahre später unverhofft einen neuen Streit vom Zaun brach, ging Lowth mit einem hundertseitigen „Letter“ an die Öffentlichkeit21, von dem man gesagt hat: „A more powerful or ingenious pamphlet never was committed to the press; nor one in which the literary and theological classes took a deeper interest. The public at large, and even, it is said, the ruling monarch, were pleased with its very faults; and welcomed the sallies of personal satire by which the giant and his underlings were overwhelmed.“22 Lowth springt mit seinem Gegner nach Belieben um, übergießt ihn mit Hohn und Spott und ficht gleichermaßen mit dem Florett wie mit dem Säbel. Die göttliche Sendung des Mose ist, so Lowth, schon oft bewiesen worden, ein junger Theologiestudent könnte es auf fünf Seiten besser machen als dieser Bischof in fünf Bänden, die kein Gebiet des Lebens und Wissens auslassen und ihren Autor als „sole Master of the Universe“ hinstellen sollen23. Warburton hatte seinen Gegnern „Sophistry, Buffoonery, and Scurrility“ vorgeworfen; Lowth dreht den Spieß um und handelt Warburtons Meinungen zunächst unter diesen drei Stichworten ab24, um dann in einem letzten, „kritischen“ Teil25 den Rest zu besorgen – bis dahin, dass er Warburton jede wissenschaftliche Kompetenz ab19  R. Lowth, The Life of William of Wykeham, Bishop of Winchester (21759) xii. 20  E. Gibbon, The Autobiography and Correspondence (1869) 84. 21  A Letter to The Right Reverend Author of The Divine Legation of Moses Demonstrated; In Answer to the Appendix to the Fifth Volume of that Work. […] By A Late Professor in the University of Oxford (1765). Ein Anhang gibt den bis dahin unveröffentlichten Briefwechsel von 1756 wieder. 22  Hall, Introductory Memoir 26. 23  A Letter 12–14. 24  Ebd. 14–71. 25  Ebd. 71–102.

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spricht: er kann den Pentateuch und Hiob, über deren Stil er sich Urteile anmaßt, nicht hebräisch gelesen haben26. Der Pentateuch und Hiob, das sind, wie teilweise schon im Briefwechsel von 1756, die beiden miteinander zusammenhängenden Streitpunkte: Lowth möchte, dass der Götzendienst schon vor Mose verboten war und bestraft wurde und dass Hiob, „the Homer of the Hebrew Classics“27, gleichzeitig mit Mose oder noch älter ist – dies eine Meinung, in der Lowth sich mit dem hartgesottenen Orthodoxen J.G. Carpzov trifft28 und nicht nur Warburton, sondern auch Jean LeClerc gegen sich hat, der den Hiob in die Exilszeit hinunterdatierte29. Vater William Lowth hätte sich über diese Frontstellung seines Sohnes sicher gefreut. Als Ausgang des damaligen Kampfes hält Gibbon fest: „whatsoever might be the merits of an insignificant controversy, his [Lowth’s] victory was clearly established by the silent confusion of Warburton and his slaves“30. Immerhin meldeten sich hüben und drüben noch einige Stimmen zu Wort, es gab auch einen grimmigen letzten Briefwechsel zwischen den beiden Streithähnen31; am Ende sollen sie sich ausgesöhnt haben32. Die Vorgänge hinderten nicht, dass Lowth noch im Herbst 1766 zum Bischof von Oxford erhoben wurde. Damals lag seine Oxforder Professur „of Poetry“ schon lange zurück. In dieses Amt scheint man ihn 1741 durchaus nicht als Bibelwissenschaftler berufen zu haben, und er hat sich in ihm auch nicht nur als solcher betätigt. So war es wohl eine Überraschung, als er „Praelectiones de sacra Poesi Hebraeorum“ zu seinem Hauptgeschäft machte. Er verteilte die 34 Vorlesungen über seine Amtsjahre (bis 1750) und publizierte sie in dem eingangs genannten Epochenjahr 1753. Es gereicht dem Buch zum Vorteil, dass es den Vorlesungscharakter beibehält; man empfindet sich schnell nicht nur als Leser, sondern als Hörer. Der ersten Ausgabe folgten zu Lebzeiten des Autors noch zwei weitere (1763, 1775) und eine souveräne englische Übersetzung durch G. Gregory (1787)33. Der Übersetzer bestimmte das Verhältnis zwischen dem Gegenstand der Vorlesungen und der Aufgabe der Professur, indem er sein Vorwort begann: „It may not be improper to apprize the public, that although the following Lectures be entided on the Hebrew Poetry, their Utility is by no means confined to that single object. They embrace all THE GREAT PRINCIPLES OF GENERAL 26  Ebd. 74. 27  Ebd. 80. 28 Vgl. J.G. Carpzov, Introductio ad libros canonicos bibliorum Veteris Testamenti II (1720) 45f.56f., aber auch noch J.G. Eichhorn, Einleitung ins Alte Testament III (1783) 636–49. 29  Vgl. A Letter 77. 30  Gibbon, Autobiography 84f. 31  The Second Part of an Epistolary Correspondence between the Bishop of Gloucester and the Late Professor of Oxford, Without an Imprimatur, i.e. without a cover to the violated laws of honour and society (1766). 32  Hall, Introductory Memoir 27–29. 33  S.o. Anm. 11.

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CRITICISM, as delivered by the ancients, improved by the keen judgment and polished taste of their author. In other words, this work will be found an excellent compendium of all the best rules of taste, and of all the principles of composition, illustrated by the boldest and most exalted specimens of genius (if no higher tide be allowed them) which antiquity has transmitted to us: and which have hitherto seldom fallen under the inspection of rational criticism.“34 Diesem hohen Anspruch widersprach nicht, dass Lowth die letzte Vorlesung nach Komplimenten für sein Publikum statt mit Allgemeinheiten mit der Empfehlung schloss, sich unter Anleitung von Thomas Hunt, königlichem Professor des Hebräischen in Oxford, mit der hebräischen Sprache, aber auch sonst mit den „Schätzen des Orients“ zu beschäftigen35. Das Alte Testament in seiner näheren Umgebung lag ihm wirklich am Herzen, sein Studium war ihm nicht nur ein Mittel zu anderen Zwecken. In der ersten Vorlesung hatte er 1741 ein Loblied auf die Poesie gesungen: sie belehrt wirksamer als Geschichte und Philosophie, indem sie nicht nur den Verstand, sondern das Gefühl anspricht. „Poeticae Propositum, Prodesse Delectando; ut Finis sit Utilitas, Medium Delectatio.“36 Ursprung und wichtigster Ort der Poesie ist die Religion, und hier wiederum steht das Alte Testament obenan: „Quid enim habet universa Poesis, quid concipere potest mens humana grandius, excelsius, ardentius; quid enim venustius et elegantius, quam quae in sacris Hebraeorum Vatum scriptis occurrunt? qui magnitudinem verum fere ineffabilem verborum pondere et carminis majestate exaequent; quorum cum nonnulli vel ipsis Graecorum poetarum fabulis sunt antiquiores, ita omnes tantum eos sublimitate exsuperant, quantum vetustate antiquissimi antecedunt.“37 Das rechtfertigt, ja fordert das Thema dieser Vorlesungsreihe (Prael. II) im Widerspruch zu der akademischen Übung, bei literarischen Studien Homer, Pindar und Horaz zu traktieren und zum Maßstab zu machen, Mose, David und Jesaja aber mit Schweigen zu übergehen38 – der Leser fühlt sich an Bernhard Duhms Klage zu Anfang von „Israels Propheten“ erinnert, ein Gebildeter kenne selbstverständlich Sokrates oder Plato, habe aber von den alttestamentlichen Propheten ganz falsche Vorstellungen39. Für die Hebräer und gegen die Griechen optiert Lowth, indem er die Poesie als Gottesgabe betrachtet: „non tam humano ingenio excogitatam, quam e coelo delapsam“ und daher „non parvis incrementis paulatim crescentem, sed ab ipso ortu plenam quandam habentem et decoris et roboris maturitatem“40 – eine Auffassung, hinter die Michaelis in seiner Ausgabe der Praelectiones ein dickes Fragezei34  Gregory in: Lowth, Lectures, vf. 35 Praelectiones2 (1763) (danach auch im Folgenden zitiert) 459f. 36  Ebd. 489. 37  Ebd. 20. 38  Ebd. 24. 39  B. Duhm, Israels Propheten (21922) V. 40 Praelectiones2 26.

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chen gesetzt41, zu der aber auch Moses Mendelssohn in einer wichtigen Rezension42 bemerkt hat, dieses Lob (für die hebräische Poesie) werde „der Verfasser selbst, wie wir glauben, für übertrieben halten“. Lowth beschwert das Problem nicht allzusehr, zumal er ja nicht den Theologiestudenten die göttlichen Orakel auslegen, sondern die an Geschmack und Literatur interessierte akademische Jugend auf die erlesensten Dichtungen hinweisen will43; er sieht seine Aufgabe also mindestens zuerst nicht als eine theologische, sondern als eine philologisch-literarisch-ästhetische. Die Untersuchung hat drei Gegenstände und also drei Teile, in Stichworten: Vers, Stil, Gattung. Der erste Teil wird am kürzesten abgehandelt, in einer einzigen Vorlesung (III). Die Existenz nicht nur von Poesie im Hebräischen, sondern auch von Versen und Strophen erweisen äußerlich die alphabetischen Psalmen. Auch die Existenz eines Metrums steht für Lowth nicht in Frage. Schon die Überschrift der Vorlesung sagt, die hebräische Poesie sei metrisch (Poesin Hebraeam metricam esse). Aber was Lowth mit der einen Hand zu geben scheint, nimmt er gleich wieder mit der anderen, indem er, die Kritik am Alter der masoretischen Punktation voraussetzend und teilend, einräumt, dass wir die Aussprache des alten Hebräisch nicht mehr kennen und also über die Zahl und die Quantität der Silben nichts Sicheres sagen können. Ein Kollege, der in den Psalmen Jamben und Trochäen fand, Francis Hare, Bischof von Chichester – womit beschäftigten sich damals Bischöfe! – verfällt unbarmherzigem Spott, zunächst kurz im Anhang zu den Praelectiones („Metricae Harianae brevis confutatio“), später ausführlich in „A Larger Confutation of Bishop Hares System of Hebrew Metre“ (London 1766). Was Lowth positiv zu bieten hat, deutet er zunächst nur vorsichtig an: die hebräische Poesie kennt eine „entsprechende Gestaltung der Sätze“ (sententiarum conformatio), wobei der vollständige Sinn fast gleichermaßen in jedem Satz oder Teilsatz enthalten ist und die einzelnen Glieder (membra) schon ganze Verse ausmachen. Die Gedichte teilen sich in gleichartige Perioden, die sich wiederum in Verse gliedern, meist zwei, oft auch mehr. So drücken die hebräischen Dichter dasselbe oft mit verschiedenen Worten aus, wobei Gleiches Gleichem entspricht und Gegenteiliges Gegenteiligem entgegengesetzt wird (paria paribus referuntur, adversis opponuntur contraria)44. Das ist eine ganz andere Dichtungsart als die griechische und römische und in andere Sprachen nicht adäquat zu übertragen45. Man begibt sich also ein Stück weit in eine uns fremde Welt, wenn man die hebräische Poesie studiert. Die Nötigung dazu hat Lowth in der berühmten Maxime ausgesprochen: „id […] enitendum, ut Hebraea, quantum fieri po41 I,11. 42  Jetzt in: Ges. Schriften, Jubiläumsausgabe, IV (1977) 20–62, 23. 43 Praelectiones2 28. 44  Ebd. 39f. 45  Ebd. 39–42.

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test, tanquam Hebraei legamus“. Das geschieht in einem Verfahren, das Lowth „komparativ“ nennt nach dem Vorbild der Astronomen, die, um ein Bild vom Universum und seinen Teilen zu gewinnen, in ihrer Vorstellung von einem Planeten zum anderen reisen, auf jedem ein wenig Wohnung nehmen und dann durch die vergleichende Betrachtung ihre Erkenntnisse gewinnen. „Similiter is quoque qui Poematum Hebraeorum proprias et interiores elegantias percipere velit, ita se comparet oportet, ut sese putet eodem in loco positum, quo ii quorum causa ea scripta sunt, aut qui ipsi scripserunt; ut cogitet, non quas rerum Imagines suo protinus animo jam offerrent certae quaedam voces, sed quaenam Hebraeo iis temporibus in ea regione constituto easdem dicenti aut audienti observari debuissent.“ Dass das nicht immer leicht ist, weiß Lowth sehr wohl: „id quidem in multis perquam difficile erit, in nonnullis nullo modo fieri poterit; in omnibus tamen unice erit spectandum“46. Die Nachfolger konnten kritisieren, dass Lowth auf dem von ihm gewiesenen Weg längst nicht weit genug kam. Michaelis kam weiter als er, Herder weiter als Michaelis, das 19. und vollends das 20. Jahrhundert weiter als Herder. Aber den Weg hatte er gewiesen. Das gilt nicht nur für den Grundsatz des „Lesens wie die Hebräer“, sondern auch für die Erörterung des Stils und der Gattungen im zweiten und im dritten Teil der Praelectiones. Fraglos ist dort jene Maxime noch viel zu wenig befolgt. Fast überall stößt man auf die Eierschalen der Betrachtung nach den Maßstäben der griechisch-römischen Dichtung und Philosophie (die immer wieder zitierten Autoritäten heißen Plato, Aristoteles, Horaz, Longin), die literaturgeschichtlichen Urteile sind, wo sie begegnen, oft ganz problematisch – ich erinnere an die Frühdatierung des Hiob (Prael. XXXII), die schon Warburtons Widerspruch hervorrief –, geschweige dass im Aufbau des Ganzen der geschichtliche Gesichtspunkt eine Rolle spielte. Aber solche Mängel haften bis heute – und gerade heute – den vergleichbaren Untersuchungen fast regelmäßig an, und ihnen steht gegenüber, dass Lowth auf Anhieb die immer noch berühmteste und wohl auch schönste Gesamtdarstellung seines Gegenstandes geliefert – und dass er den Parallelismus membrorum ans Licht gebracht hat. Bis zu dessen vollem Anblick muss sich der Hörer und Leser allerdings ziemlich lange gedulden. Vielleicht hat Lowth selber bei den Andeutungen, die er in der dritten Vorlesung gibt und die keinerlei Beispiele, ja nicht einmal den Begriff des Parallelismus enthalten, noch kein klares und detailliertes Bild vor Augen gehabt. Bevor er auf die Sache zurückkommt, handelt er in den Vorlesungen IV–XVII unter der Überschrift „‫ משל‬sive de stylo parabolico“ vom Stil der hebräischen Poesie, wobei er unter Stil „non nudam solum […] dictionem, sed sensus etiam, et rationem cogitandi“ verstanden wissen will47. Die Überschrift zeigt, auf welchen Nenner er das Ganze bringt. Nur kurz, fast im Vorübergehen, spricht er von der ersten der drei Stilarten, dem „genus sententiosum“, das, 46  Ebd. 61. 47  Ebd. 43.

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obwohl in der didaktischen Poesie zu Hause, auch alle anderen Gebiete durchdrungen, ja sie erobert hat48 (Prael. IV). Am ausführlichsten (Prael. V–XIII) kommt die zweite Stilart, das „genus figuratum“, zur Sprache. Es hat drei Untergruppen: Metapher (aus der Natur, dem täglichen Leben, dem Kult und der heiligen Geschichte, Prael. VI–IX), Allegorie (als weiter ausgeführte Metapher, als Parabel und als mystische Allegorie, die im besonderen der jüdischen Religion entspricht – was wiederum den Einspruch des Herausgebers Michaelis hervorruft49, Prael. X/XI) und Personifikation (Prosopopoeia, indem einerseits Lebloses oder Abstraktes als Person dargestellt, andererseits wirklichen Personen eine Rede in den Mund gelegt wird, Prael. XIII). Die dritte Stilart ist das „genus sublimi“ (Prael. XIV–XVII). Der Begriff der sublimitas, des „Erhabenen“, aus der fälschlich dem Longinos (3. Jh. n.Chr.) zugeschriebenen Schrift περὶ ὕψους, spielte in der literarisch-ästhetischen Diskussion des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts eine große Rolle; für Lowth ist er, wenngleich auf anderer Ebene, ein ebenso wichtiges Kriterium wie der Parallelismus membrorum, um den Unterschied der Poesie von der Prosa bei den Hebräern zu erfassen. Unter Berufung auf „Longinos“ definiert er: „Sublimitatem […] intelligo sensu latissimo sumptam; non eam modo quae res grandes magnifico imaginum et verborum apparatu effert; sed illam quaecunque sit orationis vim, quae mentem ferit et percellit, quae movit affectus, quae rerum imagines clare et eminenter exprimit; nil pensi habens, simplici an ornata, exquisita an vulgari dictione utatur […].“50 So gilt von der hebräischen Poesie im Unterschied zur einfachen, klaren, wohlgeordneten, korrekten, um Verständlichkeit bemühten Prosa: „Praecipitatur liber spiritus, cui nec vacat nec lubet tam minutis ac frigidis curis invigilare: saepe non tam vestit oratione et exornat conceptus, quam plene detegit ac nudat; ut quasi velo detracto omnes animi status motusque, subitos impulsus, celeresque impetus, et multiplices flexiones, palam intueri videamur.“51 Als erstes Beispiel führt Lowth den Übergang von der prosaischen Einleitung des Buches Hiob zu den Reden vor: wer ihn liest, wird einen größeren Unterschied finden als den zwischen Livius und Vergil oder Herodot und Homer; „nam cum hic locus imitetur vehementissimum πάϑος, quo nihil ardentius atque incitatius quisquam poetarum unquam tentavit, non modo sensuum atque imaginum admirabilis est vis, pulchritudo, sublimitas, sed et is etiam est universae dictionis character, tam vividi verborum colores, tam crebra rerum coacervatio, tam densa continensque frequentatio sententiarum, tam animosa et affectibus plena tota constructionis forma, ut nihil habeat Poesis ipsa magis poeticum.“ Freilich stellen gerade diese Partien den Exegeten mitunter vor schwere Aufgaben: „sunt quidem nonnulla, ad structurae formam praeci48  Ebd. 54. 49  Michaelis (Anm. 12) I, 222. 50 Praelectiones2 167. 51  Ebd. 169f.

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pue spectantia, quorum subtilior quaedam est ratio; fit enim interdum, ut quae magnam vim habent, et facile animo concipi possunt, eadem tamen difficiles habeant explicatus; dum contemplaris, satis clare forsan apparent; si manibus contrectes, saepe videntur evanescere.“52 Die Beschreibung des erhabenen Stils schließt mit Beispielen für die Darstellung der „Affekte“, die im Besonderen die Begegnung mit Gott auslöst: „Admiratio ex Divinae potentiae et majestatis contemplatione orta; Gaudium ex sensu Divini favoris prosperoque rerum exitu; Iracundia et Indignatio contra impios Deique osores; Dolor ex peccati conscientia, et poena delictorum divinitus irrogata; ex interminatione judiciorum Divinorum Terror“53. Das Buch Hiob, erster Zeuge für den erhabenen Stil, wird dann auch den krönenden Abschluss des dritten und umfangreichsten Teils der Praelectiones (XVIII–XXXIV) bilden, der „Poematum Hebraeorum variae species“ überschrieben ist, also das behandelt, was wir heute Gattungen nennen. Die erste Gattung ist die ‫ נבואה‬oder prophetische Dichtung (Prael. XVIII– XXI). Lowth weist in Auseinandersetzung mit den jüdischen Gelehrten Abrabanel und Maimonides und mit Hieronymus, den er einen „Judaeorum diligens auditor“ nennt54, den poetischen Charakter der Prophetie nach, wobei er einräumt, dass es auch nichtpoetische Prophetenbücher gibt (Daniel, Jona) und dass sich in den Prophetenbüchern auch nichtprophetische Gattungen finden55. Auf die Beschreibung der prophetischen Dichtung im allgemeinen (Prael. XX) folgt die der einzelnen Propheten (Prael. XXI); bei den Griechen findet Lowth keine rechte Parallele – der pythische Apollo war, wie es in der englischen Übersetzung heißt, „not always upon the best terms with the Muses“56 –, in Rom kommt Vergils vierte Ekloge in Betracht, der eine etwas ratlose Erörterung gewidmet wird57. Die zweite Gattung ist die ‫ קינה‬oder Elegie, die etwa ein Siebtel des Psalters ausmacht, aber auch im übrigen Alten Testament mannigfach begegnet, oft, besonders in der Prophetie, in Übertragung auf andere Situationen als die ursprüngliche der Klage beim Todesfall (Prael. XXIIf.). Es folgen die „‫ משלים‬sive carmina didactica“, die eigentlichen „parabolae“ mit den Kennzeichen brevitas und elegantia, mit denen auch „aliqua obscuritas“ vorhanden sein kann, die „suam utilitatem“ hat, indem sie zum Nachdenken reizt58. Die Vorlesung (Prael. XXIV) beginnt mit den Sprüchen Salomos, die in dieser Gattung „principem locum facile obtinent“, und schließt mit einer Übersetzung des Liedes der Weisheit Sir 24 in das ursprüngliche Hebräisch. 52  Ebd. 170. 53  Ebd. 208. 54  Ebd. 220f. 55  Ebd. 261f. 56  Lectures (s. Anm. 11) II, 101f. 57 Praelectiones2 284–87. 58  Ebd. 315.

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Leider enthalten die seitdem gefundenen Textfragmente des hebräischen Sirach dieses Kapitel nicht, so dass wir die Qualität der Übersetzung nicht von dorther bestätigen können; Moses Mendelssohn hat sie gelobt59. Einen breiten Platz unter den Gattungen nimmt die Ode (‫ )שיר‬ein (Prael. XXV–XXVIII). „Hanc Poeseos speciem prae caeteris omnibus excolebant Hebraei; et in eadem perinde eminent.“60 Sie entspringt „ex laetissimis incitatissimisque animae humanae Affectibus, Gaudio, Amore, Admiratione“61, und in dieser Vielfalt kündigt sich schon ihre Vielgestaltigkeit an. Sie ist charakterisiert durch suavitas (Prael. XXV) oder sublimitas (Prael. XXVIIf.) oder eine Mischung aus beiden (Prael. XXVI). Man sollte für diese Gattung eigentlich den Namen Hymne erwarten; diesen aber reserviert Lowth für eine besondere Gruppe der ‫שירים‬, die er unter der Bezeichnung „Idyllium“ zusammenfaßt; dazu gehören namentlich die „Geschichtspsalmen“ (Prael. XXIX). Zum Schluß kommt das Drama, das sich im Alten Testament allerdings nicht in reiner Form findet. Es handelt sich um das (allegorisch zu verstehende) Hohelied (Prael. XXXf.) und das älteste aller Bücher, Hiob, keine Allegorie – hier meldet Michaelis wieder energisch seinen Widerspruch an62 – und trotz gegenteiliger Meinung auch keine Tragödie nach Art der sophokleischen (Prael. XXXII–XXXIV). Und der Parallelismus? Nach den Andeutungen in der dritten Vorlesung hat Lowth ihn lange Zeit nicht wieder zum Thema gemacht; nur im Vorübergehen taucht die Sache auf, so bei der Erörterung des ersten Bileamspruchs in der vierzehnten Vorlesung, wo der in jenen Andeutungen noch nicht verwendete Begriff anklingt, indem von „parallelis Sententiis, paribusque membrorum intervallis“ die Rede ist63. Den Bann bricht die neunzehnte Vorlesung, in der es um den Erweis des poetischen Charakters der Prophetie geht. In den Dienst dieses Erweises stellt Lowth seine Entdeckung, die also für ihn ein geringeres Eigengewicht hat, als man anzunehmen pflegt, wenn man die „Praelectiones“ nur vom Hörensagen kennt. Es trifft schon zu: „Parallelism was hardly the subject of Lowth’s series of lectures, or even a central point. If he had to fix on one aspect of his treatment that was new and important, no doubt he would have singled out the point his treatment of parallelism supported, that from a stylistic Standpoint prophecy was a form of poetry, for the two had ‚one common name, one common origin, one common author, the Holy Spirit.‘“64 Diese Rolle des Parallelismus im Werk Lowths bestätigt eindrucksvoll der dritte Anlauf, in dem er 59  Rezension (Anm. 42) 48. 60 Praelectiones2 329. 61  Ebd. 327. 62  A.a.O. (Anm. 12) II, 647–701. 63  Praelectiones 166. 64 J.L. Kugel, The Idea of Biblical Poetry. Parallelism and its History (1981) 282. Das Lowth-Zitat: Praelectiones2 228.

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das Phänomen beschrieben hat: nach den Andeutungen in der dritten und der thematischen Erörterung in der neunzehnten Vorlesung die abschließende Behandlung in der „Preliminary Dissertation“, die 1778 die Übersetzung des Buches Jesaja65 einleitet. Die Definition in der neunzehnten Vorlesung lautet: „Poetica sententiarum Compositio maximam partem constat in aequalitate, ac similitudine quadam, sive parallelismo, membrorum cujusque periodi, ita ut in duobus plerumque membris res rebus, verbis verba, quasi demensa et paria, respondeant. Quae res multos quidem gradus habet, multam varietatem; ut alias accuratior et apartior, alias solutior et obscurior sit: ejus autem Tres omnino videntur esse Species.“66 Dazu die englische Version in der „Preliminary Dissertation“: „The correspondence of one Verse, or Line, with another, I call Parallelism. When a Proposition is delivered, and a second is subjoined to it, or drawn under it, equivalent, or contrasted with it, in Sense; or similar to it in the form of Grammatical Construction; these I call Parallel Lines; and the words, or phrases, answering one to another in the corresponding Lines, Parallel Terms. Parallel Lines may be reduced to Three sorts: Parallels Synonymous, Parallels Antithetic, and Parallels Synthetic.“67 Dass der Ausdruck „Parallelismus membrorum“ bei Lowth selber, genau genommen, nicht begegnet68, verschlägt wenig; er trifft die Sache. Jeder Bibelleser kann sich Beispiele für die drei „Sorten“ schnell zusammensuchen. Am häufigsten ist der synonyme Parallelismus, am vielgestaltigsten der synthetische, den Lowth auch den „konstruktiven“ nennt, „where the Parallelism consists only in the similar form of Construction“69; über diesen ist denn auch seither am meisten diskutiert worden. Insgesamt gilt: „Die Einteilung von Lowth ist klassisch und kaum umstritten.“70 Der Parallelismus membrorum liegt so sehr auf der Hand, dass man sich wundert, dass er erst so spät entdeckt wurde. Ganz ohne Vorläufer ist Lowth nicht gewesen71, und einer von ihnen war ihm bekannt, nämlich der jüdische Gelehrte Azarja dei Rossi aus Mantua (1511–78), aus dessen ‫עינים‬ ‫ מאור‬der jüngere Buxtorf im Anhang zu seiner hebräisch-lateinischen Ausgabe von Jehuda Halevis Kuzari (Cosri) einen Passus über die biblische Poesie mitgeteilt hatte72. Lowth übernahm das einschlägige Stück zunächst in Buxtorfs Latein73, später 65  R. Lowth, Isaiah. A New Translation: with a Preliminary Dissertation, and Notes Critical, Philological, Explanatory (1778). 66 Praelectiones2 237. 67  Isaiah xf. 68  Vgl. F. Rehkopf, ZNW 71 (1980) 46–57. 69  Isaiah xxi; vgl. Praelectiones2 252f. 70  L. Alonso-Schökel, Das Alte Testament als literarisches Kunstwerk (1971) 196. 71  Vgl. das genannte Buch von Kugel. 72  J. Buxtorf filius (ed.), Liber Cosri (1660) 415–24. 73 Praelectiones2 258f.

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übersetzte er es ausführlicher aus dem hebräischen Original74 und erklärte das dort entwickelte Prinzip für richtig, aber noch nicht zureichend durchgeführt75; das Entscheidende hat erst er selber beigetragen. In unseren Tagen hat Luis Alonso-Schökel im Blick auf den Parallelismus mit Bedauern festgestellt, seit Lowth sei „nur wenig getan worden, um dieses Phänomen, das die Mehrheit als besonderes, unterscheidendes Merkmal der hebräischen Dichtung anerkennt, weiter zu durchdringen, ausführlicher zu erforschen und in einen größeren Zusammenhang einzubauen“. Es gelte, Lowths fundamentale Entdeckung endlich „fruchtbar zu machen, indem man sie als Ausgangspunkt für weitere Analysen nimmt, – nicht allein von exegetischen Nützlichkeitserwägungen aus und diesen untergeordnet, sondern als Stilphänomen, das in sich der Aufmerksamkeit würdig ist“76. Lowth hätte sicherlich nichts gegen solche weiteren Analysen gehabt, für die sich in den „Praelectiones“ mancherlei Vorarbeit findet, aber er selbst hat seine Entdeckung, wenn man es denn etwas schnöde so ausdrücken will, doch „exegetischen Nützlichkeitserwägungen untergeordnet“. Die Darstellung des Parallelismus steht, wie wir sahen, in den „Praelectiones“ (XIX) im Dienst des Nachweises, dass die Prophetie Dichtung ist, und im Jesajakommentar (1778) ist sie ein wichtiges Hilfsmittel bei Übersetzung, Textkritik und Exegese. Es wäre eine lohnende Aufgabe, diesen – dem König von England gewidmeten – Kommentar als Glied in der Reihe der großen Erklärungen des Jesajabuches zu würdigen, die mit Campegius Vitringa (1714/20) beginnt und nach Lowth über Wilhelm Gesenius (1820/21) zu Bernhard Duhm (1892) weitergeht. Natürlich liegt zwischen Lowth und Gesenius die tiefste Zäsur, indem die Versetzung der Kapitel 40–66 in das babylonische Exil allererst ein wirklich historisches Verständnis des Buches ermöglicht oder doch angebahnt hat. Daran hatte Lowths Kommentar, der es seiner Anlage nach auf solche Fragen nicht absah77, immerhin einen indirekten Anteil: in den Zusätzen zu seiner deutschen Übersetzung78 machte der Göttinger Theologieprofessor Johann Benjamin Koppe einige Bemerkungen, die alsbald andere zur Entdeckung des „Deuterojesaja“ führten79. Und Gesenius schrieb seinem Vorgänger in der Kommentierung des Jesaja zumindest „in ästhetischer und poetischer Hinsicht ausgezeichnete Verdienste“ zu. Im übrigen urteilte er zurückhaltender: Lowths „Anmerkungen sind theils historischer und antiquarischer Art, theils dogmatischer (in welcher er dem kirchlichen System nichts vergibt), theils kritischer, wo er eine Menge Aenderungen des Textes, theils nach vermeintlichen Varian74  Isaiah xli–xlviii. 75  Ebd. xlviii. 76  Alonso-Schökel a.a.O. 205. 77  Vgl. W. McKane, Selected Christian Hebraists (1989) 162f. 78  D. Robert Lowth’s Lord Bischofs zu London und der Londoner und Göttingischen Societäten der Wissenschaften Mitglieds Jesaias I (1779); II/III (1780); IV (1781). 79  Vgl. R. Smend, Lowth in Deutschland, in: ders., Bibel und Wissenschaft (2004) 51–70, 67.

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ten in den alten Uebersetzungen, theils nach eigenen und einiger Freunde […] Conjecturen, wagt. Das Nichtige und Unnöthige dieser vorgeblichen Emendationen wird sehr gründlich von einem in Holland gebildeten schweizerischen Gelehrten, Kocher80, dargeboten, der freylich, beynahe in Buxtorf’s Fußstapfen tretend, von dem masorethischen Texte auch kein Haar breit abweichen will“81. Die seitherigen Kommentatoren sind in dieser Hinsicht meist Mittelwege gegangen, Kocher zur Rechten, Lowth zur Linken. Mehr auf Lowths Seite ging Duhm, an dessen oft kühner Textkritik ein ausgeprägter Sinn für die Form der prophetischen Dichtung beteiligt war. Als Lowth seine „Praelectiones“ schrieb, umschlossen im Urteil der Nachwelt noch „Buxtorfs Finsternisse“ das Alte Testament82; umso mehr war der spätere Oxforder im Recht, der seinen Vorgänger „that morning star of biblical criticism“ nannte83.

80  D. Kocher, Vindiciae s. textus hebraei Esaiae vatis, adversus D. Roberti Lowthi […] criticam (1786). 81  W. Gesenius, Philologisch-kritischer und historischer Commentar über den Jesaja, I/1 (1821) 135. Einzelheiten bei R.S. Cripps, BJRL 35 (1952/53) 393–96. 82  S.o. 34. 83  T.K. Cheyne, Job and Solomon or The Wisdom of the Old Testament (1887) viii.

Johann David Michaelis 1717–1791

Über Mangel an Beachtung brauchte er nicht zu klagen. Der junge Lessing stellte sich ihm mit einem Lebenslauf von souveräner Bescheidenheit vor, Goethe bedauerte wohl noch im Alter, nicht bei ihm studiert zu haben, Bürger brachte seinen „Manen“ im Namen einer Schar von „Hochverehrern“ ein bombastisches „Todtenopfer“ dar1; Herder hatte Anlass, ihm „Betrügereien, Pral- u. Schindereien“ zuzuschreiben, aber Lichtenberg fand, „durch alle seine Possen“ schimmere immer „der grose Mann durch“2. Ganz unbeeindruckt blieben nur wenige: „Der Mann weiß alles besser, und am Ende hat er doch entweder unrecht, oder nichts neues gesagt“, urteilte Moses Mendelssohn, und im Abstand eines Jahrhunderts erklärte Julius Wellhausen seinen ersten Göttinger Vorgänger ohne Umschweif zur „Scheingröße“3. Wiederum ein Jahrhundert später hat ein junger amerikanischer Gelehrter über den umstrittenen Mann ein verständnisvolles Buch geschrieben, das ihn auf die Dauer in ein helleres Licht zu setzen verspricht4. Um den berühmtesten Bibelwissenschaftler des 18. Jahrhunderts kennenzulernen, lassen wir uns zunächst aus seinem Hörsaal berichten. Der Eindruck ist auch dort ambivalent. Hören wir einen hannoverschen Landpfarrer unbekannten Namens, der ihn glühend verehrte: „Ritter Michaelis – das war der Mann, bei dem man Alles fand, was man suchte. […] Ein Mann von vortrefflicher Leibesbildung und Anstand, als Cavalier gekleidet, mit besetzten Kleidern, gestiefelt und gespornt, den Degen an der Seite, pathetisch in seinem Gange, 1  Lessing: Brief vom 16.10.1754 (Werke und Briefe, hg. von W. Barner, II/1, 58f.); Goethe: Dichtung und Wahrheit II,6 (Sämtliche Werke, Frankfurter Ausg., I/14, 265); G.A. Bürger: Todtenopfer, den Manen Johann David Michaelis dargebracht von seinen Verehrern, im August, 1791 (Bürgers sämmtliche Werke, hg. von A.W. Bohtz, 1835, 92f.). 2  Herder: Brief vom 7.8.1773 an Lavater (Briefe, hg. von W. Dobbek und G. Arnold, III, 1978, 37); Lichtenberg: Brief vom 19.6.1783 an J.A. Scharnhagen (G.C. Lichtenberg, Briefwechsel, hg. von U. Joost und A. Schöne, II, 1985, 631). 3  Mendelssohn: mitgeteilt von G.F. Brandes, bei O. Ulrich, Hannoversche Geschichtsblätter 2 (1899) 341; Wellhausen: Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1901) 69. 4  M.C. Legaspi, The Death of Scripture and the Rise of Biblical Studies (2010).

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eine hohe Miene, die einen großen Geist und zugleich Muth verrieht, mit feurigen Augen, die so scharf blickten, daß man ihm nicht gern lange ins Angesicht sahe – so tritt er ins Auditorium, die Bibel unter dem Arme. In dem Hörsale dieses Mannes wurden mir Stunden zu Minuten. Man konnte es merken, daß es einem jede Stunde, die man daselbst zubrachte, heller im Kopfe ward. Er führte seine Zuhörer so ganz den Gang des Forschungsgeistes. Sein Vortrag hatte unglaublich viel Einnehmendes. Er war voll Leichtigkeit, Witz und Anmuth, wiewohl oft sein Witz fast zu sehr überströmte. Die wahre Suade saß auf seinen Lippen. Er hatte kein Katheder, sondern saß an einem kleinen Tische ganz nachlässig, bald sich mit seinem Stuhl herumwerfend, bald hinter seinem Stuhle stehend und sich lehnend, bald pathetisch im Auditorium auf- und niedergehend – alles so genau grade der Sache angemessen, von welcher er sprach. Als Schauspieler würde er jede Rolle vortrefflich gespielt haben; denn er konnte sich in jede Lage, Leidenschaft, Charakter so versetzen, wie nur ein vollkommener Schauspieler thun kann, z. B. machte er bei der Erklärung des Buchs Hiob die Rolle der darin handelnden Personen so trefflich, daß alle Zuhörer ganz Gefühl waren. Unvergeßlich ist es mir, wie er bei der Erklärung des 3. Capitels im Hiob anfangs den Mann schilderte, welcher der Verzweiflung nahe ist; hernach aber bei V. 17 ff. in Wehmuth hinsank. Bewundernswürdig, daß ein Mann, dessen Hauptstudium Philologie und Sprachkritik war, ein so starkes Dichtergefühl hatte, bei vortrefflichen poetischen Stellen der Bibel oft in Enthusiasmus gerieth und dann auf der Stelle Dichter ward. Er wußte beinahe den ganzen Virgilius und Horatius auswendig, führte oft aus dem Gedächtniß ganze Stellen aus diesen Dichtern an, und konnte ganze Stellen aus griechischen und arabischen Dichtern hersagen. Man kann also leicht vermuthen, wie vortrefflich sein Collegium über die Psalme müsse gewesen seyn. Auch da wußte er die mannichfaltigen Leidenschaften durch alle Mienen und Geberden bis zur Thräne im Auge, ja bis zur Wandlung der Gesichtsfarbe auszudrücken. Als er den 126. und 137. Psalm erklärte, ward jeder bis zu Thränen gerührt. Wenn jemand reisen wollte, um Weisheit zu lernen, der hätte Michaelis über die Proverbia hören müssen. Bei ihm hört[e] man eine ganz andere Moral, als in den Hörsälen der Theologen. Seine Welt- und Menschenkenntniß war ungemein groß; er kannte die große und vornehme Welt (dazu hatte er seinen Aufenthalt in England benutzt); aber auch die Welt des Pöbels. Beim Salomo war es nicht anders, als wäre man in der Schule eines großen Weisen des Morgenlandes.“ Aber das Bild hatte auch Schatten, wenigstens bei anderen als unserem Gewährsmann. Er fährt fort: „Unter den Studirenden der Theologie hatte Michaelis viele Feinde, und viele, die ihn verkannten. Die Ursache davon war bei Verschiedenen verschieden. Einige haßten ihn, weil man ihm ohne Gnade pränumeriren5 mußte. In den ersten Stunden mußten die Zuhörer ihre Namen aufschreiben; dann war sein Bonmot: ,das Aufschreiben thuts freilich nicht; 5  D.h. die Vorlesungsgebühren im Voraus bezahlen.

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aber das Pränumeriren erfordert eitel gläubige Herzen.’ – Andre waren seine Freunde nicht, weil er viele witzige Einfälle hatte, und manchmal Minuten lang scherzte. Ich habe aber in einer Stunde bei ihm, die voller Scherz war, oft mehr gelernt, als in den Stunden mancher Lehrer, die immer im ernsthaften Tone von ihrem Katheder herabdocirten. Manche bigotte junge Leute bildeten sich ein, es schicke sich nicht, daß ein Bibelerklärer ein witziger Weltmann sei. Andern waren seine Materien nicht recht: die wollten nur etwas haben, was unmittelbar für die Kanzel brauchbar wäre, und die hießen Lessianer6. Andere waren zu arm an Vorbereitungswissenschaften und zu schwach am Verstande, um mit einem Michaelis fortdenken zu können; andere hielten ihn für heterodox und wurden dadurch abgeschreckt.“ Den Erfolg verhinderte das alles nicht: „Dessenungeachtet war Michaelis Auditorium, ein sehr großer Saal, immer gepreßt voll, so daß man oft nicht mehr zum Sitzen gelangen konnte. Man sahe in seinem Hörsaale allerlei Nationen und Religionsverwandte. Viele reformirte studiosi theologiae hörten ihn; sogar war eine Gesellschaft von Studenten griechischer Religion mit ihrem Popen da. Auch Katholiken studirten unter ihm: und gewiß hat das Licht, das hier und da in katholischen Ländern aufgeht, den ersten Funken aus dem Michaelis’schen Lehrsaal erhalten.“7 Kürzer ist der Bericht des Schaffhausers Johann Georg Müller (1759–1819), der Michaelis immerhin „den größten Mann“ nennen konnte, „den Göttingen damals und seither hatte“: „Er folterte würklich Math 19,1–12. Der Exeget des neuen Testamentes unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, der wiederkommen wird, zu richten, die Lebendigen und die Todten – saß da vor einem Tischgen – in Stiefeln, gelbledernen Beinkleidern, blauem Kleid mit Treßen und dem Orden, einer Beutelperücke – besoffen – las da im Testament, halbschlafend, nonchalant, und sagte mehr als die halbe Stunde Zoten, darüber alle, und er selbst zuerst erröthete die er fast nicht und nur mit leiser, schleichender Stimme heraussagen durffte – erzählte verschiedene Patriarchengeschichten so, daß man nicht aufsehen durffte. Und wie er da saß, mit welcher Souverainetät und Ansehen, mit welcher Allgewalt! mit welchem Bewußtseyn!“8 Am kürzesten äußert sich der Student Alexander von Humboldt (1769–1859): „Sein Vortrag abscheulich, wie sein Sprachorgan und voller Zoten.“9 Michaelis stammte, was nie ganz ungefährlich ist, aus einer Professorenfamilie. Sein Vater Christian Benedict Michaelis (1680–1764) und sein Großonkel Johann Heinrich Michaelis (1668–1738) – davor hieß die Familie schlicht Michel – wirkten als Theologen und Orientalisten in Halle. Ihr Beispiel schreckte ihn nicht ab, sondern bestimmte ihn zum gleichen Beruf. Beim Vater, der ihn offenbar zu seinem Nachfolger heranbilden wollte, hörte er schon als Schüler einige, 6  Nach dem damaligen Göttinger Theologieprofessor Gottfried Leß (1736–97). 7  Überlieferungen zur Geschichte, Literatur und Kunst der Vor und Nachwelt, hg. von F.A. Ebert, I/1 (1826) 68–71. 8  Mitgeteilt von W. Gresky, Göttinger Jahrbuch 23 (1975) 82f. 9  A. v. Humboldt, Jugendbriefe an Wilhelm Gabriel Wegener, hg. von A. Leitzmann (1896) 64.

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als Student alle Vorlesungen über Biblisches und Orientalisches. 1739, im Alter von 22 Jahren, wurde er promoviert und begann selbst zu dozieren, 1741/42 hielt er sich anderthalb Jahre in England auf. 1745 ging er an die junge Universität Göttingen, wo er sich zunächst mit dem Übersetzen englischer Literatur, voran Samuel Richardsons „Clarissa“, nebenher Geld verdiente, aber schnell vom Privatdozenten zum außerordentlichen und ordentlichen Professor aufstieg (1746, 1750). Über den Ortswechsel hat ein unverdächtiger Zeuge, der in Halle verbliebene Johann Salomo Semler (1725–91), später gesagt, manche hätten den Fortgang des „eben aufblühenden Mannes“ „ganz gern gesehen“. „Halle hat indes unleugbar seines gleichen nicht wieder bekommen; und das große, so große so fruchtbare Feld der orientalischen Philologie, hat durch diesen Verlust so viel bey uns gelitten, als Göttingen durch diese Eroberung gewonnen hat.“10 Schon bevor er ein berühmter Mann geworden war, errang Michaelis in der Göttinger akademischen Welt eine Schlüsselposition, zunächst als rechte Hand des großen Polyhistors Albrecht von Haller (1708–77), nach dessen Rückkehr in seine schweizerische Heimat (1753) durch eigene Drähte zur Regierung in Hannover. Er nahm bestimmenden Einfluss auf Berufungen und manches sonst, leitete die Akademie (damals „Societät“) der Wissenschaften, einige Jahre auch die Universitätsbibliothek und hieß nicht ganz zu Unrecht „der Regent von Göttingen“. Beliebt und auf die Dauer erfolgreich war er in dieser Rolle nicht. Zwar besaß er Fleiß und Menschenkenntnis, Geschick und Energie, aber Diskretion und Uneigennützigkeit gingen ihm ab. „Gut Geld zählen“ und „regnet Louisd’ors“ schrieb Carl Friedrich Bahrdt (1741–92), enfant terrible der damaligen Theologie, in seinem „Kirchen und Ketzer-Almanach“ neben den Namen MichaeIis11. Es lag nicht am bösen Willen der anderen, dass Michaelis nicht nur Missfallen, sondern auch Widerstand fand und die Göttinger Regenten-Stellung immer mehr durch den Altphilologen Christian Gottlob Heyne besetzt sehen musste, der einen anderen Stil hatte und an dessen Integrität es keinen Zweifel gab. In Göttingen steht noch ein ziemlich pompöses Denkmal für Michaelis, nämlich das Haus, das er ein Vierteljahrhundert lang besaß und bewohnte – übrigens schon das dritte Haus, das er in Göttingen gekauft hatte. Groß und weithin sichtbar gegenüber den Universitätsbauten gelegen, demonstrierte es den gesellschaftlichen Anspruch seines Besitzers. Michaelis hat diesen Anspruch auch auf andere Weise erhoben und eingelöst. Die nach späterem Brauch an seinem Haus angebrachten Gedenktafeln, die an dortige Aufenthalte von Benjamin Franklin und Thomas Young erinnern – sie ließen sich leicht so sehr vermehren, dass die Fassade wie eine Briefmarkensammlung aussähe –, geben wenigstens eine kleine Andeutung von seinen internationalen Beziehungen, die bis auf die königlichen Throne reichten. Außerdem hängt dort eine Tafel für 10  D. Joh. Salomo Semlers Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt I (1781) 86. 11  1781 beim 6. April, 1787 beim 7. September.

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seine älteste Tochter Caroline, später Frau Schlegel, noch später Frau Schelling, dem lesenden und klatschenden Publikum schon bald erheblich interessanter als der Vater. Alexander von Humboldt, einer der ungezählten Studenten, die im Hause Michaelis verkehrten, fand es dort, anders als in der Vorlesung, „sehr angenehm“ und rühmte den „freien ungenierten Ton“, der dort herrsche. Das lag wohl vor allem an den Damen. Am Hausherrn fiel Humboldt als „sonderbarer Zug […] seine Liebe zu Krieg und Militär“ auf; er lebe ganz in der preußischen Rangliste12. Berühmt wurde Michaelis trotz allem in erster Linie als Gelehrter. Der war er in einem damals gerade noch möglichen erstaunlich weiten Sinn. Das veranschaulichen auf einen Blick die Titel der Abhandlungen, die er 1766/69 in zwei Bänden „Vermischte Schriften“ zusammenstellte: Zerstreuete Anmerkungen über das Gedächtniß; Vorschlag, wie man die Frage untersuchen könnte: Ob die Einbildungskraft der Mutter einen Einfluß in die Gestalt der Frucht habe? Von der Zeit, da die Völker die Kunst noch nicht gehabt haben, Feuer anzuzünden; Von dem Alter der Brenngläser, oder der Brennkrystalle, desgleichen von einigen andern Mitteln, Feuer hervorzubringen; Nöthige Aufmerksamkeit, die man bey Vorschlägen zu Anlegung guter Witwen-Cassen beobachten muß; Von der herumziehenden Schafzucht der Morgenländer, bey Gelegenheit eines von der Spanischen Schafzucht geschriebenen Briefes; Von dem Alter der Hebräischen Vocalen, und übrigen Punkte; Von Wittwencassen; Einige Zweifel und Erinnerungen, so mir bey der Calenbergischen WittwenverpflegungsGesellschaft beygefallen sind. Man sieht, ein „Fachidiot“ war er nicht. Er legte auch Wert darauf, Professor der Philosophie (oder noch lieber: der Weltweisheit) zu heißen und nicht Professor der orientalischen Sprachen, obwohl deren Lehre seine eigentliche Aufgabe war13. Die Themen seiner „Philosophie“ gingen, wie die angeführten Beispiele zeigen, schnell ins Ethische und Praktische. Ihn interessierte alles Reale, er studierte faktenhungrig die Journale und ließ sich von Kollegen anderer Fächer orientieren, mündlich und brieflich14. In seinen Schriften konzentrierte er sich sehr wenig und kam leicht vom Hundertsten ins Tausendste. Er wollte belehrend und unterhaltsam schreiben und wurde dabei flach und geschwätzig. Ihn zu lesen ist kein Vergnügen15. Nach seiner Ernennung zum ordentlichen Professor gab er eine Schrift heraus, die „von der Verpflichtung der Menschen“ handelt, „die Wahrheit zu re12  Humboldt (Anm. 9) 65. 13  Vgl. J.D. Michaelis, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, mit Anmerkungen von Hassencamp. Nebst Bemerkungen über dessen litterarischen Charakter von Eichhorn, Schulz – und dem Elogium von Heyne (1793) 43. 14  Eine Auswahl seiner Korrespondenz bietet J.G. Buhle, Literarischer Briefwechsel von Johann David Michaelis I–III (1794–1796). 15  Hier protestiert Kurt Flasch, als Schriftsteller ebenso angesehen wie als Gelehrter, mit dem Bekenntnis, die zweite Auflage der Michaelisschen Dogmatik (1784) „mit Vergnügen gelesen zu haben, mit mehr Vergnügen als bei jeder anderen Darstellung der christlichen Lehre seit Erasmus“ (Der Teufel und seine Engel, 2015, 333).

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den“, und daran ein Programm seiner künftigen Arbeit anschließt16. Er will sich in seinen Vorlesungen auf das beschränken, wofür man ihn berufen hat, „auf die morgenländischen Sprachen und auf die Erklärung der heiligen Schrift“, aus der Philosophie und Weltweisheit dagegen nur bisweilen Hermeneutik vortragen17 – was er dann aber nie getan hat. Das Programm – in der späteren Durchführung natürlich auch sonst vielfach modifiziert – enthält hebräische Grammatik (jährlich, alle drei Jahre ausführlich), Exegese von Genesis, Jesaja und Psalmen (regelmäßig, je ein halbes Jahr), Hiob und Sprüche Salomos (gelegentlich, je ein halbes Jahr), daneben kursorische Lektüre des ganzen Alten Testaments (in zwei Jahren) mit Übersetzung und kurzer Erklärung, damit die Anfänger schnell hebräisch zu lesen lernen. Die übrigen orientalischen Sprachen sollen in einem raschen Turnus traktiert werden, wobei für das Arabische ein halbes, das Syrische ein Viertel-, das „Chaldäische“ (Aramäische) und „Rabbinische“ ein halbes Jahr vorgesehen sind. Michaelis verspricht, dass man bei ihm alles so schnell lernen kann; es komme nur auf Willen und Fleiß der Studenten an18. Die studentischen Stimmen, die auf uns gekommen sind, teilen diesen Optimismus nicht durchweg19. Im Übrigen will Michaelis über die hebräischen Altertümer oder einen griechischen Schriftsteller oder Einleitung in das Neue Testament lesen – diese anhand seines Lehrbuches, das zuerst eben 1750 erschienen war und 1788, drei Jahre vor seinem Tode, die vierte Auflage erlebte. Auch sonst konnte er im Unterricht eigene Werke benutzen. Von den Sprachen, die er lehrte, gab er Grammatiken oder Chrestomathien oder beides heraus, teilweise in mehreren Auflagen und auch andere Universitäten bedienend. Überhaupt war seine Produktion immens. Kleinere Abhandlungen veröffentlichte er in großer Zahl separat oder in Zeitschriften, in späteren Jahren bestritt er mit ihnen allein ein Periodicum namens „Orientalische und Exegetische Bibliothek“, 1771–85 in 23 Teilen erschienen und 1786–91 durch die „Neue Orientalische und Exegetische Bibliothek“ in 8 Teilen fortgesetzt. Dazu kamen die größeren Werke, die im Folgenden nicht einmal vollständig aufgezählt, geschweige denn hinreichend gewürdigt werden können. Gegenstand und Art dieser Arbeit waren sozusagen ererbt und bewegten sich zu einem guten Teil in den damit vorgezeichneten Bahnen, gingen aber doch auch sehr deutlich darüber hinaus. Man mag es als symbolisch nehmen, dass Michaelis zeitlebens intensiv die verbreitete Handausgabe der Biblia Hebraica benutzte, die sein Großonkel unter Mitarbeit seines Vaters veranstaltet hatte, dass er aber auch kritische Anmerkungen zu ihr veröffentlichte20. Dem hebräischen Bibeltext galt seine erste Schrift, die Hallenser Dissertation von 1739, in der er das hohe Alter der den Konsonanten beigefügten Punkte ver16  Hier zitiert nach dem Druck von 1773. 17  Ebd. 40. 18  Ebd. 70. 19  Vgl. B.G. Niebuhr, Kleine historische und philosophische Schriften I (1828) 15. 20  OEB 1 (1771) 207–22.

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teidigte. Dreißig Jahre später, in der schon genannten Abhandlung über dieses Thema innerhalb seiner „Vermischten Schriften“, trat er zum längst fälligen Widerruf an, nicht zuletzt um zu rechtfertigen, dass er sich in seiner Übersetzung des Alten Testaments, die im gleichen Jahr, 1769, zu erscheinen begann, grundsätzlich nicht an die hebräischen Punkte band. Als Beispiel dafür, wie schöne Erfolge er damit erzielte, stehe hier seine Konjektur zu einem Vers aus dem Propheten Amos (6,12). Dort ist von der Perversion der Rechtsordnung durch die Israeliten die Rede, und um deren Unsinnigkeit darzutun, gebraucht der Prophet in Frageform ein doppeltes Bild: ‫ַהיְ ֻר צּון‬ ‫סּוסים ִאם־יַ ֲחרֹוׁש ַב ְב ָק ִר ים‬ ִ ‫ב ֶס ַלע‬.ַ Die erste Frage ist klar: „Laufen denn Pferde auf Felsen?“ Hinzuzudenkende Antwort: nein (das tun Ziegen!). Die zweite Frage, so wie sie dasteht, muss übersetzt werden: „oder pflügt man mit Rindern?“ Das passt nicht in den Zusammenhang; die Antwort müßte „ja“ lauten, der Satz sagt nichts Unsinniges, sondern, schon gar in Palästina, eine Trivialität; dazu kommt, dass ‫„ ָּב ָקר‬Rindvieh“ ein Kollektivum ist, das sonst fast überhaupt nicht in den Plural gesetzt wird. Michaelis behob die Schwierigkeit, indem er das letzte Wort unter Beibehaltung der Konsonanten in ‫ ַּב ַָב ָקר יָ ם‬veränderte: „oder pflügt man mit Rindern das Meer?“ Die Relativierung der Punktation war nicht das einzige Mittel, mit dem Michaelis einen besseren Bibeltext herzustellen versuchte. Vielmehr verwendete er dafür auch die alten Übersetzungen ins Griechische, Syrische, Aramäische und andere Sprachen in solcher Breite und mit solchem Erfolg, dass man geurteilt hat, in Deutschland habe er den textkritischen Wert dieser Übersetzungen, der in Frankreich schon ein Jahrhundert früher von Einzelnen erkannt war, überhaupt erst zur Anerkennung gebracht21. In der Freude, damit ein von der jüdischen Tradition im engeren Sinne unabhängiges Mittel zum Verständnis und zur Kritik der Texte zu haben, überschätzte er allerdings vielfach die hebräischen Sprachkenntnisse der alten Übersetzer und damit den Wert ihrer Werke. Wir sehen uns heute wieder stärker auf die überlieferte hebräische Bibel angewiesen, als die von Michaelis mitbestimmte Epoche der Wissenschaft es tat; leichter ist die exegetische Aufgabe dadurch nicht geworden. Zu ihrer Lösung trägt aber inzwischen eine Sprachwissenschaft bei, die sich seit Michaelis im Material gewaltig ausgedehnt, in der Methode sehr verfeinert hat. Michaelis gilt als einer ihrer Begründer. Auch hier konnte er an die familiäre Tradition anknüpfen und sich zugleich von ihr abheben. Der schon erwähnte Semler berichtet, Christian Benedict Michaelis, der Vater also, habe „sehr viel auf Etymologien im griechischen aus dem arabischen“ gehalten, und er, Semler, sei als Student „einmal so glücklich“ gewesen, „von ihm öffentlich gelobt zu werden“, als er eine solche Etymologie erraten habe22. Johann David Michaelis will diese „schwache Seite“ seines Vaters schon früh durchschaut ha21  R. Smend, Johann David Michaelis (1898) 7. 22  Semler (Anm. 10) 88.

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ben, fand auch, die ausschließliche Schulung durch den Vater habe „zu viel Einförmigkeit im Denken zuwege“ gebracht; der „ganze weit ausgebreitete Nutzen der orientalischen Sprachen und ihr Interesse in Sachwissenschaften“ sei ihm erst später aufgegangen23. Für die Erweckung seines kritischen Sinnes war hier wie auch sonst der Englandaufenthalt von 1741/42 das entscheidende Datum. Auf der Hinreise besuchte er in Leiden das dortige Schulhaupt, den Professor für orientalische Sprachen und hebräische Altertümer Albert Schultens (1686– 1750), der das Hebräische vor allem vom Arabischen und dortigen Grundbedeutungen her erklärte. Michaelis war in diesem Punkt zurückhaltender24 und zog, auf den Spuren seines Vaters übrigens, in stärkerem Maße auch das Syrische heran. Aber auch als Haupt einer neuen Schule blieb er Schultens zeitlebens verpflichtet. Im Grunde kam er nicht darüber hinaus, Vermittler dessen zu sein, was in der westeuropäischen Wissenschaft geleistet worden war. So hatte er auch keinen selbständigen Anteil an der Ausbildung einer Semitistik, die nicht mehr im Sinne der überkommenen Philologia sacra einseitig auf das biblische Hebräische ausgerichtet war. Seinem größten Konkurrenten auf diesem Gebiet, dem genialen, aber weltfremden Johann Jakob Reiske (1716–74), dem eigentlichen Begründer der modernen Arabistik, einst in Halle sein Mitschüler, schnitt er auf niederträchtige Weise den Weg zu einer Professur ab25. Über sein eigenes Arabisch klingt das fachmännische Urteil alles andere als gut26. Vom Hebräischen handelte er theoretisch vor allem in der Schrift „Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen“ (1757), praktisch in einer großen Fülle philologischer Einzelbemerkungen, die in mehreren Bänden „Supplementa ad lexica Hebraica“ (1784–92) gesammelt sind. Der berufenste Kenner, Wilhelm Gesenius, hat geurteilt, man finde hier „manche schöne Untersuchungen, wiewohl man in Materie und Form des Werkes hier und da die consequente Haltung der Grundsätze vermißt, die der Verfasser selbst in der Theorie aufgestellt hatte“27. Durch Gesenius selbst ist die Hebraistik im Rahmen der semitischen Philologie dann sehr schnell über diesen Stand hinausgeführt worden. Hätte Michaelis sich auf die Philologie beschränkt, wäre seine Wirkung nicht erklärlich. Sein zweites Arbeitsgebiet, mit dem ersten natürlich zusammenhängend, waren die Lebensverhältnisse der biblischen Welt und Zeit. Hierhin gehört die berühmte königlich-dänische Arabien-Expedition von 1761–67, die er angeregt und in gewissen Grenzen ausgewertet, aber zu seinem Glück 23  Lebensbeschreibung (Anm. 13) 19f. Dort ist statt von arabisch-griechischen von arabischdeutschen Etymologien die Rede. 24  Vgl. Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen (1757) 258–81. 25  Vgl. Smend (Anm. 21) 12f.; zu Reiske vgl. J. Wellhausen, EBrit9 XX (1886) 354f.; J. Fück in: Beiträge zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft, hg. von R. Hartmann und H. Scheel (1944) 192–208; Johann Jacob Reiske – Leben und Wirkung, hg.v. H.-G. Ebert und Th. Hanstein (2005). 26  Fück a.a.O. 203f. 27  Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift (1815) 134.

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nicht selbst mitgemacht hat. Ihre Geschichte ist aufregender als jeder Roman; nur einer der sechs Teilnehmer, der Geometer Carsten Niebuhr, kehrte nach Europa zurück und berichtete Michaelis als erstem28. Einiges von den Ergebnissen fand Eingang in die sechs Bände „Mosaisches Recht“, die Michaelis 1770–75 in erster, 1785 in zweiter Auflage publizierte29. Er wollte darin in der Nachfolge Montesquieus eine „Philosophie“ des alttestamentlichen Gesetzes geben, indem er es in die Zeit und Welt hineinstellte, in der es entstanden und für die es bestimmt war. Dadurch rückte er es zugleich in die Nähe und in die Ferne: es wurde verständlicher, verlor aber vollends die Verbindlichkeit des für alle Zeiten und Regionen geeigneten Gottesgesetzes. Gleichwohl beanspruchte Michaelis für seine Darstellung eine gewisse Aktualität. Das Buch ist einem schwedischen Juristen gewidmet, der für sein Land ein neues Gesetzbuch auszuarbeiten hatte. Michaelis rechnete darauf, dass ihm die „Freyheit-liebenden Grundsätze des Staatsrechts der Israeliten […] auch nach einem gewissen Nationalgeist gefallen“ würden; das mosaische Gesetz halte keine Staatsform für die allgemein beste, sehe zunächst die Republik vor und erst für eine spätere Zeit die Monarchie, aber auch dann „keinen ganz unumschränkten und durch nichts balancirten König“30. Nach dem Staatsrecht nimmt Michaelis das Strafrecht seiner eigenen Zeit so ausgiebig in den Blick, dass ein moderner Jurist die beiden Schlussbände des „Mosaischen Rechts“ geradezu als einen „Grundriß aufklärerischer Kriminalpolitik“ interpretieren konnte31. Auf noch breitere Wirkung war die „Deutsche Übersetzung des Alten Testaments mit Anmerkungen für Ungelehrte“ angelegt, die in 13 Bänden 1769–83 erschien und 1790–92 ein neutestamentliches Gegenstück erhielt. Die erste Anregung zu diesem Werk ging auf einen Göttinger Besuch Lessings im August 1766 zurück. Ein Zeuge der Unterredung in Michaelis’ Studierstube erinnerte sich später „noch lebhaft, was Lessings spöttelnde Bemerkung, daß die Christen so wenig von dem erführen und benutzen könnten, was die Schriftgelehrten auf ihren Studierzimmern erfänden, in ihren Hörsälen vortrügen, und in ihren gelehrten meist lateinischen Schriften bekannt machten, für einen starken Eindruck auf Michaelis gemacht hat, und wie er von der Zeit an sich mit dem Plane zu einer Übersetzung der Bibel beschäftigt hat“32. Das fertige Werk 28  Vgl. Michaelis, Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl des Königs von Dänemark nach Arabien reisen (1762); Niebuhr, Reisebeschreibung nach Arabien I/II (1774/78). Lesbar und lesenswert Th. Hansen, Reise nach Arabien (aus dem Dänischen, 1965). Eine neuere Übersicht aus Göttinger Perspektive: R. Eck, Göttinger Jahrbuch 34 (1986) 18–35. 29  Vgl. dazu R. Smend, Epochen der Bibelkritik (1991) 63–73. 30  Vorwort zu Band I, gegen Ende. 31  F. Schaffstein, NAWG.PH 1988, 95–117, Zitat 97. Aktuell äußert sich Michaelis besonders in der langen Vorrede zu Bd. VI. 32  Schulz in Michaelis, Lebensbeschreibung 247f. Allerdings schreibt Michaelis in der Vorrede zum 1. Band der Übersetzung das Hauptverdienst dem Göttinger theologischen Kollegen Leß (s.o. Anm. 6) zu. Vgl. dazu D. Gutzen, VB 4 (1982) 71.

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bot die Summe und gewissermaßen auch die Anwendung einer wissenschaftlichen Lebensarbeit. Aber der Übersetzung, die man natürlich mit der Lutherschen verglich, fehlte alle Sprachgewalt, und die Anmerkungen waren, soweit sie nicht gleich durch überflüssiges, oft unfreiwillig komisches Raisonnement abstießen, eigentlich mehr für Gelehrte als für Ungelehrte interessant; die Gelehrten aber konnten sich bald an die entsprechenden Partien in der „Orientalischen und Exegetischen Bibliothek“ halten, wo Michaelis die der Übersetzung zugrunde liegenden wissenschaftlichen Entscheidungen vortrug. Was die Mehrzahl der urteilsfähigen Zeitgenossen an der hier summierten Lebensarbeit vor allem beeindruckte, war, dass die Bibel, indem sie derart in die Welt hineingestellt wurde, an „Natur und Unmittelbarkeit“ gewann – so Goethe in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans“33. Dass Michaelis Vorläufer hatte, ja weitgehend ein Vermittler des bereits in Westeuropa Geleisteten war, macht sein Verdienst nicht zunichte. Man kann ihm auch nicht zum Vorwurf machen, dass er in vielem auch seinerseits nur ein Vorläufer war. Das gilt – wenn es hoch kommt! – von uns allen, und was Michaelis betrifft, so stand die eigentliche Zeit der Entdeckungen im Orient und doch auch der Entdeckungen in der Bibel ja erst bevor – und wie lange hat es dann noch gedauert, bis, um zwei Hauptbeispiele zu nennen, die Entzifferung der Keilschrift und die Einsicht in die Unglaubwürdigkeit der Chronik wirklich tief in die Bibelwissenschaft eingreifen konnten! Um Michaelis’ wirkliche Schwäche wenigstens anzudeuten, zitiere ich einen seiner Göttinger Nachfolger, Heinrich Ewald: „Soviel ist gewiss dass seine meisten Schriften lebhaft den eindruck machen als sei er seinem geisteswesen nach mehr zu einem naturforscher oder einem geschäftsmanne als zu einem Orientalisten und Exegeten oder Theologen bestimmt gewesen.“34 Naturforscher und Geschäftsmann: das bezeichnet seine Stärke, die Fähigkeit zu nüchterner Erfassung der Realien. Vom Orientalisten war schon, wenngleich viel zu oberflächlich, die Rede. Was den Exegeten angeht: auch wenn man nicht einfach Maßstäbe der Nachwelt anlegt, ist der öfters geäußerte Eindruck kaum falsch, Michaelis habe zu wichtigsten Dimensionen der von ihm behandelten Texte im Grunde kein Verhältnis gehabt. Zwar hat er von Robert Lowths Vorlesungen über die hebräische Poesie eine Neuausgabe mit vielen gelehrten Anmerkungen veranstaltet35, aber die durch dieses Werk eingeleitete ästhetische Betrachtung der Bibel und vollends das, was Herder auf diesem Felde geleistet hat, ist ihm in seiner eigentlichen Bedeutung verschlossen geblieben. Zu seinem Anspruch, im „Mosaischen Recht“ als neuer Montesquieu zu reden, bemerkte Herder, darüber werde „mancher, ehe er die Schrift gelesen hat, lachen, 33  Frankfurter Ausg. I/3, 248. 34  JBW 1 (1848/49) 28. 35  R. Lowth, De Sacra poesi Hebraeorum praelectiones academicae Oxonii habitae. Notas et epimetra adjecit J.D. Michaelis I/II (1758/61).

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und noch mehrere, wenn sie die Schrift gelesen, zürnen“36. Die Tragweite von Jean Astrucs Entdeckung mehrerer Quellen in der Genesis ist Michaelis nicht aufgegangen37. Schon darum war der einzige erschienene Band seiner „Einleitung in die göttlichen Schriften des Alten Bundes“ (1787) von vornherein veraltet – im Gegensatz zu manchen Partien seiner Einleitung in das Neue Testament, namentlich in deren letzter Auflage, mit der er nach kundigem Urteil geradezu die neutestamentliche Einleitungswissenschaft begründet hat38. Beim Pentateuch lag ihm wie die literarische so die historische Kritik ganz fern, so dass natürlich auch der Titel „Mosaisches Recht“ völlig wörtlich gemeint war. Und ob er bei aller Materialfülle und Beschlagenheit wirklich ein Verhältnis zu dem zeitlich und räumlich Entfernten gehabt hat und vermitteln konnte? Wiederum Herder zum „Mosaischen Recht“: „nichts ist eigentlich aus dem orientalischen Geist der Zeit, des Volks, der Sitte erklärt, sondern nur überall Blumen eines halb Orientalischen, gut Europäischen common-sense herüber gestreuet, die weder den tiefen Forscher, noch den wahren Zweifler, und den Morgenländer, der Ader seines Stamms fühlet, am wenigsten befriedigen werden. Gewisse Dinge von diesen ließen sich auch selbst mit der zuversichtlichen Miene des Hrn. M. gewiß nicht ganz geben; wer aber mit der Geschichte nur buhlet, nur die Gabe hat aufzustutzen und einzukleiden, wo man die Wahrheit eben nackt sehen will, – – – Phyllida meam non habeto! Hier ist alles nur immer im Geiste unsres Jahrhunderts behandelt, dem guten Moses politische Maximen geliehen, die selbst bei uns doch nur oft loci communes sind, und jenem Volk, jener Zeit, jenem Gesetzgeber wahrhaftig fremde waren.“39 Der heutige Leser stutzt, wenn er in Michaelis’ Autobiographie liest, daß er am liebsten Geschichte studiert hätte40. Aber sein Nachfolger Eichhorn hat ihn gerade als einen Historiker gewürdigt41, und mit damaligen Göttinger Augen konnte, ja musste er wohl wirklich so gesehen werden. Er war immerhin der Mentor August Ludwig Schlözers, und zu dessen „politisch-statistischer“ Behandlung geschichtlicher Phänomene im „universalen“ Zusammenhang wie auch zu den verwandten Untersuchungen anderer Kollegen am Ort passte sein „Mosaisches Recht“ nicht schlecht. Eine geschickte Sammelarbeit wie die seine, die ja nicht ohne wirkliche Entdeckungen blieb, musste wohl auch geschehen, bevor die eigentliche Kritik beginnen konnte. 36  Sämmtliche Werke ed. Suphan V, 423. 37  Vgl. seine beiden Besprechungen der Astrucschen Conjectures: GAGS 1754, 973–76 und Relationes de libris novis 11 (1754) 162–94 sowie Einleitung in die göttlichen Schriften des Alten Bundes I/1 (1787) 268.295–301; dazu oben 121f. 38  Vgl. W.G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (1958) 82. 39  Werke V (Anm. 36) 425. 40  Lebensbeschreibung 13.17. Dort (13) übrigens auch der kennzeichnende Satz: „bey einem andern Studium, sonderlich der Medicin, hätte ich vermuthlich in der Welt eine glänzendere und mir vortheilhaftere Rolle spielen können“. 41  Ebd. 156–66.

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Nach allem Gesagten liegt es nicht fern, daß die Bibelauslegung dieses Mannes nicht nur in der historischen, sondern auch in der theologischen Dimension große Schwächen haben musste. Johann Georg Hamann hat sie mit Respekt, Ironie und Tiefsinn unter die Lupe genommen: Herrschaft des Buchstabens, kein Sinn für den Geist, der weht wo er will, für den Geheimnischarakter der göttlichen Offenbarung42. Ohne dass sein Name fiele, begegnet Michaelis noch heute vielen Theologiestudenten, wenn sie in Karl Barths „Einführung in die evangelische Theologie“ im Abschnitt über den „Zweifel“ die doppelte Frage lesen: „Gibt es so etwas wie jenes innere Zeugnis des Heiligen Geistes, durch das wir der Existenz, des Wirkens und des Sprechens Gottes […] gewiss gemacht werden? Was war jenem Mann des 18. Jahrhunderts zu antworten, der trocken behauptete: er für seine Person habe ein solches Zeugnis niemals empfangen?“43 Jener Mann war Michaelis. Seine trockene Behauptung, oft und fast mit einem gewissen Stolz vorgetragen, gehörte in die Auseinandersetzung mit seiner Hallenser pietistischen Herkunft, die ihn, wie es mit pietistischer Herkunft in den verschiedensten Variationen wohl immer der Fall ist, zeitlebens zumindest unterschwellig beschäftigt hat. Zu einem antikirchlichen Ressentiment scheint die misslungene Bemühung um eine Predigerstelle in Halle beigetragen zu haben; er war deswegen, so wird berichtet, „oft in seinen Collegien etwas herbe gegen die Examinatoren in den Consistorien“44. Nach eigener Aussage war er schon in der Schule „halb ein Pelagianer“; dazu wurde ihm aber erst in England ein gutes Gewissen gemacht, indem er dort „die Schriftstellen, die von übernatürlicher Gnade handeln sollten, anders erklären lernte“45. Das innere Zeugnis des Heiligen Geistes ließ er sich durch äußere Beweise, voran den durch Wunder, ersetzen. Ohne ihn, bekannte er gegen Semler, würde er „die christliche Religion nicht glauben“, sondern sich „zur Religion der Naturalisten“ wenden46. Man kann sich leicht vorstellen, welches Gewicht nicht nur für die Theologie, sondern auch für den Glauben dann die historische Untersuchung der Probleme um Echtheit, Kanonizität und Inspiration der neutestamentlichen Schriften wenigstens in der Theorie gewinnen musste47. Die möglichen Folgen hat Michaelis schwerlich vorausbedacht. In seiner umfänglichen theologischen Produktion vertrat er eine mit Elementen des Rationalismus durchsetzte „eigentümlich verkümmerte Orthodoxie“48, die keine Zukunft hatte und haben konnte49. 42  Einfühlsame Darstellung bei J. Ringleben in: Theologie in Göttingen, hg.v. B. Moeller (1987) 86–99. 43  K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie (1962) 136. 44  C.A. Böttinger in: Überlieferungen (Anm. 7) I/2, 51. 45  Lebensbeschreibung 36. 46  OEB 1 (1771) 89. 47  Vgl. E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV (1952) 33f.; Kümmel (Anm. 38) 81–87. 48  Smend (Anm. 21) 5. 49  Vgl. aber Flasch (Anm. 15) 333–40.

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Eine Zukunft hatte dagegen die Verbindung von orientalischer Philologie und Exegese des Alten Testaments. Sie hielt sich in Göttingen sogar in der von Michaelis inaugurierten institutionellen Form erstaunlich lange: erst 1914 wurde der alttestamentliche Lehrstuhl aus der philosophischen in die theologische Fakultät herübergenommen.

Johann Gottfried Herder 1744–1803

„Ohne Herder kein Schleiermacher und kein de Wette. Ohne Herder unmöglich das spezifische Pathos der theologischen Historik des 19. Jahrhunderts. Ohne Herder keine Erlanger und keine religionsgeschichtliche Schule. Ohne Herder auch kein Troeltsch.“ Dem Alttestamentler liegt auf der Zunge, im Stile Karl Barths1 fortzufahren: ohne Herder auch kein Ewald, kein Wellhausen und schon gar kein Gunkel. Um die zeitlichen Verhältnisse anzudeuten: Herder wurde genau hundert Jahre vor Wellhausen geboren und starb in Ewalds Geburtsjahr. Den jungen de Wette hat er noch gekannt und beeindruckt, als hoffnungsvollen Schüler des von ihm beaufsichtigten Weimarer Gymnasiums. Und was Gunkel angeht, den Letzten unter diesen Schriftgelehrten: er konstatierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gut hundert Jahre nach Herders Tod: „Herders Testament ist nicht vollzogen.“2 Nach weiteren hundert Jahren hat man einigen Grund, diesen Satz zu wiederholen. Was fordert Herders Testament? Nach Gunkel3 „eine wirkliche ‚Literaturgeschichte‘ Israels“. Herder selbst hätte sie, auch wenn die Wissenschaft damals schon weiter gewesen wäre als sie war, schwerlich geliefert. Was er geliefert hat, ist weniger und mehr. Er war kein Mann des philologisch-historischen Handwerks, und alle Beschränkung fiel ihm schwer. Trotz der „universalistisch-monistischen Einheit seines Weltbildes“ war seine „Denk- und Darstellungsmethode […] nicht logisch-systematisch, sondern assoziativ-kombinierend“; sein schriftstellerisches Werk bildet „im Grunde eine Kette von Fragmenten“, „die fortwährend umgearbeitet, in anderer Gestalt vorgelegt, aber nie abgeschlossen wurden“4. Jean Paul, der ihm nahestand wie wenige, hat von Herder gesagt, er habe den „Fehler“ gehabt, dass er „kein Stern erster oder sonstiger Größe war, sondern ein Bund von Sternen, aus welchem sich dann jeder ein beliebiges Sternbild buchstabiert“5. Es kann in unserem Zusammenhang nicht um ein 1  Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (21952) 282. 2  In: Die Kultur der Gegenwart, hg.v. P. Hinneberg, I/7 (1906) 99. 3 Ebd. 4  G. Arnold, Johann Gottfried Herder (21988) 18f.26. 5  Sämtliche Werke, hg.v. N. Miller, I/5, 443.

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ganzes Sternbild gehen, sondern nur um einen einzigen Stern aus dem „Bund“, und er wird in dieser notgedrungenen Vereinzelung den Glanz nicht entfalten können, der ihm als Glied des ganzen Ensembles eigen ist. Aber man kommt bei Herder so oder so kaum über fragmentarische Vorarbeiten und Skizzen hinaus6. Es ist ein Gemeinplatz der Literatur- und der Theologiegeschichte, dass Herder „der Theologe unter den Klassikern“ war; aus unverdächtigem Mund, nämlich noch einmal dem Karl Barths, ist er in Umkehrung dieses Satzes auch „ein Klassiker unter den Theologen“ genannt worden7. Wie es sich gehört, aber doch auch mit einigen sehr ungewöhnlichen Akzenten stand im Mittelpunkt seiner Theologie die Bibel. „Es bleibt dabei, mein Lieber, das beste Studium der Gottesgelehrsamkeit ist Studium der Bibel“, schärfte er dem Anfänger als Allererstes ein8, und bei seiner wichtigsten Berufspflicht, dem in Riga, Bückeburg und Weimar jahraus jahrein versehenen Predigtdienst, galt entsprechend: „Auslegung der Bibel halte ich also für die vornehmste, beste Predigt“9. Aber Herder bedurfte nicht der Berufspflicht und nicht einmal der Theologie, um auf die Bibel gestoßen zu werden. Zwar wusste der Neunjährige 1753 natürlich nicht, dass in diesem Jahr zwei Bücher erschienen, die in der Bibelwissenschaft Epoche machen sollten: in Paris Astrucs „Conjectures“ und in Oxford Lowth’ „Praelectiones“; aber um diese Zeit dürfte er schon auf seinem eigenen Weg zur Bibel gewesen sein. Dreißig Jahre später, 1783, schrieb er einem ihm unbekannten Theologen: „Haben Sie Theurester eine so kindliche, ich möchte sagen angebohrne Freude an der Bibel, als ich habe: wie klein wird Ihre Bibliothek werden! Nur der Bibel zu gut ward ich Theolog, und ich erinnere mich meiner Kindheitsjahre, in denen ich Hiob, den Prediger, Jesaias und die Evangelien las, wie ich kein Buch sonst auf der Welt gelesen habe und lesen werde. Mein ganzes Leben entwickelt mir nun, was mir meine Kindheit sagte.“10 Man kann es symbolisch nehmen, dass sein gedrucktes Oeuvre mit einem Stück aus biblischer Umgebung beginnt, dem „Gesang an den Cyrus“, den der Siebzehnjährige 1762, im Jahr seines Fortgangs aus dem heimatlichen Mohrungen zum 6  Zu dem hier ins Auge gefassten „Stern“ vgl. seit Th. Willi, Herders Beitrag zum Verstehen des Alten Testaments (1971) die von Ch. Bultmann, Bibelrezeption in der Aufklärung (2012) 227–29 aufgezählten Beiträge, darunter die Überblicke von M. Witte in: Herder-Gedenken, hg.v. W.L. Federlin (2005) 171–87 und Ch. Bultmann in: A Companion to the Works of J.G. Herder, ed. H. Adler u. W. Koepke (2009) 233–46, zum ganzen „Bund“ E. Herms, TRE XV, 70–95 und M. Keßler in: Companion 247–75, aber auch immer noch O. Baumgarten, Herders Lebenswerk und die religiöse Frage der Gegenwart (1905). Neueste Gesamtdarstellung: M. Maurer, Johann Gottfried Herder. Leben und Werk (2014). Seitdem: Herder Handbuch, hg.v. V. Stolz u.a. (2016), dort 319–85 Theologie (M. Keßler, Ch. Bultmann, M. Buntfuß, C. Cordermann). 7  A.a.O. 281; vgl. dazu M. Keßler, Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern (2007) I, 1f. 8  Werke, Frankfurter Ausg. (im Folgenden: F) IX/1, 145. 9  F IX/1, 507. 10  Briefe, bearbeitet von W. Dobbek und G. Arnold (im Folgenden: DA) IV, 251f.

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Studium nach Königsberg, als ein angeblich aus dem Hebräischen übersetztes Gedicht verfasste11. Aber eben: aus biblischer Umgebung. Herder sieht die Bibel nicht in kanonischer Abgeschlossenheit und bezieht sie auch auf die Gegenwart – in diesem Fall, indem er im Perserkönig Cyrus den Zaren Peter III. als Retter Preußens im Siebenjährigen Krieg anredet. In Herders weiterem Umgang mit der Bibel sieht das alles anders aus und ist doch wieder ähnlich. Charakteristisch sind und bleiben die schier unbegrenzte Aufnahmefähigkeit, die Fülle der Assoziationen, die Freiheit gegenüber den Schemata. Das gilt auch für die, und sei es unterschwellig, stets gegenwärtige theologische Dimension. „Ich schreibe über theologische Gegenstände, ich hoffe aber nicht im ganz gewöhnlichen Sinn theologisch“, heißt es einmal bei Gelegenheit einer Schrift, die von Biblischem handelt12. Herder gehörte in keine der theologischen Fronten seiner Zeit, ja mit einem Fuß stand er immer außerhalb der Theologie – falls ihm der Begriff des Stehens überhaupt angemessen ist. Er vertrat keine Standpunkte, schon gar nicht auf die Dauer, sondern war immer unterwegs – Zeichen nicht nur seiner eigenen Individualität, sondern auch des Reichtums der Gegenstände, mit denen er sich beschäftigte, und der Vielfalt der geistigen Bewegungen, die in seinem so unvergleichlich lebendigen Jahrhundert auf ihn wirkten. In diese Bewegungen gehört hinein, was ihm selbst das Wichtigste beim Studium der Bibel war und was er dem Anfänger in der unmittelbaren Fortsetzung jenes ersten Satzes nahelegte: „[…] das beste Lesen dieses göttlichen Buchs ist menschlich“; dieses Wort nehme er „im weitesten Umfange und in der andringendsten Bedeutung“. Wahrhaft „andringend“ geht es weiter: „Menschlich muß man die Bibel lesen: denn sie ist ein Buch durch Menschen für Menschen geschrieben: menschlich ist die Sprache, menschlich die äußern Hülfsmittel, mit denen sie geschrieben und aufbehalten ist; menschlich endlich ist ja der Sinn, mit dem sie gefaßt werden kann, jedes Hülfsmittel, das sie erläutert, so wie der ganze Zweck und Nutzen, zu dem sie angewandt werden soll. Sie können also sicher glauben, je humaner (im besten Sinne des Worts) Sie das Wort Gottes lesen, desto näher kommen Sie dem Zweck seines Urhebers, der Menschen zu seinem Bilde schuf, und in allen Werken und Wohltaten, wo er sich uns als Gott zeigt, für uns menschlich handelt.“13 Die vorangegangenen Jahrhunderte hatten die Menschlichkeit der Bibel nicht bestritten. Aber sie hatten sie gänzlich hinter ihrer (von Herder, wie unser Zitat zeigt, durchaus anerkannten) Göttlichkeit zurücktreten lassen. Für die Orthodoxie war die Bibel bis in die Einzelheiten hinein inspiriertes göttliches Wort, unfehlbar richtig und maßgeblich nicht nur für Glauben und Theologie, sondern auf allen Gebieten des Denkens und Wissens. Ende der siebziger Jahre, 11  Sämmtliche Werke, hg.v. B. Suphan (im Folgenden: S) XXIX, 3f. 12  DA VII, 86. 13  F IX/1, 145.

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gleichzeitig mit wichtigen Arbeiten Herders zur Bibel, ereignete sich das spektakulärste Rückzugsgefecht der Orthodoxie in dieser Sache, des Hamburger Hauptpastors Goeze Auseinandersetzung mit dem Wolfenbütteler Bibliothekar Lessing über die von diesem herausgegebenen „Papiere eines Ungenannten“, hinter dem sich der Hamburger Orientalist Reimarus verbarg. Reimarus hatte zugunsten der von ihm vertretenen vernünftigen oder natürlichen Religion die Möglichkeit und Notwendigkeit von Offenbarung überhaupt und die Wirklichkeit der Offenbarung in der Bibel Alten und Neuen Testaments bestritten und hierfür eine Fülle von Kritisierbarem in den biblischen Schriften zusammengestellt: unausgleichbare Widersprüche, nicht erfüllte Weissagungen, unmögliche Wunder, moralisch Anstößiges, religiös Unvollkommenes und Abwegiges. Er folgte damit einer radikalen Spielart des englischen Deismus, jener auch für die deutsche Aufklärung so wichtigen Bewegung, die für die rasch zunehmende Bibelkritik auf doppelte Weise verantwortlich war. Sie betrieb sie nämlich nicht nur selbst, sondern regte sie auch auf der Gegenseite an. Die englische und deutsche Bibelwissenschaft des 18. Jahrhunderts ist zu einem guten Teil antideistische Apologetik gewesen, und dies wiederum zweifach, nämlich sowohl in oft aufwendigen, aber fruchtlosen Widerlegungsversuchen, als auch in Weiterführung der Kritik mit dem Ziel, durch Differenzierung und Scheidung das wirklich Sichere herauszuarbeiten. Dem Studenten Herder trat die erste, anspruchslosere Art der Apologetik in dem Königsberger Professor Lilienthal entgegen, Autor von 16 Bänden „Die gute Sache der in der heiligen Schrift enthaltenen göttlichen Offenbarung wider die Feinde derselben erwiesen und gerettet“ (1750–82), in Herders Worten „eine Bibliothek von Meinungen für und wider, ein Meer von Gelehrsamkeit und Übersicht der Einwürfe und ihrer Antworten, ein wahrer ‫ מורה נבוכים‬dieser Bücher. Ist er hie und da zu genau, zu pünktlich; so ist der Fehler für einen Sachwalter der Bibel Tugend. Nun kann jeder prüfen, urteilen, wählen – –“14. „Zu genau, zu pünktlich“, aber ohne einen frischen selbständigen Durchblick: das war des ungeduldigen Herder „Fehler“ oder auch „Tugend“ auf die Dauer nicht. Er rettete auf höherem Niveau, und so bewahrte er dem braven Vielschreiber die Achtung, wandte sich aber je länger desto mehr den Schriften der damaligen Schulhäupter der grammatischen und historischen Kritik zu, Ernesti in Leipzig, Semler in Halle und besonders Michaelis in Göttingen, den er zunächst hoch verehrte, um sich dann allerdings, in der „Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts“, im Zorn von ihm abzuwenden. In späteren Jahren pflegte er freundschaftlichen Austausch mit Michaelis’ Göttinger Nachfolger Eichhorn, Goethes Gewährsmann in alttestamentlichen Dingen, den er als Jenaer Professor kennengelernt hatte. Ihm selbst bot sich mehrfach die Aussicht auf eine theologische Professur in Göttingen15. Dass daraus nichts wurde, kam 14  F IX/1, 179. Zu ‫ מורה נבוכים‬s.o. 20. 15  Vgl. R. Smend, Zwischen Mose und Karl Barth (2009) 230–73.

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nicht von ungefähr. Obwohl er von der nüchternen Arbeit, die dort von den Genannten und dem ihm noch näher stehenden, auch in die Bibelwissenschaft hineinwirkenden Altphilologen Heyne (1729–1812) betrieben wurde, gern Gebrauch machte, war er doch seinerseits für sie und für diese ganze akademischwissenschaftliche Welt nicht geschaffen. Umso höher verehrte er Luther auch als Exegeten, und umso lieber empfahl er Kommentare aus der Reformationszeit, „weil man damals noch Sachen im Worte Gottes suchte, nicht bloß Sylben und etwa den literarischen Sinn in der dürftigsten Ansicht“16. Und unter Hinweis auf Oetinger und Böhme konnte er an Lavater schreiben: „Ich habe durch keinen unsre Bibel lieber bekommen, als durch Kinder und Narren das ist Mystiker und Philosophen.“ Gleich danach nannte er auch Semler einen Narren, aber diesmal bedeutete das Wort eine scharfe Abqualifizierung17. In Königsberg lebte zu Herders Studienzeit der dezidierte Nicht-Professor Johann Georg Hamann (1730–88). Er hatte sich 1762, im Jahr von Herders Kommen, in der „Aesthetica in nuce“ mit Michaelis angelegt und ihm das Fehlen der eigentlich theologischen Dimension in seiner Bibelauslegung vorgehalten, die Verkennung der in Sprache und Geschichte (und Natur) verborgenen göttlichen Anrede Jesu Christi als des sich offenbarenden Gottes. Die machtvolle Geschlossenheit der Hamannschen Alternative hat Herder sich nicht zu eigen machen können, und auch sonst gibt es Gründe für die Behauptung, er sei „keineswegs ein Schüler Hamanns“18 gewesen. Trotzdem hat ihn Hamann angeregt wie wenige. Von dem vielen, das Herder in jenen Jahren, seit 1764 nicht mehr in Königsberg, sondern als Lehrer und Prediger in Riga, zu Papier gebracht hat, gehört das meiste in den näheren oder weiteren Umkreis von Hamanns Fundamentalsatz am Anfang der „Aesthetica in nuce“: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts.“19 In der Anwendung dieses Satzes auf die Bibel knüpfte er wie schon Hamann an Lowth an, dessen Oxforder Vorlesungen Michaelis 1758/61 in einer eigenen Ausgabe dem deutschen Publikum bekanntgemacht hatte. Einer der interessantesten Herder-Funde des 20. Jahrhunderts ist ein im Nachlass aufgetauchter Plan von etwa 1766/67 „zu einem Buch de sacra poesi etc.“, also genau über das Lowth’sche Thema, aber in klarer Abgrenzung gegen den Vorgänger. Herder will „ausgehen: nicht aus Religion sondern aus dem Gesang alter Stücke“, wodurch die Sache „ganz verändert“ wird, will „beweisen: daß es Poesien sind: (Lowth dies nicht)“, will eine „Haupt[eintheilung …] dieser Stücke“ vornehmen und will sie „erklären aus ihrem Lande etc. etc.“, dazu „ihren abstechenden Charakter von andern Morgenländern von andern Nationen“, „die verschiednen Zeitalter ihrer Poesie“, den „Unterschied zwischen Original in ihnen und 16  S XI, 167. 17  DA III, 186f. 18  S.A. Jørgensen in: de Boor/Newald, Geschichte der deutschen Literatur VI (1990) 365. 19  Sämtliche Werke, hg.v. J. Nadler, II, 197.

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Nachahmungs Styl“20. Diese Notizen sind kurz, aber vielsagend und vielversprechend; anderthalb Jahrzehnte später machte sich Herder daran, den Plan in ein Buch zu verwandeln. Schneller, aber auch nicht ohne Umwege, gelang das mit einem anderen, nicht weniger ehrgeizigen Projekt. Als Herder sich im Juni 1769 in Riga einschiffte, um auf die Reise zu gehen, die erst 1771 in Bückeburg ihr Ende fand, führte er ein 230 Seiten starkes Manuskript „Über die ersten Urkunden des menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen“ mit sich. Im August schickte er aus Nantes seinem Rigaer Verleger, der es schon in Händen gehabt hatte, eine Widmungsode an Michaelis, aber weder das Manuskript noch die Ode wurden zu Herders Lebzeiten gedruckt, das Manuskript sogar erst nachdem es 1980 an versteckter Stelle der Schaffhauser Stadtbibliothek wiederentdeckt worden war21. Der Entdecker, Günter Arnold, bereitet eine kritische Ausgabe vor, die in die ebenso verwickelte wie bedeutsame Vor- und vor allem Nachgeschichte dieses Dokuments Licht bringen wird. An deren vorläufigem Ende steht ein Buch höchsten Anspruchs, die „Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“, 1774/76 in zwei Bänden erschienen22. Sowohl 1769 als auch 1774/76 handelt es sich um eine Auslegung der Anfangskapitel der Genesis, an denen sich begreiflicherweise wie nirgends sonst die Frage nach der Geltung der Bibel in der Neuzeit entzündet hat. Herder kämpft mit anderen Waffen als einige Jahre später Lessing, aber streckenweise an der gleichen Front wie er gegen die landläufigen dogmatischen, mystischallegorischen, philosophischen, naturkundlichen, historischen und sonstigen Erklärungen, die allesamt den Sinn dieser Texte verfehlen. Aber die – 1774 oft ins Maßlose gesteigerte – Polemik ist nicht die Hauptsache. Diese ist vielmehr der 1769 von Herder zum ersten Mal in größerem Zusammenhang unternommene Versuch, sich unter Beiseiteschiebung aller jener Missverständnisse in die frühe biblische Zeit zurückzuversetzen und deren poetisch-literarischen Niederschlag unmittelbar, „sinnlich“, „fühlend“ zu begreifen. Das gelingt ihm umso besser, je mehr er in Abkehr von der orthodoxen Inspirationslehre die Texte „menschlich“ nimmt. Trotzdem führt er sie auf einen göttlichen Unterricht zurück, der in jener Zeit notwendig gewesen sei, und bemüht sich redlich, beides miteinander in Einklang zu bringen. Dem jetzigen Text jener Kapitel liegen, so Herder, „Urkunden“ zugrunde, die zunächst für sich bestanden haben und auf verschiedenen Wegen überliefert und dabei auch verändert worden sind, bis ein „Sammler“, offenbar Mose, sie vereinigt und mit Eigenem angereichert hat. Gen 1–11, der 1769 ausgelegte Text, ist also keine zusammenhängende Erzählung von einer einzigen Hand, son20  H.D. Irmscher, DVfLG 37 (1963) 272. 21  F V, 9–178. 22  F V, 179–660.

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dern eine mehrschichtige Komposition, in der Wiederholungen, Unstimmigkeiten und Widersprüche nicht verwundern dürfen. Erst die perspektivische Lektüre, zu der diese literargeschichtliche Einsicht befähigt, erlaubt ein wirkliches Verständnis der Einzeltexte, zeigt ihre genuine Bestimmung und lehrt, welche Fragen sie beantworten können und welche nicht. Immer wieder spürt Herder dem Entstehungsgrund der Erzählungen nach, so in der Herleitung der „Urkunde“ vom Sündenfall und der „poetischen Geschichte“ vom Turmbau zu Babel aus menschlichen Fragen23 oder mit der ihm unter Gelehrten vielfach nachgesprochenen These, das Lied des Lamech (Gen 4,23f.) gelte der Erfindung des Schwertes24. Die „Urkunden“ betreffen die Ursprünge des „menschlichen Geschlechts“ überhaupt, sind gleichwohl „Nationaldokumente“, abgefasst in der Sprache eines bestimmten Volkes, des „hebräischen“, und gehören, wieder etwas allgemeiner, in die Überlieferung des Morgenlandes. So kann das Manuskript von 1769 mitsamt den Variationen, die es nach seiner Fertigstellung erfahren hat, bei Herder auch „Hebräische Archäologie“ oder „Archäologie des Morgenlandes“ heißen; Archäologie meint dabei die Beschreibung der ältesten Kunde, die uns aus dem jeweiligen Bereich zugekommen ist. Und in der Tat: die hier abgehandelten „Urkunden“ reichen in älteste Zeiten zurück. Dafür ist die entscheidende Voraussetzung ihre vormosaische Herkunft. Herder bestreitet nicht den seit Spencer25 immer mehr angenommenen unmittelbaren Einfluss Ägyptens auf den angeblich ägyptisch erzogenen Mose, kann diesen Einfluss aber gerade in den „ersten Urkunden“ nicht finden und hat von dorther freie Bahn, diese in eine noch ältere Zeit und in den eigentlichen Orient zurückzuverweisen. Die biblische Schöpfungsgeschichte hat auf die ägyptischen Vorstellungen eingewirkt, nicht umgekehrt, bei „Chaldäern“ und Persern findet sich die größere Ähnlichkeit mit ihr. Da der Adam-Enkel Enos Gott den Namen „Jehovah“ gab, Gott in der Schöpfungsgeschichte aber Elohim heißt, traut sich Herder, diese und einiges aus Gen 3 mit einem nicht sehr kräftigen „vielleicht“ in die zweite Generation der Menschheit zu datieren; für die Entstehung der weiteren Urkunden sind die Namen Enos, Sem, Eber und Abraham die „Merkstäbe“26. Die Fülle des Stoffes macht dem vierundzwanzigjährigen Autor keine sichtbare Mühe. Dass er in der literarischen Welt seiner Zeit so zu Hause ist, wie man es im damaligen Riga nur eben sein kann, bedarf keines Wortes. Der in den exegetischen Fragen wichtigste Anreger, in der Annahme vormosaischer Einzelstücke sein Vorgänger – Astrucs Buch kennt er zunächst nur vom Hörensagen – ist Michaelis, der „große Philologe des Orients“27. Im Hintergrund stehen überall die Gestalten des Bischofs Lowth und, ungenannt, des Freundes Ha23  F V, 95–105.158–67. 24  F V, 127. 25  De legibus Hebraeorum ritualibus (1685). 26  F V, 128f.165f. 27  F V, 25. Astruc „nützt“ er dann für die Weiterarbeit: DA I, 156.

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mann. Die antiken Autoren sind zur Hand, das kulturgeschichtliche Material strömt Herder von allen Seiten zu. Die Exegetenmeinungen zur Genesis stammen großenteils unmittelbar aus den ersten Bänden zweier im Erscheinen begriffener Sammelwerke, der riesigen „Übersetzung der Allgemeinen Welthistorie, die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertigt worden“ (Halle 1744–1814) und des sechzehnbändigen „Englischen Bibelwerks“ (Leipzig 1749–70), einer kommentierten Synopse der englischen Kommentatoren des 17. Jahrhunderts mit vielen Zitaten aus Älterem, in der, wie im vierten Buch von „Dichtung und Wahrheit“ nachzulesen, auch schon der ganz junge Goethe herumstudiert hat. Obwohl die Auslegung allenthalben von Herders grundsätzlichen Auffassungen durchzogen wird, sie beweisen und illustrieren soll, verliert sie darüber keineswegs ihren Eigenwert. Das kann schon darum nicht geschehen, weil jene Auffassungen ihren gemeinsamen Nenner in dem Bemühen haben, die Texte selbst in ihrer Eigenart und Würde sichtbar zu machen, ja zum Leuchten zu bringen. Die „ersten Urkunden“, die Schöpfungsgeschichte voran, sind Poesie, älteste Poesie. Auf diesen Tatbestand weist Herder nicht nur hin, sondern er entspricht ihm auch damit, dass seine Auslegung – wie sollte es bei ihm auch anders sein? – ihrerseits poetischen Charakter trägt. Schon die Übersetzung, die meist voran steht, vergegenwärtigt die Texte in dieser Dimension, und das Übrige lässt sich damit kennzeichnen, dass die eingestreuten Gedichtverse, vor allem aus Klopstock, keine Fremdkörper sind. „Ich bewundre immer mehr, je mehr ich singe und übersinge!“, sagt er im Blick auf die dritte Urkunde28, nachdem er sich bei der ersten einmal selbst von seinem „Enthusiasmus“ zurückgerufen hat29. „Mit heiligem Staunen“ war er 1769 „an das urälteste Stück der Überlieferung in aller Welt, an die ehrwürdigste Antike des Orients“, die Schöpfungsgeschichte oder den „Schöpfungsgesang“, herangetreten30, und die Erklärung dieses Stückes nach Form und Inhalt war der Höhepunkt seiner „Anmerkungen“ geworden. Aber bald lag ihm dieser Höhepunkt noch nicht hoch genug. Im Herbst 1770 vermeldete er aus Straßburg „eine sonderbare Entdeckung“, nämlich die, „daß die Hieroglyphe, die ich seit langem schon im I. Buch Mose 1. u. Kapitel 2. bis Vers 3 gefunden, […] so gewiß überall der ganzen ägyptischen Götterlehre, geheimen Gottesdienste, Weisheitslehre des Thot’s oder Theut’s u.s.w. zum Grunde liege, als ich Herder heiße. […] Diese Entdeckung ist äußerst wichtig, weil sie nicht blos die ganze Theologie der Aegypter aufräumt, sondern auch der offenbarste Beweis ist, daß kein Moses der Verfasser dieses Stücks sei, was ich auch immer geglaubt und jetzt noch mehr glaube, da ich finde, daß die Aegypter es aus einer ganz andern Sprache genommen haben müssen, die noch 28  F V, 114. 29  F V, 63. 30  F V, 31.

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im Phönicischen und Syrischen Reste hat.“ Diesen „und hundert neuen Gedanken“ könne er aber nicht nachgehen, weil er nach Bückeburg müsse – „nun lebe wohl, Buch Mosis, Perser, Sabäer, Aegypter und Phönicier!“31 Aber die Arbeit ging weiter, in Bückeburg mit Hilfe der Göttinger Bibliothek, und endlich war, in sechs Wochen niedergeschrieben, der erste Band fertig. Er erschien 1774, knapp vor den „Leiden des jungen Werthers“, die ohne langwierige Vorarbeiten ähnlich schnell entstanden waren. An Emphase steht die „Urkunde“ dem „Werther“ in nichts nach – wir sind im Sturm und Drang. Statt der Mehrzahl „erster Urkunden“ von 1769 handelt es sich jetzt um eine einzige „älteste Urkunde“, die Schöpfungsgeschichte; der Rest des Genesistextes kommt fast anhangsweise in dem schmaleren zweiten Band hinterdrein. Das inhaltlich Neue knüpft sich an zwei Stichworte: Morgenröte und Hieroglyphe. 1769 hatte Herder, als er von der Erschaffung des Lichts handelte, den Leser aufgefordert, sich „in jene fürchterliche, dunkle Nacht“ zu stellen, „wo der Ausdruck mit den Finsternissen und Wogen und kalten Schaudern selbst zu kämpfen schien“; er werde „den plötzlichen Anbruch des Lichts mit Zückung fühlen“32. 1774 ergeht der Aufruf an den „Jüngling“, „aufs freie Feld“ zu kommen, um dort die „urälteste herrlichste Offenbarung“ zu erleben, die, jeden Morgen als Tatsache, großes Werk Gottes in der Natur“ erscheint33. Im täglichen „Unterricht unter der Morgenröte“34 wird noch heute sicht- und fühlbar, was die Schöpfungsgeschichte meint. Jeder Tagesanbruch ist damit ein authentischerer Kommentar zum ersten Kapitel der Genesis, als alle gelehrten Kommentatoren ihn zu liefern vermögen. Bevor die ägyptischen Hieroglyphen entziffert wurden, riefen sie als vermeintliche Geheimschrift vielerlei Spekulationen hervor. Es verwundert nicht, dass sie einen Geist wie Hamann anzogen, der in seiner „Aesthetica in nuce“ auf den Adam der Schöpfungsgeschichte den Begriff des Hieroglyphischen anwandte35. In Herders Manuskript von 1769 begegnet dieser Begriff wiederholt, aber noch mit einer gewissen Zurückhaltung36. Von dieser ist in der „Ältesten Urkunde“ nichts geblieben. Die entscheidende Wende bezeugt die schon zitierte Mitteilung aus dem Herbst 1770 über die „sonderbare Entdeckung“ der Priorität der in der Schöpfungsgeschichte gefundenen „Hieroglyphe“ vor der ägyptischen Religion. Die „Älteste Urkunde“ unternimmt es, sowohl die zeitliche als auch die sachliche Unüberbietbarkeit dieses Symbols zu erweisen. Es enthält den ersten, alles weitere bereits in sich begreifenden Unterricht Gottes an den Menschen. Und zugleich mit der Welt, dem Makrokosmos, bildet es 31  DA I, 261f. 32  F V, 51. 33  F V, 239. 34  F V, 246–57. 35  Sämtliche Werke (Anm. 19), II, 200. 36  Z.B. F V, 35.

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den Mikrokosmos, den Menschen selbst ab, das Bild Gottes, so dass dem Menschen nicht nur in der Morgenröte und dem der Schöpfungsgeschichte entsprechenden Siebentagerhythmus der Woche, sondern auch in seiner eigenen Gestalt der erste göttliche Unterricht stets gegenwärtig ist. Mit dem pädagogischen Aspekt ist der ästhetische fast unmittelbar gegeben. Wie die Schöpfungshieroglyphe „Muster und Vorbild“ für Schrift und Sprache ist37, so auch „höchstes und simpelstes Ideal der Dichtkunst“38. Sie gewinnt damit entscheidende Bedeutung für alle biblische und außerbiblische Poetik, sie wird aber auch sonst für menschliches Erleben, Denken und Gestalten bestimmend. Nicht von ungefähr ist, was die „Älteste Urkunde“ angeht, deren auffälligstes Strukturprinzip die Siebenzahl. Neben den pädagogischen und den ästhetischen Aspekt tritt gleichgewichtig der theologische. Die Hieroglyphenthese hat den Ehrgeiz, das für jede Theologie fundamentale Problem des Verhältnisses zwischen natürlicher und offenbarter Religion nicht auf dem gewohnten Wege zu lösen, wonach zur natürlichen Religion eines Tages die Offenbarung hinzugetreten ist, sondern so, dass die Offenbarung bereits am allerersten Anfang steht und dass sie nach wie vor in natürlichen Phänomenen erlebbar und erkennbar ist. Damit bestreitet Herder eine der Grundüberzeugungen der Aufklärung und verlässt auch den Weg, den er 1769 einschlug, indem er sich bereits auf der ersten Seite seines damaligen Manuskripts, wenngleich unter Berufung auf Michaelis nicht gänzlich ohne Vorbehalt, der These David Humes (1711–76) von der Entstehung der Religion aus Furcht und Aberglauben anschloss39. Die Absage an Hume vollziehen außer der „Ältesten Urkunde“ auch die beiden anderen Hauptschriften des Jahres 1774, die „Provinzialblätter an Prediger“ und „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“. Noch schärfer distanziert sich Herder von Michaelis, den er 1769 in einem Atem mit Hume genannt hat40. Wie damals erscheint der Göttinger auf der ersten Seite, diesmal ohne Namensnennung, aber dafür aufs böseste charakterisiert41. Die Polemik, durch das ganze Buch fortgesetzt, fällt umso mehr auf, als Herder sich eben damals um einen Lehrstuhl an der Göttinger theologischen Fakultät bemühte. Seine Eignung dafür sollte – er hatte vorher so gut wie nichts Theologisches publiziert – gemeinsam mit den „Provinzialblättern“ gerade die „Älteste Urkunde“ erweisen. In der Tat konnte ein gerechtes Urteil nicht daran vorbeigehen, dass in diesen Schriften theologische Leidenschaft am Werk war und dass Herder sich zumal im zwei37  F V, 276. 38  F V, 299. 39  F V, 11. Zu diesen Fragen grundlegend Ch. Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes (1999). 40  Als Grund für Herders veränderte Haltung vermutet Bultmann (a.a.O. 82) die Enttäuschung über die ersten Bände von Michaelis’ Bibelübersetzung. 41  F V, 183, vgl. 1380.

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ten Band der „Ältesten Urkunde“ nicht ohne Grund auf Luther berief, dem er sich in jenen scheinbar oder wirklich „orthodoxen“ Bückeburger Jahren ganz neu zuwandte. Ein Widerspruch lässt sich aber nicht nur im Verhältnis zur Position von 1769, sondern auch innerhalb der „Ältesten Urkunde“ selbst feststellen. Sie beginnt zwar im ersten Abschnitt „Bisheriger Sinn oder Unsinn der Schulen“ mit einer ausführlichen neuen Variante der Polemik gegen die „Theologphilosophen“, gegen die Vermischung von Theologie und Naturwissenschaften bis hin zur Physikotheologie des 18. Jahrhunderts, aber auch gegen die theosophische Spekulation; für Herder ist hier noch „aller Physische und Metaphysische Kram, diesem ehrwürdigen Urstücke angestrichen, Schande und Sünde“42. Aber lauert nicht hinter seiner eigenen Hieroglyphenthese die gleiche „Schande und Sünde“? Muss sich nicht, wer mit ihr den Schlüssel zu allen Künsten und Wissenschaften zu besitzen glaubt, „damit beinahe außer der Welt auf dem Throne Gottes selbst fühlen“, wie Herder es43 gerade seinen Gegnern vorwirft? Und hatte schon seine frühere Position ihre apologetische Seite, so die neue noch mehr: angesichts der jetzt entdeckten Uroffenbarung kann kein „sinnlosers, lächerlichers Geschöpf in der Welt bleiben, als der Religionsleugner“44. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes der „Ältesten Urkunde“ gab Herder Hamann den Rat, sich darin an den ersten Teil („Eine nach Jahrhunderten enthüllte heilige Schrift“) zu halten; der zweite und der dritte („Schlüssel zu den heiligen Wissenschaften der Ägypter“ und „Trümmer der ältesten Geschichte des niedern Asiens“) seien „Schatte“45. Das ist nur in Grenzen ernst zu nehmen. Denn der zweite und der dritte Teil versuchen den gelehrten Beweis für den „Moses vor Moses“46, also für die Priorität jener Schöpfungshieroglyphe gegenüber den uns bekannten Mythologien, Theologien, Kosmogonien und Philosophien des Orients, die in verschiedenen Graden der Entstellung alle etwas von ihr bewahrt hätten, das es nun aufzuspüren gelte. Herder folgt damit einer religionsgeschichtlichen Konzeption, die schon Clemens Alexandrinus und Euseb apologetisch verwendet hatten und die, mit unterschiedlicher Einschätzung der Rolle Ägyptens, auch die von ihm angeführten Autoren Cudworth, Hyde und Jablonski vertraten47. Anders als bei seiner Arbeit an der Bibel nimmt Herder bei diesem Unternehmen seine Kenntnisse zu allermeist nur aus zweiter Hand, wenn nicht gar aus dritter oder vierter. Denn auch den „Fachleuten“ seiner Zeit steht ja ein großer Teil des Quellenmaterials, das wir heute, immer noch lückenhaft genug, besitzen, gar nicht oder nur ganz unzureichend erschlossen 42  F V, 199. 43 Ebd. 44  F V, 270. 45  DA V, 84. 46  F V, 426. 47  Vgl. den Exkurs über die „prisca theologica“ von H.B. Nisbet in: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988, hg.v. B. Poschmann (1989) 214–19.

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zur Verfügung. Umso freier kann sich eine zielgerichtete Phantasie entfalten. Auch hier gilt Jung-Stillings Satz: „Herder hat nur einen Gedanken, und dieser ist eine ganze Welt.“48 Sein „aufräumender, höheran klimmender Weg“ beginnt mit einem Abstieg „in die Tiefe! ins Modeland neuerer Morgenländischen Hirngespinste, Aegypten“49. Wichtigster Gewährsmann für die ägyptische Mythologie ist Jablonski, dessen „Pantheon Aegyptiorum“ (1750–52) er „zur Verkürzung“50 statt der in ihm angeführten Quellen zu zitieren pflegt. Das ergibt auch eine starke Verkürzung seiner eigenen Urteilsmöglichkeit, denn er hat sichtlich nur selten diese Quellen selbst nachgeschlagen, die auch ihrerseits, selbst soweit sie sprachlich verständlich sind – die Hieroglyphen harren ja noch der Entzifferung –, nicht ins Alte Ägypten zurückreichen können, weil es sich überwiegend um die Nachrichten griechischer und römischer Autoren handelt. Aber auch unter diesen Umständen geht Herder um seiner These willen alsbald das Risiko der Selbständigkeit ein: Jablonski erhält schon auf den ersten Seiten eine Abfuhr, weil er, „der sich so oft vergißt“, sich untersteht, die „Gesangzahl Sieben“ auf Planeten zu beziehen51, und ebenso ergeht es Herders zweitem Gewährsmann, dem Göttinger Philologen Gesner, „dessen Feld weder Aegyptische noch Morgenländische Literatur, und überhaupt glückliches Raten war“52 – er dachte an die sieben Vokale statt an die sieben Buchstaben der Schöpfungshieroglyphe, die Herder hier natürlich finden möchte, wobei er sich auf Horapollo beruft, einen spätantiken Schriftsteller, der auch schon von den Hieroglyphen gehandelt hat, ohne sie zu verstehen. Nach diesem Muster wird im ganzen zweiten und dritten Teil verfahren; die Gegenstände und die Gegner wechseln, aber stets kommt es auf die eine These hinaus. So groß die Menge des aufgebotenen Materials zu sein scheint, merkt doch auch der unbewanderte Leser auf Schritt und Tritt, dass ein Dilettant spricht und dass Emphase die saubere Argumentation ersetzen muss, weil sich anders das erstrebte Ziel nicht erreichen lässt. Die gegnerischen Positionen, etwa die des berühmten Bischofs Warburton, werden in Herders Polemik nur verschwommen deutlich, und selbst als ungefähres Gesamtbild des damaligen Wissensstandes in Sachen der antik-orientalischen Kulturen und Religionen ist seine Darstellung mit Vorsicht zu gebrauchen. Trotzdem bleibt sie als ein gerade in seinen Übertreibungen großartiger Versuch, noch einmal die alte Theorie von der Abkunft aller antiken Religionen von einer ursprünglichen Offenbarung zu verfechten, ein Dokument von besonderem Rang. Nicht nur um Herders willen liest man heute, wo der Kulturzusammenhang inner-

48  J.H. Jung-Stilling, Lebensgeschichte, hg.v. G.A. Benrath (1976) 271. 49  F V, 314. 50  F V, 3151. 51  F V, 317. 52  F V, 315.

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halb des östlichen Mittelmeergebietes in neues Licht tritt53, vieles gerade in diesen Partien mit neuem Interesse. Dessen ungeachtet kann man es Lavater ein Stück weit nachfühlen, dass er den zweiten Band der „Ältesten Urkunde“, der als „vierten Teil“ eine Auslegung von Gen 2,4–6,7 enthält, „viel deutlicher, interessanter, unterhaltender, stoffreicher“ fand als den ersten54. Nicht als verliefe jetzt alles in den gewohnten oder auch weniger gewohnten Bahnen der biblischen Exegese! Zumal wer das Manuskript von 1769 im Gedächtnis hat, ist überrascht, wie wenig Herder hier auf die Fragen der Einheitlichkeit und der Herkunft der Texte eingeht, zu schweigen davon, dass er sich von den Antworten darauf in nennenswertem Ausmaß ihr Verständnis bestimmen ließe. Fast scheint es, als habe die gewaltige Anstrengung für die Hieroglyphenthese seine in diese Richtung gehenden Energien erschöpft oder auch neutralisiert, so dass die scheinbar kleineren Probleme der literarisch-historischen Kritik fürs erste in den Hintergrund treten mussten. Im Vordergrund stehen noch mehr als 1769 die großen Menschheitsthemen, zu deren Behandlung diese „vorsintflutlichen“ Kapitel der Genesis Anlass geben. Herder teilt in drei Abschnitte: Anbeginn, Abfall, Fortgang des Menschengeschlechts. Der bei weitem kürzeste Abschnitt, obwohl mit der längsten Partie des biblischen Textes befasst, ist der dritte, der bei weitem längste der zweite. Ihn bricht Herder ab mit dem Hinweis auf weiteres, das zu besprechen gewesen wäre, und einem „Allein wann würd’ ich enden!“55 Bis hierhin hat der Band, mehr oder weniger ausführlich und mehr oder weniger genau dem biblischen Text folgend, immerhin schon vom Menschen als Körper und Seele, als Mann und Frau, von seinem Verhältnis zu Gott und den Tieren, von Sprache, Kunst und Erziehung und am ausgiebigsten unter dem Stichwort „Abfall“ vom Problem des Bösen gehandelt, wobei die zeitgenössischen Philosophen, vor allem die Franzosen und unter ihnen als wichtigster Rousseau, im Positiven und im Negativen viele Stichworte lieferten, aber schließlich unter Berufung auf den Apostel Paulus alles in die neutestamentlich-christliche Perspektive trat – insgesamt eine biblische Anthropologie, in der einer der schriftstellerischen Höhepunkte das Gespräch mit „Vater Adam“ ist56, aus dem sich sogleich57 Anreden nicht nur an Adams Sohn, den „menschlichen Bruder“, sondern auch an die „Väter, Mütter der Lebendigen“ ergeben, die „die Erziehung des ersten Vaters“ und aus ihr für ihr eigenes Erziehen lernen sollen. Rudolf Haym, Herders immer noch nicht übertroffener Biograph, verstand, dass die „Redseligkeit“ des Bandes das Lob des „immer zur Popularität mahnenden 53  Vgl. etwa W. Burkert, Die Griechen und der Orient (2003); A. Dihle, Hellas und der Orient (2009). 54  Aus Herders Nachlass, hg.v. H. Düntzer und F.G. v. Herder, II (1857) 168. 55  F V, 620. 56  F V, 613–18. 57  F V, 618.

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Lavater“ erhielt, doch nach seinem eigenen Urteil führt sie eher zur „Ermüdung des Lesers“58. Die „Älteste Urkunde“ ist, zumal in ihrem ersten Teil, mit einem geradezu maßlosen Anspruch geschrieben. „Spreche ich Ihnen nicht, wie ein Marktschreier?“ unterbricht sich Herder in seinem ersten Brief an Heyne, nachdem er ihm eröffnet hat, dass seine „Entdeckung“ in Theologie, ältester Geschichte, Kosmologie, Mythologie „usw.“ einen völligen Wandel herbeifuhren werde59. In der Tat mag man in dem Autor der „Ältesten Urkunde“ über weite Strecken einen Marktschreier sehen, der mit unermüdlicher Überredungskraft für sein Produkt wirbt und alles daran setzt, die Konkurrenten in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Angemessener, wenn man den Unterschied zugesteht, ist das Bild des Missionars, und zwar eines ganz besonderen Missionars. Herder sieht sich im Besitz einer alles umfassenden Wahrheit, die ihm „nach Jahrhunderten enthüllt“ ist60. Er beschreibt es Hamann so, dass ihm „der Genius oft einflüstert, daß die Sache nach dem Maasstabe der Eitelkeit gezeichnet, Entdeckung, mit Demuth u. Wahrheit gesagt aber, Göttliche Botschaft seyn könne“61. Seine Aufgabe, seine Mission ist es, dieser Entdeckung, dieser Botschaft Glauben zu verschaffen. „Es soll für alle Auserwählte offenbare Thorheit werden an diese Dinge nicht zu glauben!“ – so wiederum an Hamann62. Aber nicht alle sind auserwählt, und wie sehr Herder mit dem Vorhandensein von Torheit rechnet, bezeugt die „Älteste Urkunde“ von Anfang bis Ende. Einer, den einen Toren zu nennen man sich denn doch scheut, nämlich Herders Lehrer und Antipode Immanuel Kant, übersandte Hamann eine kurze und präzise Darstellung der „Hauptabsicht des Verfassers“ mit der Bitte um Verbesserung, „aber wo möglich in der Sprache der Menschen“, denn er „armer Erdensohn“ sei „zu der Göttersprache der anschauenden Vernunft garnicht organisirt“63. Freund Goethe, seinerseits von dem Buch als einem „weitstrahlsinnigen Ganzen“ tief beeindruckt, prophezeite: „Aber ich höre das Magister Volck schon rufen: er ist voll süsen Weins, und der Landpfleger wiegt sich auf seinem Stule und spricht: du rasest!“64 So ist es gekommen65, schon lange bevor das Magistervolk schrittweise erkannte, dass die Schöpfungsgeschichte in der Genesis nicht in die graue Vorzeit gehört und nicht einmal älter ist als Mose, sondern ein halbes Jahrtausend jünger, und dass man bei ihr nach althebräischen Begriffen von Poesie gerade nicht sprechen kann. 58  Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt I (1877) 704. 59  DA II, 134. 60  So im Untertitel des 1. Teils. Es hatte auch schon „nach Jahrtausenden“ heißen sollen (DA III, 54, vgl. aber 55). 61  DA II, 211. 62  DA II, 287. 63  7.4.1774: Kant’s Briefwechsel (Akademie-Ausg.) I (1900) 148. 64  8.6.1774. Goethes Briefe, hg.v. K.R. Mandelkow, I (41988) 163. 65  Vgl. F V, 1373–79.

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„Herder schrieb in dieser Periode fieberhaft, polemisch und zuviel“, urteilt einer seiner besten Kenner in unseren Tagen66. Aber mag das auch zutreffen und mag er sich in der „Ältesten Urkunde“ nach dem Urteil anderer – nie seinem eigenen – grandios vergaloppiert haben, nicht lange danach, 1778, in Herders drittem Weimarer Jahr, dem Jahr übrigens, in dem Lessing mit Goeze stritt, kam das Juwel unter seinen Schriften zur Bibel heraus, die Auslegung des Hohenliedes mit dem Titel „Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus Morgenlande. Nebst vier und vierzig alten Minneliedern“67. Das dem König Salomo zugeschriebene Hohelied bietet sehr andere Probleme als die Urgeschichte, indem es ganz profan und irdisch von der Liebe zwischen Mann und Frau handelt. Die jüdisch-christliche Tradition konnte das in einem kanonischen Buch nicht zugeben und deutete allegorisch oder typologisch oder mystisch den Mann als Gott oder Christus und die Frau als Israel, die Kirche, die einzelne Seele. Michaelis in Göttingen kam das, nicht als erstem übrigens, unmöglich vor, und er verfiel auf einen anderen Ausweg: in den dreizehn Bänden seiner „Deutschen Übersetzung des Alten Testaments mit Anmerkungen für Ungelehrte“ (1769–83) kann man blättern, soviel man will, man findet das Hohelied nicht; Michaelis hat es stillschweigend ausgelassen, als etwas, das der Heiligen Schrift nicht würdig ist. Ganz anders Herder, dem das Menschliche in der Bibel so viel bedeutete. Für ihn gewann das Hohelied gerade dadurch nicht nur seine Eigenart, sondern auch seinen einzigartigen Rang, dass er es konsequent als Zeugnis menschlicher Liebe interpretieren konnte. Es ist nach seinem Verständnis, wie schon die Überschrift ‫„ שׁיר השׁירים‬Das Lied der Lieder“ zu besagen scheint, eine Sammlung direkt oder indirekt salomonischer Lieder in sieben Szenen, die die Liebe verfolgen „von ihrem ersten Keim, von ihrer zärtesten Knospe, durch alle Stufen und Zustände ihres Wachstums, ihrer Blüte, ihres Gedeihens bis zu reifer Frucht und neuer Sprosse“68. Mit den Worten des neuesten Herausgebers von Herders Schrift: es handelt sich um „die Thematisierung anthropologischer Grundbefindlichkeiten; als ursprüngliche Poesie über ein menschliches Urthema ist das Hohelied auf neue Weise kanonisch“69. Herder kommt zu seinem Ergebnis durch eine gewissenhafte Übersetzung und Erläuterung des ganzen Textes, die ihn aufs Neue als guten Kenner der hebräischen Sprache und der exegetischen Literatur, besonders der zeitgenössischen Reiseberichte erweist. Diese Lieder sind ja, wie der Untertitel sagt, „die ältesten und schönsten aus Morgenlande“. So kann gar nicht genug Material herbeigeschafft werden, um ihr ursprüngliches Kolorit sichtbar zu machen. Mögen sie auch unmittelbar im Rahmen des Alten Testaments, genauer der salomonischen Schriften zu verstehen sein (zwischen den Sprüchen und dem Pre66  Jørgensen (Anm. 18) 380. 67  F III, 431–521 (zum Bedauern noch von heutigen Altgermanisten unter Fortlassung der 44 Minnelieder). 68  F III, 496. 69  U. Gaier, F III, 1204.

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diger), so gehören sie doch darüber hinaus in eine viel größere und weitere Welt, in der sich Herder unablässig lesend, übertragend, nachdichtend bewegt. In der neuesten Herder-Ausgabe stehen die „Lieder der Liebe“ nicht bei den „Schriften zum Alten Testament“, sondern bei den „Volksliedern“. Dass die eine Einordnung so gut möglich ist wie die andere, demonstriert schlagend Herders Stellung zur Bibel als Literatur und im Besonderen als Poesie. Aber so eindeutig er als Exeget mit allen zur Verfügung stehenden gelehrten Mitteln den rein profanen Charakter des Textes herausarbeitet, so weitherzig gesteht er danach den traditionellen jüdisch-christlichen Auslegungen bis hin zu ihrer mystischen Spielart ein Recht zu, solange klar bleibt, dass es sich um Anwendungen handelt, die den „Ersten Wortverstand nicht aufheben, sondern voraussetzen, bestätigen und gleichsam bewähren. Gerade wer zuerst dies Eine im Hohenliede ganz und treu fand; kann nachher in der Anwendung alles daher brauchen, dagegen wer im Wortverstande tappt und irret, auch in jeder einzelnen Anwendung straucheln oder lahmen wird.“70 Auf Herder kann man sich nicht berufen, wenn man biblische Texte nur von ihrem späteren Zusammenhang oder gar von ihrer nachbiblischen Wirkungsgeschichte her verstehen möchte und ihren ursprünglichen Sinn für mehr oder weniger gleichgültig hält. Dass die Wissenschaft in der Sicht des Ursprünglichen oft nicht bei Herder stehenbleiben, ja sich auch einmal überhaupt nicht auf ihn einlassen konnte, sahen wir bei der „Schöpfungshieroglyphe“; im lieblicheren Fall des Hohenliedes brauchte sie nicht viel zu korrigieren. Fünf Jahre nach den „Liedern der Liebe“ erörterte J. G. Eichhorn in seiner für Jahrzehnte maßgeblichen „Einleitung in das Alte Testament“71 das Hohelied in wörtlicher Anlehnung an Herder, aber in einem Punkt widersprach er seinem großen Freund energisch: Salomo kann nicht der Verfasser sein, vielmehr handelt es sich um einen „der spätern Nachläße der hebräischen Poesie“. Diese Einsicht ist geblieben, aber ebenso ist, bei allem Wandel des Geschmacks, die Grundeinsicht Herders geblieben72. Aber dann gibt es auf dem Gebiet des Alten Testaments noch das Buch, das Herder „das beste Buch“ nannte, „das ich schreiben wollte, das mit mir erwachsen u. von Kindheit auf in der Brust genährt war, u. jetzt das schlechtste worden ist“. So 178273 nach dem Erscheinen des ersten Bandes „Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes“, auf den 1783 noch ein zweiter, notdürftig abschließender Band folgte; das Werk blieb, wie so manches bei Herder, Torso. Aber „das schlechtste“? Noch heute liest es sich als eine der schönsten 70  F III, 516. 71  III (1783) 676. 72  Vgl. J.W. Rogerson in: Vernunft, Freiheit, Humanität, hg.v. C. Taszus (2008) 250–60. – Mit beachtlichen Argumenten stellt neuerdings M. Gerhards, Das Hohelied (2010) die allegorische Erklärung wieder zur Diskussion. 73  DA IV, 216.

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Einführungen in das Alte Testament74. Beim Titel hat neben Lowths „De sacra Poesi Hebraeorum“ gewiss Montesquieus „De l’esprit des lois“ (1748) Pate gestanden. Das Thema ist gemäß dem Plan von 1766/67 das Lowthsche, doch ist die „Heiligkeit“ gestrichen und demgemäß innerhalb des Buches, wie sich Herder gegenüber Eichhorn ausdrückt, „vom heiligen mystischen Schleier so wenig Notiz genommen worden als möglich“75. Gegen Lowths Glauben an den göttlichen Ursprung der Dichtkunst wusste er sich sogar mit Michaelis einig76. Statt mit Montesquieu „Geist“ hätte er auch „Geschichte“ sagen können, wie er denn während der Arbeit einmal den Ausdruck „Geschichte der Ebräischen Poesie“ gebraucht77 – vielleicht unwillkürlich und ohne dass das einen geplanten Titel bedeuten müsste – und wie der Begriff der Geschichte immerhin im Untertitel erscheint. Bei Lowth fand Herder nicht nur die historische Dimension zu kurz gekommen, sondern seine Poetik war ihm auch zu künstlich, klassifizierte zu sehr von den Griechen und Römern her und verfehlte dabei die ursprüngliche Kraft der alten Poesie. Vollends bei Lowths Nachfolgern sah er einen „Mißbrauch“ im Gange, „bei dem die nahrhaftesten Dinge zuletzt in süßen Duft verwittern“. „Man gibt dem Text“, so kritisierte er, „Ästhetisch und Poetisch, was man ihm und dem Zusammenhänge historisch, natürlich nahm“78. Es ist also cum grano salis zu nehmen, wenn eine berühmte Darstellung die Arbeit Herders an der Bibel „eine Reaktion der Kunst gegen die Theologie“ nennt und meint, nach Herder sollten die Evangelien – und gewiss ebenso die Schriften des Alten Testaments – „nicht mit Gelehrsamkeit, sondern mit Geschmack gelesen werden“79. Herder wandte sich gerade dagegen, dass den Texten „historisch, natürlich“ etwas genommen werde, und sein Aufwand an Gelehrsamkeit setzt immer wieder in Erstaunen. Auch „gegen die Theologie“ lässt er sich viel weniger ausspielen als so mancher „Theologe“ seines Jahrhunderts, mag er sich auch hier wie sonst nur schwer oder gar nicht in die damaligen oder die späteren Fronten eingliedern lassen. Vielleicht ist es sein Hauptverdienst um die Theologie gewesen, dass er die Texte der Bibel, indem er sich „historisch, natürlich“ erklärte, dem Missbrauch auch und gerade durch die Theologie zu entziehen versuchte – mit welchem Erfolg auch immer. Er betrieb diese Arbeit nicht isoliert, sondern im großen Zusammenhang seiner Bemühungen um Sprache, Literatur und Geschichte überhaupt. Die Besonderheit der Bibel musste sich nun gerade darin zeigen, dass sie ein Buch unter Büchern, die Besonderheit Israels darin, dass es ein Volk unter Völkern, ja auch die Besonder74  Zu seinem Inhalt vgl. F V, 1428f. – Ergiebig: D. Weidner (Hg.), Urpoesie und Morgenland. J.G. Herders „Vom Geist der Ebräischen Poesie“ (2008). 75  DA IV, 254. 76  S XXXII, 94. 77  DA IV, 195. 78  F IX/1, 152f., vgl. 164f. 79  Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (61951) 36. Schweitzer steht mit dieser Äußerung nicht allein.

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heit der biblischen Religion darin, dass sie eine Religion unter Religionen war. Vor Herder hatte kaum irgend jemand die Bibel mit solcher Weite des Horizonts betrachtet wie er, und nach ihm konnte es unter den Gelehrten niemand mehr auf die gleiche Weise tun, weil die wachsende Fülle des Materials immer mehr den spezialisierten Fachmann erforderte. Als Dilettant großen Stils hatte Herder noch die Möglichkeit, sich überall, wo er wollte, auf die Einzelheiten einzulassen. Mit dem seinem Jahrhundert und auf ganz besondere Weise ihm selber eigentümlichen Faktenhunger stürzte er sich auf alte und neue Texte, Lexika, Grammatiken, Kommentare, Handbücher, Geschichten, Geographien, Reisebeschreibungen und so weiter, nahm er aber auch die verschiedenartigsten Abhandlungen seiner – wie er – theoriefreudigen Zeitgenossen zur Kenntnis. Bei allem in der theologischen Zunft und auch von ihm selbst empfundenen Außenseitertum war er in der Wissenschaft seiner Zeit doch völlig auf der Höhe; sein Werk ist ein Spiegel, in dem man vieles von ihr noch heute gut erkennen kann80. Aber völlig unrecht hatte Albert Schweitzer ja nicht. Worin bestand, abgesehen von seinem Beruf, Herders Außenseitertum, was hatte er damit doch auch der Zunft im engeren Sinn voraus? Warum verachtete er den „ganzen Geist unserer heiligen Critica, Archäologia und Philologia“, warum war das alles ihm „meistens ein Haufe Totenbeine ohne Geist und Leben“? Seine eigene Antwort: „Eine Anmerkung voll Gefühl Orientalischen Geistes ist mehr werth, als hundert von der Form ihrer Töpfe.“ Und davon „welche Theurung in unsern Philosophenschulen und den Kanzeln unsrer Schriftgelehrten!“81 Geradezu stereotyp begegnet die Aufforderung, mit den Morgenländern ein Morgenländer, mit den Hirten ein Hirte zu werden und so die Vergangenheit sinnlich zu erfahren: „Gehe hin, mein Leser, und fühle noch jetzt hinter Jahrtausenden die so lang erhaltne reine Morgenländische Natur, belebe sie dir aus der Geschichte der ältesten Zeiten“82! Gefühl ist hier nicht alles, aber doch das Wichtigste und Nötigste, alles andere kommt hinzu. Und der Appell bedeutet keine Überforderung, die Erfahrbarkeit ist keine Illusion, ja gerade sie wird, wie die „Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“ unermüdlich predigt, in Morgenröte und „Hieroglyphe“ tägliche Gegenwart. Dem grundlegenden, sich ständig wiederholenden Erlebnis haben die „Dichter der Natur“ in ihren Bildern Gestalt gegeben, Homer, Milton, Klopstock, Ossian, „die Morgenländischen Dichter wieder am stärksten“83. Ihr Erbe bedeutet Herder mehr als die bei seinem Unternehmen ja nicht ganz unbeteiligte gefühlsmäßige Beziehung des Frommen zum biblischen Text, wie der Pietismus sie kultivierte, mehr aber auch als die theologisch-dogmatische Tradition und die philologisch-historische Arbeit, so sehr er 80  Vgl. besonders die „Briefe, das Studium der Theologie betreffend“, die jetzt im Neudruck vorliegen (F IX/1, 139–607). 81  S V, 450f. 82  F IV, 19. 83  F V, 203.

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darin zu Hause war und so sehr er wusste, dass es auf beides ankommt: „Morgenländisch zu fühlen, und Abendländisch zu verstehen“84. Kein Geringerer als Goethe hat für seine Person den Erfolg von Herders Bemühen bezeugt, indem er ihm aus Anlass zweier Schriften zum Neuen Testament schrieb: „Gott weis dass das eine gefühlte Welt ist! Ein belebter Kehrigthaufen! […] Deine Art zu fegen – und nicht etwa aus dem Kehrigt Gold zu sieben, sondern den Kehrigt zur lebenden Pflanze umzupalingenesiren, legt mich immer auf die Knie meines Herzens.“85 Um Palingenesie ist es Herder in der Tat gegangen, so anstößig es theologischen Ohren auch klingen mag, wenn so etwas wie eine schöpferische Erneuerung des biblischen Textes versucht werden soll. Als seinen „Beruf“ bezeichnet Herder es im „Geist der Ebräischen Poesie“, die hebräischen Schriften „verständlich zu machen und zum Nutzen anzuwenden“86, und den eigentlichen „Zweck“ des Buches nennt er die Übersetzung „schöner Stellen“; sie seien „die Frucht“, sein Buch „nur Schale“87. Zu seinen Plänen gehörte eine Übersetzung, die er „meine Bibel“ nannte88; sie sollte „das Ende seyn meines geschäftig-müßigen, bedrängt-fruchtlosen Lebens“89. Er stellte sich eine Ausgabe vor, „in der jedes Buch und jedes Stück eines Buchs ohne Kapitel- und Versabtheilung in sein ursprüngliches Licht gesetzt, Poesie und Geschichte sorgfältig abgetrennt, und auch wo ihre Farben zusammenfließen, diese durch den Druck oder durch kurze Anmerkungen richtig unterschieden wären“; nicht zu übersehen der fast beiläufige Zusatz, er wünsche sie „nicht als Bibel, sondern als Sammlung alter Schriften also zu übersetzen und zu vollenden“90. Leider – und man ist versucht hinzuzufügen: natürlich – kam das Werk nicht zustande, das wohl Aussicht gehabt hätte, anders als Michaelis’ unzureichende „Deutsche Übersetzung […] mit Anmerkungen für Ungelehrte“ das Jahrhundert zu überleben. Michaelis ahnte nicht, was es bedeutete, in Luthers Fußstapfen zu treten; Herder wusste es. „Was hat dieser Hellseher nicht alles der Wissenschaft vorweg genommen!“ Es mag überraschen, dass dieser Ausruf Wellhausens91 in Herders Schriften zum Neuen Testament, nicht denen zum Alten, seinen unmittelbaren Anlass hat. Aber E. Hirsch dürfte im Recht sein, wenn er unter Herders „Versuchen zu biblischen Büchern […] die […] über die Evangelien, trotz dem Fehlen aller Einzelforschung, die bedeutendsten“ nennt92. In der Tat ist, wer im 20. Jahrhun84  F V, 92. 85  12.5.1775 (Briefe I, 182f.) 86  F V, 960. 87  F V, 667. 88  Maria Carolina von Herder, Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder, hg.v. J.G. Müller, II (1820) 212. 89  DA IV, 142. 90  S XI, 170f. 91  Einleitung in die drei ersten Evangelien (11905) 431. 92  Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV (1952) 238.

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dert die Evangelien studiert hat und dann Herder dazu liest, besonders „Vom Erlöser der Menschen. Nach unsern drei ersten Evangelien“ und „Von Gottes Sohn, der Welt Heiland. Nach Johannes Evangelium“ (1796/97), immer aufs neue frappiert. Nur ein paar Stichworte: zu Anfang mündliche Verkündigung des Evangeliums in einzelnen Stücken ohne biographische Absicht, dann zunächst, da „das Kürzere, das Schmucklose, gewöhnlich das Frühere“ ist93, das Markusevangelium, ihm folgend Matthäus, um zu zeigen, „daß Jesus, selbst nach denen von der Nation aus den Propheten angenommenen Kennzeichen, der Messias sei“94, und, als „die erste christliche Geschichte“ und „rein hellenistisch“, Lukas95; von ihnen durch eine lange Pause abgesetzt Johannes, „der älteren Evangelien Nachhall im höheren Tone“96. Viel anders lernt man das heute fürs Examen auch nicht; damals war es eine Sondermeinung, wofür man nur zu vergleichen braucht, was im benachbarten Jena der berühmte Griesbach lehrte. Ich übergehe alle Voraussetzungen und Schwankungen, die diese Thesen bei Herder gehabt haben, und beschränke mich bei seinen übrigen Arbeiten zum Neuen Testament auf die Nennung seiner „Erläuterungen […] aus einer neueröfneten morgenländischen Quelle“, 1775 eingeschoben zwischen die beiden Bände der „Ältesten Urkunde“, mit Beobachtungen und Erwägungen, die Generationen später in der sog. Religionsgeschichtlichen Schule und insbesondere in der Heranziehung der Gnosis zur Erklärung des Neuen Testaments (Rudolf Bultmann!) ihre repräsentative Gestalt angenommen haben97. Dass die heutige Wissenschaft sich auf dem Gebiet des Neuen Testaments manchmal in größerer Nähe zu Herder befindet als auf dem des Alten, hängt mit den tieferen Zäsuren zusammen, die die alttestamentliche Wissenschaft im 19. Jahrhundert erfahren hat: durch die Erschließung des alten Orients nach der Entzifferung von Keilschrift und Hieroglyphen und, nicht weniger einschneidend, durch die historische Kritik am Pentateuch, deren moderne Phase wenige Jahre nach Herders Tod in den Erstlingsarbeiten de Wettes nebenan in Jena begann. Das entscheidende Zwischenglied zwischen de Wette und Wellhausen bildet der Hegelianer Wilhelm Vatke98, dessen Urteil über Herders Schriften kurz und bündig lautet: „wohl anregend, aber nur zum Teil belehrend“99. Das Anregende und doch wohl auch Belehrende fasste ein Anderer, der liberale Pentateuchkritiker und Psalmenkommentator Hermann Hupfeld in die Worte: „Meiner Meinung nach hat dieses Buch [Vom Geist der ebräischen Poesie] dem Christenthum einen größeren Dienst geleistet, als alle Dogmatiken zusammen genommen. Mag 93  S XIX, 391. 94  S XIX, 401. 95  S XI, 421. 96  S XI, 424. 97  Zu Herders Arbeit an den Evangelien ausführlich J. Frey in: Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, hg.v. M. Keßler u. V. Leppin (2005) 47–91. 98  Vgl. R. Smend, Bibel und Wissenschaft (2004) 118f. 99  Historisch-kritische Einleitung in das Alte Testament, hg.v. H. Preiß (1886) 11.

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es sein daß die Phantasie zuweilen das Gemälde verschönert und durch zauberische Brücken verbunden hat, was man bei kaltem Blute doch noch durch eine tüchtige Kluft getrennt sieht, und daß es dem trockenen Verstande manchmal schwer fällt, ihrem Schwunge zu folgen, und sich alles in feste, hausbackene Begriffe zu verwandeln, so weht doch nach meinem Gefühl der Geist des Morgenlandes in dem Buche, und es giebt die einzig richtige Anleitung wie man Schriften des Morgenlandes betrachten und lesen muß.“100

100  Ed. Riehm, D. Hermann Hupfeld. Lebens- und Charakterbild eines deutschen Professors (1867) 23f.

Johann Gottfried Eichhorn 1752–1827

Sein Grabmal steht auf dem Göttinger Albanifriedhof in Steinwurfnähe zu dem des Mathematikers Gauß; nicht viel weiter entfernt sind der Naturforscher Blumenbach, der Theologe Lücke, die Philosophen Herbart und Lotze und der Archäologe Otto Jahn, Mozarts erster Biograph, bestattet. Die schöne Inschrift auf der mehr als mannshohen Doppelstele1 verzeichnet nach Eichhorns Würden seine und seiner Frau Susanne Dorothea Lebensdaten – er lebte von 1752 bis 1827, sie von 1756 bis 1835, beide stammten aus dem Hohenlohe-Oehringschen – und endet auf der Vorderseite mit dem Satz: „Verheyrathet den 24. Juny 1775 / lebten sie 52 Jahre lang in der glücklichsten Ehe.“ Geht man um den Stein herum, dann liest man: „Ihre Wege waren liebliche Wege / und alle ihre Steige waren Friede / Spr. Sal. 3 V. 17.“ Das ist, mit Verlaub, missbräuchliche Verwendung eines Bibelverses. Denn der handelt nicht von Menschen, sondern von der Weisheit; auf sie bezieht sich das Possessivpronomen „ihre“, und der Satz ist im Urtext und den Übersetzungen eindeutig zeitlos-präsentisch. Man muss hoffen, dass Eichhorn ihn in der Form, wie er da steht, nicht selbst zu seinem und seiner Frau Grabspruch bestimmt hat. Aber wenn er so auf beide gepasst hat – und wir haben keinen Grund, es zu bezweifeln –, mag die Freude darüber die Irritation durch diese Art von Schriftgebrauch mildern. Eichhorns Leben verlief ohne Brüche, auch eine tiefere Zäsur in seiner geistigen Entwicklung wie bei seinem Göttinger Vorgänger Michaelis die Englandreise wird nicht sichtbar. Er wirkte angenehm und liebenswürdig, war etwas übertrieben höflich und galt als eitel2. Als Schriftsteller übertraf er Michaelis bei weitem; sein Stil ist gefällig, ja schön, seine Handschrift so zierlich, wie die von Michaelis kraftvoll war. Vorgänger und Nachfolger gaben sich an Weltläufigkeit nichts nach, beide waren auch gleich fest in die kleinere akademische Welt Göttingens eingewurzelt. Aber Michaelis kam aus dem Halle von 1745 nach Göttingen, Eichhorn aus dem Jena von 1788 – das machte schon einen Unterschied. 1  Vgl. J. Döring, Göttinger Jahrbuch 33 (1985) 137. 2  Vgl. A. v. Humboldt, Jugendbriefe an Wilhelm Gabriel Wegener, hg. von A. Leitzmann (1896) 65.

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Göttingen war bereits Eichhorns Studienort gewesen3. Der Pfarrerssohn hatte nach dem Schulbesuch in Weikersheim und Heilbronn seit 1770 eher nebenbei die Theologen gehört, vor allem aber das Dreigestirn Michaelis, Heyne und Schlözer – letzterer sein hohenlohischer Landsmann. Schon 1774 erhielt er die Stelle des Rektors am Gymnasium in Ohrdruf, von wo aus er sich alsbald in Jena promovieren ließ, um schon zu Ostern 1775, 22jährig, als ordentlicher Professor für orientalische Sprachen dorthin berufen zu werden. Im gleichen Jahr kam Goethe ins benachbarte Weimar, ein Jahr später Herder. Eichhorn war disponiert, sich von beiden anregen zu lassen, aber auch beide anzuregen. Goethe schrieb im Rückblick: „Erinnern wir uns nun lebhaft jener Zeit, wo Herder und Eichhorn uns hierüber [über die Bibel als Dichtung] persönlich aufklärten, so gedenken wir eines hohen Genusses, dem reinen orientalischen Sonnenaufgang zu vergleichen.“4 Er nannte sein Verhältnis zu Eichhorn, dem „hochverdienten Mann“, einen „dankbaren Lebensbezug“; er habe in der Zeit der Jena-Weimarischen Nachbarschaft aus seinem Mund „gar manches Heilsam-Belehrende“ vernommen und sei auch nach Eichhorns Weggang nach Göttingen „die ganze Zeit über […] seinem Lehrgange im stillen gefolgt“5. Den „West-östlichen Divan“ schickte er 1819 an Eichhorn mit folgenden Versen: Vor den Wissenden sich stellen, Sicher ist’s in allen Fällen! Wenn du lange dich gequälet, Weiß er gleich, wo dir es fehlet; Auch auf Beifall darfst du hoffen, Denn er weiß, wo du’s getroffen.6

Welchem deutschen Professor wird schon ein solches Kompliment gemacht? Wäre Eichhorn nicht 1788 nach Göttingen gegangen, sondern nur ein Jahr länger in Jena geblieben, dann wäre er auch noch Schillers Fakultätskollege geworden. Ein weiterer Irrealis: wäre Herders Berufung nach Göttingen 1776 (und noch einmal 1789) nicht fehlgeschlagen, hätte Eichhorn diesen seltenen Geist fortan nicht nur (wie in Jena) am Nachbarort, sondern in der Nachbarfakultät gehabt. Aber das Kapitel „Herder in Göttingen“ gehört in den Bereich melancholischer Spekulation7. In Jena erzählte man sich, Eichhorn sei nach Göttingen gegangen, um den Spannungen mit dem Jenaer Johann Christoph Dö3  Zum Biographischen vgl. E. Bertheau (C. Bertheau), RE 3V, 234–37; dort auch die ältere Literatur. Seitdem E. Sehmsdorf, Die Prophetenauslegung bei J.G. Eichhorn (1971) 117–29.167– 70 und passim sowie vor allem G. D’Alessandro, L’illuminismo dimenticato. Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) e il suo tempo (2000). Zu Eichhorns Familienverhältnissen vgl. I. Bogenstahl, Johann Gottfried Eichhorn. Ein unbekannter Brief vom 12. Dezember 1813 (2005). 4  Frankfurter Ausg. I/3, 140. 5  Ebd. 270f. 6  Das Gedicht wurde 1827 in den Divan aufgenommen (ebd. 346, vgl. 1622f.). 7  Vgl. R. Smend, Zwischen Mose und Karl Barth (2009) 230–73.

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derlein, einem auch im Alten Testament tätigen Theologen, zu entgehen8. Die Abneigung wurde erwidert: als Döderlein kurz darauf ebenfalls einen Ruf nach Göttingen erhielt, machte er dessen endgültige Annahme davon abhängig, dass der Ruf an Eichhorn zurückgenommen würde, worauf sich die Regierung in Hannover natürlich nicht einlassen konnte9. Von Herders Gedanken hat Eichhorn sowohl in Jena als auch in Göttingen ausgiebig Gebrauch gemacht. Ein Beispiel: seit er „den Inhalt von Herders 2. Teil [des ‚Geist der Ebräischen Poesie‘] wußte, schrieb er ‚keine Zeile weiter‘ am 3. Teil seiner Einleitung, weil er aus H.s Werk einige Ideen ‚abborgen‘ wollte und deshalb ‚mit der größten Ungeduld‘ auf den Druck wartete“10. In Göttingen, dessen Universität damals die erste in Deutschland war, entfaltete er alsbald eine erstaunlich breite Wirksamkeit. Sein Lehrprogramm ähnelte weithin dem seines Vorgängers Michaelis, übertraf es aber noch an Vielseitigkeit. Er traktierte in jedem Semester Teile sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments, dazu meist Arabisch, Syrisch oder auch Aramäisch, außerdem aber in den ersten anderthalb Jahrzehnten fast regelmäßig, danach sporadisch Welt- oder Kultur- oder Literaturgeschichte überhaupt, letztere jahrelang als einziger in Göttingen. Das waren in der Woche 24 Stunden oder mehr11. „Kein Mensch sei noch je am Studium gestorben“, pflegte Eichhorn zu sagen. Er arbeitete „von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends mit je halbstündigen Pausen für die Mahlzeiten“, räumte aber zwei von Harvard kommenden Studenten, George Ticknor und Edward Everett, schließlich ein, „daß für verwöhnte junge Amerikaner zwölf Stunden täglich zunächst genug seien“12. Nicht ohne leisen Tadel vermerkte er, Michaelis habe sich auf seine Veranstaltungen immer schon einen Tag vorher vorbereitet: „sein Lehr-Vortrag verlohr dadurch die Kürze, die er ihm gegeben haben würde, wenn er unmittelbar nach der Vorbereitung aufgetreten wäre. Itzt mußten sich Ideen eines vorigen Tages durch die zunächst gedachten, die mit jenen in keiner nähern Verbindung standen, spinnen: dieß gab zwar öfters neue Schlingungen und Combinationen; der Faden aber mußte länger werden.“13 Eichhorns eigene Vorlesungen waren zweifellos auch der Form nach die besseren. Alexander v. Humboldt, der Michaelis in dieser Beziehung so hart tadelte14, sagte unumwunden: „Ich höre ihn gern“, und fügte hinzu: „Er spricht deutlich und zusammenhängend, fast ohne Heft, hat

8  K. Heussi, Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena (1954) 197; vgl. Herder, Briefe, hg.v. G. Arnold, V (1979) 280. 9  Vgl. Von und an Herder II (1861) 208f. 10  G. Arnold in: J.G. Herder, Briefe XII (2005) 242. 11  Vgl. Bertheau a.a.O. 235. 12  Van Wyck Brooks, The Flowering of New England (1941) 83, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe Die Blüte Neuenglands (1948) 80f. 13  In: J.D. Michaelis, Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt (1793) 224. 14  S.o. 143.

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aber den sonderbaren Fehler einer singenden Monotonie, wie in der Deklamation der Rhapsoden.“15 Diese Charakteristik passt mutatis mutandis auch auf Eichhorns Schriftstellerei, deren Umfang und Thematik seiner Vorlesungstätigkeit durchaus entspricht. Einen großen Teil machen die historisch-literarischen Kompilationen aus, die heute noch gelegentlich in Antiquariaten einen halben oder ganzen Regalmeter füllen: fünf Bände Weltgeschichte (1801–1814), sechs Bände Geschichte der drei letzten Jahrhunderte (1803/04), aufs laufende gebracht durch eine etwas verfrühte Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts (1817), zwei Bände Litterärgeschichte (1799 und 1814), fünf Bände Geschichte der Litteratur von ihrem Ursprunge bis auf die neuesten Zeiten (1805–07) – diese wenigstens in einem schmalen Drittelband, der neuere fremdsprachige Literatur behandelt, unter Mitarbeit ausländischer Autoren. Ein Sammelwerk in elf Abteilungen, vielleicht allein heute noch sachlich interessant, die „Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts“ (seit 1796), ist, wie auf dem Titel steht, „von einer Gesellschaft gelehrter Männer ausgearbeitet“. Eichhorn schrieb dafür zwei Einleitungsbände „Allgemeine Geschichte der Cultur und Litteratur des neuern Europa“ und gewann Kollegen, meist aus Göttingen, für die Einzeldisziplinen. Mit diesem ganzen Zweig seiner Schriftstellerei wollte Eichhorn, wie man später gesagt hätte, der Allgemeinbildung dienen16. Dass er einem wirklichen Bedürfnis auf nicht unpassende Weise entgegenkam, zeigt der Erfolg. Von ihm geben die genannten Band- und Jahreszahlen nur ein unvollkommenes Bild; manche Bände erschienen in mehreren Teilbänden, wiederholt gab es Neuauflagen. Übrigens konnte sich Eichhorn als Historiker auch noch aktueller und spezieller äußern. 1797 veröffentlichte er in zwei hübschen Bändchen eine Darstellung der Französischen Revolution, die er als weder aristokratisch noch demokratisch gesinnter Bürger verfasst zu haben beanspruchte17, und 1816 eine „Urgeschichte des erlauchten Hauses der Welfen“, von 449 bis 1055 reichend, also sogar Heinrich den Löwen noch in der Zukunft lassend, und dem Prinzregenten Georg Friedrich August, bald König Georg IV., „in tiefster Ehrfurcht gewidmet“. Während alle diese Werke, mögen sie sich auch immer noch ganz gut lesen, keine tieferen Spuren hinterlassen haben, ist der Name des Fachgelehrten Eichhorn unvergessen. Am wenigsten gilt das noch von der Orientalistik, dem ihm in erster Linie zugewiesenen Fach. Natürlich war er auch hier vielfältig und mit Geschick produktiv. In seinen akademischen Anfängen empfahl er sich durch eine verblüffend große Zahl von Veröffentlichungen zur arabischen und syrischen Literatur und Geschichte, und bis in seine letzten Jahre ließ er diese Themen nicht aus dem Auge. In Göttingen präsentierte er sich 1788 mit einem aller15  Jugendbriefe (s. Anm. 2) 65. 16  Vgl. etwa die Vorrede zum 1. Band der Geschichte der Litteratur. 17  Die französische Revolution in einer historischen Übersicht (1797); vgl. dort I, XIVf.

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dings eher alttestamentlich (Gen 11,1–9) und allgemein gehaltenen Programm unter dem Titel: Declarantur diversitatis linguarum ex traditione Semitica origines18. Als Philologe bewegte er sich auf der von Schultens und Michaelis vorgezeichneten Linie. Eher eine Pflichtarbeit war die Neuherausgabe des hebräischen und aramäischen Handlexikons des Hallensers Johannes Simonis (3. Aufl., 1793); Eichhorn hat dort „die Arbeiten von Michaelis und mehreren Holländern excerpirt, und in den ersten Buchstaben manches für Phraseologie und Construction nachgetragen, was aber weiterhin aus Mangel an Raum unterblieb“19. Ob es vielleicht nicht nur der Mangel an Raum war? Wie Michaelis gab Eichhorn eine eigene Zeitschrift heraus, zweimal sogar, wo er auch Kollegen zu Wort kommen ließ. Die erste Zeitschrift (1777–86) hieß „Repertorium für Biblische und Morgenländische Litteratur“, die zweite (1787–1803) „Allgemeine Bibliothek der Biblischen Litteratur“. Der Fortfall des „Morgenländischen“ deutet an, dass Eichhorns gelehrte Arbeit sich in der Göttinger Periode auf die Bibel konzentrierte. Sein bekanntestes Werk wurde die „Einleitung in das Alte Testament“, in vier Auflagen und zwei Raubdrucken20 weit verbreitet; nicht nur das theologische Publikum las sie, sondern von Goethe und Jean Paul abwärts die gebildete Welt21. Die erste Auflage (1780–83) kam Michaelis zuvor, der dann nur noch einen von vornherein überholten Torso zustandebrachte (1787), aber dezent durchblicken ließ, Eichhorn habe eine einst bei ihm gehörte Vorlesung ausgeschlachtet22. Sei dem gewesen, wie ihm wolle, Eichhorns Einleitung ist nicht nur vollständiger und genießbarer, sondern auch in der Sache eine Generation weiter als die des nachfolgenden Vorgängers. Eichhorn hat seine Aszendenz in der Selbsteinschätzung, die ihm nun einmal eigen war, auf folgende Formel gebracht: „Zur richtigem Ansicht der Schriften des A. T. hatten Richard Simon und Johann le Clerc viel Vortreffliches vorgearbeitet; Johann Albert Schultens that nun eine genauere Sprachkunde, Johann David Michaelis Wortkritik und reiche Sachkunde, Eichhorn die höhere Kritik (über Alter, Aechtheit, Integrität und Ursprung) und Kenntniß der alten Welt hinzu, wodurch die Auslegung des A. T. mit allem ausgerüstet war, was zu ihrer glücklichen Ausübung gehörte.“23 Seine „Einleitung“ umfasste in zunächst drei, in der vierten Auflage (1823/24) fünf Bänden zwei Teile: die „allgemeine Einleitung“ (Kanon und Text) und die „Einleitung in jedes einzelne Buch“. Damit waren, wie schon in Michaelis’ „Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes“, die beiden großen Bereiche zusammengefasst, die in den bis dahin das Feld beherrschenden 18  Neudruck: ABBL 3 (1792) 981–1016. 19  W. Gesenius, Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift (1815) 134. 20  Vgl. I3 (1803) XIIf. und RE 3V, 235. 21  Goethe: Frankf. Ausg. II/4, 319.322; Jean Paul: Sämtliche Werke, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, III/1, 243.489. 22  In seiner Rezension des ersten Bandes von Eichhorns Einleitung (OEB 16, 1781) 180. 23  Litterärgeschichte der drey letzten Jahrhunderte (1814) 1070.

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Lehrbüchern des orthodoxen Lutheraners Joh. Gottlob Carpzov als Critica sacra (1728) und Introductio ad libros canonicos (1714–21) noch ein getrenntes Leben geführt hatten. Eichhorn ließ 1795 eine Einleitung in die apokryphischen Schriften des Alten Testaments folgen und seit 1804 eine Einleitung in das Neue Testament in fünf Bänden (vollendet, teilweise in 2. Auflage, 1827), übrigens mit Vertauschung der Reihenfolge von „allgemeiner“ und „spezieller“ Einleitung. Dieses Werk hat Eichhorn auch noch den Titel des „eigentlichen Begründers der neutestamentlichen Literaturgeschichte“ eingetragen24. Alter, Echtheit, Integrität, Ursprung: diese eng zusammenhängenden Themen der „höheren Kritik“ waren damals nicht neu, aber zu welchen Ergebnissen ihre Untersuchung einmal führen würde, ahnte kaum jemand. Im heutigen Rückblick verwundert, dass Eichhorn eine Zeit lang zu den radikaleren Geistern gezählt werden konnte. Zwar schwächte er die Behauptung der Mosaität des Pentateuchs schließlich dahin ab, dass er dem Mose „gleichzeitig“ sei25, aber in diesem Sinne hielt er an der „Echtheit“ fest. Ihre Bestreiter von Spinoza bis de Wette zählte er anmerkungsweise in einer naturgemäß länger werdenden Liste auf26, ohne sich wirklich auf ihre Argumente einzulassen. Im Besonderen das Deuteronomium hielt er immer für ein Werk des Mose, mochte er auch in der letzten Auflage sein früheres „unwidersprechlich“ ermäßigen zu: „scheint mir so gut, wie sich etwas der Art, das in das hohe Alterthum gehört, beweisen läßt, erwiesen zu seyn“27; das war immerhin fast zwei Jahrzehnte nach de Wettes Dissertation über das Deuteronomium. Trotzdem ist Eichhorn in die Geschichte der Pentateuchkritik nicht nur als Aufhalter eingegangen. Ihm gebührt vielmehr das Verdienst, die Astrucsche These von einer Jehova- und einer Elohim-Urkunde, die Mose in der Genesis benutzt habe, durch eine zugleich ausgedehntere und präzisere Durchführung sowie durch den Versuch einer inhaltlichen Charakterisierung der beiden Quellen bestätigt und weithin zur Geltung gebracht zu haben. Eine alte Streitfrage ist, wieweit er dabei von Astruc abhängig war28. Er selbst hat nämlich 1779 bei seiner ersten Quellenscheidung, die Fluterzählung Gen 6–9 betreffend, behauptet, er erinnere sich „aus dem Gedächtnis an keinen Schriftsteller der ältern und neuem Zeiten, welcher in Mose Erzählungen, aus zwei Urkunden zusammengesetzt, bemerkt hätte“; seine „eingeschränkte Muße“ erlaube „kein langes Nachsuchen darüber“29. Man kann ihm aber nachweisen, dass ihm Astrucs Vermutung 1778/79, ja höchstwahrscheinlich schon 1775 geläufig gewesen ist30. 1781, in der ersten Auflage der „Einleitung“, wies er denn auch auf Astruc hin und fügte den nur halb 24  E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV (1952) 88. 25  Vgl. Einleitung 4(1823) III, 322 mit 3(1803) II, 417. 26 Einleitung 3II, 240d; 4III, 15h. 27 Ebd. 4III, 241 gegenüber 3II, 408. 28  S.o. 122. 29  RBML 5 (1779) 188. 30  RBML 4 (1779) 173, vgl. ABBL 2 (1790) 711f.

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überzeugenden Satz hinzu: „Auch ich habe dieselbe Untersuchung angestellt; aber, um meine Gesichtspunkte durch nichts verrüken zu lassen, ohne Astrük zu meinem Führer oder Geleitsmann zu wählen.“31 Eichhorns berühmteste Entdeckung betrifft die Prophetie und ist unter dem (späteren) Namen Deuterojesaja jedermann bekannt. Hören wir ihn selbst, 1783: „[…] ie öfter ich die Orakel vom 40sten bis 52sten Kapitel Jesaias lese, desto weniger will es mir einleuchten, daß sie vor dem babylonischen Exil abgefaßt seyn sollen. […] In der genannten Reihe von Orakeln (Jes. XL–LII) ist überall das babylonische Exilium die Scene; der Dichter spricht, als lebte er im Exil, als spräche er zu Exulanten, welche bei der Zögerung ihrer Wiederkehr ins Vaterland schon verzweifeln, ob auch die Verheißungen ihrer alten Propheten in Erfüllung gehn würden. Sollte nicht der Verfasser der darinn enthaltenen tröstlichen Verheißungen im Exil selbst gelebt haben?“32 Auch hier gibt es ein Prioritätsproblem. Eichhorn selbst hat sich wiederum etwas undeutlich geäußert: „Schon vor mir haben Ausleger gegen iene herrschende Meinung [Abfassung des ganzen Buches durch Jesaja] Zweifel gefunden: und wenn ihr auch meine Untersuchungen widersprechen sollten, so werden sie wenigstens vor den Vorurtheilen und den schlimmen Eindrüken gesichert seyn, welche den Verdacht der Neuheit gewöhnlich zu begleiten pflegen.“33 Eine Anmerkung nennt „besonders“ den Göttinger Theologen Koppe, der sich allerdings nur sporadisch zu Einzeltexten vermutungsweise in dieser Richtung geäußert hatte34. Eichhorns Kollege Döderlein hatte daran für Jes 40–66 insgesamt die Frage angeschlossen, „ob es nicht sehr glaublich sey, daß dieser ganze Abschnitt erst während des babylonischen Exils sey niedergeschrieben worden?“35 Obwohl das Eichhorn gewiss nicht verborgen geblieben ist, hat er den Namen des ungeliebten Döderlein an dieser Stelle nicht genannt. Gleichwohl gebührt ihm selbst der Ruhm, die erste zusammenhängende Darstellung des Problems und seiner Lösung gegeben zu haben. Eine ähnliche Rolle hat er für die Einsicht gespielt, dass die Elihureden in Hiob 32–37 kein ursprünglicher Bestandteil des Buches sind. Kommen sie, fragte er 1787, Beobachtungen von Michaelis zu ihrer sprachlichen Besonderheit aufgreifend, „wirklich von der Hand des Dichters? sind sie nicht vielleicht eine späte Episode, durch die man einen Uebergang auf die Erscheinung Gottes machen wollte, die zu plötzlich, ohne hinreichende Vorbereitung, sich zu ereignen schien? Wenigstens, wenn der erste Dichter die Absicht hatte, noch den vierten Bekannten Hiobs auftreten zu lassen, was konnte ihn bewegen, seiner im Pro31 Einleitung 1II, 297. 32 Einleitung 1III, 84.85f. 33  Ebd. 76f. 34  R. Lowth, Jesaias, aus dem Englischen von J.B. Koppe, III (1780) 206.237; IV (1781) 22.43 u.ö. 35  Auserlesene theolog. Bibliothek I/11 (1781) 832. Unrichtig TRE VIII, 510.

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log und Epilog nicht zu gedenken?“36 In den nächsten Jahren wurde es Eichhorn „immer wahrscheinlicher, daß Elihu’s Reden ursprünglich kein Theil des Gedichts waren“37, und 1803 stellte er in die Einleitung in das Alte Testament38 einen neuen Halbparagraphen „Ueber die Reden Elihu’s“ ein, der die Fragen von 1787 wiederholte und erweiterte. Aber es ist ähnlich wie in den benachbarten Fällen: Fragen und Vermutungen in dieser Richtung hat es schon im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gegeben, und es will nicht recht plausibel scheinen, dass ausgerechnet Eichhorn sie nicht gekannt haben sollte. So ist sein Verdienst wohl doch nur gewesen, „zur Verbreitung der Theorie von der sekundären Entstehung der Elihureden wesentlich beigetragen zu haben“39. Bei einer These zum Neuen Testament, die ihn sogar als „eigentlichen Begründer der synoptischen Forschung“ erscheinen lässt40, der sog. Urevangeliumshypothese, hat Eichhorn den größten Vorgänger gehabt, aber auch hier dessen Namen „eigenartigerweise“41 verschwiegen und in einer wiederum nicht recht überzeugenden Erklärung seine Unabhängigkeit betont: „Diese ganze Untersuchung ist ohne die Zuziehung irgend eines Schriftstellers angefangen und vollendet worden.“42 Dabei dachte Herder gewiss an seinen Freund Eichhorn43, wenn er schrieb: „Auch zu dieser neueren Ventilation hat Leßings neue Hypothese über die Evangelisten Anlaß gegeben, ob man gleich seinen Namen dabei nicht nennet.“44 Zur Orientierung in der Sache soll Wellhausen das Wort haben45: „Das [apokryphe] Hebräerevangelium hat bei den Gelehrten der alten Kirche eine Zeit lang lebhafte Aufmerksamkeit erregt, um dann schließlich mit der Sekte, die es konservierte, ins Dunkel zu versinken. Als man aber in neuerer Zeit begann, am Begriff des Kanons zu rütteln und die Apokryphen gegen ihn auszuspielen, ist es wieder zu hohen Ehren gekommen und der Ausgang der Untersuchungen über den Ursprung der Evangelienliteratur geworden. Lessing warf die Hypothese hin, es sei das Urevangelium gewesen. Johann Gottfried Eichhorn, ein lange Zeit sehr überschätzter Gelehrter, nahm dieselbe auf und suchte sie durchzuführen. Um jedoch die synoptischen Evangelien daraus ableiten zu können, sah er sich genötigt, an stelle des wirklichen Hebräerevangeliums, wie es uns restweise überliefert ist, einen neutralen Schemen zu setzen und dann noch eine Menge von teils aramäisch, teils griechisch abgefaßten 36  ABBL 1 (1787) 461f. 37  ABBL 2 (1789) 76. 38  3III, 597–601 (§ 644b). 39  M. Witte, BN 67 (1993) 20–25, Zitat 25. 40  Hirsch (Anm. 24). 41  W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien (1985) 55. 42  Einleitung in das Neue Testament 2I (1820) 181z. 43  Schmithals a.a.O. 44  Herder, Werke ed. Suphan 19, 204*. Herder setzt Eichhorns erste Ausarbeitung der These (ABBL 5, 1794, 761–996) voraus; vgl. dann Einleitung in das Neue Testament I (1804) 148–304. 45  Einleitung in die drei ersten Evangelien (21911) 109.

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Mittelstufen anzunehmen: aus diesen chimärischen Schriften, die alle parallel gingen und das ganze Evangelium umfaßten, sollen dann die Synoptiker sich was ihnen paßte ausgewählt haben, indem sie sie vor sich liegen hatten und den Blick von einer zur anderen wandern ließen. Damit hatte er gegen seine Absicht die Unbrauchbarkeit der Hypothese Lessings praktisch erwiesen. Einen starken Stoß empfing sie dann, soweit sie stillschweigend den Vorzug des ersten Evangeliums vor den beiden anderen voraussetzt, durch die Erkenntnis Schleiermachers, daß dasselbe eine sekundäre Komposition sei; den entscheidenden endlich durch die Entdeckung Lachmanns, daß Markus und daneben eine Redesammlung die wahren Quellenschriften der Synoptiker seien.“ Mit der Hypothese vom Urevangelium hatte Eichhorn auch ein apologetisches Ziel im Auge, nämlich die Trennung der zuverlässigen „apostolischen“ Jesusüberlieferung von dem, was ihr später hinzugefügt worden ist, z. B. den Kindheitsgeschichten bei Matthäus und Lukas, als Mittel, „die innere Glaubwürdigkeit und Wahrheit der evangelischen Geschichte unerschütterlich zu befestigen“, mochten „auch dadurch einige theologische Speculationen ins Gedränge“ kommen46. Diese „höhere Kritik“ war immerhin ein Fortschritt gegenüber dem Michaelisschen Verfahren, ganze Bücher des Neuen Testaments für apostolisch oder nicht apostolisch und darum kanonisch oder nicht kanonisch zu erklären – nicht nur wegen des subtileren exegetischen Verfahrens, das die Bücher nicht mehr en bloc nahm, sondern auch darum, weil der Begriff des Kanons in seiner normativen Bedeutung dabei zurücktrat. Im Blick auf das Alte Testament sagte Eichhorn unumwunden, es wäre „zu wünschen gewesen, man hätte den Ausdruck Kanon nie […] gebraucht“47, und es ist kein Zufall, dass der Theologe seines Jahrhunderts, den er am höchsten verehrte, Semler war, so verschieden dieser von ihm selbst sein mochte. Zwar konnte er auch Michaelis einen „großen Theologen“ nennen48, aber Semler schrieb er das Verdienst zu, für die neuere Theologie als deren „erster Reformator“ ähnliches geleistet zu haben wie Newton für die Mathematik: „Ein volles Viertel Seculum war er geschäftig, dieser Wissenschaft [der Theologie also] das veraltete und schmutzige Gewand, das ihr Platonismus und Scholastik umgeworfen hatten, auszuziehen, und sie verjüngt und mit neuen Reitzen ausgestattet ihrer Schwester, der Philosophie, die sie auszustoßen drohte, zur Aussöhnung wieder zuzuführen.“49 Seine eigene Aufgabe auf benachbartem Arbeitsfeld hat Eichhorn durchaus ähnlich gesehen. Er begann die alttestamentliche „Einleitung“ von ihrer zweiten Auflage an mit der folgenden programmatischen Erklärung über das angestrebte Ziel in seinem theologiegeschichtlichen Zusammenhang: „Der bloß theologische Gebrauch, welcher von den Schriften des Alten Testaments gewöhnlich gemacht wird, hat bisher mehr, als man denken sollte, ver46 Einleitung 2I, 499f. 47  Einleitung in das Alte Testament 4I, 106. 48  In: J.D. Michaelis, Lebensbeschreibung (Anm. 13) 212. 49  ABBL 5 (1793) 1f., vgl. 182.

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hindert, diese Werke des grauen Alterthums nach Verdienst zu würdigen. Man suchte darin nichts als Religionsideen, und war für ihren übrigen Inhalt blind; man las sie ohne Sinn für Alterthum und seine Sprache, nicht viel anders, als ein Werk der neuern Zeiten; und mußte nach Verschiedenheit der Geisteskräfte den allerungleichartigsten Erfolg in sich verspüren. Eine Art von Lesern überredete sich leicht, daß den Hebräern ihre Religionsideen mittelst vieler übernatürlichen Ereignisse nicht nur ertheilt, sondern daß sie auch durch eine andere Reihe ähnlicher Wunder bey ihnen erhalten und auf die Nachwelt fortgepflanzt worden: einer andern hingegen, welche die Natur der Israelitischen Religion, und ihre einzelnen Begriffe mit größrer Aufklärung umfaßte, fiel das Unwahrscheinliche, Unglaubliche, und zum Theil Unmögliche dieser Vorstellungen in die Augen, und in der Voraussetzung, daß die Schriften der Hebräer wirklich alles das enthielten, was man aus ihnen bloß zu wiederholen vorgab, und was sie auch nach einem flüchtigen Blick zu enthalten scheinen mußten, verachtete und verspottete man sie, und ließ ihnen auch nicht einmahl die Gerechtigkeit wiederfahren, die man den gemeinsten Schriften nicht verweigert. Gewiß hätten sich jene denkenden Männer mit diesen äußerst wichtigen Denkmählern des menschlichen Geistes ausgesöhnt, wenn nur Ein Erklärer ihres Inhalts und Ein Vertheidiger ihrer Wichtigkeit gezeigt hätte, daß das meiste Wunderbare und Uebernatürliche in den Büchern selbst nicht enthalten, sondern aus bloßem Mißverständniß und aus Unkunde der Sprache und Vorstellungsart, die sie mit allen Werken des frühern Alterthums gemein haben, erst in sie getragen worden; oder wenn sie nur erst darauf aufmerksam gemacht worden wären, daß sie die Geschichte der Cultur und Aufklärung eines alten Volkes so vollständig beschrieben, wie sie sonst von keinem andern weiter übrig ist; daß sie uns dasselbe in Zuständen zeigten, die bey andern bekannten und weit berühmtern Völkern des Alterthums lange vor dem Anfang ihrer übrig gebliebenen schriftlichen Denkmähler hergegangen, und daß sie zu tausend für Menschen und Menschengeschichte wichtigen Betrachtungen Gelegenheit gäben.“50 Gegen die „supranaturalistischen“ Anhänger und die „naturalistischen“ Kritiker des christlichen Glaubens will Eichhorn also das Übernatürliche aus dem Alten Testament wegerklären und das Alte Testament in seiner wahren Bedeutung für die menschliche Geschichte ans Licht stellen. Das ist nach seiner ausdrücklichen Erklärung Absicht der Einleitung in das Alte Testament, mag diese „Firma“ dafür auch nicht ganz passend erscheinen51. Er war auch an anderen Firmen beteiligt. Die bekannteste war göttingischen Ursprungs und bekam später den Namen „mythische Schule“52. Eichhorn hatte als Student im klassisch-philologischen Seminar Christian Gottlob Heynes (1729–1812) gesessen, und ein späteres Mitglied dieses Seminars, das sowohl bei Eichhorn als 50  Einleitung in das Alte Testament 2I, III–V. 51  Ebd. V. 52  Vgl. Ch. Hartlich und W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft (1952).

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auch bei Heyne Kolleg hörte, Alexander v. Humboldt, berichtet: „Wenn man Heynens Homer hört, die Art wie er die ältesten Mythen interpretiert, seine Art über die Kindheit des Menschengeschlechts zu raisonnieren und seine immerwährenden Vergleichungen des Homers und Moses – so sieht man die richtige Erklärung des Alten Testaments gleichsam von selbst entstehen.“53 Gleichsam von selbst – aber doch auch unter kräftiger Mithilfe Eichhorns, der in dem für seine Biographie so bedeutsamen Jahr 1775 nebenbei eine Auslegung der Urgeschichte in Gen 1–3 niederschrieb, die er aber erst 1779 veröffentlichte und die in der Neuausgabe (1790–93) durch seinen Schüler Johann Philipp Gabler (1753–1826) das Hauptdokument für die Arbeit der „mythischen Schule“ am Alten Testament wurde54. Eichhorns unmittelbare zeitliche Nachbarschaft bei diesem Geschäft sei mit ein paar Jahreszahlen angedeutet: 1775, das Abfassungsjahr der „Urgeschichte“, ist umgeben von den Erscheinungsjahren der beiden Bände einer anderen Bearbeitung des gleichen Gegenstandes, Herders „Ältester Urkunde des Menschengeschlechts“, 1774 und 1776. 1777 erschien Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ fragmentarisch, 1780, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Eichhorns „Urgeschichte“, vollständig. Sie wurde von Gabler 1793 in seiner Neubearbeitung der „Urgeschichte“ als Bundesgenossin der „mythischen Schule“ in Anspruch genommen55. Die allgemeine Eigenart des Mythos bestimmte Gabler im Anschluss an Heyne und Eichhorn wie folgt: „Mythen sind überhaupt Sagen der alten Welt in der damaligen sinnlichen Denkart und Sprache. In diesen Mythen darf man also nicht eine Begebenheit gerade so dargestellt erwarten, wie sie wirklich vorgefallen ist; sondern nur so, wie sie dem damaligen Zeitalter nach seiner sinnlichen Art zu denken und zu schließen vorkommen mußte, und in der bildlichen, optischen und dramatischen Sprache und Darstellung, in welcher eine Begebenheit damals nur vorgetragen werden konnte. Alle Erzählungen aus der Urwelt, so wie von dem ersten Ursprunge jedes Volks, müssen also nothwendig Mythen seyn, und je älter ein Buch ist, desto mehr Mythen muß es enthalten.“56 Das apologetische Motiv liegt auf der Hand und wurde im damaligen Stadium der „mythischen Schule“ weidlich genutzt, wobei namentlich Eichhorn nicht darauf verzichtete, aus den „historischen Mythen“ vor allem durch Rationalisierung die in sie nur eingekleidete Geschichte herauszulösen. So hat sich die Erde nicht aufgetan und die Rotte Korahs verschlungen und ist von Gott kein Feuer ausgefahren und hat 250 Männer verzehrt, sondern Mose hat die einen in eine Grube werfen und lebendig begraben, die anderen durch seine Leibwache niedermachen und dann mit Feuer vom Altar verbrennen lassen. Gegen eine solche „kritische Entkleidungsmethode“ wandte sich wenig 53  Humboldt (Anm. 2) 66. 54  Vgl. F. Parente, ASNSP.L III,16 (1986) 535–67. 55  J.G. Eichhorn, Urgeschichte, hg. von J.Ph. Gabler, II/2 (1793) 62f.26. 56  Urgeschichte II/1 (1792) 482.

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später Gablers Schüler de Wette: Einkleidung und Stoff haben für uns als Poesie zu gelten57. Eine besondere Herausforderung bedeutete für den historisch denkenden und arbeitenden Exegeten Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, die 1793 erschien. Eichhorn nahm die Herausforderung an und distanzierte sich mit Schärfe: würde man der grammatisch-historischen Interpretation in Zukunft gemäß Kants Forderung „eine durchgängige Deutung des Alten und Neuen Testaments zu einem Sinn vorziehen, der mit den allgemeinen practischen Regeln der reinen Vernunft-Religion zusammenstimme, wenn ihm gleich der Buchstabe widerspräche“, dann würde „der enge Bund aufgelößt, in welchen die klassische und die biblische Litteratur besonders seit den letzten zwanzig Jahren in Deutschland wieder zusammengetreten sind“; dann würde „eine neue Barbarey von dieser grosen Revolution den Beschluß machen. Dafür müssen uns Apollo und die Musen bewahren!“58 Weitere zwanzig Jahre später, 1814, resümierte Eichhorn den Kampf, der seitdem um diese Frage geführt worden war, halbwegs positiv damit, er habe immerhin „Leben in die Wissenschaft, die vormals viel zu todt betrieben worden war, gebracht, und ihr zu höherer Vollkommenheit geholfen“59. Jene Jahrzehnte waren bekanntlich auch sonst nicht kampflos gewesen. Bei dem, was Göttingen davon als Bestandteil des napoleonischen Königreichs Westphalen abbekam, hat Eichhorn sich fast so unbeliebt gemacht wie einst Michaelis. Er „drängte sich an die Machthaber heran“ und intrigierte mit Erfolg gegen seinen alten Lehrer Heyne, der bei ihm den Ehrgeiz konstatierte, „Primas und Canzler von Göttingen“ zu werden, wie es jeder auf seine Weise Michaelis und Heyne gewesen waren60. Wenngleich ihm dies fehlschlug, redigierte er immerhin von Heynes (1812) bis zu seinem eigenen Tod die Göttingischen Gelehrten Anzeigen, was auch eine Machtposition bedeutete und ihn vielleicht verschmerzen ließ, dass er Nicolais „Allgemeine deutsche Bibliothek“ nicht in die Hand bekommen hatte61. Auch mit äußeren Ehren war er ganz gut ausgestattet: in Jena wurde er sachsenweimarischer, in Göttingen königlich großbritannischer und kurfürstlich hannöverscher Hofrat, später (1819) geheimer Justizrat; den königlich-hannöverschen Guelfenorden erhielt er gleich nach dessen Stiftung (1815); dazu kam die Mitgliedschaft in einer Reihe gelehrter Gesellschaften und Akademien62. 57  Vgl. W.M.L. de Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II (1807) 81.98.353 u. passim. 58  ABBL 5 (1793) 204f. 59  Litterärgeschichte II (1814) 1103. Vgl. O. Kaiser, Von der Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments (1984) 47–60.61–70. 60  F. Frensdorff, Gottlieb Planck, deutscher Jurist und Politiker (1914) 20; G. v. Selle, Die Georg-August-Universität zu Göttingen (1937) 161–64. 61  Vgl. K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit (1929) 138f. 62  A. Hüne, NND 5 (1827) 638f.

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Von seiner viel gerühmten Häuslichkeit gibt, wie wir sahen, noch heute sein Grabstein Zeugnis. Im Alter hat er noch ein größeres Werk zum Alten Testament zustande gebracht, eine dreibändige Übersetzung der Propheten in chronologischer Reihenfolge und mit Erläuterungen63. Einen „gelehrten Kommentar über die Propheten“ wagte er „bey seinen Jahren und in seiner Lage“ nicht fest in Aussicht zu stellen, aber er bemerkte dazu mit leichter Hand, nachdem „in den letzten achtzig Jahren […] so ziemlich alles, was zur Spracherläuterung dienen kann, […] vorgearbeitet“ sei, könne ein solcher Kommentar „keine zu schwere Aufgabe seyn, sobald nur ihr [der Propheten] Geist ergriffen ist, für dessen Auffassung desto weniger bisher geleistet worden“64. Sobald nur ihr Geist ergriffen ist! Darum sollten sich in den beiden nächsten Generationen gerade in Göttingen mit Ewald und Duhm zwei Männer mühen, denen Eichhorn in dieser Beziehung nicht das Wasser hätte reichen können. Ein Resümee seines Prophetenwerkes von 1816/19 zog kein Geringerer als Goethe: „[…] was ist erfreulicher für den ruhig-verständigen Mann, wie für den aufgeregten Dichter [hat Goethe sich mit beiden gemeint?], als zu sehen, wie jene gottbegabten Männer mit hohem Geiste ihre bewegte Zeitumgebung betrachteten und auf das WundersamBedenkliche was vorging strafend, warnend, tröstend und herzerhebend hindeuteten.“65 Zur geschichtlichen Einordnung der prophetischen „Reden“ hatte Eichhorn, wie der Prophetenband seiner Einleitung ins Alte Testament an vielen Stellen erweist, nicht wenig beigetragen, und er war dabei im Laufe der Zeit kritischer und genauer geworden. Auch das theologische Bild hatte sich allmählich verschoben: weniger Vorausahnung (geschweige denn Weissagung), mehr Sittenlehre, die Offenbarung mit fortschreitender Entschiedenheit immanent gefasst66. Es ist übrigens gut möglich, dass Eichhorn nicht nur in Goethes „Divan“, sondern auch in Heinrich Heines „Harzreise“ Eingang gefunden hat. Als Heine im September 1824 aus Göttingen hinausspazierte, um im Harz Abstand von seinen ungeliebten Studien zu suchen, da war es „noch sehr früh, […] und der gelehrte lag gewiß noch im Bette und träumte wie gewöhnlich: er wandle in einem schönen Garten, auf dessen Beeten lauter weiße, mit Zitaten beschriebene Papierchen wachsen, die im Sonnenlichte lieblich glänzen, und von denen er hier und da mehrere pflückt, und mühsam in ein neues Beet verpflanzt, während die Nachtigallen mit ihren süßesten Tönen sein altes Herz erfreuen“67. In Heines Handexemplar der „Reisebilder“ steht bei den Sternchen der Name Blumenbach, auf den die Stelle durchaus passt. Aber die Notiz ist nicht von Heine selbst geschrieben, und die französischen Ausgaben haben, ohne Zwei63  Die hebräischen Propheten (1816/19). 64  II (1819) VII. 65  Frankf. Ausg. I/3, 271. 66  Dazu eingehend Sehmsdorf (Anm. 3). 67  Heine, Sämtliche Schriften, hg.v. K. Briegleb, II (1969) 105.

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fel mit Heines Autorisation, statt der Sternchen „le savant Eichhorn“, worunter man den Juristen Karl Friedrich Eichhorn, Johann Gottfrieds Sohn, zu verstehen pflegt68. Aber der war zur Zeit der „Harzreise“ 43 Jahre alt, hatte also kaum schon ein „altes Herz“. So ist die Vermutung begründet, dass es sich bei dem erfreuten Träumer um „unseren“ Eichhorn handelt, der ein Leben lang damit beschäftigt war, „Papiere […] aus der Zerstreuung zu sammeln, zu ordnen und zu verbinden, sie zu ergänzen und zu berichtigen“69. Heine hatte nachweislich gerade im Sommer 1824 mit ihm zu tun gehabt und erinnerte sich seiner auch später noch70. Dass noch zu Eichhorns Lebzeiten eine neue Epoche der Wissenschaft begann, hatte er in seinem Sohn, der der Begründer der „historischen Rechtsschule“ wurde, unmittelbar vor Augen. In seinem eigenen Fach ging die Führung spätestens in den zwanziger Jahren an erheblich Jüngere über, de Wette in Basel und Gesenius in Halle. De Wette hatte schon 1805 an der Universität Jena, Eichhorns alter Wirkungsstätte, seine Dissertation mit einem heftigen Ausfall gegen Eichhorn begonnen: wer jetzt noch den Pentateuch für mosaisch halte, tue das nicht aus Wahrheitsliebe, sondern um sein Gesicht zu wahren71. Insgesamt ist zweifellos das Urteil berechtigt, dass „ihm sein Ruf bei den Zeitgenossen eine Radikalität zusprach, die er keineswegs besaß“72, mag man auch mit seinem Göttinger Nachfolger Ewald einräumen: „[…] worin er zurück war, darin war er doch noch mit der ganzen zeit zurück in welcher er sich zum manne und zum forscher ausbildete.“73 Was er der Wissenschaft dieser Zeit gebracht hat, kündigte am kürzesten eine unscheinbare Bemerkung Herders an, der 1780 in seinen „Briefen, das Studium der Theologie betreffend“ mit Bedauern schrieb: „Eine kritische Einleitung ins A. T., wie sie seyn sollte, haben wir […] noch gar nicht.“ In der 2. Auflage, 1785, konnte er die Anmerkung hinzufügen: „Wir haben sie jetzt in Eichhorn’s schätzbarer Einleitung ins alte Testament. Leipzig 1780–83.“74 Dass dieses Buch 1817 von de Wettes erheblich kritischerer „Einleitung“ abgelöst wurde, von allem weiteren zu schweigen, verschlägt nichts. Einer musste den Anfang machen. Dass dieser eine zumindest zeitweise ein Gefühl dafür besaß, dass die meiste Arbeit noch bevorstand, geht aus den Sätzen hervor, mit denen er 1780 das Vorwort zur ersten Auflage seines Werkes beschloss: „Haben durch meine Bearbeitung dunkle Materien an Licht, verworrene an Deutlichkeit, ungewisse an Gewißheit auch nur einiges gewonnen; wird 68  Ebd. 755. 69  J.G. Eichhorn, Geschichte der drey letzten Jahrhunderte I 3(1817) Vf. 70  Vgl. Schriften II, 816; V, 368. Im Register Schriften VI/2, 747 ist die Seitenzahl IV, 949 fälschlich bei seinem Namen aufgeführt (es handelt sich dort um einen dritten Eichhorn), die Seitenzahl II, 755 dagegen, falls die oben mitgeteilte Vermutung zutreffen sollte, aus Versehen richtig. 71  Vgl. de Wette, Opuscula theologica (1830) 151. 72  L. Marino, Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770–1820 (1995) 293. 73  JBW 1 (1848) 30f. 74  Werke ed. Suphan X, 11f.; Frankf. Ausg. IX/1, 149.

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mein Versuch andere zu ähnlichen aufmuntern, und ihnen dabei, auch nur als erste Grundlage, nützlich seyn: so werde ich Ursache haben, mit Vergnügen an die Mühe zurükzudenken, die ich an die Untersuchung so mannchfaltiger Gegenstände gewandt habe. Morgenröthe muß vor dem Tage hergehen; warum nicht auch vor dem der biblischen Kritik?“

Wilhelm Martin Leberecht de Wette 1780–1849

„Ein gescheiter Kerl! Was ich im alten Testamente gemacht habe, steht ja schon alles bei ihm.“ Das Kompliment hat Gewicht, denn es stammt von Julius Wellhausen1. Der Mann, dem es gilt, war einer der interessantesten Theologen seines Jahrhunderts, Weggenosse Schleiermachers in dessen letzten Zeiten, aber ihm gegenüber auch ganz eigenständig und bei alledem aus mehr als einem Grund „ein edler Melancholiker“2. Einen ersten Anhaltspunkt für Inhalt, Wirkung und Problematik der theologischen Arbeit dieses Mannes mögen drei Briefstellen aus der Feder von zwei Hörern geben. Im Sommersemester 1807 schreibt der Heidelberger stud. theol. Jacob Burckhardt (1785–1858) an seine Eltern in Basel: „De Wette liest die Einleitung ins Alte Testament; allein er geht einen sonderbaren Weg, so zum Beispiel behauptet er, der Pentateuch sei nicht von Moses, die Salomonischen Schriften seien nicht von Salomo; Moses, David und Salomon seien kollektive Namen, auf die man alles zurücktrug, was man in ihrem Geiste geschrieben fand; dem ungeachtet seien sie nicht unecht; Jonas, behauptet er, sei ein lehrreiches Märchen.“3 Drei Jahrzehnte danach studiert, nunmehr im heimatlichen Basel, der gleichnamige Sohn des Briefschreibers (1818–97) bei demselben de Wette. Er berichtet: „Dewette’s System wird vor meinen Augen täglich colossaler; man muß ihm folgen, es ist gar nicht anders möglich; aber es schwindet auch alle Tage ein Stück der gebräuchlichen Kirchenlehre unter seinen Händen. Heute bin ich endlich draufgekommen, daß er Christi Geburt durchaus für einen Mythus hält – und ich mit ihm. Ein Schauder überfiel mich, als mir eine Menge Gründe einfielen, weßhalb es ja beinahe so sein müsse. […] Dewette hütet sich wohl, auf die Consequenzen zu weit einzugehen, auch muß ich ihm nachreden, daß er nicht bloß einreißt, sondern auch wieder aufbaut, doch minder tröstlich als das Eingerißne.“4 Anders klingt es einige Monate später: „Dewettes Corintherbrief ist oft langweilig, unklar und weitläufig; seine christliche Glaubens1  R. Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie (21921) 130. 2  K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (21952) 433. 3  W. Kaegi, Jacob Burckhardt I (1947) 130f. 4  J. Burckhardt, Briefe, hg. von M. Burckhardt I (1949) 84f.

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lehre fast immer; freilich sind wir erst an den ersten Dogmen, Gott, Welt u. s. w. Da wird alter Quark vorgebracht, nur mit unverständlichen Worten und sieht deßhalb bisweilen noch wie neu aus. Dewettes eigentliche Force scheint doch die Critik zu sein.“5 Wilhelm Martin Leberecht de Wette entstammte einer thüringischen Theologenfamilie, die im 16. Jahrhundert aus Holland eingewandert war. Er wurde am 12. Januar 1780 im Pfarrhaus des Dorfes Ulla zwischen Weimar und Erfurt geboren. Dort und in den späteren Wirkungsorten seines Vaters, Großcromsdorf (1784–92) und Mannstedt bei Buttstädt (seit 1792), scheint er inmitten einer großen Schar von Geschwistern eine schöne, idyllische Kinderzeit gehabt zu haben. Für seine weitere Entwicklung wurde bestimmend, dass er nach dem Besuch der Stadtschule in Buttstädt die letzten Schuljahre (1796–99) auf dem Gymnasium in Weimar zubringen konnte. Dort wehte nicht nur wie damals vielerorts der Geist der deutschen Klassik, man konnte Goethe, Schiller und Herder auch leibhaftig begegnen. Der junge de Wette begeisterte sich für Schiller, den „Dichter der Hoffnung, d. h. einer Urbildlichkeit, welche die Wirklichkeit nicht faßt“6, noch mehr als für Goethe; er wohnte den Uraufführungen von „Wallensteins Lager“ und „Maria Stuart“ bei. Vor allem aber wirkte auf ihn die persönliche Berührung mit Herder, der als Generalsuperintendent die Oberaufsicht über das Gymnasium führte. De Wette dachte zeitlebens mit großer Dankbarkeit an den Mann, „der auf meine allgemeine und theologische Bildung durch seine Schriften so viel Einfluß gehabt, der mir auf der dürren Steppe des theologischen Kriticismus und Rationalismus als ein begeisterter Seher erschien und mich auf die ewig grüne, vom Wasser des Lebens getränkte Weide hinwies, den ich immer als den Vorläufer einer verjüngten begeisterten und begeisternden Theologie betrachtet habe“7. Hier schreibt natürlich der spätere Theologe de Wette über den Einfluss, den Herder literarisch auf ihn ausgeübt hat. Indessen ist es durchaus wahrscheinlich, dass neben der väterlichen Tradition auch der persönliche Eindruck Herders – de Wette hörte ihn häufig in der Weimarer Stadtkirche predigen – ihn zum Studium der Theologie bestimmte. Er ließ sich im Herbst 1799 zunächst in der Jenaer juristischen Fakultät immatrikulieren, wechselte aber schon bald zu Philosophie und Theologie über. Es war eine Glanzzeit der Philosophie in Jena. Zwar hatte Fichte im Sommer 1799 Jena infolge des Atheismusstreits verlassen müssen, aber das Fach wurde in den folgenden Jahren durch drei Jüngere, näm5  Ebd. 101. 6  E. Staehelin, Dewettiana (1956) 193. Dort reiches Material zur Bio- und Bibliographie.In vieler Hinsicht grundlegend: J. Rogerson, W.M.L. de Wette. Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (1992). Vgl. außerdem R. Smend, W.M.L. de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament (1958) sowie W.M.L. de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts, hg.v. H.-P. Mathys und K. Seybold (2001; Beiträge von R. Smend, J.W. Rogerson, Ch. Bultmann, K. Seybold, E. Stegemann, H. Weder, Ch. Axt-Piscalar, K. Pestalozzi). 7  Staehelin (Anm. 6) 184.

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lich Schelling (bis 1803), Hegel (ab 1801) und Fries (ab 1800) kaum weniger eindrucksvoll vertreten. Von ihnen hat Fries (1773–1843) entscheidenden Einfluss auf de Wettes Denken gehabt, und es liegt nahe, diesen Einfluss bereits in jene Zeit zu datieren8. Aber das hat sich als irrig herausgestellt9; von den genannten Lehrern scheint damals nur Schelling (1775–1854) den jungen de Wette beeinflusst zu haben10; wichtiger war eigene Lektüre, vor allem der Schriften Kants11. Ins Zentrum rückte schon früh die – später mit Fries’ Hilfe methodisch reflektierte – Beziehung der Religion auf das menschliche Gefühl. Hier bestand natürlich eine Nachbarschaft und, soweit es de Wette angeht, auch Schülerschaft zu Schleiermacher (1768–1834). Die „Reden über die Religion“ erschienen dem jungen Studenten 1799, als sie herauskamen, wie „der Morgenstern einer neuen Sonne am theologischen Himmel“12. De Wettes erste uns bekannte theologische Äußerung, „Eine Idee über das Studium der Theologie“, aus dem Sommer 1801 (1850 herausgegeben), erinnert oft bis in die Satzmelodie hinein an die „Reden“13. Sie enthält eine Standortbestimmung des Einundzwanzigjährigen, die in der Hauptsache auch später für ihn ihre Geltung nicht verlor. Er beschreibt den Zustand von Religion und Theologie, den er vorfand: den Untergang des orthodoxen Systems, den Ersatz des Glaubens durch Moral, die Bemühungen von Geschichtsforschung und Philosophie um eine neue Theologie. Er selbst sei, so berichtet er offensichtlich autobiographisch, durch „frühe Zweifelsucht von allem Glauben entblößt, nur noch die Moral der Atheisten ehrend“, glücklich gewesen, „auch in der Theologie die Moral als das Höchste und die Religion als sinnliche Verhüllung derselben betrachten zu können, auch in Jesus bloß einen Menschen und in seinen religiösen Empfindungen nur moralische Gesinnung zu finden“. Doch dann sah er sich „ohne den Glauben an das Übersinnliche so einsam, so verlassen, […] so ohne alle Bestimmung in die Welt geworfen“; „meine Gefühle empörten sich laut gegen die Überzeugung meines Verstandes“. Es erfolgte eine Art Bekehrung: „Eine unvergeßliche äußere Veranlassung bewirkte die glücklichste Revolution in meinem Innern und schenkte mir die verlorne Ruhe wieder. Der unvollkommene dunkle Glaube meiner Kindheit wurde mir durch einen höheren, bessern ersetzt, das Andenken an Gott erwachte in meinem Herzen mit neuem Leben und der Glaube an Unsterblichkeit kehrte mir höher, verklärter zurück. Nun war mir die Theologie nicht mehr eine kalte, finstre Sittenrichterin, noch auch bloß eine Tochter der Geschichte; sie erhob sich immer mehr vor meinen Augen zu hoher, himmlischer Majes8  So J. Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century (1984) 36–44. 9  Rogerson, W.M.L. de Wette (Anm. 6) 24–26. 10  Ebd. 32–35. 11  Ebd. 27–30. 12  Staehelin 163. 13  Daneben sind aber auch Tiecks und Wackenroders gleichzeitige „Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst“ (1799) in Anschlag zu bringen; vgl. Rogerson (Anm. 6) 36f.

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tät, zu göttlicher Würde.“14 Das auslösende Erlebnis, auf das hier angespielt ist, scheint im Bereich der Kunst gelegen zu haben. Sie leistet jetzt, da „kein Christus mehr auf Erden“ wandelt, „der uns den himmlischen Vater kennen lehren könnte“, diesen wichtigsten Mittlerdienst. „Heilige Kunst, du vermagst es allein, mir den Sinn für das Göttliche aufzuschließen und das Herz bessere, höhere Gefühle zu lehren! In deinen zauberischen Schöpfungen, wie in einem klaren, schönen Spiegel, stellst du dem beschränkten Auge die Schönheit, die Harmonie dar, die es im unendlichen Universum nicht zu finden, nicht zu fassen vermag; du bringst uns das Göttliche in irdischer Gestalt vom Himmel herab, rückst es näher hin vor unsern Blick und zwingst das kalte, enge Herz, göttliche, harmonische Gefühle aufzunehmen.“15 Wer von dort kommt, sieht dann auch in Natur und geschichtlicher Erfahrung das Wirken der Gottheit; für ihn ist auch die Theologie wieder eine sinnvolle Beschäftigung, gewinnen dort selbst die Dogmen von Glauben und Gnade, die er vorher zugunsten der Moral hat fahren lassen, viel von ihrem alten Inhalt zurück. Vor allem wendet er sich der Bibel zu: „Sei mir willkommen, heiliges Denkmal der Urwelt, reicher Schatz des Guten und Schönen, Buch der Bücher! Wie will ich mich an dir laben, wie will ich mich an deiner Fülle bereichern!“16 De Wettes Jenaer Theologiestudium scheint denn auch vor allem der Bibel und dort dem Alten Testament gegolten zu haben, und hier brachte er es zu früher Meisterschaft. Er lernte dankbar von seinen drei Lehrern, dem durch seine Arbeiten über die Evangelien und zur neutestamentlichen Textkritik fortwirkenden Johann Jakob Griesbach (1745–1812), einem Schüler Semlers, dem Rationalisten Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851), dessen natürliche Wunderdeutung David Friedrich Strauß (1808–74) 1835 in seinem „Leben Jesu“ zerzauste, und Johann Philipp Gabler (1753–1826), noch heute bekannt durch den ersten Versuch einer sauberen Unterscheidung und Verhältnisbestimmung zwischen „biblischer Theologie“ und Dogmatik. Allen dreien gegenüber sind aber bereits de Wettes Erstlingsschriften völlig selbständig. Wenn sie sich am Werk eines Zeitgenossen orientieren, dann an dem des Ex-Jenaers, nunmehrigen Göttingers Johann Gottfried Eichhorn; aber diese Orientierung ist eine überwiegend polemische. Eichhorn sah seine Aufgabe darin, die Bibel gegen eine Orthodoxie, die sie mit allen ihren wunderhaft-übernatürlichen Zügen blind verteidigte, aber auch gegen eine Aufklärung, die sie um eben dieser Züge willen beiseiteschob, als das einzigartige Dokument der Geschichte und Kultur eines antiken Volkes begreiflich zu machen. Das wichtigste Mittel, die biblische Überlieferung zu verstehen, war für ihn der Mythosbegriff, den er von Christian Gottlob Heyne übernahm.

14  Idee (1850) 10f. 15  Ebd. 19f. 16  Ebd. 31.

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Der junge de Wette radikalisiert den ihm damit vorgegebenen Gebrauch dieses Begriffs. Er wendet sich gegen die Versuche Eichhorns und anderer, aus dem biblischen Material eine Geschichte des ältesten Israel zu rekonstruieren. Man kann nach seinem Urteil in der Regel nicht, indem man die mythischen Elemente ausscheidet, historische Kerne gewinnen, aus deren Verbindung sich dann mit Hilfe mannigfacher Hypothesen ein Gesamtbild herstellen ließe. Das Alte Testament will Religion bieten, nicht Geschichte. Man handelt gegen seine Intention, wenn man ihm trotzdem eine Geschichte abgewinnen will, die man ihm nach der Beschaffenheit des Materials ja auch gar nicht abgewinnen kann. So sieht de Wette keine andere Möglichkeit als die, dass der Historiker auf dieses Gebiet verzichtet und das Alte Testament sein lässt, was es ist: Zeugnis einer Religion, dazu bestimmt, in den Lesern Religion zu wecken. Bei dieser allgemeinen These bleibt de Wette aber nicht stehen. Er nimmt vielmehr die literarisch-historische Kritik in Angriff, die nun auch im einzelnen zeigen soll, dass die Bücher des Alten Testaments fast nirgends historischen Wert haben. Es handelt sich also von vornherein um eine „negative“, destruktive Kritik, die auf das „Positive“, die Konstruktion eines Zusammenhangs nach unserer Denkweise verzichtet. Das geschieht aber um eines Positiven willen, dessen Wert den der Historie weit übersteigt: de Wettes Ziel ist das Verständnis der Bibel als das, was sie ist und sein will. Seine historische Kritik am Alten Testament richtet sich damit gerade in ihrer Radikalität keineswegs gegen die Bibel, sondern will im Gegenteil durch die Widerlegung des historischen Missverständnisses den Weg für den richtigen, den ästhetisch-religiösen Gebrauch freimachen. Sie stellt sich in den Dienst der Theologie. Die überwältigend lange Reihe der Schriften de Wettes beginnt mit der lateinischen Promotionsschrift, die ihm 1805 den Jenaer philosophischen Doktorgrad einbrachte. Ihr Titel enthält bereits die These: Dissertatio critico-exegetica qua Deuteronomium a prioribus Pentateuchi libris diversum, alius cuiusdam recentioris auctoris opus esse monstratur – „kritisch-exegetische Erörterung, in der gezeigt wird, dass das Deuteronomium ein von den vorderen Büchern des Pentateuchs verschiedenes, auf einen anderen, jüngeren Verfasser zurückgehendes Werk ist“17. Auch für Eichhorn stand das Deuteronomium chronologisch zu Recht am Schluss des Pentateuchs; aber es war noch mosaisch, von Mose am Ende seines Lebens geschrieben. De Wette weist nun nach, dass es viel jünger sein muss: es weicht von den vorangehenden Büchern nach Form und Inhalt in so vieler Hinsicht ab, dass man es nur aus einem anderen, späteren Zeitalter herleiten kann. Ein wichtiger Einzelpunkt ist dabei die Einheit der Kultusstätte: nach dem Deuteronomium darf nur an einem einzigen Ort geopfert werden, die früheren Bücher kennen und erlauben das Nebeneinander vieler Kultstätten. Die deuteronomische Forderung führte der König Josia 17  Jetzt bequem erschlossen durch die kommentierte Übersetzung von H.-P. Mathys in: Biblische Theologie und historisches Denken, hg.v. M. Keßler und M. Wallraff (2008) 171–211.

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von Juda durch, aufgrund des Gesetzbuches, das nach dem biblischen Bericht (2. Kön 22) im Jahre 622 v.Chr. im Tempel gefunden wurde. Die Gleichsetzung dieses Gesetzbuches mit dem Deuteronomium stammt nicht erst von de Wette; aber sein Nachweis der sachlichen und zeitlichen Differenz des Deuteronomiums zu den vorderen Büchern des Pentateuchs musste darauf führen, nicht nur die Auffindung, sondern auch die Abfassung dieses Buches in die Zeit des Königs Josia, also ein halbes Jahrtausend nach Mose zu verlegen. De Wettes Hauptinteresse galt nicht dieser „positiv-kritischen“ Konsequenz, und er hat sie in der Dissertation auch noch nicht ausdrücklich gezogen. Sie ließ aber nicht lange auf sich warten und beeinflusste die Pentateuchkritik aufs stärkste. Denn wenn sich ein wichtiger Bestandteil des Pentateuchs datieren ließ, war damit ein Anhaltspunkt auch für alles Übrige gegeben. De Wette hielt dieses Übrige für älter als das Deuteronomium; die weitere Forschung des 19. Jahrhunderts erbrachte, endgültig durch Wellhausen, den Nachweis, dass das Verhältnis großenteils umgekehrt ist, das Deuteronomium also nicht an das Ende, sondern etwa in die Mitte der Geschichte des Pentateuchs gehört. De Wette hat dieser Forschung und auch diesem Nachweis nicht nur in seiner Dissertation vorgearbeitet, sondern noch mehr in den beiden Bänden seiner „Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament“ (1806/07). Sie sind in mehrfacher Hinsicht ein Torso – nicht nur weil manches in ihnen erst von der späteren Forschung voll verifiziert wurde, sondern auch weil die mit dem zweiten Band begonnene „Kritik der israelitischen Geschichte“ nicht über die dort vorgelegte „Kritik der mosaischen Geschichte“ hinausgelangt ist. Dazu kommt, dass de Wette seine Untersuchungen infolge eines unglücklichen äußeren Umstandes nicht in der geschlossenen Form publizieren konnte, die sie zunächst hatten. Als sein Manuskript fertig vorlag, kam ihm nämlich der gerade (1805) erschienene dritte Band des Pentateuchkommentars von Joh. Severin Vater (1771–1826) in Halle in die Hände; dort fand er großenteils dieselben Gegenstände behandelt wie in seiner eigenen Arbeit, und weithin mit ähnlichen Ergebnissen. Um schon von Vater Gesagtes nicht unnötig zu wiederholen, musste er sein Manuskript gänzlich umarbeiten; den ersten Band nannte er im Untertitel einen „Nachtrag zu den Vaterschen Untersuchungen über den Pentateuch“. Trotzdem wurden die „Beiträge“ das wichtigste und folgenreichste Werk der alttestamentlichen Wissenschaft jener Zeit; auch literarisch können sich nicht viele Produkte der neueren Exegese mit ihnen messen. Das Glanzstück ist der Nachweis im ersten Band, dass die Chronik, die das vorexilische Israel durch und durch auf der Linie des pentateuchischen Gesetzes darstellt, als eigene Geschichtsschreibung keinen Wert besitzt. Die authentischeren älteren Quellen in den Büchern Richter, Samuel und Könige lassen von der Befolgung, ja vom Vorhandensein jener Gesetze und des Pentateuchs überhaupt nicht viel erkennen und machen damit dessen mosaischen Ursprung fragwürdig. Auf die „äußere“ folgt im zweiten Band die „innere“ Kritik, die den Pentateuch als ein großes Sammelwerk erklärt, das an seinem Anfang ein altes Epos und, dieses ergän-

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zend, viele kleine erzählerische und gesetzliche Einzelstücke und schließlich als letztes und jüngstes Stück das Deuteronomium enthält. Die Erzählungen sind Mythen mit verschiedenem, vor allem religiösem Inhalt. Das Epos – im wesentlichen die später so genannte Priesterschrift – beschreibt, ähnlich wie es Vergil für Rom tat, die Vorgeschichte des auserwählten Gottesvolkes und seiner Theokratie, auf die schon die Schöpfung hinzielt. Für den Historiker ist hier wenig zu holen, um so mehr für eine unbefangene ästhetisch-religiöse Betrachtung. Diese hat de Wette leider ebensowenig durchgeführt wie die weitere Kritik der Geschichte. Das ist kaum ein Zufall. Das Doppelprogramm ließ sich in seiner Reinheit schwerlich verwirklichen; dazu kam eine tiefe Zäsur in de Wettes Leben und seiner Wirksamkeit. Schon während seines Studiums hatte er alles getan, um sich auch äußerlich auf eigene Füße zu stellen: durch Lateinstunden, durch die Übersetzung zahlreicher historischer Texte für ein von Schiller herausgegebenes Sammelwerk, durch Redaktionstätigkeit bei der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung und durch die Annahme eines Stipendiums, das ihn zu einer Verteidigungsrede auf die Confessio Augustana verpflichtete – eine Aufgabe, der er sich mit Geschick und Überzeugung unterzog. Nur so konnte er das damals große Wagnis der akademischen Laufbahn und, gegen den Widerstand seines Vaters, das ebenso große einer frühen Heirat eingehen. Die Ehe dauerte kaum ein Jahr, bis Anfang 1806; dann starb die um fünf Jahre ältere Frau nach der Geburt eines toten Kindes. Das Glück dieses Jahres ist de Wette zeitlebens im Bewusstsein geblieben; er hat es in zwei weiteren Ehen nicht wiedergefunden. Das Jahr 1806 brachte im Oktober zudem den Verlust seiner gesamten Habe durch Plünderungen nach dem französischen Sieg bei Jena und Auerstedt. Es war ein geprüfter Mann, den Anfang 1807 der Ruf auf eine Professur an der Universität Heidelberg erreichte. Dort hat er drei Jahre, bis 1810, gewirkt, in einem Kreis, den er fortschreitend als unangemessen empfand, „in halber Barbarey mit Schwindel- und Schwebel-Geist versetzt“18. Er musste als einziger über das Alte und das Neue Testament lesen und kam auf fünfzehn bis achtzehn Kollegstunden in der Woche. Die enzyklopädischen Kenntnisse, die er sich dabei erwarb, gingen später in seine Lehrbücher ein. Das literarische Werk der Heidelberger Zeit war der größte Teil der Bibelübersetzung, die er gemeinsam mit dem damaligen Jenaer Orientalisten und Theologen Johann Christian Wilhelm Augusti (1771–1841) unternahm. Sie erschien in sechs Bänden 1809–14; die späteren Auflagen waren de Wettes alleinige Arbeit. Wenn diese Übersetzung auch nie volkstümlich wurde, blieb sie doch das bei weitem wichtigste Werk dieser Art, bis sie gegen Ende des Jahrhunderts von den Übersetzungen Carl Weizsäckers und Emil Kautzschs abgelöst wurde. De Wette beabsichtigte keine konsequente Übertragung in das Deutsch des 19. Jahrhunderts; an der Fiktion, in der Bibel rede18  Staehelin (Anm. 6) 68.

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ten Menschen der Gegenwart, war ihm nichts gelegen, um so mehr aber daran, die Menschen der Gegenwart mit der in vielem fremden Denk- und Redeweise einer fernen Vergangenheit bekanntzumachen. Wo es möglich war, schloss er sich Luthers Übersetzung an, nicht nur wegen ihrer Volkstümlichkeit und sprachlichen Kraft, sondern auch darum, weil sie dem Original besonders nahekam und zudem inzwischen wie die Bibel selbst ein Dokument der Vergangenheit geworden war, das die Ursprünglichkeit der biblischen Rede nun im deutschen Sprachbereich eindrucksvoll repräsentierte. Der Übersetzung sollte ein vielbändiger Kommentar, zunächst zum Alten Testament, zur Seite treten, in dessen Bearbeitung sich de Wette wiederum mit Augusti teilte. Es kam nur ein Band zustande, de Wettes Psalmenkommentar (zuerst 1811), der viel von Hermann Gunkels Psalmenforschung um ein Jahrhundert vorausnahm; leider hat Gunkel ihn nicht gelesen. De Wettes akademische Tätigkeit erreichte ihren Höhepunkt in Berlin. Er bildete nach der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität im Jahre 1810 zusammen mit Schleiermacher und Marheineke (1780–1846) das Trio der ersten theologischen Fakultät, das bald durch Neander zum Quartett erweitert wurde. Auch literarisch war die Berliner Zeit überaus fruchtbar: 1813 und 1815 erschien in zwei Bänden das „Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwickelung dargestellt“, 1815 als ein Kommentar dazu „Über Religion und Theologie“, 1814 das „Lehrbuch der Hebräisch-Jüdischen Archäologie“, 1817 die „Einleitung in das Alte Testament“, 1818 eine Evangeliensynopse (gemeinsam mit Friedrich Lücke hergestellt), 1819–23 die mehrbändige „Christliche Sittenlehre“, 1819 das erste Heft einer „Theologischen Zeitschrift“, die de Wette gemeinsam mit Schleiermacher und Lücke herausgab. Diese drei Männer bildeten, obgleich sie nur kurz am selben Ort zusammen waren und die Zeitschrift bald einging, eine engere und tiefere Gemeinschaft als jenes Trio, aus dem die Berliner Fakultät anfangs bestanden hatte. Durch Lücke (1791–1855), der 1816 als Privatdozent nach Berlin kam, wurden de Wette und Schleiermacher überhaupt erst in nahe Beziehung gebracht. Ihr Verhältnis war in den ersten Berliner Jahren eher kühl, wenn nicht gespannt gewesen. Der nüchtern-kritische de Wette kam bei den Studenten nicht recht gegen den Glanz Schleiermachers an und fühlte sich im Laufe der Zeit auch durch versteckt vorgetragene Angriffe aus Kreisen der Erweckungsbewegung und der politischen Reaktion fortschreitend isoliert. Da hielt Schleiermacher es für geboten, sich zu dem Kollegen zu bekennen, indem er ihm seine Schrift über das Lukasevangelium (1817) widmete. Die Verständigung war durch Lücke angebahnt worden, der de Wette in Schleiermachers Predigten mitnahm und zu seiner Freude erlebte, dass de Wette sie mit völliger Zustimmung hörte und sich überrascht einer großen theologischen Nähe bewusst wurde. Die Freundschaft, die sich nun entwickelte, war eng und herzlich und schloss Frau Schleiermacher ein; de Wette wurde Pate des einzigen Sohnes des Ehepaares Schleiermacher, des früh verstorbenen Nathanael.

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Für uns Heutige stehen Schleiermacher und de Wette nicht nur persönlich, sondern auch in ihrer Theologie nah beisammen. Indessen darf weder die bei beiden über die Alternative von Orthodoxie und Rationalismus hinausführende Position noch der von beiden zentral verwendete Begriff des Gefühls noch der unzweifelhafte Einfluss der „Reden“ Schleiermachers schon auf den Studenten de Wette darüber hinwegtäuschen, dass dieser Student seinen Weg unter durchaus eigenen Voraussetzungen antrat und dann weiterging und dass er das Ziel auf seine eigene Weise erreichte – oder auch, wie nicht wenige Zeitgenossen und manchmal sogar er selbst meinten, verfehlte. Über die Gestalt seiner Theologie entschied die Begegnung mit Jakob Friedrich Fries, dessen Kollege er in Heidelberg wurde. Fries war Kantianer, aber auch von Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), der über das Gefühl und den Glauben philosophierte, beeinflusst. Seine Gedanken fanden nicht nur bei de Wette, sondern hundert Jahre später noch einmal bei den „Neufriesianern“ Rudolf Otto und Wilhelm Bousset Eingang in die Theologie. Fries unterschied scharf das Wissen, mit dem der Verstand die empirisch-endliche Welt, und den Glauben, mit dem die Vernunft die dahinter stehende übersinnlich-ewige Welt der Ideen erfasst. Beide umgreift die Ahnung des Gefühls, die in der Endlichkeit, und dort besonders im Schönen und Erhabenen, das Ewige zu erkennen vermag. Hier nun war eine Möglichkeit gegeben, die Religion in der Anthropologie fest zu verankern – die „Neufriesianer“ sprachen vom „religiösen Apriori“. De Wette unternahm von diesem Ausgangspunkt aus eine differenzierte und kritische Darstellung der biblisch-christlichen Religion. Indem er deren geläufige Erscheinungsformen als verstandesmäßige, symbolische oder mythische Ausdrucksweise der den Hauptideen entsprechenden grundlegenden religiösen Gefühle Begeisterung, Demut und Andacht begriff, konnte er sie in einer für Außenstehende oft verwirrenden, für Böswillige leicht angreifbaren Weise zugleich verstehen, ernstnehmen und relativieren. So war ihm die auf Israel beschränkte Theokratie des Alten Testaments mit ihren Einrichtungen die symbolische Darstellung der Idee eines einzigen Gottes als eines heiligen Willens und des dazugehörigen Gefühls der Andacht. Die Israeliten nahmen fälschlich das Symbol für die Sache selbst – hierin sind sie zu kritisieren. Ähnlich ließ sich mit den Ausdrucksweisen der christlichen Religion, mit der gesamten Dogmatik verfahren. „Ich habe“, so schreibt de Wette 1811 an Fries, als ihm eben die Grundlinien seiner auf die Friessche Philosophie gegründeten eigenen Auffassung klargeworden sind, „mit dieser meiner Darstellung der biblischen Religionslehre einen nicht kleinen Zweck. Schleiermacher nimmt an, das Christenthum sei ein fortzubildendes in der Zeit, eine der Entwicklung fähige Einheit, eine Grundstimmung des religiösen Gemüthes, welche nur verschieden nach verschiedener Zeitbildung zur Selbstverständigung gebracht wird. Diese Selbstverständigung wäre also das Vergängliche, jene Stimmung aber das Bleibende. Wir sind daher Christen, wenn wir nur diese Stimmung haben. Wir können das, was zur

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Selbstverständigung der verschiedenen Zeiten gehört, also auch der urchristlichen Zeit, fallen lassen. Somit ist der Knoten gelöst, an dem sich unsere Theologen jetzt so erbärmlich abmühen. Sie sehen nämlich ein, daß die biblischen und andere christliche Dogmen nicht mehr für uns passen, weil unser Verstand weiter ausgebildet ist; sie suchen sie daher zu umgehen oder anders zu deuten, d. h. den untauglichen Begriffen andere tauglichere unterzuschieben. Schleiermacher würde nun consequent sagen: ,Laßt die Dogmen fahren und behaltet nur die ihnen zum Grunde liegenden Ideen’, d. h. man soll die Ideen von ihrem Leibe befreien, der abgestorben ist, damit sie sich, so Gott will, einen andern anbilden. Dies Letztere geht nun so schnell nicht; aber zuvörderst ist doch gewonnen, wenn man sie rein auffaßt und rein wiedergibt, und dies zuvörderst wissenschaftlich in der Dogmatik und dann auch, was schwerer ist und schon ästhetische Darstellung fordert, in der Predigt und Katechese. Ich will nun in der Bibel die religiösen Ideen aufzeigen und so gleichsam die Grundnorm des Christenthums aufstellen, die Dogmen aber will ich durch philosophische Kritik als nichtig darstellen. Hiemit zeige ich der Fortbildung des Christenthums den Weg; ich bin also ein Kirchenfürst, wie Schleiermacher sagt (sehen Sie doch einmal seine theologische Encyklopädie an und schreiben mir Ihr Urtheil!); wollen Sie mir diese Fürstenkrone versprechen? Ist diese Ansicht von der Fortbildung des Christenthums unrichtig, so kann es gar kein Christenthum mehr geben.“19 Der Idee Schleiermachers von einem Kirchenfürsten („Denkt man sich religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist im höchsten Grade und im möglichsten Gleichgewicht für Theorie und Ausübung vereint …“20) kam de Wette näher als die meisten, aber die Fürstenkrone blieb ihm versagt, nicht nur weil die „Ausübung“ bei ihm trotz mannigfacher praktischer Tätigkeiten keinen weiten Radius haben konnte. Bei allem akademischen und literarischen Erfolg musste er fortschreitend die Wirkungslosigkeit seiner zentralen Bemühung feststellen. Er stand zwischen den Parteien und konnte es keiner recht machen; den einen behielt er zu wenig, den anderen immer noch zu viel von der christlichen Tradition. Am Ende seines Lebens schrieb er die Verse: Mit Wahrheitsdurst, rastlosem Fleiß Hab’ ich der Forschung Werk getrieben: Wie wenig ist’s nun, was ich weiß, Wie viel ist dunkel mir geblieben! Den Samen hab’ ich ausgesät; Doch wo ist nun die reiche Ernte? Wie selten, daß man recht versteht Und recht benutzet, was man lernte! 19  Staehelin 70f. 20  Kurze Darstellung des theologischen Studiums § 9 (Kritische Gesamtausgabe I/6, 250).

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Ich fiel in eine wirre Zeit, Die Glaubens-Eintracht war vernichtet: Ich mischte mich mit in den Streit. Umsonst! Ich hab’ ihn nicht geschlichtet. Für Freiheit und Gerechtigkeit Ward und wird noch der Kampf gestritten. Mir Herzens-Angelegenheit! Gern hätt’ ich mehr dafür gelitten.21

Immerhin, gelitten hat er. Das bekannteste Detail seiner Biographie ist die Entlassung aus der Berliner Professur im Jahre 1819. In dieser Zeit der Karlsbader Beschlüsse, der Maßregelung von Persönlichkeiten wie Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn und des Vorgehens gegen die Burschenschaften waren dem reaktionären Berliner Kultusministerium unter Altenstein die freien, mit der nationalen studentischen Jugend eng verbundenen Theologen Schleiermacher und de Wette ein Dorn im Auge. Gegen Schleiermacher fand sich keine Handhabe, und ein Vorgehen gegen ihn wäre wohl auch ein riskantes Unternehmen gewesen. Anders stand es um de Wette. Nachdem mehrere Verhöre nichts zutage gefördert hatten, was ihn entscheidend belasten konnte, gelang es der Polizei, in den Besitz der Abschrift eines Trostbriefes zu kommen, den er am 31. März 1819 an die Mutter des ihm bekannten Studenten Karl Ludwig Sand gerichtet hatte, der einige Tage vorher den in Studentenkreisen verhassten Schriftsteller August v. Kotzebue ermordet hatte. Er hatte darin diesen Mord verurteilt, aber doch auch als die Überzeugungstat eines außerordentlichen, frommen und tugendhaften Jünglings verteidigt, dessen Andenken er seine Liebe nicht entziehen, sondern in noch größerem Maße zuwenden wolle22. In dem Ende August eröffneten Verfahren verhielt er sich würdig. Der Senat der Universität und die theologische Fakultät traten ihm zur Seite, konnten aber nicht verhindern, dass der König am 30. September seine Entlassung anordnete, weil jemand, der den Mord unter Umständen für gerechtfertigt halte, als Lehrer der Jugend nicht tragbar sei. De Wette verabschiedete sich mit den Sätzen: „Aufrecht im Gefühl meiner Unschuld, aber ohne Trotz, im Schmerz über erlittene Kränkung, aber ohne Erbitterung, scheide ich aus Ewr. Majestät Staaten. Mein Herz schlägt noch immer für Preußens Wohl, in welchem ich die Hauptstütze der evangelischen Kirche und des deutschen Vaterlandes sehe. Möge ihm das unfreywillige Opfer, das mir auferlegt ist, Heil bringen: ich hätte freywillig auch ein größeres ihm darzubringen gewußt.“23 Die theologische Fa21  Staehelin (Anm. 6) 198f. 22  Neue Anhaltspunkte für de Wettes Beziehungen zu regierungskritischen Kreisen bietet J. Rogerson in: Biblische Theologie und historisches Denken (Anm. 17) 212–25 23  Aktensammlung über die Entlassung des Professors D. de Wette vom theologischen Lehramt zu Berlin. Zur Berichtigung des öffentlichen Urtheils von ihm selbst herausgegeben (1820) 19.

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kultät schrieb ihm: „Wir leiden durch dieses ungünstige Geschick eben so sehr als Sie; denn wenn Sie sich aus Ihrer Laufbahn herausgerissen sehen, so fühlen wir uns in derselben durch Ihren Austritt gehemmt und gelähmt.“24 Eine finanzielle Gnadengabe seitens der Regierung, wie sie den Hinterbliebenen von Verstorbenen zuteil wurde, lehnte er empört ab. An einer Geldsammlung der Berliner Kollegen, die den Mittellosen mit seiner vierköpfigen Familie fürs erste über Wasser hielt, beteiligte sich sogar sein geschworener Gegner Hegel. Die nächsten Jahre verbrachte de Wette als Privatmann in Weimar. Er nutzte die Muße zu vielfältiger literarischer Arbeit. Vor allem bereitete er eine gemeinsam mit Lücke geplante Gesamtausgabe der Werke Luthers vor, von der freilich nur die Briefbände erschienen – der erste 1825 mit einer Widmung an den Großherzog Karl August von Sachsen-Weimar. Das mühevolle Werk 25 war zu seinem Kummer der einzige größere Abstecher, den er in das Gebiet der Kirchengeschichte unternehmen konnte. Daneben schrieb er Dramen und den Roman „Theodor oder des Zweiflers Weihe“ (zuerst 1822), der in der Weise didaktischbiographischer Romane jener Zeit die „Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen“ schildert. In etwas langatmigen Gesprächen werden die damaligen theologischen Strömungen vorgeführt und durch ihre Beziehung auf die Lebensschicksale des Helden Theodor charakterisiert; man findet unschwer vieles von de Wettes eigenem Lebensgang wieder. Die „Weihe“ gibt nicht die Anerkennung der eigenen Sündhaftigkeit, die in das „finstere Heiligtum des Methodismus“ führt, sondern „die unter dem Einflusse eines frommen, aber gesunden Gefühls stehende Wissenschaftlichkeit“26. August Tholuck (1799– 1877) lieferte alsbald das Gegenstück in dem Roman „Guido und Julius. Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder die wahre Weihe des Zweiflers“ (1823). 1821 scheiterte de Wettes bereits vollzogene Wahl zum Pfarrer an der St. Katharinenkirche in Braunschweig am Einspruch der dortigen Regierung, die auf Preußen Rücksicht zu nehmen hatte. Er folgte daraufhin 1822 einem Ruf an die Universität Basel. Der Ruf war in Basel nur gegen Widerstände durchzusetzen gewesen, und de Wette nahm ihn nicht leichten Herzens an. Und doch ist nicht falsch, was Karl Barth27 mit einiger Ironie über den Vorgang gesagt hat: „Was für ein echtes und freudiges Wiedererkennen zwischen ihm und dem theologischen Genius gerade dieser Stadt und Universität stattfinden mußte, kann der ermessen, der beide kennt: de Wette und Basel. Dieser Ruf mußte kommen und mußte angenommen werden.“ De Wette hat für die Stadt am Rhein in dem guten Vierteljahrhundert seiner dortigen Tätigkeit einiges bedeutet. Er reorganisierte die darniederliegende theologische Fakultät, war mehrfach Rektor der Universität, wirkte in akademischen, kirchlichen und öffentlichen Angelegenheiten mit, war durch Vorträge und Predigten einem breiten Publikum wohl24  A.a.O. 41. 25  Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken I–VI (1825–56). 26  2(1828) I, VII. 27  A.a.O. (Anm. 2) 433f.

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bekannt. Freilich wurde es ihm nicht immer leicht gemacht. Er hatte in Verhältnissen, die enger waren als die ihm gewohnten, allerlei Anfeindungen und Anfechtungen auszustehen, vor allem aus kirchlich-konservativen Kreisen; neben das Haus des Herrn (die Basler Mission) habe nun der Teufel eine Kapelle gebaut, bemerkte ein Pietist, als de Wette nach Basel kam. Das literarische Hauptwerk der Basler Zeit war das „kurzgefaßte exegetische Handbuch zum Neuen Testament“, das alle neutestamentlichen Schriften kurz, aber inhaltreich kommentierte und unter Studenten und Pfarrern eine ähnlich weite Verbreitung fand wie gleichzeitig „Meyers Kommentar“. Im Unterschied zu Heinrich August Wilhelm Meyer (1800–73) gelang es de Wette, sämtliche Bände selbst zu schreiben. Der erste Band erschien 1835, der letzte 1848. De Wette hat die ältere Exegese so umfassend verarbeitet, dass seine Kommentare noch heute oft der beste Weg sind, um sich schnell über sie zu orientieren. Immerhin hat er auch die Kritik an nicht wenigen Stellen weitergebracht, so etwa durch den Nachweis der nachpaulinischen Herkunft des Epheserbriefs. Im ganzen wirkt seine Position im Vergleich mit derjenigen der Tübinger Schule Ferdinand Christian Baurs eher konservativ. Es ist kein Zufall, dass das „kurzgefaßte exegetische Handbuch zum Alten Testament“ von einer Mehrzahl von Gelehrten bearbeitet wurde und dass de Wette nicht mehr unter ihnen war. Aber er hat dem Alten Testament auch in den Basler Jahrzehnten sein Interesse bewahrt und sich, wie die einander ablösenden Auflagen der „Einleitung“ zeigen, an der nun immer intensiver werdenden literarkritischen Arbeit stärker beteiligt, als man nach dem großen historischen Kahlschlag von 1806/07 hätte vermuten können. Wellhausen hat diese Arbeit zunächst mit der lakonischen Bemerkung abgewertet, was de Wette außer den „Beiträgen“ geschrieben habe, sei „weniger wichtig“28, diese Bemerkung aber später gestrichen und de Wettes nun doch differenzierende Weiterarbeit am Pentateuch als einen „aktiven und nützlichen Anteil“ an der Forschung gewürdigt29. Dass de Wette dabei in den historischen Ansetzungen deutlich konservativer wurde, nicht zuletzt aufgrund von Anregungen seines Schülers Bleek 30, konnte ihm allerdings weniger gefallen. Wenn de Wette 1840 fand, „daß nunmehr die kritische Ansicht vom Pentateuche ihrer endlichen Ausbildung weit näher gebracht sei“31, dann war er auf ganz andere Weise im Recht, als er es selbst meinte. Denn den Thesen Wilhelm Vatkes und Leopold Georges aus dem Jahre 1835, die den entscheidenden Durchbruch vorbereiteten, hat er nicht zugestimmt32. 28  J. Wellhausen, Geschichte Israels I (1878) 44. 29  EB(C) II (1901) 2048. 30  S.u. 234–36. 31  Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Bücher des Alten Testaments 5IX. 32  Vgl. ThStKr 10 (1837) 947–1003.

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In den Äußerungen der letzten Jahre steckt viel Resignation. Im Vorwort zur Erklärung der Johannesoffenbarung, mit der er 1848, ein Jahr vor seinem Tod – er starb am 16. Juni 1849, mitten aus der Arbeit heraus –, den Kommentar zum Neuen Testament abschloss, beklagte er es als das Schlimmste, „daß bei uns im Lager derer, die noch Christen sind oder doch so heißen wollen, der größte Zwiespalt herrscht, daß die Einen mit buchstäblichem Eigensinne an der Bibel und den Confessionen hangen, die Andern eine freiere oft ganz vage und ausgeleerte Überzeugung haben, und diejenigen, welche das Evangelium in freiem einsichtigem Glauben sich angeeignet haben, noch zu schwach sind um vermitteln zu können“. Die Schwäche der Vermittlung war die Erfahrung seines eigenen Lebens gewesen. Beim Blick nach vorn verwies er auf das, was er jetzt als den Hauptgrund für den traurigen Zustand von Christentum und Kirche sah: dass „unsre Theologie seit der Reformation sich zu ausschließlich im Gebiet der Erkenntniß, im besten Falle der gemüthlichen Erbauung bewegt, und den Schritt in das Leben nicht zu thun gewußt hat. Das Christenthum muß Leben und That werden. Wie lange wird es aber währen, bis man dahin aus dem unfruchtbaren engen Kreise des abstracten Verstandes und weichen Gemüthes den Weg findet? Mehr als sieben und abermals sieben Plagen werden uns lehren müssen, wo das wahre Heil zu suchen sei.“33

33  Kurze Erklärung der Offenbarung Johannis (1848) VIIf.

Wilhelm Gesenius 1786–1842

Ein Theologiestudent im ersten Semester, der sich besonders für das Alte Testament interessiert, stellt sich einem Professor dieses Faches vor und bittet um seinen Rat. Der Professor erwidert: „Bevor Sie bei mir hören, lesen Sie das ganze Alte Testament im Urtext, und dann kommen Sie wieder!“ Daraufhin schließt sich der Student zwei Semester lang ein. Erholung findet er am Klavier im Spiel Bachscher Kantaten und Fugen, von denen er manche auswendig kennt. Noch nicht dreißigjährig wird er ein umfangreiches Buch veröffentlichen, das später von Julius Wellhausen „der bedeutendste Beitrag“ genannt werden wird, „welcher überhaupt je zur Geschichte des alten Israel geleistet worden ist“. Der Student, Wilhelm Vatke, soll uns jetzt nicht weiter beschäftigen, wohl aber der Professor, der ihm 1824 jenen leider ungewöhnlichen, aber um so erfolgreicheren Rat gab, Wilhelm Gesenius in Halle1. Er hat für die Lektüre des „ganzen Alten Testaments im Urtext“ mehr getan als jeder andere Alttestamentler in unseren Zeiten und Breiten. Das meistbenutzte hebräisch-deutsche Lexikon zum Alten Testament heißt noch heute „der Gesenius“, und auf dem Titelblatt seines englischen Gegenstücks, des „Brown– Driver–Briggs“, steht nach wie vor: „Based on the Lexicon of William Gesenius“ – „Edited with constant reference to the Thesaurus of Gesenius […], and with authorized use of the latest German editions of Gesenius’s Handwörterbuch über das Alte Testament“. Als der jugendliche Verfasser 1810/12 sein „Hebräisch-deutsches Handwörterbuch über die Schriften des Alten Testaments“ herausbrachte, machte er in seiner Wissenschaft nicht weniger Epoche als ei1  Vgl. H. Benecke, Wilhelm Vatke (1883) 26; J. Wellhausen, Geschichte Israels I (1878) 41. Vatkes Buch: Die biblische Theologie I (1835). – Über Gesenius zusammenfassend H.J. Zobel, Altes Testament – Literatursammlung und Heilige Schrift (1993) 245–66. Unter der älteren Literatur besonders ergiebig der Nekrolog im Intelligenzblatt der Allg. Literatur-Zeitung 1842, 505–20 (vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen 20, 1842, 737–49). Eine pointierte Würdigung im Nebeneinander mit de Wette gibt, auch aufgrund unveröffentlichter Vorlesungsnachschriften, J.W. Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century (1984) 50–57. Eine Fülle von Material enthält der 2013 von St. Schorch und E.-J. Waschke herausgegebene Tagungsband Biblische Exegese und hebräische Lexikographie.

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nige Jahre vorher der ebenso jugendliche de Wette mit seinen „Beiträgen zur Einleitung in das Alte Testament“. Es war eine klassische Epoche. Indem sich, wie Vatke später gesagt hat, „beide Männer zu einem großen Zweck, zur historisch-kritischen Durchforschung des Alten Testamentes, ergänzten“2, gaben sie die entscheidenden Impulse für ein ganzes Jahrhundert und setzten ihm zugleich einen hohen Maßstab. Aus sehr verschiedenem Holz geschnitzt, hatten sie Grund, sich auch gegenseitig aufs höchste zu schätzen. De Wette konnte mit Genugtuung feststellen: „Größtentheils kommt meine Erklärung des A. T. mit der von Gesenius, so weit sie aus seinem Wörterbuche und sonsther bekannt ist, überein; wie ich denn von Anfang an mit diesem meinem trefflichen Freunde mich der größten Übereinstimmung der Ansichten erfreut habe.“3 Und Gesenius gab dem jungen Vatke, als dieser nach zwei Jahren wieder bei ihm vorsprach, den Rat, in Göttingen weiterzustudieren, fügte aber hinzu: „vergessen Sie nicht, auch Alles von de Wette sich anzuschaffen, den müssen Sie in- und auswendig wissen.“4 Gesenius stammte aus dem gleichen mitteldeutschen Raum wie de Wette; anders als dieser verblieb er dort zeit seines Lebens. Er wurde am 7. Februar 1786 als Sohn eines Arztes in Nordhausen geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums seiner Vaterstadt studierte er Theologie in Helmstedt, wo ihn der Rationalist H. Ph. K. Henke (1752–1809) bleibend beeindruckte. Sein Studienfreund, den er als Göttinger Repetent zum Vorgänger und als Hallenser Professor zum Kollegen haben sollte, war Henkes Schüler Julius Wegscheider (1771–1849), „unter den rationalistischen Theologen der entschlossenste und folgerichtigste“5 und gewiß ein Mann, dessen Nachbarschaft für das Gedeihen einer sublimeren Theologie nicht die günstigsten Voraussetzungen bot. Gesenius schlug denn auch einen anderen Weg ein als den des Theologen im engeren Sinn. Er wurde am 16. Juli 1806 in Helmstedt aufgrund einer Dissertation über Ovids Fasti zum Dr. phil. promoviert und ging tags darauf nach Göttingen, wo er als Repetent am theologischen Stift für die nächsten Jahre ein Auskommen erhielt. Die „Expositio philologica, exegetica et critica“ des 23. Psalms, mit der er sich um diese Stelle bewarb, wird noch im Archiv der Universität aufbewahrt6. Die philosophische Fakultät unter dem Dekan Eichhorn „nostrifizierte“ ihn am 19. August 1806 durch eine Disputation, der die Dissertation und eine Thesenreihe zugrundelagen und mit der er sich zum Göttinger 2  W. Vatke, Historisch-kritische Einleitung in das Alte Testament (1888) 12. 3  Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Übersetzt von W. M. L. de Wette 4(1858) VI (Vorwort zur 2. Aufl. von 1831). 4  Benecke a.a.O. 27. 5  E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie V (1954) 20. Für K. Barth war Wegscheider „ein theologischer Spießbürger, wie es nachher unter den führenden Theologen kaum wieder einen gegeben hat“ (Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 21952, 427). 6  Theol. SA 0052.

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Privatdozenten habilitierte7. Die Thesen betreffen überwiegend lateinische und griechische Schriftsteller, zwei aber auch den Pentateuch, seine Komposition und sein Alter. Sie seien hier mitgeteilt: „VI. Pentateuchus (praesertim Genesis) e duobus diversis monumentis compositus est.“ „VIII. Multis cum difficultatibus conflictabunt, si qui Pentateuchum post Davidis tempora scriptum esse contendunt.“ Man bedenke: de Wettes Disputation über das Deuteronomium lag kaum ein Jahr zurück, und Gesenius hatte Eichhorn zum Zuhörer. Es lohnt sich, aus den Vorlesungsverzeichnissen die Lehrveranstaltungen zusammenzustellen, die der Repetent und Privatdozent in seinen fünf Göttinger Semestern anbot: Winter 1806/07 Genesis (4 Stunden wöchentlich), kleinere paulinische Briefe, Anfangsgründe der hebräischen Sprache und analytische Übungen bei Lesung historischer Stücke des Alten Testaments (6 Stunden, 11 Uhr), die ersten zwölf Bücher der Odyssee (6 Stunden), die Satiren des Juvenal, ferner (wie auch in den folgenden Semestern) Privatunterricht im Hebräischen und im Griechischen. Sommer 1807 Einleitung in das Alte Testament nebst den Apokryphen (6 Stunden, 7 Uhr), hohes Lied und Sprüche Salomos, Hesiods Gedicht vom Landbau nebst einigen Büchern der Odyssee, lateinische Konversations- und Disputierübungen. Winter 1807/08 Examinatorium und Repetitorium über theologische Wissenschaften, besonders Kirchengeschichte und Dogmatik, in deutscher oder lateinischer Sprache (3 Stunden), Daniel nach vorausgeschickter Abhandlung der chaldäischen Sprachlehre, Anfangsgründe der hebräischen Sprache. Sommer 1808 Allgemeine Enzyklopädie und Methodologie des theologischen Studiums (6 Stunden, 11 Uhr), Einleitung in das Alte Testament (6 Stunden, 7 Uhr), Auswahl der vorzüglichsten Psalmen und prophetischen Stücke des Alten Testaments, Erläuterung der wichtigsten Beweisstellen der Dogmatik aus dem Alten und Neuen Testament in systematischer Ordnung, Arabisch (3 Stunden, 3 Uhr). Winter 1808/09 Allgemeine Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften nebst der theologischen Literatur (6 Stunden, 11 Uhr „oder in einer gelegenern Stunde“ – vielleicht ein Hinweis auf Nichtzustandekommen im vorigen Semester), Genesis und auserlesene poetische Stücke des Alten Testaments mit besonderer Rücksicht auf Grammatik und Analyse (6 Stunden, 10 Uhr), Repetitorium und Examinatorium über theologische Wissenschaften, besonders Kirchengeschichte, in lateinischer Sprache, Grundzüge der biblischen Theologie nebst exegetischer Erläuterung der Beweisstellen (Fortsetzung), Hebräische Sprachlehre. Das Hauptgeschäft jener Jahre ist damit noch nicht genannt. Im Vorwort zur ersten Hälfte des „Handwörterbuchs“, datiert Ende Juli 1810, teilt Gesenius mit, er habe sich „nach vorangegangenen Vorbereitungsarbeiten seit 4 1/2 Jahren den dahin gehörigen Untersuchungen und einigen verwandten fast ausschließlich und mit dem ausgezeichnetsten Interesse gewidmet“ – seit Anfang 1806 also, seit dem Ende der Studentenzeit, in den darauf folgenden Monaten als 7  Universitätsarchiv Göttingen Philos. Fak. 90.

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Lehrer am Pädagogium in Helmstedt und dann vor allem in Göttingen. Zum Abschluss kam das Werk dort aber nicht. Die theologische Repetentenstelle lief aus, und die mächtigen Männer in der philosophischen Fakultät, Heyne und Eichhorn, waren ihm nicht gewogen. Heyne ließ ihn, wie das Vorlesungsverzeichnis belegt, nach den ersten beiden Semestern nicht mehr an die klassische Philologie heran, und wir werden sehen, dass sich bei Eichhorn die Abneigung noch nach vielen Jahren Luft machte. Gesenius wusste offenbar nicht so recht, wie man sich gegen Göttinger Geheimräte zu benehmen hatte, und außerdem scheint ein unziemlich großer Lehrerfolg im Spiel gewesen zu sein. Als Gelehrter ging er, wiewohl von jenen beiden belehrt, ohnehin seine eigenen Wege. So sah er sich 1809 genötigt, wieder Lehrer zu werden, am katholischen Gymnasium in Heiligenstadt. Dort erreichte ihn 1810 die Berufung zum außerordentlichen Professor in Halle. Die Ablehnung eines Rufes nach Breslau ließ ihn in Halle schon 1811 zum Ordinarius aufsteigen. In den nächsten drei Jahrzehnten war er eine zentrale Figur der dortigen Universität8. Gegen Ende dieser Zeit studierte in Halle Rudolf Haym (1821–1901), der spätere Biograph Herders und Hegels; er hat unter dem Eindruck von Gesenius’ Tod ein Erinnerungsheft geschrieben, das trotz einigem etwas naseweisen Hegelianisieren ein durchaus authentisches Bild geben dürfte9. „Schon auf der Schule“ hatte Haym „keine Bücher lieber gehandhabt, als Gesenius’ Lexicon und Grammatik, hatte aus keinem Buche lieber übersetzt, als aus dem kleinen Gesenius’schen Lesebuche […].“ Als er den Professor zum ersten Mal auf der Straße sah, war er gleich sicher: „Wer könnte so aussehen wie dieser: klein, gedrungene Figur, behagliche Haltung und Gang, schneeweiße glänzende Locken, hohe Stirn, nachdrückliche, wohl mehr vom Gedanken als von der Sorge gegrabene Züge, die namentlich um die scharfen, durchdringenden Augen herum mit einem Eindruck abschlossen, gemischt aus Ernst und Heiterkeit – wer könnte so aussehen und ein Anderer sein, als Gesenius?“ Die erste Vorlesung: „[…] so eben strömte es […] schaarenweise nach dem großen Auditorium, wo heute zum ersten Male über die Genesis gelesen werden sollte. Wir treten mit ein und fühlen uns sofort in dem vollen Auditorium aufgelegter und hoffnungsvoller [als vorher bei Wegscheider]. Endlich, nachdem sich auch der letzte Platz gefüllt hat, sehen wir die uns schon bekannte Gestalt das Katheder besteigen. Mit welcher Frische und Fröhlichkeit wird die Sache angegriffen, welche Lebendigkeit durchdringt den ganzen Vortrag, der, wenn er äußerlich auseinanderfallend und bröckelnd erscheint, dennoch innerlich wie klar und zusammenhängend ist! Es gibt zunächst kritische Vorfragen und wie breitet sich da die ganze Sachlage so anschaulich vor uns aus; wie können wir Schritt für Schritt überall hin folgen; wie rücken uns all’ die Fragen und Antworten, die es 8  Viel Detail bei Zobel (Anm. 1). 9  R. H. S. (Rudolf Haym Silesius), Gesenius. Eine Erinnerung für seine Freunde (1842). Vgl. die Richtigstellungen Allg. Literatur-Zeitung 1843, I, 297–304.

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hier gibt, so nahe: wir bilden uns ein, das kritische Spiel ein Jeder selbst in die Hand zu bekommen, es selbst zu üben. Jede Operation gelingt: so richtig und geschickt werden alle Griffe gethan. Welche Lust, hier zuzusehen! wir sind bald so sehr in den Gegenstand hineingeführt, so ganz für ihn interessirt, daß uns der Stundenschlag viel zu früh kömmt. Indessen morgen und übermorgen und alle Tage wird wieder gelesen, und wir haben ein ganzes Triennium vor uns: gewiß, wir werden ihn fleißig besuchen.“10 Neben der Vorlesung das Seminar, einmal wöchentlich abends an einem großen Tisch. „Bald war […] Alles zu Hauf um den Lehrer her; denn schon lag ein vielversprechender Folioband vor ihm, und es galt irgend eine neue Mittheilung. So ward Stunden lang Rosellini’s Bilderbuch11 durchblättert, das Interessante und Wissenswürdige auf jedem Blatte herausgesucht, und wir gewannen in Kurzem einen ausreichenden Ueberblick über das ägyptische Wesen mit seiner Hieroglyphenschrift und sonstigen Abenteuerlichkeit. Ein ander Mal war es eine neue, ihm zugeschickte und von ihm entzifferte Inschrift, die uns nun, ganz frisch noch sammt der Enträthselung mitgeteilt, und so mitgetheilt wurde, daß wir recht oft an das Ei des Columbus zu denken hatten, wenn wir die Sache so leicht fanden und gar meinten, wir hätten selbst gefunden, was uns eben erst so gewandt und anschaulich vorgemacht war. Und war es nun kein Bilderbuch und keine Inschrift, so war es eine neue Reisebeschreibung in das alttestamentliche Land, eine Karte, irgend ein altes oder neues Buch, wovon er ersprießlich achtete, uns in Kurzem eine Notiz beizubringen. War dies aber abgethan, und war auch nicht etwa eine eingelieferte Arbeit zu besprechen oder sonst eine gelehrte Nachricht aus erster Hand mitzutheilen, so ging es an die Interpretation. Hierfür nun war in jedem Semester ein anziehender Stoff gewählt, für welchen bald ein historisch-kritisches, bald ein sprachliches Interesse entschieden hatte. In der Regel jedoch wußte Gesenius, uns und sich zum Gewinn, ein eignes Interesse, welches ihn auf dies oder jenes alttestamentliche Buch geführt hatte, zu einem allgemeinen Interesse zu wenden, und es gewann dadurch immer mehr das völlige Ansehn, als ob Lehrer und Schüler gemeinsam für und mit einander arbeiteten. Die Arbeit selbst inzwischen war gleichmäßig vertheilt. Der Reihe nach war das jedesmalige Pensum Einem von uns zu schriftlicher Behandlung zugefallen, und eben derselbe hatte dann den Hauptvortrag. Aber Redefreiheit war allgemein und offene Debatte, wie es sich ziemt in einer wissenschaftlichen Republik! Wie aber Gesenius einen Jeden frei gewähren ließ, so bewegte er sich auch selbst in dem kleinen Kreise noch ungezwungener, als vor der Masse der Zuhörer. Weit mehr noch breitete sich hier jene Anschaulichkeit aus, die wir so oft schon rühmten; weit mehr noch war ihm hier Raum gegönnt, Alles auf die concreteste Weise zu fassen, und uns wurde das neidenswertheste Glück zu

10  A.a.O. 5f.; vgl. aber R. Haym, Aus meinem Leben (1902) 86. 11  Ippolito Rosellinis „Monumenti dell’Egitto e della Nubia“ erschienen seit 1832.

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Theil, das üppige Wuchern seiner Anschauungen, das Werden seiner faßlichen und bald fertigen Vorstellungen aus nächster Nähe beobachten zu können.“12 Es lässt sich in seinem literarischen Niederschlag auch noch aus der Ferne beobachten. Gesenius produzierte in Halle fast Jahr für Jahr Werke von Gewicht. Noch 1810 erschien nicht nur der „Versuch über die maltesische Sprache zur [negativen] Beurtheilung der neulich wiederhohlten Behauptung, daß sie ein Überrest der altpunischen sey, und als Beytrag zur arabischen Dialektologie“, sondern auch die erste Hälfte des „Hebräisch-Deutschen Handwörterbuchs über die Schriften des Alten Testaments mit Einschluß der geographischen Nahmen und der chaldäischen Wörter beym Daniel und Ezra“. Die zweite Hälfte kündigte er für „spätestens künftige Ostermesse“ an13, aber sie erschien erst ein Jahr später, im Frühjahr 1812 – „welche Verzögerung weniger durch einige zeitraubende Berufsarbeiten, als durch mein Bestreben veranlaßt worden ist, den Forderungen, die das Publikum und ich selbst an die Fortsetzung dieser Arbeit machen mußten, möglichst zu genügen“14. Bedenkt man sowohl die Vorgeschichte, die ja tief in Gesenius’ Studentenzeit zurückreicht, als auch die Fortsetzung, dann ist man versucht zu sagen: ein Leben für ein Lexikon. Das Lexikon ließ seinen Autor auch in der Zukunft nicht los, vielmehr „lebte“ es auch seinerseits mit ihm und dann über ihn hinaus. Nicht von ungefähr versah er es 1833 mit dem Motto „Dies diem docet“, das seitdem auf dem Titelblatt aller Ausgaben steht. Gerade in seinen Wandlungen ist dieses Werk erstaunlich beständig geblieben. Es hat mancherlei Gestalten gehabt. Der zweibändigen Erstausgabe von 1810/12 folgte 1815 ein „Auszug für Schulen“ unter dem Titel „Neues hebräisch-deutsches Handwörterbuch über die Schriften des Alten Testaments“. Dieser Auszug wuchs alsbald unter dem Titel „Hebräisches und chaldäisches Handwörterbuch über das Alte Testament“ (so die 2. Auflage, 1823) zu dem maßgeblichen Werk, das von Gesenius 1828 in dritter und 1834 in vierter Auflage und nach seinem Tode zunächst von F. Dietrich, dann von F. Mühlau und W. Volck sowie klassisch von Frants Buhl besorgt wurde und schließlich auf dem Weg ins 21. Jahrhundert unter der Leitung von Rudolf Meyer und Herbert Donner noch einmal eine völlige Neubearbeitung erfuhr (18. Aufl. I–VI 1987–2010); aus dem „chaldäisch“ im Titel ist 1886 ein „aramäisch“ geworden. Auf die dritte Auflage folgte 1833 das „Lexicon manuale Hebraicum et Chaldaicum in Veteris Testamenti libros“, laut Vorwort besonders von Gelehrten aus England, Holland und Amerika gewünscht (2. Aufl. 1847 von A. Th. Hoffmann). Lateinisches Gewand trug auch die letzte und nicht nur äußerlich größte Arbeit in dieser stolzen Reihe, der „Thesaurus philologicus criticus linguae Hebraeae et Chaldaeae Veteris Testamenti“, als lateinische Ausgabe des ursprünglichen „größeren“ Wörterbuches längst geplant15, 1829 mit einem 12  A.a.O. 36–38. 13  A.a.O. III. 14  II (1812) III. 15  Vgl. Handwörterbuch (1823) III.

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ersten Faszikel, 1835 mit dem ersten, 1840 mit dem zweiten, 1853 mit dem dritten Band ans Licht getreten; den letzten (mitsamt einem „Fasciculus novissimus“ von 1858) hatte Gesenius’ am meisten dazu berufener Schüler Emil Rödiger hergestellt. Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert galt der „Thesaurus“ als „das standard-work der hebräischen Lexikographie“16 – wer wollte sich zutrauen, das Werk zu nennen, das ihn in dieser Rolle eindeutig abgelöst hätte, es sei denn eben damals Buhls Lexikon, das wiederum unter dem Namen Gesenius lief? Über die Gesichtspunkte, die ihn bei der Abfassung des Handwörterbuchs leiteten, gab Gesenius schon 1810 und 1812 in ausführlichen Vorreden Auskunft. Daraus wurde eine regelrechte Abhandlung „Von den Quellen der hebräischen Wortforschung nebst einigen Regeln und Beobachtungen über den Gebrauch derselben“, von Gesenius auch „als ein kurzer Grundriß der philologischen Hermeneutik des A. T. und der Literatur derselben“ gemeint17. Von dieser immer noch lesenswerten Abhandlung, die dem Handwörterbuch auch über Gesenius’ Tod hinaus voranstand, können hier nur die Stichworte wiedergegeben werden. Die „Quellen“ sind drei, in Gesenius’ Worten: „1) der Sprachgebrauch des A.T. selbst, so weit er aus dem Zusammenhange der einzelnen Stellen und der Vergleichung aller derer, in welchen ein Wort oder eine Phrase vorkommen, erkannt wird; 2) die traditionelle Kenntniß der hebräischen Sprache, welche sich bey den Juden erhalten hat, und theils in den alten Übersetzungen, theils in den jüdischen Commentarien und Wörterbüchern niedergelegt ist; 3) die Vergleichung der verwandten Dialekte, welche zwar alle in den uns vorliegenden Denkmälern jünger sind, als das A.T., aber zum Theil reicher, als der hebräische Dialekt in der Bibel, und entweder lebende Sprachen, oder durch einheimische Grammatiker lexicalisch bearbeitet, oder wenigstens in mehreren Schriftstellern erhalten sind, so daß über die Bedeutungen der Wörter verhältnißmäßig seltener als im Hebräischen Zweifel obwalten können.“18 Die dritte Quelle hat seit Gesenius ein damals kaum zu erträumendes Ausmaß angenommen: die „uns vorliegenden Denkmäler“ sind keineswegs mehr „alle“ jünger als das Alte Testament, und das Akkadische, das Ugaritische und so weiter sorgen dafür, dass „die eigene fortgesetzte Lesung arabischer Schriftsteller“19 bei den Lexikographen des Alten Testaments etwas in den Hintergrund getreten ist. Es kann kein Zweifel sein, dass niemand begieriger und – methodischer diese Erweiterung des Gesichtskreises genutzt hätte als Gesenius. Seine „Regeln und Beobachtungen“20 sind noch 1987 mutatis mutandis in den jüngsten „Gesenius“ hinübergenommen worden, um die Kontinuität sichtbar zu machen, die, frei von allem Zwang der Nachahmung, die ganze Geschichte des Werkes bestimmt 16 RE3 VI (1899) 627 (E. Reuß/R. Kraetzschmar). 17  Handwörterbuch (1823) VII. 18  Ebd. VIIf. 19  Ebd. XXXVI. 20  Vgl. ebd XLV–LI.

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hat21. Es handelt sich um: 1. „eine strengere Scheidung dessen, was in das Gebiet des Wörterbuchs und in die angränzenden Gebiete des Grammatikers und Commentators gehöre“, 2. die „vollständige Angabe der mit den Wörtern gebildeten Constructionen und Phrasen“, also den „syntactischen Theil der lexicalischen Beobachtung“, 3. die „historische Behandlung der Sprache“ (Beachtung der poetischen Sprache, des aramäischen Einflusses in späterer Zeit, der Eigentümlichkeiten mancher Bücher), 4. die Berücksichtigung der Textkritik, 5. die vollständige Aufnahme der Eigennamen, 6. die Einarbeitung unserer Kenntnisse von den Realien der morgenländischen Welt – dies ein für Gesenius besonders charakteristischer Punkt, der noch Wellhausen über den Thesaurus urteilen ließ, er sei „in den Artikeln, die er gibt, auch als Reallexikon jedem anderen vorzuziehen“22. Die Aussparung des Grammatischen – sie wurde später als untunlich wieder aufgegeben – konnte Gesenius sich auch darum leisten, weil er auf diesem Felde für mancherlei Ersatz sorgte. Er lebte nicht nur dem Lexikon, sondern der hebräischen Sprache überhaupt und so auch ihrer Grammatik – und er lebte den Studenten. 1813 und 1814, also gleich nach dem ersten Handwörterbuch, erschien sein „Hebräisches Elementarbuch“ mit den Teilbänden: „Hebräische Grammatik“ und „Hebräisches Lesebuch“. Beide brachten es zu großer Beliebtheit und auf viele Auflagen; vom Lesebuch wurde die siebente 1844 nach Gesenius’ Tod von de Wette besorgt, die Grammatik wuchs schon bald über ihren ursprünglichen Umfang hinaus und war als „Gesenius-Rödiger“ (14.–21. Aufl. 1845–72) und „Gesenius-Kautzsch“ (22.–28. Aufl. 1878–1909) die verbreitetste wissenschaftliche Grammatik des 19. Jahrhunderts. Das Lesebuch „enthält eine Auswahl der alttestamentlichen Stücke in allen Gattungen der Rede, welche durch historisches oder poetisches Interesse am meisten geeignet sein dürften, den jugendlichen Geist, dem die Beschäftigung mit den griechischen und römischen Classikern nicht mehr fremd ist, für das Studium der ehrwürdigen Urkunden des hebräischen Alterthums zu gewinnen“23 Unter diesem Gesichtspunkt wählte Gesenius die folgenden Texte aus: Gen 1–3; 6–8; 22; 37; 38–45; Ex 1f.; Ri 13–16; 1.Sam 17; 19f.; 24; 1.Kön 5,9–14; 3,16– 28; 10; 21; Ps 8; 19; 29; 72; 104; 128; 137; 139; Spr *17; *27; 31, 10–31; Hiob 38f.; Jes 5,1–29; 6; 11; 14,4–21; Joel 1f. Jeder Text erhielt Überschrift, Einleitung und Erläuterungen sprachlicher und sachlicher Art, um die Lektüre nicht nur zu erleichtern, sondern auch interessant zu machen. So wird zu Simsons Rätselfrage an die Philister (Ri 14,12) bemerkt: „Die Sitte, sich bei Gastmählern Räthsel aufzugeben (vgl. auch 1. Kön 10,1), findet sich auch bei den Griechen. Wer es er21  Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch 18I (1987) VIIf. – U. Rüterswörden, „verantwortlicher Mitarbeiter“ bei einem großen Teil der Neubearbeitung, fasst in RGG 4III, 842 Gesenius’ philologische Leistung knapp zusammen. 22  (F. Bleek –) J. Wellhausen, Einleitung in das Alte Testament 4(1878) 655. 23  7(1844) V. Man beachte den Unterschied zum Auswahlprinzip des älteren Buxtorf (s.o. 831)!

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rieth, erhielt zwiefache Portion, wer es nicht vermochte, eine bittere Brühe zu trinken.“ Vor Joel 1f. steht eine kleine Abhandlung über Heuschreckenplagen im Orient und im Abendland. Bei der Schöpfungsgeschichte wird kurz über die Quellenfrage orientiert. Den Schluss macht ein „erklärendes Wortregister“. In der Vorrede teilt Gesenius einiges aus seinen Erfahrungen als Hebräischlehrer mit. Seine Ratschläge haben immer noch Gewicht. Am Anfang soll nach den ersten Leseübungen und dem Personalpronomen das reguläre (starke) Verbum „mündlich erklärt“ und dann „stückweise, aber auf das Genaueste, memorirt werden, weil soviel andere grammatische Flexionen auf diesem Grunde ruhen“. Um bei den irregulären (schwachen) Verba „alles mechanische Auswendiglernen zu verhüten, gehe man auch hier jedes neue Paradigma mit den Schülern mündlich durch, und weise sie theils auf die Abweichung vom regulären Verbo, theils auf die durch grosse Schrift ausgezeichneten Charakterformen hin, wodurch sowohl das Gedächtniss erleichtert, als auch der Sinn für die Analogie und den Bau der Sprache äusserst geweckt und geschärft wird“. Frühzeitig soll auch gelesen und übersetzt werden, wobei der Lehrer dafür zu sorgen hat, „dass der Lehrling mit Fertigkeit und ohne Anstoss, Stottern und Stammeln lese, was sich bei einigen leicht und wie von selbst findet, bei anderen schwerer hält und dann lange anhängt. Das beste Mittel ist hier öfteres Laut-Lesen, besonders solcher Stücke, die man schon versteht.“ Neben den grammatischen Formen sind früh die nötigen Vokabeln zu lernen, „da nichts mehr ermüdet, und alle Lust zu weiterem Fortschreiten benimmt, als Mangel an Wörterkenntniss und die nie endende Nothwendigkeit, immer von Neuem nachzuschlagen“. Es ist „höchst übel angebrachte Schonung, dem Lehrling selten oder nie ein Memoriren zumuthen zu wollen. Tantum scimus, quantum memoria tenemus.“ Für Fortgeschrittene empfiehlt Gesenius: „das Zurückübersetzen im Kopfe […], so dass der Lehrer bei schon gelesenen Stücken das Deutsche vorsagt und den Schüler das Hebräische sagen lässt; das Lesen und Punctiren unpunctirter Texte, was zur Uebung in der Formenlehre von grossem Nutzen ist; und endlich die Ausarbeitung hebräischer Scripta, wobei Formenlehre und Syntax zugleich geübt werden. Zu letzteren wird man am zweckmässigsten Parabeln des N.T. oder Gnomen aus dem Sirach wählen, deren Sprache echt-hebräisch gedacht ist, und zum Theil ja auch ursprünglich so geschrieben war.“ Die Hebräischlehrer sollen nicht „gelehrte Vorlesungen über schwierige Abschnitte des A.T. halten“, „wovon die unausbleibliche Folge ist, dass ihre Lehrlinge wohl hier und da eine gelehrte und feine Sprachbemerkung im Gedächtniss auffassen und zehn Erklärungen eines ἅπαξ λεγόμενον wissen, aber der Übersicht des Ganzen ermangeln und bei den gewöhnlichsten und triviellsten Wörtern anstossen“. Am wichtigsten ist beim weiteren Fortschreiten „eine cursorische Privatlectüre einiger historischen Bücher, z.B. des Buches der Richter, der Bücher Samuels, blos mit Hilfe des Wörterbuches, der Grammatik und einer treuen deutschen Uebersetzung, am besten der de Wette’schen“. Dagegen vermeide „ein jeder, dem es ein Ernst darum ist, auf eigenen Füssen stehen zu lernen, die elende Art von

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Krücken – um nicht zu sagen Eselsbrücken –, die unter dem Namen von Claves und Januae auch in den letzten Decennien wieder aufgefrischt worden. Wer sich auch bei 1000 Versen die Analyse der Wörter, die Vocabeln und deren Stammwörter hat vorkauen lassen, wird sie beim tausend und ersten doch nicht finden können.“24 In der Grammatik des „Elementarbuchs“25 kündigte Gesenius eine größere Darstellung an, die ihn „schon mehrere Jahre beschäftigt“ habe. Sie erschien 1817 als „Ausführliches grammatisch-kritisches Lehrgebäude der hebräischen Sprache mit Vergleichung der verwandten Dialekte“. Vorangegangen war 1815 eine „Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift“ mit dem Untertitel „Eine philologisch-historische Einleitung in die Sprachlehren und Wörterbücher der hebräischen Sprache“. Dieses Buch26 behandelt in drei Teilen die Geschichte der hebräischen Sprache, der hebräischen Sprachkunde, der hebräischen Schrift. Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Sprachstufen gewinnt Gesenius durch den Vergleich zwischen den Parallelen in Samuel/ Könige und der Chronik, wobei er auf de Wettes historische Bearbeitung dieses Verhältnisses zurückgreift und seine Beobachtungen dessen Vermutung, der Verfasser der Chronik sei „des Hebräischen nicht recht kundig gewesen“, schreibe „das schlechteste Hebräisch, das wir haben“, wahrscheinlich sei „zu seiner Zeit die Sprache schon ganz ausgestorben gewesen“27, „theils bestätigen, theils modificiren“28. Für die alte Sprache zieht er29 Eigennamen, das Ketib, makkabäische Münzen, einzelne Worte in den Apokryphen, die Sprache des Talmud, die alten Übersetzungen (vor allem natürlich die Septuaginta) und mit besonderem Interesse das Phönizisch-Punische heran, zu dessen Erforschung er nicht nur als Lexikograph und Grammatiker, sondern auch als Paläograph bahnbrechende Beiträge geliefert hat, gipfelnd in dem dreibändigen Werk „Scripturae linguaeque Phoeniciae Monumenta quotquot supersunt edita et inedita ad autographorum optimorumque exemplorum fidem edidit additisque de scriptura et lingua Phoenicum commentariis illustravit Guil. Gesenius“ (1837)30. Nicht sehr hoch schätzt er den Wert des samaritanischen Pentateuchs ein, dem er ebenfalls 1815 eine eigene Abhandlung gewidmet hat31. Dagegen verteidigt er die Richtigkeit der masoretischen Vokalisation mit einer Vielzahl von Argumenten gegen ihre Kritiker32. Das gibt natürlich auch dem „Lehrgebäude“ einen festeren Boden. Dieses Buch hat die „Vergleichung der verwand24  A.a.O. VII–XIII. 25  1(1813) VIII. 26  Neudruck 1973. 27  W.M.L. de Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament I (1806) 67*. 28  Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift 4047. 29  A.a.O. 47–54. 30  Vgl. O. Eißfeldt, Von den Anfängen der phönizischen Epigraphik (1948). 31  De Pentateuchi Samaritani origine, indole et auctoritate commentatio philologico-critica. 32  Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift 207–19.

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ten Dialekte“ nicht nur programmatisch im Titel. Mit Gesenius kann sich auch der Leser über einen Rezensenten nur wundern, der die Hoffnung ausgedrückt hatte, dass Gesenius „gewiß nicht anstehen würde, einst mitzukämpfen, wenn es darauf ankomme, die Tochter Sions aus der arabischen, persischen, koptischen und äthiopischen Gefangenschaft zu befreyen, unter der sie seit Michaelis seufze“33. Gegen viel Missbrauch besonders mit voreiligen arabischen Etymologien hatte er zwar gestritten, aber das „Lehrgebäude“ verfolgte gerade das Ziel, nach dem Lexikon nun auch die Grammatik durch den semitischen Sprachvergleich umfassend zu erneuern34. Wir können darauf nicht näher eingehen, ebensowenig auf die vielen weiteren Studien, in denen Gesenius außerbiblisches Material mit oder ohne direkten Bezug zur Bibel – übrigens auch dem Neuen Testament – untersucht hat. Was keinesfalls unerwähnt bleiben darf, ist sein tätiges Interesse an der damals jungen Palästinawissenschaft. Er hat eine nicht nur nützliche, sondern auch schöne Ausgabe der Tagebücher Johann Ludwig Burckhardts (1784–1817) von dessen Orientreise in den Jahren 1809–17 veranstaltet35, und der eigentliche Begründer dieser Wissenschaft, der Amerikaner Edward Robinson (1794–1863), ist sein (und des Berliner Geographen Carl Ritter) Schüler gewesen36. Seine eigene Vorlesung über hebräische Archäologie war bei den Studenten sehr beliebt37. Er arbeitete an einem historisch-kritischen Atlas zur Bibel38, vollendete ihn aber leider nicht. 1817, nach dem Abschluß des „Lehrgebäudes“, begann er mit der Niederschrift seines magnum opus als Exeget: „Der Prophet Jesaia. Übersetzt und mit einem vollständigen philologisch-kritischen und historischen Commentar begleitet.“ Die Übersetzung erschien 1820, der Kommentar in zwei Bänden 1821; er war zwar schon 1819/20 zu einem großen Teil gedruckt, aber die Vollendung wurde dadurch hinausgezögert, dass Gesenius im Sommer 1820 nach Paris und Oxford reiste, und außerdem wünschte er „um so mehr die Arbeit dem Publikum gleich vollständig in die Hände zu geben, je mehr die übele Sitte vieler Schriftsteller“ um sich greife, „die Leser nach Erscheinung des ersten Theils Jahre lang und zuweilen für immer auf die übrigen warten zu lassen“39. Zu einer allgemeinen Charakteristik des Werkes – und indirekt auch seines Autors – soll de Wette das Wort haben: „Schon in seinen früheren lexikographischen und grammaticalischen Arbeiten hatte sich der berühmte Vf. als einen scharfsinnigen und geschmackvollen Ausleger durch so manche treffende Bemerkung bewährt; nun aber tritt er in diesem großen exegetischen Werke mit einer 33  Lehrgebäude (1817) VIII*. 34  Vgl. ebd. VIf. 35  J.L. Burckhardt’s Reisen in Syrien, Palästina und der Gegend des Berges Sinai. Aus dem Englischen. Herausgegeben und mit Anmerkungen begleitet von W. Gesenius I/II (1823/34). 36  Vgl. J.G. Williams, The Times and Life of Edward Robinson (1999) 138–46. 37  Vgl. O. Eißfeldt, Kleine Schriften II (1963) 430–40. 38  Vgl. Hebräisches und chaldäisches Handwörterbuch 2(1823) L110. 39  Commentar I, V.

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Vollendung und Überlegenheit auf, welche Rec. wahrhaft in Erstaunen setzt, und mit freudiger Bewunderung erfüllt. Keine von allen exegetischen Arbeiten über das A. und N. T., die wir bis jetzt besitzen, kann diesem Commentar an die Seite gesetzt werden. Es ist dieß viel, sehr viel gesagt; aber Rec. sagt es mit reiflicher Erwägung, und er hat um so eher das Recht, es zu sagen, da er sich und seine Arbeiten selbst dem Vf. unterordnet. Alle Verrichtungen des Bibelauslegers hat der Vf. in diesem Werke meisterhaft vollzogen. Daß er als Lexikograph und Grammatiker auch hier alle Foderungen erfüllt habe, läßt sich vermuthen; was ihm aber besonders zum Ruhme gereicht, ist, daß er in diesem Gebiete in beständigem Fortschreiten begriffen ist, und niemals auf den Ergebnissen früherer Forschungen träge ausruht. In der Kritik, sowohl der sogenannten höheren, als der niederen, hält er die richtige Mitte zwischen Befangenheit und Trägheit auf der einen, und allzu großer Freyheit und Beweglichkeit auf der andern Seite. In der Auffassung des Sinnes beweist er den treffendsten Blick und gesundesten Geschmack, was um so mehr zu bewundern ist, als man Gründe hat, die lexikographischen und grammaticalischen Verrichtungen für nicht vorteilhaft zur Ausbildung des exegetischen Geschmackes zu halten. Als Übersetzer hat er seinen Geschmack nicht weniger bewährt, und sowohl in der Wahl des ganzen Tones, als der einzelnen Ausdrücke das dem Original Entsprechende getroffen. Wir haben auf diesem Gebiete keine besseren, viele schlechtere Arbeiten. In der Erklärung und Darlegung des Sinnes, dem eigenthümlichsten Geschäfte des Commentators, bewundern wir zuvörderst die Gewandtheit, in die Vorstellungen des Vfs. und seiner Zeit einzugehen, was man die exegetische Psychologie nennen könnte, am meisten aber die von einer umfassenden Gelehrsamkeit unterstützte historische Umsicht, vermöge deren der Vf. die geschichtlichen Umstände und Parallelen zur Erläuterung und Vergleichung heranzuziehen weiß. Wir haben in der geschichtlichen Auslegung des Propheten weder im Ganzen, noch im Einzelnen etwas Ähnliches aufzuweisen. Zwar war die Bahn vorher gebrochen und geebnet; aber eine solche Klarheit und Fülle der geschichtlichen Beleuchtung war bisher noch Keinem gelungen. Endlich hat sich der Vf. auch in der Auffassung des Geistes seines Schriftstellers und der ihn leitenden höheren Ideen weder so ungläubig, wie seine nächsten Vorgänger, noch so abergläubig, wie die älteren Ausleger bewiesen, und sich auch hier in der rechten Mitte gehalten.“40 Er wünsche, so schließt de Wette seine lange Besprechung, „der deutschen Theologie Glück zu dieser herrlichen Bereicherung ihrer exegetischen Literatur in einem Werke, dergleichen keine andere Nation aufweisen kann, noch hervorzubringen im Stande ist“41. Ein Hauptproblem der Prophetenexegese war schon damals die Abgrenzung der Einheiten. Der Göttinger Koppe42 hatte eine Vielzahl ziemlich kurzer Stü40  Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1822, I, 1f.; zu de Wettes Autorschaft vgl. R. Smend, W. M. L. de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament (1958) 193. 41  A.a.O. 46. 42  In seiner deutschen Ausgabe von R. Lowth’s Jesajakommentar (1779–81).

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cke angenommen, und besonders Eichhorn43 war ihm darin gefolgt. Gesenius widersprach diesem „Zerstückelungssystem“, „nach welchem die ganze Sammlung als ein loser, fast wie ein Kartenspiel gemischter Haufe prophetischer Fragmente verschiedener Dichter aus verschiedenen Zeitaltern erscheint“44. Allerdings nahm auch er bei größeren Abschnitten an, „daß der Prophet mehrere einzelne Aussprüche nachher schriftlich an einander reihte und in ein Ganzes verarbeitete“45. Auch in der Verfasserfrage verfuhr er öfters konservativer als einige seiner Vorgänger, so indem er die Worte gegen Ägypten (Jes 19,1–17) und Tyrus (23) durch subtile historische Interpretation gegen Eichhorn46 dem Jesaja zu „retten“ versuchte47. Insgesamt stand er natürlich auf seiten der unbefangenen, von ängstlicher Apologetik freien Kritik. Bei Jes 40–66 verbreiterte und befestigte er die Straße, die aus dem vor noch gar nicht langer Zeit wiederum durch Koppe gewiesenen Weg geworden war. Er trat für die Einheitlichkeit dieses großen Stückes ein, gestand aber deren Bestreitern zu, „daß der Prophet das Ganze nicht hintereinander fortgeschrieben, sondern die verschiedenen Abschnitte zu verschiedenen Zeiten abgefaßt habe, worauf sie dann aneinandergefügt oder vielmehr zusammengearbeitet worden sind“48. Diese Redaktionsarbeit sei eher durch einen anderen als durch den Verfasser geschehen, denn sie verfahre unchronologisch: die letzten Kapitel (also im wesentlichen der spätere „Tritojesaja“) seien die zeitlich früheren, die Befreiung werde in ihnen noch viel ferner und allgemeiner erhofft als in den ersten, wo die „bevorstehende oder schon eingetretene Umwälzung die Erfüllung der frohesten Hoffnungen für die Nation in der Nähe zeigte“49. Es lag Gesenius sehr daran, den Propheten Jesaja so zu verstehen, wie er verstanden sein wollte, nämlich als „den Herold und Wächter der Theokratie und des theokratischen Glaubens […], sofern auch seine Wirksamkeit als Sittenprediger und Staatsweiser von der theokratischen Ansicht beherrscht und durchdrungen ist“. Die Sünden, die Jesaja rügt, sind direkt und indirekt „theokratische“, also religiöse Sünden, auch seine Politik „muß lediglich aus diesem theokratischen Gesichtspuncte betrachtet werden, und man würde sie misverstehen, wenn man überall, wie aber gewöhnlich geschieht, blos den Maßstab menschlich klügelnder Berechnung anlegen wollte“ – der selbe Fehler, wie „wenn man in Mose lediglich den weltklugen Gesetzgeber und Volksführer sieht, in Samuel nur den heimlich für sich und seine Kaste machinirenden Hierarchen; und wenn man überhaupt in den Gottesmännern aller Zeiten nicht sowohl den lebendigen Glauben und die Begeisterung als Triebfedern ih43  Die hebräischen Propheten I (1816) 144–358. 44  Commentar I, XIII, vgl. 136. 45  A.a.O. 826. 46  Propheten I, 353–59; II (1819) 574–79. 47  Commentar I, XIV.593–601.707–19. 48  Commentar II, 15f. 49  Ebd. 34.

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rer Handlungen anerkennt, als ihnen vielmehr die feinste und gemessenste Berechnung nach künstlich geordneten Plänen zuschreibt, wie z. B. der würdige Plan[c]k (in der Geschichte des protestantischen Lehrbegriff’s) Luther’n handelnd vorführt“50. Seinen Standort in der grundsätzlichen Auseinandersetzung über die Propheten beschrieb Gesenius bündig mit dem Satz: „Wenn ich auf der einen Seite keine übernatürlichen und bestimmten Prädictionen künftiger Begebenheiten in denselben finden kann, so muß ich doch andererseits auf das Bestimmteste gegen eine Ansicht protestiren, welche in neuern Zeiten in Umlauf gesetzt worden, nach welcher die Orakel gar nicht prophetische Aussprüche über die Zukunft, sondern nur verschleyerte historische Schilderungen der Gegenwart, selbst der Vergangenheit enthalten […], und die Propheten, welche die Könige nach theokratischen Maximen zu leiten trachteten, häufig nichts als die Werkzeuge ihrer Launen und Vollstrecker ihrer Befehle (Hofpropheten) gewesen seyn sollen“51. Das richtete sich unmittelbar gegen Eichhorn52, der mit gewohnter Eleganz und ungewohnter Deutlichkeit reagierte: es sei „eine Unwahrheit“, eine „Dreistigkeit, die Ausleger, welche Folgerungen aus der politischen Gegenwart auf die politische Zukunft in Orakeln der Propheten finden, zu beschuldigen, daß sie verschleyerte historische Schilderungen der Gegenwart für Orakel hebräischer Propheten ausgäben“. „Eben so unverzeihlich“ sei die Gleichsetzung des (von Eichhorn gebrauchten) Begriffs „Hofpropheten“ mit „Werkzeuge königlicher Launen“; „gewiß würde sich jeder rechtlich denkende Mann desselben enthalten haben, wenn man nur sich hätte können träumen lassen, daß ihn einst ein Professor der Theologie mit seinem untheologischen Witz beschmutzen würde“53. Auch das, was Gesenius für die Lexikographie geleistet hat, lässt Eichhorn nicht gelten: „wir sind der Meinung, die wir auch schon sonst in diesen Blättern geäußert haben, daß für die Worterklärung der hebräischen Sprache so ziemlich das meiste, was sich noch erklären lasse, erschöpft sey; und selbst der Verf. [Gesenius] kann zum Beweis davon dienen, da er […] so wenige ihm ganz eigenthümliche Spracherklärungen hat aufstellen können. Nach unserm Dafürhalten bleibt den gegenwärtigen Auslegern des A.T. außer einzelnen Nachträgen nur ein critisches Prüfen des Vorgearbeiteten zu einer gesunden Auswahl aus demselben übrig. Und im letzteren hat der Verf. seine Vorgänger nicht übertroffen“54. Im Blick auf die zur Verfügung stehenden Darstellungen anderer semitischer Sprachen weiß Eichhorn für Gesenius den ironischen Rat: „Wer sollte ihn nicht ermuntern, fleißig in dem Excerpiren dieser classischen Werke zum Behuf des Wörterbuchs fort50  Commentar I, 27–29. 51  Ebd. I, XVf. 52  Vgl. ebd. 695.828. 53  GGA 1822, 183; zu Eichhorns Autorschaft vgl. O. Fambach, Die Mitarbeiter der Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1769–1836 (1976) 349. 54  GGA 1822, 179.

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zufahren? Nicht alle haben die Muße zu einem solchen Zeit erfordernden Geschäfte.“55 Eichhorns Ungehaltenheit wird sich noch gesteigert haben, als er de Wettes Hymnus auf Gesenius’ Leistung las, und dort zumal die Partie, in der de Wette die Übersetzungen Eichhorns und Gesenius’ miteinander verglich. Eichhorn, an Herder orientiert, hielt sich auf seine eigene Übersetzung viel zugute und erklärte die seines Kontrahenten für „matt, breit, prosaisch“, wofür er aber, in „der Überzeugung, daß dieses das Urtheil eines jeden seyn“ werde, „der einige Seiten in derselben gelesen“ habe, keine Proben gab56. De Wette57 gab Proben und kommentierte sie lakonisch und nicht zu Eichhorns Gunsten. Einige besonders bezeichnende mögen hier in de Wettes Wortlaut folgen: I,15 „G. wenn ihr schon eure Hände ausbreitet; E. und schlagt ihr betend eure Hände auseinander (unedel und umschreibend): G. ob ihr viel betet; E. auch wenn ihr ein Gebet aufs andere sprecht (erweiternd). V. 18. G. wohlan denn, laßt uns rechten; E. kommt nur, wir wollen untersuchen, worüber wir verschieden denken (eine frostige Umschreibung). V. 21. G. Hure; E. verbuhlt (neumodisch und unedel, jenes im Lutherischen Sprachgebrauche). V. 22. G. mit Wasser gefälscht; E. getauft mit Wasser (komisch).“ „III,2 G. Ältesten, E. Greise (falsch).“ IV,3 „G. jeder, der zum Leben aufgeschrieben in Jerusalem; E. wer als noch lebend eingetragen ist in die Bürgerliste von Jerusalem (welcher statistische Geschmack!)“. V,7 „G. Er harrete auf Recht, und siehe da Unrecht, auf Gerechtigkeit, und siehe da Schlechtigkeit (mit nachgeahmter Paronomasie); E. er hoffte Eifer für Recht, und sah Unschuldige bluten, er hoffte Liebe zur Gerechtigkeit, und hörte Unterdrückte schreyen (ausgemalt und kraftlos).“ „Cap. VI, 1–8 hat Gesenius mit richtigem Sinne in Prosa übersetzt, Eichhorn aber ebenfalls in Jamben.“ Was in Göttingen nach seinem Tode geschah, hätte Eichhorn sich nicht schlimmer ausmalen können: sein Lehrstuhl wurde Gesenius angeboten. Dieser brauchte von den Vertretern des alten, ihm missgünstigen Göttingen nicht mehr geschreckt zu werden: Heyne war lange tot und Eichhorn ja nun auch, der würdige Planck hatte gewiss nichts gegen ihn. Aber ein neuer Widersacher stand auf, Heinrich Ewald, der in Gesenius’ Göttinger Tagen noch ein Kind gewesen war. Ein paar Wochen vor Eichhorns Tod (am 27. Juni 1827) wurde er (am 25. Mai 1827) zum außerordentlichen Professor ernannt, und danach hat er, wenn man späteren Erzählungen glauben darf, einiges getan, um dem Nebenbuhler die Lust auf Göttingen zu nehmen. Gesenius lehnte denn auch ab, und Ewald bekam 1831, 27jährig, Michaelis’ und Eichhorns Lehrstuhl. Seine feindseligen Gefühle gegen Gesenius ist er nie losgeworden, obwohl ihm das als einem Mann grundverschiedener Eigenart, aber doch ähnlichen Ranges, der namentlich auf dem Gebiet der Syntax auch für die hebräische Sprachwis55  Ebd. 180. 56  Ebd. 178. 57  Rezension (Anm. 40) 26.

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senschaft kaum weniger geleistet hat als Gesenius, gut angestanden wäre; wenigstens „auf lexikalischem Gebiete hätte er die großen Verdienste von Gesenius lieber anerkennen, als sie bemäkeln sollen“58. Stattdessen verstieg er sich in immer heftigere Anwürfe, die in Gesenius’ letztem Lebensjahr in der Erklärung gipfelten, „daß seine [Gesenius’] Grammatik noch immer völlig unwissenschaftlich und unbrauchbar, oberflächlich, ungenügend und irreführend ist, während was darin etwa Wahres zu lesen, größtentheils erst aus meinen Schriften entlehnt ward“59. Gesenius hatte bis dahin die direkte Konfrontation mit Ewald gemieden; man wird es mit seinen Schülern „begreiflich finden, dass er, zumal bei seiner Abneigung gegen jeden bittern Streit, keinen Ton fand, der zu einer Erwiderung auf E.’s Ton gepaßt hätte“60. Jetzt aber setzte er, obwohl todkrank, die Feder zu einer ebenso sachlichen wie vernichtenden Rezension einer Ewaldschen Neuerscheinung über phönikische Fragen an; sie konnte nur noch als Torso veröffentlicht werden61. 1827 blieb er also in Halle, und 1832 lehnte er den Ruf aus einem noch bedeutenderen Ort als Göttingen, Oxford nämlich, ab, worauf ihn die preußische Regierung zum Konsistorialrat, die Stadt Halle zum Ehrenbürger machte. Auch sonst heben sich aus dem Kontinuum seiner unermüdlichen Arbeit einige Momente heraus: die schon erwähnte Reise nach Frankreich und England 1820 und eine weitere nach England und den Niederlanden 1835, beide zum Studium dortiger Dokumente und Monumente aus dem Orient; die Absetzung als („Pro-“) Rektor der Universität 1824, da er es bei studentischen Unruhen „an Aufrechterhaltung der academischen Disciplin und der öffentlichen Ordnung“ habe fehlen lassen – worauf sich sämtliche Professoren mit ihm solidarisch erklärten62; 1830 ein Streit um seine Rechtgläubigkeit, vom Zaun gebrochen durch einen anonymen Artikel „Der Rationalismus auf der Universität Halle“ in Hengstenbergs „Evangelischer Kirchenzeitung“, der Gesenius und Wegscheider beschuldigte, sie ließen es sich „angelegen seyn, was die Evangelische Kirche in ihren Bekenntnisschriften als ewige Göttliche Wahrheit anerkennt, als Irrthum darzustellen und zu bekämpfen“. Zum Beleg dienten Einzelheiten aus dem Genesiskolleg, wo Gesenius sich wohl in der Tat einigermaßen frei zu äußern und auch nicht selten Gelächter zu erregen pflegte. Zwei Beispiele aus dem Verlauf des Streits: Gesenius habe, so der Vorwurf, die Erzählung von Jakobs Begegnung am Jabbok Gen 32,24–32 eine Gespenstergeschichte genannt, in der das Gespenst am Morgen abziehe. Gesenius bestritt in einer öffentlichen Erklärung, die Ausdrücke „Gespenst“ und „abziehen“ gebraucht zu haben. Er habe gesagt, „es finde sich hier die erste Spur der Vorstellung, daß Erscheinungen 58  J. Wellhausen, Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1901) 67. 59  H. Ewald, Hebräische Sprachlehre für Anfänger (1842) VI. 60  Allgemeine Literatur-Zeitung 1842, III, 559. 61  Ebd. 547–52. 62  Vgl. Zobel (Anm. 1) 258.

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aus einer höhern Weltordnung die nächtlichen Stunden wählten und bey Anbruch des Tages in jene zurückkehrten; im Alterthum fändten sich dazu wenige Parallelen, in der Schrift gar keine, aber der neuere Volksglaube habe ähnliches in Ansehung der abgeschiedenen Seelen, wovon z.B. Bürger in dem bekannten Gedichte Gebrauch gemacht habe“63. Das zweite Beispiel: Gesenius wurde vorgeworfen, mit den Engeln auf der Himmelsleiter in Gen 28,12 seinen Spott getrieben zu haben. Dazu erklärte er, er habe gesagt: „Man könnte, die einzelnen Züge der Vision durchgehend, fragen, weshalb die Engel, als beflügelte Wesen betrachtet, einer Leiter bedurft hätten?“ Es gebe eine Anekdote aus der Zeit Voltaires, „wo ein mauvais plaisant einen Abbé, um ihn in Verlegenheit zu setzen, fragte, dieses sey wohl die Zeit gewesen, wo die Engel die Federn gewechselt, von dem gewandten Abbé aber die Antwort erhielt: o nein, sie hätten wahrscheinlich einen Religionsspötter in die Hölle gebracht und sie dabey verbrannt“. Gesenius selber verweist demgegenüber auf den Umstand, dass die Engel in der Bibel fast nie beflügelt geschildert werden; nur um dieses „schriftgemäßen“ Hinweises willen habe er jene Anekdote erzählt64. Auf solche Weise ließen sich die meisten Vorwürfe als törichtes oder bösartiges Mißverständnis erweisen oder hinstellen, zumal der Denunziant ein missgünstiger Kollege war. Nicht nur die eigene Fakultät stellte sich hinter Gesenius, sondern auch namhafte Kollegen unverdächtiger Richtung, darunter August Neander (1789–1850), der in Göttingen sein Schüler im Hebräischen gewesen war, und viele Pfarrer. Die Sache verlief im Sande, 1830 und auch bei einer ebenfalls von der Evangelischen Kirchenzeitung eingeleiteten Reprise 184265. Zum Ketzer taugte Gesenius nicht, so sehr er auch in einem beiderseits stark empfundenen Gegensatz zum hallischen Pietismus und dessen Haupt Tholuck stand und so wenig er an theologischer Substanz zu bieten hatte – ein Bild davon kann man sich anhand der Vorrede machen, die er 1829 zu C. P. W. Grambergs „Kritischer Geschichte der Religionsideen des alten Testaments“ beigesteuert hat. Was ihm dort bei allgemeiner Zustimmung fehlt, ist außer historischen Einzelheiten „das Historisch-comparative oder die so fruchtbare Erläuterung aus der Analogie des übrigen, besonders morgenländischen Alterthums, und was damit zusammenhängt, die Zurückführung der als vorhanden nachgewiesenen historischen und religiösen Erscheinungen auf allgemeine Ideen und Vorstellungen der Völker überhaupt“66. Gesenius erläutert das am Beispiel der heiligen Orte, wobei er mit den alttestamentlichen Höhen die Hünengräber in Thüringen und Sachsen vergleicht und außerdem auf chinesische und amerikanische Analogien hin63  Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung 1830, 121. Die Anspielung geht auf G. A. Bürgers „Lenore“. 64  Ebd. 122f. 65  Vgl. Zobel (Anm. 1) 262. Materialreich zu den Vorgängen von 1830 die (die „rationalistische“ Seite vertretende) Artikelserie in der Allg. Literatur-Zeitung 1830, I, 273–331 (Heft 115–22). 66  A.a.O. XIIIf.

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weist67. Es ist offenkundig, dass er hier einem fundamentalen Forschungsinteresse seines (und noch unseres) Jahrhunderts folgte, ebenso aber auch, dass auf seiten Hengstenbergs und seiner Gesinnungsgenossen dafür kein Verständnis möglich war. Bei alledem legte Gesenius Wert darauf, weder äußerlich noch innerlich einer fremden Fakultät zugerechnet zu werden; mit Vorliebe setzte er in Unterschriften hinter seinen Namen den Titel „Professor der Theologie“. So wie es Politiker gibt, die ihre Kraft in Wahlkämpfen auffrischen, pflegte Gesenius die Vorlesungen als Erholung zu bezeichnen68. Sie waren fast seine einzige. Er arbeitete ohne viel Rücksicht auf seine Gesundheit. Eine schwere Krankheit anfangs der dreißiger Jahre, die er überstand, kostete drei seiner Kinder das Leben69. Seit 1836 war er magenleidend, am 23. Oktober 1842 starb er nach einer schweren letzten Zeit. „Wenige Tage vor dem Tode hat er sein Bett in seine Bibliothek tragen lassen: unter seinen Büchern ist er gestorben.“70 Zu seinem mit Efeu bewachsenen Grab auf dem Stadtgottesacker gehen noch heute die Hallenser Theologiestudenten am Vorabend des Hebraicums, um, wie sie sagen, „seinen Segen zu erflehen“.

67  Ebd. XIXf. 68  Haym a.a.O. 26. 69  Vgl. Thesaurus I/2 (1835) Vorw. 70  Haym a.a.O.

Friedrich Bleek 1793–1859

„So wie er ist, scheint mir der alte Bleek ganz geeignet, den theologischen Studenten, wie er von der Schule zu kommen pflegt, allmählich in die Geheimnisse der Alttestamentlichen Wissenschaft einzuweihen, zumal da auch die vorgeschrittene Kritik noch immer bei den Meinungen von Bleek und Genossen einsetzt, um dagegen zu polemisiren.“ Mit diesen Worten rechtfertigte Julius Wellhausen 1886 den wiederum größtenteils unveränderten Neudruck von Friedrich Bleeks „Einleitung in das Alte Testament“1, in dem er freilich auch dezent „für das ultra Bleekium sapere“ gesorgt hatte. Der „alte Bleek“ repräsentiert aber nicht nur die alttestamentliche (und überhaupt die biblische) Exegese um die Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern ebenso sehr einen gemeintheologischen Geist, wie er damals an manchen Orten und nicht zuletzt in seiner eigenen, der Bonner Fakultät zu Hause war. Wenn der Bonner Universitätskurator 1841 nicht ohne karikierende Übertreibung nach Berlin berichtete, die Fakultät habe sich „gegen alle Bewegungen der neuesten theologischen Wissenschaft abgeschlossen“ und „gewissermaßen die Mitte zwischen dem supranaturalistischen und dem rationalistischen Standpunkt eingenommen“, sie hüte das Feuer der Vesta, ohne zu bedenken, „daß eine gleichmäßige, vielleicht bloß pflichtmäßige Wachsamkeit allein nicht hinreicht“, womit das „gewissenhafte und ernstliche wissenschaftliche Leben dieser Männer“ in keiner Weise in Zweifel gezogen werden sollte2, dann war zweifellos auch Bleek im Blick. Aber er hatte in diesem Ensemble seinen sehr bestimmten Platz. „Wollte“, so hat der führende Kopf der Fakultät, Carl Immanuel Nitzsch (1787–1868), sich ausgedrückt, „die Republik der Kritiker, um ihren Besitz an Säulen übersichtlicher zu machen, charakterisirende Lobebeinamen austheilen, so würde Bleek der Zuverlässige heißen. Er führt nicht weiter, und will nicht weiter führen als die wirkliche Wissenschaft reicht. Die den kühnen Helden so verhaßte Kategorie des Wahrscheinlichen behauptet in vielen Graden, neben den verneinenden oder 1  5. Aufl. (bzw. 61893) V. 2  Vgl. O. Ritschl, Die evangelisch-theologische Fakultät zu Bonn in dem ersten Jahrhundert ihrer Geschichte (1919) 32.

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bejahenden Gewißheiten, welche ihm nicht fehlen, eine weite Haushaltung. Bei der ihm eigenen Gabe, scharf zu beobachten und Data zu finden, die gemeinhin der Untersuchung entgangen sind, bei der ruhigen Zusammenrechnung derselben und der vollständigen Instruction der Frage, die er inne hält, hat Bleek, wenn er einen Ertrag ziehet, weil ihn Gewissenhaftigkeit und wissenschaftliche Unbestechlichkeit davor schützen, keine Angst und Sorge darüber, was werden die Leute dazu sagen, – etwa auch die, mit welchen er in religiöser und kirchlicher, naher und froher Gemeinschaft steht. Die positive Kritik mitzuvollziehen, neuerdings verloren gegebene Punkte kirchlicher Überlieferung herzustellen, fromme Voraussetzungen, wenn es möglich ist, wissenschaftlich zu begründen, macht ihm große Freude. Andererseits stand er in großer Zuversicht zu aller gewissenhaften und redlich kämpfenden Wissenschaft, daß sie der evangelischen Gemeinde nicht zur Entgründung, vielmehr zu immer vollerer Verherrlichung gereichen müsse.“3 Als Charakter, als Gelehrter und als Lehrer ein Mann von hohen Graden, als produktiver Forscher aber etwas zu sehr gegen den Irrtum gefeit, der in größerem oder kleinerem Umfang fast immer ein Preis für den Fortschritt der Wissenschaft zu sein pflegt – so war Bleek eine Gestalt, deren Wirkung in der Nähe die in der Ferne noch stärker übertraf, als das gewöhnlich schon der Fall ist. Bleek war Holsteiner. Er wurde am 4. Juli 1793 in Ahrensbök, einem kleinen Ort zwischen Lübeck und Eutin, geboren. Sein Vater war ursprünglich Notar gewesen, hatte diesen Beruf aber aufgegeben und ein kleines kaufmännisches Geschäft eröffnet. Friedrich, das älteste von sechs Geschwistern, war zuerst bestimmt, die väterliche Handlung fortzuführen. Er besuchte die Elementarschule und lernte von 1804 an privatim Latein, bald auch Griechisch und kam 1809 in die Prima des Lübecker Gymnasiums, wo er auf eigenen Wunsch nicht nur bis 1811, sondern bis 1812 blieb. Er lernte hier auch Hebräisch und kam, unter dem Einfluss eines tüchtigen und frommen Schuldirektors mit Namen Mosche, endgültig von dem einige Jahre gehegten Plan ab, Jura zu studieren, und fasste stattdessen die alten Sprachen ins Auge. Von der Schule verabschiedete er sich mit einer Schrift „De Taciti in Agricolae vita dicendi genere“ und bezog Ostern 1812 die Universität Kiel, nunmehr schwankend, ob er Theologie oder Philologie studieren sollte; an der Theologie interessierte ihn dabei nur die philologische Seite. Mosche hatte ihn zu einem supranaturalistischen Theologen namens Reinhard geschickt, dessen Vorlesungen bei Bleek ungewollt den Erfolg hatten, dass er sein Heil ganz und gar im Rationalismus suchte und mit Eifer Philologie, Mathematik und Philosophie hörte. Vom christlichen Glauben bekennt er4 damals wenig gehalten zu haben. Im Sommer 1814 unterbrach er sein Studium, um eine Weile bei seinen Eltern zu leben, und ging dann zum Win3  Bei Bleek, Einleitung in das Alte Testament (1860) VIf. 4  In seiner (von seinem Sohn vervollständigten) Vita im Album Professorum der Bonner Fakultät (hg.v. H. Faulenbach, 1995, 45–52), auf der die obige Darstellung von Bleeks Leben überhaupt fußt; vgl. außerdem A. Kamphausen, AKZ 38 (1859) 523–35 und RE3 III, 254–57.

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tersemester nach Berlin. Hier tat sich ihm in der Theologie eine neue Welt auf. Er hörte sogleich mit Begeisterung de Wette und Neander (1789–1850) und war nach anfänglichem Zögern bald auch für Schleiermacher (1768–1834) gewonnen. Alle drei hat er zeitlebens als seine Lehrer betrachtet und mit großer Liebe verehrt. Sie gewöhnten ihn an jene Theologie zwischen Rationalismus und Supranaturalismus und bildeten ihn in der historisch-kritischen Arbeit an beiden Testamenten aus, der sein Leben gehören sollte. Bleek studierte, auch finanziell von den Lehrern unterstützt, drei Jahre in Berlin und verließ es 1817 schweren Herzens, um ein Jahr Hauslehrer in Lübeck zu sein. In dieser Zeit machte er in Schleswig und Glückstadt die beiden theologischen Examina. Mitten in der Vorbereitung auf das Pfarramt erreichte ihn die Aufforderung, an der Berliner Theologischen Fakultät Repetent zu werden – ein Amt, das es bis dahin dort nicht gegeben hatte und das er nun als erster zusammen mit seinem Landsmann Hermann Olshausen (1796–1839) versah. Er verkehrte regelmäßig mit Schleiermacher und Neander – de Wette musste Berlin 1819 verlassen – und begann mit der Lehrtätigkeit, zunächst über hebräische Grammatik, dann über Exegetica im Alten und im Neuen Testament. Die Fakultät veranlasste ihn nicht nur zur Promotion (Januar 1821 in Breslau), sondern gleich danach auch zur Habilitation. Die noch 1821 vollzogene Ernennung zum außerordentlichen Professor wurde ihm zwei Jahre lang nicht offiziell zur Kenntnis gebracht, weil das Ministerium Altenstein ihn wegen seiner Beziehung zu de Wette und auch der zu Schleiermacher mit Misstrauen betrachtete und ihn namentlich aufgrund der Verwechslung mit einem gewissen Bleck für einen geheimen Burschenschaftler hielt. Immerhin bezog er von 1821 an ein Professorengehalt, und Ende 1823 wurde ihm auch die Ernennung ausgehändigt. Er heiratete daraufhin die Rheinländerin Auguste Sethe. Aus dieser Ehe gingen neun Kinder hervor. Rufe nach Greifswald (1826) und Königsberg (1828) lehnte er unter Berufung auf den Gesundheitszustand seiner Frau ab, aber 1829 ging er mit Freuden als Nachfolger Lückes nach Bonn. Hier wurde er ganz heimisch. Er lehnte einen Ruf nach Erlangen (1832) ohne Bedenken ab und blieb dreißig Jahre lang Mitglied der Bonner Fakultät. 1843 wurde er zum Konsistorialrat ernannt, welcher Titel ihm aber, wie Kamphausen sich erinnert, „stets geringer galt, als der des Professors“5. Seine wichtigste Nebentätigkeit war die in den theologischen Examina in Münster, die er von 1839 an zweimal im Jahr versah. Kamphausen berichtet: „Durch diese ziemlich zeitraubende Thätigkeit leistete Bleek der westfälischen Kirche die wesentlichsten Dienste; gründliche Gelehrsamkeit, ausgezeichnete katechetische Begabung und ein kindlich frommer Sinn machten den wohlwollenden und unparteiischen Mann zum beßten und angenehmsten Examinator, den man sich wünschen konnte. Wie sehr er auch auf wissenschaftliche Tüchtigkeit der Candidaten sah, so wußte er doch recht wohl, daß bloße Kenntnisse und Fertigkei5 RE3 III, 255.

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ten noch lange nicht zum Dienste des Herrn befähigen […]. Bleek gehörte auch nicht zu den Professoren, bei denen man nur dann ein gutes Examen machen kann, wenn man bei ihnen Vorlesungen gehört hat; er sah es sogar ungern, als einmal Westfalen in ihrem letzten Semester von Halle nach Bonn kamen und noch bei ihm ein Colleg annahmen.“6 Im übrigen tat er sich in den akademischen Geschäften mehr hervor als in den kirchlichen, wo außer gelegentlicher Teilnahme als Fakultätsvertreter an der Rheinischen Provinzialsynode und durch Kamphausen bezeugter treuer Kirchlichkeit nicht viel zu berichten ist; nach seinem Examen 1818 hat er nicht mehr gepredigt. Er war 1843/44 Rektor und mehrfach Dekan; als solcher verfasste er zwei Fakultätsgutachten, 1836 eins über die Entbindung der evangelischen Geistlichen von der Verpflichtung, die neue Ehe geschiedener Eheleute kirchlich einzusegnen, und 1841 eins über Bruno Bauer. Als Bleek am 27. Februar 1859 an einem Schlaganfall ohne vorherige Krankheit starb, hatte er noch am Tage zuvor, einem Sonnabend, Vorlesung gehalten. Er wurde damit sozusagen unmittelbar aus der Tätigkeit abberufen, die ihm die liebste war, und auf die er den bei weitem größten Teil seiner Kraft verwendete. Kamphausen hat die Vorlesungen im Nachlass zusammengestellt; das Verzeichnis sei hier als Dokument für den damaligen exegetischen Lehrbetrieb wiedergegeben: „1) Einleitung in’s Alte Testament, die er 23 Mal las, zuletzt in 86 Stunden. 2) Einleitung in’s Neue Testament, 24 Mal gelesen, zuletzt in 93 Stunden. 3) Genesis, 16 Mal gelesen, zuletzt in 72 Stunden. 4) Jesaias (ausgewählte Stücke), 23 Mal gelesen, zuletzt in 88 Stunden. 5) Die kleinen Propheten. 6) Die Psalmen (ausgewählte), 14 Mal gelesen, zuletzt in 66 Stunden. 7) Hiob, 8 Mal gelesen, zuletzt in 68 Stunden. 8) Daniel. 9) Die Synoptiker, 19 Mal gelesen, zuletzt in 141 Stunden. 10) Evangelium Johannis. 11) Römerbrief, 8 Mal gelesen, zuletzt in 71 Stunden. 12) Die Korintherbriefe. 13) Galaterbrief, 11 Mal gelesen, zuletzt in 32 Stunden. 14) Über den Philipperbrief las Bleek 5 Mal in lateinischer und öfters in deutscher Sprache. 15) Briefe an die Kolosser, Epheser und Philemon, 6 Mal gelesen, zuletzt in 32 Stunden. 16) Die katholischen Briefe. 17) Hebräerbrief. 13 Mal gelesen. 18) Die Briefe an die Thessalonicher, 6 Mal gelesen. 19) Apokalypse, 7 Mal gelesen. 20) Apostelgeschichte, 9 Mal gelesen, zuletzt in 61 Stunden. 21) Über die hebräische Sprache und Schrift, 4 Mal gelesen, zuletzt in 19 Stunden. 22) Encyklopädie und Methodologie der Theologie, 1 Mal gelesen im Wintersemester 1831/32, doch nicht vollendet.“7 Der Schiffbruch mit der zuletzt aufgeführten Vorlesung dürfte bezeichnend sein, ebenso der Umstand, dass die Biblische Theologie sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments gänzlich fehlt; ferner vermisst man die Behandlung der israelitischen und der urchristlichen Geschichte in irgendeiner Form. Bleek war ganz offensichtlich ein reiner Exeget und Isagogiker, und hier hat 6  AKZ 38, 528. 7  AKZ 38, 530 Anm.

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er, von dem Schleiermacher sagte, das Charisma der Einleitung in die heiligen Schriften sei ihm verliehen8, seinen Studenten viel geben können. Seine Vorlesungen waren bis ins letzte wörtlich ausgearbeitet und konnten nach seinem Tode großenteils so, wie sie waren, gedruckt werden, und das ist ja auch mit mehreren geschehen. Dass dadurch die Wissenschaft wesentlich vorangetrieben worden wäre, ist kaum jemandes Meinung, und es war auch nicht die Absicht bei der Veröffentlichung. „Das Ganze aber wird“, bemerkt der prominente Exeget unter den ersten Herausgebern, Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910), „als ein tüchtiges, redliches Stück Arbeit ohne falschen Prunk, gleichmäßig behandelt in allen seinen Theilen, durchdrungen von christlichem Glaubenssinn, wie von klarem, nüchternem Urtheil, sich rasch Eingang erwerben unter Studierenden und Geistlichen“9. Bleeks Vorlesungen sind ausgezeichnet orientierende und immer zuverlässige Leitfäden, die man noch heute mit Nutzen konsultieren kann, zumal wenn man sich für die Geschichte der Exegese vor Bleek interessiert. Immerhin ließ sich der größere de Wette bei der Abfassung seines Kommentars zur Offenbarung Johannis Bleeks Kollegheft über diesen Gegenstand geben10. Und die Zahl der Auflagen, die die beiden Einleitungswerke erlebt haben, das eine dreimal von Wellhausen herausgegeben, spricht für sich. Der Wert dieser Bücher besteht freilich zu einem großen Teil gerade darin, dass Bleek sich nicht mit eigenen Thesen aufdrängt, sondern einen sehr abgewogenen Querschnitt durch die exegetische Arbeit seiner Zeit gibt. Was seinen Anteil an der Forschung angeht, so lässt sich nicht von der Hand weisen, was ein konservativer Gegner im Blick auf die Einleitung in das Alte Testament geäußert hat: „Wir können unser schließliches Urtheil nur dahin abgeben, daß Alles, was Bleek selbständig erforscht hat, von ihm selber längst schon in besonderen Abhandlungen veröffentlicht worden ist, alles Übrige in diesem Opus posthumum aber nur die bekannten Resultate der rationalistischen Kritik vom A. T. wiedergibt, die ungleich scharfsinniger, genialer, gründlicher, geschmackvoller und vollständiger in de Wette’s Lehrbuch der alttestamentlichen Einleitung entwickelt und zusammengestellt zu finden sind.“11 Die „besonderen Abhandlungen“ sind meist insofern Gelegenheitsschriften, als Bleek eine Neuerscheinung zum Anlass nimmt, sich kritisch mit dort oder allgemein vertretenen Auffassungen auseinanderzusetzen und bei dieser Gelegenheit seine eigene Meinung zu entwickeln. Darum wiederholen sich auch die Gegenstände; Bleek nimmt gern nach einiger Zeit seine Themen wieder auf, wenn jemand sich neuerdings dazu geäußert hat. So brauchen nicht alle seine Äußerungen besprochen zu werden; es genügt, sich einige von ihnen vor Augen zu führen. 8  Vgl. RE3 III, 256. 9  Bei Bleek, Synoptische Erklärung der drei ersten Evangelien I (1862) V. 10  Vgl. W.M.L. de Wette, Kurze Erklärung der Offenbarung Johannis (1848) Vf. 11  C.F. Keil, vgl. Bleek, Einleitung in das Alte Testament 3(1870) 234.

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Nicht aus Zufall stehen die frühesten in der „Theologischen Zeitschrift“, die Schleiermacher, de Wette und Lücke gemeinsam herausgaben. Die erste war aus dem Seminar Neanders hervorgegangen. Neander „hatte sich durch eignes Lesen der sogenannten Sibyllinischen Orakel überzeugt, daß darin manches aus früherer Zeit”, als man damals annahm, „und zwar von Juden herrühre“. Die Frage wurde gerade durch zwei Schriften des Kopenhagener Professors Birger Thorlacius (1775–1829) neu aufgeworfen, und das veranlasste Neander 1815, dem jungen Bleek ihre Bearbeitung anzuvertrauen. Bleeks Ergebnisse gefielen Neander, und so forderte er Bleek auf, sie für den Druck herzurichten. Daraus wurde bei Bleeks Arbeitsweise erst nach längerer Zeit etwas. Der 1819/20 erschienene Aufsatz, fast 200 Seiten lang12, löst das Problem auf der von Neander vorgezeichneten Bahn, die sich im Groben bis heute als die richtige erwiesen hat. Bleek setzt sich ausführlich mit den älteren kritischen Meinungen auseinander, die meist eine Entstehung der Sibyllinischen Orakel in christlicher Zeit und durch christliche Verfasser annehmen; Kronzeuge dafür ist ihm Thorlacius. Seine eigene Analyse geht Buch für Buch vor und sucht jedes Stück einzeln zu bestimmen, mit dem Ergebnis, daß die Sammlungen einigermaßen vollständig das den Kirchenvätern bekannte Gut enthalten und dass die Orakel „in einem weit größern Zeitabstande von einander geschrieben sind, als man gemeinlich glaubt. Auf der einen Seite finden wir solche, die fast 200 Jahr v.Chr., auf der andern solche, die fast 500 Jahr nach Chr. verfaßt sind.“13 Also ein langsamer und komplizierter Wachstumsprozess, dessen Gesetze Bleek zwar noch nicht mit später modernen traditionsgeschichtlichen Mitteln erkennen kann, dessen Hauptstadien er aber, so gut es geht, datiert. Schon in dieser Erstlingsarbeit formuliert er seine Maxime und folgt ihr: „Bei der Untersuchung […] habe ich mir alle Mühe gegeben, in Beziehung auf die Resultate das bloß Wahrscheinliche von dem, was mir auf einen höheren Grad von Gewißheit Anspruch machen zu können schien, zu sondern.“14 Thorlacius hatte den Sibyllinen einen hohen ästhetischen Wert beigemessen. Bleek stimmt ihm darin, obwohl er das Vorhandensein einzelner schöner Stellen anerkennt, nicht zu; er sieht den Wert dieser Schriften anderswo, vor allem in ihrem prophetischen Charakter: „[…] bei weitem die meisten Stücke treten offenbar mit dem Anspruch auf, für Weissagungen oder Aussprüche der alten Sibylle gehalten zu werden. Die Absicht der Verfasser dabei ist, dem, worauf es ihnen eigentlich ankommt, dadurch Glauben zu verschaffen. Darum stellen sie die Vergangenheit als zukünftig geweissagt dar, damit man nicht an der Wahrheit dessen, was sie über das wirklich Zukünftige aussagen, oder gewisser Ansichten, die sie über religiöse Gegenstände vortragen, zweifle.“15 In dieser Beziehung haben die Sibyllinen eine enge biblische Parallele im Buch Daniel, und 12  Theol. Zeitschr. 1 (1819) 120–246; 2 (1820) 172–239. 13  A.a.O. 2, 231. 14  A.a.O. 1, 122. 15  Ebd. 157.

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nicht zuletzt darum interessieren sie Bleek. Er verwendet die Parallele nun auch zur Erklärung des biblischen Pendants. Die Arbeit „Über Verfasser und Zweck des Buches Daniel“ mit dem bezeichnenden Untertitel „Revision der in neuerer Zeit darüber geführten Untersuchungen“16 ist ebenfalls aus dem Berliner Theologischen Seminar hervorgegangen und dort wohl von de Wette angeregt, mit dessen Auffassungen sie im Ganzen übereinstimmt; Bleek hat sie übrigens auch als Prüfungsarbeit für sein kirchliches Examen in Glückstadt verwendet. Die danielische Authentie des Buches wurde unter den wirklich kritischen Exegeten damals nicht mehr ernsthaft diskutiert; immerhin verwandten sie noch viel Kraft und Raum an ihre Widerlegung, so auch Bleek. Die eigentlichen Probleme lagen aber schon in den Fragen der Komposition und der Absicht des Buches. Die Einheit war namentlich von Leonhard Bertholdt (1774–1822) bestritten worden, und dieser hatte außerdem auf den Spuren Eichhorns die These vertreten, die Prophetie sei einfach eine Form der Geschichtsdarstellung gewesen: die Ereignisse der Vergangenheit seien als vaticinia ex eventu Personen der Vorzeit in den Mund gelegt, womit kein anderer als ein historiographischer Zweck verfolgt sei. Hiergegen tritt Bleek entschieden auf die Seite von de Wette und Gesenius: es handelt sich tatsächlich um Prophetie. Die danielischen Weissagungen sprechen zur Zeit des Antiochus Epiphanes „die zuversichtliche Erwartung des Verfassers und gewiß aller eifrigen und standhaften Verehrer Jehovas aus, nicht im Allgemeinen, daß die, welche sich wider Jehova auflehnen und sein Volk bedrücken, am Ende doch unterliegen, dagegen die ihm treu Anhangenden den Sieg davon tragen würden, sondern bestimmt, daß eben damals, wo ein heidnischer König alle List und Gewalt gebrauchte die Juden von ihrer Religion und ihrem Gottesdienste abzuziehen, und sie, wie alle ihm unterworfenen Völker, unter griechischen Kultus und griechische Sitten zu vereinigen, die von den Propheten wiederholt verheißene und vom Volke längst, und bei großer Bedrängniß eben am sehnlichsten erwartete Zeit der Erlösung des Volkes nahe bevorstehe, wo, nach Sühnung der Sünden des Volkes, dessen Feinde und Bedrücker mit ihren Anschlägen unterliegen und ein von Gott gesandter Erretter unter ihnen ein allverbreitetes und ewig dauerndes Reich errichten werde, zu dessen Theilnahme auch die früher entschlafenen Gläubigen auferstehen würden. Antiochus Epiphanes, der sich als einen eifrigeren Feind des Dienstes Jehovah’s zeigte als irgend einer, unter dessen Drucke die Juden schon geschmachtet hatten, ist hier als unmittelbar dem Eintritte des Messianischen Reiches vorangehend geschildert, ganz auf ähnliche Weise wie später in der christlichen Kirche der Antichrist gezeichnet wird, wozu auch in der Apokalypse schon die Farben aus dem Daniel genommen sind. Daß aber die Verkündigung von dem Eintritte des Messianischen Reiches unmittelbar an den Tod des Antiochus angeknüpft ist, ist ein Beweis daß diese Weissagungen entweder noch vor dem wirklich erfolgten Tode desselben oder wenigstens ganz 16  Theol. Zeitschr. 3 (1822) 171–294.

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unmittelbar darauf müssen verfaßt sein; denn einige Zeit später hätte diese Hoffnung in dieser bestimmten Gestaltung nicht mehr gehegt und ausgesprochen werden können.“17 Die Prophetie ist einem früheren Propheten in den Mund gelegt, „weil zu der Zeit das allgemeine und gewiß richtige Gefühl herrschte, daß der Geist der Weissagung schon lange von Israel gewichen sei“. Die Weissagungen auf bereits Eingetretenes, also die vaticinia ex eventu, sind dazu da, den Verheißungen „auch in Beziehung auf das, was wirklich noch nicht erfolgt war, Glauben zu verschaffen“18. Ganz ebenso hat Bleek das dritte Buch der Sibyllinischen Orakel verstanden, das für ihn ebenfalls aus der Zeit von 170 bis 168 stammt. „So wenig […] hierbei die Absicht des Verfassers gewesen ist, dem Leser die Geschichte der Vorzeit durch das poetische und prophetische Gewand annehmlicher zu machen, oder über die Zeiten und Ereignisse, von denen hier die Rede ist, allgemeine moralische Betrachtungen anzustellen, eben so wenig ist eins von diesen in der Danielischen Weissagung der Fall.“19 Im Blick auf deren Komposition stellt sich Bleek in noch stärkeren Gegensatz zu Bertholdt, als de Wette und Gesenius es tun. Er fasst die Einheit des Buches so scharf, dass er sogar die Übernahme älterer Sagen in den Kapiteln 1 bis 6 bestreitet; auch in den dortigen Erzählungen, mögen sie auch übernommenen Stoff enthalten und je für sich abgefasst und in sich geschlossen sein, steht Antiochus Epiphanes im Hintergrund20. Die dritte der Untersuchungen in der „Theologischen Zeitschrift“, die über die Offenbarung Johannis21, am prophetischen Charakter des Inhalts ebenso interessiert wie an der Komposition, steht natürlich mit den ersten beiden in Zusammenhang; man kann auch an eine Preisarbeit über Mt 24 und 25 denken, die Bleek in seiner ersten Berliner Zeit verfasst hat und die wir nicht besitzen. Schon früh wagte sich Bleek auch auf das offene Meer der Pentateuchkritik. Hier waren seit de Wettes „Beiträgen zur Einleitung in das Alte Testament“ von 1806 und 1807 die Fragen der Komposition und Geschichte ganz offen. De Wette hatte den Pentateuch in eine große Anzahl von Einzelstücken zerlegt, deren historischer Wert sich meist nicht bestimmen ließ; im allgemeinen geben sie in den Augen de Wettes die religiös-mythische Begründung von Zuständen im späteren Israel und sind entstanden, um dieser Bestimmung zu dienen. Mit dieser Ansicht war de Wette auf leidenschaftlichen Widerspruch gestoßen; Bleek schloss sich diesem Widerspruch zu seinem Teil an, wobei er freilich anders als die meisten de Wettes Methode anerkannte und seine Aufstellungen eher modifizierte als grundsätzlich bestritt. In „Einige aphoristische Beiträge 17  Ebd. 251f. 18  Ebd. 252f. 19  Ebd. 254. 20  Ebd. 255–87. 21  Theol. Zeitschr. 2 (1820) 240–315.

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zu den Untersuchungen über den Pentateuch“22 wendet er sich gegen de Wettes und anderer Angriff auf Alter und Glaubwürdigkeit des Pentateuchs, indem er zunächst „in dieser Hinsicht auch von den Vertheidigern des Mosaischen Ursprungs des Pentateuchs nicht gehörig beachtete Abschnitte“ zusammenstellt, „die einen solchen Charakter an sich tragen, daß es mir scheint mit ziemlicher Sicherheit behaupten zu können, sie müssen von einem Augenzeugen der Begebenheiten, von Mose oder einem seiner Zeitgenossen, aufgezeichnet seyn“23. Es handelt sich abgesehen vom Dekalog um die drei Lieder oder Liedfragmente in Num 21 und einige Gesetze im Buch Leviticus. Bleek wendet sich dagegen, es als ein Kriterium für nachmosaische Abfassung anzusehen, „daß ein Gesetz sich auf den Besitz des gelobten Landes und das Wohnen darin bezieht, da dieses ja das sichere Ziel war, das dem Mose wie den Israeliten von ihrem Auszuge aus Aegypten an vor Augen stand, er daher auch leicht ihnen in Beziehung darauf zum Voraus Gesetze geben konnte“24. In einem zweiten Abschnitt stellt Bleek gegen Gesenius und de Wette die These auf: „Es findet sich im Pentateuch nichts, was uns nöthigte, dessen letzte Redaktion und Abschließung erst in die Zeit des Babylonischen Exils zu setzen.“25 Die kontroversen Stellen finden sich im Deuteronomium, im Segen des Mose und den Sprüchen Bileams; Bleek setzt sie alle spätestens in das assyrische Zeitalter. Als Gesamtbild von der Entstehung des Pentateuchs ergibt sich ihm: ein erster Schriftsteller hat unter Verwendung älterer Quellen „nicht vor der Regierung des Saul’s […] und nicht nach der des Salomo“ den Grundbestand der Bücher Genesis bis Josua (des Hexateuchs also) geschrieben. Sein Buch wurde vom Verfasser des Deuteronomiums ergänzt (nicht nur durch das Deuteronomium) und redigiert. Das so entstandene Gesamtwerk ist das Buch, das zur Zeit des Josia gefunden wurde26. De Wette ging teilweise auf Bleeks Vorschläge ein27. Er erklärte sich damit einverstanden, dass der Pentateuch schon vor dem babylonischen Exil abgeschlossen gewesen sei, ließ sich auch von der Mosaität der Lieder in Num 21 überzeugen (wobei er freilich mündliche Überlieferung für ebenso möglich hielt wie schriftliche), nicht aber von der der Gesetze – abgesehen von der für de Wette immer selbstverständlichen Einschränkung, dass die Möglichkeit der Mosaität einzelner Gesetze nicht zu bestreiten und nur der positive Beweis unmöglich sei. Bleek antwortete darauf in den „Beiträgen zu den Forschungen über den Pentateuch“28 sozusagen mit einer Flucht nach vorn. De Wette hatte es als eine Inkonsequenz hingestellt, dass Bleek das Gesetz in Lev 17, das die Darbringung aller Opfer vor dem Versammlungszelt befiehlt, wegen der darin 22  Biblisch-exegetisches Repertorium (Rosenmüller) 1 (1822) 1–79. 23  Ebd. 2. 24  Ebd. 13f. 25  Ebd. 14. 26  Ebd. 44–62. 27  W.M.L. de Wette, Einleitung in das Alte Testament, §149 von der 3. Aufl. (1829) an. 28  ThStKr 4 (1831) 488–524.

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vorgesehenen Kultuseinheit nicht auch für mosaisch hielt. Bleek folgt diesem Wink und erklärt nunmehr, auch dieses Gesetz sei „in der That auf eine Weise gestaltet, wie es sich gar nicht denken ließe, wenn dasselbe erst in späterer Zeit concipirt wäre oder gar seinem ganzen Inhalte nach einer viel späteren Zeit als der mosaischen angehörte“29. Eine Beziehung auf die deuteronomische Zentralisierung findet Bleek nicht, sondern nur, scheinbar ganz evident, den Zustand der Wüstenwanderung; Lev 17 gilt in der Wüste, Dtn 12 dann, wie es ja auch der Wortlaut sagt, im Land. Von da aus erscheint die ganze Gesetzgebung, die wir heute die priesterschriftliche nennen würden, Bleek als mosaisch, einschließlich der Zählungen in Num 1; 2 und 4. „Es gilt dieses namentlich auch von dem Theile der Gesetzgebung, welcher die örtliche Einheit des Opferdienstes bezweckt, von dem ich es früher selbst in Abrede gestellt habe, daß er ursprünglich mosaisch sey. Wenn daher auch einzelne darauf sich beziehende Vorschriften in der Fassung, worin sie im Pentateuche uns vorliegen, einer spätern Zeit angehören, so betrifft das nur mehr die Form derselben, als ihren Inhalt.“30 Dies gilt vom Deuteronomium, dessen Datierung in das 7. Jahrhundert durch de Wette Bleek also auch, wenngleich nicht strikt für seine jetzige Form, aufgibt. Und weiter folgert er: „Ein anderes, was sich daraus unmittelbar ergibt, ist dieses, daß wir bei diesen Büchern überhaupt auf geschichtlichem Boden stehen. In jenen Gesetzen werden deutlich eben solche Verhältnisse des hebräischen Volkes vorausgesetzt, als welche der geschichtliche Theil der Bücher, worin sie sich finden, uns vorführt; und so dient denn ihr Inhalt dazu, den geschichtlichen Charakter dieser Bücher im allgemeinen zu bezeugen und zu bestätigen.“31 Wenn das die Meinung eines der prominentesten Schüler de Wettes ist, versteht man, dass es eines Wellhausen bedurfte, um den Einsichten des jungen de Wette zum Siege zu verhelfen. Der zuletzt behandelte Aufsatz gehört schon in die Reihe der Parerga, die in Bleeks mittleren Jahren seine Arbeit an den beiden von ihm selbst herausgegebenen Büchern, dem Werk über den Hebräerbrief und den „Beiträgen zur Evangelien-Kritik“ begleiten und in denen er meist den jeweiligen Stand von Einleitungsfragen erörtert. Hervorgehoben sei der Aufsatz über die Gabe des „Zungenredens“ in der ersten christlichen Kirche32. Bleek bestimmt die γλῶσσαι weder als Zungen noch als Sprache, sondern als „ungewöhnliche, altertümliche, poetische oder provinzielle Ausdrücke“, womit er sich zwei ausführliche Erwiderungen seines einstigen Mitrepetenten Olshausen zuzog33. Von Bleeks „Hebräerbrief“ hat de Wette mit „Bewunderung“ gesagt und damit immerhin die ausdrückliche Zustimmung von Franz Delitzsch gefun29  Ebd. 492. 30  Ebd. 501. 31  Ebd. 502–05. 32  ThStKr 2 (1829) 3–79. 33  ThStKr 2 (1829) 538–49; darauf Bleek, ThStKr 3 (1830) 45–64 und wiederum Olshausen ebd. 64–66.

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den34, er sei „gleich ausgezeichnet […] durch umfassende Gelehrsamkeit und gründlichen, unermüdlichen Fleiß, wie durch reine klare Wahrheitsliebe und gediegene theologische Gesinnung“, ja, er nehme „unter den exegetischen Arbeiten unseres Zeitalters eine der ersten Stellen wo nicht die erste ein“35. Bleek brauchte fast zwei Jahrzehnte, um ihn abzufassen; als der dritte Band erschien, war der Mann, dem der erste gewidmet war, Schleiermacher, längst gestorben. Der erste Band (1828) ist „Versuch einer vollständigen Einleitung in den Brief an die Hebräer“ betitelt, der zweite und der dritte (1836/40) enthalten Übersetzung und Kommentar. Eine umfassendere Bestandsaufnahme des Materials und der gelehrten Tradition, eine sorgfältigere Diskussion der Möglichkeiten, wie sie damals vorhanden waren, lässt sich kaum denken. So verwendet Bleek fast zweihundert Seiten auf die Darstellung der Ansichten über die Autorschaft des Briefes und dann noch einmal mehr als einhundertfünfzig auf die seiner eigenen Meinung; dass der Apostel Paulus nicht der Verfasser ist, kann seitdem als sicher gelten. Im Kommentar wird besonderes Gewicht auf die Benutzung alttestamentlicher Stellen gelegt, mindestens ebenso sehr im theologischen wie im historischen Interesse. Das Ergebnis ist für Bleek, dass die Benutzung des Alten Testaments im Neuen für den christlichen Ausleger nicht normativ sein kann, jedenfalls „bis so weit als dieses nicht unmittelbar Sache des Glaubens ist, sondern der Schule und der wissenschaftlichen Erfahrung“, wobei Bleek als „Sache des Glaubens für den Christen […] nur das Allgemeine anerkennen“ kann, „daß die Hoffnung und die Sehnsucht auf ein zukünftiges großes Heil, welche sich durch die ganze Geschichte des alten Bundesvolkes hindurchzieht […], ihre wahrhaftige wesentliche Erfüllung nach dem Rathschlusse Gottes in nichts Anderem finden sollte, als in der Person Jesu Christi und in dem Reiche, welches von ihm auf Erden gegründet ist und von ihm seine Vollendung erharret“36. Nach dem „Hebräerbrief“ ist Bleek noch einmal mit einer neutestamentlichen Monographie hervorgetreten. Die „Beiträge zur Evangelien-Kritik“ (1846), erster und einziger Band einer Reihe „Beiträge zur Einleitung und Auslegung der heiligen Schrift“, geben in einem ersten Teil einfach Bleeks 1844/45 erschienene Rezension der „Wissenschaftlichen Kritik der evangelischen Geschichte“ von August Ebrard (1818–88) wieder, woran sich in einem zweiten Teil „Anmerkungen und Zusätze“ anschließen. Ebrard hatte gegen „Strauß und Consorten“ die wesentliche Widerspruchslosigkeit der Evangelien behauptet. Bleek ist die dabei betriebene apologetische Harmonistik nicht recht – „Widersprüche und geschichtliche Ungenauigkeiten in den Berichten der Evangelisten“ gesteht er ohne weiteres zu37 –, aber er verfolgt mit Sympathie Ebrards Kampf ge34  F. Delitzsch, Commentar zum Briefe an die Hebräer (1857) XXXVIII. 35  W.M.L. de Wette, Kurze Erklärung der Briefe an Titus, Timotheus und die Hebräer (1844) VIII. 36  ThStKr 8 (1835) 449f., im Blick auf den Hebräerkommentar (vgl. 441). 37  Beiträge 2.

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gen Strauß und die anderen Tübinger, vor allem natürlich Ferdinand Christian Baur. Die eigene Auffassung von den Evangelien, die er dabei umständlich und ausführlich, in der für ihn charakteristischen Mischung von Rezension und Miszelle, entwickelt, kommt, was die Synoptiker angeht, auf eine scharfe Bestreitung der Priorität des Markus hinaus. Am Anfang steht ein Urevangelium (Eichhorn!), das dann Matthäus und Lukas benutzt haben, die wiederum die Grundlage für Markus liefern. Noch mehr liegt Bleek an der Authentie des Johannesevangeliums, für die er unermüdlich Argumente zusammenträgt und vor dem Leser ausbreitet, ohne auch nur die für ihn sonst so charakteristische Kategorie des „Wahrscheinlichen“ zu bemühen. Kamphausen hat von Bleek gesagt, es sei für ihn „schlechterdings unmöglich gewesen“, bei dieser Frage „ohne Entscheidung hin- und herzuschwanken“38. Vielleicht wollte er ihn damit von de Wette abheben, bei dem hier bis zum Ende seines Lebens das Gegenteil der Fall war. De Wette hätte sich in der Einschätzung des Johannesevangeliums liebend gern auf die Seite Schleiermachers und Lückes geschlagen und stand gewiss auch mehr bei ihnen als bei den Tübingern, hat aber ein ganz festes Urteil in dieser Richtung nie gewagt. Es ist auch Bleek, der de Wette, gewiss in der Erinnerung an den gemeinsamen Lehrer und Freund Schleiermacher, seine „Beiträge“, widmete, nicht gelungen, ihn ganz zu gewinnen39. Dass Bleek als Neutestamentler ein konservativer Kritiker gewesen ist, mag noch eine kurze Statistik seiner Urteile über die Echtheit der neutestamentlichen Briefe in den nachgelassenen Vorlesungen belegen40: 1. und 2. Thess, Phlm und Kol sind echt, Eph ebenfalls (aber zunächst für Laodicea bestimmt), nicht dagegen 1. Tim (mit Schleiermacher), Jac und Jud stammen von den Brüdern des Herrn, 1. Petr ist echt, 2. Petr nicht, wohl aber die Johannesbriefe (wie das Evangelium). Vergleicht man diese Liste mit derjenigen de Wettes41, der in diesen Fragen auch schon weit rechts von den Tübingern stand, dann muss man Bleeks Position als einen Schritt zurück im Gang der kritischen Arbeit betrachten: nach de Wette sind auch Eph, alle Pastoralbriefe, Jac und vermutlich 1. Petr nicht authentisch (beim 2. Thess hat de Wette seine anfänglichen Zweifel nicht aufrechterhalten). Zwischen Rechts und Links oder Hengstenberg und Baur die Mitte zu halten, war für Bleek Bedürfnis und geradezu Programm. Er sah, um Gerechtigkeit nach beiden Seiten wie kaum jemand sonst bemüht, das Recht und das Unrecht hier und dort. Für die Zukunft hatte er düstere Prognosen: „Die Einen, die absolut Positiven, werden durch die gezwungenen unnatürlichen Mittel, zu denen sie häufigst ihre Zuflucht nehmen, um alle hergebrachten Ansichten über den Ursprung des biblischen Kanons gegen alle abweichenden Vorstellungen 38 RE3 III, 256. 39  Vgl. R. Smend, W.M.L. de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament (1958) 153–56. 40  Vgl. besonders Einleitung in das Neue Testament (1862 u.ö.). 41  Smend a.a.O. 156–63.

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zu befestigen, bei Vielen, die von natürlichem Wahrheitssinne geleitet werden und nicht aller gesunden Kritik ins Angesicht zu schlagen vermögen, ein immer größeres Mißtrauen gegen die Wahrheit und Güte der von ihnen vertretenen Sache, des positiven Christenthums überhaupt, hervorrufen, und werden durch die mit dieser Richtung meistens verbundenen Schroffheiten und Härten in der Verurtheilung Anderer Manche, die in ihrem Gemüthe dem einfachen Christlichen Glauben nicht so ferne standen, zurückstoßen und auf die entgegengesetzte Seite führen; und nicht minder verschulden es so manche der Anderen, der Vertreter der kritischen Richtung, durch die Weise, wie sie die Kritik üben, indem sie nicht bloß mit Wohlgefallen darauf ausgehen, nur niederzureißen, ohne zugleich wiederaufzubauen, sondern auch theilweise in der Beweisführung mit größter Willkühr verfahren, daß nicht wenige, denen es nicht an wissenschaftlichem Sinne und Interesse fehlt, gegen die Anwendung der Kritik überhaupt auf den biblischen Kanon mißtrauisch werden, und vorziehen starr bei den kirchlich überlieferten Vorstellungen zu bleiben. Die Vertreter aber der beiden extremen Richtungen selbst werden sich immer mehr von einander entfernen, werden in der gegenseitigen Bekämpfung das Wahre und Richtige bei den Gegnern immer mehr verkennen, und, so viel an ihnen liegt, dazu beitragen, den positiven Glauben und die historische Kritik als zwei unvereinbare Gegensätze erscheinen zu lassen, durchaus im Widerspruche mit dem Geiste der Deutschen evangelischen Kirche, wie er sich schon in ihren Anfängen, besonders durch den früheren Luther, kund gibt.“42 Wer diese Sätze Bleeks nach anderthalb Jahrhunderten liest, stellt betroffen fest, dass seine Voraussagen nicht in allen Teilen so falsch gewesen sind, wie es eigentlich hätte sein müssen. Bleek hat das Problem für seine Person als Bibelkritiker subjektiv durch Wahrheitsliebe, objektiv durch Konservatismus zu bewältigen gesucht, als Glied der Kirche vor allem durch ein vorbehaltloses Bekenntnis zur preußischen Union. Er sah in der dort vollzogenen Relativierung der konfessionellen Differenzen das Vorbild für ein allgemeineres Abgehen vom speziellen Inhalt der symbolischen Bücher, auf den als Lehrer der Kirche verpflichtet zu werden ihm als Unredlichkeit galt. Auch wer nicht glaubt, dass das Ziel, das Bleek vor Augen stand, mit seinen Mitteln erreicht werden kann, wird seiner stillen und redlichen Arbeit die Achtung nicht versagen. Das Ziel werden nur eine Theologie und eine Kritik erreichen, die sich beide von ihrer Radikalität nichts abmarkten lassen; dort müsste aber auch Bleek schließlich sein Werk gut aufgehoben sehen.

42  Beiträge zur Evangelien-Kritik (1846) XVf.

Ernst Wilhelm Hengstenberg 1802–1869

„Falsa est de Wettii de Pentateucho sententia“ – so lautete 1823 eine Promotionsthese in der philosophischen Fakultät der Universität Bonn: „De Wettes Meinung über den Pentateuch ist falsch.“1 Der lapidare Satz bestreitet kategorisch den Ausgangspunkt des Weges, den die historische Kritik am Alten Testament im 19. Jahrhundert nahm und der von W.M.L. de Wettes „Beiträgen zur Einleitung in das Alte Testament“ (1806/07) zu J. Wellhausens „Israelitischer und jüdischer Geschichte“ (1894) führte. Im späteren Rückblick wird leicht übersehen, dass diesen Weg konsequent lediglich eine kleine Avantgarde ging; die Mehrheit der Gelehrten folgte nur zögernd und mit vielen Vorbehalten oder verharrte sogar in einer mehr oder weniger prinzipiellen Opposition. Diese Mehrheit beherrschte weitgehend das Feld und genoss beim Publikum, namentlich dem frommen und kirchlichen, meist größere Sympathien als jene Avantgarde. Im Hintergrund standen die geistigen und religiösen Strömungen der Zeit, aber auch handfeste Universitäts- und Kirchenpolitik. Die Protagonisten beider Seiten ließen es an, oft heftiger, Polemik nicht fehlen und zeigten sich des Sieges jeweils ihrer Sache gewiss. So frohlockte 1830 Ernst Wilhelm Hengstenberg, der Bonner Dissertant von 1823 und heftigste Streiter für die „kirchliche Theologie“: „Die Jugendkraft des Rationalismus ist dahin; er ist ein alter abgestorbener Baum, der keinen neuen Zweige und Blüthen mehr treibt.“2 Aber auf der Gegenseite konnte ein halbes Jahrhundert später Wellhausen spotten: „Die kirchliche Wissenschaft scheint im Alten Testament die Aufgabe zu haben, funfzig Jahre lang eine neue Entdeckung zu widerlegen, darnach aber einen mehr oder minder geistreichen Gesichtspunkt aufzufinden, unter welchem dieselbe ins Credo 1  J. Bachmann, Ernst Wilhelm Hengstenberg. Sein Leben und Wirken nach gedruckten und ungedruckten Quellen I (1876) 328. Bachmanns Werk (II 1880, III von Th. Schmalenbach 1892) ist nach wie vor unentbehrlich, aber für alle künftige Beschäftigung mit Hengstenberg wird die in jeder Hinsicht vorbildliche Arbeit von M.A. Deuschle, Ernst Wilhelm Hengstenberg. Ein Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus im Preußen des 19. Jahrhunderts (2013, erschienen nach Abschluß des Manuskripts zum vorliegenden Kapitel) die Grundlage sein. 2  Evangelische Kirchen-Zeitung (EKZ) 1830, 2.

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aufgenommen werden kann.“3 Ganz falsch war diese Prognose nicht: Franz Delitzsch, nach Hengstenberg die zweite Symbolfigur der antikritischen Richtung, sah sich gegen Ende seines Lebens genötigt, der Gegenseite einige kräftige Zugeständnisse zu machen; noch mehr musste das nach anfänglicher (und teilweise bleibender) Gegenwehr Rudolf Kittel tun, Delitzschs eigentlicher Erbe und wie er Professor in Leipzig. Wenn Kittels Leipziger Nachfolger Albrecht Alt und seine Schüler über die kritische Arbeit des 19. Jahrhunderts hinausführen wollten, dann geschah das doch völlig auf dem inzwischen durch Wellhausen gelegten Grund. Aber man sollte einem Hengstenberg und einem Delitzsch nicht schon darum allen Respekt verweigern, weil sie wissenschaftlich auf die Dauer gescheitert sind. Immerhin haben sie in weiten Kreisen das geschwundene Bewusstsein von der Bedeutung des Alten Testaments und seiner Exegese für Theologie und Kirche erneut geweckt und eine Weile wachgehalten. Das wurde allerdings umso problematischer, je weiter die kritische Gegenseite durchdrang. Der späte Delitzsch ist dieser Problematik noch mit Schrecken ansichtig geworden, ohne dass er eine Lösung finden konnte. Seinem Vorgänger Hengstenberg lagen solche Anfechtungen ganz fern und hätten das wohl auch weiter getan, wenn er länger gelebt hätte. Ernst Wilhelm Hengstenberg wurde am 20. Oktober 1802 in Fröndenberg bei Unna in Westfalen, nicht weit von Kamen, dem Herkunftsort des älteren Buxtorf, geboren. Er besuchte keine Schule, sondern wurde von seinem Vater unterrichtet, einem ebenso gebildeten wie frommen reformierten Pfarrer. Sein Berufsziel war von vornherein die Theologie, doch von 1819 bis 1823 studierte er in Bonn weniger Theologie als klassische Philologie, Philosophie und vor allem bei Wilhelm Freytag Arabisch mit dem Abschluss der Promotion zum Dr. phil. aufgrund einer arabistischen Arbeit. Unter den Promotionsthesen4 passt die bereits erwähnte, die sich gegen de Wette richtet (IX), schon zum späteren Hengstenberg, aber daneben überrascht die Preisgabe von Jes 40–66 (VII) und Hiob 32–37 (VIII); neben dem harmlosen Verdikt, niemand sei ein Theologe, der die hebräische Sprache nicht gut kenne (III), steht das scharfe (und sorglose), die theologische Erklärung des Alten Testaments sei nichts wert (Theologica Veteris Testamenti interpretatio nihili est, II). Von einer klaren Richtung, und gar der späteren, kann hier noch nicht die Rede sein. 1823/24 hielt er sich in Basel auf, wo er den künftigen Alttestamentler J.J. Stähelin (1797–1875), aber auch die Schüler der Missionsgesellschaft im Arabischen unterrichtete und privatim ernsthafter als zuvor theologische Studien trieb. Dass Basel „sein Damaskus“ war, „wo es auch ihm wie Schuppen von den Augen fiel und er den Herrn erkannte mit aufgedecktem Angesicht“5, weniger blumig gesagt, dass es hier „zu einem Durchbruch, ziemlich nach Art des alten 3  Prolegomena zur Geschichte Israels 2(1883) VII. 4  Bachmann I, 328f. 5  Ebd. 109.

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Hallischen Pietismus“ kam6, ist indessen stark übertrieben; allenfalls lässt sich von einer „Wendung nach rechts“7 und zur Theologie hin reden. Aber noch in Basel verteidigte Hengstenberg gegenüber dem konservativen Stähelin die exilische Abfassung von Jes 40–668. 1824 gelang es ihm, in Berlin Fuß zu fassen, und wie sich herausstellen sollte, endgültig. Schon im Oktober habilitierte er sich in der philosophischen Fakultät, im Februar 1825 folgte die theologische Promotion, deren Thesen9 nun allerdings denen von 1823 stracks zuwiderlaufen: Das Verständnis des Alten Testaments erfordert über die Philologie hinaus einen von Christi Herrlichkeit erleuchteten Geist (I), die Messiasidee ist nicht menschlichen, sondern göttlichen Ursprungs und bei allen Propheten dieselbe (IV), das Buch Hiob ist nicht exilisch, sondern das älteste (VI), und die, die die Kapitel 32–37 daraus entfernen, „tun nicht gut“ (non bene agunt, VIII), usw. Entscheidenden Anteil an Hengstenbergs Neuorientierung hat zweifellos die Anpassung an die Berliner Umgebung gehabt, in der er geschickt, energisch und schnell Karriere machte: 1826 wurde er außerordentlicher, 1828 ordentlicher Professor, beides gegen Widerstände in Fakultät und Regierung, hier sogar beim Minister Altenstein selbst, der ihn vergeblich nach Bonn oder Königsberg abzuschieben versuchte. In der Fakultät war sein Hauptgegner der Hegelianer Marheineke, sein wichtigster Förderer der „Pektoraltheologe“ Neander; das Verhältnis zu Schleiermacher gestaltete sich zunächst nicht unfreundlich. Seine orientalistische Vorbildung machte Hengstenberg zu einem naheliegenden und dann auch erfolgreichen Kandidaten für den Lehrstuhl de Wettes, der seit dessen Entlassung 1819 vakant war. In ähnlicher Lage befand sich der etwas ältere August Tholuck (1799–1877), auch er zunächst Orientalist und dann ein vielseitiger und einflussreicher Theologe erwecklich-pietistischer Prägung, in Berlin 1820 promoviert und habilitiert, 1823 außerordentlicher Professor, aber 1826 nicht in Berlin, sondern in Halle mit einem Lehrstuhl betraut. In seinen Promotionsthesen10 sehen wir ihn bereits 1820 in der antikritischen Haltung, die 1825 aus Hengstenbergs Thesen spricht: Ablehnung von Sprachbeweisen gegen die Authentie des Pentateuchs, die Propheten etwas Besseres als Dichter und Demagogen, die heiligen Männer der Hebräer kraft ihrer Frömmigkeit mehr als die großen Männer Griechenlands und Roms. Wie Hengstenberg ein Schützling Neanders, machte Tholuck den Jüngeren zu seinem Freund und Gesinnungsgenossen und führte ihn bei den maßgebenden Persönlichkeiten der jungen Berliner Erweckungsbewegung ein, dem Baron Kottwitz, den Brüdern Gerlach, dem Hofprediger Strauß, und 6  E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie V (1954) 120. 7 M. Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin II/1 (1910) 331. 8  Bachmann I, 155. 9  Ebd. 333f. 10  Vgl. Lenz a.a.O. 324.

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damit in die konservativen Kreise um den preußischen Königshof. Vollends zu einem Bestandteil dieser Welt wurde Hengstenberg, indem er 1829 die Gutsbesitzerstochter Therese v. Quast heiratete – man hat diesen Schritt geradezu eine „Parteisache“ genannt11. Als Familienvater erwartete ihn ein schweres Schicksal: er musste den Tod seiner Frau und aller fünf Kinder erleben. Für die kirchliche und theologische Welt wichtiger: schon 1827, also vor der Erlangung des Ordinariats in der Universität, ließ er sich von den Brüdern Gerlach bestimmen, die Herausgeberschaft der seit längerem geplanten „Evangelischen Kirchen-Zeitung“ zu übernehmen. 42 Jahre lang, bis zu seinem Tod, hat er diese Aufgabe wahrgenommen und damit eine öffentliche Wirkung erzielt, wie sie einem Theologieprofessor selten beschieden ist. Noch heute könnte der Satz gelten: „Vielleicht hat nie ein kirchliches Organ so stark die Geschichte der Kirche beeinflußt als diese Zeitung.“12 Und man muss hinzufügen: selten ist ein kirchliches Organ so stark von der Person seines Herausgebers geprägt worden, mag Hengstenberg auch noch so sehr der Exponent und gelegentlich das Werkzeug einer kirchlichen, kirchenpolitischen und politischen Partei gewesen sein13. Jeweils zu Jahresbeginn gab er in einem viel beachteten oft sehr ausführlichen „Vorwort“ aufs neue die Richtung an, und er sorgte dafür, dass diese Richtung nicht nur in den Aufsätzen der von ihm und seinen Freunden ausgewählten Mitarbeiter zum Ausdruck kam, sondern auch in den reichlichen Informationen, die das Blatt bot. „Die evang. Kirchenzeitung stellte sich bald als ein Bureau geheimer Nachrichten dar, welche der Herausgeber von versteckten Zuträgern aus allen Weltgegenden sich einsenden ließ und rücksichtslos veröffentlichte, als ein Organ der bösartigsten und gehässigsten Anklägerei, die es sich zum besondern Geschäft machte, die angesehensten Männer, weil sie nicht Glaubige im Sinne der evangelischen Kirchenzeitung waren, dem grossen Publicum als Unglaubige zu bezeichnen und zu verdächtigen.“ So die Charakteristik durch den natürlich nicht unparteiischen Ferdinand Christian Baur, der die Redaktion der EKZ auch kurz und gut „eine Inquisitionsbehörde“ nannte14. Ähnlich empfanden viele, darunter der Historiker Treitschke, für den Hengstenberg „aus demselben Holze geschnitzt“ war „wie einst die Ketzerrichter Hogstraten und Torquemada“15. Wogegen richtet sich die „Inquisition“? Hengstenberg brachte so gut wie alles, was ihm im geistigen, politischen und kirchlichen Leben gegen den Strich ging, auf den Nenner des „Rationalismus“. Noch einmal Baur: „Der Rationalismus ist der eigentliche Feind, dessen Bekämpfung sich die ev. K.Z. von Anfang an zu ihrer Hauptaufgabe gemacht hat. Unter diesem Namen schmähte und verfolgte sie alles, was nicht die Farbe ihres Glau11  Lenz 344. 12  R. Seeberg, Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert (1903) 68. 13  Vgl. dazu K. Beckmann, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts (2002) 239–70. 14  Kirchengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts (1877) 240.242. 15  Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert III (1866, Neue Ausg. 1927) 404.

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bens hat, als absolut verwerflich, als seelenverderblich, als eine Ausgeburt der Hölle. Die Rationalisten sind die geborenen und geschworenen Feinde Christi, und nicht oft genug kann sie den Grausen und Entsetzen erregenden Nothstand der Kirche durch die Rationalisten, ihren Naturalismus, Atheismus und ihre unglaubliche Ruchlosigkeit mit den schwärzesten Farben schildern.“16 Vom spektakulärsten Fall dieser „Inquisition“ war ein Alttestamentler betroffen, nämlich kein Geringerer als Wilhelm Gesenius. Zu Anfang des Jahres 1830 brachte die Kirchen-Zeitung an ziemlich versteckter Stelle und anonym in den kleingedruckten „Nachrichten“ einen zweiteiligen Artikel über den „Rationalismus an der Universität Halle“17, in dem aufgrund von studentischen Nachschriften und mündlichen Berichten gemeinsam mit dem Dogmatiker Wegscheider eben Gesenius denunziert wird: er spreche in seinen Vorlesungen einen „entschiedenen Unglauben an die Grundlehren und an die Wunder der Schrift aus“; dort sei „ein lautes, in manchen Stunden ein immer wiederkehrendes Gelächter der künftigen Diener des heiligen Wortes Gottes etwas Gewöhnliches“18. Der Verfasser des Artikels war nicht Hengstenberg selbst, sondern sein seit kurzem in Halle ansässiger Gesinnungs- und Streitgenosse Ernst Ludwig v. Gerlach19; an Hengstenbergs voller Zustimmung konnte aber kein Zweifel sein. Andere in seiner Umgebung hatten Bedenken: Tholuck, der in dem Artikel die „Tendenz“ erkannte, „die kirchliche Oberbehörde zu einer Entfernung aller rationalistischen Kirchenlehrer aus der Kirche aufzurufen“, distanzierte sich vorher privat und hinterher öffentlich20, und mit noch größerer Entschiedenheit tat das Neander, dem nicht nur die Polemik gegen die Hallenser, sondern auch die gegen Schleiermacher nicht recht war: er kündigte der Kirchen-Zeitung unter kollegialem, menschlichem und christlichem Bedauern (Hengstenberg bezeichnete er noch immer als seinen „vielgeliebten Freund“) die Mitarbeit auf21, worauf Hengstenberg mit einer gänzlich ungerührten dreimal so langen „Gegenerklärung der Redaktion“ reagierte22. Der „Hallische Kirchenstreit“ erregte zwar die Öffentlichkeit, hatte aber nicht die unmittelbaren Wirkungen, die sich Gerlach und Hengstenberg erhofft haben mögen. Immerhin erließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. am 23. September 1830 eine Kabinettsordre, die „die Vorträge der Lehrer der Evangelischen Kirche, die von deren Dogmen, als anerkannten Glaubenswahrheiten, wesentlich abweichen, für sehr bedenklich“ erklärte und den Minister Altenstein anwies, künftig „bei der Wahl der akademischen Lehrer theologi16  Baur a.a.O. 243. 17  EKZ 1830, 38–40.45–47. 18  Ebd. 46. 19  Vgl. H.-Ch. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen (1994) I, 137–50. 20  EKZ 1830, 297–302, Zitat 297. 21  Ebd. 137–140. 22  Ebd. 140–49.

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scher Wissenschaften Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand zu richten und die ernstlichste Sorge zu tragen, daß die Lehrstühle der Theologie auf unseren Universitäten zwar mit wissenschaftlich gebildeten Männern, aber nur mit solchen besetzt werden, von deren Anhänglichkeit an den Lehrbegriff der Evangelischen Kirche im Sinne der Augsburgischen Confession Sie hinreichende Überzeugung gewonnen haben“. Im späteren Rückblick hat der Initiator jenes Streits, E.L. v. Gerlach, darin nicht zu Unrecht einen großen Erfolg der „Partei der Ev. Kirchenzeitung“ und zugleich einen Markstein in der stetigen Entwicklung dieser Partei aus vorwiegend pietistischen Anfängen zu orthodoxer Kirchlichkeit gesehen; der Satz, „daß die von den Grundlehren der Kirche, von der heiligen Schrift Abgefallenen in den Lehrämtern der Kirche nicht seyn dürfen“, sei seit 1830 „ein Gemeinplatz geworden“23. Es versteht sich, dass die personifizierte „Partei“, also Hengstenberg, daraufhin mit eher noch gesteigerter Energie den begonnenen Kampf fortsetzte und dass dabei die Bibelwissenschaft ein zentraler Schauplatz war. Die Gelegenheit zu empörter Polemik bot das Jahr 1835 durch eine Reihe von Neuerscheinungen, darunter „Die Genesis“ von P. v. Bohlen und vor allem „Die Religion des Alten Testamentes“ von W. Vatke und „Das Leben Jesu“ von D.F. Strauß. Die „Voltairesche Frivolität“, die Hengstenberg in v. Bohlens Buch am Werk sieht, gibt ihm Anlass, sogar auf den alten Erzfeind de Wette „mit Wehmuth und Sehnsucht zurückzublicken“24. Als „Zeichen der Zeit auf dem Gebiete des A.T.“ betrachtet er das Werk Vatkes, der „in Kühnheit der Kritik fast alle seine Vorgänger überbietet“, wobei er „als Repräsentant seiner Schule“ (der Hegelschen) auftritt, „die er als den wahren Träger des Zeitgeistes betrachtet“. „Die Frömmigkeit ist der Isaak, der dem neuen Gotte geopfert werden muß, und dies Opfer wird mit einer Kälte und Gleichgültigkeit vollzogen, welche recht deutlich zeigt, wie groß die Liebe zu diesem neuen Gotte ist. […] Selbst in dem Fetischdienst ist noch mehr religiöser Gehalt, wie in diesem Systeme.“ Ähnlich, aber noch gesteigert, lautet das Urteil über Strauß, in dem ein heimlicher Respekt mitschwingt: die Philosophie, die gleiche wie bei Vatke, „feiert hier einen Triumph ähnlich dem Satans, als er in Judas gefahren. Sie kann doch ganze Leute machen, während andere nur halbe. Darin ist sie dem Christenthum gleich; dadurch sein einziger würdiger Gegner, der zuletzt allein mit ihm auf dem Kampfplatz bleiben wird, bis der Herr ihn umbringt mit dem Geiste seines Mundes und seiner ein Ende macht durch die Erscheinung seiner Zukunft.“25 Der Eindruck, dass die Kirchen-Zeitung „jederzeit einen Theologen vernichten konnte“26, mag übertrieben sein; aber zweifellos war sie ein weithin erfolgreiches und gefürchtetes Mittel, die Vertreter des „Rationalismus“ zu bekämpfen. Hengstenberg hatte dafür auch andere Mittel, angefangen bei seinen 23  EKZ 1846, 170. Wortlaut der Kabinettsordre dort 171*. 24  EKZ 1836, 28. 25  Ebd. 33–36. 26  F. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert IV (1937) 491.

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Beziehungen zum königlichen Hof, um etwa in der eigenen Fakultät den eben erwähnten Vatke nicht hochkommen zu lassen, durch dessen Buch von 1835 er klarsichtig das traditionelle Bild vom alten Israel radikal in Frage gestellt sah – nicht ohne Grund war dieses Buch in J. Wellhausens Augen „der bedeutendste Beitrag, welcher überhaupt je zur Geschichte des alten Israel geleistet worden ist“27. Vatke, 1830 promoviert und habilitiert, hatte zunächst erheblich mehr Zuhörer als Hengstenberg28, aber seine Karriere kam über die 1837 mit Mühen erreichte Ernennung zum unbesoldeten außerordentlichen Professor29 nicht hinaus. Hengstenberg vereitelte seine Berufung auf einen Lehrstuhl in Königsberg30 und grub ihm bei den Studenten das Wasser ab, indem er als alleiniger Examinator im gemeinsamen Fach verlangte und sogar kontrollierte, dass man nur seine eigenen Vorlesungen besuchte: „Hören Sie bei mir und bei Vatke, so ist das gerade so, als wenn Sie vor und hinter dem Wagen ein Pferd anspannen; der Wagen kommt dann nicht von der Stelle.“31 Über den Einzelfall hinaus waren es solche Methoden und ihre Ergebnisse, die den Historiographen der Berliner theologischen Fakultät von der „schier unbeschränkten Herrschaft Hengstenbergs“ und dem ihr entsprechenden „absoluten Tiefstand ihrer geistigen Produktivität und schöpferischen Energie“ reden lassen32. Was den akademischen Lehrer betrifft: ein früherer Hörer, der ähnlich gelehrt war wie Hengstenberg und für den konservativen Charakter seiner Exegese Sinn haben musste, Theodor Zahn, nannte seinen Vortrag im Rückblick „jeder äußeren Würde sowie jedes Humors ermangelnd“; er habe ihn nur wenige Stunden ertragen können33. Vatke hatte, als er noch selbst Student war, über Hengstenberg geurteilt, er habe „viele Kenntnisse, viel Fleiß, aber wenig eigentlichen Geist, obgleich es ihm an Scharfsinn nicht fehlt“34. Den Scharfsinn erkannten auch die Gegner an, aber sogar ein halber Gesinnungsgenosse räumte ein, es sei „oft mehr Scharfsinn als Wahrheitssinn“ gewesen: Hengstenberg habe „nicht wenig Unhaltbares aufgestellt und die Schwierigkeiten mehr zerhauen als gelöst“35. Sein Scharfsinn war, wie wiederholt gesagt worden ist, nicht der eines Forschers, sondern der eines Advokaten, der sich im Kampf befindet, allerdings mit der Besonderheit, dass er „nicht die Sprache des Kriegers, sondern des Siegers und Richters führte“36. Hengstenberg „dachte mit dem Willen und wollte mit dem Verstand. Ein experimentierendes, zweifelndes, ziellos der Wissenschaft zusteuerndes 27  Geschichte Israels I (1878) 41. 28  H. Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften (1883) 81. 29  Ebd. 269–73. 30  Ebd. 258f. 31  Ebd. 549, vgl. 295.610. 32  W. Elliger, 150 Jahre Theologische Fakultät Berlin (1960) 57. 33  RWGS I (1925) 230. 34  Benecke a.a.O. 49. 35  K.F.A. Kahnis, EKZ 1869, 422. 36  Ebd. 417.

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Denken kannte er nicht. Hatte er etwas erfaßt, so legte er in dasselbe seinen ganzen Willen und änderte dann nicht leicht sein Urteil. Was ihm aber auf diesem Wege zur Ueberzeugung geworden war, das suchte er mit einer keine Rücksichten, Hindernisse und Schranken kennenden Tatkraft durchzuführen.“37 Der Berichterstatter, auch er ein entschiedener Lutheraner, fühlte sich bei ihm – und damit kommt auch das Inhaltliche in den Blick – „am meisten an Calvin erinnert. Zwar ist Hengstenberg kein Reformator, kein Dogmatiker, kein Mann der Predigt, Seelsorge, Kirchenleitung gewesen: aber wir finden bei ihm dieselbe charaktervolle Herrschaft des Willens und Verstandes, dieselbe Neigung zum Festen und Normierten, dieselbe gesetzliche Stellung zur Schrift, denselben alttestamentlichen Zug, dieselbe Schärfe in der Auffassung der kirchlichen Verhältnisse, dieselbe Geneigtheit bis zu den letzten Consequenzen vorzugehen, dieselbe theokratische Ansicht.“38 Es war kein Zufall, dass Hengstenberg gerade Calvins Genesiskommentar neu herausgab (1838) und gern an Studenten verschenkte. Ein „von Natur hartes und kaltes Wesen“, das Hengstenbergs pietistische Freunde schon zur Gründungszeit der Evangelischen Kirchen-Zeitung an „diesem jungen Simson“ wahrnahmen39, dürfte ihn von vornherein mehr für die orthodoxe als für die pietistische Komponente des Unternehmens prädestiniert haben. Zwar hatte er die Maxime „Keine Orthodoxie ohne Pietismus, kein Pietismus ohne Orthodoxie“40 und gewöhnte sich die pietistische Sprache schnell an, um sie zeitlebens aufs geläufigste zu handhaben, aber er „war kein Pietist“41, und so hatte der Weg, den „seine“ Zeitung in den vier Jahrzehnten seiner Herausgeberschaft nahm, auch von seiner Person her eine gewisse Folgerichtigkeit. Aus dem vorwiegend erbaulichen Blatt wurde ein Instrument der Kirchenpolitik im Sinn der preußischen Monarchie, zunächst unionstreu und dann immer mehr lutherisch-konfessionalistisch und sowohl kirchlich wie politisch restaurativ-reaktionär. 1848 verurteilte die Zeitung kategorisch die Revolution, 1866 stellte sie sich, gegen den Protest E.L. v. Gerlachs, auf die Seite Bismarcks42, der ihrer allerdings kaum noch bedurfte. Den Lesern der Evangelischen Kirchen-Zeitung war immer deutlich, dass sie es bei deren Herausgeber mit einem biblischen, vor allem alttestamentlichen Exegeten zu tun hatten; das Blatt ist durchzogen von biblischen Betrachtungen und Bezugnahmen meist direkt oder indirekt aktuellen Charakters. Nicht nur der Journalist Hengstenberg, sondern auch der gleichnamige Professor wusste sich im Besitz einer Mission, und es war hier die gleiche wie dort: der Kampf gegen 37  Ebd. 418. 38  Ebd. 424. 39  L. v. Gerlach an A. Tholuck, in G.N. Bonwetsch, Aus A. Tholucks Anfängen (1922) 138. 40  Kahnis a.a.O. 421. 41  Ebd. 420. 42  Vgl. Hengstenbergs „Vorwort“ in der EKZ 1867, bes. 20–30.

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den „Rationalismus“. Er führte ihn hier nicht nur in seinen Lehrveranstaltungen, sondern auch in einem umfangreichen wissenschaftlichen Oeuvre. Vor seiner Ernennung zum Professor gab es von ihm erst zwei kurze theologische Texte, aus denen sich zwar seine Haltung in den Prinzipienfragen, aber noch nicht seine fachliche Qualifikation ersehen ließ43. Umso mehr war ihm daran gelegen, seine Art wissenschaftlich-theologischer Behandlung des Alten Testaments möglichst bald öffentlich vorzuführen, und zwar, energisch wie er war, nicht nur als Programm, sondern gleich auch in dessen Durchführung. Das hätte gerade bei ihm am nächstliegenden in Gestalt einer „Theologie des Alten Testaments“ geschehen können, wie sie die dazu berufenen Alttestamentler am Ende ihrer Tätigkeit als deren Zusammenfassung und Krönung vorzulegen pflegen und wie sie bei einem Hengstenberg dann eben schon am Anfang gestanden hätte. Aber dieses Buch hat er weder jetzt noch später geschrieben, mit einer Begründung, die oberflächliche Kenner44 überraschen muss: „die Lehre hat sich unter dem A[lten] B[unde] noch nicht zur Selbstständigkeit erhoben, sondern sie ist noch aufs innigste mit der Geschichte verwachsen“. Daher ist sie, anders als beim Neuen Testament, nicht gesondert darzustellen, sondern „im Zusammenhang mit der Geschichte“, und so findet sich in Hengstenbergs Vorlesungen über die „Geschichte des Reiches Gottes unter dem Alten Bunde“45 hin und wieder ein Paragraph über „Religionserkenntnis“ und dergleichen. Unter diesen Umständen präsentierte sich Hengstenberg nicht mit einer „Theologie“, sondern einer „Christologie“ des Alten Testaments, die er zunächst im Hörsaal vortrug und 1829–35 in drei Bänden publizierte. Sie war in der Hauptsache (Bd. I/2 bis III) ein „Commentar zu den Messianischen Weissagungen der Propheten“ mit einer „allgemeinen Einleitung“ (I/1), die in der zweiten Auflage (1854–57) an den Schluss rückte. Für Hengstenberg wimmelt das Alte Testament, angefangen mit dem „Protevangelium“ Gen 3,14f., von Weissagungen, sie bilden „die Seele und den Mittelpunct aller prophetischen Verkün43  Einige Worte über die Nothwendigkeit der Ueberordnung des äußeren Wortes über das innere (1825); Die Königl. Preußische Ministerialverfügung über Mysticismus, Pietismus und Separatismus (1826). 44  In den Augen von H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments (31982) 223f. ist für Hengstenberg die Geschichte des Reiches Gottes „letztlich gar keine Geschichte, sondern ein überschaubares Lehrgebäude“; „Geschichte“ sei ihm „eine äußerst hinderliche Größe“, und so ignoriere er weitgehend „die reale Geschichtlichkeit des Alten Testaments“. „Wo immer das biblische Wort interpretiert wird, da ist Hengstenberg bemüht, möglichst schnell den zeitgeschichtlichen Aspekt verschwimmen und verschwinden zu lassen.“ Aber jede ernsthafte Beschäftigung mit Hengstenbergs Werk zeigt, dass er sich unter seinen Prämissen nicht weniger um die „reale Geschichtlichkeit des Alten Testaments“ bemüht hat als Kraus unter den seinen. Wie Kraus ihn, aber mit größerem Respekt und wohl auch größerem Recht kritisierte er seinerseits den „ehrwürdigen Leipziger Theologen“ Ch.A. Crusius dafür, dass er mit einem „System“ an die Schrift herantrat, dabei die „Details der Exegese“ vernachlässigte und für „geschichtliche Auffassung […] gar wenig Sinn“ hatte (Christologie 2III/2, 127). 45  1869–71 postum erschienen.

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dung“46. Er geht sie unter Aufbietung der gesamten exegetischen Tradition in penibler Kleinarbeit ausführlich durch, mit dem Ziel des doppelten Nachweises, dass sie untereinander übereinstimmen und dass sie im Neuen Testament bis in die letzten Einzelheiten hinein ihre Erfüllung finden. Gegen „die Idee von einem blos menschlichen Messias in Herrlichkeit, von einem politischen Messias, der die Theokratie zu großer Macht und Herrschaft erheben werde“, führt er die Stellen ins Feld, „welche die Lehre von der Gottheit und von dem Leiden, dem Tode und der stellvertretenden Genugthuung enthalten, und überhaupt, die von einem Messias in Niedrigkeit handeln“; man darf nicht „einseitig stehen bleiben bei den Stellen, welche sich auf das Königliche Amt des Messias beziehen[,] und sich aller derjenigen zu entledigen suchen, in denen er zugleich als Prophet und Hoherpriester erscheint“47. Aktueller Gegner ist hier besonders de Wette, aber neben ihn tritt immer mehr ein zweiter älterer Berliner, nämlich Schleiermacher, an dem sich Hengstenberg bei allem Respekt ein Leben lang gerieben hat – noch im letzten seiner „Vorworte“ nannte er Schleiermachers Theologie in der Nachfolge des Propheten Elia ein „Hinken auf beiden Seiten“: „Er tat keine gewissen Tritte weder auf der Seite der Weisheit dieser Welt, noch auf der Seite des Glaubens.“48 Schon 1829, im Erscheinungsjahr des ersten Bandes der „Christologie“, gab Schleiermachers zweites Sendschreiben an Lücke Hengstenberg Anlass zu einem doppelten Angriff auf den großen Kollegen. In einem Aufsatz „Ueber Schleiermacher“ stellte er allgemein dessen theologischer Kritik am „Alten Bund“ die Behauptung entgegen, dass damit „auch der Neue Bund, der nichts Anderes ist und sagen will als der Alte in seiner Realisierung und Verklärung, im tiefsten Grunde angegriffen und […] vernichtet“ werde49. Was Hengstenbergs besonderes Thema angeht, so hatte Schleiermacher bekundet, er könne das „Bestreben, Christum aus den Weissagungen zu beweisen“, für ein „freudiges Werk […] niemals erklären“, und es tue ihm leid, „daß sich noch immer so viel würdige Männer damit abquälen“; er denke nach wie vor, „nicht einmal einen Juden der damaligen Zeit, der auf dem Wege gewesen wäre, zu glauben, würde ein bestimmter Verdacht, daß jene Weissagungen auf Jesum nicht passen, vom Glauben zurückgehalten haben“50. Darauf reagierte Hengstenberg in einem neuen Aufsatz „Ueber Dr. Schleiermacher’s Behauptung der Unkräftigkeit und Entbehrlichkeit der messianischen Weissagungen“51 kurz mit neutestamentli46 Christologie 2III/2, 1. 47  Ebd. 141f. 48  EKZ 1869, 29. 49  EKZ 1829, 780. – Deuschle (s. Anm. 1) 142–45 bestreitet mit beachtlichen Argumenten die Autorschaft Hengstenbergs an beiden Aufsätzen. Auch wenn er Recht hat, bleibt bestehen, dass besonders der erste eine große Nähe zu Hengstenbergs Position aufweist und dass dieser ihn faktisch auf sein Konto nehmen musste. 50  ThStKr 2 (1829) 497 (Kritische Gesamtausg. I/10, 354). 51  EKZ 1830, 17–31.

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chen Gegenbeispielen wie der Erzählung vom „Kämmerer aus dem Mohrenland“ (Apg 8,26–40) und lang mit der erbaulichen Lebensgeschichte eines im Jahr 1722 getauften Juden. Es versteht sich, dass ein so kluger Mann wie Hengstenberg auf mancherlei Einwände, die sich im Ganzen und im Einzelnen gegen seine Aufstellungen erheben ließen, schon von selbst gekommen ist und sie zu relativieren versucht hat – dies dann vollends in der anschließenden Diskussion. Dabei musste er beinahe zwangsläufig immer wieder „eben dem Rationalismus verfallen, den er grundsätzlich bekämpfte“52. So räumte er, um allerlei Unstimmigkeiten in den Weissagungen zu erklären, der Ekstase einen überraschend großen Raum ein53, und zum Vergnügen F.C. Baurs half er sich, um einige sperrige Stellen auf eine Linie zu bringen, nachdem er „einige Hegel’sche Phrasen erlernt hatte, durch die Behauptung, die Weissagung ruhe auf der Idee, und beziehe sich aus diesem Grunde auf alle die Vorfälle, in denen sich diese Idee darstelle“54. Auf einen wichtigen Punkt, in dem er sich, durchaus in Nachbarschaft zum „Rationalismus“, von der alten Orthodoxie unterschied, hat L. Diestel aufmerksam gemacht: seine Reserve gegenüber der Allegorie, die der Orthodoxie als Mittel diente, das Alte Testament „auf das Niveau des Neuen emporzuheben“, wogegen er, „soviel Messianisches er auch findet“, doch „im Ganzen die neuere Hermeneutik“ adoptierte und dadurch „des Hauptmittels zu jener Ausgleichung entbehrte“, mit der Folge, dass „das Neue Testament auf das Niveau des Alten in sehr vielen Stücken herabgedrückt wurde“ – dies wie jenes „im Verein mit dem orthodoxen Grundsatze der Einerleiheit der Testamente“55. Man begreift in diesem Zusammenhang den Zorn Hengstenbergs darüber, dass D.F. Strauß die alt-neutestamentlichen Entsprechungen sozusagen gegenläufig verwendete, nämlich um die neutestamentliche Geschichte Jesu als weithin aufgrund alttestamentlicher Aussagen geformten Mythus zu erklären. Noch vor dem zweiten Band der „Christologie“ nahm Hengstenberg sein anderes Hauptwerk in Angriff, die „Beiträge zur Einleitung ins Alte Testament“. Der Titel formuliert plakativ den Anspruch, eine Alternative zu de Wettes „Beiträgen“ von 1806/07 zu bieten, dem Ausgangspunkt der verhassten neuesten Kritik. Hengstenberg wusste sehr wohl, dass die eigentliche Schlacht gegen den „Rationalismus“ in seinem Fach auf dem Gebiet der sogenannten Einleitungswissenschaft zu schlagen war, also bei den Fragen um Beschaffenheit, Herkunft und historische Aussagekraft der biblischen Bücher. An diesen Fragen, genauer an ihrer möglichst vollständig konservativen Beantwortung hing für ihn viel, ja eigentlich alles. „Man kann“, schrieb er einmal, „das fünfte Buch Mose’s nicht [als nichtmosaisch] über Bord werfen, ohne zugleich an der Autorität des 52  P. de Lagarde, Mittheilungen IV (1891) 79. 53  Vgl. den Abschnitt über die Beschaffenheit der Weissagung (Christologie 2III/2, 158– 217). 54  Kirchengeschichte (s. Anm. 14) 446. 55  Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869) 708.

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Herrn irre zu werden, und also auf dem wogenden Meere der Welt ohne Compaß und Steuerruder einherzufahren und heimlich seufzen zu müssen: wehe mir, daß ich geboren bin.“56 Dem stand allerdings bei Hengstenberg eine merkwürdige, sei es echte, sei es sich selbst und den anderen vorgetäuschte Sicherheit gegenüber, dass diese Gefahr im Grunde gar nicht bestehe. Denn ihm war, so das Vorwort zum ersten Band der „Beiträge“, das (positive) Resultat all dieser Untersuchungen längst „durch eine höhere, als menschliche Auctorität gewiß geworden“; er hatte es nur noch „gegen die mit menschlichen Waffen zu vertheidigen, welche diese Auctorität nicht anerkennen“57. So focht er, beim Wort genommen, eigentlich nur Scheingefechte aus, die allesamt gar nicht anders als mit einem vollen Sieg enden konnten. Dieser Sieg aber, also die völlige Durchsetzung seiner Ansicht von der Entstehung der biblischen Bücher, war ihm so wichtig, daß er mit der Herrichtung und Anwendung der – wie schon angedeutet, weithin dem „Rationalismus“ entliehenen – „menschlichen Waffen“ einen Aufwand trieb, der, was Scharfsinn und Gelehrsamkeit angeht, an den jüngeren Buxtorf oder an J.G. Carpzov erinnert. Wie bei diesen beiden musste auf die Dauer alle Mühe umsonst bleiben; höchstens ein Pyrrhussieg konnte das Ergebnis sein, und für kritische Augen von vornherein nicht einmal ein solcher. Der Plan ging zunächst auf ein Kompendium im Umfang von de Wettes „Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung“ (1817/26), sodann auf ein „vollständiges Handbuch“ und schließlich, im Zusammenhang mit der „Christologie“, auf die ausführliche Untersuchung zentraler Probleme in „Beiträgen“, beginnend mit dem Buch Daniel, „um nicht blos die Ehre dieses Buches, eines der wichtigsten des A.T., zu retten, sondern auch zugleich gegen die ganze rationalistische Critik in Bezug auf das A.T., als deren sicherstes Resultat gerade die Unächtheit des Daniel angesehen wird, bei denen, welche sich nicht geflissentlich gegen die Wahrheit verblenden, ein heilsames Mistrauen zu erwecken“. Folgen sollten Untersuchungen über die Integrität des Sacharja, die Echtheit des Pentateuchs, das Alter des Hiob, die Glaubwürdigkeit von Chronik und Esther, die Quellen der historischen Bücher, die allegorische Auslegung des Hohenliedes und anderes; dem Ganzen sollte nachträglich durch Übersichten und Register ein gewisser Handbuchcharakter gegeben werden58. Zustande kamen 1831 ein erster Band, in dem „Die Authentie des Daniel und die Integrität des Sacharjah“, wie bereits der Titel unmissverständlich feststellt, „erwiesen“ werden, und 1836/39 zwei voluminöse Halbbände (II/1 und II/2 bzw. II und III), in denen der „Authentie des Pentateuches“ das Gleiche widerfährt, sie also „erwiesen“ wird. Der erste Band ist ein Musterbeispiel geschickter Apologetik. Er bestreitet die Datierung des Buches Daniel in die Makkabäerzeit und die von Sach. 56  EKZ 1862, 46f. 57  Beiträge I (1831) IX. 58  Das Vorstehende nach Beiträge I, V–VIII.

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9–14 in die Zeit vor oder nach den vorangegangenen Kapiteln. Die Untersuchung erfolgt beide Male übersichtlich in drei Teilen: Geschichte der Angriffe, Widerlegung der gegnerischen, Darlegung der eigenen Argumente. Auf dem Höhepunkt ruft Hengstenberg in Sachen Daniel einen Zeugen unüberbietbaren Ranges auf: den Herrn Jesus; dieser habe in Mt 24,15 durch den Zusatz „gesagt durch den Propheten Daniel“ zu einem Wort aus dem Danielbuch dessen „Ächtheit“ mit höchster Vollmacht bestätigt59. Dagegen wandte sogleich de Wette ein, selbst wenn, was zweifelhaft sei, Jesus das so gesagt habe, sei „ein solcher Ausspruch noch kein historischer Grund für die Echtheit des Daniel, ja nicht einmal ein Bestimmungsgrund für den gläubigen Christen, ganz so, wie er sich darüber geäußert hat, vom jüdischen Kanon zu denken“60. Später ergänzte er: „Christus wollte weder, noch konnte, der Natur der Sache nach, eine kritische Autorität seyn.“61 Das war in Hengstenbergs Augen der krasseste „Rationalismus“, und so verstieg er sich im zweiten Band der „Christologie“ zu dem pathetischen Satz: „Die Beziehung auf die Maccabäerzeit und die ganze nichtmessianische Auslegung wird so lange falsch bleiben, als das Wort Christi wahr, also in alle Ewigkeit.“62 Mochte Hengstenberg für die Auffassungen seiner Gegner ewige Falschheit und für seine eigenen ewige Wahrheit beanspruchen, so registrierte er doch stets genau, was im Heute geschah. Als er 1836 den ersten Band zur „Authentie des Pentateuches“ herausbrachte, bot sich ihm auf der Gegenseite „ein wahres Gewimmel von Verschiedenheiten“, „ein Krieg aller gegen alle“ – später sollte man in scheinbar vergleichbarer Situation den Begriff „Pentateuchkrise“ prägen. Aber er blieb nicht allgemein, sondern griff scharfsichtig einen Punkt heraus, der in der Tat weitreichende Bedeutung gewinnen sollte: „die durch De Wette vertheidigte Ansicht, daß das Deuteronomium das späteste [Buch] unter allen, der mythische Schlußstein des mythischen Ganzen sey, die schon sich allgemeine Geltung erkämpft zu haben schien, beginnt jetzt der grade entgegengesetzten zu weichen, daß das Deut. unter allen Büchern des Pent. das älteste sey“63. Hengstenberg verwies dafür auf Georges Buch über die älteren Jüdischen Feste, 1835 ebenso in seinem Berliner Umkreis erschienen wie Vatkes „Religion des Alten Testamentes“ und ebenso schon fast die Grafsche Hypothese von 1866/69 vorwegnehmend. Gegen die einstweilen in diesen Schriften kulminierende Kritik zog Hengstenberg 1836 auf LXXXIV + 502 und 1839 auf weiteren 662 Seiten zu Felde, indem er mit gewohntem Aufwand Spuren des Pentateuchs in der älteren prophetischen und historiographischen Literatur ausmachte, den Wechsel des Gottesnamens inhaltlich statt literarkritisch erklärte, die Schreib59  Ebd. 258–70. 60  AEWK I/23 (1832) 12. 61  Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen und apokryphischen Bücher des Alten Testaments (51840) 358. 62 Christologie 1II, 578; mit neuer Begründung wiederholt 2III/1, 202. 63  Beiträge II (1836) LXXIII.

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kunst in die mosaische Zeit zurückverfolgte, Anachronismen und Widersprüche innerhalb des Pentateuchs auflöste und dessen „theologischen Charakter“ als notwendige Grundlage der israelitischen Religion hinstellte. Ein „Anhang“, „nur für Gleichgesinnte bestimmt“, der die „Nachweisung“ erbringen sollte, „daß für die Ächtheit das Zeugnis Christi und seiner Apostel, so wie das Verhältniß des Pentat. zu dem Ganzen der göttlichen Offenbarung und der heiligen Schrift spreche“64, kam nicht zustande. Das heißt natürlich nicht, dass er hier seiner Sache weniger gewiss war als beim Buch Daniel: als der junge Ed. Riehm in seiner Dissertation das Deuteronomium als nichtmosaisch behandelte65, also ein Buch, „aus dem der Herr in Matth. 4 dreimal die Waffen entlehnt gegen die Anläufe des Satans und das er eben dadurch seiner Kirche heilig zu halten befiehlt“, fuhr Hengstenberg ihn mit 2 Sam 10,5 an: „bleibet in Jericho, bis euch der Bart gewachsen ist.“66 Als Nachzügler folgte den „Beiträgen“ 1841 „Die Bücher Mose’s und Ägypten“, zunächst für die „Beiträge“ vorgesehen, aber dann in der Hoffnung auf eine breitere Leserschaft als selbständige Monographie herausgebracht – in der Sache ein Versuch, die durch die jüngsten Entdeckungen (Champollion!) sprunghaft anwachsende Kenntnis des alten Ägypten möglichst eng mit den Angaben über ägyptische Tatbestände im Pentateuch zu koordinieren und damit ein weiteres Argument für dessen Mosaität zu liefern. Ein Torso wie die „Beiträge“ blieb die gleich darauf eröffnete Reihe über „Die wichtigsten und schwierigsten Abschnitte des Pentateuches“, die über den ersten Band, „Die Geschichte Bileams und seine Weissagungen“ (1842) nicht hinauskam; ein zweiter Band sollte von den übrigen poetischen Stücken des Pentateuchs, ein dritter von den wichtigsten geschichtlichen, ein vierter von den wichtigsten gesetzlichen Abschnitten handeln. In der Leserschaft erregte Aufsehen, dass Hengstenberg, Wundern nicht prinzipiell abgeneigt, sich nach langen Überlegungen dazu durchrang, auf das Wunder von Bileams redender Eselin zu verzichten67. Statt die „Beiträge“ und die „Abschnitte“ fortzusetzen, wandte sich Hengstenberg der Abfassung von Kommentaren zu, die fortan neben der „KirchenZeitung“ sein Hauptgeschäft sein sollten – man mag diese Wendung schon im Übergang von den „Beiträgen“ zu den „Abschnitten“ angedeutet finden. Unbestreitbar behielt Hengstenberg seine Grundhaltung bei, aber ebenso unbestreitbar hatte der Exeget Wertvolleres und Bleibenderes zu bieten als der Antikritiker. Seine Kommentare zeigen in ihrem energischen Bemühen um das Verständnis jedes einzelnen Textes in seinem biblischen Zusammenhang ein hohes Maß ebenso an philologischer wie an theologischer Leidenschaft. Das haben immer wieder auch Gegner anerkannt: er sei „kein schlechter Philologe“, 64  Beiträge I (1831) LXXXIII. 65  Die Gesetzgebung Mosis im Lande Moab (1854) 78f. und passim. 66  EKZ 1855, 55. 67  Bileam 48–63.

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bemerkt Wellhausen beiläufig68, und Hupfeld beschimpft Hengstenberg in der Vorrede zu seinem eigenen Psalmenkommentar seitenlang aufs heftigste, gesteht dann aber, dass er sich mit ihm in der Arbeit an diesem biblischen Buch „bei tiefer principieller Verschiedenheit, in der concreten Auslegung der einzelnen Stelle […] in vielfacher Einstimmung“ finde, umgekehrt wie bei „den beiden bedeutendsten unter den übrigen“ neueren Kommentatoren, Hitzig und Ewald69. Nach den vier Psalmenbänden (1842–47), dem ersten und gewichtigsten Werk der ganzen Reihe, machte sich Hengstenberg an die Offenbarung des Johannes (1849/51), stark angetrieben durch die politischen Ereignisse des Jahres 1848, die in ihm apokalyptische Gedanken weckten – ein merkwürdiger Zufall wollte, dass 1848 nicht weniger erschüttert der alte Gegner de Wette seinen Kommentar zur Offenbarung, sein letztes Werk überhaupt, vollendete70. Hengstenbergs Sicht der Vorgänge spricht sich am kürzesten in der rückblickenden Feststellung aus, dass Gott selbst es war, der die Revolution und die Anarchie niederwarf 71. Aber auch für den theologischen Exegeten des Alten Testaments war die Apokalypse von Bedeutung, nämlich als „neutestamentliches Regulativ für das Verständniß der alttestamentlichen Prophetie“: durch Christi „erste Erscheinung“ wurde die alttestamentliche Weissagung noch nicht vollständig erfüllt, die Apokalypse hilft bei der „Aussonderung desjenigen in ihr, dessen Erfüllung noch der Zukunft angehört, und dieß Regulativ muß das Siegel der göttlichen Beglaubigung tragen, wie dieß bei der Apoc. der Fall ist, wenn sie von dem Apostel Johannes abgefaßt wurde“72. Auch hier also, wie bei Mose und den Propheten, die Unentbehrlichkeit der Authentizität! Es versteht sich, dass Hengstenberg es in seinem dreibändigen Kommentar zum Evangelium des Johannes (1861–63) damit ebenso hielt, wobei er sich und seiner gutgläubigen Leserschaft den Unterschied dieses Evangeliums von den Synoptikern so zurechtlegte, dass Jesus „eine doppelte Lehrweise hatte“, wie ja auch David in seinen Psalmen „seine Stimme zu wandeln wußte“73. Die beiden Kommentare aus den fünfziger Jahren gelten zwei „salomonischen“ Schriften und bieten überraschende Aspekte. 1853 führt Hengstenberg das Hohelied auf Salomo zurück und erklärt es, obwohl grundsätzlich kein Freund der Allegorie74, mit dem Hauptstrom der jüdisch-christlichen Tradition und im besonderen gegen Delitzsch75 allegorisch: „Ist Salomo Verfasser des Bu68 Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1901) 69. 69  H. Hupfeld, Die Psalmen I (1855) XVIIf. 70  Kurze Erklärung der Offenbarung Johannis (1848). 71  EKZ 1850, 1. 72  Die Offenbarung des heiligen Johannes für solche die in der Schrift forschen II/2 (1850) 228. 73  Das Evangelium des heiligen Johannes II (1862) 228; III (21870) 404. 74  Vgl. schon die dritte Berliner Promotionsthese von 1825 (bei Bachmann I, 333). 75  Vgl. von diesem: Das Hohelied untersucht und ausgelegt (1851) 47–76.

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ches, so muß der Salomo, mit dem sich dasselbe beschäftigt, von ihm verschieden, der himmlische Salomo seyn, womit dann unmittelbar gegeben, daß die Geliebte keine andere als die Tochter Zion.“76 Das Buch Kohelet dagegen spricht er 1859 dem Salomo ab und datiert es in die Perserzeit, ohne damit ein negatives Urteil über seinen Inhalt zu verbinden77. Der Hiobkommentar, der postum veröffentlicht wurde, aber in den fünfziger Jahren konzipiert sein dürfte78, enthält demgegenüber keine Überraschungen. Wiederum gegen Delitzsch und in Übereinstimmung mit seiner eigenen achten Promotionsthese von 182579, aber gegen die achte von 182380 hält Hengstenberg eisern an der Ursprünglichkeit der Elihu-Reden fest: gibt man sie preis, „so hat man im Wesentlichen das Verständniß des Buches verfehlt“81. Hengstenbergs Schwanengesang, die Erklärung des Ezechiel82, hat mit der der Offenbarung gemeinsam, dass sie auf dem Hintergrund erregender politischer Ereignisse entstanden ist: wer sich in diesen Propheten versenkt, wird sich „getrieben fühlen alle Kräfte aufzubieten, daß die eingetretene Krise zu einem heilsamen Ende gelange“83. Nicht von ungefähr sind diese beiden Kommentare im Titel über den Kreis der Theologen hinaus adressiert an „solche die in der Schrift forschen“. Im Resümee Emanuel Hirschs „bedeutet die ganze ungeheure Arbeit Hengstenbergs auf dem biblischen, insbesondre alttestamentlichen Gebiete nichts als eine Episode, über welche die Forschung hinweggekommen zu sein sich freut“84. Dem ist zweierlei hinzuzufügen. Einmal: einer der schärfsten Gegner Hengstenbergs, D.F. Strauß, hat ihn 1865 in seiner schärfsten Streitschrift, „Die Halben und die Ganzen“, heimlichen Respekt85 offen erwidernd, als den Prototyp eines „Ganzen“ attackiert, wenngleich eines Ganzen „im Sinne des Rückschritts“86. Von einem Ganzen, zumal wenn er eine Symbolfigur gewesen und doch auch geblieben ist, kann man immer lernen, und so sollte man an Hengstenberg nicht achtlos vorübergehen. Sodann: die „Episode“ hatte stärkere Wirkungen, als ein auf die Fachwissenschaft beschränkter Blick erkennen lässt. Hengstenbergs hoffnungsvollster Schüler H.A.Chr. Hävernick (1811–45), im Ur-

76  Hengstenberg, Das Hohelied Salomonis (1853) 250. 77  Der Prediger Salomo (1859) 1–37. 78  Vgl. Ueber das Buch Hiob (1856). 79  S.o. 243. 80  S.o. 242. 81  Das Buch Hiob (1875) I, 68. 82  Die Weissagungen des Propheten Ezechiel für solche die in der Schrift forschen (1867/68). 83  Ebd. I, IV. 84  Geschichte der neuern evangelischen Theologie V, 126. 85  S.o. 251. 86  Kleine Schriften (31898) 217. In die gleiche Richtung zielt Wellhausen, wenn er von der „mannhaften Vertheidigung der Tradition durch Hengstenberg und seine Anhänger“ spricht (Bleek, Einleitung in das Alte Testament, 41878, 4).

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teil eines Andersdenkenden87 „gelehrter, talentvoller und mit einer Ahnung von ächter Wissenschaft“, starb früh, aber ein anderer, C.F. Keil, lebte lange (1807– 88) und schrieb zusammen mit F. Delitzsch den „Biblischen Commentar über das Alte Testament“ in 16 Bänden, der, zuerst 1861–75 erschienen, noch im ausgehenden 20. Jahrhundert in deutscher und englischer Sprache Neuauflagen erlebt hat und also immer noch einem Bedürfnis entsprach. Es war auch nicht von ungefähr, dass sich 1950 eins der ehrgeizigsten exegetischen Unternehmen dieses Jahrhunderts den Namen „Biblischer Kommentar“ zulegte; nach der offiziösen Darstellung eines Hauptbeteiligten sollte damit „bewußt eine Auslegungstradition aufgenommen werden, die durch C.F. Keil und F. Delitzsch begründet worden war“88. Über beide hinweg hätte sich ebenso gut Hengstenberg nennen lassen. Allerdings ist anzunehmen, dass er im Blick auf eine Vielzahl der in dem neuen Werk vertretenen Positionen ungerührt sein „Falsa est“ von 1823 wiederholt hätte.

87  Diestel (s. Anm. 55) 617. 88  H.-J. Kraus in: 75 Jahre Arbeit für Theologie und Gemeinde. Ein Almanach, dargeboten vom Kalenderverlag und Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins (1964) 22.

Heinrich Ewald 1803–1875

Den „Lehrer ohne Gleichen“ nannte ihn sein Schüler Julius Wellhausen1, und das ist Heinrich Ewald weit über den Hörsaal hinaus für viele gewesen. Sein erstes Buch erschien 1823, das letzte 1876; in dieser langen Zeit, auf der Höhe des 19. Jahrhunderts also, war er der Öffentlichkeit präsent wie auf seinem Gebiet sonst nur der etwas jüngere konservative Lutheraner Franz Delitzsch. Im Unterschied zu Delitzsch ist er der Richtung nach nur schwer einzuordnen. Die „urwüchsig religiöse Anlage“, die er besaß, machte ihn nicht konservativ, sondern verband sich mit einem ans Manische grenzenden Einzelgängertum zu einer ungewöhnlichen Leidenschaft des Erkenntnisstrebens auf der Grundlage dessen, was seine Vorgänger erarbeitet hatten, aber doch auch weit darüber hinaus. Zur eigentlichen Avantgarde gehörte er allerdings nicht, wenigstens nicht auf alttestamentlichem Gebiet – vielleicht gerade wegen seines Einzelgängertums: er verschloss sich der durch de Wette und Vatke angebahnten historischen Neuordnung der Pentateuchquellen und ist damit, wie gerade sein Schüler feststellen musste, auf diesem zentralen Gebiet „der grosse Aufhalter gewesen, der durch seinen autoritativen Einfluss bewirkt hat, dass die bereits vor ihm gewonnene richtige Einsicht in den Gang der israelitischen Geschichte nicht hat durchdringen können“2. Franz Delitzsch hat kurz vor seinem eigenen Tod gemeint, mit dem Hingang Ewalds (Mai 1875) sei die „Glanzepoche der alttest. Kritik“ abgeschlossen gewesen3. In Wahrheit stand sie damals unmittelbar bevor.

1  F. Bleek, Einleitung in das Alte Testament, 4. Aufl. von J. Wellhausen (1878) 655. Dort auch das folgende Zitat. 2  J. Wellhausen, Heinrich Ewald, in: Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1901) 63–88 (im Folgenden: Festschrift) 74. Wellhausens Aufsatz, in dem sich menschliche Nähe, souveräne Objektivität und natürliche Darstellungskunst verbinden, ist die schönste Würdigung, die je ein Alttestamentler erfahren hat. Viel Material aus persönlicher Kenntnis enthält auch der Artikel von E. und C. Bertheau, RE3 V, 682–87. 3  Messianische Weissagungen in geschichtlicher Folge (1890) 149.

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Ewalds Oeuvre brauchte keinen Vergleich zu scheuen: er schrieb eine hebräische und eine arabische Grammatik, erklärte nacheinander die poetischen und die prophetischen Bücher des Alten sowie sämtliche Schriften des Neuen Testaments und fasste die Ergebnisse in einer Geschichte des Volkes Israel und einer gesamtbiblischen Theologie zusammen – das meiste davon in mehreren Bänden und Auflagen. Alle diese Werke waren begleitet von längeren und kürzeren Abhandlungen, selbständig oder in Reihen und Zeitschriften erschienen, zu schweigen von zahllosen Besprechungen in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen und anderswo. Zwölfmal kamen seine „Jahrbücher der biblischen Wissenschaft“ heraus, deren Inhalt er fast allein bestritt. Er gründete und bediente reichlich die Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes, aus der die ZDMG hervorging. Je länger desto mehr warf er auch polemische Pamphlete akademischen und politischen Inhalts auf den Markt – Anlass für manche, ihn von da her auch im Übrigen abzuqualifizieren. Sehr zu Unrecht! Ebenfalls zu Unrecht ist er einer fragwürdigen Vielschreiberei bezichtigt worden, wie sie ja auch unter biblischen Exegeten vorkommt. Aber im Blick auf „seine erstaunliche Produktivität“ hat einer seiner Göttinger Nachfolger festgestellt, „nicht etwa Oberflächlichkeit“ sei „der Charakter seiner Arbeitsweise, im Gegenteil;“ Ewald sei „eine durch und durch wissenschaftliche Natur, mit unerbittlicher Strenge alles verpönend, was nur Schein ist, das Kleine bis ins Kleinste durchdringend, aber vor allem mit einem Blick fürs Große und Wesentliche begabt, mit einer wunderbaren Fähigkeit, das Auseinanderliegende zur Gesamtanschauung zusammenzufassen, ‚das Chaos zum Kosmos zu gestalten‘“4. Hinter dem ungewöhnlichen Oeuvre verbarg sich ein ungewöhnlicher Mensch. „Er war wie vom Himmel geschneit, ganz weltfremd“ – so sah ihn Wellhausen5, und so sahen ihn auch die Göttinger, wenn er hoch aufgerichtet ihre damals noch kleine Stadt durcheilte. Wieder Wellhausen: Ewald „liess sich nicht übersehen, sondern fiel überall auf, seine Erscheinung hatte etwas Feierliches; ein wenig half er sich nach, nachdem er seine Idee erfasst hatte. […] Er hatte aber […] auch etwas Scheues. Irgendwie berührt, geriet er in Bewegung wie ein Ameisenhaufe; durch Phlegma zeichnete er sich nicht aus, er war kein Niedersachse [und auch kein Göttinger!], wie er im Buche steht. Spass verstand er nicht, er nahm Alles ernst. Seine religiöse Natur hatte zum Profanen kein Verhältnis und widerstrebte der Toleranz. […] Bei aller Unfehlbarkeit liess er sich doch leicht aus der Fassung bringen. Er war kindlich und in allen äusseren Dingen sehr anspruchslos.“6 Von den berühmten Professoren, mit denen bis heute Stadt und Universität zu prunken pflegen, um z.B. ihren Anspruch auf „Exzellenz“ zu untermauern, ist fast keiner ein gebürtiger Göttinger gewesen. Über die „vom Himmel ge4  A. Bertholet, RGG1 II, 770. 5  Festschrift 80. Dort (67) auch die von Bertholet benutzte Wendung von Chaos und Kosmos. 6  Festschrift 80.

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schneite“ Ausnahme Ewald weiß man allenfalls noch, dass er einer der „Göttinger Sieben“ war. Es ist noch nicht lange her, da hing in der Langen Geismarstraße (Nr. 56) eine Tafel, auf der stand: „In diesem Hause wurde Heinrich Ewald am 16. November 1803 geboren.“ Dort betrieb sein Vater das in Göttingen traditionell häufige Geschäft eines Tuchmachers, das er einige Jahre später in die Düstere Straße (Nr. 15) verlegte. Hier hat Heinrich – oder, wie er (in beabsichtigtem Anklang an den Namen der Universität?) vollständig hieß, Georg Heinrich August – Ewald seine Jugend verbracht. Als Student und Professor wohnte er nacheinander unter acht Göttinger Adressen zur Miete, bevor er sich 1857 im eigenen Haus am Wall, Untere Masch 25, nahe dem 1854 eingeweihten Bahnhof, niederließ. In der Familie, im Gymnasium und als Student war der Einzelgänger fleißig, gelehrt, zielstrebig. Schon früh verdiente er Geld mit privatem Unterricht. In der Matrikel der Universität steht unter dem 13. April 1820 neben seinem Namen: „pauper, gratis“. Die Fakultät, bei der sich der Sechzehnjährige einschrieb, war die theologische. Es hätte aber auch die philosophische sein können, in der er sieben Jahre später Professor wurde. Er habe lange zwischen Theologie und Philologie geschwankt, berichtete er später7, und sich dann zu einem Sowohl – als auch entschlossen: „utrumque studium, quantum fieri possit, conjungere decrevi“. Begonnen habe er mit der hebräischen Sprache, von der er wusste, dass sie die Quelle aller übrigen Gebiete der Theologie sei, und von daher habe ihm sein größter Gönner und Förderer, der Professor Tychsen, schon bald eine solche Liebe zu den Sprachen des Orients eingeflößt, dass er die meiste Zeit, die ihm der notwendige Broterwerb durch Privatunterricht ließ, mit Lust (libens) auf deren Studium verwendet habe. In der Theologie, die deutlich nicht an der ersten Stelle steht, nennt er mit besonderer Dankbarkeit die Übungen in der Sozietät des alten Planck. Man darf annehmen, dass er sowohl philologisch als auch theologisch das Meiste als Autodidakt gelernt hat, mag er auch auf der biblischorientalistischen Seite Tychsen (1758–1834) und neben ihm mit deutlichem Abstand dessen berühmterem Kollegen Eichhorn einige Achtung bewahrt haben8. Schon früh ging er auch zu produktiver Arbeit über. Anfang 18229, in seinem vierten Studiensemester, wagte sich der Achtzehnjährige an den zentralen Gegenstand der alttestamentlichen Einleitungswissenschaft, indem er eine Monographie mit dem Titel entwarf: „Die Komposition der Genesis kritisch untersucht“. Es handelt sich um eine Streitschrift gegen die beiden damals gängigen Hypothesen, einerseits die (ältere) „Urkundenhypothese“, die die Genesis (und dann den ganzen Pentateuch) aus zwei parallelen, durch die Gottes7 Im Lebenslauf bei der Bewerbung um die Göttinger Repetentenstelle, Wolfenbüttel 10.12.1823 (Univ. Archiv Göttingen Theol. SA 0053). 8  Vgl. seine Würdigung beider als der „ehemaligen Göttingischen lehrer“ (und J.D. Michaelis’) JBW 1 (1848) 26–34. 9  „[…] deren Anlage und Ausführung schon im Anfange des vorigen Jahres bereit war“ (so im Vorwort zur Buchausgabe der „Komposition“ 1823).

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namen Elohim und „Jehova“ zu unterscheidenden „Urkunden“, andererseits die „Fragmentenhypothese“, die sie aus einer Vielzahl unzusammenhängender Einzelstücke entstanden dachte. Ewald bestreitet nicht nur diese beiden Hypothesen, sondern äußert Skepsis gegen Hypothesen überhaupt und findet dabei zu dem hübschen Satz: „in historischen Wissenschaften sich erst Schwierigkeiten zu häufen und diese dann nach der zuerst sich darbietenden Hypothese zu lösen, und nach ihr alles übrige gewaltsam bequemen zu wollen – ist ein Weg der nur in ein unabsehbares Irrreich führen kann.“10 Demgegenüber versucht Ewald „das [in der Genesis] Ueberlieferte [so wie es ist] durch sorgfältige Vergleichung der sonstigen Historiographie der Hebräer und des verwandten Orients zu erklären. Ist es doch vorzuziehen, treu dem nachzuempfinden, was der Erzähler in seiner Naivität und seiner Gedankenreihe erzählen wollte, als zu zerreißen, was nie getrennt war und zu zerstören, was im schönsten Verein ist.“11 Der Erzähler! Das ist der eine und einzige Verfasser der Genesis, der mit Ziel und Plan arbeitet12, der das aber nach orientalischer, nicht nach modernabendländischer Weise tut, bei dem es also viele Wiederholungen und Nachholungen gibt, der „mit Namen und Zahlen nicht sehr genau“ ist und den auch Widersprüche nicht stören, die das ohnehin „nur dem äußeren Scheine nach sind“13. Viel Mühe wendet Ewald an die beiden Gottesnamen, mit dem Ergebnis, dass sie nicht auf zwei „Urkunden“ führen, sondern „dass sie meistens an gewisse und stehende Redensarten mit Grund gefesselt und geknüpft sind, und dass sie mit Grund überall wechseln und gesetzt werden“14. – Nach dem Urteil eines Kenners hat von den Bestreitern der Quellenkritik, die es ja bis heute gibt, der junge Ewald den „tiefsten und nachhaltendsten Eindruck gemacht“15; auch bei Kritikern blieb seine Erstlingsschrift als ein „brilliant work“ in Erinnerung16. Gleichwohl hatten die Apologeten Grund, sich nicht auf Ewald als unverdächtigen Gewährsmann zu berufen; sie hätten nämlich unterschlagen müssen, dass er, wie wir gleich sehen werden, nicht lange bei seiner ersten Meinung geblieben ist. Noch im 6. Semester ergriff er einen wenigstens vorläufigen Beruf: er ging nach Wolfenbüttel, um dort am Gymnasium zu unterrichten; in der freien Zeit studierte und kopierte er in der berühmten Bibliothek orientalische Handschriften. Er ging als frischgebackener Dr.phil.: gerade 19jährig hatte er eine mündliche Prüfung bestanden und über 17 Thesen disputiert, deren Mehrzahl Alttestamentliches betraf. Die zweite, über die Genesis, kennen wir in der Sache schon, die dritte dehnt sie auf den ganzen Pentateuch aus: „Pentateuchus ex10  Ebd. 2. 11  Ebd. 3f. 12  Ebd. 266f. 13  Ebd. 189f. 14  Ebd. 38. 15  H. Holzinger, Einleitung in den Hexateuch (1893) 47. 16  A. Bentzen, Introduction to the Old Testament 7(1967) II,13.

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cepto Deuteronomio carminumque insertorum vestigiis ab uno eodemque auctore est profectus“, die vierte greift darüber hinaus: „Cuius auctoris Deuteronomium est, idem librum Josuae conscripsit“ – hier bahnt sich die Hypothese von einem Hexateuch, aber von ferne unvermeidlich auch schon die von einem deuteronomistischen Geschichtswerk an. Aus den übrigen Thesen hebe ich, auch um Breite und Richtung von Ewalds damaligen Interessen anzudeuten, die ebenso schöne wie lapidare dreizehnte hervor: „Koheleth non est scepticus.“17 Die Wolfenbüttler Doppelarbeit füllte Ewald aus, befriedigte ihn aber auf die Dauer nicht. Wenn der Spruch „Extra Gottingam non est vita“ auf jemanden zugetroffen hat, dann auf ihn. Kaum einige Monate in Wolfenbüttel, richtete er also den Blick zurück und vorwärts nach der Vaterstadt, wo zum Sommer 1824 zwei Repetentenstellen an der theologischen Fakultät frei wurden. Einer ihrer damaligen Inhaber, Hermann Wilhelm Bödeker, künftig ein halbes Jahrhundert lang Pastor an der Marktkirche in Hannover und einer der wenigen persönlichen Freunde, die Ewald je hatte, riet ihm energisch, sich zu bewerben, und tat alles, um dem Weltfremden die Wege zu ebnen18. Auf seinen Rat machte Ewald die „Komposition der Genesis“ druckfertig, versah sie mit einem passenden Vorwort und widmete sie den vier Theologieprofessoren Planck, Stäudlin, Pott und noch einmal Planck19, seinen „verehrten Lehrern und wohlwollenden Gönnern [zum] geringen Zeichen seiner Dankbarkeit und Hochachtung“. Damit den Herren die Lektüre nicht ausging, schob er im Januar 1824 noch drei handschriftliche „Specimina“ nach: 23 Seiten über Jesu Selbstbezeichnung als Menschensohn, 16 Seiten über den „locus difficillimus“ Gal 3,19.20, die μεσίτης-Stelle, und last not least einen 61seitigen Kommentar zum Mosesegen Dtn 33. Nach diesen weit über das Übliche hinausgehenden schriftlichen Leistungen empfahl ihm Bödeker, sicherlich ganz überflüssigerweise, sich gründlich nicht nur auf das erforderliche Examen, sondern auch auf die Predigt vorzubereiten, ohne die man nicht Repetent werden konnte: „nimm“, riet er, „einen weisen Pastor zu Rathe und zeige, daß Du vielseitig genug bist, auch eine erbauliche Predigt zu halten. Nur recht muthvoll, so wird alles gut gehen!“20 Ewald predigte am Palmsonntag wahrscheinlich in der Nikolaikirche, die damals seit Kurzem Universitätskirche war, über Jesus in Gethsemane nach Mt 26,37–41 und bestand tags darauf das Examen „zur vollkommensten Zufriedenheit“21. Bödekers Zuspruch im Blick auf die Predigt scheint nicht grundlos gewesen zu sein. Zu den Aufgaben der Göttinger Repetenten gehörte regelmäßiges Predigen, und Wellhausen hat sich später (von Ewald selber?) erzählen lassen, 17  Vgl. Univ. Archiv Göttingen Dekanatsakte Phil. Fak. Nr. 106, Bl. 33–39. 18  Seine damaligen Briefe an Ewald: Univ. Bibl. Göttingen Cod. Ms. Ewald 41, Bl. 79–91. Vgl. auch H.W. Bödeker, 50 Dienstjahre bei der Marktgemeine zu Hannover (1873) 12. 19  Heinrich Ludwig Planck, 1823–31 Ordinarius an der Fakultät seines Vaters. 20  Brief vom 25.3.1824. 21  Das Vorstehende nach der Repetentenakte im Universitätsarchiv (s.o. Anm. 7).

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Ewald habe „in dieser Eigenschaft auch nicht ungern gepredigt“22. Aber nach geraumer Zeit heißt es fakultätsoffiziell, dass Ewald „gar nicht mehr prediget und nicht mehr predigen wird“, was sich daraus erkläre, dass ihm „das Predigen wegen seiner schwachen Brust sehr sauer wird und [er] sich daher schwer verständlich machen kann“23. Da er sonst immer als sehr gesund galt, liegt die Vermutung nahe, dass er trotz oder sogar wegen seiner „urwüchsig religiösen Anlage“ aus tieferen Gründen die Kanzel mied, die Kirchenkanzel wenigstens. Er hatte eine andere Kanzel, nämlich das Katheder im Hörsaal, wo er mehr predigte als dozierte, wie Wellhausen berichtet24. Nicht wenige Studenten stieß das ab, darunter Franz Overbeck (1837–1905), dem Ewalds „eintöniges Prophetenpathos“ „geradezu unausstehlich“ war, zumal wenn es auch „z.B. eine anzubringende grammatische Regel“ einbezog25. Andere wurden gerade durch die Vorlesungen und die in ihnen spürbare Leidenschaft für die Person und die Sache interessiert, wofür das Hauptbeispiel Wellhausen ist. Große Hörerzahlen sind zumindest für die ersten Jahrzehnte bezeugt; daran wird natürlich auch Ewalds rasch wachsende Berühmtheit beteiligt gewesen sein. Seine Karriere verlief in angemessener Geschwindigkeit. Sogleich nach dem Abschluss seiner Repetentenzeit wurde er 1827 außerordentlicher, 1831 ordentlicher Professor, 1833 Mitglied der Akademie (damals „Sozietät“) der Wissenschaften. Das Lehrprogramm schon des Repetenten war umfangreich, meist um 15 Wochenstunden: Kurse im Hebräischen und den damals bekannten orientalischen Sprachen einschließlich – neu für Göttingen – Sanskrit einerseits, Vorlesungen über alt- und neutestamentliche Bücher, aber auch Einleitung in beide Testamente andererseits; am Freitagabend „Übungen in der exegetischen Gesellschaft“, ein Vorgriff auf unsere Seminare. Als 1835 der Zürcher Alttestamentler Ferdinand Hitzig seinen Jesajakommentar „Dem Neubegründer einer Wissenschaft hebräischer Sprache, und dadurch der Exegese des Alten Testaments, G.H.A. Ewald in Göttingen“ widmete, formulierte er damit genau, was Ewalds Intention war; kein Wunder, denn er war einer von Ewalds frühesten Schülern26. Folgerichtig überwiegt in Ewalds Oeuvre zunächst die sprachwissenschaftliche, später immer mehr die exegetische Seite. Eine Schlüsselstellung nimmt naturgemäß vom Anfang an das Hebräische ein. Wieder ein frühes Wagnis: 1827 vollendete er eine „Kritische Grammatik der hebräischen Sprache, ausführlich bearbeitet“ und schickte ein Exemplar an den führenden Sprachforscher und -denker seiner Zeit, Wilhelm von Humboldt (1767–1835) in Berlin. Humboldt antwortete dem 24jährigen in vollkommener Höflichkeit („Erhalten Sie mir Ihr gütiges Wohlwollen und ge22  Festschrift 72. 23  Brief des Dekans Stäudlin an die Fakultät vom 5.2.1826 (in der Repetentenakte). 24  Festschrift 63. 25  F. Overbeck, Selbstbekenntnisse, hg.v. E. Vischer (1941) 124; allerdings handelt es sich dort um eine spätere Zeit (1858). 26  Vorher hatte er bei Gesenius studiert! Hervorhebung oben von R.S.

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nehmigen Sie die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung und aufrichtigen Ergebenheit“), berichtete, dass er beim tieferen Eindringen „wenigstens in einige Abschnitte“ „zugleich Gesenius’ Lehrgebäude verglichen und […] das Arabische über dieselben Abschnitte hinzugenommen“ habe, und kam zu dem Gesamturteil: „Ew. Wohlgeboren haben die Sprache, wie es mir scheint, ganz in ihrer wahren Eigenthümlichkeit aufgefasst, und sie in dem Geiste der neueren Sprachforschung [Humboldt selbst!], welche der Sprachbildung in ihren lebendigen Fortschritten nachzugehen strebt, bearbeitet.“27 Das war ein hohes Lob und entsprach durchaus Ewalds Absicht und Selbsteinschätzung, wie sie sich in den nicht weniger als fünfzehn längeren und kürzeren Ausgaben seiner Grammatik immer wieder ausgedrückt findet. Ewald opponierte gegen eine „empirische“ Behandlung der hebräischen Sprache, die diese „nach der bloß äußern Erscheinung“ auffasste, der aber das „Princip“ fehlte, „die innern und wahren Gründe zu erforschen und sich zu erheben über den äußern Schein. Eine solche Ansicht und Behandlung der hebräischen Sprache konnte in unserer Zeit, der auch die Sprache überhaupt mit Recht in einer höhern und wissenschaftlichern Bedeutung erscheint [wiederum: Humboldt!], und bei dem Fortschritt der Exegese nicht auf die Dauer sich erhalten“28. Die fragwürdige „empirische“ Behandlung fand Ewald bei Wilhelm Gesenius, seinem großen Antipoden in Halle und eine Zeit lang wohl auch Nebenbuhler in der Anwartschaft auf Eichhorns Nachfolge in Göttingen. Er ließ an Gesenius, der ihn seinerseits so sachlich wie möglich behandelte, bis zu dessen Tod kein gutes Haar; dabei hätte er, wie Wellhausen anmerkt, wenigstens „auf lexikalischem Gebiete […] die grossen Verdienste von Gesenius lieber anerkennen, als sie bemäkeln sollen“29. Dagegen – noch einmal Wellhausen30 – die hebräische Syntax „ist von Ewald beinahe erst begründet und seitdem wenig gefördert worden“ – letzteres gilt natürlich heute nicht mehr. Als Beispiel von Ewalds Nachwirken noch in den neuesten Grammatiken sei erwähnt, dass die Bezeichnung der sogenannten Tempora Perfekt und Imperfekt auf ihn zurückgeht, wobei er immer Wert darauf legte, dass sie „nicht in dem engen sinn der Lateinischen grammatik sondern ganz allgemein verstanden“ seien31. 1826 empfahl der später so geschmähte Gesenius dem jungen Studenten Wilhelm Vatke, nach Göttingen zu gehen, um sich dort sprachlich weiterzubilden: „Ewald ist ein exquisiter Hebräer, auch ein selten gelehrter Araber“32. Sein Urteil über den „Araber“ Ewald konnte Gesenius auf dessen im Vorjahr erschie27  Hier nach Wellhausen, Festschrift 82–84. 28  Ueber hebräische Grammatik, ThStKr 1830 (359–67) 361. 29  Festschrift 67. 30  Ebd. 66. 31  Ausführliches Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Bundes (81870) 350. Vgl. Ewald, Ueber die neuere Art hebräischer Grammatik, ZKM 1 (1837) 329. Weiter s. L. McFall, The enigma of the Hebrew verbal system: solutions from Ewald to the present day (1982) 43–56. 32  H. Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften (1883) 27.

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nene Schrift „De metris carminum arabicorum“ stützen, in der Ewald gegen die arabischen Nationalgrammatiker und den Pariser Arabistenpapst A.I. Silvestre de Sacy (1758–1838) den quantitierend-dijambischen Rhythmus der arabischen Poesie nachwies – was ihm eine Kontroverse mit dem de-Sacy-Schüler G.W. Freytag (1788–1861) in Bonn eintrug33, die erste der oft maßlosen Fehden, die er mit seinen wissenschaftlichen Gegnern führte und in denen er nicht immer so eindeutig im Recht war wie hier. Den Höhepunkt seiner Beschäftigung mit dem Arabischen bildete wieder eine Grammatik, auch sie lateinisch geschrieben34 und in Erinnerung geblieben als „ein ernsthafter Versuch, an die Stelle des Systems der Nationalgrammatiker eine neue Sinndeutung der Sprachformen zu setzen“35. Wellhausen schätzte die beiden lateinisch-arabischen Werke seines Lehrers sehr hoch, verkniff sich allerdings nicht, als Nebengrund anzugeben: „sein Latein ist noch immer verständlicher als sein Deutsch.“36 Natürlich betrieb Ewald diese Arbeiten nicht zuletzt um des Hebräischen willen. Humboldt hatte ja recht, bei seiner Ewald-Lektüre nicht nur Gesenius zu vergleichen, sondern auch das Arabische hinzuzunehmen, dessen Bedeutung für die hebräische Sprachwissenschaft damals längst feststand. Auf diesem Gebiet erwuchs Ewald in späteren Jahren ein ernstzunehmender Widersacher in Gestalt des in mancher Hinsicht interessanten Justus Olshausen (1800–82), der dem Ewaldschen System ein konsequentes eigenes entgegenstellte, das von der Priorität des Arabischen vor den übrigen semitischen Sprachen ausging und die hebräische Grammatik ganz von da her entwickelte37. Demgegenüber sah Ewald das Hebräische „für die verhältnismäßig älteste Stufe der semitischen Sprachen an und meinte, sie müsse den Ausgangspunkt für das Studium der übrigen bilden“38. Noch zu Lebzeiten Olshausens (aber nicht mehr Ewalds) wollte der Gießener Alttestamentler Bernhard Stade sozusagen aus These und Antithese eine Synthese machen, in einer hebräischen Grammatik, die Olshausen mit großen Worten gewidmet war, aber nicht über Schrift-, Laut- und For33  Sein Schlusswort: Weitere Bestätigung der Kritik über Freytag’s arabisches Lexicon und arabische Metrik, in: Ewald, Abhandlungen zur orientalischen und biblischen Literatur I (1832) 12–52. 34  Grammatica critica linguae Arabicae (I/II, 1831–33). 35  J. Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts (1955) 167. 36  Skizzen und Vorarbeiten VI (1899) 260. 37  J. Olshausen, Lehrbuch der hebräischen Sprache (1861); dort IX: „das ganze Gebäude ruht natürlich auf der Vergleichung jener [semitischen] Sprachen und insbesondere des Arabischen, das für die richtige Erkenntniss des semitischen Sprachstammes eine ganz ähnliche Bedeutung hat, wie das Sanskrit für den indo-europäischen“. 38  Wellhausen, Festschrift 71. Vgl. Ewald, Abhandlung über die geschichtliche folge der Semitischen sprachen (1871). Zu Olshausen bemerkt Ewald: „Es ist nun ganz unnötig hier im Allgemeinen zu zeigen wie das Arabische bei allen theilweisen hohen Vorzügen doch auch eine sehr große Menge von Erscheinungen an sich trage die auf späterer geschichtlicher Ausbildung beruhen und wo das Hebräische viel mehr vom Ursprünglichen und Alterthümlichen sich bewahrt hat.“ (GGA 1861, 1805f.).

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menlehre hinaus gedieh39. Ewald selbst kündigte mehrfach eine eigene Grammatik des Semitischen an, tat aber gut, diesen Plan nicht auszuführen. Die seitherige Entwicklung der Semitistik, allem voran die Erschließung des Akkadischen, hat die damaligen Alternativen längst in Vergessenheit geraten lassen. Festgehalten sei aber, dass Ewald nicht nur an den großen, sondern auch an vielen kleinen Fragen der Orientalistik unermüdlich interessiert blieb und sich und seine Leserschaft, besonders in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, über alles, oder doch das meiste, Neue auf dem Laufenden hielt. Er machte sich auch ganz ausdrücklich zum Apologeten des Orients, indem er eine „Abhandlung zur zerstreuung der vorurtheile über das alte und neue Morgenland“ schrieb (1872). Die Vorurteile sind: der Orient sei unveränderlich, kenne keine Freiheit, habe keine ausgebildete Kunst, sei in der Dichtung und der Philosophie nicht schöpferisch. Ewald schließt seine ausführliche Gegenrede: „Möchte denn das schädliche welches in solchen weitherrschenden vorurtheilen immer liegt, bald sich überall unter uns verlieren!“40 So viel Gewicht die philologischen Arbeiten bei Ewald hatten und so sehr sie ein normales Gelehrtenleben schon völlig ausgefüllt hätten, sie standen im Grunde doch allesamt direkt oder indirekt im Dienst seines großen Hauptgeschäfts, der Auslegung der Bibel. Hier war er seit der „Komposition der Genesis“ auch als Autor nicht untätig gewesen. Er hatte sogar zwei Bücher kommentiert, 1826 das Hohelied Salomos und 1828 die Offenbarung des Johannes (lateinisch) und hatte sich vielerorts, vorzugsweise in Rezensionen, mit eigenen Beobachtungen und Meinungen zu Wort gemeldet, so 1828 in der Besprechung einer Neuerscheinung zu Jeremia beiläufig mit der These, dass die Propheten (vor Jeremia Jesaja) ihre Berufungs- („Inaugural“-) Visionen nicht am Anfang, sondern am Ende ihrer Tätigkeit schriftlich niedergelegt hätten41, oder 1831 bei Gelegenheit einer Genesis-Arbeit42 mit nichts Geringerem als dem Widerruf seiner eigenen „Komposition der Genesis“: nicht mehr ein einziger Erzähler in der Genesis, sondern als Grundlage des ganzen Pentateuchs eine alte Schrift von „höchster Einfachheit und natürlicher Schönheit“, bis Ex 6 mit dem Gottesnamen Elohim, ältere Einzelstücke (Dekalog, Bundesbuch) enthaltend, später erweitert aus einer „neuen Schrift über die alte Geschichte, reicher an Sagen, geschmückterer Darstellung“ und von vornherein mit dem Gottesnamen Jehova/Jahwe. Die Alternative, ob die „neue Schrift“, zunächst selbständig, von einem Dritten hinzugefügt oder ob ihre Bestandteile von vornherein zur Erweiterung der alten Schrift verfasst wurden, entscheidet Ewald etwas zögernd 39  B. Stade, Lehrbuch der hebräischen Grammatik I (1879); vgl. das Vorwort. 40  A.a.O. 56. 41  ThStKr 1 (1828) 579 in der Besprechung von E.F.C. Rosenmüller, Jeremiae vaticiniae (ebd. 575–85). 42  J.J. Stähelin, Kritische Untersuchungen über die Genesis: H. Ewald, ThStKr 4 (1831) 595–606.

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zugunsten der ersten Möglichkeit, also „im Grunde“43 zugunsten der sog. älteren Urkundenhypothese; die Erwägung der zweiten, von ihm nicht kategorisch abgewiesenen Möglichkeit hat andere zur sog. Ergänzungshypothese geführt, als deren „Vater“ Ewald darum nicht gänzlich ohne Grund bezeichnet worden ist44. Er selbst hat seine Auffassung später in den drei Auflagen der „Geschichte des Volkes Israel“ erheblich differenziert und sich dabei deutlich in Richtung der „neueren Urkundenhypothese“ mit ihren drei Quellenschriften, zwei elohistischen und einer „jehovistischen“, bewegt, die 1853 Hermann Hupfeld in seinen „Quellen der Genesis“ etablierte. Für Ewald gehen, sehr vereinfacht, dem Hexateuch auf dem Weg zwischen einigen alten „Bruchstücken“ und dem Deuteronomium fünf „Geschichtswerke“ voraus: 1. ein „Buch der Bündnisse“ aus der Richterzeit, 2. ein „Buch der Ursprünge“ (etwa Hupfelds „älterem“ Elohisten oder der später so genannten Priesterschrift entsprechend) aus der frühen Königszeit und danach (3. – 5.) drei „prophetische Erzähler“; der erste (insgesamt 3.) entspricht etwa Hupfelds „jüngerem“ Elohisten, der zweite (insgesamt 4.) – er benutzt von vornherein den Gottesnamen Jahwe – Hupfelds „Jehovisten“, also dem später so genannten Jahwisten, der dritte (insgesamt 5.) ist auch Redaktor gewesen – durch seine Unterscheidung vom zweiten (4.), die Ewald in der zweiten Auflage der „Geschichte des Volkes Israel“ vollzog, hat er definitiv für die Urkundenhypothese optiert45, mit deren Urheber Hupfeld er sich in der Frühdatierung der „Urschrift“, wie Hupfeld unsere Priesterschrift nannte, auch über die ärgsten persönlichen Zerwürfnisse hinaus46 ohnehin einig war und blieb. Aber das Charakteristikum seiner eigenen Sicht der Entstehung des Pentateuchs ging über das leicht zum „Mechanischen“ tendierende Verfahren der Urkundenhypothese weit hinaus; er hatte, ob im Detail zutreffend oder nicht, eine lebendige Vorstellung davon, „welche ungemeinen schicksale dies große werk durchlief ehe es seine jezige gestalt erhielt, wie es von einem kleinen anfange aus bei jeder bedeutenden wendung des ganzen Hebräischen schriftthumes bis in das ende des 7ten oder den anfang des 6ten jahrh. sich vergrößerte und veränderte, und wie es also auf seinem gebiete das Schönste und Ewigste der schriftstellerischen thätigkeit einer langen Reihe von jahrhunderten vereinigt“47. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Ewald und noch zu dessen Lebzeiten hat der junge Wellhausen seine eigene Ausgangsposition so formuliert: „Auch im Pentateuch sind nicht zwei oder mehere grosse geschichtliche Zusammenhänge, die den selben Gegenstand haben, ursprünglich unabhängig von einander geschrieben, so dass der spätere vom früheren keine Notiz nimmt. 43  O. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament (31964) 216. 44  Holzinger, Einleitung (Anm. 15) 59. 45  Vgl. Geschichte des Volkes Israel 3I (1864) 95–193 und dazu F. Bleek–A. Kamphausen, Einleitung in das Alte Testament (31870) 196 bzw. Bleek–Wellhausen (oben Anm. 1) 272. 46  Zu beider Verhältnis vgl. O. Kaiser, Zwischen Reaktion und Revolution (AAWG.PH III, 268, 2005) 70–82. 47 Geschichte 3191f.

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Vielmehr an Einen Kern, in welchem zum ersten Male die bis dahin vereinzelten mündlich und schriftlich vorliegenden Geschichten aneinandergefügt wurden, setzten sich theils kleinere Stücke an […], theils ward das Ganze im Zusammenhange neu bearbeitet, vielleicht so, dass es selbst seinem wesentlichen Inhalte nach der neuen Bearbeitung von Anfang an einverleibt blieb, oder so, dass nur die Grundlinien seines Planes für diese massgebend waren, wodurch es einem späteren Redaktor möglich ward, Altes und Neues zu combinieren – für beide Möglichkeiten spricht Vieles.“48 Schon früh, in dem für die Bibelkritik so wichtigen Jahr 1835 – Strauß’ Leben Jesu, Vatkes Religion des Alten Testaments! – begann das erste von Ewalds großen Werken zum Alten Testament zu erscheinen, „Die poetischen Bücher des Alten Bundes“, später, als Ewald sich immer mehr der Fremdwörtervermeidung befleißigte, umbenannt in „Die Dichter des Alten Bundes“; dem dritten (bzw. vierten) Band (1839) folgten sogleich (1840/41) in drei Bänden „Die Propheten des Alten Bundes“. Die beiden Serien dürften etwa das enthalten, was die Studenten in Ewalds exegetischen Vorlesungen zu hören bekamen: Übersetzung und Erklärung aller Texte auf wissenschaftlichem Niveau und doch flüssig geschrieben und leicht lesbar, also auch zur kursorischen Lektüre einladend, aber mit einem Manko: so gut wie ganz fehlt die Einzelauseinandersetzung mit abweichenden Meinungen – auch dies offenbar ebenso wie im Hörsaal: Wellhausen berichtet aus der von ihm gehörten Psalmenvorlesung: „Zu Anfang nannte und beurtheilte er einige neuere Commentare und bemerkte zum Schluss, nachdem er sie im Ganzen abgethan, brauche er sie im Einzelnen nicht mehr zu widerlegen: ‚ich sage fortan immer gleich das richtige‘.“49 In der Vorrede zur Kommentierung des Hiob in den „Dichtern des Alten Bundes“ hat Ewald es so ausgedrückt: „Ich will und mag es allerdings nicht verhehlen daß jene ganze erklärung im einzelnen wie im ganzen sosehr aus meiner eigensten durchforschung und frischesten erkenntniß aller einzelnheiten entsprossen war daß ich darüber alle andern erklärer, auch die deren werke ich in meinen frühesten zeiten gelesen hatte, vollkommen vergaß.“50 Die Prophetenbücher sind chronologisch gruppiert, ebenso die einzelnen Psalmen, von denen Ewald 16 (2. Aufl. 17) für davidisch, aber keinen für makkabäisch hält. Wellhausen ist hier besonders kritisch: „Ewald erklärt zu viel, er erklärt Alles. Er unterscheidet nicht scharf zwischen sicher Erkanntem und Zweifelhaftem, spricht niemals ein non liquet aus und sinkt manchmal auf das gleichmäßige Niveau eines pathetischen Helldunkels herab.“51 Dagegen nennt Wellhausen die Erklärung der Propheten „Ewalds exegetische Glanzleistung“: „er drang tiefer in ihr Wesen ein, als irgend einer seiner 48  Der Text der Bücher Samuelis (1871) Xf. – F. Delitzsch sprach bei Ewald ganz treffend von einer „Krystallisationshypothese“ (Die Genesis, 21852, 29). 49  Festschrift 64. 50  Dichter III (21854) X. 51  Festschrift 73.

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Vorgänger“52. Ewald hat dieses „Wesen“ oft beschrieben, sehr charakteristisch etwa so: „Ein Prophet ist nach seinem ursprünglichen begriffe nicht Prophet für sich sondern für andere menschen: er hat etwas nicht ihn oder doch nicht ihn allein angehendes gesehen oder gehört was ihn nicht ruhen läßt, worauf er durch das wort wirken muß. Da überwältigt ihn nun zunächst eine göttliche wahrheit und vorstellung, die er sieht wie ein gesicht vor seinem geiste schwebend: sie nimmt ihn ganz ein so daß er als mensch davor verschwindet, daß er allein die halbe göttliche gestalt der sache zu schauen und das zu ihr gehörende wort zu hören meint, und nicht sich mehr hört und fühlt sondern die laute und klare stimme eines andern der höher steht als er. Vernimmt er aber so über etwas weltliches so sehr allein die gewaltige stimme dieses höhern, daß er sich selbst nicht mehr retten und ihrem rufe nicht länger entgehen kann: so muß er am rechten orte äußern was ihn innerlich unwiderstehlich bedrängt, und er findet eher keine ruhe als bis er die schuld gelöst; es ist bei ihm ein wahres gefühl als wäre ihm ein besonderer auftrag, eine sendung und botschaft von seinem Gotte geworden, aller hindernisse ungeachtet gerade am rechten orte die höhere stimme klar zu verkündigen die er in sich nicht länger bergen und unterdrücken kann; er handelt und redet nicht für sich, ihn treibt ein höheres dem zu widerstreben sünde ist, sein Gott der auch der Gott derer ist zu denen er reden muß; und die zu welchen er redet fühlen durch die äußerung auch leicht ihren Gott in sich lebendig werdend, vernehmen was sie suchten und nicht fanden, und ahnen und erkennen in dem der ihnen erklärt was sie längst suchten den verkündiger und dollmetscher seines und ihres Gottes, den mittler zwischen ihnen und Gott. In diesem unwiderstehlichen Etwas was den Propheten sowohl als seine zuhörer treibt, in der äußersten gewalt womit die göttliche wahrheit und vorstellung aus dem einen wie aus ihrem werkzeuge hervorspringt und auf die andern wie auf leidende wirkt, darin liegt das echtprophetische.“53 Der Einfluss des Exegeten Ewald auf den Exegeten Wellhausen ist nirgends stärker gewesen als in der Erklärung der Propheten. Als Wellhausen seine erste Jesaja-Vorlesung gehalten hatte, sprach er von einer Abhängigkeit, die ihm „fast drückend vorgekommen“ sei, und fügte hinzu: „Ich glaube, hinsichtlich der Auffassung einer Stelle im Großen, dem Ewald aufs Wort mehr, als dem Hitzig auf sieben mal siebenzig Gründe.“54 Ähnlich hätte sich Bernhard Duhm, der inspirierteste und einflussreichste Prophetenausleger des ausgehenden 19. und doch wohl auch des ganzen 20. Jahrhunderts, äußern können; es war, im Rückblick gesehen, fast ein symbolischer Akt, dass er, durch Wellhausens erste Vorlesung über die Kleinen Propheten angeregt, beim Antiquar Ewalds „Propheten“ als sein erstes theologisches Buch kaufte55. 52 Ebd. 53  Die Propheten des Alten Bundes 2I (1867) 6. 54  An A. Dillmann 17.4.1872 (Briefe, 2013, 12). 55  B. Duhm, Die Zwölf Propheten (1910) III.

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Mitten in das Erscheinen der „Poetischen Bücher des Alten Bundes“ fiel (1837) ein Ereignis, das sich auf Ewalds Leben sehr ungünstig auswirkte: die Entlassung aus seiner Professur, weil er sich am Protest der „Göttinger Sieben“ gegen die Suspendierung des hannoverschen Staatsgrundgesetzes durch den neuen König Ernst August beteiligt hatte. Zwar erhielt er nach wenigen Monaten einen Lehrstuhl in Tübingen, aber wieder galt für ihn, und mehr als beim ersten Mal: extra Gottingam non est vita. Wellhausen kommentierte später: „ein Märtyrer darf sein Martyrium nicht überleben, sonst richtet er Unheil damit an“56, und unter Ewalds Porträt schrieb er den Spruch über Ismael in Gen 16,12: „Seine Hand gegen Jedermann und Jedermanns Hand gegen ihn.“ Reizbar und streitbar war Ewald wohl immer gewesen, aber diese Eigenschaften nahmen nun ein solches Ausmaß an, dass, wer Lust hat, die zweite Hälfte seines Lebens weithin als eine Chronique scandaleuse beschreiben kann – nur dass er damit nicht nur das Beste, sondern auch das Eigentliche dieses Lebens verfehlt. Und nebenbei: Ewalds Injurien57 sind wirklich nur Verbalinjurien, er war im Kern ein harmloser und redlicher Mensch, eben „wie vom Himmel geschneit“. Das Archiv des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, seit 2011 in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt, enthält einen großen Umschlag mit der Aufschrift „Grober Briefwechsel mit Ewald“; die Aufschrift stimmt, aber das Grobe ist mit einer sensiblen, fast kindlichen Hand geschrieben. Der Göttinger Universitätskurator, der es mit Ewald nicht leicht hatte, nahm ihn aus gegebenem Anlass beim Ministerium mit den Worten in Schutz: „Daß Ewald in vieler Hinsicht ein höchst eigenthümlich organisirter Mann ist, habe ich bereits früher entwickelt. Nach dem Maßstabe, mit welchem man andere Menschen mißt, darf man ihn nicht messen. Er ist so uneigennützig und so entfernt von allem […]“58. In Tübingen starb bald seine Frau, die lange gekränkelt hatte; sie war die Tochter des berühmtesten aller Göttinger Professoren, des Mathematikers und Astronomen Karl Friedrich Gauß (1777–1855) gewesen. Noch in Tübingen heiratete Ewald wieder, eine Schleiermacher aus Darmstadt. Fuß fasste er an der neuen Wirkungsstätte nicht. Schon 1841 wechselte er aus der philosophischen Fakultät in die theologische, wo er den großen F.C. Baur (1792–1860) zum Nachbarn hatte, mit dem er sich nicht verstand, der ihm aber gerade darum mitsamt seiner Schule, voran D.F. Strauß (1808–74), einen willkommenen negativen Orientierungspunkt für seine eigene Arbeit am Neuen Testament bot. Um ja nicht missverstanden zu werden, verfasste er 1846 ein Pamphlet „Ueber einige wissenschaftliche Erscheinungen neuester Zeit auf der Universität Tübingen“, und als ihm 1848 im zweiten Anlauf die Rückkehr nach Göttingen gelang, verab56  Ed. Schwartz, Vergangene Gegenwärtigkeiten (21963) 336. 57  Eine Fundgrube ist L. Perlitts unerbittliche Vorführung des „Gelehrten in der Politik“ in B. Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen (1987) 157–212 (auch in L. Perlitt, Allein mit dem Wort, 1995, 263–312). 58  A. v. Warnstedt Juli 1855 in Ewalds Göttinger Personalakte Kur. 5819 Bl. 99.

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schiedete er sich mit einer bissigen Schrift „Ueber seinen Weggang von der Universität Tübingen mit anderen Zeitbetrachtungen“. Zu diesem Zeitpunkt lag sein opus maximum, die „Geschichte des Volkes Israel“, mit drei von (in der 3. Auflage) sieben (bzw. acht) Bänden fast zur Hälfte vor. Wenn das Buch nur das Verdienst gehabt hätte (das es hatte!), den frustrierten Theologiestudenten Wellhausen zwischen dem zweiten und dritten Semester „aus dem Schlafe geweckt“ und bei der Stange gehalten zu haben59, wäre es schon wert, geschrieben zu sein. Aber es ist natürlich zunächst vor allem um seiner selbst willen von Interesse. Es beschreibt die Geschichte des Volkes Israel in drei „Wendungen“ (für „Perioden“): 1. die „reine Gottherrschaft“ (Theokratie: Mose, Josua, Richter; Bd. II), 2. die „Königs- und die Gottherrschaft“ (die Zeit der Monarchie, Bd. III), 3. die „Heiligherrschaft“ (Hierokratie, Bd. IV–VII), diese wiederum in drei „Schritten“: Perserzeit, Griechenzeit und Römerzeit, letztere unter der Überschrift „Das Zusammentreffen der unmittelbaren römischen Herrschaft in Palästina und des neualten Volkes Israel“ auf drei „Stufen“, von denen jede einen Band füllt: die Zeit Christi, die Zeit bis zur Zerstörung Jerusalems, die Zeit bis Bar Kochba, jeweils auf jüdischer und christlicher Seite; den Abschluss macht die Bildung des jüdischen und des christlichen Kanons. Das Ganze wird ergänzt durch einen nicht gezählten Ergänzungsband zu Band II und III über die „Altertümer des Volkes Israel“. Heute wird kaum noch jemand das Werk von Anfang bis Ende durchlesen, obwohl der Schwung, mit dem es geschrieben ist, und die Gewissenhaftigkeit, mit der die Darstellung überall aus den Quellen begründet wird, immer noch Eindruck machen können. Hier liegt allerdings nicht nur seine größte Stärke, sondern auch seine größte Schwäche. Ich belege das mit einigen Sätzen aus dem ersten Band, wo Ewald fundamental und wiederum sehr charakteristisch von den Quellen handelt und dabei ein Loblied auf die Sage anstimmt, die für ihn durchaus keine minderwertige Quelle ist, aus deren „unendlichen wiederholungen färbungen und wechseln“ sich vielmehr „der geist des bedeutenden ereignisses“ „im fortschritte der zeit selbst immer reiner und freier wie der tag aus den nebeln erhebt“; „die hehren gestalten der geschichte, statt durch die sage bloß zu leiden oder gar vernichtet zu werden, gehen vielmehr leicht im reinern lichte wiedergeboren aus ihrer werkstätte hervor“60. Und für eine noch spätere Zeit: wenn die Sage „alle bande der zeitlichkeit mehrundmehr abgestreift hat und nur noch in ihren trümmern einige erhabene bilder der vorzeit als ebensoviele reine gedanken überliefert, dann fordert sie nichtnur die künstlerischsten und dichterischsten erzähler zu ihrer wiederbelebung auf (denn nicht die gewöhnlichen erzähler können ihr dann genügen), sondern muß auch diesen eine unendlich höhere freiheit einräumen als sie auf jener ersten stufe gestattet, da ohne diese der zweck selbst der wiederbelebung nicht erreicht werden 59  Vgl. dessen Lebenslauf Briefe (2013) 788. 60  Geschichte des Volkes Israel 3I, 25f.

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könnte. Hier ist es also wo die sage sich fast nothwendig mit ganz neuen fähigkeiten und mächten des menschlichen geistes vermählt, und dadurch schöpfungen erzeugen kann von denen auf jener ersten stufe sich kaum die ersten spuren zeigen. Trifft sie hier das Passende und Wahre, so wird sie, indem sie von dem grundgedanken eines ganzen sagengebietes ausgeht und durch diesen alles Zerstreute neu belebt, die ächte wiederherstellerin und neue schöpferin untergegangener geschichten, und zeichnet, zwar mit ganz andern farben als die gemeine erzählung und geschichte, aber mit nicht geringerer wahrheit und nur im höhern glanze das Ewige des Alterthums aufs neue in die blätter der flüchtigen gegenwart.“61 Das klingt sehr schön, aber die „höhere, d.i. nicht eigentliche Wahrheit“62, die dabei herauskommen kann, ist für den normalen Historiker alles andere als eine unproblematische Größe. Parallel zu den letzten Bänden der Geschichte des Volkes Israel übersetzte und erläuterte Ewald das Neue Testament ähnlich wie vorher die Dichter und Propheten des Alten Bundes, eine Arbeit, die er durch eine Reihe von Abhandlungen über Einzelfragen, auch zu den Pseudepigraphen, unterbaute. Er befand sich dabei auf Schritt und Tritt im Widerspruch zu den Thesen seines Tübinger Exkollegen Baur, der an Jesus von Nazareth als Bestandteil und Zielpunkt der Geschichte Israels kein Interesse besaß. Ewald fasste die Bedeutung, die der „geschichtliche Christus“ als „der höchst lebendige Mittelort aller menschlichen Geschichte“ für ihn hatte, in dreißig Sätzen zusammen, die er am 7. März 1866 von der Göttinger Sektion des Protestantenvereins „annehmen“ ließ – er war 1863 an der Gründung des Vereins in Frankfurt beteiligt gewesen, verließ ihn aber in Reaktion auf die politischen Ereignisse des Jahres 1866. Jene Sätze stellte er 1867 der dritten Auflage der „Geschichte Christus’ und seiner Zeit“ voran63, die den besonders liebevoll ausgearbeiteten fünften Band der „Geschichte des Volkes Israel“ ausmacht. Unter den Darstellungen des Lebens Jesu wird dieses ziemlich konservative Buch selten genannt. Laut Albert Schweitzer hat Ewald es nur „mit alttestamentlicher Gelehrsamkeit aufgeputzt und einige Scheinversuche gemacht, den Zusammenhang der Gedankenwelt Jesu mit der des nachdanielischen Judentums aufzuzeigen, ohne die Sache selbst ernst zu nehmen und“, für Schweitzer natürlich die Hauptsache, „ohne auch nur eine Ahnung von dem wirklichen Wesen der Eschatologie Jesu zu haben“64. Schweitzers Gesamturteil: „sozusagen wertlos“65. Immerhin ist Ewald aber in die Geschichte der Synoptikerforschung dadurch eingegangen, dass er nicht lange nach den Pionieren Lachmann, Wilke und Weiße die Priorität des Markusevangeliums vertrat66 61  Ebd. 57f. 62  Vgl. Wellhausen, Festschrift 75. 63  Dort XXXIII–XL. 64  Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1913) 139. 65  Ebd. 1192. 66  JBW 1 (1848) 141–47; 2 (1849) 203–08; Die drei ersten Evangelien übersezt und erklärt (1850).

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und eine Reihe von Gelehrten von ihr überzeugte, voran den bisherigen „Tübinger“ Albrecht Ritschl67. „Ewald hatte den Erfolg, den Lachmann Wilke und Weiße verdienten“, konstatiert Wellhausen68. Allerdings versah Ewald seine Gestalt der Hypothese mit so vielen Komplikationen69, dass er ihr damit, wie Ritschl fand, beinahe „selbst den Todtenschein mitgegeben“ hätte70. Als er die Geschichte des Volkes Israels abschloss, war Ewald längst wieder in Göttingen. Er hatte bei der Rückkehr aus Tübingen seinen alten Lehrstuhl besetzt vorgefunden, mit seinem eigenen Schüler Ernst Bertheau, den man vom Privatdozenten und Extraordinarius hatte aufrücken lassen und dessen Vortrag, am Beispiel der Psalmen, für den Studenten Overbeck, und vermutlich nicht nur für ihn, von „tödtlicher Langweiligkeit“ war71. So wurde für Ewald ein neuer Lehrstuhl eingerichtet, den er dann bis 1867 innehatte; zwischendurch, 1855, wäre er gern in die theologische Fakultät auf den verwaisten Stuhl Friedrich Lückes hinübergewechselt, doch fand er damit weder bei den Theologen noch beim Universitätskurator die nötige Gegenliebe. 1867: da weigerte er sich, den Eid auf den König des ihm seit längerem verhassten Preußen zu leisten, der seit der Annexion des Königreichs Hannover im Vorjahr sein Dienstherr war; er hatte dazu schon im Sommer 1866 auf 35 Seiten der Vorrede zur zweiten Auflage des zweiten Bandes der „Dichter des Alten Bundes“ mit der Eingangsfrage „Gibt es noch ein Deutschland?“ vehement Stellung bezogen. Als er nach seiner Entlassung nicht Ruhe gab – 1868 ließ er unter anderem eine Broschüre „über seine zweite Amtsenthebung an der Universität Göttingen“ (nach der von 1837) drucken, die mit dem Aufruf endete, „das deutsche Volk“ müsse „sich rasch und muthig aus dem Schrecken und der Verwirrung dieser Nacht erheben“ –, wurde ihm nach der Beamtenstellung auch das Recht zu Vorlesungen genommen72. Er hatte danach noch einmal eine wiederum ganz andere „Kanzel“, nämlich seit 1869 im norddeutschen und anschließend im deutschen Reichstag, in den er als Abgeordneter des Wahlkreises Hannover für die Welfenpartei gewählt wurde. Die Heftigkeit, mit der er in dieser letzten Phase seines Lebens noch einmal für seine Überzeugungen stritt, entfremdete ihm manche, die noch zu ihm gehalten hatten. Er brach sogar mit seinen beiden bedeutendsten Schülern, Theodor Nöldeke und Julius Wellhausen. Den Umstand, dass Nöldeke die Geschichtlichkeit von Gen 14 mit guten (Ewald: „leichtsinnigen ja völlig bodenlosen“) Gründen bestritt73, erklärte er in einem Zusatz zur Geschichte 67  Vgl. O. Ritschl, Albrecht Ritschls Leben I (1892) 181. 68  Einleitung in die drei ersten Evangelien 2(1911) 37. 69  Übersichtlich zusammengefasst bei W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien (1985) 319. 70  A. Ritschl, Gesammelte Aufsätze (1893) 26. 71  Overbeck (s.o. Anm. 25) 123f. 72  J. Blenkinsopp blieb es vorbehalten, ihn überdies „eine Zeitlang in einem Bismarckschen Gefängnis“ unterzubringen (A History of Prophecy in Israel, 1984, 29, in der Übersetzung E. S. Gerstenbergers, 1998, 24). 73  Th. Nöldeke, Untersuchungen zur Kritik des Alten Testaments (1869) 157–72.

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des Volkes Israel74 für „nicht bloß unverantwortlich sondern auch mehr als thöricht“ und „ein schlimmes zeichen dieser zeit“, wogegen sich Nöldeke aufs würdigste verwahrte und hinzufügte, er werde „nie und nimmer aufhören“, Ewald „als bahnbrechenden Forscher und als“ seinen „hauptsächlichen Lehrer zu verehren“75. Und es wurde „erzählt, daß Ewald Wellhausen, der seine Studien schon völlig beendet hatte, noch einmal zu sich bestellte und ihm in seiner feierlichen Weise eröffnete, daß er der einzige sei, der seine wissenschaftliche Mission, die für Ewald zugleich eine religiöse war, übernehmen könne; aber er werde ihm seinen Segen nur geben, wenn er den König von Preußen und Bismarck für Übeltäter und Schurken erkläre. Wellhausen weigerte sich; der Alte schob ihn, tränenden Auges, aus der Tür. Er hat sich nicht mit dem Lieblingsschüler ausgesöhnt; als dieser, bei einem vorübergehenden Aufenthalt in Göttingen ihn herankommen sah und mit ausgestreckter Hand ihm entgegen ging, wandte er sich ab.“76 Trotz allem, was sich von Ewalds persönlich-wissenschaftlich-politischkirchlichem Vielfrontenkrieg in der Tübinger und der zweiten Göttinger Zeit noch berichten ließe, blieb die wissenschaftliche Produktion immer sein Hauptgeschäft und blieb er in ihr rastlos tätig; Zeiten der Erholung kannte er nicht. Und so benutzte er die letzten Jahre seines Lebens, um noch einmal ein großes Buch zu schreiben, eine „Theologie des Alten und Neuen Bundes“ mit dem deutschen Obertitel „Die Lehre der Bibel von Gott“77, deren erster Band 1871 erschien, der vierte und letzte postum, aber noch von ihm selbst korrigiert, 1876. Er hatte den Gegenstand siebenmal in Vorlesungen behandelt, zuerst 1833/34, zuletzt 1857, die Publikation aber hinausgeschoben, wofür die Vorrede von 1871 den Grund angibt: „Da der inhalt dieses werkes dér art ist daß er die sichere erkenntniß des sinnes aller einzelnen theile der Bibel vom größten bis zum kleinsten ebenso wie die genaueste wissenschaft der Geschichte des volkes Israel und seines schriftthumes voraussezt, so erklärt sich leicht warum ich diese lezte und höchste aller sich um die Bibel drehenden einzelnen wissenschaften erst nach vollendung meiner hieher gehörenden früheren werke veröffentlichen wollte.“78 Zum Inhalt sagt die Vorrede: „Hier handelt es sich allein um das Höchste selbst welches alles unser geistiges leben leiten soll und welches die Bibel uns soweit eine alte schrift es vermag so vollkommen zeigt daß wir nur genau zuzusehen haben was diese für viele schwerlesbare mannichfachste schrift wirklich enthalte und wie es von uns zusammenzufassen, aber auch wie es heute anzuwenden sei.“ Das Ganze gliedert sich79 in drei Hauptteile, von denen der erste und der dritte Lehre enthalten, der erste (in Band I) die Lehre 74  3VII (1868) 527 Anm. 75  Briefe an Ewald. Aus seinem Nachlaß hg.v. R. Fick u. G. v. Selle (1932) 188. 76  Ed. Schwartz (s. Anm. 56) 337. 77  Vgl. R. Smend, Epochen der Bibelkritik (1991) 155–67. 78  IV (1876–sic) V. 79  Vgl. I, 14–17.

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vom Wort Gottes, der dritte (in Band II und III) die Glaubenslehre, an die sich (in Band IV) die Lebenslehre, also die Ethik anschließt. Der zweite Hauptteil ist die Geschichte des Volkes Israel, die Ewald ja schon früher ausgiebig behandelt hat, so dass sie hier nicht einmal in Kurzfassung geboten wird; sie enthält, wie Ewald ausdrücklich vermerkt80, auch die Literaturgeschichte, also die Einleitung in die Bibel, die in der traditionellen Form zu bearbeiten Ewald offensichtlich keine Lust verspürte. Die Gefahr einer unsachgemäßen Harmonisierung der biblischen Aussagen, vor die sich jede biblische Theologie auch nur eines der beiden Testamente gestellt sieht, hat Ewald nicht übermäßig beschwert. Ihm ist „gewiss daß die meisten der in der Bibel gefundenen widersprüche sofern sie unmittelbar auf gegenstände der lehre sich beziehen, nur irrthümlich in ihr gefunden, oder doch leicht für weit bedeutsamer und unvereinbarer gehalten werden als sie inderthat sind“. Darüber hinaus: „Stimmt der gesammte inhalt und zweck der Bibel in gewissen vielleicht der zahl nach wenigen aber der bedeutung nach allumfassenden und unveränderlichen grundwahrheiten überein, so verhält sich dieses ganze bunte farbenspiel der vielen wechselnden aussprüche zu ihnen nur wie die strahlenbrechung des reinen sonnenlichtes; und jeder strahl kann uns zu diesem großen lichte zurückführen. Oder, um ohne bild zu reden: diese ganze fast unabsehbare mannigfaltigkeit welche sich oberflächlich betrachtet im einzelnen bis zur verschiedenheit steigern zu müssen scheint, ist rein geschichtlich entstanden und geschichtlich zu verstehen.“81 Noch einmal Wellhausen: „Er legt sich alles nach seiner Art zurecht und respektirt keine Grenzen. Er versteht alles und vergibt alles.“82 Aber vielleicht war der große Streiter darauf angewiesen, dass es wenigstens in der Bibel einigermaßen harmonisch zuging. Als er starb, war der junge Wellhausen längst auf dem Wege, im Alten Testament nicht nur Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, sondern auch tiefe Gegensätze zu erfassen und „geschichtlich zu verstehen“, wobei aber das geschichtliche Verständnis keineswegs nur ihrer Relativierung dienen sollte. Das Buch, in dem Wellhausen 1878 seine Erkenntnisse niederlegte und das bis heute der Klassiker unter den Klassikern der neuzeitlichen alttestamentlichen Wissenschaft geblieben ist83, trägt die Widmung: „Meinem unvergessenen Lehrer Heinrich Ewald zu Dank und Ehren.“ August Dillmann, nahezu der einzige seiner Schüler, mit dem sich Ewald nicht überworfen hatte, erklärte diese Widmung für „Hohn“84, aber Wellhausen bekannte sich noch Jahrzehnte später (gegenüber Nöldeke!) zu der „Sympathie“ für Ewald, die in ihm „unausrottbar“ sei85. 80  IV, V1. 81  II, 2f. 82  Festschrift 76 (über de Widersprüche zwischen Johannes und den Synoptikern). 83  Geschichte Israels I, seit 1883 Prolegomena zur Geschichte Israels. 84  Vgl. Wellhausen, Briefe 59. 85  Ebd. 399.

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Dillmann war der Adressat eines letzten, bewegenden Briefes von Ewalds Hand, geschrieben am 30. März 1875 in dem es heißt: „Mit meiner Krankheit steht es einfach so. Ich hatte im Junius [des Vorjahres] 5mal in der allerdings sehr kühlen Leine gebadet, weil mir dieses in den vorigen jahren immer gut bekommen war. Man war dort in kübeln deren wasser bis etwas über die schenkel geht; Bertheau ist geldtheilnehmer an der seit etwa 12 jahren eingerichteten anstalt. Als ich aber dieses jahr 5mal gebadet, fühlte ich daß meine füße erkältet waren. Ich wollte zuhaus die erkältung sogleich durch schweiß (Fliederthee, Hollunder, Kisseken, diese 3 namen trägt hier das äußerst nüzliche einheimische gewächs) vertreiben, man hatte keinen zu haus und wollte keinen kaufen, auch der hinzugerufene Dr. hielt ihn für unnüz! Nachdem dieser nun (ein hausarzt!) mich 2½ wochen lang mit ganz albernen mitteln (zb. ich sollte laufen!) hingehalten hatte u. ein kleiner aber höchst unschädlicher schwindel an einem heißen mittage hinzugetreten war, verlangte er die hungerkur. Dieses wenigstens für einen 71–72[jährigen] mann furchtbare mittel hat mir nun ¾ oder bald 1 jahr nicht das geringste genüzt, vielmehr mir immer nur verstopfung und dann ein Asthma eingebracht wovon der arzt im September ausdrücklich behauptetete es sei nur durch die hungerschwäche gekommen, werde aber bald vergehen: allein es ist bis jezt nicht vergangen. Ich bin mein ganzes leben nicht krank gewesen, wenigstens nicht nennenswerth: und das ist nun die Preußische belohnung! Eine hauptsache ist aber daß meine krankheit magenkatarrh seyn sollte: allein ich hatte nie den geringsten schmerz oder sonst eine übelkeit im magen; und nach einer beschreibung in der D.Z. 593 ist magenkatarrh etwas mir völlig unbekanntes. – Ich schreibe Ihnen dies genau damit Sie von mir reden können wenn ich in diesem zustande sterbe.“86 Er starb am 5. Mai, die Todesursache war eine Erweiterung beider Herzklappen87. Um seinen ansehnlichen Grabstein zu besuchen, brauchen die heutigen Göttinger Theologen von ihrem Seminar aus nur die Straße zu überqueren88.

86  Nieders. Staats- und Univ. Bibl. Cod. Ms. Ewald 46c. 87  RE 5, 687. 88  Vgl. auch R. Smend, Heinrich Ewald (1803–1875) – der „Lehrer ohne Gleichen“, in: Stiftsgeschichte(n). 250 Jahre Theologisches Stift der Universität Göttingen (1765–2015), hg.v. B. Schröder u. H. Wojtkowiak (2015) 67–77.

Franz Delitzsch 1813–1890

Um Delitzschs Herkunft ist ein Geheimnis. Wenn Karl Heinrich Graf ihn beiläufig als einen „Ex-Juden“ bezeichnete1, gab er ein verbreitetes Gerücht wieder, gegen das Delitzsch sich leicht mit dem Hinweis wehren konnte, dass er am 23. Februar 1813 „in Leipzig in einem Hause des Grimmaischen Steinwegs geboren und am 4. März als Kind armer christlicher Eltern in der hiesigen Nicolaikirche getauft worden“ war, also „kein jüdischer Proselyt“ sein konnte2. Aber möglicherweise hatte er doch einen Juden zum leiblichen Vater. Das Taufregister der Nicolaikirche verzeichnet für Franz Julius Delitzsch als Paten und offenkundigen Namengeber den „Meubleur“ Franz Julius Hirsch, von dem festzustehen scheint, dass er mit dem „Juden namens Levy Hirsch“ identisch ist, der mit den Delitzschs „in einem Hause“, vielleicht sogar in derselben Wohnung3 wohnte und den Delitzsch in seiner kurzen Autobiographie von 18834 ungewöhnlich stark als seinen „Wohltäter von Jugend auf“ hervorhebt. Später war Hirsch „Objekt“ seiner „Missionswirksamkeit“: am 10. Mai 1843, Delitzsch hat das Datum festgehalten5, wurde der Wohltäter getauft. Das Gerücht, bei dem Täufling – und, kirchenrechtlich eigentlich unmöglich, einst Taufpaten! – habe es sich um den Vater seines Missionars gehandelt, hielt sich aber hartnäckig; noch nach Jahrzehnten äußerte ein Mann wie Alfred Jeremias, dem man weder den Respekt vor Delitzsch noch die Vertrautheit mit den Leipziger Verhältnissen absprechen kann: „Ich habe nie daran gezweifelt, daß der Jude Hirsch der wirkliche Vater von Delitzsch gewesen ist.“6 Gegen dieses Gerücht konnte Delitzsch naturgemäß schwerer ankommen als gegen das von seinem Proselytentum, und so verwundert es nicht, dass ein eindeutiges Dementi aus seinem 1  Ed. Reuß’ Briefwechsel mit seinem Schüler und Freunde Karl Heinrich Graf, hg.v. K. Budde u. H.J. Holtzmann (1904) 219. 2  S. Wagner, Franz Delitzsch. Leben und Werk (1978) (im Folgenden: Wagner) 21. 3  Wagner 16f. 4  Abgedruckt bei M. Wittenberg, Franz Delitzsch (1813–1890). Vier Aufsätze über ihn und Auszüge aus seinen Werken (1963) 9–11, hier 9. 5  Ebd. 10. 6  Wagner 21.

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Munde fehlt; vielleicht hat er ja auch selber die Wahrheit nicht gewusst. Der beste Kenner im 20. Jahrhundert entscheidet sich nach langem Abwägen dafür, „daß alle vorgeführten Materialien eigentlich mehr für eine jüdische Abkunft sprechen als dagegen“7. Aber es gibt auch das Zeugnis Gustaf Dalmans, dem die Problematik nicht fremd war, über seinen Lehrer: „So viel ist gewiß, daß Franz Delitzsch sich nie als ‚Jude‘ gefühlt hat.“8 In der Tat, er war mit Leib und Seele Christ; aber sein Christentum hatte schon früh die elementare Beziehung auf das Judentum, die später die Judenmission zu einer seiner wichtigsten Aktivitäten werden ließ. Ob Levy Hirsch nun sein Vater war oder nicht – man wird kaum umhin können, ihm auch für dieses Lebensthema des Franz Delitzsch so etwas wie eine Patenfunktion zuzuschreiben. Übrigens tat sich Mutter Delitzsch in späteren Jahren, wohl nach dem Tod ihres Mannes, mit Hirsch zusammen, indem sie in dessen kleinem Buchantiquariat mitarbeitete; nach seinem Tod führte sie es allein weiter. Delitzsch berichtet, er habe in Leipzig zunächst eine „Knabenschule“ und dann die „Ratsfreischule“ besucht, wo er, obwohl einen „Drang nach Gott“ verspürend, ein „völliger Rationalist“ geworden sei. Auf der Universität habe er zuerst Philologie und Philosophie studiert und sich „in die Systeme der großen deutschen Philosophen“ vertieft; „besonders zog mich Fichte an“9, noch vor ihm nennt er an anderer Stelle Spinoza10. In der Philologie handelte es sich um semitische Studien, die er bei dem nachmals führenden Arabisten Leberecht Fleischer und dem Hebraisten Julius Fürst betrieb, zwei Gelehrten, mit denen er persönlich und wissenschaftlich verbunden blieb. In einer gewissen Spannung zu seinem Bericht steht die Tatsache, dass er sich bereits zu Beginn seines ersten Semesters, im Herbst 1831, nicht in der philosophischen, sondern in der theologischen Fakultät immatrikuliert hat11; vermutlich wollte er durch die nachträgliche „Profanierung“ seines Studienbeginns noch stärker die alsbald erfolgte Bekehrung herausstreichen, die für sein weiteres Leben von fundamentaler Bedeutung war. Er hat diesen Vorgang nicht datiert, aber genau lokalisiert: „Noch heute […] kann ich die Stelle auf einer der Straßen Leipzigs (unfern des früheren Grimmaischen Thores in der Goethestraße, nahe an der Ecke der Grimmaischen Straße12) zeigen, wo ein Strahl von oben mich in den Zustand versetzte, in dem sich Thomas befand, als er rief: Mein Herr und mein Gott! Von nun an wurde ich Theologe. Ich suchte den Verkehr mit Studenten, die durch Gottes Gnade erweckt waren, und ging in gläubigen Leipziger Familienkreisen aus und ein. Die Jahre 1832–1834, meine letzten Universitätsjahre, sind die schönsten meines Lebens. Es waren Tage der ersten Liebe, der Früh7  Ebd. 23. 8  Ebd. 21. 9  Delitzsch bei Wittenberg 9. 10  Vgl. Wagner 34. 11  Vgl. Wagner 3136. 12  Also an der Westseite des just 1831 angelegten Augustusplatzes (R.S.).

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ling meines zeitlichen Lebens.“13 Am tiefsten beeindruckte ihn damals Martin Stephan (1777–1847), streng lutherischer Pfarrer der böhmischen Gemeinde in Dresden mit einer sektenartigen Anhängerschaft, die 1838 mit ihm großenteils nach Nordamerika auswanderte, wo die Missouri-Synode aus ihr hervorging. Delitzsch widmete ihm 1836 seine erste Schrift, „Zur Geschichte der jüdischen Poesie“, und bekannte sich noch 1838 in der zweiten, „Wissenschaft, Kunst, Judenthum“, als Stephan bereits ein heftig umstrittener Mann war, zu ihm als seinem „theuren vielgeliebten Lehrer“, der das „ewigfeste Wort des lebendigen Gottes, nicht die modisch wechselnde Philosophie oder Poesie einer verkehrten Vernunft oder eines zerrütteten Herzens, nicht ein rationalistisch fortgebildetes oder neuevangelisch indifferenzirtes Christenthum“ predige, und das „rein, unverfälscht und ungeschminkt, mit Beweisung des Geistes und der Kraft, und eben dieses Wort giebt dem Namen dieses Gottesmannes jene tiefe Bedeutung, jenen süßen Klang, dessen Echo noch aus der späten Geschichte der Kirche widertönen wird“ 14. Dies indessen trat keineswegs ein, sondern Stephan, noch auf der Schiffsreise zum Bischof avanciert, wurde in Amerika „bald nach der Ankunft als unlauterer Mensch entlarvt und von seiner Gefolgschaft verlassen“15. Das hinderte nicht, dass Delitzsch in jenen Jahren bei den „Stephanisten“ im Tal der Mulde, deren Luthertum sich mit einer starken pietistischen Erweckungsfrömmigkeit mischte, seine geistliche Heimat fand; dort hielt er auch seine ersten Predigten. In Leipzig leitete er viele Jahre hindurch mit großer Hingabe „Erbauungsstunden in einem gläubigen Freundeskreise“16, dreimal wöchentlich. Dazu studierte und produzierte er eine Vielzahl erbaulicher Literatur; das „Beicht- und Communionbuch“, das er unter dem Titel „Das Sacrament des wahren Leibes und Blutes Jesu Christi“ zuerst 1844 hinausgehen ließ und das sieben Auflagen erlebte, war ihm „die liebste unter seinen Schriften“17. Als Berufsziel dürfte ihm lange die Judenmission vor Augen gestanden haben. So widmete er sich innerhalb des theologischen Fächerkanons besonders dem Alten Testament, für das in Leipzig bis zu seinem Tod (1835) der hochgelehrte E.F.K. Rosenmüller zuständig war, vor allem aber studierte er das nachbiblische Judentum. Schon im Gymnasium hatte er etwas Hebräisch gelernt, jetzt unterrichtete ihn ein Judenmissionar namens Becker, der seiner Tätigkeit auf der Leipziger Messe nachging, in der Sprache der Rabbinen; beide lasen zusammen den Traktat ‫„ אור לעת ערב‬Licht am Abend“. Die erwähnten Schriften aus den Jahren 1836 und 1838 erweisen den noch ziemlich jungen Delitzsch als einen erstaunlich breit orientierten Judaisten. Wenig später konnte er sogar äußern: „Die jüdische Literatur, ich sehe es wohl ein, hat mir zu viel Zeit, die ich Besserem und Nützlicherem widmen konnte, weggenommen; ich bin ihr des13  Delitzsch bei Wittenberg 9. 14  A.a.O. 2f. 15  M. Schmidt, RGG3 VI, 357f. 16  Delitzsch bei Wittenberg 10. 17  A. Köhler, RE3 IV, 567.

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halb recht gram geworden.“18 Aber da hatte sich die Aussicht auf den Beruf des Judenmissionars schon zerschlagen: seit 1838 geführte Verhandlungen mit der Evangelisch-Lutherischen Missionsgesellschaft in Dresden, die ihn in ihren Dienst nehmen wollte, waren an der Weigerung des sächsischen Kultusministeriums gescheitert, Delitzschs Ordination zu genehmigen; auch konnte das Komitee die finanziellen Forderungen Delitzschs nicht erfüllen – Forderungen, in denen sich „ein nüchterner Blick für die Realitäten der äußeren Dinge“ kundtat, „eine Veranlagung, die auch später bei Delitzsch beobachtet werden kann“19. Ohne Amt und nur mit gelegentlicher finanzieller Unterstützung ist er aber weiterhin unter Juden missionarisch tätig gewesen. Bereits 1835 Kandidat der Theologie und sogar Dr. phil – von der Dissertation ist nicht einmal das Thema bekannt –, schlug er nunmehr die Laufbahn des Universitätslehrers ein. Aufgrund einer Dissertation „De vita atque aetate Habacuci Prophetae“ wurde er im Herbst 1841 zum Lizentiaten der Theologie promoviert, im Frühjahr 1842 habilitierte er sich als Privatdozent, im Sommersemester begann er seine Lehrtätigkeit mit einer fünfstündigen Vorlesung über den Propheten Jesaja. Obwohl noch ohne festes Gehalt, aber immerhin seit 1844 mit dem Titel eines außerordentlichen Professors versehen, heiratete er 1845 Clara Silber, die er in seinen Erbauungsstunden kennengelernt hatte. Nach seiner Habilitation hoffte er auf ein Ordinariat in Leipzig, aber dem war spätestens durch die Berufung des Geseniusschülers Friedrich Tuch (1841 außerordentlicher, 1843 ordentlicher Professor) ein Riegel vorgeschoben. So streckte er seine Fühler nach Preußen aus, wo er die Hilfe des mächtigen Hengstenberg in Anspruch nahm und sich diesem in noch höherem Maße als Gesinnungsgenossen präsentierte, als er es tatsächlich war: „[…] ich kann wohl sagen, daß ich jetzt in Ihren Schriften lebe und webe, daß Ihre alttest. exegetischen Werke von der Christologie bis zu Bileam meine liebste Lectüre sind, daß ich an ihnen gelernt habe und lerne, welchen Zielen ich nachzustreben habe, und daß ich den Gott aller Gnade lobe und preise, der Ihnen zur Verherrlichung seines Namens die Charismen der Diakrise und der Auslegung in so reichem Maße verliehen hat.“ „Jesus Christus, unser lieber Herr und Heiland, lasse Ew. Hochwürden einen Sieg nach dem anderen erringen und schmücke Sie mit viel Segen.“20 Trotz Hengstenbergs Fürsprache kam eine Berufung nach Halle nicht zustande, weil der dortigen Fakultät Hermann Hupfeld als der geeignete Nachfolger des großen Gesenius erschien, und danach ebenso Berufungen nach Breslau und Königsberg – diese wegen der Fes-

18  Brief an E.W. Hengstenberg 12.1.1842, vgl. N. Bonwetsch, Aus vierzig Jahren Deutscher Kirchengeschichte I (1917) 48. Allerdings ist der Adressat in Rechnung zu stellen. 19  Wagner 50. Dort 52 Anm. der Hinweis, dass diese Seite der Sache – und der Person – von Verehrern Delitzschs gern verschwiegen wurde. 20  12.11.1842 und 30.9.1836, vgl. Bonwetsch a.a.O. 44f.

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tigkeit, mit der Delitzsch auf seiner Sonderstellung als Lutheraner in unierter Umgebung bestand21. Doch schon bald führte ihn sein Weg an Stätten einwandfreier Rechtgläubigkeit, ja sogar in die Zentren des sich damals formierenden „Neuluthertums“. 1846 wurde er in Rostock Nachfolger von J.Ch.K. (v.) Hofmann, der nach Erlangen gegangen war, und bereits 1850 konnte auch er in den größeren Wirkungskreis von Erlangen wechseln, wo er außer Hofmann, seinem wichtigsten Gesprächspartner, W. Höfling, G. Thomasius und H. Schmid vorfand und in den kommenden Jahren Th. Harnack und R. Frank hinzutraten. Nach siebzehn Jahren fruchtbarer Tätigkeit in Erlangen ließ sich der 57jährige verlocken, in seine Vaterstadt Leipzig zurückzukehren. Dort dominierte das konfessionalistische Luthertum nicht so ausschließlich wie in Erlangen, und so war der Ruf an ihn schon in der Fakultät nicht ganz so leicht durchzusetzen (wie übrigens auch vorher im Falle Erlangen beim Münchner Oberkonsistorium, das von ihm „exklusiven Lutheranismus“ befürchtete22). Er fand A. Harleß nicht mehr vor, der, ebenfalls aus Erlangen gekommen, diese Richtung seit 1845 in Leipzig kraftvoll etabliert hatte, aber dafür K.F.A. Kahnis (1814–88) und E. Luthardt (1823–1902), mit denen er fortan das „Leipziger lutherische Dreigestirn“ bildete, dessen Anziehungskraft weit über Sachsen, ja über Deutschland und Europa hinausging. An jeder seiner Wirkungsstätten blieb die Erinnerung an Delitzsch jahrzehntelang lebendig. Schwerlich hat ein Alttestamentler im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert auf Generationen von Studenten und also auf die künftige Pfarrerschaft tiefer gewirkt als er. Seine Hörsäle waren voll, oft überfüllt. Der lebhafte kleine Mann, früh weißhaarig, pflegte beim Vortrag eine Blume vor sich hinzulegen und von Zeit zu Zeit daran zu riechen. Er war in ständiger Bewegung und „hüpfte geradezu auf dem Katheder, zumal wenn er den Namen Hupfeld nannte“23. „Seine Vortragsweise war sehr liebenswürdig, die Sprache schwungvoll, poetisch, mit feinem Humor gewürzt. Bei seinen kleinen Witzen lächelte der Herr Professor recht gutmütig. Oft erwähnte er mit sichtlichem Behagen sonderbare Erklärungsversuche alter Verfasser, am liebsten der rabbinischen, sie als zwar sachlich nicht richtig, aber immerhin ‚feinsinnig und interessant‘ bezeichnend.“24 Von eisernem Fleiß – er stand morgens um 5 Uhr auf –, war er ungeheuer belesen und teilte aus seinen Schätzen freigebig mit. In Erlangen lautete sein Lehrauftrag noch umfassender als in Rostock und Leipzig auf „alttestamentliche Exegese, christliche Apologetik, theologische Moral und die darein einschlagenden Fächer“25; das dort aus Pflicht, aber wohl auch aus Neigung vorgetragene „System der christlichen Apologetik“ widmete er nach 21  Vgl. K.H. Rengstorf, Die Delitzsch’sche Sache. Ein Kapitel preußischer Kirchen- und Fakultätspolitik im Vormärz (1967). 22  Wagner 76. 23  J. Boehmer bei Wagner 197. 24  Z.J. Schalin bei Wagner 101. 25  Wagner 76.

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seinem Abgang der Erlanger Fakultät „als Zeichen dankbarer Erinnerung an siebzehn in einmütiger Wirksamkeit verbrachte Jahre“ (1869). „Die Ausarbeitung [seiner] zahlreichen und schwierigen Vorlesungen nahm seine Kraft und Zeit um so mehr in Anspruch, als er es sich zur Pflicht machte, den Wortlaut bis in die feinsten rhetorischen Einzelheiten schriftlich zu fixieren, ohne sich indessen auf dem Katheder unbedingt daran zu binden: sein Vortrag machte nicht den Eindruck einer reflektierten Reproduktion, sondern den begeisternden Eindruck einer momentanen, unter Ringen sich vollziehenden, dem tiefsten Inneren entströmenden Produktion.“26 Die Studenten erlebten ihn nicht nur auf dem Katheder. Er leitete in der „Lausitzer Predigergesellschaft“, einer Vorläuferin der späteren Seminare, die hebräische Abteilung, gründete eine „Englisch-exegetische Gesellschaft“, die alsbald zu einer „Anglo-amerikanisch-exegetischen Gesellschaft“ mutierte, und vor allem hielt er Lehrveranstaltungen im „Institutum Judaicum“, dem schon ein „Juden-Kränzchen“ vorangegangen war27. Er ließ sich gern ins Gespräch ziehen und wurde in die verschiedensten Versammlungen eingeladen, wo er wirkungsvoll das Wort ergriff und sich als charmanter und schlagfertiger Unterhalter betätigte. Viele Einzelne förderte er wissenschaftlich und menschlich, ging mit ihnen spazieren oder ins Café und besuchte sie bei Krankheit zu Hause, wo er auch mit ihnen betete. Kurz, er war „ein rechter Studentenprofessor“28. Den prominentesten Einzelfall aus den Beziehungen zwischen Delitzsch und seinen Studenten dokumentiert sein 1973 ans Licht gebrachter Briefwechsel mit Wolf Graf Baudissin. Delitzsch hatte zu Baudissin (1847–1926) in dessen Erlanger Studentenzeit eine starke Neigung gefasst, die über das normale Verhältnis eines akademischen Lehrers zu seinem Schüler erheblich hinausging. Dabei scheint Baudissins Adel eine gewisse Rolle gespielt zu haben: Otto Eißfeldt erzählte gern (und wusste das wohl von seinem Lehrer Baudissin), Delitzsch habe einen „Adelstick“ gehabt. Delitzsch konnte im Rückblick sagen, er habe nie „in diesem Leben einen Menschen so hingebend geliebt“ wie Baudissin29, einen „so tiefen Einschnitt“ wie dieses Verhältnis habe sonst kaum etwas in seinem Leben gebildet30. Dass es sich immer „völlig im Rahmen des zu seiner Zeit Üblichen“ halte31, kann man den Herausgebern nur mit Bedenken nachsprechen, und zwar abgesehen von vielerlei Redewendungen, die sich anführen ließen, schon um der Geheimhaltung willen, mit der Delitzsch das Verhältnis umgab: 26  Köhler, RE3 IV, 567. 27  Vgl. D. Mathias in: Die Theologische Fakultät der Universität Leipzig. Personen, Profile und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte, hg.v. A. Gößner (2005) 402–04. 28  E.B. Hartung bei Wagner 101113. 29  Briefwechsel zwischen Franz Delitzsch und Wolf Wilhelm Graf Baudissin 1866–90, hg.v. O. Eißfeldt u. K.H. Rengstorf (1973) 466. 30  Ebd. 486. 31  Ebd. XXI.

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es durfte nur Baudissins Eltern bekannt sein, nicht aber Frau Delitzsch32, man traf sich möglichst an dritten Orten, das gegenseitige Du, zu dem Delitzsch den Neunzehnjährigen genötigt hatte, wurde erst nach vielen Jahren vor anderen gebraucht33. Für Baudissin war das Verhältnis, das Delitzsch als ein christlich-geistliches verstand, alles andere als einfach. So sehr er sich dem Älteren anfangs und oft auch noch späterhin öffnete34, der gewaltige Ansturm der Gefühlsäußerungen, Ratschläge und Vorschriften wissenschaftlicher und persönlicher Art, dem er sich ausgesetzt sah, beengte ihn immer mehr, so viel Förderung er dabei auch erfahren mochte; schüchterne Versuche, seine Freiheit zu bewahren, trafen Delitzsch tief und führten bei ihm zu Reaktionen, die öfters Pressionen gleichkamen und mehr als einmal einen ultimativen Charakter annahmen35. Auf die Dauer musste Delitzsch sich damit abfinden, dass das Verhältnis sich lockerte und ein anderes wurde. Die Art, in der er das tat und dem Jüngeren trotzdem bis zuletzt die Treue bewahrte, ist, wenn man ihn nimmt, wie er nach dem Zeugnis dieser Dokumente offenbar gewesen ist, respektabel; sein Bild, das sich bei der oft quälenden Lektüre der ersten Hälfte des Briefwechsels einigermaßen verdunkelt hat, wird gegen Ende wieder heller. Eine gleichmäßig gute Figur macht Baudissin; auch und gerade in seinen eigenen menschlichen und beruflichen Krisen und denen seines Verhältnisses zu dem übermächtigen, trotz allem immer in Dankbarkeit verehrten Lehrer bewahrt er seine Vornehmheit und die Rigorosität seines Gewissens, von der Delitzsch einmal fast ein wenig unwirsch redet36. Ihm hätten, hat Baudissin im späteren Rückblick bekannt, seine Arbeiten „aus den Stoffen selbst“ in „hartem Ringen mit dem verehrten Lehrer Franz Delitzsch“ und danach die Gemeinschaft mit Männern wie Schürer, Harnack, Reuß, Holtzmann, Herrmann und Jülicher „das Urteil für die Schätzung geschichtlicher Werte von Fesseln gelöst“37. Demgegenüber hätte Delitzsch 1879, im Jahr nach Wellhausens „Prolegomena“, den Schüler allen Ernstes gern „in das Stadium frommer Kindlichkeit zurückgelangt“ gesehen38; er bat ihn, deutlich auch aus Karrieregründen, „nicht den Schein eines der neuesten Pentateuchkritik Erlegenen“ zu erwecken39. Für ihn traf die wissenschaftliche Kritik zentral den Glauben und nicht weniger die Freundschaft: „So lange Du aus Sacharja und wohl auch aus Jesaja II die Weissagung von dem Getödteten und doch ewig Lebendigen auslöschest, so lange hast Du mich Dir ertödtet!“40 32  Ebd. 293f. 33  Ebd. 438. 34  Vgl. etwa seinen ersten Brief, ebd. 5–9. 35  Vgl. z.B. ebd. 294. 36  Ebd. 401. 37  Nachruf auf Orelli, zitiert nach Eißfeldt, Kleine Schriften I (1962) 128f. 38  Briefwechsel 448. 39  Ebd. 455. 40  Ebd. 424.

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Erst nach Delitzschs Tod erschien, auf seinen Wunsch bis dahin zurückgehalten, die Besprechung seines vorletzten Buches, „Iris“ (1888), durch Baudissin41. Man kann, so der Rezensent, den Autor neben der „Biblischen Psychologie“ in diesem Buch am besten kennenlernen, und so gibt die Besprechung zugleich eine vorsichtige Porträtskizze, die später leider nicht mehr, wie geplant, zu einem vollen Gemälde ausgeführt wurde. „Iris“, mit dem Untertitel „Farbenstudien und Blumenstücke“, ist eine Sammlung von zwölf Essays, die Delitzsch bei verschiedenen Gelegenheiten vorgetragen hat, handelnd vom Blau des Himmels, von Schwarz und Weiß, von Purpur und Scharlach, von der akademischen Amtstracht und ihren Farben, von Blumen und Blumenduft, von einem angeblichen Blumenstrauß auf Luthers Katheder bei der Leipziger Disputation, vom sagenhaften Blumenrätsel der Königin von Saba, aber auch von Wein und Tanz in der Bibel – letzteres gegen Wellhausens Vorstellung einer „Denaturalisation“ mit der Feststellung: „es ist viel getanzt worden und wurde auch später nicht wenig getanzt“42 – und schließlich von Liebe und Schönheit, ewigem Leben und ewiger Jugend. Delitzsch erscheint hier in einem sehr weiten, aber auch sehr präzisen Sinn als Ästhet: „Was er sieht, wird ihm zum Bild eines anderen, und er denkt die Dinge nicht, wie sie an sich sind, sondern im Bilde. Die Blume, mit welcher er auf dem Katheder zu spielen pflegt, ist ihm nicht Hyacinthe oder Rose, sondern sie bedeutet ihm ein anderes, aus dessen Abbild er den Duft des Originals einsaugt. Symbol und Sache fließen ihm in eins zusammen. […] Die Erlanger Typologie ist bei Delitzsch aus der eigensten Art des Denkens und Lebens erwachsen: wie sein eigenes Leben und das Leben derer, welche er liebt, so ist ihm die ganze Geschichte der Menschheit Typus und Antitypus.“43 In diesen Zusammenhang gehört auch, dass er mehr als viele seiner Fachgenossen Sinn für Sprache gehabt hat. Gewiss redet er nicht selten in pietistischer Weise arg „salbungsvoll“44, aber schon eine Tatsache wie die, dass bereits der 23jährige beiläufig dem „geschmackvollen Herder“ den „geschmacklosen Michaelis“ gegenüberstellt45, erweist ein ausgeprägtes Urteil in Stilfragen (wiederum: in einem sehr weiten, aber auch sehr präzisen Sinn). Er selber übte sich in manchen Schreibweisen bis hin zu dem Wagnis, „innerhalb des Rahmens Eines Tages ein anschauliches Bild der galiläischen Wirksamkeit Jesu zu geben“. Über das vielgelesene Büchlein „Ein Tag in Capernaum, erzählt von Franz Delitzsch“ (1871), eine reizvolle Mischung aus Gelehrsamkeit und poetischer Phantasie, sagte er im Rückblick: „Die Arbeit hat mir so viel Genuß gewährt, daß ich betrübt war, als ich zum Schlusse gekommen war.“46 Man hat nicht nur hier den 41  ThLZ 15 (1890) 161–66. 42  Delitzsch, Iris (1888) 145, vgl. 1533. 43  Baudissin a.a.O. 164. 44  I.L. Seeligmann, Gesammelte Studien zur Hebräischen Bibel (2004) 474. 45  Zur Geschichte der jüdischen Poesie (1836) VI. 46  Zitate aus dem Vorwort.

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Eindruck, dass ihm das Schreiben leicht von der Hand ging und ihm ebensoviel „Genuß gewährte“ wie das Reden. Er nannte „geistiges Schaffen eine Lust“ und zitierte dazu: „wenn es überhaupt ein Surrogat für die Liebe gibt, so ist es gewiss das Bücherschreiben“47. Wie wäre auch sonst sein immenses Œuvre zustandegekommen? Dieses Œuvre und damit seine gesamte Wirksamkeit in ihrer unübersichtlichen, ja verwirrenden Vielfalt brachte Delitzsch gegen Ende seiner Laufbahn auf den Nenner: „Ich glaube der Osterbotschaft und ziehe ihre Consequenzen.“48 Schon ein halbes Jahrhundert vorher hatte er seine Grundposition nicht weniger prägnant fixiert, indem er in einer der berühmtesten theologischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit nachträglich radikal Partei ergriff: „Nein, in dem Streite Lessings mit J.M. Goezen führte dieser die Sache Gottes, und jener mit dämonischem Witz die Sache des Teufels. Noli admirari!“ Diese Warnung steht in einer Artikelserie, die unter den Überschriften „Unglaube, Glaube, Neuglaube“ einen „Beitrag zur christlichen Psychologie“ liefern sollte49; bis zum „Neuglauben“ gelangte die Serie allerdings nicht, vielleicht weil er Delitzsch beim Unglauben schon hinreichend mitbehandelt zu sein schien. „Pfui“, hatte er dort „über jene memmenhaften Zweiflinge“ gewettert, „denen, wenn ein spitzfindiger Philosoph oder ein weitbelesener Polyhistor gegen das Wort und die Kirche des dreieinigen Gottes seinen Gänsekiel spitzt, alsbald vor Furcht die Eingeweide brummen und vor Bedenklichkeit jener Glaube wackelig wird, der mit jedem Mondwechsel eine andere Gestalt annimmt und sich seiner selbst noch nicht gewiss ist, weil er noch nicht alle etwa noch aufzubringenden Gegengründe verwunden hat. […] Was für ein Monstrum ist so ein Glaube, der dem Teufel, wenn er nur Gelehrsamkeit, Tiefsinn und Esprit zeigt, seine tiefen Reverenzen macht, der die Geburten der Hölle freie Entfaltungen innerhalb der Kirche nennt, der die gotteslästerlichste Forschung unter den Begriff der Freiheit subsumiert, die doch unter die Knechtschaft der Sünde und den Bann der Finsterniss gehört.“50 Bei Anwendung der herkömmlichen Richtungsnamen kommt der Supranaturalismus nicht viel besser weg als der Rationalismus: er „kuppelt die Vernunft mit der Offenbarung zusammen, und diese, trotz ihrer titularen Superiorität, geräth unter das launische Regiment der erstern“. So ergibt sich die dreifache Stufung: „Der Rationalismus hat, als Unglaube, seinen Sitz in der ratio obscurata (verfinsterten Vernunft); der Supranaturalismus als Halbglaube in der ratio collustrata (beleuchteten Vernunft); der Glaube hingegen und die von ihm ausgehende rechtgläubige Wissenschaft in der ratio illumi-

47  Commentar über den Psalter I (1859) V. 48  Neuer Commentar über die Genesis (1887) III. 49  ZLThK 1/I (1840) 70–105; 1/III (1840) 26–61. Warnung: 1/I, 981. 50  Ebd. 1/I, 87f.

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nata (erleuchteten Vernunft).“51 „Intellectus ex fide – dies ist, wie Augustin und Anselm einschärfen, die unverbrüchliche Ordnung.“52 Nicht lange vor seinem Tod, ein Jahr nach jenem Satz über die Osterbotschaft, hat Delitzsch seine Positionsbestimmung noch einmal wiederholt, nicht ohne Modifikationen und weniger polemisch, aber schon durch den Titel „Der tiefe Graben zwischen alter und moderner Theologie. Ein Bekenntnis“ (1888) das Gewicht andeutend, das die damit bezeichnete Alternative nach wie vor für ihn besaß; und nicht zufällig ging er ins Muldental, seine alte geistliche Heimat, um dort sein „Bekenntnis“ abzulegen. Dessen Kernpunkt ist der Glaube an Gottes übernatürliches Eingreifen in die natürliche Welt, also an das Wunder, gipfelnd im Wunder von Christi Auferweckung. Dem herrschenden „Subjektivismus der Wissenschaft“, die die Realität des Wunders leugnet, setzt Delitzsch das Bekenntnis entgegen, dass diese Realität ihm „durch die Wunder der Gnade besiegelt“ ist, die er „in den Gemeinden des Muldenthales mit eigenen Augen gesehen“. Das Fazit seines Theologenlebens darf daher lauten: „Wenn ich in manchen biblischen Fragen der hergebrachten Ansicht widersprechen muss, so bleibt mein Standpunkt doch diesseits des Grabens, auf Seiten der Theologie des Kreuzes, der Gnade, des Wunders nach dem guten Bekenntnis unserer lutherischen Kirche. Bei dieser Fahne, liebe Brüder, wollen wir bleiben, in sie uns wickelnd wollen wir sterben.“53 Das konnte nicht ohne Reaktion bleiben. Postwendend äußerte sich mit einem „Offenen Brief“ in der „Christlichen Welt“, die damals noch „Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt“ hieß, ihr Herausgeber Martin Rade, indem er vornehm und respektvoll die Alternative zurückwies: es sei „keine Aufgabe für den evangelischen Theologen unsrer Tage, Gräben zu ziehen, damit andre drüben stehen, sondern vielmehr, den andern über die Gräben herüberzuhelfen, welche sie von der christlichen Gemeinde trennen“; vielleicht sei „oft mehr Glaube vorhanden, wo man allen Erwägungen der modernen Kritik zugänglich ist und dennoch seines Gottes und Heilandes gewiß bleibt, als wo man jener mißtraut in der Besorgnis, durch sie unversehens um seinen Frieden zu kommen“54. Delitzsch reagierte auf Rades Brief in persönlicher Freundlichkeit, doch seine Position änderte er nicht mehr55. Diesseits des „Grabens“ stand Delitzsch fest auf dem Boden des „Neuluthertums“, aber ohne in der Starre zu verharren, die den Konfessionalismus immer bedroht; es widerstrebte ihm, „die Theologie mit dem Buchstaben der Konkordienformel zu umgittern“56. Mit vielen Kollegen innerhalb und außerhalb 51  Ebd. 98. 52  Ebd. 96. 53  A.a.O. 18. 54  ChW 2 (1889) 382. 55  Wagner 428. 56  Ohne Quellenangabe überliefert von Köhler, RE3 IV, 569, von dort wiederholt übernommen.

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der Fakultäten, denen er angehörte, unterhielt er ein Verhältnis des Nehmens und Gebens, wobei Beteuerungen inniger Freundschaft und scharfe Kritik sich nicht auszuschließen brauchten. In seiner näheren und weiteren Umgebung gab es nur wenige kirchlich-theologische Streitfälle, in denen er nicht das Wort ergriff. Ein Orientierungspunkt war seit den Leipziger Anfängen Hengstenberg, aber die Distanz, wohl von Anfang an vorhanden, wuchs, bis hin zu dem Urteil: „Hengstenberg ist ein Advocat, aber kein Apologet. Und steht er nicht jetzt noch wie er vor 20 Jahren stand? Keine Spur von Empfänglichkeit für den von seiner Person unabhängig sich vollziehenden theologischen Fortschritt.“57 Delitzsch kämpfte mit gleicher Schärfe wie Hengstenberg gegen den „Rationalismus“, aber mit größerer Elastizität und mehr systematischer Überlegung, auch mit stärkerem Eingehen auf die Anregungen, die ihm seine theologische Umgebung bot. 1850 empfahl er in Rostock als seinen Nachfolger den hochoriginellen Einzelkämpfer Michael Baumgarten (1812–89), aus dessen „Theologischem Kommentar zum Pentateuch“ (1843/44) ihn ein „lenzlicher Geist“ angeweht hatte, der ihn, „den exegetischen Scholastiker“, dann im persönlichen Verkehr noch tiefer „durchdrang“58. In seiner Charakteristik von Baumgartens Kommentar ist wohl auch ein Stück Selbstcharakteristik – mindestens im Sinne einer Wunschvorstellung – enthalten: „Die Heilige Schrift steht B. als ein lebendiges Zeugnis des in die Geschichte eingegangenen göttlichen Lebens vor der Seele, und in dieses der Vergangenheit, aber deshalb nicht dem Tode verfallene Leben sucht er sich zu versenken, um es nicht bloß von einem außerhalb seiner selbst gelegenen Standpunkt zu betrachten, sondern als ein gegenwärtiges, der Zukunft zustrebendes mitzuerleben.“59 Dass Baumgarten zur historisch-kritischen Exegese kein Verhältnis hatte, bot Delitzsch natürlich keinen Anstoß, wohl aber seine politisch-kirchenpolitischen Aktivitäten, die ihm den Freund auf die Dauer theologisch und menschlich entfremdeten und ihn sogar zu öffentlicher Kritik veranlassten60. Überhaupt scheint Delitzsch es als seine Pflicht betrachtet zu haben, als eine Art „Stratege Gottes“ (Wagner) nicht nur nach außen hin zu streiten, sondern auch Angehörige des eigenen Lagers in aller Freundschaft zur Ordnung zu rufen – so 1863 in „Für und wider Kahnis“ seinen künftigen Leipziger Nebenmann61. Bei weitem der wichtigste Gesprächspartner war Hofmann (1810–77), sein Rostocker Vorgänger und Erlanger Kollege. Schon in der Rostocker Zeit setzte er sich mit Hofmanns erstem Hauptwerk, „Weissagung und Erfüllung im Alten und Neuen Testament“ (1841/44), intensiv auseinander, das zweite, „Der Schrift57  Wagner 78 mit Anm. 89. 58  Ebd. 7586. 59  Die biblisch-prophetische Theologie, ihre Fortbildung durch Chr. A. Crusius und ihre neueste Entwicklung seit der Christologie Hengstenbergs (1845) 269. 60  Delitzsch/A. v. Scheurl, Die Sache des Professors D. Baumgarten in Rostock: theologisch und juristisch beleuchtet (1858); vgl. Wagner 79f. 61  Vgl. Wagner 195.

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beweis“, erschien sozusagen unter Delitzschs Augen in der gemeinsamen Erlanger Zeit (1852–55, 2. Aufl. 1857–60). In Erlangen erfolgte der Austausch nicht nur mündlich, sondern auch durch einen vierjährigen privaten Austausch von Briefen, die sie nacheinander in drei Hefte schrieben und die nach Delitzschs Tod veröffentlicht wurden62. Darin charakterisiert der zur Psychologie neigende Delitzsch ihrer beider Individualität: „Deine Geisteshaltung ist mehr dialektisch, die meinige mehr mystisch. Du spaltest mir zu sehr Begriffe und ich rede Dir zu sehr in Bildern. Du bist mir zu discursiv, ich bin Dir zu sehr rhetorisch und zu wenig begrifflich scharf und klar. Indeß spalte ich selbst Begriffe, indem ich so schreibe.“63 Man kann, ebenfalls etwas überspitzend, hinzufügen: Hofmann war mehr Systematiker (und übrigens an Ranke geschulter Historiker), Delitzsch mehr Exeget – bezeichnenderweise ist das zentrale Dokument von Delitzschs Auseinandersetzung mit Hofmann ein umfangreicher biblischer Kommentar, zum Hebräerbrief (1857). Delitzsch hat der Konzeption von „Heilsgeschichte“, die Hofmann im Gegenüber zu Hegels und in stärkerer Nähe zu Schellings System entwarf, nichts Vergleichbares entgegengestellt, sich aber mit ihr auf dem Boden grundsätzlicher Zustimmung in wesentlichen Punkten auseinandergesetzt, wobei doch auch auf seiner Seite ein starkes systematisches Temperament zutagetrat. Von Hofmann aus erschien ihm Hengstenbergs „Christologie“ „mehr rhapsodisch als systematisch“, keine „Darlegung des Fortschritts der Heilsoffenbarung, wie sie innerhalb der Geschichte, vermöge göttlichen Waltens in und über ihr, heranwächst und ihrer Vollendung entgegenreift“64. Diese Darlegung fand er bei Hofmann, und er stellte sie und damit auch die Grundzüge seines eigenen „heilsgeschichtlichen“ Denkens kundig in den theologiegeschichtlichen Zusammenhang: „Die Idee einer organischen Heilsentwicklung, deren sich Bengel schon bewusst war (wie er z. B. die Verheissungen Gottes einem Baume vergleicht, dessen Vertiefungen und Adern, je weiter hinunter, desto deutlicher werden), ohne sich ihrer Ausführung gewachsen zu fühlen; die von Crusius65 oft ausgesprochene Idee, ‚dass man bei der ganzen heil. Schrift einen geschichtlichen Plan zu Grunde legen und dieselbe als eine nach und nach geschehene Entwicklung der göttlichen Anstalten dergestalt betrachten müsse, dass immer ein Theil vermöge dieses Plans an den andern sich anschliesst, alle zusammengenommen aber erst ein Ganzes ausmachen‘ – diese Idee […] ist zuerst in dem Hofmannschen Werke zu einer wahrhaft grossartigen Verwirklichung gekommen. Eben darin besteht […] das Bedeutungsvolle und Epochemachende dieses Werkes des bes. für die Geschichtsschreibung reichbegabten Verf., dass in ihm von Anfang bis Ende mit strenger Consequenz nachgewiesen wird, wie die göttlichen Offenbarungen sich eng an die Geschichte der Väter und des Volkes 62  Theologische Briefe der Professoren Delitzsch und v. Hofmann, hg.v. W. Volck (1891). 63  Ebd. 75. Vgl. Wagner 81f. und K. Beyschlag, Die Erlanger Theologie (1993) 76f. 64  Die biblisch-prophetische Theologie (Anm. 59) 166f. 65  Zu C.A. Crusius (1715–75) vgl. A. Beutel, RGG4 II, 502.

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Israel anschlossen, ja in, mit und aus ihr erwuchsen, wie die heilige Geschichte und überhaupt alle Geschichte nach einem göttlichen Entwickelungsgange ein in organischer Continuität sich vollendendes Ganze bildet, dessen Anfang die Vorausdarstellung Christi, dessen Mitte seine Erscheinung, dessen Ende die Verklärung seiner Gemeinde, dessen wesentlicher Inhalt also die Selbstdarstellung Christi in der Welt ist – eine Gesammtanschauung, welche, wie man bei Lesung des Werkes66 bald inne wird, durch Schleiermachers Welt- und Geschichtsbetrachtung angebahnt worden ist und nach vielen Seiten hin bereits durch Olshausen67 exegetisch entwickelt und begrifflich ausgeprägt vorlag.“68 Delitzsch beanstandete, dass in Hofmanns Konzeption sowohl die göttliche als auch die menschliche Freiheit zu kurz komme, „neben der Immanenz Gottes seine Transzendenz, neben seiner Machtgegenwart seine Gnadengegenwart, neben dem aller Geschichte naturmässig innewirkenden Walten Gottes ein supranaturales, vermöge dessen er ohne Aufhebung der menschlichen Freiheit die Vollziehung des ewigen Erlösungsrathschlusses in der Geschichte weissagend vorbereitet, wie wo und so weit er will“69. Fast hätte, so Delitzsch70, Hofmann „die kirchliche Lehre von der Trinität und der Person Christi an die verführerischen Dogmen einer pantheistischen Naturphilosophie verloren, wie sie Schleiermacher der Theologie in’s Haus gebracht hat“. Nicht zuletzt findet Delitzsch bei Hofmann das Alte und das Neue Testament in verschiedenen eher untergeordneten Punkten nicht in das richtige Verhältnis zueinander gesetzt. Seine eigene Position fasst er in dem Satz zusammen: „Das A.T. zeigt uns den Menschen in dem Anfange seiner Kindschaft, aber noch unter der knechtenden Vormundschaft des Gesetzes, das N.T. in der Vollendung seiner Kindschaft als einer mündigen.“71 Dazu kommt noch, dass Delitzsch – nicht als Einziger, auch nicht als einziger Erlanger – vehement gegen Hofmanns Bestreitung der Lehre vom stellvertretenden Strafleiden Christi Protest eingelegt hat72. Seine Einwände hinderten ihn nicht, sich das Hofmannsche Programm im Wesentlichen zu eigen zu machen, ja es im Vollzug der Exegese streckenweise kundiger und phantasievoller durchzuführen, als Hofmann es je gekonnt hätte. Dass ihm die „Erlanger Typologie […] aus der eigenen Art des Denkens und Lebens erwachsen“ und „die ganze Geschichte der Menschheit Typus und Antitypus“ war73, brachte Delitzsch immer wieder auch dazu, Sachverhalte als notwendig zu postulieren, deren Realität die historische Kritik bestritt. Charakteristisch dafür ist das häufig bei ihm begegnende Wörtlein „muß“ bzw. 66  Weissagung und Erfüllung. 67  Zu H. Olshausen (1796–1836) vgl. A. Christophersen, RGG4 VI, 553f. 68  Die biblisch-prophetische Theologie (s. Anm. 59) 170f. 69  Ebd. 187. 70  Ebd. 215f. 71  Ebd. 244. 72  Commentar zum Briefe an die Hebräer (1857) 708–46. 73  Baudissin, ThLZ 15, 164.

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„mußte“74. Hier kam es notwendig zum Konflikt mit der historischen Kritik, denn für diese galt: „Was geschehen musste, darauf kommt es weniger an als auf das was wirklich geschah.“75 Zu den Konsequenzen der Osterbotschaft gehörte für Delitzsch notwendig die Mission an den Juden und in ihrem Dienst die Wissenschaft vom Judentum. Das sprach er von vornherein in direkter Anrede an die „Männer von Juda“ unzweideutig aus: „Um euch das Evangelium von Christo dem Gekreuzigten zu predigen, zu keinem andern Zwecke, aus keinem andern Beweggrunde habe ich eure Sprachen zu erlernen und eure Literaturen zu durchmustern begonnen. Und auch jetzt erkenne ich neben dem höchsten Ziele meiner Studien, der Kirche Gottes zu dienen, kein anderes an, als mit sieghaften Gründen unermüdlich euch zuzureden, Jesum Christum, den von euch verworfenen, anzunehmen. Ermesset die Größe und Reinheit der Liebe nach dem unendlichen und allerheiligsten Gute, das ich (wo es möglich) auf euch überpflanzen möchte. Verkennet ihr diese Liebe, so hält euch entweder die alte Finsterniß gefangen, oder die neue Aufklärung hat euch geblendet – –“76. Es mag sein, dass nie zuvor ein protestantischer Theologe „die Aufgabe einer Begegnung mit dem Judentum so klar erkannt“ hat wie Delitzsch und dass ihn ein „tiefes Verlangen“ erfüllte: „daß doch endlich die Scheidewand zwischen Synagoge und Kirche fällt“77. Aber wenn man nicht sogleich hinzufügt, dass Sinn und Ziel dieser Vorgänge für Delitzsch unabdingbar die Annahme Jesu Christi durch die Juden war, dann verkürzt, ja verfälscht man den Tatbestand. Die verständnisvollste Würdigung Delitzschs von jüdischer Seite, der Nachruf des angesehenen Budapester Historikers und Philologen David Kaufmann (1852–99), kommt nicht um das Urteil herum: „Franz Delitzsch war kein Freund des Judentums“, mit der Begründung: „Kirche und Synagoge vereinigen, d. h. das Judentum im Christentum verschwinden zu lassen, Christus den Juden näher zu bringen, das Evangelium in Israel zu verbreiten, das war die große Leidenschaft seines Herzens, die Aufgabe, von der er träumte, und für die er wachte, der Schwerpunkt seines Trachtens und Strebens. Wie er in der Wissenschaft ganz Licht, so war er in diesem Berufsleben ganz Flamme.“78 Hier ist nicht der Ort, „dieses Berufsleben“ zu beschreiben79; es muss genügen, auf die Zeitschrift „Saat auf Hoffnung“ (seit 1863 – der Titel deutet an, dass man nicht mit schnellen Erfolgen rechnete), den „Evangelisch-lutherischen Centralverein für die Mission unter Israel“ (seit 1870) und das Leipziger „Institutum Judaicum“ (1886) als die wich74  Wagner 339. 75  J. Wellhausen, Geschichte Israels I (1878) 48 (gegen Nöldeke). 76  Delitzsch, Wissenschaft, Kunst, Judenthum. Schilderungen und Kritiken (1838) 8. 77  H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments (31982) 230. 78  D. Kaufmann, Gesammelte Schriften I (1908) 302. 79  Vgl. stattdessen Wagner 149–66.

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tigsten Einrichtungen hinzuweisen. Delitzsch hat in diesem Rahmen sehr viel publiziert, bis hin zu seinem letzten Buch, „Messianische Weissagungen in geschichtlicher Folge“ (1890), das laut Vorwort als „Vademecum“ für die Missionare gedacht war. Jahrzehntelange Arbeit steckt in der für Juden bestimmten Übersetzung des Neuen Testaments ins Hebräische der Mischna und des älteren Midrasch (zuerst 1877, zu Delitzschs Lebzeiten 10 Auflagen)80; man nimmt sie heute als ein Curiosum zur Hand, ist aber von dem eigentümlichen Unternehmen schnell so gefesselt, dass man schwer mit der Lektüre aufhören kann. Es bleibt denkwürdig, dass vielfach gerade ihres Judentums sehr bewusste Juden sich durch Delitzschs Theorie und Praxis der Judenmission nicht davon abhalten ließen, ihn nicht nur als den besten damaligen nichtjüdischen Kenner des Judentums, sondern auch als einen großen und aufrichtigen Freund Israels zu respektieren, ja zu verehren. Seinem oben aufgeführten Urteil zum Trotz findet David Kaufmann den Gedanken tröstlich, dass Delitzschs Name „ein Symbol der Versöhnung, ein Vorbild der Nacheiferung für kommende Geschlechter bleiben“ werde. Delitzsch habe „genug getan, daß sein Name auf den Blättern der jüdischen Geschichte unvergessen fortlebe und mit Dank gepriesen werde, wo jüdische Herzen schlagen. Er wird in seinen Leistungen fortfahren, ein Zeuge und Streiter Israels zu sein, und Freunde uns werben über das Grab hinaus.“81 Als „Zeuge und Streiter“ prägte er sich der Nachwelt ein, indem er gegen die einflussreichen antisemitischen Pamphlete des katholischen Theologieprofessors August Rohling (voran „Der Talmudjude“, 1871) kundig und mutig Stellung bezog. In seiner Schrift „Rohlings Talmudjude beleuchtet“, die noch im Erscheinungsjahr (1881) siebenmal aufgelegt werden musste, wies er ihm zahllose Fehler und die Abhängigkeit von J.A. Eisenmengers zweibändigem „Entdecktem Judenthum“ (1700) nach, worauf Rohling sogleich (1881) unter dem Titel „Franz Delitzsch und die Judenfrage, antwortlich beleuchtet“ reagierte. Angesichts weiterer, auch eidlicher Behauptungen Rohlings und eines Gesinnungsgenossen, der sich pseudonym Justus nannte, jüdische Ritualmorde betreffend, schrieb Delitzsch 1883 „Was D. Aug. Rohling beschworen hat und beschwören will, kritisch beleuchtet“ und „Schachmatt den Blutlügnern Rohling & Justus entboten“, um dann, ebenfalls 1883 mit einem Sendschreiben an seinen Kollegen Zöckler in Greifswald, überschrieben „Neueste Traumgesichte des antisemitischen Propheten“, die Serie abzuschließen, bei deren Lektüre man einem Kampf gegen Windmühlenflügel beizuwohnen glaubt. Immerhin beweisen die Auflagenzahlen, dass auch Delitzsch seine Leser hatte. Nicht übrigens als hätte er immer und überall die Partei der Juden ergriffen! „Treugemeint sind des Liebenden Schläge“ übersetzte er Spr 27,6 und stellte den Spruch einer Schrift voran, in der er, mitten in der Rohling-Kontroverse, einige ihm

80  Vgl. Wagner 167–80. 81  Kaufmann a.a.O. 306.

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schmerzliche Erfahrungen mit jüdischen Zeitgenossen besprach, doch möglichst so, „daß sie der Antisemitismus nicht zu seinen Gunsten ausbeute“82. „Delitzsch hat in seinem Verhältnis zum Judentum eine sonderbare Zwischenstellung eingenommen“, resümiert Siegfried Wagner83. Aber ist nicht eine solche Stellung, wie immer sie nuanciert sei, einem christlichen Theologen und vollends Alttestamentler durchaus angemessen? Schon über die anfänglichen „Leistungen“ des, wie wir heute sagen würden, „Judaisten“ Delitzsch, und über sie besonders, ist David Kaufmann voll des Lobes, ja der Bewunderung: „Wer die ersten Früchte seiner schriftstellerischen Tätigkeit betrachtet, der müßte, wenn er nicht von andersher das Bekenntnis ihres Urhebers erfahren hat, nicht nur aus der gesättigten Fachgelehrsamkeit, sondern vornehmlich aus der Wärme und inneren Teilnahme des oft hinreißenden Vortrags auf die Zugehörigkeit des Verfassers zum Judentume folgern. Wie ein schmetternder Lerchenton den Frühling verkündet, so schien sein erstes Buch: ‚Zur Geschichte der jüdischen Poesie vom Abschluß der heiligen Schriften Alten Bundes bis auf die neueste Zeit‘, dessen Vorrede vom 1. Mai 1836 datirt ist, einen Maientag für die Schätzung und Würdigung jüdischen Geistes und hebräischer Dichtung heraufzuführen. Ein kaum 24jähriger christgläubiger junger Mann trat vor die Zeitgenossen hin, um von dem Dornröschen versunkener Schönheit zu erzählen, das er hinter dem Dickicht des Urwaldes, in dem weltverlorenen jüdischen Schrifttum entdeckt hatte, durch das er mit feurigem Eifer und entschlossener Kraft den Weg sich zu lichten verstanden. Überall war er zu Hause, er hat den Talmud und die Midraschim durchsucht, an den Zauberquellen der mittelalterlichen spanischen Poeten Entzücken getrunken und die Spätlinge und Aftertriebe der Neuzeit mit prüfendem Auge betrachtet. Maßstäbe und Kategorieen der klassischen Literaturgeschichte wurden hier zum ersten Male an Erscheinungen angelegt, die noch nie von solchem Gesichtspunkte aus waren betrachtet worden. Staunend erfuhr die nichtjüdische Welt aus diesem Buche, ,daß die hebräische Sprache nie gestorben sei, sondern in unsterblicher Jugendfrische fortlebe‘, einen Reichtum von Dichtungsarten und Formen entfaltet habe, um die so manche lebende sie beneiden müßte, geistlichem und weltlichem Inhalt in der reichsten Mannigfaltigkeit als bildsamer und gefügiger Ausdruck durch die Abfolge der Zeiten unentwegt gedient habe. Dukes, Sachs und Zunz hatten noch nicht die Bausteine der jüdischen Literaturgeschichte behauen, als der christliche Gelehrte auftrat, um seinen geistgefügten Bau in die Höhe zu ziehen.“84 Die frühe Synthese bedeutete keinen Abschluss der Arbeit auch nur auf diesem Teilgebiet, vielmehr blieb Delitzsch dem nachbiblischen Judentum in seiner ganzen Breite als Forscher, Lehrer und Schriftsteller verbunden, wobei er 82  Christentum und jüdische Presse. Selbsterlebtes (1882) 4. 83  Wagner 414. Vgl. eingehend Ch. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland (1999) 99–111.123–30. 84  Kaufmann a.a.O. 292f.

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niemals die Kärrnerarbeit des Philologen, Textkritikers und Editors scheute und gern mit jüdischen Kollegen zusammenarbeitete85. Es versteht sich, dass diese Beschäftigung auf die Dauer in mehr als einer Hinsicht in den Schatten der Arbeit an der Bibel trat, aber sie blieb auch dort auf verschiedenen Ebenen immer gegenwärtig. In Delitzschs biblischer Exegese kommen jüdisches Material, jüdische Methode, jüdische Theologie mehr zum Zuge als bei allen seinen Zeitgenossen, wenigstens den christlichen. Noch einmal Kaufmann: „Seine glänzende Vertrautheit mit der rabbinischen Literatur und dem nachbiblischen Hebraismus macht seine exegetischen Werke selbst für den jüdischen Forscher zu Quellenschriften, die er neben den nationalen Auslegern stets mit Nutzen zu Rate ziehen wird.“86 Wer in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Theologie studierte, hatte Delitzschs Namen schon dadurch ständig vor Augen, dass er unter den Vorworten der Einzelhefte der damals meistbenutzten hebräischen Bibelausgabe stand. Delitzsch hatte für die Editionsarbeit Seligman Baer (1825–97) gewonnen, einen gelehrten Juden, der zeitlebens nicht über die Stellung eines Schullehrers in Biebrich hinauskam, dem Delitzsch aber 1876 einen Leipziger Dr. phil. verschaffte. Allerdings stellte sich bald heraus, dass Delitzsch „den Umfang und die Bedeutung von Baers masoretischem Wissen weit überschätzt“ hatte und „so unter dem Eindruck von Baers großer Vertrautheit mit der Masora“ stand, „daß er es vollständig unterließ, Baers Angaben nachzuprüfen, und so diese Pseudoausgabe mit seiner Autorität deckte“87. Gleichwohl leistete die 1861 mit den Psalmen begonnene Serie dem Studium gute Dienste, bis sie 1905/06 von Kittels Biblia Hebraica abgelöst wurde; auch ein Wellhausen arbeitete mit ihr. Übrigens betätigte sich Delitzsch, vielseitig wie er war, auch selbst auf dem Gebiet der Textgeschichte; seine umfassenden Studien zum hebräischen Text der complutensischen Polyglotte, die diesen als teilweise dem Textus receptus überlegen erwiesen88, fanden Anerkennung89. Mag auch bei Delitzsch das exegetische Temperament das systematische überwogen haben, so versuchte er sich doch auch in systematischer Darstellung. Zwar hat er keine Einleitung in das Alte Testament, keine Theologie des Alten Testaments und keine Geschichte des Volkes Israel publiziert, aber dafür gibt es die Darstellungen zweier anderer Gebiete, die ihm besonders am Herzen lagen. In Erlangen gehörte außer alttestamentlicher Exegese (und theologischer Moral) auch christliche Apologetik zu seinem Lehrauftrag, und daraus erwuchs sein „System der christlichen Apologetik“ (1869) – kein Nebenwerk, 85  Übersicht bei Kaufmann. 86  Ebd. 297. 87  P. Kahle, Der hebräische Bibeltext seit Franz Delitzsch (1961) 12.14f. 88  Erschienen als Reformationsprogramme der Universität Leipzig 1871/78/86. 89  Vgl. Kahle a.a.O. 18.

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wenn man90 Apologetik und Mission, beide in einem weiten Sinn verstanden, als die Hauptmotive seiner wissenschaftlichen Arbeit betrachtet. Vor allem aber ist hier das „System der biblischen Psychologie“ (1855, 21861) zu nennen, das, beginnend mit Tertullian, an mancherlei ältere Entwürfe anknüpfen konnte91, aber in seiner Art doch neu war und seinerseits keine wirkliche Tradition begründet hat; immerhin führt H.W. Wolff es als ersten Vorgänger seiner „Anthropologie des Alten Testaments“ auf92. In sieben Kapiteln werden erörtert: Die ewigen Voraussetzungen – Die Schöpfung – Der Fall – Der natürliche Bestand – Die Wiedergeburt – Der Tod und der Mittelzustand – Die Auferstehung und Vollendung. Es handelt sich also um eine an heilsgeschichtlicher Dogmatik orientierte Biblische Theologie (welchen Namen Delitzsch aber „äußerst ungeschickt“ findet93), zugespitzt auf die Befindlichkeiten und Widerfahrnisse der menschlichen Seele. Das Buch ist äußerst reichhaltig: fast Seite für Seite befindet sich Delitzsch im Gespräch mit Theologen, Philosophen, aber auch Naturwissenschaftlern aus Vergangenheit und Gegenwart. Stark ist hier wie auch anderwärts der Einfluss des abtrünnigen österreichischen Katholiken Anton Günther (1783–1863), dessen Werke jahrelang Delitzschs „Lieblingslektüre“ waren94, bezeichnend die Sympathie für den Göttinger Zoologen Rudolph Wagner (1805–64), mit dem er sich gegen Darwin und den Materialismus einig wusste95. Den Löwenanteil an Delitzschs Büchern nehmen seine Kommentare ein, und sie sind es auch, durch die er noch über Generationen in konservativen Kreisen nachgewirkt hat und nachwirkt. Nach zwei ersten Versuchen über Habakuk (1843) und das Hohelied (1851) erschien 1852 die Genesis, 1853 deren ziemlich veränderte zweite Auflage, 1859/60 der Psalter und dann die Reihe im „Biblischen Kommentar“: 1864 Hiob, 1866 Jesaja, 1867 Psalmen, 1873 Sprüche, 1875 Hoheslied und Kohelet. Worin der Reiz dieser Bände für empfängliche Leser auch anderer Couleur – bis hin zu Ernst Jünger!96 – bestanden hat und gelegentlich noch heute besteht, sei mit der Charakteristik des Hiobkommentars durch einen Rezensenten angedeutet, der damit ausdrücklich auch „die Art der anderen“ meint: der Rezensent ist Wellhausen: „Was am meisten daran auffällt, ist die ausgebreitete Belesenheit des Vf. Er kennt und berücksichtigt alles, die Kirchenväter, Rabbiner und Reformatoren, selbstverständlich die großen katholischen und evangelischen Begründer der ATlichen Wissenschaft, nicht minder jedoch die [in jüngster Zeit] erschienenen englischen, französischen und deut90  Mit Wagner 415. 91  Vgl. die „Geschichte der biblischen Psychologie“ in der 2. Aufl. 3–10. 92  Anthropologie (1973) 158. 93 A.a.O. 215. 94  Vorwort zur 1. Aufl. Vgl. Wagner 439f.; J. Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century. England and Germany (1984) 114–17. 95  System 220f. 96  Siebzig verweht III (1993) 457.

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schen Schriften über das B[uch]. Eine überraschende Fülle der Gesichtspunkte hängt damit zusammen. Wenn Ewald, nur den Zusammenhang des Textes im Auge, consequent geradeaus geht, so schaut sich D. nach allen Seiten um und läßt keine Blume ungepflückt, auch wenn sie etwas ferne vom Wege blüht. Er hat eine beinah altholländische Freude an der Gelehrsamkeit als solcher, nicht zum wenigsten an der modernen, an den arabischen Etymologieen und grammatischen Erörterungen der Leipziger Schule, an assyrischen Parallelen, an den Ergebnissen der allerjüngsten Dissertationen und Monographien. Es kann nicht fehlen, daß in diesem reich bepflanzten Garten nicht alle Blumen Honig geben, man muß sich wie die Bienen vorzugsweise an die unscheinbaren halten. Die Parallelen und Citate, insbesondere aber die syntaktisch-stilistischen Bemerkungen sind originell und z. Th. vortrefflich, sie beruhen auf gründlicher Beobachtung des Sprachgebrauchs […]. Alles in Allem genommen – sorgfältig und erwogen ist das Meiste, was der Vf. giebt, und wenn man nicht immer für die Sache, um die es sich eigentlich handelt, etwas lernt (z. B. bei den Etymologieen), so ist man doch fast auf jeder Seite sicher, überhaupt etwas zu lernen. Und die Zeiten sind wohl vorüber, wo man von D. nichts lernen wollte, weil er seine wissenschaftliche Ueberzeugung mit der kirchlichen Tradition zu vereinigen sucht und dabei mitunter ins Gedränge kommt. Genug, daß er eine wissenschaftliche Ueberzeugung hat, wie die Thatsache, daß sie ihn in Conflicte bringt, beweist.“97 Wenige Jahre später hätte Wellhausen seine Kritik wohl nicht mehr so liebenswürdig ausgedrückt. Seit seinen „Prolegomena“ von 1878 spitzten sich die Gegensätze in der alttestamentlichen Wissenschaft zu, das „Gedränge“, in das Delitzsch bis dahin „mitunter“ gekommen war, nahm einen bedrohlichen Charakter an. Delitzsch hatte die historische Kritik, deren Symbolfigur der junge W.M.L. de Wette war, bei allen, oft schweren Vorbehalten nie einfach verurteilt oder ignoriert wie seine Vorgänger Hengstenberg und Hofmann; so konnte Wellhausen in der eben zitierten Rezension konstatieren, dass Delitzsch die Echtheit der Elihureden preisgab98, und Ed. Reuß war bei der Lektüre des Jesajakommentars „ganz erstaunt wie viel im Grunde zugegeben“ wurde99. Indessen ließ sich die Kritik dort weithin einigermaßen neutralisieren; ihr Einfluss sei „auf die Exegese im B. Jesaia so gut wie keiner“, bemerkte Delitzsch ganz gelassen noch in der letzten Auflage des Kommentars100. Aber Mose und der Pentateuch waren von vornherein nicht ganz dasselbe wie das übrige Alte Testament, und als Wellhausen seine große Attacke ritt, erschrak Delitzsch tief. Im Sommer 1882 bereiste ein schottischer Pfarrer namens Smith Deutschland, um seiner heimischen Kirchenzeitung über diese Vorgänge zu berichten. Er besuchte zunächst Wellhausen und Zöckler in Greifswald und dann „the vene97  ThLZ 2 (1877) 73. 98 Ebd. 99  Briefwechsel (s. Anm. 1) 582. 100  Commentar über das Buch Jesaia (41889) 30.

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rable Franz Delitzsch at Leipzig“. Dieser schien ihm „to be more deeply stirred upon the whole subject than almost anyone else that I met with“. „‚I am an adversary,‘ Delitzsch said to me, ‚both of his [Wellhausen’s] conclusions, and even more of the spirit in which he deals with the Old Testament history. Certainly,‘ he said, ‚if his conclusions be true, the Old Testament cannot in any distinctive sense be the Word of God; but many critics have no proper idea of what that phrase – the Word of God – necessarily implies. And,‘ after a pause, he added, with great earnestness and evident emotion, ‚that some of them do not realize the position which they assume when they trouble with their speculations the Church of God.‘ Again and again he repeated, in his deep guttural tones, the phrase, ‚Troubling the Church of God‘.”101 Und Baudissin gegenüber zitierte er die Mischna (Soṭa IX 15): „,Das Angesicht des letzten Zeitalters [vor dem Ende] wird wie des Hundes Angesicht sein.‘ Solches Hundsgesicht hat dieses ganze Buch [Wellhausens Prolegomena], es strotzt voll cynische Frechheit.“102 Aber er stürzte sich auch in die exegetische Arbeit, schrieb in Luthardts Zeitschrift für kirchliche Wissenschaft und kirchliches Leben zwei Artikelserien, betitelt „Pentateuch-kritische Studien“ (1, 1880) und „Urmosaisches im Pentateuch“ (3, 1882), und arbeitete seinen Genesiskommentar noch einmal so durchgreifend um, dass er 1887 als „Neuer Commentar über die Genesis“ erscheinen konnte. Zwar legte er im Vorwort Gewicht darauf, dass „der Geist dieses Commentars […] seit 1852 unverändert der gleiche geblieben“ sei, aber indem er erklärte, es seien „weniger die verschiedenen Resultate der Analyse, welche die Mitarbeiter scheiden, als die verschiedene religiöse Stellung zur heil. Schrift und die verschiedene religionsgeschichtliche Verwertung der Resultate“103, zog er auf seine Weise die Konsequenz daraus, dass er sich in wesentlichen Punkten von Wellhausen hatte überzeugen lassen. Schon Jahre vorher war sein erstes klares Einlenken104 von Wellhausen mit Befriedigung zur Kenntnis genommen worden105. Beim Vergleich der beiden Genesis-Auflagen fragte sich Bernhard Stade, der einst in Leipzig Delitzschs Weg gekreuzt hatte106, verwundert, „wo da der tiefe Graben hingekommen ist, der Delitzsch nach seiner Meinung von denen getrennt hat, die in moderner Weise am A.T. Kritik üben“107. Später nannte es Ed. Meyer einen „Beweis für die Kraft des wissenschaftlichen Gewissens, wie er ruhmreicher nicht gedacht werden kann“, dass Delitzsch „wenige Jahre nach dem Erscheinen der Arbeiten Wellhausens diese Ergebnisse rücksichtslos

101  The Christian Church. A Journal of Defense of Christian Truth 2 (1882) 368. 102  Briefwechsel (s. Anm. 29) 440, vgl. 509. 103  A.a.O. 17. 104  ZKWL 1 (1880) 620. 105 EBrit9 XXX (1881) 4191. 106  S.u. 374f. 107  Die Reorganisation der Theologischen Fakultät zu Gießen (1894) 10 Anm.

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anerkannt, seine ganze Lebensarbeit revidiert und einen Weg gefunden hat, die neue Auffassung mit der Orthodoxie auszugleichen“108. Aber ist es wirklich sicher, dass die Sache für Delitzsch am Ende so glatt abgemacht war? In einer seiner letzten Positionsbestimmungen gesteht er zwar zu, dass er „in manchen biblischen Fragen der hergebrachten Ansicht widersprechen muß“, sieht aber mit starken Worten seinen Standpunkt „doch diesseit des Grabens“109, anders gesagt: nach wie vor bei Goeze im unvereinbaren Gegensatz zu Lessing. Sein Schwanengesang, „Messianische Weissagungen in geschichtlicher Folge“ (1890), enthält zwar Zugeständnisse an die Resultate der modernen Kritik, doch „erfolgt gleichwohl der Aufbau fast ganz nach dem alten Schema, welches doch durch die neuere Literarkritik umgestoßen ist“110. Delitzsch starb am 4. März 1890, seine letzte schriftliche Äußerung war: „Ich habe meine Zeit gehabt aber sie ist vorüber.“111

108  Geschichte des Altertums II/2 (31953) 1891. 109  Der tiefe Graben zwischen alter und neuer Theologie (21890) 18. 110  C. Siegfried, ThLZ 15 (1890) 420. 111  23.2.1890 an Baudissin (Briefwechsel 534).

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„Droog als kurk, maar helder als glas“ hat einer von Abraham Kuenens Schülern das Hauptwerk des Lehrers genannt, und dann noch hinzugefügt: „door en door gezond“1. Damit ist nicht nur das Werk bezeichnet, sondern auch der Mensch, der hinter ihm steht und von dem alle, die ihn kannten, zu berichten wussten, er sei noch bedeutender gewesen als seine Bücher2. Hundert Jahre nach seinem Tod hat ihn seine Universität als einen Klassiker gefeiert3, der Nimbus des Klassischen umgab ihn aber auch schon zu Lebzeiten. Ich habe noch Ohrenzeugen erzählen hören, unter deutschen Alttestamentlern sei damals geradezu mit einer gewissen Feierlichkeit von dem „hoogleraar te Leiden“ die Rede gewesen. Die traditionelle Bezeichnung der niederländischen Professoren erschien bei diesem einen als ganz besonders sinnvoll. Er war ein „hoher Lehrer“ und als solcher eine Institution, eine Instanz weit über seine Wirkungsstätte und sein Land hinaus. Er stammte nicht aus Leiden, der traditionsreichen Universitätsstadt, Rembrandts Heimat, sondern aus Haarlem, dem Ort des Frans Hals. Einem Hals-Gemälde konnte er allerdings nicht entsprungen sein; schon der Backenbart erweist den stattlichen Mann mit dem ernsten Blick, der nach unten gebogenen Nase und dem eher strengen Mund als Kind des 19. Jahrhunderts. Auf den Bildern sieht er aus wie der geborene Patriarch. Sein Vaterhaus war eine Apotheke, und nach dem frühen Tod des Vaters schien es, als müsse er das Geschäft übernehmen. Die Eignung dafür besaß er ohne Zweifel. Er war stets vollständig mit Altbewährtem, Neuem und Neuestem assortiert, hielt Ordnung und Übersicht, maß, wog und mischte exakt, bediente sein Publikum gewissenhaft und liebenswürdig. Aber es war ihm vergönnt, diese Eigenschaften auf die Dauer anderswo als in der Apotheke zu 1  H. Oort, De Gids 57 (1893) 535. 2  So ausdrücklich J. Wellhausen, Briefe (2013) 52. 3  Vgl. P.B. Dirksen/A. van der Kooij (Hgg.), Abraham Kuenen (1828–1891). His Major Contributions to the Study of the Old Testament (1993). Im Folgenden wird auf Einzelnachweise aus diesem reichhaltigen Sammelband verzichtet. Aus älterer Zeit gibt es zahlreiche, zum Teil wertvolle Nekrologe und weitere Würdigungen, aber leider keine umfassende Monographie. Diese bleibt ein Desiderat.

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betätigen. Nach zweieinhalbjähriger Lehrzeit dort durfte er an die Lateinschule zurückkehren, deren Besuch er hatte unterbrechen müssen; er hatte die Verbindung zu den Mitschülern gehalten und das Pensum nebenher miterledigt. Knapp achtzehnjährig verließ er 1846 die Schule; damals war schon seine erste gedruckte Arbeit erschienen, eine Oratio de Socrate, cive praestantissimo4. Anschließend ging er als stud. theol. nach Leiden, wo er sein ganzes weiteres Leben zubrachte. Seine Karriere verlief auch für damalige Verhältnisse ungewöhnlich schnell, ein Nekrolog nennt sie geradezu einen „triomftocht“5: 1851 Dr.theol., 1852 (mit 24 Jahren) außerordentlicher, 1855 ordentlicher Professor der Theologie, dazwischen 1853 Dr.phil. h.c. Die wichtigsten Lehrer waren der Orientalist Th.W.J. Juijnboll (1802–61) und der Theologe J.H. Scholten (1811–85). Dem entsprach, dass Kuenen als Student ebenso viel Orientalia wie Theologie trieb: außer Hebräisch Aramäisch, Syrisch, Arabisch und Sanskrit. Seine Dissertation war die Teilausgabe einer arabischen Übersetzung des samaritanischen Pentateuchs, die er in den nächsten Jahren fortführte. Unter Juijnboll wurde er 1851 als Nachfolger des später berühmten Arabisten und Historikers R.P.A. Dozy (1820–83) Verwalter eines großen Leidener Bestandes orientalischer Handschriften. Er behielt diesen Posten bis 1855, dem Jahr, in dem er Ordinarius wurde und heiratete, Wiepkje Muurling, die Tochter eines Groninger Theologieprofessors. Theologieprofessor war er ja nun auch, und er blieb es in einem umfassenderen Sinn, als sein ausschließlich alttestamentlicher Nachruhm vermuten lässt. In Leiden wie anderswo waren bis tief ins 19. Jahrhundert hinein die Lehraufgaben mehr durch Absprachen zwischen den Professoren als durch feste Benennungen ihrer Lehrstühle verteilt. Kuenen hatte zunächst neutestamentliche Exegese, Geschichte der Bücher des Alten Testaments, Enzyklopädie und Methodologie, seit 1860 auch Ethik zu lesen. Die alttestamentliche Exegese war damals nicht in der theologischen, sondern zusammen mit der Hebraistik in der philosophischen Fakultät verankert, wo sie ein Professor Rutgers betrieb. Sie wurde Kuenen erst 1877 aufgrund einer Universitätsreform offiziell übertragen. Damals kam auch der Universitätsgottesdienst in Wegfall, an dem sich Kuenen als Prediger regelmäßig beteiligt hatte. Auch nach 1877 behielt er aber die Vorlesungen über Ethik bei, die ihm besonders am Herzen lagen und an denen die Studenten offenbar mehr Gefallen hatten als an den alttestamentlichen, die sie sogar (und vielleicht gerade) bei einem Kuenen etwas langweilten. Mit literarischer Produktion hat er sich auf den Gebieten des Neuen Testaments und der Ethik sehr zurückgehalten; er wusste, wo seine Stärken lagen. Bei seiner Vorstellung 1853 präsentierte sich der außerordentliche Professor als Alttestamentler: er hielt eine Oratio de accurato antiquitatis Hebraicae stu4  Zu allem Bibliographischem vgl. W.C. van Manen in: A. Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft, übersetzt von K. Budde (1894) 501–11. 5  C.P. Tiele, De Gids 56 (1892) 193.

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dio Theologo Christiano magnopere commendando. Daran, dass er die alttestamentliche Wissenschaft im Rahmen der Theologie betrieb und damit dem christlichen Glauben dienen wollte, hat er nie einen Zweifel gelassen. Er gehörte gemeinsam mit seinem Lehrer Scholten zu den führenden Repräsentanten einer bis ins 20. Jahrhundert hinein einflussreichen Bewegung, die sich „moderne richting“ nannte. Sie stritt gegen den in der niederländischen reformierten Kirche besonders kräftigen Supranaturalismus und hatte es dabei auf biblischem Gebiet natürlich besonders mit dem Wunderglauben und dem Weissagungsbeweis zu tun. Aber sie ging auch hier über diese Fragen weit hinaus und suchte durch Scholten, der der Tübinger Schule nahestand, vom Neuen, durch Kuenen vom Alten Testament ein neues, historisch begründetes Gesamtbild zu gewinnen. So beließ es Kuenen nicht bei zwei Artikelserien in den späteren fünfziger Jahren über „Het Oude Testament in het Nieuwe Testament“ und „Christologie van het Oude Verbond“6, sondern trat schon bald mit einem umfassenden Werk hervor, dem „Historisch-kritisch Onderzoek naar het ontstaan en de verzameling van de Boeken des Ouden Verbonds“, 1861–65 in drei Bänden erschienen. Das Werk stellt sich in die Tradition der sog. Einleitungen in das Alte Testament. Zu Kuenens Zeit wurde über die seitdem nicht zur Ruhe gekommene Frage diskutiert, ob nicht an die Stelle der (analytisch verfahrenden) Einleitung die (synthetisch verfahrende) Literaturgeschichte zu treten hätte. Die Literaturgeschichte, auf Herders Spuren von Hermann Hupfeld 1844 gefordert und definiert7, war bereits 1842 von Ed. Reuß für das Neue, 1856 von Ernst Meier für das Alte Testament entworfen worden8. Ihnen gegenüber entschied sich Kuenen für den Weg der Analyse. Er tat das nicht aus prinzipiellen, sondern aus pragmatischen Gründen. Die israelitische Literaturgeschichte ist Teil der Geschichte Israels und seiner Religion. Für diese Geschichte wiederum sind die Bücher des Alten Testaments nahezu die einzige Quelle. Man kann sie aber als solche nur gebrauchen, wenn man ihre Herkunft, ihr Alter und ihre Glaubwürdigkeit untersucht hat. Diese Untersuchung muss also der Abfassung einer israelitischen Geschichte, Religionsgeschichte und eben auch Literaturgeschichte vorangehen. Mit einem Satz von Heinrich Julius Holtzmann: Die Abfassung einer Literargeschichte setzt voraus, „daß ein anderes Geschäft bereits absolviert ist, nämlich die Kritik“9 . So ersetzt Kuenen den farblosen Buchtitel „Einleitung“ durch „Historisch-kritische Untersuchung“. Die Fortsetzung „über die Entstehung und die Sammlung der Bücher […]“ zeigt an, dass es sich um die einzelnen Bücher und den Kanon handelt; Text und Übersetzungen, der überwiegende Teil der Histoire critique Richard Simons, den Kuenen gleich zu An6  In GodBij 29 (1855); 34 (1860). 7  Über Begriff und Methode der sogenannten biblischen Einleitung. 8  Ed. Reuß, Geschichte der Heiligen Schriften Neuen Testaments; E. Meier, Geschichte der poetischen National-Literatur der Hebräer. 9  Das Vorstehende nach Kuenens Vorrede zum ersten Band.

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fang als den „Vater der Bibelkritik“ anruft10, bleiben draußen. Mit den „Büchern des Alten Testaments“ sind nur die des hebräischen Kanons gemeint; auf sie beschränkt sich Kuenen wiederum aus pragmatischen Gründen, nicht, wie man denken könnte, aufgrund der Tradition seiner reformierten Heimatkirche. Der Onderzoek umfasst in drei Bänden 1301 Seiten. Nur wenige werden ihn ganz und gleichmäßig durchgearbeitet haben. Aber er ist ein wundervolles Buch, dem sich nicht leicht eine der seitherigen Einleitungen in das Alte Testament als gleichrangig an die Seite stellen lässt. Nach der Art mancher Lehrbücher bestehen seine Paragraphen aus eher thetisch gefassten Hauptabschnitten und einer Vielzahl auf sie folgender ausführlicher Anmerkungen, die den Großteil des Materials und der gelehrten Diskussion enthalten. Wellhausen hat das Verfahren des Autors so charakterisiert: „Er liefert keine gruppenweise Zusammenstellung gelehrter Traditionen und Hypothesen, sondern er entwickelt seine Ansichten, aber in ausführlicher Begründung, mit gewissenhafter Rücksichtnahme auf andere Meinungen, in großartig unparteiischer Auseinandersetzung mit Freund und Feind. Für Alles gibt und fordert er Rechenschaft; nichts ist ihm so sicher, dass er es nicht untersucht; auch für das, was man gern als selbstverständlich zu behandeln pflegt, hat er die Gründe bei der Hand. Dabei ist er stets bereit, seine eigenen Aufstellungen von früher, wenn sie auch von Keinem angefochten sind, zurückzunehmen, zu corrigieren oder in der Sicherheit ihres Tons herabzustimmen. Der Gelehrte kann aus dem Buche lernen und doch ist es eine wahre wissenschaftliche Pädagogie für den Anfänger: er darf nie glauben, weder der Tradition noch der herrschenden kritischen Meinung, er muss immer suchen, erwägen und urteilen. Er wird über die Doxa hinausgeführt zum Erkennen der Gründe des Wissens oder des Nichtwissens; er wird unabhängig gemacht von den Autoritäten und dennoch ausgezeichnet orientiert in der gelehrten Litteratur. Leicht ist die Lektüre allerdings nicht. Die systematische Strenge der Anordnung zerreißt den Stoff, zwingt zu Verschränkungen und Widerholungen [sic] und beeinträchtigt die Uebersichtlichkeit. Die Hauptsachen treten nicht genug hervor; man würde sich sehr irren, wenn man das Großgedruckte als die Hauptsache ansehen wollte. Das Bestreben, den Stoff in größter Fülle auf den knappsten Raum zusammenzudrängen, ist vielleicht etwas zu weit getrieben. Indes solche Mängel sind die notwendigen Folgen des Zwanges, den die Form eines Lehrbuches der Einleitung auferlegt, und wir nehmen sie mit Vergnügen in Kauf.“11 Es ist unmöglich und auch widersinnig, von einem derartigen Buch eine Inhaltsangabe zu liefern. Wenn ein einzelnes Gebiet etwas näher betrachtet werden soll, muss es der Pentateuch sein, nicht nur weil er in der Einleitungswis10  S. II der Vorrede. Der Titel der französischen Übersetzung des „Onderzoek“ (1866/79), „Histoire critique des livres du Vieux Testament“, ist eine Huldigung an Simon. Der Begriff „livres“ deutet den Unterschied an. 11  DLZ 8 (1887) 1105 (bei Gelegenheit der deutschen Übersetzung von Bd. 1 der 2. Auflage). Vgl. auch die ähnliche Charakteristik Oorts, aus der eingangs (Anm. 1) zitiert wurde.

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senschaft eine Schlüsselstellung einnimmt, sondern noch mehr weil Kuenen in der Folgezeit hier am stärksten in den Gang der Forschung eingegriffen hat12. Um 1860 gab es auf diesem Gebiet so wenig wie jemals einen allgemeinen Konsens, wohl aber eine Art Mehrheitsmeinung, für die die Namen Ewald, Bleek, Tuch, de Wette stehen. Danach erhielt der Hexateuch im 7. Jahrhundert v.Chr. seine jetzige Gestalt, und zwar durch den „Deuteronomisten“. Ihm lag das Werk des „Jehovisten“ (nach Kenntnisnahme der ursprünglichen Form des alttestamentlichen Gottesnamens „Jahwist“ genannt) vor, der seinerseits im 8. Jahrhundert geschrieben und dem wiederum ein älteres Werk vorgelegen hatte, das „Buch der Ursprünge“ aus der frühen Königszeit, verfasst von einem Priester oder Leviten (später Priesterschrift genannt). Der Jehovist hatte diese „Urschrift“ oder „Grundschrift“ durch eine Fülle anderer Stoffe angereichert, der Deuteronomist fügte das Deuteronomium (sein eigenes Werk!) und verwandte Stücke hinzu. Diese Hypothese, von den genannten Forschern in verschiedenen Variationen vertreten, hieß die Ergänzungshypothese (Kuenen: „aanvullings-hypothese“). Kuenens Darstellung von 1861 sieht dieser Konzeption auf den ersten Blick sehr ähnlich. Aber bei näherem Zusehen zeigen sich wichtige Unterschiede13. Einmal darin, dass für Kuenen der Jehovist/Jahwist (1861 übergangsweise „Jhvhist“) nicht ein bloßer Ergänzer oder Redaktor der „Grundschrift“ gewesen ist, sondern der Verfasser eines zunächst selbständigen Werkes, das von einem Dritten – erst dieser war der Redaktor – mit der Grundschrift vereinigt wurde. Das ist nicht mehr die Ergänzungs-, sondern die Urkundenhypothese. Kuenen hat sie nicht aufgebracht, sondern – von ihrer älteren Geschichte seit Jean Astruc kann hier abgesehen werden – von Hermann Hupfeld (Die Quellen der Genesis, 1853) übernommen. Noch wichtiger ist, dass auch die Grundschrift selbst ein anderes Aussehen gewann. Zunächst – übrigens auch dies von Hupfeld her – indem aus ihr eine weitere Schrift abgespalten wurde, die man bis dahin meist nicht von ihr unterschieden hatte, weil auch sie in der Genesis nicht von Jahwe, sondern von Elohim spricht: der zunächst so genannte „zweite“ oder „jüngere Elohist“, später mit dem Buchstaben E bezeichnet. Damit vertrat Kuenen bereits 1861 die „Vierquellentheorie“ oder die „neuere Urkundenhypothese“ (mit den späteren Siglen: PEJD). Vor allem aber nahm Kuenen die Grundschrift, also die später sogenannte Priesterschrift, näher unter 12  Er hat diesen Gang für die fragliche Zeit zweimal „in einer Art literarischer Autobiographie“ selbst dargestellt, in ThT 4 (1870) 396–425 (deutsche Übersetzung: F. Bleek, Einleitung in das Alte Testament, 4. Aufl. von J. Wellhausen, 1878, 153–69) und in der Introduction zur englischen Ausgabe der 2. Auflage des Anfangsteils seines Onderzoek (An Historico-Critical Inquiry into the Origin and Composition of the Hexateuch, 1886). Die späteren Darstellungen waren gut beraten, wenn sie Kuenen folgten; so geschieht es auch hier. Vgl. neuerdings außer dem oben Anm. 2 genannten Sammelband S.J. de Vries, JBL 82 (1963) 31–57; J.A. Loader, ZAW 96 (1984) 3–23; W.S. Prinsloo, ZAW 98 (1986) 267–71; C. Houtman, Der Pentateuch (1994) 101–07. 13  Vgl. besonders Onderzoek I, 105–12.

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die Lupe und gewann dabei den Eindruck, dass deren legislative Bestandteile kaum durchweg aus der frühen Königszeit stammen konnten, ja dass einige von ihnen sogar jünger waren als das Deuteronomium. Dann aber war das Deuteronomium nicht einfach der jüngste Bestandteil des Hexateuchs und sein Verfasser nicht dessen Redaktor, vielmehr war die Redaktion im Sinn der Grundschrift erfolgt, die damit auf merkwürdige Weise das Ganze vom Anfang und vom Ende her zu umfassen schien. Weiter ging Kuenen 1861 nicht – weswegen er sich später an den Kopf fasste: wie hatte er nur an dieser Stelle stehenbleiben können, zumal in Anbetracht der Tatsache, dass schon eine Generation vorher mehrere Gelehrte (George, Vatke, Reuß) die Priorität des Deuteronomiums vor den priesterlichen Gesetzen behauptet hatten, freilich ohne damit durchgedrungen zu sein. Im Rückblick hat Kuenen seine Position von 1861 „a humiliating proof of the tyranny“ genannt, „which the opinions we have once accepted often exercise over us“14. Die Befreiung von solcher Tyrannei ging in diesem Fall aus dem teils bewussten, teils unbewussten Zusammenwirken einer Reihe von Forschern hervor, unter denen Kuenen zwar nicht der originellste oder genialste war, aber doch der, der das Ganze zugleich am genauesten und souveränsten beobachtete, die Linien zusammenführte und an entscheidender Stelle die richtige Weichenstellung vornahm. Die Arbeit des Registrierens, die ihn dorthin gelangen ließ, besorgte er mit seltener Meisterschaft. Man sieht das am besten in den Rezensionen, kritischen Berichten und Auseinandersetzungen, die er seit 1867 Jahr für Jahr in der von ihm mitherausgegebenen „Theologisch Tijdschrift“ seiner Leidener Fakultät veröffentlicht hat. Er ließ sich dabei keine wichtige oder charakteristische Neuerscheinung entgehen. Mehrere Jahrzehnte einer wissenschaftlichen Disziplin, und zwar klassische Jahrzehnte, gesehen durch die Brille, nein: mit den scharfen Augen ihres wohl am weitesten anerkannten und sicher gerechtesten Vertreters – das ist ein Glücksfall, um den andere die Alttestamentler beneiden können. Diejenigen unter den Alttestamentlern, die sich, abgeschreckt durch die niederländische Sprache, diese Lektüre entgehen lassen, bringen sich also um einen seltenen Genuss. Sie sollten sich vor Augen halten, dass es in England und Amerika gebildete Damen gegeben haben soll, die allein darum Niederländisch lernten, weil sie Kuenen in seiner eigenen Sprache lesen wollten15. Eingangs glaubte ich Kuenen die ererbte Fähigkeit zum Apotheker attestieren zu sollen. Um einiges ernsthafter lässt sich seine gelehrte Tätigkeit mit der eines Richters vergleichen. Man kann sich dafür auf ihn selber berufen. Er hat in einem berühmten Aufsatz über „Kritische Methode“16 die Bibelkritik durch 14  Inquiry (1886) xiv. 15  Vgl. P.B. Dirksen, Té-èf, Blad van de Faculteit der Godgeleerdheid van de Rijksuniversiteit te Leiden, XXI, 3 (1992) 12. 16  The Modern Review 1 (1880) 461–88.685–713.

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ein Gleichnis beschrieben, das ich dem Leser oder der Leserin nicht vorenthalten möchte: „‚Kritik‘ bedeutet die Kunst zu richten. Wohlan denn, stellen wir uns den Mann vor, der von dieser seiner Tätigkeit den Namen trägt, einen Richter. Er ist gewohnt, nach dem Gesetze Recht zu sprechen; aber diesen Teil seiner Aufgabe lassen wir jetzt außer Betracht, um uns auf dasjenige zu beschränken, was dem voraufgehen muß, die Feststellung der Tatsachen, auf denen endlich das Urteil wird beruhen müssen. Wir denken uns einen sehr verwickelten Fall und einen Richter, der sich durch Unparteilichkeit auszeichnet und sein Äußerstes und Bestes tut, um bis zur Wirklichkeit hindurchzudringen. Er hat sich, soweit möglich durch örtliche Untersuchung, in den vollen Besitz der materiellen Voraussetzungen gebracht, unter denen die That ausgeführt ist. Alle Zeugen, die über die Thatsache Licht verbreiten können, sind ohne jede Ausnahme vorgerufen. Das Verhör beginnt; die Zeugen werden verhört und noch einem Kreuzverhör unterworfen. Der Richter läßt nichts unbeachtet; durch lange Erfahrung ist er auf die Aufgabe, der er sich unterzieht, vorbereitet. So beachtet und benutzt er kleine Eigentümlichkeiten im persönlichen Auftreten der Zeugen, im Inhalt und dem gegenseitigen Verhältnis der Zeugnisse, die dem ungeübten Zuhörer entgehen würden. Es dauert nicht lange, so kommt im Geiste des Richters eine Vermutung auf über den wirklichen Hergang der Sache. Er verwirft sie nicht gleich, aber mißt ihr ebensowenig großen Wert bei: die Erfahrung hat ihn gelehrt, daß dergleichen erste Eindrücke ebenso häufig durch die weitere Untersuchung bestätigt, als wieder verwischt werden. Indessen behält er jene Vermutung doch im Sinne, und er kann es nicht unterlassen, die fernere Beweiserhebung damit in Zusammenhang zu bringen und als Probierstein dafür zu benutzen. Das Verhör dauert fort. Sei es in Übereinstimmung mit der erstgefaßten Vermutung oder nicht bildet sich jetzt, wo er das Ganze zu übersehen beginnt, im Geiste des Richters eine Hypothese. Er ist nun ein Stück weiter als zuvor: er kann beinahe nicht daran zweifeln: so und so hat sich die Sache zugetragen. Das ist also der Inhalt seiner Hypothese. Beruht sie etwa darauf, daß alle Zeugnisse gleichmäßig diese Vorstellung von der Thatsache ergaben? Kann sein, denn alle Zeugen können bona fide und nach guter Information ausgesagt haben. Aber erforderlich ist es durchaus nicht. Die Hypothese des Richters kann mit einigen Zeugenaussagen in Widerspruch und sogar mit keiner einzigen von ihnen in vollkommener Übereinstimmung stehen; nur gibt sie Rechenschaft davon, d.h. wenn die Sache so, wie die Hypothese annimmt, geschehen ist, ist es ganz natürlich, daß dieser Zeuge entsprechend seiner Persönlichkeit und seinem Verhältnis zu dem Hergange so, und jener andere so berichtet hat. Aber die Gerichtsverhandlung ist noch nicht aus; die letzten und zugleich am wenigsten gewichtigen Erklärungen sind noch abzugeben. Die Möglichkeit besteht und wird auch von dem Richter anerkannt, daß sie an seiner Auffassung noch etwas ändern. Aber nehmen wir an, daß sie das nicht thun, dann bleibt noch eine letzte Pflicht zu vollziehen. Alle Zeugnisse werden von neuem durch-

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laufen und erwogen. Auf dasjenige, was die Beteiligten und ihre Sachwalter anzuführen haben, wird dabei nach Gebühr Rücksicht genommen. Aber es gelingt ihnen nicht, die Hypothese umzuwerfen oder ins Wanken zu bringen. Alles Material überschauend, überzeugt sich der Richter, daß seine Konstruktion des Hergangs wirklich und vollständig von dessen Inhalt und Form Rechenschaft giebt. Seine Hypothese ist deshalb nun verifiziert, und dem entsprechend fällt er sein Urteil.“17 An sein Gleichnis schließt Kuenen mehrere Beispiele an, die sehr lehrreich sind, lehrreich auch darin, dass es nicht immer so einfach zugeht wie zunächst im Gleichnis. Kuenen weiß das und bricht nichts übers Knie, wenigstens nicht wissentlich. Wie als Bibelkritiker so verfährt er, mutatis mutandis, überall und nicht zuletzt eben als „Registrator“ – mit kaum zu überbietender Sorgfalt, Geduld, Offenheit, Unparteilichkeit und schließlich Revisionsbereitschaft. Wer ihn liest, hat immer das Gefühl, auf einem Boden zu stehen, der unter den jeweils gegebenen Umständen nicht sicherer sein könnte. Zurück zur Pentateuchkritik! Es waren die Werke von drei Außenseitern, die Kuenen nach 1861 in seinen zweifelnden Gedanken hinsichtlich der „Grundschrift“ bestärkten. Der erste war John Colenso (1814–83), anglikanischer Bischof von Natal, ein ebenso unabhängiger wie gelehrter Mann, der mit mehreren Werken Anstoß erregte, besonders mit sieben immer dicker werdenden Bänden „The Pentateuch and the Book of Joshua critically examined“ (1862–79). Kuenen beeindruckte am stärksten der erste Band, der mit Abstand dünnste. Aus ihm ergab sich nämlich, ohne dass Colenso das intendiert oder auch nur richtig bemerkt, geschweige denn ausgewertet hätte, dass die Erzählungen und Listen gerade der „Grundschrift“, die doch als die älteste galt, weil sie sich so genau und dokumentarisch gibt, den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit am meisten widersprechen, also die unhistorischsten sind. Der zweite Außenseiter war der jüdische Gelehrte Julius Popper (1822–84). Er veröffentlichte 1862 ein Buch „Der biblische Bericht über die Stiftshütte, ein Beitrag zur Geschichte der Komposition und Diaskeue des Pentateuchs“. Darin führte er den Nachweis, dass die detaillierte Beschreibung des Baus der „Stiftshütte“ in Ex 35–40 mit den ebenso detaillierten Anweisungen dazu in Ex 25–31 literarisch nicht auf einer Stufe steht, sondern jünger ist und erst längere Zeit nach dem babylonischen Exil fixiert wurde, als Bestandteil einer andauernden „Fortschreibung“, wie man heute gern sagt, oder mit dem Ausdruck Poppers und nach ihm Kuenens einer διασϰευή, die von der ihr vorangehenden Komposition unterschieden werden muss; erst wenn man sich über sie im klaren ist, kann man mit Hoffnung auf Erfolg an die Untersuchung der Komposition gehen. 17  Hier in der deutschen Übersetzung K. Buddes: Gesammelte Abhandlungen (Anm. 4) 22f.

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Der dritte und wichtigste hier zu nennende Autor war der Herkunft nach ganz ein Mann der regelrechten Fachwissenschaft, der Elsässer Karl Heinrich Graf (1815–69), Lehrer in Meißen in Sachsen, Schüler und Freund von Eduard Reuß (1804–91) in Straßburg. In seiner berühmten Schrift „Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments“ (1866) ging er von dem zur Zeit des Josia im 7. Jahrhundert v.Chr. entstandenen deuteronomischen Gesetz aus und verglich mit ihm Punkt für Punkt die übrigen Gesetze mit dem Resultat, dass das Bundesbuch (Ex 21–23) älter ist als das Deuteronomium, die „priesterlichen“ Gesetze dagegen jünger. Im übrigen blieb er bei der bisherigen Reihenfolge, also der Priorität der „Grundschrift“ vor allem Übrigen. Kuenen, der bei einer erneuten Durcharbeitung des Hexateuchs von Grafs Buch überrascht wurde, erkannte auf den ersten Blick, dass die fortan so genannte „Grafsche Hypothese“ noch eine Achillesferse hatte: die Spaltung der Grundschrift in Erzählung und Gesetz. Natürlich hatte Graf diese Spaltung bemerkt, ja sie ganz bewusst vollzogen und war damit der gleichen „tyranny“ zum Opfer gefallen wie Kuenen 1861; die frappante sprachliche Ähnlichkeit der priesterlichen Gesetze mit der Erzählung der Grundschrift erklärte er sich daraus, dass sie diese noch nach Jahrhunderten nachgeahmt hätten. Kuenen wurde nunmehr „von Tage zu Tage deutlicher“, dass das unmöglich ist, und so schrieb er am 4. September 1866 an Graf einen (leider nicht erhaltenen) Brief, in dem er ihm vorschlug, Erzählung und Gesetz der Grundschrift wieder zusammenzufügen und beide, wie es für das Gesetz ja evident war, in nachdeuteronomische, also exilische Zeit zu datieren. Graf ging darauf am 12. November 1866 brieflich ein, kurz vor seinem Tod (1869) auch öffentlich18. Seine Hypothese hätte seitdem eigentlich Graf-Kuenensche Hypothese heißen müssen – nach einem Wort Wellhausens19 würden die Hebräer Kuenen „den Goel Grafs nennen“. Die beste Probe auf eine Analyse und meist ja auch in irgendeinem Sinn ihr Ziel ist die Synthese. Kaum war sich Kuenen über die Reihenfolge der Quellen des Pentateuchs im Klaren, ging er ans Werk, und schon 1869/70 erschien in zwei opulent gedruckten Bänden mit zusammen mehr als 1000 Seiten sein zweites opus magnum, „De Godsdienst van Israël“ – also nicht Profangeschichte, sondern Religionsgeschichte, gemäß dem religiösen Charakter der Quellen und der bestimmenden Rolle der Religion in der Geschichte dieses Volkes. Nicht zufällig war schon die erste Geschichte des alten Israel, die, wenngleich noch in undeutlicherer Weise, auf der Spätdatierung der Priesterschrift beruhte, Wilhelm Vatkes Torso einer „Biblischen Theologie“ von 1835, eine Geschichte der Religion gewesen. Was bei Vatke, nicht zuletzt durch die Verquickung mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie, noch in einem für normale

18  Die sogenannte Grundschrift des Pentateuchs (AWEAT 1, 1869, 466–77). 19  Geschichte Israels I (1878) 111.

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Leser nicht leicht zu durchdringenden Dunkel geblieben war, wurde bei Kuenen „helder als glas“. Schon der Einsatz zeigt das Neue des ganzen Entwurfs. Die Darstellung beginnt nicht bei Mose oder gar den Erzvätern, sondern mit dem 8. Jahrhundert, der Zeit der ersten Schriftpropheten. Erst hier gestatten die Quellen eine sichere Kenntnis von Zuständen und Ereignissen. Von hier tastet sich Kuenen vorsichtig in die durch den Fortfall der Priesterschrift so sehr entleerte Vergangenheit zurück, eine Zeit des Polytheismus und vieler anderer später verpönter Dinge. Immerhin, auch in Kuenens Augen hat Mose den Keim für alles Weitere gelegt. Zwar hat er die großen Gesetzbücher nicht geschrieben, doch der Dekalog wird ihm einstweilen noch belassen. Die Propheten sind seine Nachfolger, ihr „ethischer Monotheismus“ ist der Höhepunkt der ganzen Entwicklung. Deren Perioden spiegeln sich in den Stadien der Entstehung des Pentateuchs: zunächst die prophetische mit Jahwist und Elohist, dann die deuteronomische und schließlich die priesterlich-gesetzliche, der Kuenens geringste Sympathie gehört. Mit dieser Periodisierung und dieser Wertung war Kuenen der unmittelbare Vorläufer des einzigen ebenbürtigen Fachgenossen, den er gehabt hat, Julius Wellhausen. Dieser trat Anfang der siebziger Jahre in seinen Gesichtskreis, und beide wurden einander, jedenfalls was den Pentateuch angeht, auf die Dauer die wichtigsten Gesprächspartner. Der 16 Jahre jüngere Wellhausen, ein Mann eigenen Weges und Stils, konnte auf bereits vorhandener Grundlage die Analyse des Pentateuchs und die Synthese der altisraelitischen Geschichte noch einmal durchführen, und bei ihm gewann vor allem die Synthese klassische Gestalt. Was den eigenen Stil angeht, mag der Satz genügen, den er 1878 an Kuenen schrieb: „Ihre umfassende Gerechtigkeit ist meinem Naturell unmöglich; meine Arbeitslust leidet zu sehr darunter.“20 Das Verhältnis zwischen beiden trat nicht erst bei der Diskussion über den Pentateuch zutage, sondern schon aus Anlass von Kuenens drittem größeren Buch, „De Profeten en de Profetie onder Israël“ mit dem bezeichnenden Untertitel „Historisch-dogmatische Studie“, wiederum in zwei Bänden 1875 erschienen. Das Buch, nicht zufällig von einem Schotten angeregt, ist eine sehr aufwendige Streitschrift gegen den Supranaturalismus, den niederländischen wie auch den angelsächsischen. Das Eigentliche der Propheten liegt, wie schon im „Godsdienst van Israël“ zu lesen, in ihrem ethischen Monotheismus, nicht darin, dass sie kraft einer übernatürlichen Begabung künftige Ereignisse und gar Jesus von Nazareth als den Christus vorausgesagt hätten. Um das zu demonstrieren, lässt sich Kuenen die Mühe nicht verdrießen, 270 Seiten lang sämtliche prophetischen Voraussagen abzuhandeln, zunächst die unerfüllten und dann die erfüllten. Die erste Kategorie überwiegt bei weitem, und wo man Erfüllung feststellen kann, ist nichts Übernatürliches im Spiel. Den Propheten geht es gar 20  Brief vom 13.2.1878 (Briefe, 2013, 43).

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nicht um feststehende Tatsachen der Zukunft, sondern um das der göttlichen Gerechtigkeit entsprechende sittliche Verhalten der Menschen, zu dem sie sie mit ihren Drohungen und Verheißungen bewegen wollen. Wellhausen21 war von dem Buch nicht gerade begeistert. Einmal fand er wohl, dass Kuenen dem Supranaturalismus durch seine minutiösen Widerlegungen zu viel Ehre antat; aber er sah ein, dass „das Wegräumen des Schuttes“ der Hauptzweck des Buches war. Trotzdem vermisste er das „Positive“ oder fand es jedenfalls „nicht die starke Seite des Werkes“. Kuenen sei eine Erklärung des Phänomens der Prophetie „so wenig gelungen, wie andern“, er habe sie „auch wohl nicht beabsichtigt“, obgleich er einmal auf „das Mysterium der Individualität und ihres nicht zu zergliedernden Zusammenhanges mit dem Quell aller Wahrheit“ verweise. Zwar besitze Kuenen eine durchaus aufrichtige „Wärme für seinen Gegenstand“, aber „Congenialität mit den Propheten, wie sie z.B. Ewald besaß, wird man ihm nicht nachsagen können“22. Die Prophetenexegese gehörte in der Tat nicht zu Kuenens Stärken; hier kamen die Impulse viel mehr aus Ewalds Schule, von Wellhausen und seinem (wenn man so will: wiederum den Propheten kongenialen) Freund Bernhard Duhm, von dem sich gegen Ende des Jahrhunderts die Religionsgeschichtliche Schule anregen ließ. In deren Umkreis distanzierte man sich von Kuenens Buch noch schärfer als einst Wellhausen. So legte es Walter Baumgartner, später Duhms Nachfolger in Basel, „unbefriedigt aus der Hand“, auch wenn man ihm „in der Hauptsache einfach beistimmen“ müsse. Es wirke „erkältend“ durch seine „kühle, verstandesmäßige Luft“, das Nachrechnen jeder einzelnen Weissagung mute „kleinlich“ an, die Bedeutung der Weissagung werde „entschieden unterschätzt“23. Mehr als auf dem Gebiet der Prophetie hatten sich Kuenen und Wellhausen auf dem der Erzählung und Historiographie zu sagen. Als Wellhausen 1876 und 1877 seine Analyse des Hexateuchs und 1878 die der Bücher Richter bis Könige publizierte24, erklärte Kuenen in der Theologisch Tijdschrift 25 die erste für „eene époque-makende bijdrage tot de uitgebreide literatuur van dat onderwerp“, die zweite für „boven alles, wat daarover tot nu toe geleverd was“. Die Aufsätze über den Hexateuch ließ er sich zusammen in einen Band binden und mit Schreibpapier durchschießen, auf das er Notizen schrieb, die zum Ausgangspunkt seines großen Gesprächs mit Wellhausen in den zehn „Bijdragen tot de critiek van Pentateuch en Josua“ in den Jahrgängen 1877–84 der Theologisch Tijdschrift wurden. Er entsprach damit Wellhausens Absicht; dieser hatte, wie er ihm gestand, beim Schreiben an niemand mehr als an ihn gedacht 21  Vgl. seine Besprechung ThLZ 1(1876) 203–08. 22  Ebd. 208. 23  Die Auffassungen des 19. Jahrhunderts vom israelitischen Prophetismus (1916/1923), in: W. Baumgartner, Zum Alten Testament und seiner Umwelt (1959) 27–41, Zitate 32. 24  JDTh 21 (1876) 392–450.531–602; 22 (1877) 407–79; F. Bleek, Einleitung in das Alte Testament (Anm. 12) 181–267. 25  1878, 373.375.

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und sich ihn immer als Leser vorgestellt26. Dass seine Analyse in mancher Hinsicht eine vorläufige war, wusste niemand besser als Wellhausen selbst, und er hat es wiederholt ausgesprochen. Vor allem wies er darauf hin, dass der literarische Prozess, den er anhand der durch die Siglen JEPD bezeichneten Urkundenhypothese dargestellt hatte, „in Wirksamkeit complicirter gewesen ist und die sogenannte Ergänzungshypothese in untergeordneter Weise doch ihre Anwendung findet“; nicht zuletzt in dieser Richtung hoffte er auf „Discussion und Widerspruch“27. Kuenens „Bijdragen“, in denen er diese Hoffnung erfüllt bekam, sind nach dem Urteil eines Kenners „the driest and most difficult to follow of Kuenen’s writings“28. Statt eines weitläufigen Referats sei die zentrale Einsicht mit einem Zitat aus dem Jahr 1880 wiedergegeben: „De grenslijn tusschen het schrijven en het redigeeren van den Hexateuch bestaat alleen in onze voorstelling. De jongste schrijvers waren tevens redactoren, en omgekeerd. Hoe meer wij vorderen in het critisch onderzoek, des te grooter proportiën verkrijgt de voortgezette diaskeue – gelijk Popper haar noemde“29. Wellhausen akzeptierte diese Korrektur gern; sie sei „von der angenehmen Art, dass sie meine eigene Grundanschauung befreit von hangen gebliebenen Resten des alten Sauerteiges der mechanischen Quellenscheidung“30. Man darf wohl sagen, dass der Goel Grafs damit auch ein wenig der Goel Wellhausens geworden war. Bevor Kuenen seiner Analyse des Hexateuchs die endgültige Gestalt gab, griff er noch einmal die Synthese auf, die er im „Godsdienst van Israël“ gegeben hatte – nicht um das Buch neu zu bearbeiten (diesen Plan konnte er auch danach nicht mehr verwirklichen), sondern um seinen Gegenstand in einen großen Zusammenhang zu stellen. Eingeladen, in London und Oxford die Hibbert Lectures des Jahres 1882 zu halten, wählte er als Thema „National Religions and Universal Religions“ und entwarf ein breites Panorama von Buddhismus, Christentum und Islam mit ihren Wurzeln im älteren Brahmanismus, im palästinischen Judentum und in der älteren arabischen Religion, wobei jeweils, was für Kuenen der entscheidende Faktor ist, eine große Einzelpersönlichkeit den Übergang zur Weltreligion gemacht hat. Als die mit Richard Rothes Wort „allerveränderlichste“ und darum lebendigste unter diesen Religionen hat das Christentum, wenn es nicht in bestimmten kirchlichen Formen erstarrt, die größten Zukunftsaussichten. Die englischen Zuhörer werden dieser allseitig gelehrten und mit fast ermüdender Sorgfalt abgewogenen Apologie ihrer Religion mit Anteilnahme gefolgt sein; von den Fachgenossen unter den Lesern des (1882 englisch, 1883 deutsch, 1884 französisch) erschienenen Buches steht zu vermuten, dass sie sich gleich auf die pointierten Exkurse im Anhang gestürzt 26  Brief vom 5.1.1877 (Briefe, 2013, 36). 27  JDTh 22 (1877) 478f. 28  S.J. de Vries (s. Anm. 12) 48. 29  ThT 14 (1880) 281. 30  Prolegomena zur Geschichte Israels (21883) 8.

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haben: über angeblich dem Mohammed bereits vorliegende Bücher, über die Aussprache des Namens Jahwe, das Alter des israelitischen Monotheismus, das Werk Esras, die Leugnung jüdischen Ursprungs des Christentums durch Bruno Bauer und andere Kontroversfragen, zu denen Kuenen mit gewohnter Klarheit Stellung nimmt. Nach den „over-filled, but extremely interesting and pleasant days“ in England in sein „quiet study at Leiden“ zurückgekehrt31, begann Kuenen seinen allzu kurzen letzten Lebensabschnitt. Er hatte in ihm auch persönlich schwer zu tragen: 1882 starb seine Frau, 1886 seine überall beliebte Schwester, die lange sein Haus geführt hatte. Seine Arbeit galt in diesen Jahren neben dem, was kontinuierlich fortlief, voran den Literaturberichten in der Theologisch Tijdschrift, zwei größeren Werken: der zweiten Auflage seines Onderzoek und der niederländischen Bibelübersetzung. Beide konnte er nicht zum Abschluss bringen. Der neue Onderzoek begann 1885 mit dem ersten Teil des ersten Bandes zu erscheinen, 1887 lag der ganze Band (Thora und historische Bücher) vor, 1889 folgte Band II (Propheten), 1893, schon postum, der Anfang von Band III (Sprüche, Hiob, Prediger). Das größte Interesse fand natürlich die Behandlung des Hexateuchs, von 196 Seiten in der ersten Auflage auf 327 angestiegen. Im Vorwort zur englischen Übersetzung dieses Teils konnte Kuenen mit Genugtuung feststellen: „I am no longer advocating a heresy, but am expounding the received view of European critical scholarship“32. Dass es nach wie vor Forscher mit dieser oder jener abweichenden Grundanschauung gab, wusste Kuenen natürlich, und heute, nach einem Jahrhundert, könnten sie sich vielleicht sogar wieder in der Mehrzahl befinden; in allen Lagern aber müsste sich unter den Kundigen schnell Einigkeit darüber erzielen lassen, dass keine seitherige Gesamtdarstellung dem klassischen Werk Kuenens an Gediegenheit gleichgekommen ist und dass man es auch in Einzelfragen immer noch mit Gewinn benutzen kann. Eine solche Einzelfrage ist für manche die der Einheitlichkeit des sog. deuteronomistischen Geschichtswerks. Hier pflegt man sich zugunsten der These von einer vorexilischen und einer exilischen Redaktion auf Kuenen zu berufen, der – wie übrigens bereits Heinrich Ewald33 – in den Königsbüchern diese Unterscheidung gemacht und damit viel Nachfolge gefunden hat34. Dabei sollte allerdings nicht unter den Tisch fallen, dass Kuenen sich die jüngere dieser beiden Redaktionen nicht als zu einem Zeitpunkt und durch eine Hand bewerkstelligt vorstellte, sondern auch hier an die „fortgesetzte Diskeue“ dachte35. 31  National Religions and Universal Religions (1882) vi. 32  An Historico-Critical Inquiry (Anm. 12) xl. 33  Vgl. dessen Geschichte des Volkes Israel, 3I (1864) 227–44. 34  Vgl. etwa R.D. Nelson, The Double Redaction of the Deuteronomistic History (1981) 14–19. 35 Onderzoek 2I, 426.

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Eine verwandte Frage betrifft die „deuteronomistischen“ Elemente in den Büchern Genesis-Numeri. 1879 hatte J.W. Colenso in Genesis 117, in Exodus 138 ½, in Numeri 156 ½ masoretische Verse mit einem „D“ bezeichnet36. Kuenen blieb demgegenüber skeptisch. Er fand, dass diese Stellen „onderling al zeer weinig gemeen“ hätten; der Redaktor habe sich zunächst mit dem Anbringen „van enkele deuteronomistische toetsen“ begnügt, die „zich zonder groote moeite laten aanwijzen“ (ganz sicher nur Gen 26,5; Ex 15,26), und erst bei der Sinaigesetzgebung stärker eingegriffen37. Zwischen den Lösungen Colensos und Kuenens hat sich die seitherige Forschung bewegt, wobei sich das literaroder redaktionsgeschichtliche Problem der Bestimmung des „Deuteronomistischen“ immer mehr mit dem traditions- und theologiegeschichtlichen verband. Es wurde schon gesagt, dass die Prophetenexegese nicht zu Kuenens Stärken gehörte. So hat er zwar auch in den Einleitungsfragen zu den prophetischen Büchern auf imponierende Weise das Amt des Registrators und des Richters ausgeübt, aber nur wenig durch eigene Forschung Epoche gemacht. Die Authentie etwa des Amosschlusses oder der messianischen Texte bei Jesaja oder der Verheißung des neuen Bundes bei Jeremia bereitet ihm noch keine Beschwer, zwischen poetischer und prosaischer Prophetenrede bei Jeremia sieht er keinen grundsätzlichen Unterschied und innerhalb von Jes 40–66 keine so tiefe Zäsur, dass neben Deutero- ein Tritojesaja nötig würde. Hätten Wellhausen, Duhm und andere ihre gegenläufigen Thesen einige Jahre früher veröffentlicht, sähe der zweite Band des Onderzoek gewiss anders aus. Kuenen hätte, daran ist nicht zu zweifeln, diesen Thesen weithin zugestimmt, hätte sie aber vermutlich analog zu seiner Arbeit am Hexateuch in Richtung auf die „fortgesetzte Diaskeue“ hin abgewandelt und damit den Weg in die moderne Prophetenforschung verkürzt. Etwas anderes, das heute ebenfalls modern ist, begegnete ihm noch zu Lebzeiten: die radikale Spätdatierung der alttestamentlichen Schriften. Für sie machte sich der jahrzehntelang sehr produktive Maurice Vernes stark, von dem Kuenen 1888 die im Vorjahr erschienene Schrift „Une nouvelle hypothèse sur la composition et l’origine du Deutéronome“ zum Anlass einer Auseinandersetzung nahm38. Vernes hielt an der Reihenfolge der Pentateuchquellen im Sinne von Graf und Kuenen fest, veränderte aber die absolute Chronologie: das Deuteronomium gehört erst ins 5. Jahrhundert, eine Kultzentralisation hat es in vorexilischer Zeit nicht gegeben, der Autor von 2. Kön 22f. kennt zwar das Deuteronomium, aber das beweist nichts für die Historizität dessen, was er berichtet. Entsprechend rutschen die übrigen Quellen herunter: Jahwist und Elohist ins Exil, die Priesterschrift ins 4. Jahrhundert. Allfällige Gegengründe aus der Geschichte der Prophetie verschlagen nichts, denn die Prophetenbücher, 36  The Pentateuch and Book of Joshua critically examined VII, 145 und „Synoptic Table“ am Schluss; Addition bei Kuenen, Onderzoek 2I, 135. 37 Onderzoek 2I, 251f. 38  ThT 22 (1888) 35–57.

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Jeremia voran, sind Pseudepigraphen aus späterer Zeit; vollends bei Elia und Elisa handelt es sich nicht um geschichtliche Gestalten. Kuenen weist diese Aufstellungen in gewohnter Ausführlichkeit zurück, wobei sich den Argumenten ein ungewohntes Maß an Entrüstung zugesellt. Das Fazit ist ein „Er muß umkehren, nicht wir“, doch folgen die bemerkenswerten Sätze: „Das will indessen nicht sagen, daß für uns aus seiner Schrift nichts zu lernen wäre. Die Übertreibung, deren er sich schuldig macht, darf uns nicht vergessen lassen, daß die Thatsache, von der er ausgeht, unleugbar ist. Die ganze alttestamentliche Litteratur, darunter auch die vorexilischen Gesetze, Erzählungen und Weissagungen, ist durch die Vermittelung des nachexilischen Judentums, genauer der jerusalemischen Schriftgelehrten, auf uns gekommen. Es ziemt uns, dessen stets eingedenk zu sein und uns immer die Frage zu stellen, ob dies etwa Einfluß auf Inhalt und Form der älteren Bestandtheile des Kanons kann gehabt haben, und welchen? Ein schrankenloser Skepticismus in dieser Hinsicht, wie Vernes ihm huldigt, wird m.E. durch die Thatsachen widerlegt. Aber wir haben allen Grund, nicht blindlings zu trauen, sondern zu zweifeln und zu untersuchen.“39 Von dem zweiten großen Werk, dem er sich in seinen letzten Lebensjahren widmete, hat Kuenen nur kleine Teile im Druck gesehen. Die Synode der Nederlandse Hervormde Kerk hatte 1848 eine neue Bibelübersetzung in Auftrag gegeben. Deren neutestamentlicher Teil erschien 1868, der alttestamentliche kam nicht zustande. Das veranlasste einen Kreis um Kuenen, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Am 26. Januar 1885 versammelten sich Kuenen und seine Schüler J. Dyserinck, J. Hooykaas, W.H. Kosters, J.C. Matthes und H. Oort, um die Arbeit zu verteilen. Jeder Mitarbeiter übernahm ein biblisches Buch, von dem er zunächst ein Probestück erarbeitete, das von allen übrigen beurteilt wurde; daraus ergab sich auch eine Verständigung über die durchgehende Gestaltung des Werkes. Danach übersetzte jeder sein ganzes Buch, ließ die Übersetzung samt dazugehörigen Erläuterungen von einem zweiten revidieren und sandte sie dann an Kuenen, der sie mit seinen eigenen Änderungen an die Druckerei weitergab. Die vorläufig gedruckte Fassung wurde auf jährlich mehrtägigen Zusammenkünften in den endgültigen Text verwandelt. Durch den Tod Kuenens und mehrerer seiner Mitarbeiter verzögerte sich der Weg zur Vollendung des Werkes, doch konnte H. Oort 1899 den ersten, 1901 den zweiten Halbband herausbringen40. Kuenen war nicht nur der Redakteur der ersten Teile gewesen, sondern in seinem Sinn hatten alle Beteiligten von vornherein gearbeitet. Bedächtiger als seine nicht selten zu radikalen Auffassungen neigenden Schüler wird er Gewagtes gemildert, Divergierendes ausgeglichen haben. Nach seinem Tod bekam unter den Mitarbeitern die Kritik von W.H. Kosters an der biblischen Vorstellung vom Babylonischen Exil ein solches Gewicht, dass sie ihr in den Einleitungen Geltung verschafften, bis hin zum Verzicht auf die Begriffe 39  Ebd. 57; hier nach der Übersetzung Buddes (a.a.O. 429). 40  Das Vorstehende nach Oorts Vorrede zu Band I.

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„vorexilisch“ und „nachexilisch“. Unter solchen Umständen ist die „Leidener Bibel“ wissenschaftlich geschlossener als die gleichzeitige „Heilige Schrift des Alten Testaments“ von E. Kautzsch und seinen Mitarbeitern, mit der sie sich in der Intention trifft, interessierten Lesern die Ergebnisse der Bibelwissenschaft nahezubringen. Auch ästhetisch verdient sie vor jener den Vorzug. Von Abraham Kuenen wäre noch viel zu berichten. Er hat erheblich mehr geschrieben, als was hier – jedesmal zu kurz – zur Sprache kam, ist als Haupt seiner Familie, als Bürger seiner Stadt, als Mitglied und Synodaler seiner Kirche, als Lehrer seiner Schüler, als Präsident der Niederländischen Akademie der Wissenschaften und in manchen anderen Funktionen ein Mann von einer Tadellosigkeit gewesen, die beängstigen könnte. Aber sie hat offenbar niemanden beängstigt. Denn obwohl er mit so viel Begabung das Amt des „Richters“ ausübte, scheint er nicht selbstgerecht und nicht überheblich gewesen zu sein. Bei aller Arbeitslast hatte er stets Zeit für andere, war überall nicht nur geachtet, sondern auch beliebt, und sein Begräbnis setzte die ganze Stadt in Bewegung. Jahrzehnte danach, im Rückblick auf sein eigenes Leben, schrieb in Göttingen Julius Wellhausen: „Ich […] habe nie einen mehr sympathischen und verehrungswürdigeren Mann kennen gelernt, als den Professor Abraham Kuenen.“41

41  Briefe (2013) 17.

Adolf Kamphausen 1829–1909

Zum gesunden Universitätsleben gehört, in Deutschland wenigstens, der Ortswechsel, für die Lehrenden ebenso wie für die Lernenden. Wie alle Regeln hat auch diese ihre Ausnahmen, darunter die Laufbahn Adolf Kamphausens. Er hat an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn studiert, promoviert, sich habilitiert, ist hier außerordentlicher und schließlich ordentlicher Professor gewesen. Noch heute profitieren manche Bonner Theologen von seiner Hinterlassenschaft: seine Bibliothek wurde von der Witwe dem Seminar der Fakultät geschenkt1 und bildet dort nach wie vor den Grundbestand älterer exegetischer Literatur. Diese Bücher lohnen oft nicht nur um ihrer selbst willen die Lektüre, sondern auch wegen der zahlreichen handschriftlichen Eintragungen ihres einstigen Besitzers. Sie vermitteln den Eindruck eines weniger geistreichen als fleißigen und gewissenhaften Mannes, zu dem die stabilitas loci aufs beste passt. Adolf Hermann Heinrich Kamphausen wurde am 10. September 1829 in Solingen geboren. Sein Vater und sein Großvater waren Lehrer, der Großvater in Mörmter bei Xanten, der Vater zunächst in Solingen, von 1836 an in BarmenGemarke als Hauptlehrer der evangelisch-reformierten Pfarrschule. Der junge Adolf empfing den ersten Schulunterricht beim Vater. Der anschließende Besuch der höheren Stadtschule in Barmen brachte keinen großen Erfolg; beim Überwechseln auf das Elberfelder Gymnasium musste er noch einmal ziemlich weit unten anfangen und außerdem fortan täglich zu Fuß von Barmen nach Elberfeld und zurück laufen – ein Umstand, dem er später für seine Gesundheit große Wichtigkeit zuschrieb. Im Herbst 1849, für damalige Verhältnisse ziemlich alt, verließ er das Gymnasium. Er hatte in den Jahren seit 1845 mit besonderer Freude Hebräisch gelernt und sogar in Vertretung des Lehrers den Unterricht darin leiten dürfen. Sein Berufsziel war der Gymnasiallehrer. Die Absicht, in Halle Klassische Philologie und nebenbei Theologie zu studieren, wurde durch die dort herrschende Cholera durchkreuzt. So ging Kamp­ 1  Vgl. O. Ritschl, Die evangelisch-theologische Fakultät zu Bonn in dem ersten Jahrhundert ihrer Geschichte (1919) 77.

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hausen nach Bonn. Dort zogen ihn die theologischen Vorlesungen sogleich mehr an als die philologischen. Er konnte sich aber eine Zukunft als Pfarrer nicht vorstellen. Eine Unterredung zu Weihnachten 1849 mit seinem alten Elberfelder Schuldirektor brachte ihn auf die Möglichkeit einer akademischen Laufbahn innerhalb der Theologie. Noch im Januar 1850 wechselte er endgültig die Fakultät und studierte fortan nur noch Theologie, besonders bei Bleek, Rothe, Hasse und Dorner. Sein Ziel wurde bald die alttestamentliche Wissenschaft. Darum widmete er sich mit besonderem Fleiß arabischen Studien bei Wilhelm Freytag (1788–1861). Im Oktober 1853 bestand er in Koblenz das erste theologische Examen, im Juli 1855 in Bonn das Lizentiatenexamen; die Dissertation hatte „De compositione librorum Esdrae et Nehemiae“ gehandelt. Im August 1855 folgte die Habilitation mit einer lateinischen Vorlesung innerhalb der Fakultät über das Buch Habakuk und einer deutschen Rede in der Aula über den Zweck des Buches Hiob. Unmittelbar darauf ließ er sich für ein Jahr beurlauben; er wollte auch noch andere Universitäten bereisen und in Göttingen eine ihm durch Dorner vermittelte Assistentenstelle antreten. Es kam anders. Auf Empfehlung von Bleek und Dorner holte Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen (1791–1860), der bis zum Sommer 1854 preußischer Gesandter in London gewesen war und sich danach in Heidelberg niedergelassen hatte, im Oktober 1855 Kamphausen als seinen Privatsekretär dorthin. Kamphausens wichtigste Aufgabe war die Mitarbeit an Bunsens „Vollständigem Bibelwerk für die Gemeinde“. Nebenher las er als Privatdozent an der Heidelberger Universität Altes Testament und Elemente des Hebräischen, Chaldäischen (Biblisch-Aramäischen) und Arabischen. Als Privatdozenten wirkten damals in Heidelberg auch der Neutestamentler Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) und der Alttestamentler Eduard Riehm (1830–88), deren Freundschaft Kamphausen gewann und behielt. Nach nicht langer Zeit sah er sich unverhofft wieder in Bonn: Bunsen beschloss 1858 dorthin überzusiedeln, allerdings vorher noch eine längere Erholungszeit in Cannes zuzubringen, wohin er Kamphausen nicht mitnahm. Dieser wurde, nachdem er sich schon in Bonn „rehabilitiert“ hatte, dann doch noch über den Winter 1858/59 in Heidelberg festgehalten und begann seine Bonner Lehrtätigkeit im Sommersemester 1859, wenige Wochen nach dem Tode Bleeks. Hier war seit 1857 Ludwig Diestel (1825–79) Extraordinarius für Altes Testament. Kamphausen lebte zunächst noch von seinem Gehalt als Privatsekretär Bunsens, das nach dessen Tod, 1860, fürs erste weiterlief, weil das Bibelwerk noch nicht abgeschlossen war. Für die Zeit danach machte er sich Hoffnungen auf eine Stelle gleich der Diestels, der Ostern 1862 als Ordinarius nach Greifswald ging. Die Bonner Fakultät verlangte aber durch ihren Dekan, den Alttestamentler Schlottmann, zunächst eine größere selbständige wissenschaftliche Arbeit, da ihr die Mitarbeit an Bunsens Bibelwerk nicht als ausreichend erschien, um dem Ministerium Kamphausens Ernennung zu empfehlen. Das war für ihn, wie er selbst später gesagt hat, ein harter Schlag, „dessen Nutzen ich erst

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nach längerer Zeit erkannte“. Er machte sich aber sogleich an die Arbeit, und so „entstand das Buch über das Lied Mosis Dt 32, eine Veröffentlichung, in der ich absichtlich den gelehrten Prunk häufte“. Die Fakultät empfahl Kamphausen daraufhin für das Extraordinariat, mußte die Eingabe aber noch zweimal wiederholen, bis sie Anfang 1863 Erfolg hatte. Auch der Weg zum Ordinariat war nicht ohne Hindernisse. Als Schlottmann 1866 nach Halle ging, schlug die Fakultät vor, zu seinem Nachfolger den ordentlichen Professor August Köhler (1835–97) in Jena zu berufen und gleichzeitig Kamphausen zum Ordinarius zu machen. Das Ministerium entsprach dem ersten Teil des Vorschlags, dem zweiten nicht. Köhler kam, und Kamphausen blieb die Hoffnung auf ein Ordinariat an einer der 1866 durch Preußen annektierten Universitäten, etwa Kiel, wohin jedoch August Klostermann (1837–1915) berufen wurde. Man wünschte ihm auch die Nachfolge Diestels in Greifswald – Diestel ging 1867 nach Jena –, aber vergebens. Ein Trost war der Ehrendoktor, den ihm die Theologische Fakultät in Halle im Juni 1867 verlieh. Und sehr bald kam dann auch, was er im Rückblick eine „merkwürdige göttliche Fügung“ nennt: Köhler ging im Herbst 1867 als Nachfolger von Franz Delitzsch nach Erlangen, Kamphausen wurde am 3. Februar 1868 zu seinem Nachfolger ernannt. Er hatte sich dafür noch nach alter, für ihn als letzten geltender Regel zu habilitieren, was durch eine Vorlesung über das Buch Jona erfolgte, zu der er mit dem Programm „Commentatio de chronographi Veteris Testamenti nonnullis locis“ eingeladen hatte. Die Ernennung zum ordentlichen Professor muß Kamphausen wie eine Erlösung empfunden haben, nicht aus Prestigegründen, sondern weil die einzige ihm mögliche Lebensweise, die in unauffälliger und ungestörter Regelmäßigkeit bestand, ohne eine sichere materielle Grundlage nicht möglich war. Durch seine aus dem Jahre 1871 stammende Selbstdarstellung im Album Professorum der Fakultät2 zieht sich wie ein roter Faden die Reihe der Angaben über seine finanziellen Verhältnisse in den verschiedenen Stadien seines Weges. Es ist heute noch oder wieder von einigem Interesse, sich an Hand der Zahlen zu vergegenwärtigen, wie die akademische Laufbahn damals für jemanden, der aus dem Elternhaus nicht viel Unterstützung bekommen konnte, nach dieser Seite hin aussah. Kamphausen erhielt als Student „nie akademische Beneficien, da mein seliger Vater in ehrenhafter Weise auf ein Paupertätszeugnis keinen Anspruch machte“. Er wohnte zwei Semester im Bonner Stift, wo die sechs ausgezeichnetsten Seminaristen freie Wohnung hatten. Geld verdiente er von 1853 an durch Unterricht an einer höheren Töchterschule, im übrigen durch die Lösung von Preisaufgaben. Er gewann den akademischen Preis 1852 für die Bearbeitung eines semitistischen Themas, 1853 für eine Abhandlung über das Buch Hiob. Im Theologischen Seminar bekam er für alttestamentliche Arbeiten zweimal eine Prämie von 36 und zweimal eine von 60 Reichstalern. 1855 erhielt er für die 2  Ihr (in der Ausgabe von H. Faulenbach, 1995, 105–13) ist die hiesige Darstellung gefolgt; vgl. auch die spätere Autobiographie bei K. Budde, RE3 XXIII, 726–30.

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Antwort auf eine von einem Rev. Herschel in London gestellte Preisfrage über den Segen der ungehinderten Verbreitung der heiligen Schrift 100 Taler. Bunsen zahlte ihm 600 Taler Jahresgehalt. Als Extraordinarius erhielt er 300, doch wurde diese Summe 1864 auf 500, 1866 auf 600 Taler erhöht. Ein Junggeselle, so bemerkt Kamphausen, konnte mit 500 Talern leben, zur Gründung eines Hausstandes reichten aber auch 600 nicht hin. Kaum eröffnete sich dadurch, dass Köhler den Ruf nach Erlangen annahm, die Aussicht auf das Ordinariat, „hielt ich es auf den Rath meines hier lebenden Freundes, des emeritirten Duisburger Gymnasialprofessors J. Hülsmann, für recht, an die Gründung eines Hausstandes, nach welchem ich mich schon längst gesehnt hatte, zu denken und verlobte mich am 21. Novbr. 1867 mit Emmy Bruch, Enkelin des von unserer Fakultät doctorirten Cölner Consistorialrathes und Pfarrers Bruch“. Im Juni 1869 wurde ihm „der Wunsch erfüllt, ein eigenes kleines Haus zu beziehen“. Der Ehe entstammten zwei Töchter. 1873 starb Kamphausens erste Frau. Er heiratete 1878 in zweiter Ehe Alwine Schreiber, Tochter des Königlichen Oberförsters in Brühl. 1893/94 war er Rektor der Universität. Ostern 1900 trat er in den Ruhestand; sein Nachfolger wurde Eduard König (1846–1936). Kamphausen hielt noch bis 1901 in seinem Hause Seminar und zog sich dann auch davon zurück. Er starb am 13. September 1909 an einem Leiden, das ihm schon seit seinem Rektoratsjahr zu schaffen gemacht hatte. So unauffällig und regelmäßig wie sein Lebensgang ist im ganzen auch seine Wirksamkeit in Universität und Fakultät gewesen. Immerhin hat es aber im preußischen Abgeordnetenhaus einen „Fall Kamphausen“ gegeben, nachdem er als Rektor gegen die konfessionellen Studentenverbindungen vorgegangen war. Er war, berichtet der Historiograph der Bonner Fakultät, „ein gerader, nüchterner Mann, vorherrschend verständig in seinem Denken und Urteilen, an sich durchaus friedliebend, aber, wenn er sich in seinem Gewissen dazu verpflichtet fühlte, jederzeit bereit, seinen Standpunkt tapfer und unnachgiebig zu vertreten. Freilich hatte er dabei nicht immer eine glückliche Hand. Ohne es zu wollen, stieß er mit seiner rücksichtslosen Offenheit bei seinen Gegnern leicht an, und diese hatten manchmal Grund, sich durch schroffere Wendungen persönlich verletzt zu fühlen, die ihm ohne beleidigende Absicht in die Feder flossen, weil er es nicht verstand, die voraussichtliche Wirkung seiner Worte bei deren Wahl bereits abzuschätzen. So kam er oft in Konflikt […]“3. In der Fakultät war sein nächster Freund und Gesinnungsgenosse, aber elastischer und irenischer als er, der liberale Neutestamentler Mangold, den er 1872 durch ein umstrittenes Sondervotum nach Bonn brachte. Alle Zeugnisse stimmen darin überein, dass Kamphausen als Lehrer nicht viel Wirkung gehabt hat. „Seine schlichte Sprache, sein nüchterner, durch Räuspern unterbrochener Vortrag schreckten die Masse der Studierenden eher ab.“4 3  Ritschl (Anm. 1) 63. 4  Budde, RE3 23, 730.

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Er hat aber einige Schüler gehabt, die seiner stets in großer Dankbarkeit gedachten: Karl Budde vor allem und Wilhelm Rothstein, ferner Carl Heinrich Cornill und Rudolf Smend; er hätte gern Budde oder Smend als seinen Nachfolger gesehen und ist über König in dieser Rolle nicht glücklich gewesen. Führt man sich diese Schüler vor Augen, so möchte man sie überwiegend nicht zu Kamphausen, sondern zu Wellhausen stellen. In der Tat ist bei der Mehrzahl von ihnen der Einfluss Wellhausens zwar nicht was den Stil des Arbeitens und Schreibens, wohl aber was die historische Vorstellung vom Alten Testament angeht, stärker und bestimmender gewesen als der Kamphausens, dem Budde und Smend sonst ähnlicher waren als ihrem neuen und viel größeren Meister. Darin deutet sich auch Kamphausens wissenschaftsgeschichtliche Stellung an. Als er bereits einige Zeit ein fertiger Mann war, erfolgte die große Zäsur in der Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft: 1866 verwies Karl Heinrich Graf das priesterliche Gesetz in die nachdeuteronomische Zeit, 1869 versuchte Abraham Kuenen ein erstes dazu stimmendes Gesamtbild der israelitischen Religionsgeschichte, 1878 führte Julius Wellhausen die neue Meinung im Triumph zum Sieg bei denen, die aufgeschlossen waren. Die Aufgeschlossenheit war für die Älteren nicht immer einfach; August Dillmann, nach Buddes Urteil5 außer Eberhard Schrader der einzige, der in Kamphausens Generation vor ihm genannt zu werden verdiente, besaß sie nicht, obwohl er mit Wellhausen den Lehrer Heinrich Ewald gemeinsam hatte; vielleicht stand bei ihm gerade das Erbe Ewalds der Aufnahme von Wellhausens Gedanken im Wege. Ähnlich hätte es bei Kamphausen sein können. Ewald galt ihm viel, und der de Wette, den er verehrte, war weniger der des genialen Jugendwerkes, an das Wellhausen anknüpfte, als der spätere vorsichtig, ja fast konservativ gewordene Exeget, der sich gegen die Konsequenzen seiner eigenen Kritik, wie sie Wilhelm Vatke zog, verwahrte und daraufhin in Grenzen sogar vor Ewald Gnade fand6. Um so mehr ehrt es Kamphausen, wie er sich gegenüber der neuen Richtung verhielt. „Was uns“, berichtet Budde, „1867/68 in den Vorlesungen über die Genesis noch als bedenkliche Hypothese geschildert wurde, das machte er sich nach Wellhausens sieghaftem Vorgehen, schon als älterer Mann, in vollem Umfang zu eigen.“7 Dass er es „in vollem Umfang“ getan habe, ist freilich eine Übertreibung aus der Sicht Buddes, dem der Abstand zu Wellhausen fehlte, wie wir ihn heute haben. Kamphausen begrüßte Wellhausens Arbeiten alsbald als die „eines für eindringende geschichtliche Forschung ganz ungewöhnlich begabten, leider aber auch häufig sich überstürzenden Kritikers“8 und warf ihm „zahlreiche Irrthümer“ vor9. Er war namentlich der Auffassung, dass der Hexa5  Ebd. 731. 6  Vgl. R. Smend, W.M.L. de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament (1958) 110. 7  A.a.O. 730. 8  HZ 54 (1885) 268f. 9  Ebd. 272.

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teuch und die ihm folgenden geschichtlichen Bücher in ihrem historischen Gehalt von Wellhausen stark unterschätzt würden. Besonders war in seinen Augen die geringe Rolle, die Mose bei Wellhausen spielt, ganz unwahrscheinlich. Für Kamphausen stammte der Dekalog nicht aus der Zeit des Manasse, sondern von Mose, der „durch einen bleibenden Bruch mit der althebräischen Naturreligion der Stifter der Religion des Alten Bundes geworden ist“10. „Ebenso unrichtig“ erschien ihm „die Meinung […], daß von den Hagiographen erweislich nichts vorexilisch sei; eine Reihe von Psalmen und Sprüchen sind nur dann verständlich, wenn sie aus der Königszeit herstammen“11. Auch Wellhausens scharfes Urteil über die Chronik behagte ihm wenig. Er stand mit alledem auf Seiten des alten de Wette in seiner Polemik gegen Vatke, auf Seiten des alten Vatke in der Revision der Thesen seiner eigenen Jugend, auf Seiten Kittels im Gegenüber zu Stade. Aber er differenzierte: „Es ist ein sehr großer Irrtum, daß die wesentliche Zustimmung zu Wellhausens litterarkritischer Anschauung Hand in Hand gehen müsse mit seinen Ansichten über die Entwickelung der Religion Israels.“12 Hatte er auf dem zweiten Gebiet seine Vorbehalte, so ließ er sich auf dem ersten überzeugen und war darin seinen Generationsgenossen voraus. Und was die Geschichte betraf, bei der er seine Einwände nicht aufgab, so stimmte er auch hier nicht in den Chor der grundsätzlichen Bestreiter ein. Er verwahrte sich dagegen, dass er „in den gegen Wellhausen so gerne erhobenen Vorwurf des theologischen Darwinismus einstimmen wollte“, und erklärte, „banausischen Zionswächtern […] sollte man das Schelten auf die Entwickelungstheoretiker überlassen“13. Dieses wichtigste Beispiel zeigt, dass Kamphausen ein sorgsamer, unvoreingenommener und gerechter Beobachter und Beurteiler gewesen ist. Hierin lag überhaupt seine Stärke. „Die Arbeit des unermüdlich fleißigen Mannes ging weit überwiegend auf in der Aneignung der gesamten Neuförderung auf dem Gebiete seines Fachs. Von einem vortrefflichen Gedächtnis und einer auserlesenen, andauernd vervollständigten Bücherei unterstützt, beherrschte er in der Tat sein Fach in ungewöhnlichem Grade.“14 Hierin tat er es Bleek gleich, neben dem ihn in der Studienzeit nach seinem eigenen Bekenntnis nur Richard Rothe (1799–1867) stark beeinflusst hatte; der Einfluss Rothes sei „stets der gleiche geblieben, nur habe ich im Winter 1869/70 mit dem von Rothe noch festgehaltenen Mirakelglauben gebrochen“15. Kamphausens Lehrer im eigentlichen Sinn ist aber nur Bleek gewesen, in dessen Haus er ständig verkehrte, auch über Bleeks Tod hinaus; hier traf er zuerst mit Budde zusammen. Er war umgekehrt auch der einzige Schüler Bleeks. Albrecht Ritschl fügte dieser Feststel10  Ebd. 270. 11  Ebd. 271. 12  ThStKr 62 (1889) 189. 13  HZ 54, 270. 14  Budde, RE3 XXIII, 730. 15  Ebd. 727.

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lung hinzu, Kamphausen habe „aber wirklich doch mehr Ideen“ „als der brave Alte“16. Leider können wir uns von diesen Ideen kein rechtes Bild machen, weil Kamphausen sie nicht überschätzte und mit ihnen keinen literarischen Ehrgeiz hatte. Seiner ersten und zugleich umfangreichsten Monographie „Das Lied Moses. Deut 32,1–43“ (1862), die, wie erwähnt, einer äußeren Notlage ihre Entstehung verdankte, schickte er folgende, in all ihrer Umständlichkeit immer noch nachdenkenswerte Betrachtung voraus: „Wer die umfassende Aufgabe kennt, welche sich dem Erklärer eines Abschnittes der heiligen Schrift stellt, wird leicht von jeder neu erscheinenden Auslegung sowol Fortschritte als Rückschritte erwarten und nur nach dem Übergewicht der einen oder anderen Seite den wissenschaftlichen Werth einer exegetischen Arbeit bestimmen. Ein Rückschritt findet Statt, wenn eine falsche Ansicht da aufgestellt oder auch nur festgehalten wird, wo die richtige schon früher öffentlich ausgesprochen war. Mögen gleich die Angesehensten der Gegenwart und nächsten Vergangenheit den Irrthum theilen und mag das Richtige seit Jahrhunderten unbeachtet geblieben sein, so verfällt doch, wenn wir die Sache streng nehmen, ein Jeder, der diesen Irrthum erneuert, dem Rückschritte. Wer eine richtige, aber verschollene Erklärung aus dem Dunkel hervorzieht oder durch eigenes Nachdenken findet, erwirbt sich ein Verdienst; aber einen eigentlichen Fortschritt für die Wissenschaft, der ja alle Jahrhunderte angehören, bewirkt sein Thun nur dann, wenn er die wiedergefundene Wahrheit in ein helleres Licht stellt und umfassend begründet, so daß sie nicht leicht aufs Neue der Vergessenheit anheimfallen kann. Dürfen wir aber den Begriff des Rückschritts in dem angedeuteten Sinne nehmen, so wird es auch gestattet sein, den Begriff des wissenschaftlichen Fortschritts etwas weiter auszudehnen als gewöhnlich geschieht. Der Fortschritt liegt am klarsten vor, wo eine durchaus neue und zugleich völlig richtige Ansicht aufgestellt wird; daß dieser Fall auf exegetischem Gebiete verhältnismäßig selten ist, weiß Jeder, der in die fast unübersehbare Auslegungsliteratur näher einzudringen versucht hat. Ferner dient auch derjenige Ausleger dem Fortschritte, der eine richtige Erklärung fester begründet oder einen Irrthum gründlicher widerlegt als bisher geschehen ist. Der gewöhnliche Weg aber, auf welchem wirkliche Fortschritte der Auslegung erzielt werden, beginnt mit dem Vorbringen neuer oder halbneuer Ansichten, in welchen neben dem Irrthümlichen etwas Wahres keimartig beschlossen liegt. Wer dadurch, daß er dem Stoffe neue Seiten abzugewinnen weiß, diesen Keim befruchtet, leistet ebenfalls der Wissenschaft einen Dienst, obgleich er die volle Wahrheit noch nicht findet. Schließlich kommt derjenige, der die Frucht rein und klar aus der umgebenden Hülle herausschält, oft ohne ein deutliches Bewußtsein um die Anregung 16  So 1867 in einem Brief an F. Nippold, der sich 1967 in einem der Bücher Kamphausens in der Bibliothek des Evangelisch-theologischen Seminars in Bonn befand und seither verlorengegangen zu sein scheint.

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und Förderung, welche er den Arbeitern vor ihm verdankt.“17 Kamphausen hat dieses Bewusstsein immer gehabt; darin lagen seine Stärke und seine Schwäche. Die angeführten Sätze zeigen, dass er sich auch der Schwäche bewusst war. Das Buch über das Lied Moses verzeichnet und diskutiert mit einer selbst für Kamphausens Verhältnisse ungewöhnlichen und ja auch im Rückblick von ihm ironisch charakterisierten Ausführlichkeit Vers für Vers die bisherige exegetische Literatur. In den sogenannten Einleitungsfragen gilt das fast noch mehr; hier musste damals ja immer noch eine Apologie der Kritik geliefert werden, die heute längst nicht mehr nötig ist. Kamphausen verfährt bei der Zeitbestimmung, wie es heute selbstverständlich ist, damals aber mindestens in vielen Konsequenzen auch unter den Exegeten noch heiß umstritten war, nach dem „sichern, untrüglichen Kanon, wonach wir die Zeit eines prophetischen Stückes bestimmen können, der glücklicher Weise in seiner Handhabung von dogmatischen Voraussetzungen gänzlich unabhängig ist und einzig und allein auf gewissenhafter Exegese beruht. Dieser Kanon lautet: die in einer Weissagung als gegenwärtig gesetzten Zeitverhältnisse, woran als an etwas Bekanntes die prophetischen Aussprüche angeknüpft werden, bilden wirklich die Gegenwart des Propheten.“18 Kamphausens Auslegung ermittelt diese Verhältnisse nach dem Vorgang Ewalds im israelitischen Nordreich des 8. Jahrhunderts v. Chr.; das Lied ist vom Deuteronomiker als selbständiges Stück vorgefunden und übernommen worden. Kamphausens zweite Monographie, „Das Gebet des Herrn“, aus einem Vortrag in der Brühler (Köln-Bonner) Pastoralkonferenz hervorgegangen und 1866 veröffentlicht, ist der ersten in Anlage und Methode ähnlich, wendet sich aber an weitere Kreise. Es war Kamphausen eine besondere Freude, von überall her, bis hin zu August Tholuck, der als letzter über das Vaterunser geschrieben hatte, ein freundliches Echo auf sie zu hören19. Er setzt sich mit den traditionellen Meinungen auseinander, etwa der damals auch unter Neutestamentlern noch möglichen, Jesus habe das bei Matthäus und Lukas in verschiedener Situation und mit verschiedenem Wortlaut überlieferte Gebet zweimal gelehrt20, und er nimmt mehrfach Rücksicht auf die Fragen des kirchlichen Gebrauchs. Was die Quellenfrage angeht, so führt er das Vaterunser in Übereinstimmung mit Holtzmann, der seinerseits die Arbeiten anderer zusammenfasste, auf die von den Evangelisten Matthäus und Lukas benutzte Spruchsammlung zurück. Diese stammte, so Kamphausen, vom Apostel Matthäus und war ursprünglich aramäisch, lag den beiden Evangelisten aber schon in griechischer Übersetzung vor21. Die historische Einleitung gibt Lukas besser, sein Text ist auch der ursprünglichere; trotzdem soll die längere Matthäusfassung, deren Zusätze 17  A.a.O. VIIf. 18  A.a.O. 256. 19 RE3 XXIII, 729. 20  Das Gebet des Herrn 5. 21  Ebd. 7–11.

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„den Sinn Christi nicht entstellen, sondern bestimmter und deutlicher ausdrücken“, auf jeden Fall im kirchlichen Gebrauch bleiben, abgesehen von der textlich sekundären Schlussdoxologie22. Beim Inhalt der einzelnen Bitten rechnet Kamphausen mehr mit alttestamentlichem als mit zeitgenössischem jüdischem Hintergrund; der letztere ist für ihn ohnehin quellenmäßig nur schwer zu fassen23. Breiten Raum nimmt natürlich die Erörterung des ἐπιούσιος in der Bitte um das Brot ein. Kamphausen folgt hier der Deutung „notdürftig“ durch den Linguisten Leo Meyer und bestimmt dieses „notdürftig“ weiter als „bescheiden“ im Sinne von „zugewiesen, zugeteilt“, wofür er mit dem hebräischen ‫חֹק‬ argumentiert24. Die letzte Bitte gilt der Bewahrung vor dem Bösen (keinesfalls Übel), wobei dieses neutrisch zu fassen ist25. Eine falsche Modernisierung des Wortlauts durch den Exegeten unter dem Einfluss orthodoxer Dogmatik oder des Gegensatzes zu ihr lehnt Kamphausen ab, namentlich bei der dritten Bitte, die mit denen, die im Himmel Gottes Willen tun, eindeutig die Engel meint26. Bei den ersten Bitten wehrt er sich insgesamt gegen die Tendenz „von Augustin bis auf Schenkel“, „die wichtige Beziehung […] auf den Betenden selber ungebührlich in den Vordergrund treten [zu] lassen“27. Für weitere Kreise ist ausdrücklich auch die dritte Monographie bestimmt. Es fragt sich allerdings, ob sie ihre Bestimmung erreicht hat, denn sie handelt von einem die Allgemeinheit schwerlich fesselnden Thema: „Die Chronologie der hebräischen Könige. Eine geschichtliche Untersuchung“ (1883). Die Schrift schließt sich an einen kurzen Aufsatz in der damals jungen Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 28 an, in dem Kamphausen, ausgehend von der Datierung der Reichstrennung nach dem Tode Salomos in das Jahr 937 v.Chr., eine Gesamttabelle für die Chronologie der Könige von Israel und Juda versucht hat. Er stimmt mit Wellhausen darin überein, dass den biblischen Synchronismen zwischen den Zahlen der Könige von Israel und denen der Könige von Juda kein großer Wert zukomme, bestreitet aber energisch Wellhausens (und Stades) Auffassung, die Regierungszahlen selbst seien großenteils unhistorische chronologische Spielerei. Wellhausen hat hier für Kamphausen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und voreilig von den Zahlen der Priesterschrift auf die der Königsbücher geschlossen. Kamphausen legt Wert darauf, gerade als liberaler Theologe an dieser Stelle ein wenig Apologetik zu treiben. Er tut das nicht ohne Witz z.B. damit, dass er aus der beglaubigten Profangeschichte älterer und

22  Ebd. 12–17. 23  Ebd. 47f. 24  Ebd. 98–102. 25  Ebd. 139–44. 26  Ebd. 64. 27  Ebd. 5433. 28  ZAW 3 (1883) 193–202.

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neuerer Zeit allerlei Zahlen zusammenstellt, die man, stünden sie im Alten Testament, wohl als Spielerei betrachten könnte29. Nicht im gleichen Sinn kann man die Schrift „Das Buch Daniel und die neuere Geschichtsforschung“ von 1893 apologetisch nennen, ursprünglich ein Vortrag auf dem ersten der Bonner wissenschaftlichen Ferienkurse für evangelische Geistliche im August 1892. Kamphausen verfolgt hier vor allem das Ziel, unter Aufbietung alles damals bekannten namentlich keilschriftlichen Materials die Ungeschichtlichkeit des Buches Daniel vorzuführen30. Er rückt aber auf der anderen Seite den „wahrhaft prophetischen“ Gehalt des Buches ins Licht, den „sich heute kein Leser durch die apokalyptische Form verkümmern lassen“ sollte31. In den literarischen Fragen ist Kamphausen konservativer als die damalige Avantgarde der Danielkritik. Er hält mit Bleek an der Einheit des Buches fest – ihre Leugnung hatte öfters auf konservativer Seite wenigstens einige Teile als alt retten sollen –, hat aber nichts gegen die Annahme, dass einiger älterer Stoff übernommen ist. Ist Kamphausen ein getreuer Schüler Bleeks darin, dass man fast jede dieser Schriften eine Mischung aus Rezension und Miszelle nennen kann, so gilt das noch mehr von seiner Produktion in Zeitschriften, und zwar dort wiederum sowohl von den Rezensionen als auch von den Miszellen für sich genommen. Auch die Absicht, über die Grenze der Zunft hinauszuwirken, tritt oft hervor. Aus allen Aufsätzen hebt sich einer heraus, dem sogar die Ehre widerfahren ist, von Albrecht Alt, der mit der Aufzählung älterer Vorgänger meist nicht viel Zeit verlor, in der „Staatenbildung der Israeliten in Palästina“ zitiert zu werden, nämlich der über „Philister und Hebräer zur Zeit Davids“32. Er entwickelt ausführlich die schon in der „Chronologie“ aufgestellte These, „daß Isboseth zu Mahanaim ebensogut als David zu Hebron in einem Vasallenverhältniß zu den Philistern stand“33. Es entspricht Kamphausens Art, dass der Hauptteil seiner Arbeit Unternehmen zugute gekommen ist, die die individuelle Leistung zwar beanspruchen, aber als solche kaum hervortreten lassen. Er war zum Rezensenten wie geschaffen. Rezensionen wie die seinen sind heute zu unserem Schaden selten geworden: glanzlos und umständlich, aber gediegen und lehrreich. In Eduard Riehms „Handwörterbuch des Biblischen Altertums für gebildete Bibelleser“ (1884) hat Kamphausen nach eigener Angabe34 112 Artikel geschrieben, „die meisten über häusliche Altertümer und von geringem Umfang“; dazu kommt vereinzelt Mitarbeit an Meyers Konversationslexikon. Gewichtiger ist die Be29  Chronologie 11–15. 30  A.a.O. 40. 31  Ebd. 35 Anm. 32  ZAW 6 (1886) 43–97; vgl. A. Alt, Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel II (1953) 402. 33  Chronologie 7931. 34 RE3 XXIII, 729.

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arbeitung biblischer Bücher in Emil Kautzschs „Heiliger Schrift des Alten Testaments“ (Könige und Sprüche in der ersten Auflage, 1894, 1.Kön 1 –2.Kön 19,19 in der zweiten, 1896) und dem dazugehörigen Apokryphenband (1900, 2.Makkabäer, sachlich auf der Linie Wellhausens), ferner des Danielbuches in Paul Haupts „Regenbogenbibel“ (1893). Vor allem aber ist seine Mitarbeit an Bunsens Bibelwerk und an der Revision der Lutherbibel zu nennen. Der Freiherr von Bunsen hat Kamphausen nächst Bleek am meisten gefördert; die Schrift über das Lied Moses ist dem Andenken beider gewidmet. So wenig Kamphausen gegen die Schwächen Bunsens und auch seines „Vollständigen Bibelwerkes für die Gemeinde“ (1858–70) blind war, so sehr war er doch für den Dienst geeignet, den er hier zu leisten hatte: minuziöse Einzelarbeit in großem Umfang ohne den Anspruch auf Originalität und die Aussicht auf Würdigung der individuellen Leistung, aber mit der Absicht, Ergebnisse der theologischen Wissenschaft in weite Kreise zu bringen. Kamphausen hat nach eigener Angabe beim Plan des ganzen Bibelwerks mitgewirkt und war an „der Übersetzung und kurzen Erklärung des Alten Bundes, wie sie in den drei ersten Bänden […] gegeben ist, […] stärker betheiligt als Bunsen und die übrigen Mitarbeiter zusammen“35; den dritten Band der ersten Abteilung, die Hagiographen enthaltend, hat er allein bearbeitet und 1868 herausgegeben; am ausführlichsten hat er das Buch Hiob und im vierten Band, der das Neue Testament enthält (1864 von Holtzmann herausgegeben), den Galaterbrief erklärt. Die Wirkung, die Bunsen und seine Mitarbeiter für ihr großes und mühevolles Werk erhofften, ist ihm nicht beschieden gewesen. Kamphausen hat aber seine Mitarbeit nicht als sinnlos betrachtet, schon darum, weil sie für ihn ein Teil auf dem Weg zur Gewinnung einer neuen deutschen Volksbibel war. Hier lag überhaupt sein dringendstes Interesse. Schon als Student hatte er im theologischen Verein der Bonner Studenten Thesen über „die Notwendigkeit und Möglichkeit der Berichtigung von Luthers Bibelübersetzung“ aufgestellt, und seitdem hatte ihn dieses Problem immer beschäftigt, so sehr, dass er es „den wichtigsten Teil meiner Lebensaufgabe“ nennen konnte36. 1868 schrieb er folgende Sätze, die er 1894 wiederholte: „Viele achtbare Männer warten auf einen neuen Luther; das halte ich für einen schlimmen Irrthum. So wenig jetzt Einer lebt, der alle zu einem solchen Unternehmen nöthigen Eigenschaften in seiner Person vereinigte, ebenso wenig wird nach meiner festen Überzeugung jemals ein einzelner Mann auftreten, der allein allen den gesteigerten und gerechten Ansprüchen der Zeit genügen könnte. Die neue deutsche Bibel wird nur durch sogenannte Commissionsarbeit entstehen; daß aber durch diese etwas Tüchtiges geleistet werden kann, zeigt die Geschichte der reformirten Bibelübersetzungen jedem, der sehen will. Natürlich kommt auf diesem Wege niemals eine durchaus vollkommene Arbeit zu Stande, die ja auch an und für sich unmög35 Ebd. 36  Ebd. 728.

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lich ist; aber der Einzelne hat sich für das allgemeine Beste zu bescheiden, daß das praktisch Mögliche erreicht werde und nicht das Bessere als Feind des Guten sich erweise. Das Haupthinderniß einer bessern Bibelübersetzung erblicke ich aber in dem Wahne der sogenannten Orthodoxen, daß dadurch dem Unglauben Thür und Thor werde geöffnet werden; während gerade die Buchstabengläubigen am allermeisten verpflichtet wären, es mit dem Buchstaben der Heiligen Schrift recht genau zu nehmen, wollen sie doch das kleinere Übel, das in der großen Mangelhaftigkeit der jetzigen deutschen Volksbibel bestehe, dem gefürchteten Einflusse der wissenschaftlichen Schriftforschung auf eine neue Übersetzung weit vorziehen. Darum kann die Erklärung, daß die Furcht ein eitler Wahn ist, nicht oft genug wiederholt werden; eine Commission, in welcher Mitglieder so verschiedener Richtung wie Hengstenberg und Hitzig säßen, würde sich doch sicherlich auf dem von der Dogmatik unabhängigen Boden der Philologie über unzählige Schriftstellen einigen, in denen man jetzt dem deutschen Volke das Richtige vorenthält.“37 Kamphausen war nicht der einzige und nicht der erste, der solche Forderungen erhob. Er führte als seinen Vorgänger namentlich de Wette an, der 1831 die Bearbeitung der Lutherbibel schon genauer eine Aufgabe für die Bibelgesellschaften genannt hatte. De Wette hatte außerdem, wie auf andere Weise Bunsen, dem Bedürfnis nach einer neuen Gestalt der Bibel durch eine eigene Übersetzung abzuhelfen versucht. So sehr er sich dabei an Luther anschloss, so sehr hatte natürlich auch ihm festgestanden, dass, wie Kamphausen es für seine Mitarbeit an Bunsens Werk ausdrückt, „die von einem einzelnen Privatmanne ausgegangene Übersetzung der Heiligen Schrift auf allgemeine Anerkennung nicht zu rechnen habe“, und hatte darum wie Kamphausen bei Bunsen sein „Absehen besonders auf möglichst große Treue in der Wiedergabe der überlieferten Grundtexte gerichtet“38. Die Bewegung in Richtung auf den einheitlichen Luthertext, die um die Jahrhundertmitte in Gang kam, hatte weniger in den Abweichungen vom Grundtext als in denen der im Gebrauch befindlichen Luthertexte untereinander ihren Anlass; sie führte aber notwendig auch zu Korrekturen nach dem Grundtext. In diese Arbeit trat Kamphausen ein, als ihr neutestamentlicher Teil durch das Erscheinen des revidierten Textes im Jahre 1870 abgeschlossen war. Die Eisenacher Kirchenkonferenz beschloss, das Alte Testament ähnlich zu behandeln, und lud Kamphausen, wohl aufgrund seiner Mitwirkung an Bunsens Werk und seiner dortigen Äußerungen über die Sache, zur Mitarbeit ein. Er zögerte zunächst, einmal, weil ihm das revidierte Neue Testament nicht besonders gefiel, und mehr noch aus einem grundsätzlichen Bedenken: „Beim Bunsenschen Bibelwerke, dem ich mich viele Jahre lang gewidmet hatte, galt für das 37  In: Ch.C.J. Bunsen, Vollständiges Bibelwerk für die Gemeinde III (1868) IX; Kamphausen, Die berichtigte Lutherbibel. Rektoratsrede mit Anmerkungen (1894) 32. 38  In: Bunsen a.a.O. VI.

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Übersetzen die erste Rücksicht dem Grundtext, die zweite dem Verständnis des deutschen Lesers, erst die dritte dem Dr. Martin Luther. Ich mußte besorgen, daß für die kirchlich gewünschte alttestamentliche Revision die gerade umgekehrte Reihenfolge sich allzu sehr geltend machen würde.“39 Trotzdem folgte er dem Ruf und gehörte der Kommission von 1871 bis 1900 an. Sie tagte regelmäßig am Pädagogium in Halle, außerdem hatte Kamphausen an Subkonferenzen in Dresden, Nürnberg, Rudolstadt, Coburg und Marburg teilzunehmen. Er war eins der prominentesten Mitglieder der fünfzehnköpfigen Kommission, weil die zunächst beteiligten Dillmann und Tholuck sich bald zurückzogen. Sein Freund Riehm nannte ihn im Scherz ein „notwendiges, aber nicht unbedenkliches Mitglied der Revisionskommission“. Damit meinte er die Rolle, die Kamphausen selbst so umschreibt: „Nur, weil ich wußte, daß in der theologischen Revisionskommission die kirchlichen Interessen den wissenschaftlichen gegenüber schon mehr als genügend vertreten waren, erschien es mir als Pflicht, für alle Änderungsvorschläge einzutreten, die nach meiner Überzeugung den Grundtext treuer – von bloßer Wörtlichkeit ist keine Rede – als Luther wiedergaben.“40 Er hätte damit beinahe auf verlorenem Posten gestanden, denn einige Mitglieder hatten in der neutestamentlichen Arbeitsphase, deren Regeln auch für die alttestamentliche galten, anfangs für jede Änderung nach dem Grundtext Einstimmigkeit verlangt. Aber es war dann festgesetzt worden, „daß zum Beschluß einer solchen Änderung zwei Drittel der Stimmen genügen sollten, für die Annahme aber einer echten oder unechten Luthervariante schon die einfache Stimmenmehrheit“41. Kamphausen taxierte nachträglich, höchstens mit dem zwanzigsten Teil seiner Änderungsvorschläge durchgedrungen zu sein. Aber mit Rücksicht auf diese Relation stellte er um so unverdrossener seine Anträge und bat, „um nicht aufzuhalten, um rasche Abstimmung“42. Wenn die Probebibel von 1883 und die Bibel von 1892 schließlich in vielem dem Stand der exegetischen Wissenschaft näher waren als ihre Vorläufer, dann war das gewiss vor allem Kamphausens Verdienst. Hier brachte er seine Gelehrsamkeit mehr als irgendwo sonst zur Geltung, gelegentlich übrigens auch in der Warnung vor übereilten Korrekturen – so bei den Jahreszahlen der Könige von Israel und Juda43. Konnte er sich auch mit manchem nicht abfinden, etwa damit, dass die Doxologie am Schluss des Vaterunsers im Matthäusevangelium nicht gestrichen wurde44, so betrachtete er es doch als „etwas Großes“, dass der Versuch, die Volksbibel auf den neuen Stand zu bringen, „endlich unternommen“ worden war; er hob freilich immer hervor, dass es sich 39  Die berichtigte Lutherbibel 16. 40  Ebd. 42. 41  Ebd. 15. 42  Ebd. 45. 43  Ebd. 56. 44  Ebd. 55.

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nur um den ersten Versuch gehandelt hatte, den Ertrag der exegetischen Arbeit von Jahrhunderten an dieser wichtigsten Stelle fruchtbar zu machen45. Kamphausens Straßburger Freund und Kollege Julius Smend sagte an seinem Sarg: „Ich habe keinen Menschen gekannt, der so wenig Neigung besessen hätte, mit dem Feuer zu spielen.“46 Wer diese Scheu hat, mag kein großer Theologe sein; aber er ist weiser als manche Theologen, die mit dem Feuer spielen und nicht wissen, dass sie es tun.

45  Ebd. 18. 46  J. Smend – E. Sachsse, Zur Erinnerung an D. Adolf Kamphausen (1909) 7.

Emil Kautzsch 1841–1910

In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts lehrten in Basel sowohl an der Universität als auch am Gymnasium (dem „Pädagogium“) zwei aus Sachsen stammende Professoren, beide übrigens Pfarrerssöhne, deren geographische Herkunft schon der Zischlaut in ihren Familiennamen anzeigt. Dem einen, Friedrich Nietzsche, war ein Nachruhm beschieden, der nun schon ein Jahrhundert überdauert hat, von dem anderen, Emil Kautzsch, weiß kaum noch jemand viel zu sagen. Dabei dürfte er in jenen Basler Jahren in der Universität, deren Rektor er 1878/79 war, und auch in der Stadt, die ihn 1875 sogar zum Ehrenbürger machte – zu schweigen davon, dass er seit 1873 dem Kirchenrat des Kantons Basel-Stadt angehörte –, unmittelbar eine erheblich größere Rolle gespielt haben als sein später so viel berühmterer Kollege. Im Gegensatz zu Nietzsche war er eine im Grunde problemlose Natur, anpassungsfähig, mit jedermann auf gutem Fuß, stets zur Mitarbeit bereit und Mitarbeiter sammelnd. Er fiel nicht aus dem Rahmen, hielt sich an das Anerkannte und Erprobte, ließ bei Neuem anderen den Vortritt. Gewann er den Eindruck, dass sie recht hatten, schloss er sich ihnen an, ohne hinter sich alle Brücken abzubrechen. Er war kein bahnbrechender Forscher, dafür aber auf mehreren Ebenen der geborene Vermittler. Seine Studenten, seine Kollegen, aber auch die Institutionen, denen er diente, und nicht zuletzt die Mitglieder seiner großen Familie wussten, was sie an ihm hatten. Allerdings gab es auch Leute, denen seine Wendigkeit und ein auch in seinen Schriften gelegentlich durchbrechender geistlich-salbungsvoller Stil auf die Nerven gingen. „Dieses Pfäfflein“ hieß er bei Franz Overbeck nach einem Jahrzehnt kollegialen Umgangs1, und sein Nachnachfolger in der Basler Fakultät, Bernhard Duhm, urteilte: „Kautzsch ist ein großer Pfifficus und verdiente, Millionär zu werden.“2 Ein Dritter, Julius Wellhausen, fand ihn

1  Brief an Erwin Rohde, 20.4.1882 (F. Overbeck/E. Rohde, Briefwechsel, hg.v. A. Petzer, 1990, 60f.). 2  Brief an den Verleger Paul Siebeck, 13.5.1897 (Staatsbibliothek zu Berlin, Verlagsarchiv Mohr Siebeck).

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„unausstehlich“, nannte ihn aber im gleichen Atemzug den „ollen ehrlichen Kautzsch“3; ein Falsch fand er also nicht an ihm. Emil Friedrich Kautzsch wurde am 4. September 1841 in Plauen im Voigtland geboren4. Der Vater, damals Lehrer, später Pfarrer, hieß Karl Friedrich, die Mutter Amanda Amalie. Der junge Emil absolvierte die Schule mit Glanz und ließ sich 1859 in Leipzig für Theologie und orientalische Sprachen immatrikulieren, offenbar schon mit dem Ziel, Professor für Altes Testament zu werden. Folgerichtig wählte er seine beiden Lehrer: den Alttestamentler Friedrich Tuch (1806–67), einen besonders an geographischen Fragen interessierten Geseniusschüler, und den Orientalisten Heinrich Leberecht Fleischer (1801–88), der „die arabische Philologie als eine streng formale und exakte Disziplin in Deutschland heimisch“ gemacht hat5. Weniger als vier Jahre nach dem Beginn des Studiums schloss er es 1863 mit dem ersten theologischen Examen und der Promotion zum Dr. phil. ab, 1865 folgte das zweite theologische Examen, 1868 aufgrund der Dissertation De veteris testamenti locis a Paulo apostolo allegatis die Promotion zum Lic. theol., 1869 die Habilitation für alttestamentliche Exegese, 1871 die Ernennung zum außerordentlichen Professor. Seinen Unterhalt verdiente er seit 1863 als Lehrer, seit 1866 als Oberlehrer am Leipziger Nikolaigymnasium. So konnte er 1866 auch die Ehe mit Helene Michaelis schließen; von den acht Kindern machte sich der älteste Sohn Rudolf als Kunsthistoriker einen Namen. Die Leipziger Übergangssituation beendete 1872 ein Ruf an die Universität Basel auf den Lehrstuhl von Hermann Schultz (1836–1903), der nach Straßburg abgegangen war, um von dort schon bald über Heidelberg nach Göttingen weiterzuziehen. Kautzsch, „bis dahin über die Grenzen seiner sächsischen Heimat nicht hinausgekommen“6, lebte sich in Basel schnell ein und machte dort in Universität, Stadt und Kirche die Karriere, von deren äußeren Stationen schon die Rede war. 1874 als Nachfolger Karl Rudolf Hagenbachs zum Lektor des ehrwürdigen Frey-Grynaeischen Instituts, einer wichtigen Einrichtung der Fakultät, gewählt, bewohnte er mit seiner schnell wachsenden Familie „das alte heimelige Haus“ am Heuberg und hatte es bald „so lieb gewonnen“, dass es 1875 für ihn der Hauptgrund war, einen Ruf nach Heidelberg abzulehnen7. Die mit seiner ebenso flüssigen wie akkuraten Handschrift geschriebenen jährlichen Berichte über das Frey-Grynaeum an dessen „Hochgeehrte Her3  Brief an Adolf Jülicher, 19.7.1894 (Wellhausen, Briefe, 2013, 320). 4  Das Biographische im Folgenden meist nach F. Kattenbuschs Nachruf ThStKr 83 (1910) 627–42 und H. Guthe, RE3 XXIII, 747–52; vgl. auch schon Guthes Nachruf MNDPV 33 (1910) 33–39. Am umfassendsten inzwischen die Darstellung von H.-P. Mathys in: Palaestina exploranda, hg.v. U. Hübner (2006) 65–88. 5  J. Fück in: Beiträge zur Arabistik, Semitistik und Islamwissenschaft, hg.v. R. Hartmann und H. Scheel (1944) 250. 6  Guthe, Nachruf 34. 7  Bericht über die Verwaltung des Frey-Grynaeischen Instituts Sept. 1874–Sept. 1875 gegen Anfang.

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ren Inspectoren“ zeigen, wie ernst er seine Pflichten gegenüber dem Gebäude, der Bibliothek und den Studenten nahm. Seine dortigen Lehrveranstaltungen betrafen naturgemäß vorwiegend das eigene Fach. Er scheint die Studenten kräftig zum Arbeiten gebracht zu haben. Die Teilnehmer an den hebräischen Übungen hatten unvokalisierte Texte zu lesen und Übersetzungen aus dem Deutschen ins Hebräische anzufertigen, in den biblisch-exegetischen Veranstaltungen musste jeder eine eigene Arbeit schreiben und die eines anderen schriftlich rezensieren; Kautzsch besprach dann die Arbeiten und die Rezensionen im Kreis aller Teilnehmer. Eine Spezialität waren die „Examinatorien“, die er am Samstagmorgen hielt und in denen er auch über das Alte Testament hinausgriff – in Verbindung mit einer bis an sein Lebensende besonders gern vorgetragenen „Enzyklopädie der Theologie“, bei der er sich auf K.R. Hagenbachs in einigen Auflagen von ihm selbst herausgegebenes Buch stützte. Auch über die Lehrveranstaltungen hinaus war seine Maxime: „Für einen Studenten habe ich stets Zeit.“8 Er liebte es, „offene Abende“ zu veranstalten, an denen er gern und gut Klavier spielte und denen gewiss auch zugute kam, dass er gleich in seinem ersten Jahr den Mieter eines kleinen Gärtchens hinter dem Haus, einen Brauer, dazu bewegen konnte, über den alten Mietzins hinaus „halbjährig ein Fäßchen Bier in natura an den Lector zu zinsen“9. Der Lektor des Frey-Grynäums war und ist auch zu einem gewissen Minimum an literarischer Produktion verpflichtet. Kautzsch begann, für ihn bezeichnend, mit einer Gemeinschaftsarbeit, in die er sich mit seinem arabistischen Kollegen Albert Socin (1844–99) teilte. Ihr Gegenstand hatte damals geradezu Sensation gemacht. 1868 war im Ostjordanland eine der bis heute wichtigsten außerbiblischen Quellen zur israelitischen Geschichte entdeckt worden, die Inschrift des Königs Mesa von Moab. Seit 1872 tauchten daraufhin unversehens massenhaft Tontafeln mit Figuren und Inschriften auf, die großenteils auf Fürsprache des Hallenser Alttestamentlers Konstantin Schlottmann (1819–87) vom Berliner Königlichen Museum aufgekauft wurden. Schon bald regten sich aber Zweifel an ihrer Echtheit, und in den Streit darüber griffen Kautzsch und Socin mit ihrem Buch „Die Aechtheit der moabitischen Alterthümer geprüft“10 ein. Sie teilten sich die Arbeit so, dass Socin die „äußere Beglaubigung“ der angeblichen Funde besprach, also die Angaben über die Umstände ihrer Auffindung, Kautzsch dagegen die „inneren Gründe“, d.h. die religionsgeschichtlichen, paläographischen und archäologischen Voraussetzungen. Um einen unmittelbaren Eindruck zu gewinnen, reiste er im Sommer 1875 nach Berlin11. Das Fazit formulierte er sehr vorsichtig dahin, „daß die moabitischen Thonwaaren, wie die Dinge jetzt liegen, hinsichtlich ihrer äußeren und inne8  E. Kappeler, Conrad von Orelli. Sein Leben und Wirken (1916) 345. 9  Bericht 1874/75 unter Nr. 3. 10  Straßburg und London 1876. 11  Ebd. 161.

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ren Beglaubigung noch ein ungelöstes Räthsel sind!“12 In Wahrheit hatten er und Socin durch ihre überaus sorgfältige Behandlung der genannten Gesichtspunkte „alle urteilsfähigen Männer für die Unechtheit gewonnen“13. Nur der unglückliche Schlottmann blieb bei seiner Meinung14. Die bei dieser Gelegenheit gezeigte philologische Kompetenz bewährte Kautzsch auch bei dem Werk, das ihn in Basel die meiste Zeit gekostet haben dürfte und das ihn bis in sein letztes Lebensjahr beschäftigte: der Neubearbeitung von Wilhelm Gesenius’ Hebräischer Grammatik von der 22. (Leipzig 1878) bis zur 28. Auflage (1909), nachdem seit Gesenius’ Tod (1842) zunächst Emil Rödiger (1801–74) das Werk betreut hatte. Um eine gänzliche Neugestaltung handelte es sich, abgesehen von der Syntax seit der 25. Auflage (1889), nicht, sondern um ein sorgfältiges Durchprüfen aller Einzelheiten und ihre Ergänzung oder Ersetzung durch das, was Sprachwissenschaft und Exegese jeweils neu erbracht hatten. Der Umfang des Buches wuchs dabei gewaltig: 1878 betrug er 370, 1909 606 Seiten. Für den Schulgebrauch – bei Gesenius hatte es den ersten Teil eines „Hebräischen Elementarbuchs“ gebildet – war es damit immer weniger geeignet, und so veranstaltete Kautzsch erstmals 1896 eine „Kleine Ausgabe“ für den studentischen Gebrauch; schon seit 1881 war die Grammatik von einem „Übungsbuch“ begleitet (6. Auflage 1908). Der „Gesenius-Kautzsch“, abgekürzt GK, ist bis heute die meistzitierte hebräische Grammatik, zumindest in deutscher Sprache, geblieben, obwohl oder auch weil Kautzsch sich beharrlich dem Wunsch verweigerte, ihn zu einer „historischen Grammatik“ umzugestalten. Er buchte sorgfältig, was ihm an Einzelheiten in dieser Richtung einleuchtete, ging aber aufs ganze gesehen davon aus, dass die „historischen Verschiedenheiten durch die ausgleichende Tätigkeit der Masora zum allergrößten Teile verwischt“ sind15. Ich zweifle, ob ihn die Texte aus der Kairoer Geniza und aus Qumran gänzlich anderen Sinnes gemacht hätten. Ein Kritiker der Grammatik machte ihrem Verfasser den Vorwurf, „daß er entweder in seinen Zusätzen und Abänderungen, soweit sie wenigstens von irgend welcher Bedeutung sind, meist auf einen beliebigen, neueren Forscher sich stützt, und bei seiner Autorität sei es mit sei es ohne Argumente, die diese verwendet, beruhigt, wobei er öfter die von dem Autor geltend gemachte Argumentation nicht völlig übersieht, oder daß er einfach über Jemandes Ansicht referirt, ohne sich um die Consequenzen derselben zu kümmern“. Er gebe „nicht immer, wie das doch bei dem alten Gesenius der Fall war, einen klaren und bestimmten Ton an“, und so werde das Buch immer mehr „eine Bibliographie zum Aussuchen für den Leser“16. Aber 12  Ebd. 191. 13  M. Lidzbarski, Handbuch der nordsemitischen Epigraphik (1898) I, 105. 14  Vgl. seinen Artikel „Moab“ im Handwörterbuch des Biblischen Altertums (1884) II, 1009. 15  28. Aufl. IVf. 16  F. Philippi, ThLZ 22 (1897) 40.

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das muss ja bei einem Werk dieser Art nicht nur ein Nachteil sein, und jedenfalls ist es seiner Benutzbarkeit zugute gekommen. Dass Kautzsch nicht nur eine fremde Grammatik bearbeiten, sondern auch eine eigene schreiben konnte, bewies er bald in seiner „Grammatik des Biblisch-Aramäischen mit einer kritischen Erörterung der aramäischen Wörter im Neuen Testament“ (Leipzig 1884). Der berufenste Rezensent, Theodor Nöldeke, rühmte „die Genauigkeit und die Vollständigkeit, womit der Sprachstoff dargelegt wird“, wollte allerdings „oft gern etwas mehr Kürze sehn und mit Vergnügen die Erwähnung ganz haltloser Ansichten vermissen“17. Die sachliche Bedeutung des Buches liegt darin, dass es „als erste Grammatik auf diesem Gebiete die von Nöldeke geschaffene Kenntnis des Aramäischen in gewisser Weise an das Biblisch-Aramäische herantrug“. Freilich fand Nöldeke gerade in dieser Hinsicht noch zu wenig getan, und so verfolgte seine Rezension vor allem das Ziel, „dem nicht geringen Rest einer noch etwas zu stark auf das Hebräische und den „Gesenius […] gewendeten Blickrichtung bei Kautzsch den Garaus zu machen und im Aramäischen des AT eine bis in fast alle Einzelheiten hinein aramäische Sprache sehen zu lehren“18. In der Syntax erklärte sich Nöldeke dagegen, „daß Kautzsch die für die arabische Grammatik passende Scheidung der Nominal- und Verbalsätze in aller Schärfe, wie [in der Neubearbeitung des Gesenius19] in die hebräische, so auch in die aramäische Grammatik einführen will. Wir sollen doch den wirklichen Sprachgebrauch beobachten, nicht ihm unsre Theorien aufzwingen!“20 Später hat Kautzsch noch einmal eine Monographie über das Aramäische in der Bibel geschrieben, diesmal über den Einfluss, den das Aramäische auf den Wortschatz des alttestamentlichen Hebräisch gehabt hat21. Dieses Problem ist seit Gesenius sehr verschieden angefasst worden, was damit zusammenhängt, dass leicht text- und literarkritische Urteile hineinspielen und die Gefahr von Zirkelschlüssen mit sich bringen. Auch hier hat Nöldeke eine Rezension geschrieben22, die, so sehr sie auf diese Gefahr hinwies und auch sonst Kritik äußerte, doch bestätigte, dass Kautzsch auf Jahrzehnte hinaus die maßgebende Monographie über den schwierigen Gegenstand geliefert hatte23. Leider ist der geplante zweite Band, der der Grammatik gelten sollte, nicht mehr zustande gekommen.

47.

17  GGA 1884, 1014. 18  F. Rosenthal, Die aramaistische Forschung seit Th. Nöldeke’s Veröffentlichungen (1939)

19  Vgl. dort in der 22.–24. Aufl. § 144a und später die Modifikation in der Anm. zu § 140,4. 20  Nöldeke a.a.O. 1021. 21  Die Aramaismen im Alten Testament, I. Lexikalischer Teil (1902). 22  ZDMG 57 (1903) 412–20. 23  Vgl. Rosenthal a.a.O. 41f. und seither vor allem M. Wagner, Die lexikalischen und grammatikalischen Aramaismen im alttestamentlichen Hebräisch (1966).

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Zurück nach Basel! 1875 starb Johann Jakob Stähelin, der ein halbes Jahrhundert lang redlich das Alte Testament gelehrt und nicht nur eigene Forschung betrieben, sondern, wohlhabend wie er war, auch Arbeiten anderer finanziell unterstützt hatte. Aus seinem Nachlass erhielt Kautzsch ein Legat, das ihn bereits im Frühjahr 1876 zu einer Reise nach Palästina instand setzte. Er fuhr zusammen mit einigen anderen Baslern, darunter seinem Fachkollegen Conrad von Orelli (1846–1912), und hatte unvergessliche Eindrücke, die er von der letzten Station aus, Damaskus, dem befreundeten Historiker Wilhelm Vischer in einem langen Brief plastisch schilderte24. Noch wichtiger als die unmittelbaren Eindrücke waren forschungspolitische Überlegungen, die sich Kautzsch aufdrängten. Die Palästinawissenschaft wurde, soweit es sich nicht um reine Philologie handelte, ganz überwiegend von Franzosen, Engländern und Amerikanern betrieben, denen dafür gut dotierte Organisationen zur Verfügung standen; den deutschen und deutschschweizerischen Forschungsreisenden, die es ja gab, fehlte ein vergleichbarer Rückhalt. Durch die Reichsgründung von 1870/71 sah Kautzsch die Voraussetzung geschaffen, diese Situation zu ändern. So ging er gern auf die Anregung des um die Palästinawissenschaft auch sonst verdienten Basler Gymnasialrektors Carl Ferdinand Zimmermann ein, über die mögliche Gründung eines deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas zu beraten. Beide Herren trafen sich im Sommer 1876 in Basel mit dem inzwischen nach Tübingen übergesiedelten Albert Socin und gewannen anschließend eine Reihe weiterer Persönlichkeiten für den Plan. Am 27. und 28. September 1877 konstituierte sich in Wiesbaden der Verein und beschloss die von Kautzsch entworfenen Statuten. Die drei Initiatoren bildeten mit zwei weiteren Herren den geschäftsführenden Ausschuss. Solange Kautzsch lebte, sind seine Rührigkeit und sein Geschick dem Verein sehr nützlich gewesen. Zu einem eigentlichen Landeskundler ist er, obwohl besonders mit Fragen der Epigraphik weiter beschäftigt, nicht mehr geworden; aber er hat noch aus einer zweiten Orientreise, 190425, für seine exegetische Arbeit Gewinn gezogen. Der Verein hat alle Wirrnisse hier und dort leidlich unbeschädigt durchgestanden; er arbeitet, nun schon tief im zweiten Jahrhundert seines Bestehens, unter sehr gewandelten Verhältnissen mit gleichgebliebener, eher noch verstärkter Intensität 26. Für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis unternahm Kautzsch auch kürzere Reisen. Wir hörten schon, dass er 1875 nach Berlin fuhr, um dort sein Misstrauen gegen die angeblichen moabitischen Altertümer bestätigt zu finden. Drei Jahre später erfolgte etwas, das mindestens ebenso sehr sein Miss24  Staatsarchiv Basel, Familienarchiv Vischer. Abdruck in den Nrn. 103, 105, 107 der Allg. Schweizer Zeitung 1876. Auszüge aus Kautzschs Reisetagebuch hat W. Zwickel veröffentlicht: JbDEI 6 (1998) 64–80. 25  Die von W. Zwickel a.a.O. 641 angekündigte Veröffentlichung des Tagebuchs wird von H.-P. Mathys und M. Wallraff vorbereitet. 26  Über Vorgeschichte und Geschichte des Vereins orientieren mehrere Aufsätze in dem Sammelband Palaestina exploranda (s. Anm. 4).

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trauen erregte, und es handelte sich um einen noch erheblich wichtigeren Gegenstand: Julius Wellhausen in Greifswald veröffentlichte 1878 den ersten Band einer „Geschichte Israels“ und kehrte darin die bisher angenommene Reihenfolge der Pentateuchquellen um, woraus sich eine völlig veränderte Vorstellung vom alten Israel ergab. Man erzählte sich später, Kautzsch sei sogleich nach Greifswald gefahren, „um mit dem Verfasser […] mündlich zu konferieren: er kam als überzeugter Wellhausenianer zurück. Einige Wochen hatten genügt, um ihn auf einen seinem früheren völlig entgegengesetzten Standpunkt hinüberzuführen.“27 Dafür, dass diese Reise wirklich stattgefunden hat, habe ich keinen sicheren Anhaltspunkt; Kautzschs schnelle Bekehrung aber steht außer Zweifel. Wellhausens Buch kam Ende September oder Anfang Oktober 1878 heraus, und schon im Januar 1879 druckte die Theologische Literaturzeitung eine ausführliche Rezension, in der Kautzsch „statt mit einer Kritik, lieber mit einem Geständniß“ aufwartete, dem Geständnis, ihm sei „Schritt für Schritt […] trotz seiner, anfänglich fast widerwilligen Skepsis von dem Verf. das Zugeständniß abgerungen worden, daß hier nicht mehr Hypothese gegen Hypothese steht, sondern daß die Alternative vielmehr so lautet, ob man Thatsachen, an denen es nichts abzuhandeln giebt, einfach anerkennen oder fernerhin absichtlich leugnen will“; „das Gesammtbild, das der Verf. auf Grund dieser Thatsachen von dem Verlauf der Geschichte Israels entworfen hat, trägt in einem Grade den Stempel der Wahrheit an der Stirn, daß kein Streit um das Detail mehr im Stande sein wird, die Grundzüge dieses Bildes zu verwischen. Ref. täuscht sich keinen Augenblick über die Tragweite dieses Zugeständnisses. Mit Seufzen muß er es jetzt tagtäglich erfahren, daß die veränderte Anschauung von den Quellen zugleich den Umsturz einer tiefeingewurzelten biblisch-theologischen Construction des Quelleninhalts zur Folge hat. Umsomehr darf ihm der Leser glauben, daß nicht die rerum novarum cupido, sondern der unwiderstehliche Zwang einer neugewonnenen Überzeugung zu so radicalem Umlernen antreibt. Ref. zweifelt nicht, daß ein gründliches Studium auch bei zahlreichen anderen Lesern dieselbe Wirkung haben wird.“28 Mit dieser Erwartung ging Kautzsch nicht fehl. Wohl mit Recht ist auch vermutet worden, seine Rezension habe zum schnellen Erfolg Wellhausens beigetragen. Wenn ein so konservativer und so vorsichtiger Mann wie Kautzsch eine so schnelle und scheinbar so vollständige Kehrtwendung vollzog, musste das Eindruck machen und andere ermutigen, es ihm gleichzutun. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob die Wendung bei ihm selbst wirklich so vollständig war. Nach seinem Tod befand Hermann Gunkel, seinerseits zweifellos ein vir rerum novarum cupidus, Kautzsch habe trotz allem, was er bei Wellhausen gelernt habe, „im letzten Grunde stets zu der Wellhausen vorausgehenden Richtung gehört“ 29, und er be27  So H.J. Bestmann in: Der Alte Glaube. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt, 13 (1911/12) 245. 28  ThLZ 4 (1879) 29. 29  DLZ 33 (1912) 1101.

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legte das mit Beispielen im Großen und im Kleinen, wo Kautzsch aus Wellhausens Analysen eben doch nicht die Konsequenzen zog, sondern bei den Altleipzigern Tuch und Delitzsch stehenblieb. Ihm selbst scheint diese seine Stellung durchaus bewusst gewesen zu sein; jedenfalls soll er sich im Scherz „öfter als den Bremser in der Eilfahrt der Literarkritik bezeichnet“ haben30. Kautzsch war gern in Basel, aber als er 1879 in die Nachfolge des verstorbenen Ludwig Diestel nach Tübingen berufen wurde, sagte er nicht nein. Die Nötigung, in Basel außer in der Universität auch im Pädagogium zu unterrichten (Religion und Hebräisch in der obersten Klasse), der größere Wirkungskreis in Tübingen und der Umstand, dass Freund Socin dorthin vorangegangen war, legten den Wechsel nahe, und in den acht Tübinger Jahren von 1880 bis 1888 scheint er sich nicht weniger am richtigen Platz gefühlt zu haben als in den acht Basler Jahren zuvor. Er hatte viele Studenten und war als vierter Frühprediger an der Stiftskirche – in Basel hatte er sporadisch in St. Theodor gepredigt – auch unter den Bürgern der Stadt bekannt. Doch allzu lange hielt ihn auch Tübingen nicht. Nach dem Tod der beiden Hallenser Konstantin Schlottmann (1887) und Eduard Riehm (1888) lockte das heimatliche Sachsen. Das Angebot, den damals einzigen ordentlichen Lehrstuhl seines Fachs in Halle zu übernehmen, nahm er an, und in den nächsten beiden Jahrzehnten war er einer der erfolgreichsten Lehrer in dieser großen Fakultät, in der er Männer wie Martin Kähler, Friedrich Loofs und Ferdinand Kattenbusch zu Kollegen hatte. Die Rolle, die er dort spielte, bestimmte ihn, sogar die Nachfolge von Franz Delitzsch in Leipzig (1890) und die von August Dillmann in Berlin (1894) auszuschlagen. In die Hallenser Zeit gehört das Werk, das nach allgemeinem Urteil seine wichtigste Leistung gewesen ist; aber es hatte Tübinger Wurzeln. In seinem letzten Jahr dort, 1888, brachte er, noch einmal gemeinsam mit Socin, einen schmalen Band heraus, der „Die Genesis mit äußerer Unterscheidung der Quellenschriften übersetzt“ enthielt. Er war „namentlich zum Gebrauch in akademischen Vorlesungen“ bestimmt und hat dort sicher gute Dienste getan. Gleich großen Wert wie auf übersichtliche Darbietung der Quellen (und Redaktionen) legten Kautzsch und Socin auf die Übersetzung, die sie im Vorwort und (wie manche exegetische Einzelheiten namentlich der Quellenscheidung) in Anmerkungen gewissenhaft rechtfertigten. Sie strebten eine „Treue“ an, die aber gerade durch pedantische Wörtlichkeit nicht zu erreichen sei, sondern einige „unumgängliche Freiheiten“ erfordere, so „die Wiedergabe eines und desselben Wortes mit wechselnden Ausdrücken, je nach dem Zusammenhang und (was oft ganz vergessen wird) nach dem Charakter der Quellenschrift, in der sich das Wort findet“, „die einfache Weglassung solcher Wörter, die für das hebräische Sprachbewußtsein sichtlich nur zur Kompletierung des mit ihnen verbundenen Ausdrucks dienen, durch die wörtliche Übersetzung aber sofort eine 30  W. Staerk, RWGS V (1929) 171.

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Wichtigkeit und selbständige Bedeutung bekommen, die dem Grundtext ganz fernliegt“, und oft noch tiefer einschneidende Maßnahmen, „um den eigentlichen Sinn des in wörtlicher Übersetzung schlechthin unverständlichen Textes klar zu stellen“31. Man vergleiche diese Maximen mit denen eines anderen Gemeinschaftswerks, der „Verdeutschung“ der Schrift durch Franz Rosenzweig und Martin Buber32! Kautzsch und Socin nannten Karl Weizsäckers Übersetzung des Neuen Testaments (1875) als ihr Vorbild, über das sie allerdings „noch erheblich hinausgegangen“ seien33. Die „Genesis“ kam in der „Akademischen Verlagsbuchhandlung von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)“ heraus. Bei Mohr war in mehreren Auflagen die bedeutendste deutsche Bibelübersetzung des 19. Jahrhunderts, die von W.M.L. de Wette, erschienen, und der junge Paul Siebeck (1855–1920) wurde auch Weizsäckers Verleger. Im Bestreben, die Ablösung de Wettes durch eine neue Übersetzung auch des Alten Testaments zu vervollständigen, wandte sich Siebeck zunächst an Julius Wellhausen und nach dessen Absage an Kautzsch, von dem ja in Gestalt der „Genesis“ schon eine Probe vorlag. Für einen Einzelnen war die Aufgabe kaum zu bewältigen, und so gewann Kautzsch als Mitarbeiter Friedrich Baethgen, Hermann Guthe, Adolf Kamphausen, Rudolf Kittel, Karl Marti, Wilhelm Rothstein, Rudolf Rüetschi, Viktor Ryssel, Karl Siegfried und Albert Socin. Die erste Lieferung der „Heiligen Schrift des Alten Testaments“ erschien bereits 1890, das ganze Werk war 1894 abgeschlossen. „Die Arbeit des Herausgebers war eine ungeheuer mühevolle. Vers für Vers prüfte er nach, um der Übersetzung ein streng einheitliches geschlossenes Gepräge zu geben. Die Übersetzer hatten in edler Selbstverleugnung dem Herausgeber das Recht eingeräumt, im Interesse der Einheitlichkeit Änderungen vorzunehmen.“34 Das Werk bot über die Übersetzung hinaus wissenschaftliche Informationen, die in der dritten Auflage (1909/10) die Gestalt einer kurzen Kommentierung durch Einleitung und Fußnoten annahmen. „Der Verleger hatte den Preis des Werkes aufs niedrigste kalkuliert in dem Gedanken, es als eine Art Volksbuch – als den kürzesten Kommentar zum Alten Testament – in weiteste Kreise zu bringen. Nicht ohne Bedenken hatte er sich zu einer Erstauflage von 8000 Exemplaren entschlossen. Der Erfolg gab ihm vollkommen Recht. Als im Mai 1894 mit der Ausgabe der letzten Lieferung die Subskription geschlossen wurde, war die große Auflage bis auf so wenige Exemplare ausverkauft, dass es sich nicht lohnte, die angekündigte – und allgemein übliche – Preiserhöhung nach Schluss der Subskription durchzuführen. Bereits im Frühjahr 1896 konnte die zweite, vielfach berichtigte, im wesentlichen jedoch unveränderte Ausgabe des hochbedeut31  Die Genesis Vf. 32  S.u. 609f. 33  Ebd. IV. 34  O. Rühle, Der theologische Verlag von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Rückblicke und Ausblicke (1926) 32.

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samen Bibelwerks ausgehen.“35 Sie erschien in 4000 Exemplaren, denen 1901 weitere 4000 nachgeschoben wurden, bevor die dritte Ausgabe (1909/10), über der Kautzsch am 7. Mai 1910 starb, stärkere Veränderungen brachte. Die vierte, 1922/23 von Alfred Bertholet besorgt, ist in Ermangelung von etwas gleichartigem und gleichwertigem Neuen bis heute so unentbehrlich geblieben wie der „Gesenius-Kautzsch“. Nicht sehr viel anders steht es mit der Ergänzung zur „Heiligen Schrift des Alten Testaments“, der erläuterten Übersetzung der Apokryphen und Pseudepigraphen, die Kautzsch im Verein mit 16 Spezialisten 1898/99 abschloss und die 1900 ebenfalls in zwei Bänden erschien. Kautzschs letztes Buch war eine postume „Biblische Theologie des Alten Testaments“36, die mit so mancher Vertreterin ihrer Gattung – einer Gattung auch sonst oft postumer Bücher – das Schicksal teilte, zu spät zu kommen und ohne viel Wirkung zu bleiben37. Dagegen hat nach dem Zeugnis Alfred Bertholets38, dem sich leicht weitere zur Seite stellen ließen, das Übersetzungswerk „in einzigartiger Weise dazu beigetragen, Interesse am Alten Testament und Liebe zu ihm zu wecken und zu fördern“. Schon darum darf Emil Kautzsch nicht ganz in Vergessenheit geraten.

35  Ebd. 33. 36  Herausgegeben von seinem Sohn Karl Kautzsch (1911). 37  Vgl. Gunkels Besprechung DLZ 33 (1912) 1093–1101. 38 HSAT 4I (1922) III.

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Für unser modernes wissenschaftliches Verständnis der Bibel und speziell des Alten Testaments sind drei große Faktoren bestimmend gewesen: die Nötigung und die Freiheit, die Bibel im Widerspruch gegen eine zunächst übermächtige kirchliche Tradition mindestens auch als ein Buch wie alle anderen Bücher zu lesen, die Erschließung der geschichtlichen Welt des alten Orients und, last not least, die unermüdliche, alle Mittel der Wissenschaft verwendende Arbeit an den biblischen Texten selbst. Diese Arbeit hat wie jede menschliche Bemühung fruchtbare und unergiebige Zeiten erlebt, Höhepunkte und Rückschläge. Unter den Höhepunkten ist der größte mit dem Namen Wellhausen verknüpft. Ein wohlorientierter Außenseiter unserer Tage hat gesagt: „Das Alte Testament ist im Grunde erst seit Wellhausen in seiner unglaublichen Fülle und Dichte und seiner Relevanz für unsere eigenen Entscheidungen wiederentdeckt worden, d. h. seit die alttestamentliche Wissenschaft uns die kulturellen und sozialen Voraussetzungen sehen gelehrt hat, die vor dreitausend Jahren in Israel bestanden und auf welche die alten Texte ohne jede christologische Umdeutung in direktester Lebendigkeit passen.“1 Kein Alttestamentler ist mit so viel Bewunderung gelesen, keiner so erbittert bekämpft worden wie Wellhausen. Seine „Israelitische und jüdische Geschichte“ gehört mitsamt den ihr zugrundeliegenden „Prolegomena zur Geschichte Israels“ zu den klassischen Werken der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Ihre sprachliche Kraft hat in der vergleichbaren theologischen Literatur kein Beispiel. Seinen wissenschaftsgeschichtlichen Ort näher bezeichnend, hat Rudolf Otto (1869–1937) den älteren Kollegen als Repräsentanten des Gelehrtentums seiner Zeit dem Repräsentanten der damals abgeschlossenen Epoche, Wilhelm von Humboldt (1767–1835), gegenübergestellt: „Julius Wellhausen war nicht und wollte garnicht sein der homo universalis, auf Eigen- und Selbstkultur bedacht oder sich selbst zum ‚Mikrokosmos‘ bildend. In rastloser Arbeit und Schwerarbeit sein konkretes und einzelnes Forschungsgebiet ergreifend, vom festen Punkte aus methodisch weiterschreitend, in konzentrischen Kreisen das eigene 1  C.F. v. Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen ( 91984) 461.

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Objekt erweiternd, und mehr schweigend als redend, fast scheu und von ferne es beziehend auf letzte und höchste Idee, so steht er vor uns als ein klassischer Typus modernen Akademikers. Zugleich aber in und an der Arbeit erwachsend zu diesem Bilde geschlossener, markierter Persönlichkeit, wahrlich erhoben über das Banause, wahrlich – ungewollt und ungesucht in reinem Erfolge – ein individuelles Totum hohen Menschentums: ein Typus moderner akademischer Kultur. So steht er vor uns vornehmlich als Typus derjenigen Geistesart, die zu bilden die Universität immerdar die Hohe Schule ist: der Geistesart dessen was wir mit speziell modernem Akzente nennen den Typus des ‚wissenschaftlichen Menschen‘.“2 Julius Wellhausen wurde am 17. Mai 1844 in Hameln an der Weser geboren. Sein Vater war der dortige zweite Stadtpfarrer August Wellhausen (1808–61), ein orthodoxer Lutheraner, der auf Kirchenordnung und Liturgie Wert legte, dabei eigenständig und gebildet, nach der Erinnerung des Sohnes der einzige Besitzer von Goethes Werken in seiner Umgebung. Es gab dort viele Wellhausens, doch der Pastor war aus Hannover gekommen, wo sein Vater und sein Großvater Schneidermeister gewesen waren, die das königliche Jagdzeug in Ordnung zu halten hatten. Auch von der mütterlichen Seite stammte Julius Wellhausen aus Hannover: sein Großvater Johannes Lahmeyer war dort Organist. In Hannover lebte schließlich Julius Wellhausen (1801–73), des Vaters älterer Bruder, als Hofchirurg des welfischen Königshauses. Er konnte freilich nicht verhindern, dass sein Patensohn in der Auseinandersetzung des Jahres 1866 entschieden die preußische Partei ergriff. Ebenso wenig folgte der Sohn als Theologe dem Beispiel des Vaters. Schon der Student hatte mit der Orthodoxie bald nichts mehr im Sinn – „mir tat nur meine Mutter leid“ –, und ebenso später mit der Kirche. Vielleicht lag darin auch ein Stück Reaktion auf den Geist des Elternhauses. Das Erbe, das seine Gesundheit von dort mitbekam, war schwer zu tragen: der Vater nervenkrank, jahrelang arbeitsunfähig, mit 52 Jahren verstorben, die Mutter gehörleidend und früh ertaubt, der Sohn, das einzige von vier Kindern, das die Eltern überlebte, immer wieder mit Schlaflosigkeit geschlagen, magenleidend, noch nicht 60jährig so gut wie taub, durch frühe Arteriosklerose bereits Jahre vor seinem Tod an aller Arbeit gehindert. Trotzdem war er, seltener Fall, ein seelisch ungewöhnlich gesunder, heiterer, in allen Lagen gelassener Mensch und gewiss auch schon ein fröhliches Kind. Man lebte in Hameln eher ländlich als städtisch, mit der Natur und den Jahreszeiten, im engen Kontakt mit der bäuerlichen Bevölkerung. Julius Wellhausen hat das zeitlebens beibehalten. Standesdünkel war ihm fremd. Man hat öfters von ihm gesagt, er gleiche eher einem Bauern als einem Professor. „Der Grundzug seines Wesens war Einfachheit.“3 In dieser Einfachheit lag ein gut Teil der Genialität, die fast jeder empfand, der mit ihm zu tun hatte. Man muss 2  R. Otto, Sinn und Aufgabe moderner Universität (1927) 16. 3  Ed. Schwartz, Gesammelte Schriften I (21963) 359.

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sich sehr hüten, sie mit Primitivität oder Undifferenziertheit zu verwechseln; Wellhausen hatte ein scharfes Auge für die subtilsten Dinge. Nach lustlos absolvierten Gymnasialjahren in Hannover – das Reifezeugnis war freilich glänzend – ging er 1862 nach Göttingen, um Theologie zu studieren. Er wollte in die Fußstapfen des Vaters treten, zudem liebte er die Erzählungen des Alten Testaments, namentlich die vom Propheten Elia, und viele Kirchenlieder, auch manche Zeugnisse der mittelalterlichen Frömmigkeit. Doch schon im ersten Semester musste er merken, dass das für ein Theologiestudium nicht ausreichte. Zwar interessierte ihn ein Kommilitone, der in Tübingen gerade noch Ferdinand Christian Baur (1792–1860) gehört hatte, für das apostolische Zeitalter, aber das änderte seine Lage nicht. In der theologischen Fakultät hielt ihn ein Buch, das ihm in den Osterferien 1863 zufällig in die Hände fiel, Heinrich Ewalds Geschichte des Volkes Israel. Es fesselte ihn so sehr, dass er richtig Hebräisch lernte – ein dürftiger Schulunterricht hatte ihm das bis dahin verleidet – und sich ganz auf das Studium des Alten Testaments warf. Fortan gehörte er zu den glücklichen Leuten, die einen Lehrer haben, mag die Schülerschaft sich dann auch noch so sehr im Widerspruch bekunden. Er studierte bei Ewald, vor allem nach dem ersten theologischen Examen und einer Hauslehrerzeit in Hannover, die hebräische Sprache und ihre semitischen Schwestersprachen, soweit sie damals gut bekannt waren, also ohne das Akkadische. Ebenso wichtig wie die gnadenlose philologische Schulung war für Wellhausen, dass Ewald die Bibel wie damals kein zweiter historisch zu lesen verstand und aus ihr das imposante Gesamtbild von der Geschichte des alten Israel gewann, das ihn schon beim ersten Kennenlernen in den Osterferien 1863 so beeindruckte. Doch schon bald wurde er gegenüber dem Lehrer selbständig. Es entsprach Ewalds Temperament, dass er dem Lieblingsschüler politisch keine Freiheit ließ: als Wellhausen sich weigerte, den König von Preußen und Bismarck für Übeltäter und Schurken zu erklären, wies er ihm die Tür. Dazu kam der wissenschaftliche Bruch, den jedenfalls Ewald so empfand. Wellhausen hatte nämlich bei der Lektüre des Alten Testaments eine grundlegende Schwierigkeit, die ihm Ewald nicht behob: er verstand die alten Erzählungen und die Propheten aus sich heraus, nicht aber, wenn er daran dachte, dass doch das mosaische Gesetz ihre Grundlage und Voraussetzung sein müsse, wie die Tradition und auch die Wissenschaft es behaupteten. In seine zweifelnden Gedanken fuhr es wie ein Blitz, als ihm Albrecht Ritschl (1822–89), den er während seiner hannoverschen Hauslehrerzeit im Sommer 1867 in Göttingen besuchte, davon erzählte, dass Karl Heinrich Graf (1815–69) das Gesetz für jünger hielt als die Propheten. Wellhausen war, wie er später berichtet hat, für diese Hypothese schon fast gewonnen, bevor er ihre Begründung kannte: „ich durfte mir gestehen, daß das hebräische Altertum ohne das Buch der Thora verstanden werden könne.“4 In 4  Geschichte Israels I (1878) 4.

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den nächsten zehn Jahren war seine Hauptaufgabe, Grafs Hypothese besser zu begründen und durchzuführen, als Graf es vermocht hatte, und damit das Bild des alten Israel gänzlich zu verändern. Er hatte dabei nicht nur Graf zum Vorläufer. Der erste, der das Problem in seiner Schärfe gesehen und auch schon entscheidende Gesichtspunkte für seine Lösung angegeben hatte, war der junge de Wette gewesen. Zu einem Gesamtbild war er freilich nicht gelangt, und das hatte ja auch nicht in seiner Absicht gelegen. In dieser Richtung führte der Hegelianer Wilhelm Vatke (1806–82) sein Werk fort. Er arbeitete de Wettes Beobachtungen zu einer ersten kritischen Geschichte der altisraelitischen Religion aus5. Zu breiter Wirkung kam er nicht, weil die hegelianische Form nicht nur Misstrauen erweckte, sondern auch das Verständnis erschwerte, und weil die Arbeit an den Quellen, d. h. vor allem am Pentateuch, noch nicht weit genug war, um sichere historische Schlüsse zu ermöglichen. Anders als im Neuen Testament, wo die vier Evangelien sich nebeneinander erhalten haben, sind ja im Pentateuch die literarischen Werke über Israels Anfänge redaktionell zu einer Einheit verschmolzen worden, die die Forschung zunächst auflösen muss, bevor sie sie in eine historische Folge bringen kann. In den Jahrzehnten nach Vatkes Buch gelangte man zur Unterscheidung von vier Pentateuchquellen: drei durchlaufende Erzählungen, von denen zwei den Gottesnamen Elohim und eine den Gottesnamen Jahwe gebrauchen, dazu das Deuteronomium. Bei der redaktionellen Zusammenfügung hatte die umfangreichere der beiden elohistischen Schriften das Gerüst gebildet, ein wohldisponiertes, fast vollständig erhaltenes Werk, das z. B. die erste der beiden Schöpfungsgeschichten (Gen 1,1–2,4a) und vor allem die große Masse der kultischen Gesetzgebung in den mittleren Büchern des Pentateuchs enthielt. Dieses Werk, später wegen seines überwiegend kultischen Inhalts Priesterschrift genannt, galt der Wissenschaft zunächst als die „Grundschrift“ des Pentateuchs nicht nur in dem Sinne, dass die Redaktion es ihrer Komposition zugrunde gelegt hatte, sondern auch so, dass es die älteste und authentischste der Pentateuchquellen war. Traf das zu, dann hatte der moderne Historiograph des ältesten Israel keine allzu schwere Aufgabe. Am Anfang stand dann das Gesetz, wie es in den mittleren Büchern des Pentateuchs wiedergegeben wird. Israel war seit Mose ein hierarchisch gegliedertes und geleitetes Gemeinwesen mit einem bis ins kleinste geregelten Kultus an einem einzigen Heiligtum als wichtigstem, ja beinahe einzigem Inhalt des nationalen Lebens. Sollte dagegen die Priesterschrift nicht die älteste Quellenschrift im Pentateuch gewesen sein, dann stand das alles in Frage. Darum war die Grafsche Hypothese so wichtig, viel wichtiger, als Graf selbst wusste, der zunächst nur für die gesetzlichen Bestandteile der Priesterschrift den Nachweis geführt hatte, dass sie jünger sind als das Deuteronomium6, und nachträglich, auf einen Wink Abraham Kuenens 5  Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt I (1835). 6  Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments (1866).

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hin, auch die priesterschriftliche Erzählung in diesen Nachweis einbezog. Jünger als das Deuteronomium, das bedeutete: später als die Reform des Königs Josia (622 v.Chr.), um die Zeit des babylonischen Exils (ab 587 v.Chr.), das dem Königtum und damit der eigenen Staatlichkeit in Israel auf unabsehbare Zeit ein Ende machte. Die Datierung der Priesterschrift entschied also darüber, ob, wie Wellhausen später formulierte, das mosaische Gesetz „der Ausgangspunkt sei für die Geschichte des alten Israel oder für die Geschichte des Judentums, d. h. der Religionsgemeinde, welche das von Assyrern und Chaldäern [Babyloniern] vernichtete Volk überlebte“7. Bevor Wellhausen sich anschickte, auf diese Frage die endgültige Antwort zu geben, hatte er umfangreiche Vorarbeiten zu leisten und, wiederum als deren Voraussetzung, die nicht leichten ersten Schritte einer akademischen Laufbahn zu tun. Er bewarb sich 1868 um die Stelle eines Repetenten am Göttinger theologischen Stift und erhielt sie. Sie gab ihm die Möglichkeit zu Promotion und Habilitation im Jahr 1870. Da er keine Mittel besaß, die ihn auf die Dauer als Privatdozenten über Wasser halten konnten, war er auf die baldige Erlangung einer Professur angewiesen. Auf Ewalds Hilfe konnte er nicht mehr rechnen, doch der Ewaldschüler August Dillmann (1823–94) in Berlin ebnete den Weg nach Greifswald, wo einer zerstrittenen Fakultät der kirchlich-parteilich nicht abgestempelte und offenbar wissenschaftlich tüchtige Wellhausen als möglicher Kandidat erschien. Hier hat er 1872–82 als Ordinarius gewirkt. Er erwarb sich rasch die Achtung aller, auch der theologisch Konservativen, voran Hermann Cremer (1834–1903), er gewann die für beide Seiten anregende Freundschaft seines altphilologischen Kollegen Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff (1848– 1931), er heiratete Marie Limpricht (1856–1925), die Tochter eines naturwissenschaftlichen Kollegen, eine hoch sensible, bald dauernd kränkelnde Frau mit pianistischen Ambitionen, spätere Schülerin Max Regers. In Greifswald schrieb er die Werke, die den Umschwung in der alttestamentlichen Wissenschaft herbeiführten. Noch in Göttingen waren die Erstlinge erschienen: nach der Dissertation, die einige judäische Listen der Chronik in die historische Geographie der vor- und nachexilischen Zeit einordnete, 1872 das Buch über den Text der Bücher Samuelis, gedacht als Vorarbeit für eine künftige kritische Ausgabe des hebräischen Alten Testaments, voll von wichtigen Bemerkungen über die Entartungen des ursprünglichen Textes und die Möglichkeiten seiner Rekonstruktion. 1874 folgte in Greifswald „Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte“. Wellhausen bestreitet darin, dass der Gegensatz zwischen den beiden jüdischen Gruppen ein vorwiegend dogmatischer ist; es handelt sich vielmehr um die Verschiedenheit zweier Lebensanschauungen, um eine stärker politische und eine stärker religiöse Partei. In diesen Etüden, die ihren Wert bis heute behalten haben, schimmert das Ziel einer Gesamtkritik der historio7  Geschichte Israels I, 1.

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graphischen Tradition des alten Israel hin und wieder durch; bald wird es direkt in Angriff genommen. Im Winter 1872/73 untersucht Wellhausen die Genesis, im Winter 1874/75 den übrigen Pentateuch, das Ergebnis veröffentlicht er 1876/77 unter dem Titel „Die Composition des Hexateuchs“. 1878 kommt in der von Wellhausen bearbeiteten 4. Auflage von Friedrich Bleeks Einleitung in das Alte Testament die Kritik der Bücher Richter, Samuel und Könige hinzu, später erscheint das Ganze unter dem Titel „Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments“8. Die Ergebnisse sind längst nicht in allem neu; die bisherige Literarkritik wird in gereinigter Form zusammengefasst und fortgeführt, vereinfacht und zugleich verfeinert. Grundlegend ist die Scheidung zweier Hauptbestandteile, der Priesterschrift einerseits, der von einer oft tief eingreifenden Redaktion hergestellten, längst nicht immer mehr aufzulösenden Verbindung von Jahwist und Elohist, zusammen ,Jehowist“, andererseits. Auf eine bis ins letzte konsequente Quellenscheidung wird verzichtet, für Erweiterungen und Wucherungen mancher Art Raum gelassen. In den „historischen Büchern“ handelt es sich um einige ältere, dann miteinander verbundene Schriften, die gemeinsam mit dem Pentateuch deuteronomistisch, d. h. im Geiste des Deuteronomiums, bearbeitet worden sind. Das Neue an der „Composition“ war weniger, so neu auch sie in vielem war, die Literarkritik als solche, sondern der entschlossene Versuch, sie nicht, wie Wellhausen sich gern ausdrückte, als Sport oder Kegelspiel zu betreiben, vielmehr mit ihrer Hilfe die Geschichte des alten Israel zu rekonstruieren; die Schichten der Historiographie repräsentieren nämlich Stadien dieser Geschichte. Das zu zeigen, ist die Hauptaufgabe von Wellhausens berühmtestem Werk, der „Geschichte Israels I“ von 1878, von der 2. Auflage an (1883) Prolegomena zur Geschichte Israels genannt9. Der erste Teil gibt eine Geschichte des Kultus unter dem Hauptgesichtspunkt des Unterschiedes zwischen dem vor- und dem nachexilischen Zustand. In der alten Zeit wurde an vielen Orten geopfert, und weder die Propheten noch die Geschichtsschreibung nehmen daran Anstoß. Anders nach dem Exil: da ist der Tempel in Jerusalem der einzige Ort des Gottesdienstes. Diese Ordnung wird von der Priesterschrift vorausgesetzt und in die mosaische Zeit zurückverlegt; den Übergang vom alten, durch Jahwist und Elohist bezeugten Zustand macht das Deuteronomium, indem es die Zentralisation des Kultus fordert. Ähnlich verhält es sich mit den Opfern, den Festen und dem Klerus: überall zeigt sich, dass das „mosaische Gesetz“ der Priesterschrift das Grundgesetz erst für das nachexilische Judentum gewesen ist. Was die Geschichte des Kultus erwiesen hat, bestätigt die Geschichte der Tradition. Die Chronik hat die alte Überlieferung so umgedichtet, dass die Geschichte den Forderungen der Priesterschrift entspricht; so hat sie etwa den König David zu einem Diener des Kultus 8  Letzte Bearbeitung 1899, Neudruck 1963. 9  61905, letzter Neudruck 2001.

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und Vorbild der Frömmigkeit im nachexilischen Sinn gemacht. Darin ist ihr aber die deuteronomistische Bearbeitung der Bücher Richter, Samuel und Könige schon bis zu einem gewissen Grade vorangegangen. Sie hat zwar die ältere Geschichte nicht so rücksichtslos umgedichtet, aber immerhin die kultische Praxis der Israeliten und ihrer Könige in allen Generationen nach der Norm des Deuteronomiums be- und meist verurteilt. Schließlich zeigt sich der große Unterschied auch in den Erzählungen über die Anfangszeit: Jahwist und Elohist bieten das alte volkstümliche Sagengut in seiner Frische und Natürlichkeit, die Priesterschrift eine künstliche Neukonstruktion, die die Verbindung mit den Ursprüngen verloren hat. Man muss, das ist das Ergebnis, unterscheiden zwischen Israel und dem Judentum. Israel kannte kein geschriebenes Gesetz, seine „Thora“ war die mündlich ergehende Weisung der Priester und der Propheten; ein eigentliches Gesetz, wie es dann die Grundlage des biblischen Kanons geworden ist, gibt es erst mit dem Deuteronomium und vollends mit der Priesterschrift. In die alte Zeit gehört auch nicht der Begriff des Bundes zwischen Gott und dem Volk, und vollends ist die Theokratie als geistliche Anstalt, als Hierokratie erst ein Produkt des Judentums, oder vielmehr das Judentum selbst. Eine positive Funktion hat auch sie, nämlich die, das Erbe der alten Zeit wie in einem starren Panzer zu bewahren, damit es eines Tages wieder lebendig hervortreten kann. Den kostbaren Inhalt aus seiner späteren Verformung herauszulösen, war die Hauptaufgabe der „Prolegomena“. Der „Geschichte der Tradition“ stellte Wellhausen ein Zitat aus Hesiod voran: Πλέον ἥμισυ παντός „Die Hälfte“, nämlich die vorexilische Überlieferung, „ist mehr als das Ganze“, nämlich als die von späten Redaktionen, Priesterschrift und Chronik bestimmte kanonische Gesamtgeschichte. Der „Hälfte“ gehört seine Sympathie, und also den Patriarchen, Königen und Propheten, wie sie, weder durch den Zwang kultischer Institutionen noch durch das Schema theologischer Begrifflichkeit reglementiert, als lebendige Menschen nach dem Gebot ihrer Natur und der Umstände handeln. Die literarkritische Untersuchung hat damit eine alte Welt neu entdeckt; die glänzende Darstellung brachte sie dem modernen Leser fast zum Greifen nahe. Das Echo auf die „Prolegomena“ war gewaltig. Man entsann sich nicht, seit Straußens Leben Jesu (1835) dergleichen erlebt zu haben; einen ähnlichen Sturm gab es, auf niedrigerem Niveau, erst wieder im Babel-Bibel-Streit zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Alles wurde aufgeboten, um Wellhausen zu widerlegen, keineswegs nur exegetische Argumente. Durch die Unbefangenheit seines Tons hatte er die konservativen Kollegen eher vor den Kopf gestoßen als diskussionsbereit gemacht, und so reagierten sie, voran die Schulhäupter Franz Delitzsch und August Dillmann, mit wütender Polemik, auf die er kurz und gelassen antworten konnte. Jahrzehntelang setzte man ihm nun Ketzerhüte auf, außer dem der Glaubensfeindlichkeit besonders gern den des Hegelianismus, da er ja von Wilhelm Vatke „das Meiste und

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Beste gelernt zu haben“ bekannte10. Aber was bei Vatke von Hegel stammte, hatte er gerade nicht übernommen. Die Motive und Maßstäbe seiner eigenen Geschichtsschreibung waren dem spekulativen System so fern wie damals möglich; will man Namen, dann sind es Carlyle (1795–1881), Mommsen (1817– 1903) und Burckhardt (1818–97). Es gab aber auf konservativer Seite auch Gelehrte, die Wellhausens Grundeinsichten über kurz oder lang übernahmen, obwohl er es ihnen persönlich nicht immer leicht machte; genannt seien Wolf Graf Baudissin (1847–1926) und Rudolf Kittel. Am wichtigsten war ihm, dass er durch die Prolegomena zwei ausländische Freunde gewann, den Holländer Abraham Kuenen und den Schotten William Robertson Smith; seine Wirkung in ihren Ländern stand kaum hinter derjenigen in Deutschland zurück. In Deutschland gingen die meisten jüngeren Gelehrten mit fliegenden Fahnen zu ihm über. Man sprach bald von einer Wellhausen-Schule, worauf er es freilich nicht abgesehen hatte und woran ihm auch nichts lag. Er arbeitete für sich selbst und war von der Wirkung überrascht, fast so sehr wie der Verleger, der die „Prolegomena“ nur zögernd übernommen hatte und erst nachträglich ein, nun freilich beträchtliches, Honorar zahlte. Für Wellhausen stellte sich in diesen Jahren ein Problem, das ihn mehr bedrängte als alle Angriffe seiner Gegner. Er glaubte sich in der theologischen Fakultät nicht am richtigen Platz, so gut er auch mit ihren Mitgliedern auskam. Der Grund lag keineswegs in jenen Angriffen, auch nicht darin, dass sie die Chance der Berufung an eine attraktivere theologische Fakultät als die in Greifswald zerstört hätten, sondern in der notwendigen Beziehung der Theologie auf die Kirche. Wellhausen hatte als Theologieprofessor die Studenten auf den Dienst in der evangelischen Kirche vorzubereiten, aber er fühlte sich dieser Kirche nur noch äußerlich angehörig. So kam ihm die Ausübung seines Amtes wie eine Lüge vor. Von untergeordneter Bedeutung, aber für seine eigene Arbeit nicht weniger wichtig war, dass seine wissenschaftlichen Fragen und Interessen sich von dem entfernten, was er den Theologiestudenten hätte bieten müssen – auch abgesehen davon, dass ihm die „biblische Theologie des Alten Testaments“ als wissenschaftliche Disziplin seit langem suspekt war. Nachdem er mit den „Prolegomena“ die historische Arbeit eines Jahrzehnts abgeschlossen hatte, war er des Alten Testaments fürs erste etwas müde. Aber nicht dies, sondern jenes Gewissensproblem bestimmte ihn, dem preußischen Kultusminister 1880 mündlich die Bitte um Versetzung in die philosophische Fakultät vorzutragen und sich 1882, als darauf noch nichts erfolgt war, zur Niederlegung seiner Professur und zur Habilitation als Privatdozent für semitische Philologie in Göttingen oder Halle zu entschließen. Der Minister machte ihn daraufhin zum außerordentlichen Professor an der philosophischen Fakultät in Halle. Dort hat er von 1882 bis 1885, nicht gern, gewirkt, umso lieber anschließend in Marburg, wohin er 1885 als ordentlicher Professor für semitische Sprachen 10  Geschichte Israels I, 14.

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berufen wurde. Dabei erhielt er die Auflage, keine Vorlesungen über das Alte Testament zu halten – aus Rücksicht auf den Alttestamentler in der theologischen Fakultät, Graf Baudissin, der auf diesen „Maulkorb“ freilich keinen Wert legte und einverstanden war, als er später gelockert und abgenommen wurde. Auch sonst war das Verhältnis zu den Theologen gut, in zwei Fällen, nämlich zu dem Systematiker Wilhelm Herrmann (1846–1922) und dem Neutestamentler Adolf Jülicher (1857–1938) sogar freundschaftlich. Der „Maulkorb“ kam Wellhausen insofern nicht ungelegen, als er sich seit der Fertigstellung der „Prolegomena“ fast ausschließlich mit dem arabischen Altertum beschäftigt hatte. Es wäre auch denkbar gewesen, sich mit assyriologischen Arbeiten für die semitistische Professur zu qualifizieren. Aber die Greifswalder Bibliothek bot dazu nicht die nötigen Hilfsmittel, während er in der Arabistik an die Studien anknüpfen konnte, die er einst bei Ewald getrieben hatte. Noch wichtiger war ein sachliches Motiv: bei den Arabern, besonders den vorislamischen, glaubte er am besten Vergleichspunkte finden zu können, die der Kenntnis des ältesten Israel zustattenkamen. So untersuchte er die islamische Überlieferung unter dem Gesichtspunkt, was sich aus ihr über die früheren Zustände ermitteln lasse. Das Ergebnis fasste er vor allem in den „Resten arabischen Heidentums“11 zusammen. Doch die frühislamische Zeit erregte nicht weniger sein Interesse, zumal er den Eindruck gewann, dass die Orientalisten meist nur die philologischen, nicht aber die historischen Probleme sähen. Seine Studien führten ihn weit über das hinaus, was er ursprünglich im Auge gehabt hatte. Ihren Abschluss bildete die große Geschichte der Umaijaden, die 1902 unter dem Titel „Das arabische Reich und sein Sturz“ erschien12. Ende 1891 starb in Göttingen Ewalds Nachfolger, Paul de Lagarde (geb. 1827), ein Mann von vielseitiger Gelehrsamkeit und kühnen Plänen, von denen der einer kritischen Ausgabe des griechischen Alten Testaments nach seinem Tode von der Göttinger Akademie der Wissenschaften verwirklicht wurde, einer breiten Öffentlichkeit bekannt als Kulturphilosoph und Pamphletist, leider auch als Antisemit; Wellhausen hat ihn als Gelehrten respektiert, als Charakter verachtet. Die preußische Regierung wollte den Lehrstuhl seiner Tradition gemäß mit einem Mann des ersten Ranges besetzen und berief zunächst den großen Orientalisten Theodor Nöldeke (1836–1930) – auch er ein Schüler Ewalds – und nach dessen Ablehnung Wellhausen. Dieser mochte sich von Marburg nicht trennen und lehnte ebenfalls ab, ließ sich aber schließlich unter dem massiven Druck des Ministeriums und einiger Göttinger Kollegen umstimmen. So kehrte er nach zwei Jahrzehnten an seine Heimatuniversität zurück und wirkte an ihr noch zwei Jahrzehnte, inzwischen ein Klassiker seiner Wissenschaft und von mancherlei Legenden umwoben. Den Unterschied zwischen 11 1887, 21897, Neudruck 1961. 12  Neudruck 1960.

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seinen beiden letzten Universitäten definierte er so: „In Marburg kann jeder zu seinem Kollegen sagen: Sie sind ein Schafskopf. In Göttingen trägt jeder ein großes Geheimnis mit sich umher.“ Er sehnte sich manchmal nach der Marburger Unbefangenheit zurück, wusste aber auch, bei allem Spott, die Göttinger Eigenart zu schätzen. Seiner Arbeit ist sie nicht schlecht bekommen. Er begann seine Göttinger Lehrtätigkeit im Winter 1892/93 mit einer Vorlesung über die jüdische Geschichte seit dem babylonischen Exil. Das war die letzte Vorbereitung auf die „Israelitische und jüdische Geschichte“, die dann 1894 erschien. Mangel an Gesundheit und der Übergang zur Arabistik hatten 1878/79 verhindert, dass auf die „Prolegomena“ gleich die positive Darstellung der Geschichte folgte; bald glaubten einige Gegner frohlocken zu dürfen, Wellhausens Kritik sei nur zur Destruktion in der Lage und erweise darin ihre Untauglichkeit. Dabei übersahen sie, dass Wellhausen 1881 in der Encyclopaedia Britannica einen ausführlichen Artikel über die gesamte israelitische Geschichte veröffentlicht hatte, dessen Hauptteil, nach einem Privatdruck von 1880, seit 1884 als „Abriß der Geschichte Israels und Judas“ im ersten Heft von Wellhausens „Skizzen und Vorarbeiten“ auch deutsch zugänglich war13. In dem endgültigen Buch ist der zweite, „jüdische“ Teil doppelt so umfangreich wie der erste, „israelitische“. Konnte dort die Quellenkritik der „Prolegomena“ vorausgesetzt werden, so war hier die entsprechende Arbeit größtenteils noch zu leisten. So gibt es im zweiten Teil mehr gelehrte Erörterung als im ersten, wo freilich in dieser Hinsicht von der zweiten Auflage an einiges nachgetragen werden musste14. Im Ganzen überwiegt überall die Erzählung der Vorgänge mitsamt der Darstellung der sozialen, kulturellen, religiösen Verhältnisse. Das Grundthema ist der Glaube ‚Jahwe der Gott Israels und Israel das Volk Jahwes“. Auf ihm beruht die Nation, ihr Gemeinbewusstsein, ihre Geschichte. Diese Geschichte ist demnach wesentlich Religionsgeschichte. Ihre große Zäsur führt der Zusammenstoß mit dem assyrischen Weltreich herbei; er veranlasst die Propheten, deren Reihe mit Amos beginnt, jenen Glauben radikal in Frage zu stellen und auf seine moralische Bedingung hinzuweisen. Die Kapitel über die Propheten gehören zum Hinreißendsten, was Wellhausen geschrieben hat. Er berührte sich darin mit seinem Freund, dem großen Prophetenkommentator Bernhard Duhm. Doch gegen Duhm wies er schon früh auf die Gefahr hin, dass man über der Prophetie die geschichtliche Rolle anderer Faktoren, voran des Priestertums, vergessen könne. Ihm selbst wurde sogleich und seitdem immer wieder der Vorwurf gemacht, er vernachlässige Israels altorientalische Umwelt. Dagegen konnte er immerhin geltend machen, dass er dem Einbruch der Assyrer eine Bedeutung zuschrieb wie niemand vor ihm. Aber es war klar, dass die Auswertung der mesopotamischen und ägyptischen Funde eine der 13  Neudruck 1985. 14 Diese erschien 1895, die letzte Neubearbeitung (71914) wurde zuletzt 2010 nachgedruckt.

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Hauptaufgaben für die Forschung der nächsten Generation sein musste. Dass dabei ein sichereres und tieferes Verständnis des alten Israel erzielt wurde, als es Wellhausen gelang, wird man im Rückblick nur mit mancherlei Einschränkungen sagen können. Ewalds Hauptwerk hieß in den ersten Auflagen „Geschichte des Volkes Israel bis Christus“ und gab damit gleich ihr Ziel und ihren Höhepunkt an. Wellhausen verteidigte seinen Lehrer gegen F. Ch. Baur und seine Schule, denen bei ihrem Interesse an der Entwicklung des christlichen Dogmas an dieser Kontinuität wenig lag. Sein eigener „Abriß der Geschichte Israels und Judas“ von 1884, dessen Geschichtsdarstellung noch bei Esra endete, hatte schon ein Schlusskapitel „Das Judentum und das Christentum“. In der ausgeführten „Israelitischen und jüdischen Geschichte“ von 1894 geht der abschließenden Darstellung des Untergangs des jüdischen Gemeinwesens in den Aufständen gegen die Römer ein Kapitel über das Evangelium voran. Es beginnt mit den Sätzen: „Es war gegen Ende der Regierung des Kaisers Tiberius, als noch Pilatus Landpfleger in Judäa und Antipas Vierfürst von Galiläa war. Da ging ein Sämann aus, zu säen seinen Samen; sein Same war das Wort, sein Acker die Zeit.“15 Und dann beschreibt Wellhausen in einfachen Sätzen Jesu Wort und Werk und die Anfänge der Gemeinde, die die Fortsetzung der jüdischen Theokratie ist und die nach dem Sieg der Kirche in der Welt aus einer geistigen Gemeinschaft zu einer natürlichen wird und damit wieder dem Anfangsstadium der israelitischen Religion entspricht. Den Schluss bildet ein Bekenntnis zum Glauben des Individuums angesichts der unabwendbaren Verbindung von Religion und Kultur. In der endgültigen Fassung lauten die letzten Sätze: „Die Stufen der Religion, wie die Stufen der Geschichte überhaupt, bleiben neben einander bestehn. Die öffentliche Religion braucht nicht aufzuhören. Aber Jesus hat die Kirche nicht gestiftet, der jüdischen Theokratie hat er das Urteil gesprochen. Das Evangelium ist nur das Salz der Erde; wo es mehr sein will, ist es weniger. Es predigt den edelsten Individualismus, die Freiheit der Kinder Gottes.“16 Wellhausen hat das Kapitel über das Evangelium nicht nur mehrfach überarbeitet, sondern hat es in den späteren Auflagen an das Ende des Buches gestellt und schließlich mit dem Zusatz versehen, er lasse es stehen, obwohl er nur noch teilweise mit ihm einverstanden sei17. Darin spiegelt sich nicht nur die Schwierigkeit der Frage, wie das Evangelium in die israelitisch-jüdische Geschichte hineingehört, sondern auch Wellhausens Beschäftigung mit dem Neuen Testament in der letzten Phase seiner wissenschaftlichen Arbeit. Seit er als junger Repetent das Markusevangelium behandelt hatte, war er immer wieder zu dem Problem der Entstehung des Christentums zurückgekehrt, 15  S. 308. 16 (71914) 371. 17  Ebd. 3581.

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natürlich unter dem Gesichtspunkt seines Verhältnisses zu Israel und dem Judentum. Das drehte sich gegen Ende seines Lebens um: da interessierte ihn das Judentum vor allem als geschichtliche Grundlage des Christentums. Als er mit dem arabischen Reich ins Reine gekommen war, 1902, warf er sich auf die Evangelien, ein begrenzteres und übersichtlicheres Gebiet, dessen Bearbeitung ihm auch bei nachlassender Gesundheit noch am ehesten möglich war. Er verschmähte freilich größtenteils die Lektüre der schon damals immensen Fachliteratur und ließ sich die Fragen von den Texten selber aufgeben. Darin liegt ein Mangel der nun in rascher Folge erscheinenden Kommentare (Markus 1903, Matthäus 1904, Lukas 1904), denen sich eine Zusammenfassung der Ergebnisse in der „Einleitung in die drei ersten Evangelien“ (1905) anschloss18. Der Mangel wird allerdings bei weitem ausgeglichen: nicht nur dass Wellhausen, wie er selbst sagte, bei Lektüre der gelehrten Literatur mit der Arbeit wahrscheinlich nie fertig geworden wäre, vor allem haben seine Kommentare durch die Beschränkung auf die eigene Beobachtung und den Verzicht nicht nur auf die ständige Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, sondern auch auf langatmige Trivialitäten, die normale Kommentare schon um ihrer exegetisch ungeübten Leser willen enthalten müssen, eine Frische, die ihresgleichen sucht, ganz zu schweigen von der schlichten Schönheit der Übersetzungen. Von den drei Synoptikern kam Wellhausen etwas widerwillig zu Johannes. Er entdeckte, dass dieses Evangelium, anders als man anzunehmen pflegte, keine Einheit ist19, und schrieb auch hier einen Kommentar (1908)20, in Diskussion mit seinem damaligen Göttinger altphilologischen Kollegen Eduard Schwartz (1858–1940), dem einzigen, der sein Arbeitstempo einigermaßen halten konnte. Analysen der Johannesoffenbarung (1907) und der Apostelgeschichte (1911/14) schlossen die Reihe ab. Die Evangelienkritik war damals keine derart sturmreife Festung wie ein Menschenalter vorher die Pentateuchforschung; anders sah es außer völligen Außenseitern nur der junge Albert Schweitzer (1875–1965), dessen „konsequente Eschatologie“ exegetisch eine Seifenblase war, so sehr sie auch die weitere Diskussion gefördert haben mag. Immerhin hat Wellhausen zu der Krise der Leben-Jesu-Forschung, die Schweitzer von seinem sehr anderen Ausgangspunkt her proklamierte, nicht wenig beigetragen. Zukunftweisend war die Herausarbeitung des Unterschieds zwischen den älteren Einzeltraditionen und ihrer redaktionellen Verbindung in den Evangelien; hier konnte Rudolf Bultmann anknüpfen. Widerspruch erregte die Behauptung der Priorität des Markusevangeliums vor der von Matthäus und Lukas außerdem benutzten „Redenquelle“ Q. Für diese Hauptquellen postulierte Wellhausen eine aramäische Grundlage und wies sie für viele Stellen schlagend nach und damit 18  Neudruck aller dieser Werke unter dem Titel „Evangelienkommentare“ mit einer Einleitung von M. Hengel 1987. 19  Erweiterungen und Änderungen im vierten Evangelium (1907). 20  Ebenfalls in dem in Anm. 18 genannten Neudruck enthalten.

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den palästinischen Ursprung, also zumindest den in der sehr produktiven Urgemeinde, wovon sich authentisch auf Jesus Zurückgehendes nur schwer, wenn überhaupt scheiden lässt. Er zeigte wie schon vor ihm auf anderem Weg William Wrede (1859–1906)21, dass Markus kein Leben Jesu geben wollte und dass es also auch seine Nachfolger in keiner für den modernen Historiker brauchbaren Weise tun konnten. Berühmt wurden die Sätze: „Das Evangelium deckt sich mit dem Christentum. Jesus war kein Christ, sondern Jude“, aber: „Man darf das Nichtjüdische in ihm, das Menschliche, für charakteristischer halten, als das Jüdische. […] Der historische Jesus wird, nicht erst seit gestern, zum religiösen Prinzip erhoben und gegen das Christentum ausgespielt. […] Wir können nicht zurück zu ihm, auch wenn wir wollten. […] Für das was mit dem Evangelium verloren geht, ist der historische Jesus, als Grundlage der Religion, ein zweifelhafter und ungenügender Ersatz.“22 Nach dem ersten Erscheinen der Israelitischen und jüdischen Geschichte erging an Wellhausen die Bitte, das Kapitel über das Evangelium separat als Flugschrift drucken zu lassen. Er wehrte fast erschrocken ab: vor Popularität habe er eine kleine Angst; selbst nicht klar, fürchte er andere Leute zu verwirren23. Ähnlich äußerte er sich meist, wenn er um öffentliche Stellungnahmen ersucht wurde. Obwohl (oder auch: weil?) er alles andere als weltfremd war, zudem in allgemeiner Geschichte und Philosophie vorzüglich gebildet, gehörte es zu seinem wissenschaftlichen Ethos, nur dort zu reden, wo er kompetent war. Hier liegt natürlich auch eines der Motive für seine Distanz zur Theologie seiner Zeit. Er konnte sich über die Theologen mit ihrem Wirkungsdrang und ihren Voreingenommenheiten so sarkastisch äußern wie mehr als ein Jahrhundert früher Lessing, wobei er die Liberalen nicht viel mehr schonte als die Orthodoxen. Ihm war alles Schielen, in welcher Richtung auch immer, zuwider. Am Ende seines Lebens durfte er von sich sagen, er habe nicht nach eitler Ehre gestrebt und keinen Lärm auf den Gassen gemacht24. Damit hängt es wohl zusammen, dass sein Werk geblieben ist25.

21  Das Messiasgeheimnis in den Evangelien (1901). 22  Einleitung (21911) 102–04. 23  J. Wellhausen, Briefe, hg.v. R. Smend in Zusammenarbeit mit P. Porzig und R. Müller (2013) 324. 24  Ebd. 621. 25  Vgl. weiter R. Smend, Julius Wellhausen. Ein Bahnbrecher in drei Disziplinen (2006).

Bernhard Duhm 1847–1928

„Duhm ist mehr als Smend.“ Dieses unanfechtbare Urteil fällte Julius Wellhausen, als 1888 bei einer Lehrstuhlvakanz die beiden ihm persönlich nächststehenden Fachgenossen im Spiel waren1. Wenn jemand aus jener Generation – und darüber hinaus – einen Anspruch hat, Wellhausen kongenial genannt zu werden, dann Duhm, ein Mann von einer geistigen und seelischen Mächtigkeit, wie sie unter Professoren selten begegnet. Wer seine Schriften liest, kann verstehen, dass es viele Leute gegeben hat, die Wellhausen als „Duhmschwärmer“ verspottete. Noch Jahrzehnte nach Duhms Tod verfielen alte Basler in eine andere Tonart, wenn die Rede auf diesen Lehrer kam. Um seine Wirkung in der Theologie anzudeuten, seien zwei scheinbar weit auseinanderliegende Namen genannt, Ernst Troeltsch und Eduard Thurneysen. Troeltsch (1865–1923) bekannte, ihm habe Duhm die „eigentlich entscheidende Richtung … gegeben“2; 1898 schrieb er einen grundsätzlichen Aufsatz „Zur theologischen Lage“, der zum größeren Teil3 in einer Würdigung Duhms bestand. Und wenn dreißig Jahre später Thurneysen (1888–1974) einen nicht weniger grundsätzlichen Aufsatz über „Offenbarung in Religionsgeschichte und Bibel“4 dem Gedächtnis Duhms widmete, dann war das nicht belanglos; bis in seine Seelsorge hinein erwies sich Thurneysen „auch da als Schüler Duhms, wo er sich theologisch gegen den Lehrer wandte“; ihn „hat der alte Thurneysen wohl am häufigsten genannt“5. Bernhard Lauardus Duhm war Ostfriese, 1847 in Bingum im Reiderland als Sohn eines Bierbrauers geboren und mit seiner Heimat zeitlebens fest verbunden, nicht nur indem er sich noch als Göttinger Professor die Butter aus Bingum kommen ließ. In einem Lebenslauf, den er 1871 der Göttinger theologischen Fa-

1  Briefe (2013) 217; s.u. 438f. 2  ZThK 8 (1898) 521. 3  ChW 12, 650–57. 4  ZZ 6 (1928) 453–77. 5  R. Bohren, Prophetie und Seelsorge (1982) 40–42, vgl. 186f.

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kultät einreichte6, hat er eine bedenkenswerte Typologie der Ostfriesen geliefert und sich dabei selbst eingeordnet. Notdürftig aus dem Lateinischen übersetzt: „Unsere grüne, für die Augen grenzenlose Ebene, nicht so sehr durch Abwechslung reizvoll wie durch ihre Unermeßlichkeit großartig, macht uns zu Menschlein, die entweder reichlich nüchtern und schwerfällig sind oder für alles Unendliche offen, zu Naturen, die erdgebunden sind oder beweglich (eig. flüssig); ich bin von der beweglichen Sorte.“ Er spricht von einer glücklichen Kindheit und vielen Spielen. Berufspläne hatte er lange nicht, aber früh liebte er die Bücher. Nach dreijährigem Unterricht bei den örtlichen Pastoren in Latein, Griechisch und Französisch kam er in die Sekunda des Auricher Gymnasiums, wo er Griechisch mehr schätzte als Latein, sich für Geschichte und deutsche Literatur begeisterte, das Hebräische nach erfreulichem Anfang fürs erste – wie Wellhausen – durch einen unangenehmen Lehrer verleidet bekam, aber mit der Mathematik keine Schwierigkeiten hatte. Während sein jüngerer Bruder Lauardus Nikolaus ausersehen wurde, die väterliche Brauerei fortzuführen, ging Bernhard zum Sommersemester 1867 als Theologiestudent nach Göttingen – nicht ahnend, dass er dort 22 Jahre bleiben würde. Sein Studium betrieb er breit und gründlich7: neben der Theologie deutsche Geschichte und Literatur, mit großem Interesse Psychologie bei Lotze (1817–81) und Philosophiegeschichte bei Ritter (1791–1869). In der Theologie war Ritschl (1822–89) die beherrschende Figur der Fakultät; Duhm nahm bei ihm mit, was es zu hören gab: Hebräerbrief, neutestamentliche Einleitung und Theologie, Dogmatik I und II, Ethik, letztere besonders gern. In den Mittelpunkt rückte indessen schon bald das Alte Testament. Als erstes theologisches Buch kaufte er beim Antiquar Ewalds „Propheten“8, und bevor Ewald die Erlaubnis entzogen wurde, Vorlesungen zu halten9, hörte er noch die letzten beiden: Pentateuch im Winter 1867, Hiob und salomonische Schriften im Sommer 1868. Ein älterer Freund nahm ihn auch in Ewalds gefürchtete arabische und syrische Übungen mit, von denen er aber, weil er krank wurde, nicht mehr viel hatte. Im Lebenslauf von 1871 nennt er diesen Freund nicht mit Namen, charakterisiert ihn aber als „tam ingenuus quam ingeniosus“ und sagt, er betrachte den Umgang mit ihm als ein großes Glück; er habe davon viel Gewinn und Vergnügen gehabt. Es kann kaum einen Zweifel geben, dass es sich um Julius Wellhausen handelt, der damals Repetent am Theologischen Stift war. Er hielt im Wintersemester 1869/70 seine erste alttestamentliche Vorlesung, über „einige kleine Propheten“. Duhm hat sie gehört und dort gewiss mehr als irgendwo sonst von den „kritischen Fragen, beide Testamente 6  In den Akten über die Stiftsrepetenten im Göttinger Universitätsarchiv (Theol. SA 0056.2). Von dort auch ein Teil der nächstfolgenden Angaben. Zur Familie vgl. Th. Janssen in: Ostfriesland 1972, 14. 7  Vgl. das Abgangszeugnis im Göttinger Universitätsarchiv (Abgangszeugnisse 1870). 8  Vgl. B. Duhm, Die Zwölf Propheten (1910) III. 9  S.o. 274.

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betreffend“ erfahren, die ihn nach Ausweis des Lebenslaufs während seines Studiums mit Vorrang beschäftigten. Ritschl, Ewald und Wellhausen: wer kann schon von sich sagen, dass er einer solchen Trias zu Füßen gesessen hat? Duhm konnte es, und es fällt nicht schwer, die Nachwirkung von allen dreien, auch von Ritschl, bei ihm aufzufinden. Aber das ist nur die eine Seite der Sache und schwerlich die wichtigere. Als Wellhausen auf Duhm als einen „gelehrten Mann“ angesprochen wurde, soll er gesagt haben: „‚Gelehrt‘ sei gerade nicht das rechte Wort; doch was er habe, seien die Kolleghefte Ewalds und die eigenen fünf Finger; aber das Beste nehme er aus seinen fünf Fingern!“10 Und fünf Finger, mindestens, hatte Duhm. Er gebrauchte sie und ermunterte andere, die ihren zu gebrauchen. Seine „Anmerkungen zu den Zwölf Propheten“, ein vorbildlich kurzes Buch von 120 Seiten11, gab er zum Nutzen desjenigen heraus, „der das Beste nicht von dem fremden Ausleger, sondern von der eigenen Arbeit erwartet“12. Albrecht Alt pflegte frischgebackenen Privatdozenten zu empfehlen, im ersten Kolleg die Zwölf Propheten zu behandeln und dabei außer der Biblia Hebraica und dem Lexikon möglichst nur Duhms „Anmerkungen“ zu benutzen; dort erhalte man Stoff und Anregung fürs erste genug. Über Duhm selbst ging die Rede, er habe seit Wellhausens „Prolegomena“ keine Fachliteratur mehr gelesen13. Daran war richtig, dass er äußerst selektiv verfuhr und dabei Geschmack bewies; er konnte es sich leisten, und seiner Arbeit bekam es gut. Was hatte er in seinen fünf Fingern? Bei der Lektüre seiner klassischen Schriften fällt Satz für Satz eine nicht alltägliche Klarheit, Unbefangenheit und Vielseitigkeit des Intellekts auf. Ein konservativer Kollege nannte Duhms Art „originell, keck, von keiner Pietät gegen die Überlieferung angekränkelt“14. Er hatte in dieser Beziehung viel mit Wellhausen gemein, hinter dem er auch im Spott über gewisse biblische Schriftsteller und zeitgenössische Alttestamentler nicht zurückstand. Man übersehe aber nicht, was er im Vorwort zum Jesajakommentar schrieb: „Die Polemik gegen Lagarde [der zur Zeit der Drucklegung überraschend starb] würde natürlich weniger scharf ausgefallen sein, wenn ich hätte ahnen können, daß das Buch ihm nicht zu Gesicht kommen werde.“ Was die Vielseitigkeit angeht: die Interessen der Schul- und Studentenzeit schliefen nicht ein, und neue kamen hinzu. In Göttingen konstruierte er mit seinem Nachbarn Wilhelm Lambrecht, dem Begründer einer bis heute bestehenden Fabrik für meteorologische Messtechnik, mehrere Apparate, darunter einen „Polymeter“, der mancherorts immer noch in Gebrauch ist. Sein Basler Haus baute er ohne Architekten, und als „ihm jemand einen Klavierstimmer empfehlen wollte, erwiderte er, das besorge er selbst“. Seinen Söhnen 10  A. Bertholet, DBJ 10 (1928) 46. 11  1911; vgl. ZAW 31 (1911) 1–43.81–110.161–204. 12  Vorwort. 13  Vgl. W. Baumgartner in: B. Duhm, Das Buch Jesaia 5(1968) XIII. 14  S. Oettli, TLB 25 (1902) 17.

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brachte er das Schachspiel so bei, dass sie es darin „alle drei zur Meisterschaft gebracht haben“15. Und „Paul Wernle erzählte, wie sich auf gemeinsamen Spaziergängen seine ganz unglaubliche Naturverbundenheit verriet.“16 Noch berühmter und für seine Wissenschaft durchaus nicht gleichgültig war eine scheinbar entgegengesetzte Anlage, die allgemein mit seiner ostfriesischen Herkunft in Zusammenhang gebracht wurde. Er hatte einen Sinn für geheimnisvolle, anormale, irrationale Phänomene. Ein Basler Kollege druckte zu Duhms Lebzeiten ungescheut den Satz: „Duhm kennt aus eigener Erfahrung die okkulten Seiten des Seelenlebens.“17 Man erzählte sich von ihm mancherlei diesbezügliche Geschichten, bis dahin, dass er sich regelmäßig mit seiner verstorbenen Frau unterhalte18. Wie dem auch gewesen sein mag, es „lag in ihm ein stark divinatorischer Zug, und er gab sich ihm willig hin und entnahm ihm das Recht auch ausgiebigen Gebrauches der Hypothese, in der er wie die Pfadfinderin so zugleich die Verwalterin der gesammelten Schätze sah“19. Es verwundert nicht, dass ihn die ekstatische Seite des Prophetentums besonders interessierte. Allerdings verkniff sich Wellhausen nicht die Bemerkung, die er vielleicht auch schon über Ewald gemacht hatte: „Es genügt nicht, ein Prophet zu sein, um die Propheten richtig zu verstehen.“ Die Propheten waren von Anfang an der Hauptgegenstand von Duhms selbständiger Arbeit. 1871 bewarb er sich um eine Göttinger Repetentenstelle mit einer Abhandlung „De inspiratione prophetarum“20, die dieses Phänomen anhand der Frage erörterte: „Deuterojesaias (qui vocatur) utrum propheta sit an poëta.“ Natürlich kam Duhm darauf hinaus, dass Deuterojesaja, unbeschadet seiner poetischen Gaben, ein Prophet war. Eingangs versicherte er, durch Nachdenken darüber, was Offenbarung sei, auf das Problem gestoßen zu sein. Noch mehr ins Zentrum der Theologie beider Testamente begab er sich zwei Jahre später mit der Dissertation, aufgrund deren er zum Lizentiaten promoviert wurde und sich als Privatdozent (übrigens für Altes und Neues Testament!) habilitierte: „Pauli Apostoli de Judaeorum religione judicia exposita et dijudicata.“ Die Arbeit, nach Ritschls Urteil21 der „Beweis großer Gaben bei dem Verf.“, endet22 mit dem παρεισῆλϑεν von Röm 5,20, das ein halbes Jahrzehnt später Wellhausen dem dritten Teil seiner „Prolegomena“ voransetzen sollte, womit er allerdings ausdrücklich nicht an Duhm, sondern über diesen hinweg an Vatke anknüpfte23. Es handelt sich um Variationen des gleichen, nicht erst 15  C.A. Bernoulli, National-Zeitung 9.10.1927. 16  Baumgartner a.a.O. XI. 17  J. Wendland, Schweizerisches Protestantenblatt 1927, 337. 18  Vgl. Baumgartner (wie Anm. 16). 19  Bertholet (wie Anm. 10). 20  Gedruckt in: Festschrift Otto Kaiser, hg.v. V. Fritz u.a. (1989) 217–30. 21  Votum vom 10.1.1872, Universitätsarchiv Göttingen Theol. PA 0012. 22  A.a.O. 41. 23  J. Wellhausen, Geschichte Israels I (1878) 377.

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heute und auch nicht erst damals heiß umstrittenen Themas: welche Rolle spielt das Gesetz im Alten Testament und im antiken Israel und Judentum? Duhms Ergebnis war, dass das Gesetz in dem von Paulus verworfenen Sinn gar nicht als Bestandteil der „wahren und unverfälschten Religion Israels“ betrachtet werden müsse. Paulus habe, als er das Gesetz von Mose bis Christus reichen ließ, manches außer acht gelassen, wo es kaum eine Rolle spiele: Propheten, Psalmen, Weisheit und ältere Geschichtsschreibung oder auch die deuteronomische Gesetzgebung im Unterschied zur priesterlichen, wie sie in Exodus, Leviticus und Numeri enthalten ist. Der Name Abraham stehe über der ganzen israelitischen Religion, nicht nur der vormosaischen. Der Irrtum des Paulus erkläre sich daraus, dass er nicht Menschen, sondern Schriften vor sich gesehen habe; die Schrift aber gehöre keiner Zeit an24. Mit anderen Worten: Paulus war zu einem historischen Urteil nicht imstande; die moderne Wissenschaft kann dagegen nachweisen, dass die „mosaische“ Religion nicht nur Gesetzesreligion gewesen ist. Um dieses Thema ging es auch in Duhms dritter Arbeit, mit der er nach wiederum zwei Jahren hervortrat – und nunmehr an die größere Öffentlichkeit. Diesmal konnte er es an dem Gegenstand entwickeln, der ihm der wichtigste war, an der Prophetie. Die „Theologie der Propheten“ von 1875 gehört kaum weniger in die Geschichte der Pentateuchkritik als in die der Prophetenforschung. Duhm bejaht von vornherein die damals noch ziemlich neue, keineswegs schon durchgedrungene Spätdatierung der später sogenannten Priesterschrift: „Nichts in der That ist einfacher als die Graf’sche Hypothese: es bedurfte nur der Verlegung einer einzigen Quelle, der gewöhnlich als Grundschrift, von andern als Buch der Ursprünge, als Schrift des älteren Elohisten, des Annalisten bezeichneten Gesetzsammlung mit dürftigem, tendenziös angelegtem historischen Apparat, die wir das priesterliche Gesetz- oder Religionsbuch nennen wollen, in die nachexilische Zeit, in die Periode des Esra und Nehemia, um mit einem Schlage die ‚mosaische Periode‘ aus der Welt zu schaffen.“ Duhm wundert sich, dass die Hypothese bisher „im Ganzen theils so wenige, theils so harmlose Beachtung erfahren hat“. Denn es „liegt auf der Hand“, dass sie „eine vollständige Revolution auf dem Gebiet der alttestamentlichen Theologie und Religionsgeschichte hervorbringen muss. Indem sie die ‚mosaische Periode‘ tilgt, erweitert sie den Horizont der prophetischen Periode bis zu den Anfängen der eigentlich israelitischen Religion und fordert für das priesterliche Religionsbuch und den Judaismus neue Erklärungen.“25 Solche „Erklärungen“ gibt Duhm, nach diesem Satz nicht überraschend, aus der Prophetie. Der Titel des Buches heißt vollständig und in seinem Sinn sachgemäß: „Die Theologie 24  A.a.O. 27f.35f. Eine leicht zugängliche Quintessenz der Dissertation findet sich in Duhms Theologie der Propheten (1875) 13f. 25  Ebd. 17f.

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der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion.“ Die damit ausgedrückte These musste Widerspruch herausfordern. Er kam nicht nur von Ludwig Diestel, Ritschls alttestamentlichem Gewährsmann, der die „volkstümliche Religion“ mit ihrer kultischen und auch gesetzlichen Seite bagatellisiert fand26, in Duhms Augen aber wegen seiner abwartenden Stellung gegenüber der Grafschen Hypothese nur geringe Kompetenz haben konnte. Schwerer wog, dass auch Wellhausen urteilte: „Duhm hat die Bedeutung der Propheten gewaltig übertrieben.“ Er habe die Priester vernachlässigt, die „neben ihnen und vor ihnen bestanden“. „Ihr stetiges, auf ein Institut begründetes Wirken war gewiß im Grunde von viel bedeutenderem, nachhaltigerem Einfluß auf das Volk, als das abrupte Wort der Propheten, das doch häufig als schroffe Kritik der bestehenden Institutionen verwirrend wirken mußte und unverstanden blieb.“27 Aber Wellhausen räumte ein: „Im Uebrigen hat man Ursache dem Verf. dafür dankbar zu sein, daß er den Versuch gewagt, die einzelnen Propheten scharf auf ihre ‚theologischen‘ Physiognomien anzusehen.“28 Manches Inadäquate im allgemeinen und im besonderen schmälert das Verdienst dieses Versuches nicht. Wellhausen deutete einen Vorbehalt schon an, indem er den Begriff „theologisch“ in Anführungszeichen setzte. Das Buch hatte mit älteren „Theologien“ noch allzu sehr gemein, dass es die Propheten als Vertreter von Gedanken und Lehren zeichnete. Aber gerade hier war Duhm lernfähig. 1875 schien es ihm schon, dass die „psychologischen Factoren […] nicht immer hinlänglich in ihrer Bedeutung für die Bildung religiöser Gedanken und Vorstellungen“ gewürdigt würden; in dieser Hinsicht verdiene Ewald „das meiste Lob“29. Er selbst hat später seine damalige Zurückhaltung aufgegeben und ist dabei sowohl über Ewald als auch über eine psychologische Engführung weit hinausgekommen. Man hat sich von Zeit zu Zeit darin gefallen, ihm Befangenheit nicht nur im Entwicklungsdenken, sondern auch in der Persönlichkeitsidee des 19. Jahrhunderts anzukreiden, und dabei übersehen, welche Leistung es – bei allen Irrtümern und Überzeichnungen – gewesen ist, in den biblischen Schriften die Werke lebendiger Personen zu entdecken. Duhm hatte dafür ein größeres Charisma als alle seine Vorgänger, angefangen bei Herder; die Nachfolger haben, auch wo sie Abstriche vornahmen, auf seinen Schultern gestanden, ob sie es wussten oder nicht. Doch wir haben vorgegriffen. Duhm war 1875, wie schon die Sprache seines Buches zeigt, noch sehr mit sich im Unreinen. Vielleicht hat er anschließend eine Weile mit der Pentateuchkritik oder auch mit einer Geschichte der hebräischen Geschichtsschreibung geliebäugelt, um sich auf diesen Feldern weiter im Umkreis der Grafschen Hypothese zu betätigen. Aber dann ließ er 26  ThLZ 1 (1876) 184f. 27  JDTh 21 (1876) 157. 28  Ebd. 155. 29  Die Theologie der Propheten 341.

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dort Wellhausen den Vortritt, was zweifellos vernünftig war30. Zwischen 1875 und 1892 hat er außer seiner Basler Antrittsvorlesung nichts veröffentlicht – der Ehrgeiz, durch Artikelchen und Rezensionen eine hohe Opuszahl zu erzielen, lag ihm fern. Um so größer war das Gewicht seiner späteren Werke, um so reicher die dort eingebrachte Ernte. Nach Ausweis der Göttinger Vorlesungsverzeichnisse von 1871 bis 1889 erwarb er sich in jenen Jahren gründlich das normale Repertoire des Alttestamentlers. Kein Zufall dürfte sein, dass Jesaja (vor der Genesis) das am häufigsten von ihm ausgelegte Buch war. Besondere Interessen verraten sich in einigen Spezialkollegs: Biblische Lehre von den Engeln und Teufeln, Alttestamentliche Vorstellungen vom Dasein nach dem Tode, Paulinischer Lehrbegriff, Paulinische Eschatologie, gegen Ende auch eine vierstündige allgemeine Religionsgeschichte. Zweifellos war Duhm um 1880 längst reif für eine ordentliche Professur. Dass er sie nicht erhielt, lag nicht nur an der im Vergleich zu heute kleinen Zahl von Lehrstühlen, sondern auch an seiner persönlichen und wissenschaftlichen Haltung. Er war eigensinnig, nahm kein Blatt vor den Mund und gehörte in seinem Fach zum radikalen Flügel. 1875 war sich die Fakultät, soweit es die Akten erkennen lassen, noch einig, als sie für den wohl ziemlich Mittellosen ein „Privatdozentenstipendium“ beantragte; aufgrund eines sehr differenzierten Gutachtens von Lagarde über die „Theologie der Propheten“31 bewilligte der Minister 1200 Mark jährlich auf zwei Jahre. Als nach diesen zwei Jahren – Theodor Zahn war als Ordinarius nach Kiel gegangen – die Ernennung zum außerordentlichen Professor auf der Tagesordnung stand, gab es unter den Kollegen eine längere Auseinandersetzung, in der schließlich Ritschl zugunsten Duhms obsiegte; der Erfolg war außer dem Titel ein jährliches festes Gehalt von 2000 Mark32. Die nächste akademische Anerkennung ließ lange auf sich warten; sie erfolgte, indem 1885 die Basler Theologische Fakultät Duhm durch ihren Dekan Smend zum Ehrendoktor promovierte. In Basel kam er endlich auch zu seinem Ordinariat, 1889, als Nachfolger Smends, der den 1888 verstorbenen Bertheau in Göttingen ersetzte. Beim Abschied aus Göttingen dachte Duhm an „die Schatten, die hier für mich umgehen, die Schatten von Glück und Unglück“33. Er musste allein mit drei Söhnen umziehen, seine Frau Helene, die Lehrerstochter aus Bingum, war 1884 gestorben. In Basel wurde er heimisch, soweit das ein von draußen Kommender, der seine landsmannschaftliche Eigenart nicht aufgab, in diesem geprägten Gemeinwesen nur irgend werden konnte; auch die beiden großen Vorgänger im Fach waren „Einwanderer“ gewesen, Buxtorf aus Westfalen, de Wette aus Thüringen. Duhm baute noch im ersten Jahr sein Haus, rheinabwärts in der 30  Vgl. ebd. 18f. und Wellhausens Brief an Dillmann vom 20.4.1876 (Briefe, 2013, 34). 31  Konzept in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Lagarde. 32  Universitätsarchiv Theol. PA 0012; Kuratorialakte 4 II b 76. 33  Brief an R. Smend vom 2.2.1889.

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Nähe des St. Johannstors, dort wo für den Blick von der Münsterpfalz gegen das Elsass hin die Stadt endete und die freie Ebene begann – heute hat die chemische Industrie die Silhouette verdorben. An Duhms Haus war bis zu seinem Abriss im Jahr 2003 vom Rhein aus immer noch ein Relief zu sehen, das einen Baum zeigt und die Inschrift aus Hiob 14,9: „Vom Geruch des Wassers wird er grünen.“34 Die Studenten fragten: „Ob wohl Duhms rote Haare grün werden können?“ Vielleicht trauten sie ihm sogar das zu. Er war in den nächsten Jahrzehnten ihr eindrucksvollster Lehrer, und für viele von ihnen verband sich mit jenem Haus die unauslöschliche Erinnerung an den merkwürdigen Mann, der in seiner von Pfeifenrauch fast undurchsichtigen Studierstube saß und sie sehr persönlich befragte und belehrte. Die Basler unter ihnen hatten schon auf dem Gymnasium bei ihm Hebräisch gelernt. Duhm überforderte dort die Schüler nicht mit Grammatik und Vokabeln, sondern ging schnell ins Alte Testament hinein und machte dessen Lektüre so spannend, dass auch viele, die nicht Theologie studieren wollten, diese Stunden besuchten. Nicht als wäre ihm gleichgültig gewesen, ob jemand Hebräisch konnte! Als ihm der junge Paul Wernle über seine Berliner Studien berichtete, schrieb er zurück: „Daß Harnack auf das A. T. nicht anbeißen will, wundert mich nicht, hören Sie ihm doch einmal das qatal ab.“35 Wenn jemand im Unterricht oder im Seminar schlecht übersetzte, rief er, wie er seit seiner friesischen Kindheit gewohnt war, „wanne! wanne!“, und das wurde sein stadtbekannter Spitzname. Dem Basler Publikum, das von Jacob Burckhardt her die höchsten Ansprüche stellte, hielt er hin und wieder Vorträge über die ihm zentralen Gegenstände. „Wer diese Vorträge in der Aula gehört hat“, berichtet ein Schüler und Kollege36, „wird sie nicht vergessen können: nicht eine Spur von Pathos, kein Aufwand der Stimme; aber eine eigentümliche Stimmung wurde jedesmal in den Herzen der Zuhörer geweckt, eine Ahnung des Geheimnisses in der Religion.“ Ganz ließ ihn Göttingen nicht los. Nach seinem Abgang nach Basel folgte ihm fast auf dem Fuß ein Brief aus dem Haus Vandenhoeck & Ruprecht mit der Frage, ob er in dem neuen „Handkommentar zum Alten Testament“ das Buch Jesaja übernehmen wolle. Er antwortete37: „Es ist eigentlich eine wahre Ironie des Schicksals, einmal, daß an mich eine Einladung, einen Commentar zu schreiben, gelangt, und zweitens, daß ich große Lust habe, die Einladung anzunehmen. Bisher habe ich wohl in zahlreichen Fällen den Gebrauch eines Commentars auf alttestamentlichem Gebiet widerrathen, aber noch niemals einen Commentar außer denjenigen Ewalds empfohlen; und ich möchte wissen, was meine Studenten sagen würden, wenn sie mich selbst unter die Commentarschreiber gehen sähen, da ich doch gesagt habe, daß man durch Commentare 34  Heute ist die Inschrift im Hof des Nachfolgebaus angebracht. 35  Brief vom 30.12.1893 (Universitätsbibliothek Basel, Nachlass Wernle). 36  P. Wernle, Basler Nachrichten 10.10.1917, vgl. KBRS 1928, 159f. 37  Am 21.12.1889; der Brief befindet sich im Archiv des Verlags in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin.

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dumm wird.“ Aber er will es doch tun, weil er glaubt, „ansehnlich viel Neues und Gutes bieten zu können“, und stellt die Bedingung, „daß meine Übersetzung beigegeben wird, ohne die ich den mir nothwendig scheinenden lebendigen Eindruck der ursprünglichen Schriften nicht hervorrufen kann“. Zur Art der Kommentierung kündigt er an: „Daß ich […] etwa umschreibende Wiederholungen des Textes mit einigem salbungsvollem Brimborium geben werde, wird niemand von mir vermuthen; auch mit den sachlichen und sprachlichen, sowie literarkritischen Bemerkungen, aus denen der öde Knobelsche Commentar besteht, ist es nicht gethan, obwohl diese natürlich die erste Aufgabe bilden. Aber die Hauptsache ist, daß der Leser die fremdartigen Erscheinungen aus dem Character und der Situation des Autors und aus der innern Entwicklung der Religion heraus begreifen lernt. An eine solche Aufgabe hat bis jetzt blos Ewald gedacht, aber seine Auffassungen sind bei aller Genialität doch in der Mehrzahl veraltet, dazu oft stark subjectiv; und über seine schriftstellerische Weise, sich auszudrücken, ist eine graue Wolke ausgebreitet, die alles Characteristische verhüllt. – Sie sehen, ich bin in diesen Dingen etwas anspruchsvoll, ich möchte mich nicht vor Nichttheologen blamiren. Der Commentar sollte nicht blos Studenten der Theologie und Pastoren, sondern auch Historiker, Religionshistoriker, Culturhistoriker bedienen, die, ohne alttestamentliche Fachmänner zu sein, doch möglichst aus den Quellen schöpfen möchten.“ Zum Umfang: „Setzen Sie doch nicht zu viel an. Die Leute, die meinen, nur dicke und schwerfällige Bücher seien gründlich und gelehrt, nehmen Gott sei Dank immer mehr ab.“ Der Kommentar war in zwei Jahren fertig und wurde zusammen mit Gunkels „Genesis“ das Glanzstück der Reihe; beide sind bis heute nicht übertroffen. Um die epochemachende Bedeutung des „Jesaia“ anzudeuten, sei im Großen an die Herauslösung der Lieder vom Knecht Jahwes aus dem Deuterojesaja und an die These von einem in Kap. 56 beginnenden Tritojesaja erinnert, im Kleinen an eine Konjektur wie das taqšīrū „macht zum Verschwörer“ statt taqdīšū „haltet heilig“ in 8,13. Aus heutiger (und nicht erst heutiger) Perspektive fällt auf, dass Duhm die großen Verheißungstexte 2,2–4; 9,1–6; 11,1–8 dem Jesaja nicht absprechen mochte. Die „Hauptsache“ war ihm natürlich überall die zugleich mühevolle und souveräne Erklärung der „fremdartigen Erscheinungen aus dem Character und der Situation des Autors und aus der innern Entwicklung der Religion“. Er versuchte vor allem, „in die Persönlichkeit des Schriftstellers selber so tief wie möglich einzudringen“, was „überhaupt auf dem Gebiete der Religion die wichtigste und dankbarste Aufgabe“ sei – und dazu noch mehr „eine Pflicht gegen die alten Autoren als die Vorbedingung für unsere richtige Einsicht in die historische Entwicklung“. Eine folgenreiche Grundvoraussetzung war für Duhm dabei, „daß die Autoren, bevor nicht das Gegenteil bewiesen ist, als gute Schriftsteller angesehen werden sollen, die nicht radebrechen und stümpern, sondern richtig und vernünftig reden“38. In der 38  Vorwort zur 1. Auflage des Kommentars (1892).

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Rekonstruktion dieser richtigen und vernünftigen Rede ist Duhm zweifellos manchmal über das Ziel hinausgeschossen und in die Gefahr gekommen, nicht einen jesajanischen, sondern einen Duhmschen Text zu erklären. Aber das war in Kauf zu nehmen, wenn es galt, den Jesaja insgesamt so zum Sprechen zu bringen, wie es noch kein kritischer Exeget getan hatte. Dass Duhm dies gelungen war, ist damals schnell der beherrschende Eindruck gewesen. Zu den Reaktionen im übrigen soll er selbst das Wort haben: „Meine Recensenten haben mir viel Spaß gemacht; so viel Widersprüche auf so wenig Seiten, ein wahres Kaleidoskop. Man müßte einmal die Recensenten ein- und desselben Buches zusammensperren können mit der Aufgabe, sich zu einigen, das gäbe ein schönes Parlament. Einige Recensenten sind ganz entsetzt darüber, daß ich maccabäische Stücke im Jes. annehme, doch drücken sie sich vorsichtiger aus, als ihre Vorgänger vor 30 Jahren, als man von maccabäischen Psalmen zu reden anfing. Vor 30 Jahren galt derjenige, der sich so etwas zu Schulden kommen ließ, fast für einen schlechten Kerl, von dem man nur mit Entrüstung reden konnte, und jetzt nimmt sogar Bäthgen, das gute Kind, maccabäische Psalmen an. Diesmal wird es nicht so lange dauern, bis auch die maccabäischen Stücke im Jesaia ‚gesicherte, objective‘ Ergebnisse sein werden und die Braven erklären, sie hätten das schon lange gewußt – na, hoffentlich bin ich dann schon wieder in eine neue Ketzerei verstrickt, sonst werde ich die maccabäischen Stücke in die Zeit des Mose und Aharon verlegen müssen, nur um diesen Besten zu entkommen. Da loben sie meine Theologie der Propheten, die in den Hauptsachen für mich ganz veraltet ist, ich selbst sehe sie gar nicht mehr an.“39 Durch den „Jesaia“ hatte Duhm unversehens Geschmack am Kommentieren gewonnen. Er musste es aber, da der „Handkommentar“ besetzt war, im „Kurzen Hand-Commentar“ fortsetzen, der von seinem Berner Kollegen Marti herausgegeben wurde und bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in atemberaubend kurzer Zeit erschien. Duhm übernahm drei Bände, Hiob, Psalmen und Jeremia; sie erschienen 1897, 1899 und 1901. Die „Kürze“ verbot die Hereinnahme vollständiger und für sich lesbarer Übersetzungen in den Kommentar; erst in der zweiten Auflage der „Psalmen“ (1922) ließ sich das ändern. Duhm half sich, indem er eine eigene Reihe begann, die den Titel trug: „Die poetischen und prophetischen Bücher des Alten Testaments. Übersetzungen in den Versmaßen der Urschrift.“ Die Übersetzung der drei kommentierten Bücher kam in drei Bänden 1897, 1899 und 1903 heraus (21907), 1910 schlossen sich die Zwölf Propheten an. Die Absicht war, „die wichtigsten Quellenschriften der Alttestamentlichen Religion nach Inhalt und Form so genau wiederzugeben, wie es möglich ist“40. Wenn danach der Plan bestand, die Reihe fortzusetzen, so hat Duhm ihn aufgegeben. Was vorliegt, ist – mitsamt der Übersetzung des Jesaja im Kommentar – nach wie vor sehr nützlich, nicht nur wegen der Über39  Brief an Ruprecht vom 14.2.1894. 40  Die Zwölf Propheten (1910) III.

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setzung – die eher genau als schön sein will –, sondern auch darum, weil Duhm wie schon im Jesajakommentar durch verschiedene Schriftgrade und andere graphische Mittel Schichtungen innerhalb der Texte sichtbar macht und damit deren „perspektivische“ Lektüre ermöglicht. Das kommt vor allem dem Leser des Buches Jeremia zugute, dessen Erklärung für Duhm „eine Art Wagnis“ war, weil er sich, wie er gestand, „vor diesem Buch immer mehr gefürchtet [hatte] als vor irgend einer anderen alttestamentlichen Schrift“41. Das Ergebnis erschien einem Fachgenossen, der sich lange um Jeremia gemüht hatte und also sachverständig war, als „das Genialste, was Duhm bisher geschaffen“42. Duhm ordnete die sehr verschiedenartigen Bestandteile des unübersichtlich zusammengesetzten Buches in drei Gruppen: die Prophetie des Jeremia selbst, repräsentiert durch nur etwa 60 meist kurze Gedichte, durchweg im gleichen Rhythmus des Fünfermetrums, dann die von Baruch verfasste Geschichte Jeremias und schließlich eine sehr große Zahl von Ergänzungen, dem Stil nach meist „deuteronomistisch“, der Zeit nach meist nachexilisch, die jüngsten vom Anfang des 1. Jahrhunderts v.Chr. „Das Buch ist […] langsam gewachsen, fast wie ein unbeaufsichtigter Wald wächst und sich ausbreitet, ist geworden, wie eine Literatur wird, nicht gemacht, wie ein Buch gemacht wird; von einer methodischen Komposition, einer einheitlichen Disposition kann keine Rede sein.“43 Neben der bewundernden Aufnahme auch dieser Leistung blieben natürlich die von Duhm im Vorwort erwarteten „üblichen unterschiedlichen Entrüstungen“ nicht aus, und manche Kritik war gewiss berechtigt, so die, Duhms authentisch jeremianische Strophen seien „manchmal wie mit der Axt zurechtgehauen“44. Den meisten Anstoß erregte das Verfahren mit den für sekundär oder tertiär erklärten Stücken. Nicht nur dass Duhm – übrigens von Smend darauf gebracht45 – den berühmten Text vom Neuen Bund Jer 31,31–34 dem Propheten absprach, er behandelte ihn mit einer Geringschätzung, die fromme Gemüter tief erschreckte: „schlechter, schleppender, unpräziser Stil“, „Erguß eines Schriftgelehrten, der es für das höchste Ideal hält, daß jedermann im jüdischen Volke das Gesetz auswendig kennt und versteht, daß alle Juden Schriftgelehrte sind“, „keine Weissagung auf das Christentum“46. Obwohl Duhms Wertungen, in dieser Schärfe wenigstens, keine Nachfolge fanden und sein Gesamtbild in der nächsten Forschergeneration, wenn überhaupt, dann nur mit starken Modifikationen erneuert wurde, stellt sich seine „Ergänzungshypothese“ – heute spricht man von „Fortschreibung“ – immer mehr als der fruchtbarste Ansatz heraus, der Entstehungsgeschichte des schwierigen Buches beizukommen. 41  Das Buch Jeremia (1901) VII. 42  C.H. Cornill, ThR 6 (1903) 284. 43  Das Buch Jeremia XX. 44  Baumgartner a.a.O. VIII. 45  Das Buch Jeremia VII; s.u. 445. 46  A.a.O. 255.258.

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Karl Marti, der Herausgeber des „Kurzen Hand-Commentars“, sagte von ihm: „Duhm wandelt beinahe wie ein Zauberer durch das Alte Testament, der verborgene unbekannt gebliebene Schätze zu heben und erstarrte Gebilde zu frischem Leben zu erwecken weiß.“47 Das gilt auch für den Kommentar zu Hiob und, mit einiger Abschwächung, für den zu den Psalmen. Trotzdem ist der eine eher in der Chronique scandaleuse aufbewahrt und der andere so gut wie vergessen worden. 1896 hatte Karl Budde im Göttinger „Handkommentar“ das Buch Hiob erklärt und dabei die Elihu-Reden (Hiob 32–37) verteidigt. Duhm, der (wie übrigens auch Wellhausen) trotz Übereinstimmung in den Grundüberzeugungen Budde nicht mochte, benutzte ein Jahr später seinen eigenen Kommentar, um Budde wegen dieses Fehlgriffs gehörig den Kopf zu waschen48. Budde wollte daraufhin die weitere Mitarbeit an Martis ganzem Unternehmen aufkündigen49, und sein Lehrer, der alte Kamphausen, griff zur Feder und erklärte, Duhms „eigentümliche Bekämpfung gelehrter Gegner“ werde „wohl niemand eines gebildeten und christlichen Mannes würdig finden“50. Für einen Psalmenkommentar war, wie man nachträglich sagen kann, die Jahrhundertwende kein günstiger Zeitpunkt: Gunkels Gattungsforschung stand im Begriff, sich auch dieses Gebietes zu bemächtigen, und dadurch geriet alles, was sie ignorierte, bald ins Abseits. Aber auch davon abgesehen ging Duhms Eigenwilligkeit hier auch Wohlmeinenden oft zu weit. Immerhin: hätte man ihn gehört, hätte er doch zur Überprüfung anderer, allzu schnell verfestigter Positionen anregen können, etwa durch seine Spätdatierungen (Ps 137 galt ihm als der vielleicht älteste Psalm) oder durch sein an der Prophetie geschultes Unterscheidungsvermögen zwischen Originalem und Abgeleitetem, Konventionellem. In sein berüchtigtes Urteil über Ps 119 als „das inhaltsloseste Produkt, das jemals Papier schwarz gemacht hat“, brauchte man ja damit noch nicht einzustimmen. Hier zeigt sich die zweite Seite von Duhms Exegese, die A. S. Peake so charakterisiert hat: „Where a biblical writer is not lucky enough to please him, he may be so occupied with scolding him for his incompetence, his bad Hebrew, his slipshod style, his odious feelings, or his objectionable ideas, that he almost forgets to expound the text he has in front of him.“ Aber das andere gilt eben auch: „where he feels himself to be in contact with a great and noble spirit, gifted in utterance, fertile in ideas, rich and deep in his religious experience, then one may expect from him a singularly fresh, sympathetic, and penetrating exposition.“51 Als er die Korrekturen zur zweiten Auflage des Psalmenkommentars bei selbst für Basel ungewöhnlicher Hitze (36°) lesen musste, seufzte er: „Diese unglückseligen Psalmen; ich fürchte, sie rächen sich 47  Vgl. J. Wendland, Schweizerisches Protestantenblatt 1927, 336. 48  Vgl. Das Buch Hiob (1897) XI. 153f.158.174. 49  Vgl. Baumgartner a.a.O. XII. 50  ThR 1 (1898) 197. 51  A.S. Peake, Recollections and Appreciations (1938) 93f.

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an mir bis an mein Lebensende, weil ich etliche von ihnen so schlecht gemacht habe.“52 1906 lieferte er außerhalb der Reihen noch einen Einzelkommentar zum Buch Habakuk, das er durch die Konjektur „Kittäer“ = Griechen für „Chaldäer“ = Babylonier in 1,6 in die hellenistische Zeit versetzte, ein Einfall, der viel Beifall fand, aber spätestens durch einen erheblich älteren Habakukkommentar, nämlich den aus Qumran, widerlegt wurde: dort steht im Text eindeutig das Wort „Chaldäer“, und es wird erst in der Deutung nachträglich auf die „Kittäer“ bezogen. Duhms letztes Wort zur Prophetie war die Gesamtdarstellung, die 1916 unter dem Titel „Israels Propheten“ erschien (21922). Es lohnt sich, sie im Vergleich mit der „Theologie der Propheten“ von 1875 zu lesen. Nicht nur die literarisch-historische Kritik, sondern auch das Bild der Propheten war in diesen Jahrzehnten schärfer und genauer geworden, es hatte sich allerdings von der überkommenen theologischen Begrifflichkeit immer weiter entfernt. Im Unterschied zu dem alten Buch liest sich das neue mit Genuss. Es erörtert nicht mehr, sondern erzählt in einem beinahe werbenden Ton. Wenige Bücher können Außenstehende so gut in das Alte Testament einführen. Um Duhm kennenzulernen, lohnt es sich ebensosehr, die Basler Vorträge zu lesen, soweit er sie hat drucken lassen. Der Themenkreis und doch auch die Gesamtrichtung sei durch die Titel angedeutet: Über Ziel und Methode der theologischen Wissenschaft (Antrittsvorlesung 1889), Kosmologie und Religion (1892), Das Geheimnis in der Religion (1896), Die Entstehung des Alten Testaments (Rektoratsrede zur Einweihung der neuen Universitätsbibliothek 1896), Die Gottgeweihten in der Alttestamentlichen Religion (1905), Das kommende Reich Gottes (1910). Man sollte aus diesen Äußerungen nicht vorschnell eine Duhmsche Religionsphilosophie destillieren. So sehr alles unter sich zusammenhängt, so sehr ist es doch eine immer neue Reflexion aufgrund von Erfahrungen eines Geistes, dessen Erlebnis- und Mitteilungsfähigkeit unerschöpflich schien. Von den nicht sehr vielen privaten Zeugnissen, die sich erhalten haben, sei, auch um des Empfängers willen, ein einziges zitiert, nämlich eine Karte an Eduard Thurneysen: Basel, d. 14. Okt. 17. Lieber Herr Pfarrer! Herzlichen Dank für den Brief, den Sie mir zu meinem 70. Geburtstag geschrieben haben. Halten Sie daran fest, daß die Religion oder, wie Paulus sagt, das Evangelium eine Kraft ist. Lassen Sie mich rasch – denn ich habe so vielen zu danken – ein Wort über diese Kraft hinzufügen. Ich glaube nicht, daß die Seele an sich und ohne Weiteres un52  Brief an seinen Sohn Andreas vom 29.7.1921, in: Briefe von und nach Basel aus fünf Jahrhunderten, hrsg. v. J. Oeschger (1960) II, 30.

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sterblich ist; wäre das etwa die Seele eines Baumes oder eines Tieres? Aber sie kann es werden, wenn sie die Kraft empfängt. Wodurch empfängt sie sie? Dadurch daß ihr etwas entgegenkommt, was sie zwingt, weiter leben zu wollen, daß ihr eine Energie eingeflößt wird durch das Erblicken eines ewigen Gutes, der Vereinigung mit Gott. Die Sehnsucht nach Gott macht die Seele ewig. Die Religion giebt ihr diese Sehnsucht ein. Wer mit dieser ins Sterben geht, behauptet sich, er hat die Kraft dazu. Aber Gott muß die Seligkeit der Seele sein, ihr einziges Ziel. Mit bestem Gruß und auf Wiedersehen

Ihr B. Duhm.

Duhm ist nicht nur viel bewundert, sondern auch viel gescholten und nicht selten missverstanden worden, letzteres sogar von Gerhard v. Rad, dessen Eigenart und Wirkung der seinen nicht ganz unvergleichbar war53. Wissenschaftsgeschichtlich hat er vor allem in der Religionsgeschichtlichen Schule nachgewirkt, deren Hauptvertreter ihn zum Teil noch in Göttingen erlebt hatten. Das dort herrschende Methodenbewusstsein war ihm aber fremd, und er eignete sich allenfalls, „Ahnherr“54, nicht aber, Schulhaupt zu sein. Er blieb bis ans Ende der, der er war, unverbogen und ungebrochen. Es gab damals für Professoren noch keine Altersgrenze, und so gedachte er in ostfriesischer Gradlinigkeit seinen Lehrstuhl erst aufzugeben, wenn die Fakultät seinen Sohn Hans (der sich später als Deutscher Christ einen unrühmlichen Namen gemacht hat) als seinen Nachfolger akzeptieren würde. Noch der Achtzigjährige kündigte für das Wintersemester 1928/29 ein reiches Programm an: zwei vierstündige Vorlesungen (Jesaja und Geschichte Israels) und ein Seminar (Prophetengeschichten). Aber am 1. September 1928 ereilte ihn der Tod: auf dem Platz vor dem Spalentor überfuhr ihn ein Auto. Die erschrockene Stadtverwaltung errichtete am Unglücksort eine Verkehrsinsel, die inoffiziell noch immer „Duhm-Insel“ heißt. Sein Nachfolger wurde aus eigenem Recht Walter Baumgartner. Er schloss den Nachruf auf den großen Vorgänger: „Solange die Prophetenbücher gelesen und erklärt werden, so lange wird man auch seiner gedenken, als dessen, der zuerst und am tiefsten in die Propheten und die prophetische Religion eingeführt hat.“55

53  Vgl. G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I (41962) 126f. und dazu etwa B. Duhm, Das kommende Reich Gottes (1910) 15 oder das Zeugnis von O. Moppert, Basler Nachrichten 22.11.1957. 54  Wellhausen, Briefe (2013) 630. 55  Neue Zürcher Zeitung 5.9.1928. – Vgl. auch R. Smend, Wissende Prophetendeutung. Zum 150. Geburtstag Bernhard Duhms: ThZ 54 (1998) 289–99.

Bernhard Stade 1848–1906

Bei den Studenten hieß er „Jahwe“1, an seinem Grab nannte ihn der Rektor der Gießener Universität deren „markanteste Persönlichkeit“2. Nach allen Zeugnissen war Bernhard Stade kein einfacher, aber ein eindeutiger und ungewöhnlich eindrucksvoller Mann. Obwohl nicht ganz ein Wellhausen oder Duhm, gehörte er doch zu den Zentralfiguren der alttestamentlichen Wissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert. Sein Gießener Nachfolger Hermann Gunkel hat ihm „nächst Wellhausen“ die führende Position zugeschrieben3 – gewiss schon darum mit Recht, weil Wellhausen an solchen Positionen nichts gelegen war. Über Stades Hauptverdienst, der Begründung und Herausgabe der auf lange Zeit führenden Fachzeitschrift, vergisst man dabei leicht, dass er auch als Forscher einen klangvollen Namen hatte. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, hätte er ihn noch heute. Bernhard Wilhelm Stade wurde am 11. Mai 1848 in Arnstadt in Thüringen geboren, wo sein Vater Stadtkantor und Organist war. An seine „sonnige, am Thüringer Wald verlebte Jugend“ dachte er später gern zurück4. Von seinen „gottesfürchtigen, wiewohl nicht pietistischen Eltern schon in jungen Jahren zum Dienst am Worte bestimmt“, wurde er in der alten Lateinschule seiner Vaterstadt „streng lutherisch erzogen“. Es hätte nahegelegen, dass er im nahen Jena studiert hätte, wo er schon als Kind dem alten Karl v. Hase (1800–90) begegnet war. Aber die Familientradition der Mutter wies ihn nach Leipzig. Dort studierte er von 1867 bis 1870, mit einer Einlage in Berlin. Seine natürliche Neigung war mehr die Philologie als die Theologie, zu der ihn zunächst nur „kindliche Pietät“ bestimmt hatte. Aber Karl Friedrich August Kahnis (1814–88), ein konfessionell lutherischer, doch nicht unkritischer Dogmatiker, der durch seine offene, lautere, aufrechte Persönlichkeit ganze Generationen von Leipziger Stu1  G. Beer, RE3 24, 526. 2  E. Bostroem in: Am Grabe Bernhard Stades (1906) 6. 3  H. Gunkel, Reden und Aufsätze (1913) 3. 4  Hierzu und zum Folgenden B. Stade, Die Reorganisation der Theologischen Fakultät zu Gießen in den Jahren 1878 bis 1882 (1894) 51f. 96. Weiteres Biographische bei A. Frhr. v. Gall, ZAW 27 (1907) I–XV; Beer a.a.O. 525–28.

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denten beeinflusste, gewann ihn der Theologie. Stade blieb ihm dafür zeitlebens dankbar, obwohl er sich von Kahnis’ theologischer Position bald entfernte. Dabei ließ er sich besonders von Gustav Adolf Fricke (1822–1908) anregen, einem originellen und unabhängigen, in weite Kreise hinaus wirkenden Mann, dessen „exegetisch-dogmatischer Gesellschaft“ er jahrelang angehörte. In Berlin besuchte er Isaak August Dorners (1809–84) systematisches Seminar mit Gewinn. „In anderer Hinsicht“, hat er später berichtet, seien die Vorlesungen des Gesenius-Schülers Emil Rödiger (1801–74) für ihn „eine Erlösung“ gewesen, wohl weil hier sein philologisches Interesse angesprochen wurde – freilich aufgrund eines Standes des Wissens und der Methode, über den er bald hinausgelangen sollte. Er wehrte sich zeitlebens dagegen, einfach ein liberaler Theologe genannt zu werden; dazu sah er sich zu wenig als Parteimann und zu sehr als einen, auch gegen sich selbst, kritisch Gesonnenen. Aber zumindest eine große Nähe zum Liberalismus ist doch das Ergebnis seines Studiums gewesen. Mehr noch als der Theologie galt in diesen Jahren sein Eifer den semitischen Sprachen. Leipzig war dafür ein idealer Ort. Nach Ludolf Krehl (1825–1901), der ihn in die Semitistik einführte, wurden dort der Arabist Heinrich Leberecht Fleischer (1801–88) und der Alttestamentler Franz Delitzsch seine wichtigsten Lehrer. In Berlin trat er mit August Dillmann (1823–94) und Justus Olshausen (1800–82) in nähere Beziehung; bei Dillmann lernte er Äthiopisch. Nachdem er 1870 das erste theologische Examen bestanden hatte, setzte er diese Studien verstärkt fort, soweit ihm die Tätigkeit eines Assistenten an der Leipziger Universitätsbibliothek unter Krehl, die er seit dem Sommer 1871 versah, Zeit ließ. Ebenfalls 1871 wurde er mit einer Arbeit „Über den Ursprung der mehrlautigen Thatwörter der Ge‛ezsprache“ zum Dr. phil. promoviert, wobei ihm Dillmanns 1865 erschienenes äthiopisches Lexikon die wichtigste Grundlage bot. Dillmann und, eine besondere Ehre, Heinrich Ewald in Göttingen rezensierten die Erstlingsschrift freundlich5. 1873 folgte die Promotion zum Lizentiaten der Theologie. Die Dissertation „De Isaiae vaticiniis aethiopicis diatribe“ war unmittelbar eine Exegese dreier Stellen im Buch Jesaja (17,12–14; 18; 20), zog dafür aber ein umfangreiches, vor allem außerbiblisches Material heran. Die Endfassung war ein Kompromiss zwischen Stade und dem Referenten der Fakultät, F. Delitzsch, der dem Kandidaten offenbar theologisch nicht über den Weg traute. Der Abschluss der Promotion kam, wie Stade an Dillmann berichtete6, erst in Sicht, als die Fakultät „sich darüber Sicherheit zu verschaffen gewußt hatte, daß ich nicht damit umgehe, das Ansehn der symbolischen Bücher zu untergraben“. Am Ende der Disputation ereignete sich unversehens noch eine pathetische Szene, die zu beiden Kontrahenten in all ihrer Verschiedenheit gut passte. Delitzsch forderte Stade feierlich vor Gottes Richterstuhl, vor dem er am jüngsten Tage all sein Forschen in der Schrift werde zu verantwor5  Dillmann: LCD 1872, 143; Ewald: GGA 1871, 1377–80. 6  Brief vom 25.6.1873 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Dillmann).

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ten haben. Stade antwortete: „Ich hoffe zu Gott dort bestehen zu können, denn ich strebe bei meinem Forschen in der Schrift blos nach Wahrheit.“7 Es folgte die Habilitation, für die Stade am 24. Mai 1873 eine Probevorlesung über „Die wachsende Bedeutung der Assyriologie für die wissenschaftliche Erforschung des Alten Testaments“ hielt. Nicht nur durch die Namen seiner Lehrer, sondern auch durch eigene Arbeiten war er nunmehr aufs beste ausgewiesen. Die Erwartungen, mit denen man auf ihn blicken konnte, formulierte Dillmann in einer Besprechung der Dissertation. Danach zeigt der Verfasser „ausgebreitete Belesenheit, gründliche Kenntniß der semitischen sowohl als anderer Sprachen, besonders auch des Arabischen und seiner Literatur, sowie der neuem ägyptischen und assyrischen Forschungen, so weit sie hieher Bezug haben, und verbindet mit wissenschaftlicher Genauigkeit und Sorgfalt einen freien, durch keine Vorurtheile getrübten Blick und Wahrheitssinn; wir können uns nur freuen, eine so wohl vorbereitete Kraft in den Dienst der alttestamentlichen Exegese treten zu sehen, um so mehr, als heutzutage der philologisch gebildete Nachwuchs für dieselbe nicht gerade üppig sproßt“8. Dieser Umstand bedeutete für Stade die Chance eines baldigen Fortkommens von Leipzig, wo er sich aufgrund seiner wissenschaftlichen Haltung allein fühlte und, jedenfalls bis zu einer 1874 erfolgten Gehaltsaufbesserung, ziemlich kärglich leben musste – ganz abgesehen davon, dass die Bibliothekspflichten, nun auch noch verbunden mit der Vorlesungstätigkeit des Privatdozenten, ihn nicht zu ruhiger wissenschaftlicher Arbeit kommen ließen. Dabei hatte er ehrgeizige literarische Pläne, die er sogar in naher Zukunft ausführen zu können meinte. Zunächst handelte es sich um eine Geschichte der hebräischen Sprache und Sprachwissenschaft, von der sein Freund Emil Kautzsch einen Teil bearbeiten sollte. Das Werk, das Gesenius’ Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift von 1815 ersetzt hätte, kam leider nicht zustande; ein Stück aus den Vorarbeiten, über die Verwandtschaft zwischen dem Phönizischen und dem Hebräischen, veröffentlichte Stade 1875 in der Festschrift für Fleischer9. Im gleichen Jahr 1875 wurde er als Nachfolger von Adalbert Merx (1838– 1909), der erst seit 1873 dort lehrte und nun nach Heidelberg weiterging, auf den alttestamentlichen Lehrstuhl in Gießen berufen. Es scheint, dass Dillmann, den man damals in diesen Fragen vor anderen zu konsultieren pflegte, sich warm für ihn eingesetzt hat10. Im Berufungsvorschlag von Fakultät und Senat nahmen Carl Siegfried (1830–1903) und Bernhard Duhm, beide älter als er, den zweiten und den dritten Platz ein. Er war nun, wie er nicht ohne Stolz fest7 Ebd. 8  LCD 1874, 257. 9  Vgl. Stades Brief an L. Diestel vom 5.3.1875 (Universitätsbibliothek Tübingen Md 842– 139, 1037). 10  Stade an Dillmann 10.7.1875 (s. Anm. 6).

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stellte11, der jüngste deutsche Ordinarius. Die Fakultät, in die er eintrat, hatte eine winzige Studentenzahl, und von den drei Inhabern eines Lehrstuhls, die er vorfand, waren zwei, F. H. Hesse und E. Köllner, betagt und verbraucht, der dritte, K. Th. Keim, ein kranker Mann. Die Studenten fand Stade weniger gut vorgebildet als in Leipzig. Zuerst half er sich damit, dass er elementarer redete als gewohnt; später erhöhte er seine Anforderungen. Am neuen Ort lebte er sich schnell ein, wozu beitrug, dass er eine Gießenerin heiratete, Helene Buff. Mit den Kollegen ging es nicht lange gut. Zwar verlieh ihm die Fakultät noch im Dezember 1875 den Ehrendoktor, und auch sonst wird es an Zeichen des guten Willens auf beiden Seiten nicht gefehlt haben. Aber Stade litt zunehmend unter der Situation, einer Fakultät anzugehören, die nicht arbeitsfähig war. Er hielt es zunächst so, dass er den Kollegen aus dem Wege ging und sich auf die Wissenschaft konzentrierte. Zum September 1877 versprach er dem Verleger F. C. W. Vogel in Leipzig ein Lehrbuch der hebräischen Grammatik, eine Geschichte des Volkes Israel sollte im Rahmen der von Wilhelm Oncken herausgegebenen vielbändigen „Allgemeinen Geschichte in Einzeldarstellungen“ folgen; die in Leipzig in Angriff genommene Geschichte der hebräischen Sprache wurde auf die Zeit nach der Vollendung beider Werke verschoben. Bei alledem ließ Stade die Fragen nicht außer Acht, die damals vor allem auf der Tagesordnung seines Faches standen. Im Winter 1876/77 widmete er sich dem Pentateuch, dessen Komposition aber gerade durch Wellhausen in einer Weise neu analysiert worden war, dass Stade von einer eigenen Veröffentlichung für den Augenblick absah. Das Jahr 1878, in dem Wellhausen mit dem ersten Band seiner „Geschichte Israels“ die alttestamentliche Wissenschaft revolutionierte, sah Stade überwiegend mit anderem beschäftigt. Dieses Jahr wurde durch ihn für die Gießener Fakultät ebenso wichtig wie durch Wellhausen für sein Fach. Im Jahre 1878 fand die Krise der Fakultät ihren Höhepunkt und Abschluss. Latent war sie schon vor Stades Eintritt längst vorhanden gewesen, aber er beschleunigte ihren offenen Ausbruch und trug zu ihrer Lösung das meiste bei. Es ist angebracht, hier wenigstens eine kurze Übersicht über die Vorgänge zu geben12. Eine erste Kraftprobe gab es im Sommersemester 1877, in dem Keim sich beurlauben ließ. Er wünschte in den kirchengeschichtlichen Vorlesungen und Examina durch den Extraordinarius H. W. Weiffenbach vertreten zu werden, der auf solche Weise allmählich in die kirchengeschichtliche Professur hineinwachsen sollte. Dazu aber hielt ihn Stade nicht für geeignet, und so beantragte er, um ein Missverständnis in dieser Richtung auszuschließen, wie üblich solle einer der drei anderen Ordinarien das kirchengeschichtliche Examen übernehmen; wolle es keiner der beiden älteren, dann sei er selber dazu bereit. Als 11  Reorganisation (s. Anm. 4) 21. 12  Vgl. Reorganisation passim; auch R. Smend, Zwischen Mose und Karl Barth (2009) 158–69.

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die Kollegen sich damit nicht einverstanden zeigten, wandte er sich an die Regierung in Darmstadt; diese entschied sich für seine Auffassung, so dass er im Sommer 1877 das Examen in Kirchengeschichte abhielt. Die damit gewonnene Beziehung nach Darmstadt hat er in der Folgezeit intensiv genutzt. Er legte aber großen Wert darauf, eine Entscheidung der Regierung vom 12. April 1878 nicht nur nicht angeregt, sondern geraume Zeit vorher geradezu von ihr abgeraten zu haben, die Entscheidung nämlich, Hesse und Köllner zum 1. Oktober in den Ruhestand zu versetzen. In der sofort ausbrechenden harten Auseinandersetzung um die Nachfolge beider hatte er von vornherein eine günstige Position: er war gerade Dekan, und er genoss im Senat und bei der Regierung größere Sympathien als seine Kollegen; schließlich war er es ja auch, der mit den neu zu Berufenden würde zusammenarbeiten müssen. Er benutzte diese Position mit Energie und taktischem Geschick, vor allem aber mit dem unbeirrbaren Willen, die heruntergekommene Fakultät auf einen möglichst hohen wissenschaftlichen Rang zu heben. Gesucht wurden ein Neutestamentler als Nachfolger Hesses und ein Systematiker als Nachfolger Köllners. In beiden Fällen brachte die Fakultät nach dramatischem Hin und Her kein einheitliches Votum zustande. Die am 18. Juni 1878 ohne den protestierend abwesenden Köllner gehaltene Sitzung ergab für den neutestamentlichen Lehrstuhl ein Mehrheitsvotum Hesses und Keims, das die Namen Weiffenbach, Hermann Lüdemann und Albert Klöpper, sowie ein Minderheitsvotum Stades, das die Namen Emil Schürer (1844–1910), Adolf Harnack (1851–1930) und Hans Hinrich Wendt (1853–1928) enthielt. Für den systematischen Lehrstuhl wurde einstimmig an erster Stelle Wilhelm Bender (1845–1901) vorgeschlagen, an zweiter Stelle von der Mehrheit ein Württemberger Pfarrer Hölder, von der Minderheit – also Stade – Ferdinand Kattenbusch (1851–1935), für die dritte Stelle von der Mehrheit Bernhard Pünjer, von der Minderheit Wilhelm Herrmann (1846–1922) und Julius Kaftan (1848–1926). Die Namen sagen schon dem in der Theologiegeschichte oberflächlich Gebildeten – gerade auch, wo sie ihm nichts sagen –, was auf dem Spiele stand. Der Senat beschloss aufgrund der Fakultätsvorschläge eine neutestamentliche Liste Weiffenbach – Schürer (mit knapper Mehrheit für diese Reihenfolge und einem starken Minoritätsvotum für Schürer) und eine systematische Liste Bender – Kattenbusch – Hölder. Die Regierung berief daraufhin unter Zustimmung des Oberkonsistoriums Schürer und Bender. Schürer nahm an, Bender, erst seit 1876 Ordinarius in Bonn, lehnte ab, so dass der Ruf an Kattenbusch erging, der sogleich zusagte. Damit war die Fakultät zu Anfang des Wintersemesters 1878/79 gründlich verändert. Der Wandlungsprozess war indessen noch nicht beendet. Keim musste wegen seines immer schlechteren Gesundheitszustandes am 27. Oktober 1878 in den Ruhestand versetzt werden und starb schon am 17. November. Um seine Nachfolge brauchte nicht mehr gekämpft zu werden. Fakultät und Senat schlugen einstimmig Harnack vor, der noch um Weihnachten berufen wurde.

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Die Fakultät war damit glänzend besetzt. Ihre Ordinarien waren nicht nur jung – Schürer im Sommer 1879 35, Stade 31, Harnack 28, Kattenbusch 27 Jahre alt –, sondern auch vielversprechend, und sie bildete eine Gesinnungs- und Arbeitsgemeinschaft, wie sie in der Theologie selten ist; der praktische Theologe Johannes Gottschick (1847–1907), 1882 auf einen neu – oder richtiger wieder – errichteten Lehrstuhl berufen, fügte sich ihr gut ein. Es verwundert auf der anderen Seite nicht, dass die Vorgänge und ihr Ergebnis von heftiger Kritik begleitet waren. Aus dem Kreis der Abtretenden trug Hesse sogleich einiges unter Entstellungen in die Öffentlichkeit, und seitdem wollten die Wogen sich sehr lange nicht glätten. Noch 1893 gab der Jenaer Kirchenhistoriker Friedrich Nippold, dem nach seiner eigenen Meinung der Lehrstuhl Harnacks gebührt hätte, eine arg tendenziöse Darstellung heraus13. Stade erteilte ihm postwendend eine vernichtende Antwort mit dem Titel: „Die Reorganisation der Theologischen Fakultät zu Gießen in den Jahren 1878 bis 1882. Thatsachen, nicht Legende. Eine Streitschrift wider Nippold und Genossen.“ Er verwahrte sich darin gegen viele Unrichtigkeiten im einzelnen, vor allem aber gegen die Unterstellung von positiver wie von liberaler Seite, es habe sich damals, womöglich gar in allen Einzelheiten von dem Göttinger Meister inspiriert, um eine Parteiangelegenheit der Schule Albrecht Ritschls (1822–89) gehandelt. Stade verstand sich selbst, soviel er von Ritschl gelernt hatte, nicht als dessen Schüler, und nicht alle, deren Berufung er betrieben hatte, waren Ritschlianer. Er hatte, so durfte er guten Gewissens sagen, nichts als die wissenschaftliche Qualität im Auge gehabt. Die spöttisch und tadelnd gemeinte Bemerkung von kirchlich-konservativer Seite, man wolle es in Gießen „einmal mit einer Fakultät der reinen Wissenschaft versuchen“, nahm er als Kompliment14. Er verschwieg auch nicht, dass er 1878 mit Härte gehandelt und Wunden geschlagen hatte; anders sei das Ziel nicht zu erreichen gewesen. Dass er 1894 nicht alles preisgab, was er 1878 mit seinen Kandidaten, aber auch mit Ritschl jeweils vor seinen Aktionen mündlich und schriftlich besprochen hatte – aus erhaltenen Briefen lässt sich davon noch ein ungefähres Bild gewinnen –, war sein gutes Recht. Nicht nur die Neuberufenen, sondern ebenso sehr die Theologiestudenten, die Universität und die Regierung, aber auch die hessische Kirche hatten allen Grund, ihm für sein weitsichtiges, geschicktes und energisches Handeln dankbar zu sein, und haben das mehrfach bezeugt, vor allem aus Anlass des 25jährigen Jubiläums seiner Gießener Tätigkeit, das er auch selbst benutzte, um in seinen Dankesreden über sein Wirken, seine Auffassungen und sein Verhältnis zu den genannten Institutionen und ihrer Arbeit Rechenschaft zu geben15.

13  Die theologische Einzelschule im Verhältnis zur evangelischen Kirche III/IV. 14  Reorganisation 72. 15  B. Stade, Zur Erinnerung an den 23. Oktober 1900 (1900).

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Während des Streits um die Erneuerung seiner Fakultät las Stade die Korrekturen seiner hebräischen Grammatik, deren Druck Ostern 1878 begann und im Sommer 1879 abgeschlossen wurde. Er widmete das Buch Justus Olshausen, „dem Meister der orientalischen Wissenschaft, dem Grammatiker der hebräischen Sprache, in dankbarer Verehrung“. In der Tat hatte er von Olshausen vieles übernommen, namentlich die konsequente Heranziehung der übrigen semitischen Sprachen, voran des Arabischen, und von dort her die Zurückführung der vorhandenen hebräischen Formen auf ältere Grundformen. Nicht wenig hatte er auch von Ewald gelernt, der die Sprache als ein organisches Ganzes mit fassbaren Gesetzen beschrieb. Aber Stades Grammatik war nicht nur eine Synthese aus Olshausen und Ewald. In ihrer Präzision war sie beiden mindestens gewachsen, in der durchgehenden Kritik an Sekundärem in der traditionellen masoretischen Vokalisation enthielt sie auch in der Sache viel Eigenes. Als wichtige Einzelheit sei die damals neue, inzwischen längst Gemeingut gewordene These erwähnt, dass mehrere Gruppen schwacher Verben von Hause aus nicht drei-, sondern zweiradikalig sind und dass die Sprache sie bei der Konjugation „künstlich auf die Stufe dreier Laute“ gebracht hat16. Leider stellte Stade den zweiten Band der Grammatik, die Syntax, zurück und machte sich gleich an das nächste, noch umfangreichere Werk, die Geschichte des Volkes Israel. Der erste Band, 710 Seiten stark, erschien zunächst in Lieferungen 1881, 1884 und 1885, als ganzer 1887; er behandelte die Zeit bis zum babylonischen Exil. In den zweiten Band teilte sich Stade mit Oskar Holtzmann (1859–1934); er selber bearbeitete die „Geschichte des vorchristlichen Judenthums bis zur griechischen Zeit“, Holtzmann „Das Ende des jüdischen Staatswesens und die Entstehung des Christenthums“; dieser Band, nicht ganz so umfangreich, folgte dem ersten schon 1888. Als die erste Lieferung herauskam, die ganz überwiegend auf dem ersten Band von Wellhausens Geschichte Israels fußte, war Wellhausen erbost. Er nannte Stades Bücherschreiben leichtsinnig und schrieb eine Rezension, die mit den Sätzen begann: „Diesen beiden Heften gegenüber, welche die Geschichte des Volkes Israel bis zum Tode Davids herabführen, bin ich in der ungewöhnlichen Lage, materiell so sehr mit dem Verf. übereinzustimmen, daß ich fast eine Selbstkritik schreiben müßte, wollte ich ihn kritisieren. Nur in wenigen Punkten weicht er von mir ab.“17 In der Folgezeit gewann Wellhausen freilich auch Achtung vor Stade. Als 1894 sein zweiter Band als „Israelitische und jüdische Geschichte“ erschien, stellte er Stades umfangreiches Werk, wie nicht anders zu erwarten, sofort in den Schatten. Aber man darf es nicht nur unter diesem Gesichtspunkt sehen. Immerhin schrieb Ritschl an Stade, er habe die erste Lieferung „verschlungen“ und empfinde nun „um so stärkere Begier nach der Fortsetzung“. „Als ich nach dem 16  § 143. 17  DLZ 3 (1882) 681f. Vgl. Wellhausens Briefe an W.R. Smith vom 11.8.1881 und 18.5.1882 (Briefe, 2013, 88.103).

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Empfang des Heftes mir einen vorläufigen Geschmack von der darin befolgten Methode verschaffen wollte, hat es mich nicht losgelassen, bis ich es zu Ende gelesen habe. Dies mag Ihnen als Probe dafür dienen, daß Sie den richtigen Ton getroffen haben, zugleich aber bewähren, daß ich entschlossen bin, in Hinsicht der Alttestamentlichen Religion umzulernen, was nach Ihrer Anleitung nöthig ist, zumal ich weiß, daß Sie Ihr Fach nicht von dem Zusammenhang der theol. Gesammtbildung isoliren wollen.“18 ähnlich wird es vielen Lesern ergangen sein. Stade führt jeweils die biblische Tradition vor, kritisiert sie, ohne beim Leser hebräische Sprachkenntnisse vorauszusetzen, aber unter ausdrücklicher Heranziehung der wichtigeren modernen Bearbeitungen, und stellt aufgrund dessen den Geschichtsverlauf und die Zustände im alten Israel dar, wobei die Religion sachgemäß immer wieder in den Vordergrund tritt. Dass und wie diese Religion sich entwickelt hat – und zwar entscheidend auf das Christentum hin –, ist für Stade das eigentliche Hauptthema der Geschichte des antiken Israel. Die historischen Fragen haben ihn auch nach Vollendung der „Geschichte“ nicht losgelassen. 1897 hielt er seine Rektoratsrede über die Entstehung des Volkes Israel. Sie wurde fünfmal gedruckt und dann leider vergessen. In ihr steht z. B. unter Berufung auf die Verhältnisse bei den heutigen Beduinen und auf die 1887 ausgegrabenen Amarnabriefe zu lesen, dass die Eroberung des Westjordanlandes sich allmählich vollzog, dass die kriegerischen Ereignisse und die Inbesitznahme der Ebenen erst in ihr zweites Stadium gehörten und dass die Vorbewohner keineswegs vollständig ausgerottet oder verdrängt wurden19 – Einsichten, die man erst Albrecht Alt zuzuschreiben pflegt. Im gleichen Jahr wie die erste Lieferung der „Geschichte“ erschien, in der J. Ricker’schen Buchhandlung in Gießen (später Alfred Töpelmann), auch der erste Jahrgang der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, in ihren ersten Jahrzehnten oft einfach „Stades Zeitschrift“ genannt – und das mit Recht. Der erste Jahrgang brachte acht Beiträge des Herausgebers selbst, und wenn es dabei auch nicht blieb, so war Stade doch der wichtigste und produktivste unter allen Mitarbeitern. Der größte Teil seiner Einzelstudien findet sich in der ZAW. Aus der Fülle des von ihm, oft in Miszellenform, Beigesteuerten seien hier nur die „Beiträge zur Pentateuchkritik“ (beginnend mit „Das Kainszeichen“), die für die Kritik der Prophetenbücher bahnbrechenden Aufsätze über Micha und Deuterosacharja und last not least die Anmerkungen zu den Königsbüchern genannt, die später der wertvollen Ausgabe des hebräischen Textes der Königsbücher durch Stade und seinen Schüler Friedrich Schwally in Paul Haupts „Sacred Books of the Old Testament“ (1904) zugutekamen20. Aber natürlich war Stades Hauptleistung für die Zeitschrift die des Herausgebers. Er 18  Brief Ritschls vom 2.8.1881 (Universitätsbibliothek Gießen HS NF 138,9). 19  B. Stade, Ausgewählte akademische Reden und Abhandlungen (21907) 111–15. 20  Vgl. die Bibliographie ZAW 27 (1907) XVI–XIX.

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achtete sehr darauf, dass die ZAW nicht zu einer Parteizeitschrift wurde und nicht als solche missverstanden werden konnte. In ihr schrieben auch Kritiker, die nicht Wellhausen folgen wollten, auch Konservative, auch Katholiken und Juden; die deutsche Sprache herrschte vor, aber englische und französische Beiträge fehlten nicht. Offenkundig redigierte Stade die Beiträge sehr sorgfältig, machte auch Verbesserungsvorschläge und ließ hin und wieder eigene Zusätze folgen, die er als solche kennzeichnete. Seine Arbeit war auch die umfassende und wohlgegliederte Bibliographie am Ende jedes der –jährlich zwei – Hefte. Die Zeitschrift hinderte ihn nicht, nach der Geschichte des Volkes Israel und neben der Ausgabe der Königsbücher noch zwei Werke zu schreiben. Das erste war ein hebräisches Lexikon. Er entwarf den Plan dazu im Jahre 1882. Sein Jenaer Kollege Carl Siegfried sollte die erste, er selbst die zweite Hälfte des Alphabets bearbeiten. Da Stade zunächst noch mit der Geschichte des Volkes Israel beschäftigt war, gewann Siegfried schnell einen Vorsprung. Aber das von ihm Erarbeitete befriedigte Stade, der es erst in den Korrekturbogen kennenlernte, überhaupt nicht, und so unterwarf er es tiefgreifenden Veränderungen, während Siegfried weiterschrieb und auch schon Buchstaben einbezog, die Stade zugedacht gewesen waren. Immerhin bekam Stade von diesen späteren Teilen schon das Manuskript zu sehen, und da konnte seine Umarbeitung fundamentaler sein. Einiges blieb ihm immerhin auch noch von Anfang an zu tun übrig. Die Gesamtleistung – das Lexikon erschien 1893 bei Veit in Leipzig – ist, auch wenn man die geringere Qualität des Siegfriedschen Anteils einrechnet, erstaunlich. Charakteristisch sind das Bemühen um Vollständigkeit beim Sprachgebrauch und, soweit sinnvoll, bei den Belegen, ferner die starke Berücksichtigung der Textkritik und, bei einem Semitisten wie Stade auf den ersten Blick überraschend, das Zurücktreten von Sprachvergleichung und Etymologie; hier sollte einem namentlich in den Neubearbeitungen des Gesenius’schen Lexikons eingetretenen Wildwuchs gesteuert werden. Auf der gleichen Linie lag der prinzipielle Verzicht auf allgemeine „Grundbedeutungen“ und darauf, „die Geschichte der Bedeutungsentwickelung der einzelnen Worte durch die Reihenfolge der Bedeutungen kenntlich zu machen. Denn wir stehen dem Denken jener Zeit, in der sich diese abgespielt hat, viel zu fern, als daß ein solcher Versuch Erfolge verspräche.“21 Als Motto stellte Stade einen Satz voran, gegen den gerade in der alttestamentlichen Wissenschaft viel gesündigt worden ist: „Est quaedam etiam nesciendi ars et scientia“ (G. Hermann). Sein letztes Buch und vermutlich das, an dem ihm am meisten gelegen war, erschien im Jahr vor seinem Tode, der erste Band der „Biblischen Theologie des Alten Testaments“ im Tübinger „Grundriß der Theologischen Wissenschaften“. Hier konnte sich seine Gabe präziser Zusammenfassung und Disposition, wie er sie in der hebräischen Grammatik gezeigt hatte, noch einmal bewähren. Man hat die Einteilung des Stoffes in 147 Paragraphen geradezu eine Zerstückelung 21  Vorwort (III).

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genannt. Doch eben sie macht den Band zu einem praktischen Lehrbuch und Nachschlagewerk, zumal die großen Zusammenhänge durch eine Gliederung in Abschnitte und Kapitel und wiederum deren Unterabschnitte völlig deutlich sind. Stade unterscheidet nach Wellhausens Vorbild zwischen Israel und dem Judentum. Der erste Band behandelt „Die Religion Israels und die Entstehung des Judentums“, und zwar in zwei Abschnitten, nämlich 1. „Die Religion Israels auf vorprophetischer Stufe“, 2. „Die Umbildung der Religion Israels im Zeitalter der Prophetie“. In diesen zweiten Abschnitt gehört das Exil hinein; die Zäsur zwischen Israel und dem Judentum liegt also erst beim Wirken Esras und Nehemias, und damit schließt das Buch. Es gehört nach seinem Aufbau und in seiner Behandlung der Quellen in die Reihe der „Geschichten der israelitischen Religion“, die im Zeitalter Kuenens und Wellhausens an die Stelle der älteren „Biblischen Theologie des Alten Testaments“ getreten waren. Aber Stade erneuerte doch diesen älteren Titel, und das war für ihn nicht nur eine Äußerlichkeit. Schon längst hatte er die Forderung erhoben, die Disziplin der Biblischen Theologie sei nicht trotz, sondern gerade aufgrund der neugewonnenen Einsichten über die Geschichte der alt- und neutestamentlichen Religion mit Energie zu pflegen – so anhand eines Beispiels 1877 in der akademischen Rede „Über die alttestamentlichen Vorstellungen vom Zustand nach dem Tode“ und programmatisch 1892 in der Festrede „Über die Aufgaben der biblischen Theologie des Alten Testaments“. Besonders wichtig war ihm dabei, das Alte und das Neue Testament in das richtige Verhältnis zueinander zu setzen. Er sah sie in der herkömmlichen Theologie und ihren Restaurationen zu problemlos miteinander verbunden, in der modernen Kritik oft zu weit auseinander gerückt. Bei aller Anerkennung der Notwendigkeit und der Vorteile der Arbeitsteilung zwischen der Biblischen Theologie des Alten und der des Neuen Testaments bedauerte er doch deren „üble Folge“, „daß den Darstellern der Blick dafür getrübt worden ist, daß sie die Geschichte der Religion unter dem Alten Bunde in ihrem vollen Umfange, d. h. einschließlich der Vorstellungen des Zeitalters Christi und, wenn sich eine Biblische Theologie des NT nicht anschließt, einschließlich der Predigt Jesu darzustellen haben“22. Es ist sehr zu bedauern, dass Stade sein Programm nur halb hat durchführen können; den zweiten Band der Biblischen Theologie des Alten Testaments schrieb nach seinem Tod Alfred Bertholet, der bei aller Nähe des wissenschaftsgeschichtlichen Standortes doch seiner eigenen Konzeption folgte und sich von Stades – für die Beurteilung des Verhältnisses beider Testamente nicht ganz gleichgültiger – Sicht der messianischen Hoffnung als des „beherrschenden Mittelpunkts des Gemeindeglaubens“ mit Gründen distanzierte23.

22  Biblische Theologie des Alten Testaments I (1905) 6. 23  Biblische Theologie des Alten Testaments II (1911) 255–59 gegenüber Stade, Reden und Abhandlungen (s. Anm. 19) 73.

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Stade begriff nicht nur die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte, sondern die ganze von ihm betriebene Wissenschaft als eine theologische Aufgabe. Es fehle der alttestamentlichen Wissenschaft, so bemerkte er einmal gegen Lagarde, nicht an Philologen, sondern an Theologen24. Er selbst war sehr bewusst Theologe und schrieb der theologischen Arbeit eine entscheidende Rolle bei der ihm dringend notwendig scheinenden Erneuerung der evangelischen Kirche in Deutschland zu. Diese Dinge beschäftigten ihn so sehr, dass er sie zum Gegenstand seiner ersten Rektoratsrede machte25. Mit Leidenschaft wandte er sich, deutlich unter dem Eindruck des Kulturkampfs, immer wieder gegen den römischen Katholizismus, den er in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu allem sah, was Kirche, Volk und Staat des gegenwärtigen Deutschland brauchten. Aber auch dem Protestantismus stand er in vielen seiner Ausprägungen kritisch gegenüber. Das Heil schien ihm allein darin zu liegen, dass man an Orthodoxie und Pietismus vorbei auf die Reformation zurückgriff. Hier ist der Einfluss Ritschls mit Händen zu greifen, auch in der praktischen Nüchternheit, mit der er Möglichkeiten der Erneuerung der Kirche erwog und förderte. Wie Ritschl war er eine im Grunde unproblematische Natur. Er wusste, was falsch und was richtig war, und kämpfte mit bestem Gewissen für die Wahrheit, wie sie ihm vor Augen stand. Dabei hielt er es je länger desto sicherer mit Huttens Wort, es sei eine Freude zu leben, denn die Geister würden wieder wach26. In alledem muss er seinen Studenten ein hervorragender Lehrer gewesen sein. Er ersparte ihnen nicht die Schwierigkeiten, die die alttestamentliche Exegese nun einmal hat, aber er brachte ihnen auch zum Bewusstsein, dass sie damit etwas betrieben, was für sie als Theologen und künftige Diener der Kirche sinnvoll und notwendig war. Seinen alten und jungen Schülern, die ihn 1900 an seinem Gießener Silberjubiläum dankbar feierten, hielt er mit großem Nachdruck vier Charakteristika rechter Theologie vor: sie müsse kirchlich, christozentrisch und lutherisch sein, und sie müsse auf das Alte Testament achten27. Der letzte Punkt ist für Stades Studenten wohl nicht nur durch die Argumente, sondern auch durch das Beispiel des Lehrers eindrucksvoll geworden. Er hielt in der Regel in jedem Semester zwei Hauptvorlesungen, dazu Seminar und Proseminar, gelegentlich in Ermangelung eines Semitisten auch Übungen im Syrischen und im Arabischen. Seine Vortragsweise wird als „fesselnd, frei von jeder trockenen, doktrinären Art, oft gewürzt mit Humor und Spott“ geschildert28. Er gab sich mit den Studenten Mühe und blieb mit den meisten auch noch in Beziehung, wenn sie längst im Pfarrdienst standen. Natürlich wurden solche Beziehungen durch die kleinen Verhältnisse im damaligen Gießen begünstigt. 24  Briefentwurf Universitätsarchiv Gießen HS NF 138–63a. 25  Über die Lage der evangelischen Kirche Deutschlands (1883). 26  Vgl. B. Stade, Zur Erinnerung (s. Anm. 15) 31. 27  Ebd. 32–35. 28  A. v. Gall, ZAW 27 (1907) III.

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Man hat oft gesagt, Stade sei eigentlich für größere Dimensionen geschaffen gewesen, und er selbst scheint auch so empfunden zu haben. Vor allem litt er darunter, dass er in Gießen nur in beschränktem Maße Schüler heranziehen konnte; August v. Gall (1872–1946) und Friedrich Schwally (1863–1919) waren tüchtige Leute, setzten aber sein Werk nur auf Teilgebieten fort und gelangten nicht in den Besitz von Lehrstühlen. Während nun die drei Genossen aus der Fakultät von 1879 Gießen über kurz oder lang verließen, um an größeren Universitäten zu wirken, erging an Stade, der doch so leicht keinen Vergleich zu scheuen brauchte, kein einziger Ruf mehr. Im Jahre 1888 setzte ihn die Tübinger Fakultät einstimmig an die erste Stelle der Liste für die Nachfolge von Emil Kautzsch, aber die Regierung in Stuttgart zog ihm einen Schwaben vor, weil er ein Schwabe war29. Zehn Jahre später ließ sich ein Ruf nach Breslau auf den Lehrstuhl Rudolf Kittels nicht einmal in der Fakultät durchsetzen; Stade galt dort wie mancherorts, zu Recht oder nicht, als unverträglich, und außerdem wünschte der konservative Kittel keinen Nachfolger, dessen Art, mit dem Alten Testament umzugehen, der seinen so sehr entgegengesetzt war30. Auf die Dauer ließ Stade sich durch diese Vorgänge nicht verbittern. Er nannte es „eine der besten Einrichtungen auf Erden, daß wir für alles Gute und Schöne ein viel besseres Gedächtniß haben als für das Widerwärtige“, und mit diesem Gedanken blickte er auch auf seine Gießener Tätigkeit zurück 31. Die Universität hatte sich aus der Kümmerlichkeit zur Zeit seines Kommens zu großer Blüte entwickelt, und daran hatte die Theologische Fakultät einen wichtigen Anteil. Berufungen wie die des Jahres 1878 ließen sich nicht beliebig wiederholen, aber die Besetzung der Fakultät konnte unter maßgeblicher Mitwirkung Stades auf einer respektablen Höhe gehalten werden; bis weit über seinen Tod hinaus schrieb man der Fakultät Homogenität, wissenschaftliches Niveau und ein gutes Arbeitsklima zu. Stade ließ sich besonders die Beziehungen der Fakultät zur Kirche angelegen sein. Er stand bei der Darmstädter Kirchenleitung in hohem Ansehen und war bis 1903, vom Großherzog berufen, Mitglied der Landessynode. 1884/85 verfasste er unter Mitwirkung Schürers ein an Material und Gesichtspunkten reiches Fakultätsgutachten zur Revision der Lutherbibel, um das das Oberkonsistorium ersucht hatte32. 1895 wurde er zum Geheimen Kirchenrat ernannt. In der Universität war er zweimal, 1882/83 und 1896/97, Rektor. 1885 leitete er für kurze Zeit die Universitätsbibliothek. Seit 1894 verwaltete er als Ephorus mit Tatkraft und Erfolg das Stipendienwesen. Die Rede, die er 1905 zum drei29  Vgl. E. Kautzschs Briefe an Stade vom 9.7. und 13.10.1888 (Universitätsbibliothek Gießen HS NF 138–40). 30  Vgl. Karl Müllers Briefe an Stade vom 31.7. und 28.10.1898 (Universitätsbibliothek Gießen HS NF 138–1). 31  Zur Erinnerung (s. Anm. 15) 4f. 32  Vgl. Stades Vortragsmanuskript im Universitätsarchiv Gießen Evang. Theol. Fakultät F 1.

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hundertjährigen Jubiläum des „Gymnasium illustre“ hielt33, zeigt ihn als Kenner der hessischen und speziell der Gießener akademischen Geschichte und als eifrigen Kämpfer für die Freiheit des Glaubens und der Wissenschaft. Es verwundert nicht, dass er mit der Herausgabe der Festschrift zum Universitätsjubiläum von 1907 betraut wurde. Krankheit und Tod hinderten ihn daran, diese Arbeit abzuschließen. Noch zur Jahrhundertwende rühmte er sich, er habe kaum je wegen Krankheit seine Vorlesungen absagen müssen. Doch bald danach erkrankte er an einem schweren Gehirnleiden, das ihn den größten Teil seiner Sehkraft kostete und trotz vorübergehender Besserung nicht mehr verschwand. Den ersten Band der Biblischen Theologie des Alten Testaments konnte er nur unter Mühen fertigstellen, danach war er zu größeren Arbeiten nicht mehr in der Lage; der zweite Band der Biblischen Theologie, die zweite Auflage des hebräischen Lexikons – in ihr sollten die semitischen Parallelen zu dem Recht kommen, das die erste Auflage ihnen verweigert hatte – und die zweite Auflage der Geschichte des Volkes Israel, alle in der Planung und teilweise auch in der Ausarbeitung begonnen, mussten ungeschrieben bleiben. Immerhin brachte Stade für den Jahrgang 1906 der ZAW noch vier Beiträge zustande, der letzte von ihnen unter der Überschrift „Ein tolles Versehen“ die Korrektur eines eigenen Irrtums in der Ausgabe der Königsbücher: bis zuletzt schonte er sich selbst so wenig wie andere. Im Oktober 1906 suchte er Erholung in Locarno, doch bald musste er nach Gießen zurückkehren, wo er am 6. Dezember starb. Sein Vermächtnis hatte er fast genau ein Jahr vorher mit dem Satz Augustins ausgedrückt: „Ecce labora et noli contristari!“34

33  Einst und Jetzt. Rückblicke und Ausblicke (1905). 34  Ebd. 48.

Hermann Guthe 1849–1936

Als 2001 der monumentale „Tübinger Bibelatlas“ erschien, beendete er ein jahrzehntelanges Warten auf das Buch, das man im voraus allgemein den „neuen Guthe“ genannt hatte. Der „alte Guthe“, 1911 in erster, 1926 in zweiter Auflage erschienen, war fast ein Jahrhundert lang der „mit Abstand beste“ unter den Bibelatlanten gewesen1. Ihn hatte ein einzelner Gelehrter geschaffen, während der „neue Guthe“ das (Teil-)Ergebnis eines aufwendigen „Sonderforschungsbereichs“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist, an dem eine Vielzahl von Mitarbeitern beteiligt war. Tempora mutantur! Umso mehr haben wir Anlass, jenen Einzelnen nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen. Hermann Guthe gehörte der alttestamentlichen „Gründergeneration“ an. Er wurde am 10. Mai 1849 geboren, noch im selben Jahrzehnt wie Kautzsch (1841), Wellhausen (1844), Duhm (1847) und Stade (1849), vier Jahre vor Kittel (1853), dreizehn vor Gunkel (1862). Sein Vater war damals Pastor in Westerlinde im Braunschweigischen, wurde später Pastor in Woldwiesche und schließlich Stadtprediger und Superintendent in Königslutter. Auch der Großvater und der Urgroßvater waren Pastoren gewesen, der Großvater hatte es sogar zum Generalsuperintendenten gebracht2. Hermann Guthes Schulzeit gliederte sich in dreimal vier Jahre: Dorfschule, Unterricht bei einem Hauslehrer, Sekunda und Prima des Wolfenbüttler Gymnasiums. Am liebsten waren ihm die alten Sprachen, in die er hineinwuchs, seit ihm der Vater schon während der Dorfschulzeit die Elemente des Lateinischen beigebracht hatte. Aus dem Gymnasium berichtete er: „Ciceronis eleganter loquendi scribendique ratio et Horatii dulci poemata salsique sermones nec minus me delectabant, quam Thucydidis narrandi sublimitas, orationis elatio atque altitudo Sophoclis et Homeri.“3 Das Reifezeugnis4 1  H. Donner, Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde (1976) VII. 2 Vgl. R.-W. Freist, Die Pastoren der Braunschweigischen Evangelisch-lutherischen Landeskirche seit Einführung der Reformation (1974) 111. 3 Curriculum vitae von 1870 in den Examensakten des Landeskirchlichen Archivs Wolfenbüttel (Sign. LKA Ex 57); dies auch sonst die Quelle für das oben über die Schul- und Studienzeit Mitgeteilte. 4  Ebendort (wie auch die Abgangszeugnisse der Universitäten Göttingen und Erlangen mit den Verzeichnissen der dort belegten Vorlesungen).

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bewertete die Leistungen in den meisten Fächern mit „gut“, in der Mathematik mit „fast gut“, in der „sittlichen Aufführung“ und im Griechischen mit „sehr gut“. Im Frühjahr 1867 bezog er die Universität Göttingen, wo schon der Vater studiert hatte. Er baute sein Studium planmäßig auf. In den ersten Semestern hörte er neben den exegetischen Vorlesungen Philosophiegeschichte bei Ritter und Psychologie bei Lotze; dem einen rühmte er eine große „perspicuitas et subtilitas loquendi“ nach, von der Diktion des anderen sagte er, sie sei zwar „elegans“, ja „excellens“, aber doch auch „interdum intellectu difficilis“ gewesen. Als Leckerbissen gönnte er sich die „Geschichte der bildenden Kunst bei den Griechen und Römern“, die Ernst Curtius vortrug. Zwiespältig war sein Urteil über Bertheau, bei dem er Genesis und Psalmen hörte: auch für den Anfänger leicht verständlich, aber im Vortrag arg monoton und in der Sache mehr auf die Autorität anderer Gelehrter als auf die der Offenbarung gestützt. Neues Testament hörte er bei den Ordinarien Ritschl und Wiesinger und dem Privatdozenten Theodor Zahn. Über Zahn schweigt sich der Lebenslauf leider aus, über Wiesinger bemerkt er vielsagend: „mea sententia scribendi ratio huius viri superat dicendi rationem“, Ritschl dagegen weiß er nicht genug zu rühmen: „omnes theologiae professores Goettingenses longe superat“, ein „vir ingenio abundans et acriter intelligens“. Guthe hörte bei Ritschl neutestamentliche Einleitung und Theologie und Dogmatik I und II und ließ sich von ihm „novo ardore in disciplinis theologicis versandi“ erfüllen. „Iam in eo eram, ut Ritschelium toto animo totaque mente secutus essem. At Deo gratias ago,“ schrieb er an die Adresse der Landeskirche, „quod non secutus sum.“ Sein Vater nämlich intervenierte und schickte ihn nach vier Göttinger Semestern für ein Jahr nach Erlangen, wo er noch Praktische Theologie studieren und vor allem wohl von den Ritschlschen Abwegen auf den Pfad einer klaren, an der Confessio Augustana orientierten lutherischen Theologie gebracht werden sollte. Wenn man dem Lebenslauf glauben darf, ging diese Rechnung auf. „Unwillig“ (invitus) verließ Hermann Guthe Göttingen, unwillig verließ er aber ein Jahr später auch Erlangen, wo neben dem Praktischen Theologen Zezschwitz Thomasius und Hofmann seine Lehrer waren, letzterer ein „vir sagacissimus, primus, ut mihi videtur, inter N.T. interpretatores hujus temporis“. Bei Zezschwitz hörte er die praktisch-theologischen Vorlesungen, aber auch „Christliche Hauptdogmen“, bei Thomasius Dogmengeschichte, bei Hofmann Alt- und neutestamentliche Theologie. Ganz versteckt erscheint daneben noch ein Kolleg ausgerechnet August Ebrards, des Vertreters der reformierten Theologie: „Geographie von Palästina“. Für das erste Examen in Wolfenbüttel, damals „Tentamen“ oder „vorläufige Prüfung“ genannt, im Mai 1870 waren eine Katechese und eine Predigt einzureichen und zu halten. Sie wurden von der Kommission so beurteilt: „Die Katechisation (über Mtth. 26,41) verfehlte hie und da das Rechte, war aber im Ganzen gut gedacht und zeugte, in munterer Frische, von katechetischem Geschick. Die Predigt (über 1 Petr. 4,8–11) war gut gedacht und dem Text wohl

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angepaßt. Der noch etwas befangene Vortrag erschwerte in Etwas das Verständniß und schwächte den Eindruck.“ Es folgten die Klausuren, in denen ein alt- und ein neutestamentlicher Text (Ps 85 und 1 Kor 3,1–15) ins Lateinische zu übersetzen und lateinisch zu erklären und drei kirchengeschichtliche Themen (Verhältnis der Kirche zum römischen Staat im 4. Jahrhundert, Abendmahlskontroversen im 9. und 11. Jahrhundert, braunschweigische Reformation) ebenfalls lateinisch abzuhandeln waren (Ergebnis: „Bene, Lat. fere bene“). Die mündliche Prüfung wurde lateinisch protokolliert und also wohl auch gehalten. Dem im positiven Fall üblichen lapidaren Gesamtergebnis „Candidat ist bestanden“ folgt in Klammern ein unübliches „verspricht Tüchtiges“. Anschließend trat der Kandidat wie viele seiner Standesgenossen eine Hauslehrerstelle an, aber wiederum unüblich in weiter Entfernung, nämlich bei einer Familie von Lilienfeld in Livland5. Von dort zunächst nach Erlangen zurückgekehrt, bewarb er sich auf den Rat seiner Kirchenleitung im Sommer 1873 um die Stelle eines Repetenten am Göttinger Theologischen Stift. Er fügte eine (nicht erhaltene) Abhandlung bei, die den Titel trug „Verba ἱλάσκεσϑαι, ἱλασμός, ἱλαστήριον quid sibi velint in Novo Testamento, quaeritur“. Ritschl als Dekan gab das Gesuch in Umlauf und bemerkte dazu: „Ueber die beigelegte Abhandlung enthalte ich mich um so mehr eines Urtheils als der Verf. hauptsächlich mit meinem Kalbe gepflügt hat, und wo er sein eigenes einspannt, er meines Erachtens nicht glücklicher verfährt als ich.“6 Ähnlich klingt das Votum Wiesingers: „Die vorgelegte Abhandlung ist nur ein schwaches Zeugniß für die Leistungsfähigkeit ihres Verfassers, da sie in der Hauptsache nur Referat und nicht eigene Forschung ist. Im Hebräischen scheint der Verfasser nicht eben bewandert.“ Aber das vorgeschriebene Kolloquium und eine Predigt in der Universitätskirche erzielten „Zufriedenheit der Fakultät“, und so wurde Guthe gemeinsam mit Ferdinand Kattenbusch in der Nachfolge Bernhard Duhms und August Dorners (später Systematiker in Königsberg) eingestellt. Seine Aufgaben waren die im Stift üblichen: kursorische Bibellektüre, Vorlesungen und Konversatorien über Themen aus allen Fächern der Theologie, Beurteilung schriftlicher Arbeiten, Betreuung der Bibliothek, wöchentliche gesellige Abende, Berichte an die Fakultät. Die Akkuratesse, mit der Guthes Berichte Semester für Semester abgefasst sind, vermittelt den Eindruck, dass er sein Amt tadellos verwaltet hat. Gleichwohl klingt das abschließende Zeugnis der Fakultät vom 22. Juni 1876 nicht überschwänglich. Immerhin teilt es mit, der Kandidat habe sich über die Erfüllung seiner Aufgaben hinaus „durch seine Privatstudien für das alttestamentliche Fach auszubilden gesucht“. Auf die Feststellung, „daß er sich sowohl durch seine Leistungen als Repetent wie durch sein persönliches Ver5  Quelle hierfür und für das Folgende sind die Akten des Göttinger Repetentenkollegiums (Universitätsarchiv Theol. SA 0056.2) für 1873–76. 6  Vgl. A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung II (1874) 157–259.

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halten durchaus die Anerkennung der theologischen Fakultät erworben hat“, folgte im Konzept die Fortsetzung: „und daß seine Gaben wie seine Kenntnisse zu der Erwartung berechtigen, daß er mit gutem Erfolge der akademischen Laufbahn sich widmen werde“; diese Fortsetzung ist von anderer (Ritschls?) Hand gestrichen worden. Guthe wollte also Alttestamentler werden, konnte dabei aber mindestens nicht auf die einhellige Unterstützung der Göttinger Fakultät rechnen. Der Grund dafür braucht kein Misstrauen gegen seine Eignung gewesen zu sein; vielleicht glaubte die Fakultät einfach, sich neben Duhm keinen zweiten Privatdozenten im Alten Testament leisten zu können. Leider wissen wir nicht, wodurch Guthe gerade an dieses Fach gekommen ist, und auch nur wenig über seine „Privatstudien“. Zweifellos hat er Duhm, seinem Vorgänger im Amt des Repetenten, nicht fern gestanden; seinen späteren Leipziger Studenten empfahl er „immer wieder dringend“ die Lektüre von Duhms „Theologie der Propheten“7. Auch Julius Wellhausen, der seit Herbst 1867 zunächst zu „Privatstudien“ und dann als Repetent in Göttingen lebte und sich auch nach seinem Weggang nach Greifswald 1872 noch oft dort aufhielt, muss er damals kennengelernt haben. Nicht auszuschließen, aber auch nicht wahrscheinlich ist eine persönliche Anregung durch Wellhausens damals schon legendären Lehrer Ewald8; als Student hatte Guthe bei ihm nichts belegt, und bei seiner Rückkehr als Repetent war Ewald längst von seinem Lehramt suspendiert und kaum noch leicht zugänglich. Dagegen steht fest, dass Guthe Semitica bei Ewalds Nachfolger Lagarde betrieben hat; mit ihm blieb er auch über die Göttinger Zeit hinaus in Verbindung. Was in Göttingen nicht gelang, gelang in Leipzig. Von dort waren gerade zwei alttestamentliche Privatdozenten wegberufen worden: B. Stade 1875 nach Gießen und W. Graf Baudissin 1876 nach Straßburg. Dem mächtigen und schwierigen Ordinarius Franz Delitzsch, der führenden Gestalt des konservativen Flügels in der damaligen alttestamentlichen Wissenschaft, war zwar alles suspekt, was aus Göttingen kam, aber Guthe hatte ja auch eine Erlanger Vergangenheit, und er reichte eine Dissertation ein, die keinen auffällig subversiven Charakter hatte und in der zweimal Duhm und zweimal Ritschl, aber fünfmal Delitzsch zitiert wurde: „De foederis notione Jeremiana commentatio theologica“. Die Untersuchung setzt, in völliger Selbständigkeit, Duhms „Theologie der Propheten“ von 1875 voraus, aber nicht entfernt die Erkenntnisse, die in dessen epochemachenden Jeremiakommentar von 1901 eingegangen sind. So betrachtet sie nur einige wenige Stücke im Buch Jeremia als nicht vom Propheten herrührend und entwickelt aus dem ganzen Buch eine Bundestheologie, deren große Nähe (maxima affinitas) zum Deuteronomium zur Annahme einer Zeitströmung, nicht aber zu literarkritischen Fragen oder

7  G. Winter, Neues Sächsisches Kirchenblatt 36 (1929) 277. 8  An sie scheint Bardtke, NDB VII (1966) 343 zu denken.

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gar Antworten führt9. Den vorangehenden Propheten wird zwar nicht gerade ein „Bundesschweigen“ zugeschrieben, wohl aber erscheint Jeremia als der, der den Begriff des Bundes als erster scharf religiös-theologisch gefasst und ins Zentrum seiner Verkündigung gestellt hat; er ist deren „Knoten“ (nodus), bei dem alles zusammenläuft und von dem her sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Volkes Israel bestimmen lassen10. Die Leipziger Fakultät promovierte Guthe aufgrund dieser Arbeit mit einem „laudabiliter“ zum Licentiaten und erteilte ihm nach einer öffentlichen Disputation am 22. Januar 1877 die venia legendi. Von den Thesen, die er gemäß damaligem Brauch aufzusetzen und zu verteidigen hatte, seien die erste und die letzte genannt: „Historia gentis israeliticae non est disciplina theologica“ und: „Religio quae dicitur naturalis nulla est.“ In dieser gab sich auch in seiner neuen Umgebung der Schüler Ritschls zu erkennen, in jener äußerte er sich programmatisch-pointiert und schwerlich ganz zur Freude Delitzschs über sein künftiges Arbeitsfeld. Hinterher berichtete er nach Göttingen: „Luthardt und Delitzsch setzten mir in der Disputation am härtesten zu. Wie ich inzwischen gehört habe, hat denn auch die Verhandlung mit diesen beiden Herren auf gewisse Studenten den Eindruck gemacht, daß ich ‚sehr negativ‘ sei! – Uebrigens kann ich die Liebenswürdigkeit der Herren Professoren, ihre Liberalität, besonders die Freundlichkeit von Delitzsch nicht genug rühmen. Auch hoffe ich, mit Letzterem ganz gut auskommen zu können.“11 Sicherheitshalber unterzog er sich anschließend noch in Wolfenbüttel dem Examen pro ministerio, bei dem ihm die Leipziger Licentiatenprüfung angerechnet wurde und er noch eine Predigt zu halten hatte, die das Prädikat „gut“ erhielt12. Den ganzen Rest seines Lebens, immerhin sechs Jahrzehnte, verbrachte er in Leipzig. Er heiratete nicht, sondern wandte seine gesamte Kraft an die Wissenschaft. Den Haushalt führte ihm in späteren Jahren seine jüngere Schwester Therese, die in kümmerlichen Verhältnissen noch den Zweiten Weltkrieg überlebte. In der Fakultät hatte er es nicht leicht. Wie es um das „Auskommen“ mit Delitzsch stand, zeigt dessen Klage wenige Semester nach Guthes Beginn: „Ein Verhältniß zu Guthe will sich nicht bilden – er ist fertig und nicht mehr im Werden.“13 Mit Delitzschs Nachfolger Frants Buhl (in Leipzig 1890–1898) ging es vielleicht besser, aber mit Rudolf Kittel (seit 1898), der auf neue, kaum weniger energische Weise die Position seines Vorvorgängers einnahm, gewiss nicht. Guthe bekam auf Schritt und Tritt zu spüren, und er scheint dafür besonders empfindlich gewesen zu sein, dass er nur Privatdozent oder (seit 1884) außer9  De foederis notione (1877) 121. 10  Ebd. 66. 11  Brief an P. de Lagarde 7.2.1877 (Nieders. Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. MS Lagarde). 12  Landeskirchliches Archiv Wolfenbüttel Sign. 174, Nr. 386. 13  Brief an W. Graf Baudissin 19.12.1878 (Briefwechsel zwischen F. Delitzsch und W.W. Graf Baudissin, hg.v. O. Eißfeldt und K.H. Rengstorf [1973]) 436.

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ordentlicher Professor war. Wiederholt war er bei der Vakanz auswärtiger Lehrstühle im Gespräch, aber einen Ruf erhielt er nie. So wurde ihm in Basel 1880 R. Smend vorgezogen, und als dieser 1889 von dort wegging, Duhm; immerhin setzten sich beim zweiten Mal Kautzsch und Socin für ihn ein, und Wellhausen, der ihn, „wegen einer gewissen Großartigkeit, nicht besonders gern“ hatte, erklärte ihn doch für „besser als Budde und Bäthgen“; von Harnack höre er, Guthe „sei ein guter Docent und wirke in Leipzig sehr heilsam“14. 1878 und 1879 bekam er Konkurrenz durch die Habilitation der Delitzsch-Schüler V. Ryssel und Ed. König, von denen der eine 1889 nach Zürich, der andere 1888 nach Rostock (und 1900 nach Bonn) berufen wurde, beide ohne ihm wissenschaftlich überlegen zu sein. Trotzdem wurde und blieb ihm Leipzig Heimat. In den Nachbarfächern traf er Gesinnungsgenossen an, von denen freilich E. Schürer und A. Harnack schon bald als Ordinarien nach Gießen gingen, aber der für ihn wichtigste, Ed. Meyer, wenigstens bis 1885 blieb und ihm darüber hinaus die Freundschaft bewahrte. Es ist vielfach bezeugt, dass Guthe bei den Studenten sehr geschätzt war. Er hatte trotz seiner niedrigeren Stellung vollen Anteil am Lehrbetrieb, hielt regelmäßig zwei Vorlesungen über die im alttestamentlichen Studium gängigen Bücher und Themen, dazu an einem Abend der Woche „privatissime, aber gratis“ eine „alttestamentliche Gesellschaft“, in Leipzig übliche Vorläuferin des obligatorischen Seminars mit vorangehendem Proseminar, das erst Kittel einführte und sich selber und seinem Assistenten vorbehielt. Aus dem ersten Semester berichtete er: „Meine Gesellschaft, in welcher ich grammatische Uebungen veranstaltet habe, hat ohne Zweifel Anklang gefunden. Ich erhielt 30 Meldungen, von denen ich die ersten 16 annahm. Zuerst habe ich eine alttestamentliche Stelle als Stoff für grammatische Erörterungen benutzt, darauf die Herren nach Diktat übersetzen lassen, seit letzter Woche ist das 1. Maccab. Buch in Behandlung genommen worden. Wenn die Uebersetzung dieses Buches für die Studenten annähernd soviel Interesse hat, als für mich, so brauchte ich für den Beifall nicht zu sorgen. Ich habe den Herren ans Herz gelegt, die Uebersetzung schriftlich zu machen und mir zur Durchsicht zu übergeben – und siehe es geht Alles, wenn man nur nicht zaghaft ist.“15 In der Folgezeit wurde in der „Gesellschaft“, immer mit schriftlichen Arbeiten, eine bunte Reihe von Gegenständen traktiert, am häufigsten Deuteronomium und messianische Weissagungen. Bei sprachlichem Schwerpunkt (Syntax, kursorische Lektüre) hieß das Unternehmen „hebräische Gesellschaft“, einmal trat an seine Stelle eine „theologische Gesellschaft“, die Schleiermachers „Einleitung in das theologische Studium“ galt16. 14  Brief an R. Smend 29.10.1888 (Briefe, 2013, 220). 15  Brief an Lagarde 12.7.1877. 16  Sommersemester 1882/83 (nach dem Vorlesungsverzeichnis); es handelte sich um die „Kurze Darstellung“.

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Sonst ging es um allgemeintheologische Fragen in den „Nachsitzungen“, die im Anschluss an die „Gesellschaft“ „in irgendeinem bestellten Zimmer bei bescheidensten leiblichen Genüssen“ gehalten wurden. „Da trat nun“, erzählt ein alter Pfarrer, der sieben Semester lang an der „Gesellschaft“ teilgenommen hatte, „das A.T. meist in den Hintergrund, und D. Guthe sprach über alle möglichen theologischen Fragen, die gerade in der Luft lagen und denen wir jungen Studenten oft ganz hilflos und urteilslos gegenüberstanden. Wilhelm Herrmanns ‚Verkehr des Christen mit Gott‘ war erschienen, Harnacks ‚Dogmengeschichte‘ im Erscheinen begriffen, der Evangelische Bund wurde gegründet, der Antisemitismus flammte damals mächtig auf, Stöckers soziale Wirksamkeit lenkte aller Augen auf sich, die von Rade begründete ‚Christliche Welt‘ sammelte einen Kreis bedeutender Schüler Ritschls und Herrmanns um sich. Über dies und vieles andere redete der Professor. […] In diesen Stunden knüpfte sich zwischen dem Professor und gar manchem Schüler ein inniges persönliches Band. Dieser liebte es aber auch sonst mit seinen Schülern persönlichen Verkehr zu pflegen. Gar mancher wurde von ihm mehr als einmal erfreut und geehrt durch eine Einladung zu gemeinsamem Spaziergang oder auch gemeinsamem Mittagessen. Er hatte aber auch ein offenes Auge dafür, wenn ein Schüler in Gefahr war, auf die schiefe Ebene zu geraten, und sagte das diesem unter vier Augen dann nachdrücklich. Alles in allem, D. Guthe war kein Professor, der nur seinen Forschungen lebt und nur in den Vorlesungen vor den Studenten erscheint, um ihnen deren Früchte darzubieten; er nahm sich Zeit für seine Schüler, er hatte Liebe zu ihnen und besaß das Geschick, auf die Bedürfnisse der jungen Geister einzugehen: das ist’s, was ihn zu einem bedeutenden akademischen Lehrer gemacht hat.“17 In Delitzschs Klage, Guthe sei „fertig und nicht mehr im Werden“, drückte sich die Enttäuschung darüber aus, dass der junge Kollege sich als Alttestamentler und Theologe nicht in die Leipziger Tradition hineinziehen ließ. Man dürfe nicht denken, schrieb Guthe am Ende seines ersten Leipziger akademischen Jahres nach Göttingen, „daß ich vor Leipziger Abgöttern das Knie gebeugt und die verworfen hätte, welchen ich in Göttingen nachfolgte“18. Aus Anlass seines 70. Geburtstags, 1919, resümierte einer seiner früheren Hörer: „Er faßte die mannigfachen Probleme der alttestamentlichen Wissenschaft so grundsätzlich an, daß Schlaglichter nach allen Seiten fielen, und so zog er die Verbindungslinien nach der gesamten Arbeit der modernen Theologie, besonders, wenn auch nicht nur, zu der Albrecht Ritschls und Wilhelm Herrmanns. So durchbrach er das Gehege, in dem die neulutherische Erneuerung der Theologie des 17. Jahrhunderts Jahrzehnte lang die sächsische Geistlichkeit gehalten hatte. Wenn heute die Sperre einer einseitig orientierten Theologie in Sachsen gefallen ist, wenn der reiche Strom der modernen Theologie sich auch über Sachsen ergossen 17  Winter (Anm. 7) 278f. 18  An Lagarde 22.2.1878.

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hat, wenn der Gesichtskreis unserer Theologen weiter und das theologische Urteil unbefangener geworden ist, so hat daran Hermann Guthe einen nicht geringen Anteil.“19 Zehn Jahre später fügte der, den wir schon kennen, hinzu: „Wenn in der sächsischen Landesgeistlichkeit nicht wie in derjenigen anderer deutscher Gegenden eine antisemitische Unterströmung vorhanden ist, die das A.T. offen oder heimlich verwirft, wenn alle sächsischen Pfarrer gern und mit innerer Freudigkeit gerade auch über alttestamentliche Texte predigen, so ist dieser Tatbestand ganz wesentlich mit eine Frucht der akademischen Wirksamkeit D. Guthes.“20 Diese Wirksamkeit ging also indirekt weit über den Hörsaal hinaus. Das tat sie aber auch direkt: er hielt Vorträge21, interessierte sich für den Religionsunterricht, schrieb in Tageszeitungen, aber auch in der „Christlichen Welt“ und im liberalen „Neuen Sächsischen Kirchenblatt“, gründete die Leipziger Ortsgruppe des Evangelischen Bundes und war jahrelang stellvertretender Vorsitzender der „Sächsischen Kirchlichen Konferenz“22. Die große Wertschätzung, die er genoss und die sich schwerlich auf die liberalen Kreise beschränkte, drückte sich darin aus, dass zum 25jährigen Jubiläum des Beginns seiner Lehrtätigkeit Freunde und Schüler eine „Hermann-GutheStiftung“ errichteten, der sogar die Inflation nicht den Garaus machen konnte: 1923 fast völlig um ihr Kapital gebracht, wurde sie zu den Geburtstagen ihres Namengebers in den Jahren 1924, 1929 und 1934 jeweils in der alten Höhe erneuert. Die Stiftung war dazu bestimmt, auf verschiedene Weise, namentlich durch Reisestipendien, der Erforschung Palästinas zu dienen. Im Blick auf seine wissenschaftliche Arbeit hätte sich Guthe nichts Besseres wünschen können. In das Zentrum dieser Arbeit war nämlich schon nach dem ersten Leipziger Semester unversehens die Erforschung Palästinas getreten23. Das geschah zunächst auf äußerlichste Weise: am 28. September 1877 wurde gleichzeitig mit der formellen Gründung des „Deutschen Vereins zur Erforschung Palästina’s“ im Rahmen der Jahresversammlung der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Wiesbaden der Licentiat Guthe mit dem Amt des verantwortlichen Redakteurs des Vereinsorgans, der „Zeitschrift des Deutschen Palaestina-Vereins“, betraut; er gehörte damit zugleich dem geschäftsführenden Ausschuss des Vereins an. Bei der Gründungsversammlung war er anscheinend nicht anwesend, aber sicherlich hatte man sich vorher seiner Bereitschaft vergewissert24. Über eine besondere wissenschaftliche Prädisposition auf seiner Seite wissen wir nichts. Hatte etwa jene Erlanger Vorlesung August Ebrards bei 19  P.G. Müller, Neues Sächsisches Kirchenblatt 26 (1919) 258f. 20  Winter (Anm. 7) 280. 21  Ein schönes Beispiel: Luther und die Bibelforschung der Gegenwart (SVG 83 [1917]). 22  Müller (Anm. 19) 259. 23  Eine kundige Übersicht aus persönlicher und sachlicher Nähe gibt P. Thomsen, ZDPV 62 (1919) 117–31. 24  Vgl. ZDPV 1 (1878) 6f., wo er im Teilnehmerverzeichnis nicht genannt ist, aber dagegen Thomsen a.a.O. 117.

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ihm eine Neigung in dieser Richtung geweckt oder schon daran angeknüpft? Ein allgemeines „Interesse für Geographie und Karte“ wurde ihm nachgesagt, und immerhin wies die Familie in dem früh verstorbenen Hannoveraner, dann Münchener Professor Hermann Guthe (1825–74) einen prominenten Geographen auf25. Dafür, dass der Palästinaverein auf Hermann den Jüngeren verfiel, dürfte dessen Ansässigkeit am Ort des Verlags Karl Baedeker gesprochen haben, der die Zeitschrift in Kommission betreute. Er selbst meldete in der ihm eigenen Nüchternheit nach Göttingen: „Ich hatte erstlich keinen Grund, das Anerbieten abzulehnen, und zweitens ist es ein gutes Mittel, mich bekannt zu machen.“26 Für einen Privatdozenten fiel sicherlich auch ins Gewicht, dass ihm ein jährliches Redakteursgehalt von 500 Reichsmark gezahlt wurde27. Die Wahl erwies sich für alle Beteiligten als glücklich. Guthe redigierte von 1878 bis 1896 die Zeitschrift und von 1897 bis 1906 die aus ihr ausgegliederten „Mittheilungen und Nachrichten des Deutschen Palaestina-Vereins“. Im Vorstand, wie der geschäftsführende Ausschuss inzwischen hieß, zog er sich 1903 auf den Posten eines „beratenden Ehrenmitglieds“ zurück, doch 1911, nach dem Tod des Gründungsvorsitzenden E. Kautzsch, war er der gegebene Mann, den Vorsitz des Vereins zu übernehmen, den er erst 1925, 75jährig, mit dem Ehrenvorsitz vertauschte; im Vorstand blieb er bis zu seinem Tod. Er verkörperte also unüberbietbar die Kontinuität des Deutschen Palästina-Vereins in diesem langen Zeitraum. Darüber hinaus war es offenkundig nicht nur eine der in Nachrufen allzu häufigen Phrasen, wenn Albrecht Alt, dem Guthes Leistungen, aber auch seine Sorgen „aus unmittelbarer Beobachtung vielleicht am besten bekannt“ waren, ihn nach seinem Tod als den würdigte, „der mehr als ein halbes Jahrhundert lang der gute Geist, der bestimmende Wille, die treibende Kraft unserer Gesellschaft gewesen ist“28. Die Pflichten, die dem frischgebackenen Privatdozenten damit aufgebürdet wurden, waren von anderer Art, aber kaum geringer als vorher die des Stiftsrepetenten, und er hat sie nicht nur gewissenhaft, sondern auch selbständig, ideenreich und initiativ erfüllt. Als Sekretär hatte er den jährlichen Rechenschaftsbericht zu erstatten und eine vielfältige Korrespondenz zu führen, bei der es galt, „die vorhandenen Kräfte zu sammeln, Abseitsstehende, deren sachkundiger Hilfe man bedurfte, heranzuziehen, Ungeeignete fernzuhalten und mit alledem die Arbeit des Vereins klar und sicher auf die wissenschaftlichen Ziele auszurichten, um die allein es den Gründern ging“29. Gleich nach der Gründung wurde auch eine „Palästinabibliothek“ eingerichtet, deren Bestände sich aus Schenkung und Tausch rekrutierten und die schnell einen großen 25  Vgl. den Hinweis bei H. Fischer ZDPV 63 (1940) 109, der auf einer Äußerung Guthes fußen dürfte. 26  An Lagarde 25.10.1878. 27  ZDPV 2 (1879) XXI. 28  A. Alt, ZDPV 59 (1936) 177, vgl. 180. 29  Alt ebd. 177f.

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Umfang annahm. Dazu kam eine vielseitige Sammlung zur Landeskunde. Das alles erforderte Räumlichkeiten, bei deren Bereitstellung die Leipziger Universität dem Extraordinarius nur wenig Entgegenkommen bewies. Auch im Blick auf sein Hauptgeschäft, die Redaktion der Zeitschrift, sprach er schon bald von „viel Sorgen und Enttäuschungen“30. Aber er wich hier wie dort den Schwierigkeiten nicht aus, und das Geschick und die Zähigkeit, mit denen er sie überwand, fanden innerhalb des Vereins hohe Anerkennung. Als Redakteur „begnügte er sich von vornherein keineswegs damit, die eingegangenen Aufsätze einfach abdrucken zu lassen, sondern suchte alle Gebiete nach Möglichkeit zu berücksichtigen, prüfte auch das Eingesandte sorgfältig und scheute sich nicht, seine abweichende Meinung gegenüber der irrigen oder wissenschaftlich anfechtbaren der Verfasser in Anmerkungen zum Ausdruck zu bringen“31. Was die „Gebiete“ angeht, entwickelte er mehrere Initiativen, so die, „unsere Kenntnis des alten Palästina durch Bearbeitung der in altjüdischen, syrischen und arabischen Schriften enthaltenen Nachrichten über dieses Land zu erweitern“32, woraufhin kein Geringerer als J. Gildemeister mit arabischen Quellen den Anfang machte33. Dies und anderes wurde aber schon bald durch die konsequente Einbeziehung der Archäologie in den Schatten gestellt, bei der Guthe zeitweise aus dem Gewand des Redakteurs in das des sehr tätigen Forschers schlüpfte. Unter den Aufgaben des Vereins nannten die Statuten „die Ansammlung von Mitteln zu selbständigen Expeditionen nach Palästina im Namen und auf Kosten der Gesellschaft“. Auch in dieser Richtung wurde Guthe schnell aktiv, und es gelang ihm, vom preußischen Kultusministerium „als Beitrag zur Begründung eines Expeditionsfonds einen Betrag von 3000 M.“ bewilligt zu bekommen und am 21. Mai 1879 vom Minister, einem Herrn v. Puttkamer, persönlich empfangen zu werden, um ihm ein Dankschreiben des geschäftsführenden Ausschusses zu überreichen. Nach dem Erscheinen der „Map of Western Palestine“ des Palestine Exploration Fund betrachtete man den Zeitpunkt als für den Beginn von Einzelforschungen besonders günstig und fasste sogleich Ausgrabungen ins Auge34, die man nach längerer Überlegung „am Ophel, dem südlichen Ausläufer des östlichen Hügels der Stadt Jerusalem,“ beginnen wollte35. Guthe wollte „vielleicht auch in Samarien“ graben36, aber es war sicher kein Unglück, dass schon äußere Umstände für diesmal eine Beschränkung auf Jerusalem geboten. Über die Monate, die er im Frühjahr und Sommer 1881 dort zubrachte, hat Guthe einen nicht nur ausführlichen, 30  An Lagarde 25.10.1878. 31  Thomsen (Anm. 23) 119. 32  ZDPV 3 (1880) VIf. 33  ZDPV 4 (1881) 85–92; 6 (1883) 1–12. 34  ZDPV 3, IIIf. 35  ZDPV 4 (1881) III. 36  Brief an Lagarde 6.6.1880.

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sondern auch farbigen, ja stellenweise dramatischen Bericht geschrieben, aus dem hervorgeht, dass er zu seinen übrigen Gaben hinzu auch Erzähltalent besaß37. Sein handgreiflicher Erfolg war die mühsame Sicherung und Aufbereitung der im Vorjahr entdeckten Siloah-Inschrift, die kein Jahrzehnt später beim Versuch ihrer widerrechtlichen Entfernung aus der Felswand zu Bruch gehen sollte38. Die emsigen Grabungsarbeiten dieser Monate galten dem SiloahTeich und den Resten der Stadtmauer(n) im vorgesehenen Gelände, das der Archäologie bis zum heutigen Tage größerer Probleme bietet als fast jede andere Stelle in Palästina. Obwohl Guthes Methoden und Ergebnisse, angefangen bei seinen Datierungsversuchen, über kurz oder lang durch die vielfältige Arbeit anderer mehr oder weniger überholt wurden, gerieten sie doch nie ganz in Vergessenheit, und schon die Tatsache, dass er der erste Deutsche war, der im heiligen Land nennenswert gegraben hatte, verlieh ihm einen Nimbus, wie ihn keiner seiner hiesigen Kollegen aufweisen konnte. Mit Grund hieß er fortan „die Seele der deutschen Palästinaforschung“39. Und er wucherte mit seinem Pfund. Damit begann er sogleich im akademischen Unterricht. Im ersten Semester nach der Rückkehr aus Jerusalem, Winter 1881/82, hielt er eine zweistündige Vorlesung über „Topographie und Geschichte Jerusalems“. Ein Jahr später folgte ihr „Das moderne Palästina, seine Bewohner, Religionen und Cultur“ und wieder nach einem Jahr eine „Geographie Palästinas“. Alle diese Vorlesungen wurden wiederholt und 1892 noch durch ein einstündiges Publikum „Das moderne Palästina und das Land der Bibel“ vervollständigt. Ein anderes „Publikum“, ebenfalls gleich nach der Rückkehr aus Jerusalem, war die Mitwirkung an dem zweibändigen Prachtwerk über Palästina und seine Nachbargebiete, das der Leipziger Ägyptologe und Romancier Georg Ebers (1837–98), laut Egon Friedell „der berühmte Erfinder eines Ägypten für höhere Töchter“40, nach einer englischen Vorlage herausgab41. Ebers setzte Guthes Namen in gleicher Größe wie seinen eigenen auf den Titel und ließ ihn das Buch vor allem in seinem ersten Band, der von Palästina und Syrien handelt, auf den neuesten Stand bringen und mit einem sehr instruktiven Anmerkungsteil versehen, während er selbst in der Hauptsache den zweiten Band besorgte. Eine Zeitlang konnte es scheinen, als verdränge Palästina bei Guthe das Alte Testament. Zwar nahm er im Frühjahr 1878 die Arbeit an einer Untersuchung auf, die etwa heißen sollte: „Die Bundesvorstellung oder die Verbindung des 37  ZDPV 5 (1882) 7–204.271–378, vgl. schon ZDPV 4 (1881) 115–19. Ausführliche Darstellung und Würdigung bei K. Bieberstein in: Palaestina exploranda, hg.v. U. Hübner (2006) 145–63. 38  Darüber berichtete Guthe in ZDPV 13 (1890) 286–88. 39  Müller (Anm. 19) 257. 40  E. Friedell, Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients ([1936] 1963) 312. 41  G. Ebers / H. Guthe, Palästina in Wort und Bild. Nebst der Sinaihalbinsel und dem Lande Gosen (1881/82, 1883).

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Rechts mit der Religion im Alten und Neuen Testament“, aber die Redakteursgeschäfte hinderten ihn an ihrer Vollendung42. Erst sieben Jahre später war es ihm „eine große Freude, nach langer Zeit einen biblisch-theologischen Stoff wieder behandeln zu können, nachdem mehrere Jahre hindurch die Arbeit um Palästina meine Kräfte in Anspruch genommen hatte, soweit ich sie nicht für meinen Unterhalt aufwenden mußte“ (was z.B. durch Unterricht an einer „Töchterschule“ geschah)43. Die Nötigung zur biblischen Theologie ergab sich daraus, dass er 1884 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde und als solcher eine Antrittsvorlesung zu halten hatte. Wie bei der Habilitation wählte er ein Prophetenthema, aber bezeichnenderweise stellte er es viel konsequenter als damals von vornherein in den Rahmen der Geschichte: „Die Reden der Propheten sind geschichtliche Dokumente von solcher Bedeutung, dass nur sehr wenige Stücke des alten Testaments einen ähnlichen Werth für sich in Anspruch nehmen können. Augenzeugen schildern uns in ihren Worten die Ereignisse und Zustände ihrer Zeit […]. Die Verknüpfung dieser Reden mit der vorhergehenden und nachfolgenden Geschichte Israels klar zu durchschauen, ist daher für ihr rechtes Verständnis die wichtigste Forderung.“44 Das Thema war diesmal Jesaja, genauer sein „Zukunftsbild“, und die Untersuchung lief darauf hinaus, dass der Prophet nacheinander zwei Zukunftsbilder gehabt habe, das erste, 735/34 v. Chr. entstanden, mit der Zentralgestalt eines kommenden Davididen (Jes 7,14–25; 9,1–6; 11,1–9), das zweite, seit 724 (Jes 28,14–22), mit dem Hauptmotiv der Errettung Jerusalems von den Assyrern. Diese Hypothese, obwohl von F. Giesebrecht modifiziert übernommen45, wurde bald mit guten Gründen bestritten46, und Guthe selbst hat sie nicht aufrechterhalten, schon weil ihm die jesajanische Herkunft der „Gedichte vom zweiten David“ (9,1–6; 11,1–9) unsicher wurde, ohne dass er in dieser Frage zu voller Klarheit kam. Er hat 1907 eine geraffte Darstellung der Wirksamkeit des Jesaja gegeben, die für längere Zeit Geltung beanspruchen konnte47, nachdem er in Kautzschs „Heiliger Schrift des Alten Testaments“ schon früher (1894) die erläuterte Übersetzung von Jes 1–35 und vier Kleinen Propheten (Hosea, Amos, Micha, Habakuk) geliefert hatte, der dann in der 3. Auflage (1910) die für das Gesamtwerk seitdem charakteristische kurze Kommentierung hinzugefügt wurde. Bei Amos hatte ihn schon Ed. Sievers an seinen „metrischen Studien“ beteiligt, wobei es Guthe umgekehrt wie Sievers „begreiflicherweise mehr auf das Sachliche als auf das Formelle ankommen mußte“48. Weitab von den Propheten 42  Brief an Lagarde 25.10.1878. 43  Briefe an Lagarde vom 6.6.1880 und 29.8.1885. 44 Guthe, Das Zukunftsbild des Jesaia. Akademische Antrittsvorlesung in erweiterter Form herausgegeben (1885) 1. 45  Beiträge zur Jesaiakritik (1890), bes. 76–84. 46  Vgl. besonders H. Hackmann, Die Zukunftserwartung des Jesaia (1893) 156–63. 47  Jesaia (RV II/10, 1907), vgl. dort 63–66. 48  Amos metrisch bearbeitet (ASGW.PH XXIII/3 [1907]) 3.

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bewährte er sich als Text- und Literarkritiker im Esra-Nehemia-Band von P. Haupts „Regenbogenbibel“49. Die Krönung seiner historischen Arbeit am Alten Testament war die „Geschichte des Volkes Israel“, die drei Auflagen erlebte (1899, 1903, 1914). R. Kittel, Autor des umfangreichen Standardwerks konservativer Richtung über den Gegenstand, urteilte, Guthes Buch sei „im Sinne Wellhausens und Stades“ geschrieben50, und das war natürlich nicht als Lob gemeint. In der Tat ging Guthe über die schon in der ersten Habilitationsthese ausgesprochene Absage an die heilsgeschichtliche Tradition hinaus in den Spuren jener beiden Vorgänger. Weder Stades „Geschichte des Volkes Israel“ (1887/88) noch Wellhausens „Israelitische und jüdische Geschichte“ (1894) waren als Lehrbücher konzipiert, verlangten also nach einer Ergänzung für den studentischen Gebrauch. Im Stil des „Grundrisses der Theologischen Wissenschaften“, in dem das Buch neben Harnacks kürzerer Dogmengeschichte, Jülichers Einleitung in das Neue Testament, Buhls Geographie des alten Palästina und Stades Theologie des Alten Testaments seinen festen Platz hatte, zerlegte Guthe den Stoff in 94 Paragraphen, die in aller Kürze detailliert und zuverlässig orientieren. Der Hinweis auf Wellhausen und Stade kennzeichnet Guthes Position durchaus noch nicht vollständig. Gerade ihnen gegenüber gewann er durch seine Vertrautheit mit dem heutigen Orient einige Selbständigkeit. So wandte er sich gegen Stades Vorstellungen von der Beheimatung gewisser sozialer und religiöser Ordnungen in der Wüste: „So wenig die Wüste die Heimath des Menschengeschlechts ist, ebensowenig sind auch irgend welche Formen des gemeinsamen menschlichen Lebens dort zu Hause. Was wir davon in der Wüste finden, sind nur Verkümmerungen, eingeschrumpfte Reste dessen, was sich in den angrenzenden Kulturländern ausgebildet hat.“51 Das musste dem „Panbabylonisten“ Hugo Winckler gefallen, der eine inhaltreiche Rezension schrieb, die insgesamt auf das Bedauern darüber hinauslief, dass Guthe sich von der „Schule“ nicht lösen könne52. Guthe äußerte sich zu den damals schwebenden Fragen von Sage, Mythos und Legende in einem Anhang zu der ziemlich dürftigen „Vorbemerkung. Zum Verständnis der Quellen“, die hauptsächlich Regeln für die Umsetzung von Genealogie in Ethnologie enthielt53. Am BabelBibel-Streit, der 1902–1905 die Gemüter bewegte, scheint er sich nicht beteiligt zu haben. Er tat Nützlicheres. 1903 erschien nicht nur die 2. Auflage der „Geschichte“, sondern auch das „Kurze Bibelwörterbuch“, das auf einen ähnlichen Benutzerkreis zielte wie der Bibelatlas. Mit seinen 768 Seiten ist es ein Meisterwerk an umfassender 49  The Books of Ezra and Nehemiah (SBOT 19 [1901]). Vgl. auch seine Bearbeitung des 3. Esra in Kautzschs Apokryphen und Pseudepigraphen (1900). 50  Kittel, Geschichte des Volkes Israel I5.6 (1923) 7. 51 111f. 52  OLZ 8 (1905) 227–41.83–303, vgl. 293. 53  In der 3. Aufl. (1914) 6 etwas relativiert.

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und präziser Information. Im Auftrag des Verlags J.  C.  B. Mohr (Paul Siebeck) begann Guthe die Arbeit daran zu Anfang der neunziger Jahre, indem er anhand der Lutherbibel die Stichwörter zusammenstellte, von denen gleich wieder ausgeschieden wurde, „was rein biblisch-theologischen Inhalts“ war; aus diesem Bereich blieben nur wenige wie Gott, Herr, Engel, Satan, Hölle, Paradies, Opfer, „theils wegen der eigenthümlich sprachlichen Fragen, die für sie in Betracht kommen, theils wegen ihres engen Zusammenhangs mit den Alterthümern und der Geschichte“54. Große Sorgfalt verwendete Guthe auf Abbildungen und Karten, als besonders nützlich erwiesen sich Artikel mit mehrsprachigen Listen von Edelsteinen, Pflanzen, Tieren und anderem. Die Qualität und die Einheitlichkeit des Werkes sicherte die kleine Gruppe der Mitarbeiter: G. Beer, H. J. Holtzmann, E. Kautzsch, C. Siegfried, A. Socin, A. Wiedemann und H. Zimmern. Guthe besorgte die Redaktion fast ohne fremde Hilfe; ein Botaniker sah die botanischen Artikel des verstorbenen Socin durch, ein Pfarrer überprüfte die Bibelstellen. Was die Artikel angeht, war Guthe selbst sein fleißigster Mitarbeiter. Er schrieb symbolischerweise den ersten, „A und O“, und danach bis „Zuph“ unzählige, vor allem die topographischen. Sie haben ihr Gegenstück in Guthes 48 erheblich umfangreicheren fast durchweg topographischen Artikeln, weithin richtigen Aufsätzen, in der Herzog-Hauckschen Realenzyklopädie von deren erstem bis zu ihrem letzten Band (Abilene in I, 1896, Zoba in XXI, 1908, besonders ausführlich Jerusalem und Palästina). Später kamen noch die dreizehn „Beiträge zur Ortskunde Palästinas“ hinzu, die, 1911 mit Aphek, Apheka beginnend, leider schon 1915 mit Naara, Neara endend, in alphabetische Reihenfolge das Material und die Probleme ausgewählter Ortslagen aufarbeiten55. Man hat diese Aufsätze insgesamt „eine Geographie des alten Palästinas“ genannt, „von der man nur bedauern kann, daß sie nicht als Sonderwerk herausgegeben wurde“56. Immerhin war es Guthe vergönnt, eine eigene Landeskunde ganz anderen Stils herauszubringen, den Band „Palästina“ in den „Monographien zur Erdkunde“ des Verlags Velhagen & Klasing in Bielefeld und Leipzig, ein ebenso übersichtliches wie reichhaltiges, durch sorgfältig ausgewählte Fotos illustriertes, sehr lesbar geschriebenes Buch, das in zwei Auflagen (1908 und 1927) weite Verbreitung fand und als Beschreibung des Landes und seiner Bewohnerschaft vor den großen Veränderungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Wert behalten hat. Noch größere Verdienste erwarb sich Guthe auf dem Gebiet der Kartographie. Schon in den ersten Bänden der Zeitschrift des Deutschen PalästinaVereins wird immer wieder deutlich, welche Sorgfalt er nicht nur als Autor, 54  Vorwort (III). Diese Beschränkung schadete allerdings dem Absatz, vgl. R. Conrad, Lexikonpolitik (2006) 306f. 55  Zuerst: MNDPV 34 (1911) 33–44, zuletzt: ZDPV 38 (1915) 41–49. 56 Thomsen (Anm. 23) 125. – Übrigens ist Guthes längster Lexikonartikel eine kurzgefasste Geschichte Israels: EB(C) II (1902) 2217–89.

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sondern auch als Redakteur und Berater an diese Seite der landeskundlichen Arbeit gewendet hat. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Karte des ganzen Palästina war die des Hauran, die auf Forschungen des Dresdener Geologen Dr. A. Stübel zurückging und an deren Ausarbeitung und Publikation Guthe aufs stärkste beteiligt war57. 1890 erschien dann die „Neue Handkarte von Palästina“, im Maßstab 1:700 000 gezeichnet von dem Leipziger Kartographen Dr. Hans Fischer unter durchgängiger Mitarbeit Guthes, der besonders für die historischen Namen, aber längst nicht nur für sie, zuständig war58; ihr folgte 1896 die große Wandkarte von Palästina im Maßstab 1:200 000, für Schule und Hochschule bestimmt, und endlich 1911 der „Bibelatlas in 20 Haupt- und 28 Nebenkarten“, der durch seinen historischen Aufbau gemäß den Resultaten der Wissenschaft Epoche machte. Generationen von Exegeten und Historikern haben im beständigen Gebrauch immer aufs neue seine Zuverlässigkeit erprobt und wenigstens von ferne die immense Arbeitsleistung geahnt, die dahinter steckte. Die größeren Werke lassen leicht übersehen, was Guthe ständig als Berichterstatter und Kritiker geleistet hat. Er war nicht nur ein fleißiger und gerechter Rezensent, sondern schrieb auch eine erstaunliche Anzahl von Artikeln, in denen er über die Forschung anderer unterrichtete und, wo nötig, Irrtum und Betrug brandmarkte. So wurden seine Leser über Trumbulls Arbeiten im Bereich von Kadesch durch ein detailliertes Referat orientiert59, über Musils ebenso ergiebige wie abenteuerliche Aufenthalte im „edomitischen“ und „moabitischen“ Gebiet durch kurze, pointierte Hinweise60. Kurz war auch die Abfertigung des vermeintlichen Fundes eines hebräischen Talents mit der Inschrift „Dreitausend Sekel. Gewicht des Königs David“. Guthes Kommentar: „Die Schriftzüge sind in Wahrheit unleserlich.“61 Eine Abhandlung von 94 Seiten galt der Frage, ob ein Deu­tero­nomium­fragment auf Leder echt oder gefälscht sei, das der Jerusalemer Antiquitätenhändler Schapira nach Leipzig brachte, um es Guthe – nicht Delitzsch! – zu zeigen. In äußerst penibler Untersuchung, an der er Ed. Meyer beteiligte, gelangte Guthe zu dem – dann fast allgemein bestätigten – Urteil, dass es sich um eine Fälschung handelte62. In einer anderen Affäre bediente er sich einer klassischen Parallele: das Unternehmen einer englischen Gruppe, die mit einer Yacht nach Haifa und von dort nach Jerusalem gefahren war, um unter dem Felsendom die Bundeslade zu finden, schilderte er in einer Mischung aus Spott und Zorn als dilettan-

57  ZDPV 12 (1889) 225–302. 58  Vgl. H. Fischer, ZDPV 13 (1890) 44–59. 59  ZDPV 8 (1885) 182–232. 60  MNDPV 9 (1903) 70–73. 61  ZDPV 17 (1894) 203. 62  Fragmente einer Lederhandschrift enthaltend Mose’s letzte Rede an die Kinder Israel mitgetheilt und geprüft (1883); vgl. S. Wagner, Franz Delitzsch (1978) 362f.

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tische Wiederholung der Argonautenfahrt, die dem goldenen Vlies gegolten hatte63. Er selbst fuhr nach 1881 noch zweimal ins heilige Land. Im Frühjahr 1904 besuchte er außer Jerusalem ausführlich die Ausgrabungen in Megiddo, deren Leiter, Dr. G. Schumacher, sich eine Woche lang „die Arbeit mit ihm teilte“64, und das Ostjordanland, wo er in Madeba die gerade vollendeten Probedrucke der farbigen Zeichnung, die der Jerusalemer Architekt P. Palmer von der einige Jahre zuvor entdeckten berühmten Mosaikkarte angefertigt hatte, mit dem Original verglich; dadurch wurde der Weg frei für deren Publikation durch Palmer und Guthe, die über viele Jahrzehnte maßgebend blieb65. Leider kam der noch für das gleiche Jahr angekündigte Kommentarband nicht zustande, sondern nur ein Aufsatz über das Stadtbild Jerusalems auf der Karte66. Ein letztes Mal hielt Guthe sich im Frühjahr 1914 im heiligen Land auf67. Der Palästinaverein rechnete damals mit der Möglichkeit neuer Ausgrabungen und entsandte seinen Vorsitzenden mit dem Auftrag, „diese Arbeiten durch eine Untersuchung der in Aussicht genommenen Gebiete und durch Verhandlungen mit den beteiligten Behörden vorzubereiten“68. Guthe prüfte „während einer dreiundzwanzigtägigen Zeltreise eine stattliche Reihe von Ortslagen“69 und machte verschiedene Pläne, deren Ausführung der Kriegsausbruch alsbald den Riegel vorschob. Während des Kriegs und danach suchte Guthe die bestehenden Verbindungen aufrechtzuerhalten. Besonders lag ihm an der Vermittlung von Kenntnissen der gegenwärtigen Verhältnisse im vorderen Orient. So berichtete er detailliert über Reisen anderer von Jerusalem nach Konstantinopel in den Jahren 1915 und 191670 oder schrieb eine instruktive Broschüre über die Hedschasbahn mit dem Ausblick auf einen deutschen Anschluss über Saloniki nach Haifa71. Unablässig beschäftigte ihn der Gedanke an die Zukunft des heiligen Landes. Er fürchtete, „eine fremde, europäische Verwaltung“ – die englische – würde ihm schlecht bekommen; man müsse „dafür sorgen, daß das Volksleben in Palästina so lange wie möglich das ehrwürdige Stück echten Orients bleibt, das zum Teil noch in die Zeiten zurückgeht, in denen die Bücher der Bibel entstanden, und uns in einzigartiger Weise ihren Inhalt veranschaulicht“72. In diesem Interesse sei es das Beste, wenn das Land „sich unter türkischer Hoheit soviel wie möglich 63  ChW 25 (1911) 685–90. 64  MNDPV 11 (1905) 2. 65  Die Mosaikkarte von Madeba I (1906); vgl. dazu H. Donner / H. Cüppers, ZDPV 83 (1967) 17f. 66  ZDPV 28 (1905) 120–30. 67  Thomsen (Anm. 23) 120 und ihm folgend Alt, ZDPV 59 (1936) 179 irrtümlich: 1912. 68  C. Steuernagel, ZDPV 38 (1915) 166. 69  Thomsen a.a.O. 120. 70  Guthe, ZDPV 40 (1917) 243–48. 71  Die Hedschasbahn von Damaskus nach Medina (1917). 72  ChW 32 (1918) 133.

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selbst“ regiere73. Schon nach seiner letzten Palästinareise, im Juni 1914, empfahl Guthe eine Neutralisierung des Landes; 1918 variierte er diese Empfehlung durch den Gedanken, „daß sich auch die türkische Regierung zu einem gemeinsamen Schritt der Mächte bereit finden ließe, Palästina öffentlich durch Vertrag und Siegel als heiliges Land zu erklären, heilig in dem besonderen rechtlichen Sinne, daß es nicht von Kriegszügen berührt und weder mittelbar noch unmittelbar zu einem Kriegsziel gemacht werden darf“74. An diesem Gedanken hielt er fest; 1927, in der Neuauflage seiner Palästina-Monographie, stellte er ihn ans Ende einer verständnisvollen Darstellung des Zionismus, in der er diesen allerdings klar von der Zukunftshoffnung des Alten Testaments unterschied. Seine große Sorge war die Kriegsgefahr, die der Gegensatz zwischen den einwandernden Juden und den eingesessenen Arabern mit sich brachte: werden die Araber, „ergrimmt über ihre kulturliche Unterlegenheit, zur Gewalt ihre Zuflucht nehmen, um ihr gutes, altes Recht zu verteidigen? Dann werden die Berge Palästinas wieder Blut trinken müssen, wie jetzt die Gefilde Syriens!“75 Noch vor der Palästina-Monographie konnte Guthe den Bibelatlas erneuern. Trotz der Ungunst der Zeit war ihm die Feststellung möglich, dass nunmehr „zum ersten Mal das ganze Gelände Palästinas […] nach wirklichen Aufnahmen gezeichnet werden konnte“76. Im einzelnen enthielt die Neuauflage zahllose Verbesserungen, ganz neu war ein Blatt (2a) mit dem Boden Jerusalems vor der Besiedlung und den Umgebungen von Sichem und Samaria. Zu einer Einzelfrage schrieb Guthe ein ausführliches „Begleitwort“, wohl seine letzte wissenschaftliche Untersuchung77. Was in den zwanziger Jahren in der Palästinawissenschaft geschah, verfolgte er mit wachem Interesse. Noch als Vorsitzender des Deutschen Palästina-Vereins begrüßte er die Institutionalisierung jüdischer Forschung in Jerusalem78, und schon früh trat der „Dr. phil. William F. Albright aus Baltimore, John Hopkins University” als Ausgräber in seinen Gesichtskreis79. Albrights deutscher Antipode Albrecht Alt wirkte in Leipzig unter Guthes Augen. Da die geplante Neuauflage der „Geschichte des Volkes Israel“ nicht zustande kam, wissen wir nicht, wie sich Guthe zu den Arbeiten stellte, mit denen Alt und dessen Schüler Martin Noth damals die Palästinawissenschaft zu einer wirklich historischen Disziplin umgestalteten. Aber wir wissen, dass Alt und Noth von dem, was „Vater Guthe“ bereitgestellt hatte, stets in großer Dankbarkeit Gebrauch machten.

73  Ebd. 147. 74  Ebd. 148. 75 Palästina (21927) 9f. unter Anspielung auf die heftigen französisch-arabischen Auseinandersetzungen im syrischen Mandatsgebiet. 76 (21926) Vorwort. 77  ZDPV 51 (1928) 67–92. 78  ZDPV 46 (1923) 223–25. 79  Ebd. 223.

Karl Budde 1850–1935

Den schönsten Nachruf auf Karl Budde schrieb nicht zufällig ein Brite, Theodore H. Robinson (1881–1964)1. Er würdigte ihn als „the last survivor of that great company of scholars who dominated Old Testament studies for nearly half a century“ 2. Einige Jahre vorher hatte Hermann Gunkel den noch Lebenden einen „Hauptvertreter der alt-Wellhausenschen Schule“ genannt3, wobei die Silbe „alt“ einen zusätzlichen Hinweis auf sachliche Überholtheit bedeutete. Heute ist wieder strittig geworden, was in unserer Wissenschaft überholt ist und was nicht, so wie es auch damals weniger eindeutig war, als man hinterher oft gemeint hat. Robinson jedenfalls charakterisierte den zwischen Budde und Gunkel liegenden Generationenbruch, den er mit seinem „fresh impulse to the study of her [sc. Israel’s] popular beliefs and ritual, especially in the period of the monarchy“ durchaus auch positiv zu würdigen wußte, nicht ohne leise Skepsis: „The newer school may from time to time be charged with allowing too much plag to imagination and with basing their conclusions on somewhat subjective reasoning. It is much easier to differ from them and to maintain an independent point of view. The work of the older men was marked by a definiteness and a precision which are possible only to those who deal with the more concrete factors in life. The problems of the newer scholarship appear to be, and perhaps are, less capable of assured and positive solutions, and the results may always be more or less hypothetical.“4 Aber Budde repräsentierte nicht nur eine wissenschaftliche Schule, sondern auch das gehobene Bürgertum des wilhelminischen Deutschland in seinen besten Möglichkeiten. Sein Vater hieß Wilhelm und war Dr. phil. und „Oberlehrer“ für Latein und Griechisch, seine Mutter hieß Ottilie und stammte als geborene Sack aus einer bekannten Theologenfamilie, die seit 1740 nacheinander drei Berliner Hof- und Domprediger gestellt hatte. Von seinen Brüdern brachte es einer, Otto, zum Direktoriumsmitglied der Kruppschen 1  ET 46 (1934/5) 298–301. 2  Ebd. 301. 3 RGG2 I (1927) 1310. 4  ET 64, 301.

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Stahlfabrik, der zweite, Hermann, zum geadelten General und Minister, der dritte, Justus, zum Direktor der Berliner Hypothekenbank. Man sieht: diese Familie konnte aus dem Vollen schöpfen. So auch und nicht zuletzt Carl Ferdinand Reinhard Budde, der Alttestamentler. Er hat mit seiner Herkunft in problemloser Harmonie gelebt und nicht nur mancherlei Nutzen aus den familiären Verbindungen gezogen, sondern, was wichtiger war, sich mit völliger Selbstverständlichkeit im kulturellen Erbe des 19. Jahrhunderts bewegt5. Seine Kindheit verbrachte er in ländlicher Umgebung auf Schloss Bensberg unweit Köln, wo sein Vater Kadetten unterrichtete und er selbst am 13. April 1850 geboren wurde. Die ersten Jahre des Gymnasiums absolvierte er in Gemeinschaft mit den Kadetten, an deren militärischen Übungen er aber nicht teilnahm. Der Unterricht durch „Secondeleutnants, Premierleutnants und Hauptleute“ war ein Drill, der heutige deutsche Pädagogen mit Entsetzen erfüllen würde, hatte aber den Erfolg, dass Budde „in allen Fächern, auf die die Kadettenanstalt besonderen Wert legte, wie Mathematik, Französisch, Geschichte, Geographie“ für die Zukunft bestens ausgerüstet wurde. Auf umgekehrte Weise lernte er Englisch, nämlich spielend im Umgang mit zwei Londoner Jungen, die zu Anfang seiner späteren Schuljahre am Gymnasium in Essen seine Pensionsgenossen waren. „Budde wrote and spoke English well, though with some slowness and hesitation“, berichtet Robinson6. Von der Akkuratesse seines geschriebenen Englisch geben noch manche Briefe und Karten Zeugnis, die sich in den Nachlässen angelsächsischer Kollegen finden. Es hat zweifellos zu seinem weltweiten Renommee beigetragen, dass er sich auch sprachlich mit völliger Geläufigkeit auf internationalem Parkett zu bewegen wusste. Als er 1867 das Essener Gymnasium 17jährig „mit einem sehr guten Abgangszeugnis“ verließ, stand ihm längst fest, dass er nach dem Vorbild mancher seiner Vorfahren, besonders seines Großvaters Budde, Pfarrers und Konsistorialrats in Düsseldorf, Theologie studieren würde; schon als Zehnjähriger war er mit dem Spitznamen „Pastor“ gerufen worden. Im Gymnasium hatte er auch schon Hebräisch zu lernen begonnen – bei einem katholischen Religionslehrer namens Anton Fischer (1840–1912), der vierzig Jahre später als Kölner Erzbischof und Kardinal auf spektakuläre Weise gegen den „Modernismus“ in der Bonner katholisch-theologischen Fakultät vorgehen sollte. Im nämlichen Bonn, aber natürlich an der evangelischen Schwesterfakultät, verbrachte Karl Budde die beiden Jahrzehnte seiner akademischen Anfangs5  Das Biographische im Folgenden nach Buddes Eintragung (vom 3.1.1882) im Album Professorum der Bonner Evangelisch-Theologischen Fakultät, hg.v. H. Faulenbach (1995) 105– 13 und nach seiner Selbstdarstellung „Erinnerungen eines Achtzigjährigen“ in: Die Taube. Familienblatt für die Mitglieder der Hofrat Sack’schen Familienstiftung 44 (Wiesbaden 1930) 923–27.940f. Wörtliche Zitate von dort gebe ich in Anführungszeichen, aber meist ohne speziellen Nachweis. 6  ET 46, 300.

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zeit. Er hatte das Glück, sogleich den Lehrer zu finden, der die Richtung seines Studiums und seines Lebens bestimmte und ihm noch über die Bonner Zeit hinaus ein treuer Mentor war, Adolf Kamphausen. Dessen Lehrer, Friedrich Bleek, war mit einer Cousine von Buddes Mutter verheiratet gewesen, und die Witwe legte den jungen Studenten alsbald dem Schüler und Famulus ihres Mannes ans Herz. Budde hörte fortan sämtliche Vorlesungen Kamphausens, schrieb alle seine Seminararbeiten bei ihm und trat zu ihm immer mehr in ein Verhältnis, wie es ähnlich schon zwischen Bleek und Kamphausen bestanden hatte. Mit beiden hatte er gemeinsam, dass auch ihm zuoberst stand, was Bleek das „exegetische Gewissen“ nannte, und für ihn galt wie für sie der Satz, den er am Sarg Karl Martis sprach: „Jede Entscheidung war ihm eine wirkliche Gewissensfrage, jede Art von Probabilismus im Grund der Seele verhaßt!“7 An den Untersuchungen eines Größeren, nämlich Abraham Kuenen, rühmte er, dass „hier kein Bindeglied fehlt und kein möglicher Schritt übergangen ist“, und aus diesem Grund empfahl er sie den Anfängern, um wissenschaftliche Methode zu lernen8. Er selbst hielt es wie Kuenen, aber damit doch auch wie „Vater“ Kamphausen und „Großvater“ Bleek, nur dass bei diesen beiden die Ausführlichkeit oft in eine unbeholfene Weitschweifigkeit ausartete. Alle vier waren und sind nichts für ungeduldige Leser. Budde hat um seine Schwäche in dieser Hinsicht gewusst und August Dillmann, den Verfasser des „Hiob“ im „Kurzgefaßten exegetischen Handbuch“, um die „Kunst, ‚kurzgefaßt‘ zu schreiben“, ausdrücklich beneidet9. Man merkt seinen Schriften ein unablässiges Bemühen an, nichts ungesagt zu lassen und alles möglichst schön zu sagen. Wie Bleek, Kamphausen und Kuenen war Budde zum Rezensenten geschaffen, zur peniblen Nachzeichnung fremder Gedankengänge, zum geduldigen Abwägen des Für und Wider, bis nach langem Hin und Her schließlich das Urteil feststeht. Auch er liebte es, aus der Besprechung womöglich nicht nur das Urteil über das Besprochene, sondern auch eine eigene Meinung zu entwickeln, so „that his reviews were real contributions to scientific study“10. In den mehr als 150 Rezensionen, die er geschrieben hat11, sieht man ihn immer ganz und intensiv bei der Sache. Seine Arbeitsweise überhaupt hat er mit den Worten charakterisiert: „Mir war es nie gegeben, große Massen des Wissens nebeneinander aufzuspeichern und mit mächtigem Gedächtnis in steter Bereitschaft 7  Professor D. Dr. Karl Marti 1855–1925. Trauerfeier in der Nydeckkirche in Bern Samstag den 25. April 1925, 28. 8 ThLZ 18 (1893) 371, wiederholt im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Kuenens Gesammelten Abhandlungen (1894) Vf. 9ThLZ 17 (1892) 398. 10  Robinson (s. Anm. 1) 299. 11  Eine Bibliographie erschien 1930 zu seinem 80. Geburtstag als BZAW 54; sie wurde nach seinem Tod von O. Eißfeldt in ZAW 53 (1935) 286–89 ergänzt. Ich empfehle die Lektüre dieser Bibliographie auch darum, weil sie zeigt, wie summarisch die vorliegende Darstellung notgedrungen verfahren muss.

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zu halten. Aber mich an gewiesener oder gewählter Stelle einzubohren, da bis auf den Grund zu gehn, aus dem Gefundenen durch Schlüsse und Verknüpfungen das Möglichste zu machen und dadurch neue Wege zu bahnen, das lag mir und schaffte mir die denkbar größte Befriedigung.“12 Ganz und intensiv bei der Sache sehen wir ihn auch außerhalb seiner Wissenschaft. Zunächst in der Musik. Budde war ein guter Pianist und vor allem ein begeisterter Sänger, dessen Bass bis ins hohe Alter eine Hauptstütze vieler weltlicher und geistlicher Chöre bildete. In Bonn, der Stadt Beethovens und Schumanns, beteiligte er sich eifrig an den Festen, die dem Andenken dieser beiden Künstler gewidmet waren, sang unter Hiller, Joachim und Brahms und wirkte bei den Uraufführungen der meisten Oratorien Max Bruchs unter der Leitung des Komponisten mit. Vor allem aber war er dabei, als in den achtziger Jahren in und um Bonn das Dreigestirn Arnold Mendelssohn (1855–1933), Friedrich Spitta (1852–1924) und Julius Smend (1857–1930) die Kirchenmusik zu erneuern unternahm und manches vergessene Alte, voran das Werk von Heinrich Schütz, zu neuem Leben brachte. Doch sein „Steckenpferd“ war nicht die Musik, sondern nach eigener Aussage die Kunst. Für sie gewann ihn schon im ersten Bonner Semester der Kunsthistoriker Anton Springer (1825–91), ein damals berühmter Mann, den Budde „den einzigen wirklich begeisternden akademischen Lehrer“ nennt, der ihm beschieden war13 – dass Kamphausen nichts Begeisterndes an sich hatte, liegt auf der Hand. „In Springers Methode feiert der Historismus des 19. Jahrhundert seinen Triumph. Alles ist begreifbar, verstehbar, beschreibbar geworden.“14 Der junge Budde erlebte hier einen positivistisch-antispekulativen und doch lebendigen Umgang mit den Gegenständen der Vergangenheit, wie er auf anderem Felde auch seine eigene Lebensarbeit ausmachen sollte. Vielleicht genoss er auch Springers „Lust an Polemiken und literarischen Fehden, das Kämpferische“, das ihm selbst nicht fern lag15. Aber Springer wirkte nicht nur im allgemeinen auf Budde ein, sondern auch mit einer speziellen Anregung, die durch die Jahrzehnte fortwirkte: er brachte ihm Ludwig Richter (1803–84) nahe, den einzigartig populären Maler und Zeichner des Biedermeier. Sobald er finanziell besser stand, 1890 in Straßburg, begann Budde Richters Werke zu sammeln, zunächst die Graphik in allen Ausgaben und Zuständen, dann aber auch, mit Unterstützung seines Essener Bruders, Originale, bis seine Sammlung die umfangreichste unter den bestehenden war. 1907 ging sie als Stiftung des Bruders in den Besitz der Stadt Essen über, wo sie über zwei Weltkriege hinweg noch heute eine Abteilung des Folkwangmuseums bildet. Mit der ihm eigenen Gründlichkeit beließ es Budde nicht beim Sammeln, sondern entwickelte sich zu einem führenden Richter-Spezialisten, publizierte kleinere und größere 12  Die Taube (s. Anm. 5) 925. Dort auch die Belege für das Folgende. 13  Ebd. 924. 14  W. Waetzoldt, Deutsche Kunsthistoriker 3(1986) II, 128. 15  Ebd. 107.

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Arbeiten über den Maler (1922 gesammelt unter dem Titel „Ludwig Richter, Altes und Neues“) und gab vor allem (ebenfalls 1922) den vollständigen, mehr als 3600 Nummern umfassenden Katalog der Richterschen Graphik heraus. Aber auch für die weitere Popularisierung tat er das Seine, durch das in 20 000 Exemplaren verbreitete Album „Ludwig Richters Volkskunst“ (zuerst 1909). Wir sind den Bonner Studienjahren vorausgeeilt. Sie wurden dreimal unterbrochen, 1868/9 durch zwei Semester in Berlin, die „wissenschaftlich wenig, für das Alte Testament gar nichts“ brachten, dafür um so mehr Besuche von Museen, Theatern und Konzerten, 1870 durch einen kurzen, infolge schwerer Erkrankung an der Ruhr abgebrochenen Kriegsdienst als Freiwilliger in Frankreich, und, schon nach dem ersten theologischen Examen, 1871– 73 durch ein kirchliches Stipendium an der Universität Utrecht. Wie bei ihm selbstverständlich, nutzte Budde auch diese Zeit voll aus. In Utrecht angekommen, kaufte er als erstes einen fünfbändigen Roman und las ihn ohne Lexikon durch; was ihm danach noch am Holländischen fehlte, besorgten regelmäßige Gespräche mit literarisch gebildeten Menschen. Auch hier öffnete sich seinem Drang zum Forschen und Vermitteln ein weites Feld der Betätigung. Vor allem übersetzte er, beginnend mit dem „Wilhelmus von Nassaue“, unter sorgfältiger Erwägung der historischen, philologischen und hymnologischen Fragen die „altniederländischen Volkslieder“ ins Deutsche16; das „altniederländische Dankgebet“ fand in seiner Fassung Eingang in mehrere Gesangbücher. Für seine Zukunft als Alttestamentler lernte er in Utrecht Arabisch und Syrisch. Um dieser Zukunft willen holte ihn Kamphausen, weil ein Konkurrent am Horizont erschien, vorzeitig nach Bonn zurück. Es gab damals noch keine Assistentenstellen, und so musste Budde für seinen Unterhalt auf andere Weise selbst aufkommen. Er tat es 16 Jahre lang, bis kurz vor seinem Weggang aus Bonn, indem er an der Bonner „Höheren Töchterschule“ Deutsch, Geschichte und Religion unterrichtete, in jeder Woche 12 Stunden. Eine Nebentätigkeit, die sich mit der linken Hand erledigen ließ, war das nicht, und Budde wäre der letzte gewesen, der nicht auch hier seine volle Kraft eingesetzt hätte, zumal die Pflicht zur Beschäftigung mit Literatur und Geschichte ihm eine willkommene Gelegenheit bot, sich in diese Fächer noch gründlicher einzuarbeiten. Sein Fleiß wurde ihm gelohnt: „Nie habe ich bessere und gewissenhaftere Schüler gehabt als die heranwachsenden Mädchen, die dort vor mir saßen“, gestand er noch nach Jahrzehnten17. Seine Erfahrungen mit der Schulleiterin ließen ihn öffentlich die damals nicht selbstverständliche Forderung aussprechen, „daß für die Leitung einer Mädchenschule die rechte Frau jedem Manne entschieden vorzuziehen sei“18. 16  Veröffentlichung zur Zeit des Burenkrieges 1901 sukzessive in der „Christlichen Welt“, 1902 separat. 17  ChW 32 (1918) 169. 18  Ebd. 171.

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Von dem, was er dort verdiente, konnte er allerdings nicht auf die Dauer leben. Seit 1875 besserte ein offenbar nicht üppiges „Privatdozentenstipendium“ seine Bezüge auf, das 1878 erlosch, als er „auch noch das recht zeitraubende und anstrengende Stiftsinspektorat“ übernahm. Dazu kam der 1873–89 Semester für Semester erteilte Unterricht im Hebräischen, dessen literarische Nebenfrucht der „Hollenberg-Budde“ war, das „Hebräische Schulbuch“, das Budde von 1895 bis 1935 in neun Auflagen betreute. Er hatte es schon lange vorher in seiner Hollenbergschen Gestalt wegen vieler guter Eigenschaften, darunter der „Kürze, Schärfe, Faßlichkeit und übersichtlichen Anordnung der Regeln“ gerühmt und ihm gewünscht, dass es „die weiteste Verbreitung finde und vor allem ältere und veraltete, aber noch weit verbreitete Bücher […] ablöse“19 – ein Wunsch, der sich erfüllt hat. Als der „Hollenberg-Budde(-Baumgartner)“ fast ein Jahrhundert später nach 26 Auflagen, weil nun doch in manchem wirklich oder vermeintlich auch seinerseits veraltet, aus dem Verkehr gezogen wurde, haben das nicht wenige als einen schmerzlichen Einschnitt empfunden. Im Mittelpunkt aller Betätigungen von Pflicht und Neigung stand schon während der ganzen Bonner Zeit stets die alttestamentliche Wissenschaft. Seit dem Wintersemester 1873/4 lehrte Budde als Privatdozent. Er war im April 1873 auf Kamphausens Wink aus Utrecht zurückgekehrt, hatte am 14. Mai acht Promotionsthesen verteidigt und sich während des Sommers habilitiert; zur Sicherheit holte er im April 1874 auch noch das zweite theologische Examen nach. Natürlich war das alles nur möglich, weil er in Utrecht nebenbei eine 1870 infolge des Krieges liegengebliebene Bonner Seminararbeit zu einer Dissertation ausgearbeitet hatte und auch sonst nicht unvorbereitet war. Die Dissertation handelte „de orationibus Elihui“. Sie ging in Buddes erste selbständige Schrift ein, die 1876 in Bonn erschienenen „Beiträge zur Kritik des Buches Hiob“. Die „Beiträge“ konnten bereits auf den Aufsatz des Berners Gottlieb Studer (1801–89) „Über die Integrität des Buches Hiob“20 Bezug nehmen – mit dem doppelten Resultat der Ablehnung der radikalen Literarkritik Studers einerseits, der „herzlichen Zuneigung“ dieses zu Unrecht bald vergessenen bedeutenden Exegeten und eines erst durch dessen Tod beendeten „freundschaftlichen Briefwechsels“ andererseits21. In Studers Sprachgebrauch und   seiner Reduktion des ursprünglichen Buches Hiob war Budde ein gemessen an „Unionist“, ja litt er geradezu an „einem wahren Unionsfieber“22, indem er das Buch im wesentlichen so nahm, wie es ist, und seinen Sinn ausgerechnet von den Elihureden (Kap. 32–37) her bestimmte, die gegen die communis opinio der kritischen Forschung als ursprünglich zu erweisen er sich keine Mühe verdrießen ließ. Vor allem unternahm er einen detaillierten Sprachbeweis, für den er eine vollständige Konkordanz des Hiobbuches zusammenstellte. Wie sehr er 19  ThLZ 5 (1880) 345–47. 20  JPTh 1 (1875) 688–723. 21  Vgl. ThLZ 16 (1891) 26. 22  JPTh 3 (1877) 541.544.

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an seiner These hing, zeigte er durch den Aufbau einer hinteren Verteidigungslinie für den Fall, dass die Elihureden sich vielleicht doch als sekundär herausstellten: dann seien sie eben überarbeitet oder an die Stelle anderer, ursprünglicher Reden gleichen Inhalts getreten23. Es war ihm durchaus klar, dass das Buch Widerständiges gegen die Auffassung enthält, Hiobs Leiden sei mit Elihu als zu dem Zweck verhängt anzusehen, dass Hiobs schlummernde Sünde ans Licht gebracht und er dann geläutert würde. Schon die Satanswette im Prolog geht schwerlich in diese Richtung, und so verwundert es nicht, dass die erste der Promotionsthesen vom 14. Mai 1873 lautet: „Consilium libri Ijob e prologo erui nequit.“ Um diese These stritt mit ihm in der Disputation als einer der drei offiziellen Adversarii der 21jährige Theologiestudent Rudolf Smend, und er gehörte auch zu den ersten Kritikern des fertigen Buches, wobei er besonders den Buddeschen Sprachbeweis zerpflückte24. Der fast durchweg negativen Kritik der Folgezeit setzte Bernhard Duhm die Krone auf mit dem Urteil, die „Rettung“ des Elihu sei „so ungemein schwach ausgefallen, daß sie das Gegenteil ihrer Absicht bei jedem Leser bewirken muß, der nicht ganz unfähig ist, die eigenartige Dichtung von Hiob zu verstehen.“25 Auf Buddes Seite traten nur wenige, darunter sein Freund Carl Heinrich Cornill (1854–1920)26. Budde überließ seine These nicht der weiteren Diskussion, sondern erneuerte sie wiederholt und suchte ihr damit das Überleben zu sichern. Er behauptete zwar, keine „übergroße Neigung zu Antikritiken“ zu haben27, aber eine große Neigung in dieser Richtung lässt sich ihm beim besten Willen nicht absprechen. Robinson28 sieht richtig: „When once he had adopted an attitude or worked out a position, it was but seldom that he could be induced to change it.“ Wer sich ihm entgegenstellte, musste damit rechnen, seine Argumente bei nächster Gelegenheit (etwa unter der Überschrift „Noch einmal …“) von Budde aufs genaueste beleuchtet und für nicht stichhaltig erklärt zu finden. So widerfuhr es 1882 den bis dahin aufgetretenen Kritikern des Buches von 1876 gemeinsam29 und in der Folgezeit manchen anderen, wobei Budde empfindlich reagieren konnte, wenn jemand nicht alle seine Äußerungen gegenwärtig hatte30. Eine große Summe zog 1896 der Hiob-Band im „Göttinger Handkommentar“. Den dort zentralen, ganz von den Elihu-Reden her konzipierten Abschnitt über den „Zweck des Dichters“ wiederholte Budde in der 2. Auflage von 1913, obwohl er sonst viel Neues eintrug, überraschenderweise „fast unverändert“ und ohne 23  Beiträge 55; ZAW 2 (1882) 269. 24  ThStKr 51 (1878) 153–73. 25  Das Buch Hiob (KHC XVI, 1897) XI. 26  Einleitung in das Alte Testament 2(1892) 231–33, vgl. VII. 27  ZAW 2 (1882) 193. Hervorhebung R.S. 28  ET 46, 300. 29  ZAW 2, 193–274. 30  Vgl. ThLZ 16 (1891) 25.

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neuerliche Auseinandersetzungen, weil er „nichts Besseres zu bieten“ wusste und in den seitherigen Darstellungen „wesentlich Neues nicht gebracht worden ist und kaum gebracht werden kann“. Allerdings riskierte er es, „zur Warnung“ den Satz August Klostermanns zu zitieren: „Welche Umdeutung der Figur des Hiob gegeben werden muß, wenn man Elihu für einen integrierenden Bestandteil des Buches hält, kann man am besten bei Budde sehen, welcher mit unermüdlicher Arbeit und erfinderischem Scharfsinn ihn für den Dichter zu vindizieren gesucht hat.“31 Die dritte der Disputationsthesen von 1873 lautete: „Seducti paucis iis quae in carminibus Veteris Testamenti vere extant strophis viri docti frustra laboraverunt, ut eas ubique fere accipiendas esse demonstrarent.“ Mit ähnlich negativem Ergebnis behandelte bald danach der Habilitationsvortrag „vermeintliche metrische Formen in der hebräischen Poesie“32. Aber Budde blieb, sicherlich auch aus Musikalität, an der hebräischen Poesie interessiert und analysierte sie nicht nur im Buch Hiob, sondern auch in den Klageliedern, die er im Sommersemester 1874 auslegte. Und hier gelang ihm eine Entdeckung, mit der er Epoche machte. In den ersten vier Kapiteln des Buches der Klagelieder bestehen die Verse meist aus zwei Gliedern, einem längeren und einem kürzeren (3 + 2). Die gleiche Versform findet sich in zahlreichen Klageliedern im übrigen Alten Testament, besonders bei den Propheten, wo sie mehrfach ausdrücklich qīnā heißen. Sie haben offenkundig im wirklichen Leben des alten Israel ihren Platz gehabt, nämlich in der Klage, wie sie der preußische Konsul Johann Gottfried Wetzstein (1815–1905) noch im modernen Syrien beobachtet und beschrieben hatte33 – eine Parallele, auf die der Bonner Orientalist Johann Gildemeister (1812–90), wie Wetzstein ein ehemaliger Theologe, Budde hinwies. Damit war im Vorgriff auf die Arbeiten Hermann Gunkels und seiner Schüler eine erste alttestamentliche „Gattung“ mitsamt ihrem „Sitz im Leben“ bestimmt, das Leichenlied34. Ebenfalls im Anschluss an Wetzstein erklärte Budde später das Hohelied als eine Sammlung von Hochzeitsliedern35 – eine These, die zumal in der Zuspitzung, es handle sich „gleichsam“ um „das Textbuch einer palästinisch-israelitischen Hochzeit“36, manchen Widerspruch fand, worauf Budde sie mit der leichten Einschränkung versah, von Hause aus müsse „durchaus nicht jedes der gesammelten Liedchen sich unmittelbar auf die 31 RE 3VIII (1900) 110, bei Budde (HK II/1 [21913] XXIX1) gekürzt. 32 ThStKr 47 (1874) 747–64. Der zweite, dort nicht wiedergegebene Teil des Vortrags „enthielt einen Erklärungsversuch über die Entstehung des sogenannten Parallelismus membrorum“ (7641). 33  Die syrische Dreschtafel, ZE 5 (1873) 270–302. 34  Buddes grundlegender Aufsatz: ZAW 2 (1882) 1–52. Vgl. ZAW 3 (1883) 299–305; ZDPV 6 (1883) 180–94. 35  PrJ 78 (1894) 92–117, auch englisch: The Song of Solomon: The New World, Boston, March 1894, 56–77. 36  KHC XVII (1898) V.

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Hochzeit beziehen und dafür gedichtet sein“, vielmehr sei „Liebesdichtung aller Art zum Schmuck des Hochzeitsfestes willkommen und begehrt“37. Eine weitere „Stelle“, an der sich Budde in den Bonner Jahren „einbohrte“, waren die Kapitel 50 und 51 des Buches Jeremia, die große Weissagung gegen Babylon mit ihrem erzählenden Anhang. Budde widerlegte auf nicht weniger als 77 Seiten die schon von Eichhorn bestrittene, aber von Graf wieder verteidigte Herkunft der Weissagung von Jeremia, behauptete aber für den Anhang (51,59– 64) mit Ausnahme eines kurzen Verbindungsstücks (V. 60b) die Authentie38. Noch Wilhelm Rudolph hat sich dem angeschlossen. Das Opus magnum der Bonner Zeit ist damit immer noch nicht genannt. Es betraf eine weniger versteckte „Stelle“, nämlich den vor allen anderen klassischen Gegenstand alttestamentlicher Literarkritik, die Urgeschichte in der Genesis. 1883 erschien „Die Biblische Urgeschichte (Gen. 1–12,5) untersucht“, 539 Seiten stark und in zwölf einzelne „Untersuchungen“ gegliedert, die in „scheinbar regellosen Sprüngen“ vorgehen, im wesentlichen aber den Weg bezeichnen, den der Autor selbst gegangen ist39. Wellhausen hatte Unstimmigkeiten innerhalb der jahwistischen Urgeschichte beobachtet, so namentlich die isolierte Stellung der Sintflutgeschichte oder auch der ihr vorangehenden Perikope von den Ehen der Gottessöhne, hatte aber auf die nähere Bestimmung solcher Stücke, etwa aus einem größeren literarischen Zusammenhang, verzichtet. Über diesen Verzicht ging Budde hinaus. Er rekonstruierte eine ältere, flutlose Urgeschichte (J1) und eine jüngere (J2), die die Sintflutsage wahrscheinlich aus Babylonien übernommen und J1 in mannigfacher Weise überarbeitet hat; beide sind noch vor der Vereinigung mit der „Grundschrift“ (= P) durch einen Redaktor (J3) unter Zugrundelegung von J2 miteinander verschmolzen worden; gleichwohl ist allein J2 die Vorlage von P gewesen. Die minutiöse und mit großem Scharfsinn durchgeführte Untersuchung, die nur weniges in der Urgeschichte unberührt ließ, wurde von keinem Geringeren als Kuenen einer 50 Seiten langen Besprechung gewürdigt40, die viel Lob, aber auch mancherlei kritische Fragen enthielt und Buddes Arbeitsweise in den Satz fasste: „Budde geeft ons nooit te weinig, maar wel eens iets te veel; hij wil ons nu en dan verder brengen dan wij komen kunnen; een weinig docta ignorantia zou hem niet hebben geschaad.“41 Ähnlich empfand Wellhausen: „das Raffinement der Buddeschen Analyse von Gen 1 sqq hat meine Sympathien nicht. Man sollte sich grade deswegen, weil die Sache wahrscheinlich höchst complicirt ist, bescheiden.“42 Mündlich pflegte Wellhausen zu sagen, man sehe es Buddes Publikationen an, dass sie großenteils nachts geschrieben seien. In der Tat hat ihn nächtliche 37 HSAT 4II (1923) 391 gegenüber 3(1910) 357. 38  JDTh 23 (1878) 428–70.529–62. 39  Vgl. S. IV. 40  ThT 18 (1884) 121–71. 41  Ebd. 130. 42  Brief an W.R. Smith vom 30.12.1883 (Briefe, 2013, 138).

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Arbeit in Bonn zeitweise richtig krank gemacht. Im Sommer 1882, also zur Entstehungszeit der „Biblischen Urgeschichte“, attestierte ihm ein Professor der Medizin eine nicht ungefährliche Neurasthenie durch „lange ausgestandene Störung der Nachtruhe, stetige Verkürzung der Schlafzeit bei anstrengender Beschäftigung der Augen und der geistigen Functionen“ und verordnete Untätigkeit und eine Badekur43. Damals hatte Budde schon drei Jahre lang den Titel eines außerordentlichen Professors, aber ein entsprechendes Gehalt bekam er erst vom 1. April 1885 an. Sobald ihm das zugesagt war, konnte er das Stiftsinspektorat kündigen und, fast 35jährig, „Umschau unter den Töchtern des Landes“ halten44, mit dem Resultat, dass er sich am 6. Januar 1885 mit einer ehemaligen Schülerin, der Professorentochter Helene Clausius, verlobte. Darauf ließ er ein Exemplar der „Biblischen Urgeschichte“ in schönes Leder binden und überreichte es ihr am 26. Januar mit der Inschrift: „Seiner lieben Helene widmet sein größtes und bestgeratenes Kind in Treuen ihr Karl.“ Spuren ihrer Lektüre weist das Buch nicht auf45. Am 15. August fand die Hochzeit statt. Der Konsolidierung im menschlichen Bereich war die in der Wissenschaft vorangegangen. Zwar hatten schon die Erstlingswerke ihren Verfasser als einen Exegeten von Fleiß und Begabung ausgewiesen. Aber erst die „Biblische Urgeschichte“ zeigte, wo er im Streit jener Jahre stand, nämlich auf seiten Wellhausens und der Grafschen Hypothese, zu der er sich am Schluss des Buches nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit bekannte. Dass er erst nach einem längeren Weg dorthin gelangt war, hat er später selbst angedeutet: „Wir älteren Mitarbeiter, die noch in der mit großer Autorität auftretenden wissenschaftlichen Tradition der Ewald-Hupfeld’schen Theorie großgeworden sind, wir können Zeugniß davon ablegen, wie wir durch diese Einzelarbeiten in langsamer und mühsamer Arbeit, die den ganzen Menschen in Anspruch nahm, gewissenshalber gezwungen worden sind in das andere Lager überzugehen, nicht durch von außen herzugetragene Theorien, sondern aus dem Innersten der Sache heraus. Wir können aber noch mehr bezeugen: daß wir durch diese Geschichtsauffassung innerlich freier und im Glauben freudiger geworden sind, daß wir dadurch die Gestalt Jesu Christi und das Neue Testament besser haben verstehen lernen.“46 Wenn es auch gewiss nicht „von außen herangetragene Theorien“ waren, durch die Budde „gewissenhalber gezwungen“ wurde, so ließ er sich doch zweifellos durch Lektüre und wohl auch durch Personen ins „Innerste der Sache“ führen. Das entscheidende Buch wird für ihn wie für viele andere Wellhausens „Geschichte Israels I“ von 1878 gewesen sein, die ihm damals eindrücklichste, seiner Art gemäßeste Person Abraham Kuenen. Ihn lernte er allerdings 43  In Buddes Personalakte im Bonner Universitätsarchiv. 44  Die Taube (Anm. 5) 926. 45  Es gelangte nach Buddes Tod in den Besitz W. Baumgartners und befindet sich heute bei Ch. Levin. 46  ThLZ 23 (1898) 38f.

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erst 1882/3 näher kennen, als er im Zusammenhang mit seiner Übersetzung von Kuenens Hibbert-Vorlesungen über National Religions and Universal Religions zweimal in Leiden zu Gast war. Die Übersetzung erschien 1883 auf den Rat des ängstlichen Kamphausen ohne Buddes Namen. Kuenen und Wellhausen wünschten, dass Budde auch die Neuauflage von Kuenens Einleitung in das Alte Testament, dem „Historisch-critisch onderzoek“ (seit 1885) übersetzte, aber das lehnte er ab, weil er, wie er selbst berichtet, „damals aller Kraft bedurfte, um durch eigene Arbeiten meine wissenschaftliche Laufbahn zu sichern“. Aber nach Kuenens Tod besorgte er eine nützliche deutsche Ausgabe von Kuenens „Gesammelten Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft“ (1894), deren Vorwort eine ausgezeichnete Würdigung des Verstorbenen enthält47. Statt eine fremde „Einleitung“ zu übersetzen, wollte er lieber eine eigene schreiben. Er fand dafür einen Verleger, dem er das Manuskript etwa 1890 abliefern wollte. Weil ihm das Hexateuchproblem als Anfang zu schwierig erschien, arbeitete er zunächst die Abschnitte über Richter und Samuel aus. Damit war er Anfang 1887 fertig, doch dann kam die Sache ins Stocken. Das Vorliegende war eher eine Reihe diffiziler Untersuchungen als eine lehrbuchmäßig-prägnante Darstellung und ließ sich bis zum erhofften Abschluss des Ganzen nicht leicht auf dem aktuellen Stand halten. So gab Budde den Gesamtplan auf, veröffentlichte 1887/8 einige Abschnitte gesondert in der ZAW und 1890 die Gesamtanalyse als abgeschlossenes Buch unter dem Titel „Die Bücher Richter und Samuel, ihre Quellen und ihr Aufbau“. Eine weitere Etappe – nicht die letzte – bildete 1894 die Ausgabe des hebräischen Textes der Samuelbücher in Paul Haupts „Regenbogenbibel“48, mit vielen Emendationen, darunter Umstellungen, und farbiger Kennzeichnung der literarischen Schichten: schwarz ohne weitere Kennzeichnung für den Grundstock der judäischen Quelle (J1, vor 800 kompiliert), hellrot für deren Ergänzungen (J2, vor 650), dunkelblau für die älteren Schichten der ephraimitischen Quelle (E1, vor 750), hellblau für deren jüngere Schichten (E2, vor 650), hell-lila für Zusätze des Redaktors der beiden Quellen (RJE, um 650), hellgrün für deuteronomistische Erweiterungen von JE (RD, 6. Jahrh.), gelb für Zusätze des letzten Redaktors (RP, gleichzeitig mit der Endredaktion des Hexateuchs, 440–400), dunkel-orange für späte Zusätze aus dem Midrasch (nach 400), hell-orange für letzte Zusätze (Lieder). Die großen Quellen J und E bedeuten nicht Einzelpersonen, sondern Schulen, die bei diesen Stoffen ihre Arbeit begonnen haben und aus denen schließlich die Schichten J und E in der Patriarchengeschichte hervorgegangen sind. Um die Problematik der ganzen Konstruktion anzudeuten, beschränke ich mich auf ein einziges, allerdings zentrales Beispiel, das seine Aktualität bis heute nicht ganz verloren hat: seinem E2 inkorporierte Budde die von Wellhausen und Kuenen als deuteronomistisch interpretierten Passagen 1 Sam 7; 8; 10,17–27; 12; 2 Sam 7. 47  Dort Belege zum Obigen. Vgl. auch ThLZ 18 (1893) 369–71. 48  The Sacred Books of the Old Testament VIII.

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Die Annahme „daß diese specifisch jüdischen Stücke ephraimitisch und vorexilisch seien“, hat Stade, in diesem Punkt eins mit Wellhausen und Kuenen, „für die Quellenscheidung besonders verhängnisvoll“ genannt49. Einen Teil dieser Arbeiten vollendete Budde nicht mehr in Bonn, sondern in Straßburg. Dort trat 1888 der 84jährige Eduard Reuß in den Ruhestand. Budde füllte die Lücke 1889 zunächst als außerordentlicher, aber bald, nach Ablehnung eines Rufes nach Zürich, als ordentlicher Professor. Im späteren Rückblick empfand er die Straßburger Zeit als Höhepunkt seines Lebens. Er genoss mit seiner wachsenden Familie die Stadt und das Land, war gemeinsam mit Spitta und Julius Smend kirchenmusikalisch tätig und steigerte, da die Nötigung zum Nebenverdienst als Schullehrer weggefallen war, seine schriftstellerische Tätigkeit in fast beängstigendem Ausmaß. Das setzte sich fort an seiner letzten Station, Marburg. Im Jahr 1900 wurde er auf den Lehrstuhl des nach Berlin gewechselten Grafen Baudissin berufen, dreieinhalb Jahrzehnte gehörte er der Fakultät an, in der A. Jülicher, J. Weiß, W. Herrmann, M. Rade, R. Otto und R. Bultmann wirkten. Budde fügte sich in diese glanzvolle Reihe akademischer Lehrer ebenbürtig ein. Schon aus Straßburg haben wir das Zeugnis Albert Schweitzers, Buddes Vorlesungen seien ihm „ein künstlerischer Genuß gewesen“50. Einen Bericht des Marburger Iranisten Ferdinand Justi an Wellhausen in Göttingen können wir aus dessen Reaktion erschließen: „Es freut mich, daß Budde die Leute elektrisirt. In seinen gelehrten Büchern geht er immer auf den Zehen und möchte gern seiner Länge eine Elle zusetzen. Er ist das grade Gegentheil von Benedictus Niese: der hat weniger Geist und sehr viel mehr Verstand.“51 Die „gelehrten Bücher“ erreichten mitsamt dem, was Budde „meine Allotria aller Art“ nannte52, schließlich die stattliche Gesamtzahl von 494. Er selbst bemerkte dazu, Harnack habe es auf mehr als 1500 gebracht53. Entgegen eigenen Prognosen seiner früheren Jahre lernte er auch „kurzgefaßt zu schreiben“ und „große Massen des Wissens“ mitzuteilen. Er lieferte Kommentare zu Hiob (1896), Richter (1897), dem Hohenlied und den Klageliedern (1898), Samuel (1902), Jesaja 40–66 (1909) und Kohelet (1910), eine Darstellung der Religion des Volkes Israel bis zur Verbannung (1900) und eine Geschichte der Althebräischen Litteratur (1906), dazu mehrere Grundrisse zu Teilgebieten seiner Wissenschaft. Er griff in den Babel-Bibel-Streit ein (Das Alte Testament und die Ausgrabungen, 1. und 2. Aufl. 1903) und beteiligte sich auch sonst mit Leidenschaft und Ausdauer an den jeweiligen Kontroversen über latente Probleme (Lade, Sabbat, Gottesknecht, Deuteronomium usw.), besonders über solche, die ihm von seinen Bonner Anfängen her am Herzen lagen. 1915 unternahm er es, „eine 49  ThLZ 21 (1896) 9. 50  A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken (1931) 8. 51  Wellhausen, Briefe (2013) 470. 52  In: Vierzig Jahre „Christliche Welt“. Festgabe für Martin Rade, hg.v. H. Mulert (1927) 35. 53  Die Taube (Anm. 5) 941.

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alte Schuld abzutragen“, indem er den detaillierten Nachweis dafür antrat, dass die priesterschriftliche Schöpfungsgeschichte auf einen älteren Text, wahrscheinlich seinen J2, zurückgehe, und stellte eine analoge Untersuchung über Gen 2f. in Aussicht54. Diese erschien 1932 als Buddes letzte Monographie und zugleich umfangreichstes Glied in einer Kette von meist ziemlich polemischen Äußerungen zur Paradiesgeschichte, deren Hauptopfer der Gunkelschüler Hans Schmidt war. Ihre These, innerhalb von Gen 2f. sei keine Urkunden-, sondern eine Ergänzungshypothese am Platz, knüpfte über ein halbes Jahrhundert hinweg an „Die Biblische Urgeschichte“ an, rechtfertigte aber nicht die Bemerkung eines Kollegen: „In fifty years Budde has learnt nothing.“55 Denn Budde dürfte in dieser Sache gegen manche Widersacher tatsächlich im Recht gewesen sein. Und er wandte sich gerade in der letzten Phase seines Lebens in einer stattlichen Reihe von Aufsätzen einem Gebiet zu, auf dem er Neues zu bieten hatte, nämlich der Interpretation prophetischer Texte. Neben vielem Detail ist der programmatische Vortrag über „Eine folgenschwere Redaktion des Zwölfprophetenbuches“56 in unserem redaktionsgeschichtlichen Zeitalter noch oder wieder lesenswert. Der Erste Weltkrieg kostete Budde von seinen sechs Kindern zwei Söhne. Einer fiel 1915 in Litauen, der andere noch im November 1918 in Frankreich. Den Schmerz verwand die Mutter, seit vielen Jahren tuberkulosekrank, nicht; sie starb im Februar 1919. Karl Budde blieb ungebrochen. Er dürfte sich die monarchische Gesinnung, von der seine – wissenschaftlich keineswegs verächtliche – Marburger Kaisergeburtstagsrede aus dem Jahr 1903 zeugt57, in die Weimarer Zeit hinein bewahrt haben. Wie sehr er in jenen Jahren um ein Verstehen der Vorgänge bemüht war, zeigt sein Widerspruch gegen Karl Ludwig Schmidts Meinung, der Weltkrieg habe für die Entstehung der „Theologie der Krisis“ keine Bedeutung gehabt58. Es fiel ihm nach dem Krieg nicht leicht, zu den Kollegen auf der ehemals gegnerischen Seite wieder in normale Beziehungen zu treten. Doch es gelang, sicherlich auch aufgrund der Haltung dieser Kollegen. Er war bei ihnen durch Publikationen in amerikanischen Zeitschriften, als häufiger Kongressteilnehmer und „great lecturer“ bekannt und geschätzt und wurde dort nach seinem Tod betrauert als „a devoted Christian, of much personal charm, and a wonderful friend“59. Die Society for Old Testament Study und die Society of Biblical Literature and Exegesis zählten ihn zu ihren Ehrenmitgliedern.

54  ZAW 35 (1915) 65–97. 55  Bei Robinson (Anm. 1) 300 (zu metrischen Fragen). 56  ZAW 39 (1921) 218–29. 57  Die Schätzung des Königtums im Alten Testament. Marburger akademische Reden 8 (1903). 58  ChW 41 (1927) 1104f. 59  JBL 55 (1936) iii.

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Von seinen Pflichten als Marburger Professor löste er sich nur schwer. Als 1921 die Presse berichtet hatte, er sei um seine Emeritierung eingekommen, ließ er das sofort korrigieren: er sei nicht um seine Emeritierung eingekommen, „sondern infolge des Altersgrenzengesetzes […] von seinen Pflichten entbunden worden“60. Seine Lehrtätigkeit setzte er bis wenige Wochen vor seinem Tod fort61. Er starb am 29. Januar 1935. Noch aus den letzten beiden Lebensjahren gibt es Zeugnisse seiner unverminderten Streitlust: 1933 wies er in der „Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst“ mit vollem Recht und großer Schärfe den Kieler Alttestamentler Wilhelm Caspari zurecht, der im Einklang mit dem „Bund für eine Deutschkirche“ den damals zeitgemäßen Versuch unternommen hatte, möglichst viele alttestamentliche Wendungen aus dem evangelischen Gesangbuch zu entfernen62, und auf den letzten Seiten der ZAW von 1934 äußerte er sich noch zweimal zu dem Gegenstand, über den er 1882 in der gleichen Zeitschrift zum ersten Mal und sogleich klassisch gehandelt hatte: das Klagelied und sein Metrum, nunmehr im Streit mit Th.H. Robinson, der dem Wort qīnā einen weiteren Geltungsbereich zuwies als er. Budde schloss seine letzte Notiz mit dem versöhnlichen Satz: „Mögen denn der neue und der alte, der weitere und der engere Begriff friedlich nebeneinander jeder seinen Weg suchen!“63 Was bleibt von Karl Budde? Es gibt nur noch ganz wenige alte Marburgerinnen und Marburger, die sich des hochgewachsenen Mannes mit dem weißen Bart und der tiefen Stimme entsinnen, der für seine „feine und ritterliche Art, in der er bis in sein hohes Alter dem anderen Geschlecht begegnete“, stadtbekannt war64. Mit seinem literarischen Gesamtwerk kann und wird sich kaum noch jemand vertraut machen. Aber wer etwa seine Kommentare konsultiert, hat mehr davon als von den meisten Kommentaren, die seither erschienen sind. Das Entscheidende hat ein früher Rezensent gesagt: Budde „liebt keine kritischen Orakelsprüche, sondern legt dem Leser das ‚Für‘ und ‚Wider‘ gewissenhaft vor“65. Ein späterer Rezensent nannte etwas ausführlicher „die eigentümlichen Vorzüge der Schriftstellerei des verdienten Gelehrten: sein liebevolles Versenken in den Stoff, seinen eindringenden Scharfsinn, seine behutsame Zurückhaltung im Urteil, seine gewissenhafte Einzelarbeit, seine Andacht für das Kleine und Kleinste“. Dabei stand dieser Rezensent, es war Hermann Gunkel66, mit Budde auf ziemlich gespanntem Fuß, weil Budde ihm 60  ChW 35 (1921) 56. 61  Vgl. E. Balla in: Mitteilungen Universitätsbund Marburg 1935, 19. 62  Caspari: MGKK 38 (1933) 169–80; Budde: ebd. 263–68; vgl. auch 268–70 (Caspari), 342 (Budde). 63  ZAW 52 (1934) 310. Robinson ergriff noch einmal auf dem Kopenhagener Alttestamentlerkongress von 1953 das Wort (Congress Volume 133f.). 64  Vgl. H.W. Hertzberg, KAT XVII 4–5 (1963) 1791. 65  J. Hollenberg, ThLZ 16 (1891) 370. 66  ChW 21 (1907) 850.

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nach seiner Meinung zu Unrecht 1900 in Marburg vorgezogen worden war und weil er der Gattungsforschung nur wenig Verständnis entgegenbrachte67; aber wie ich von Walter Baumgartner weiß, pflegte Gunkel, wenn er sich über Budde beklagt hatte, stets hinzuzufügen: „Er hat die erste Gattung entdeckt, die qīnā.“ Längst nicht alle Thesen Buddes haben sich durchgesetzt und behauptet wie diese oder wie die von der „Denkschrift Jesajas“68. Aber es ist ja auch niemand gezwungen, Buddes Meinungen zu übernehmen. Die Beobachtungen und Überlegungen dieses Exegeten werden gleichwohl für den, der sich ernsthaft mit der Urgeschichte oder Hiob, mit Richter oder Samuel, oder, nicht zu vergessen, mit den von Budde analysierten Prophetentexten beschäftigt, immer eine ergiebige Fundgrube sein. Denn: „Er gehörte zu den wenigen, bei denen man Exegese lernt, und man lernt bei seiner Exegese, auch da, wo man ihm nicht folgen kann.“69

67  Vgl. DLZ 1920, 782f. 68 Geschichte der althebräischen Literatur (1909) 76f.; Jesaja’s Erleben. Eine gemeinverständliche Auslegung der Denkschrift des Propheten (Kap. 6,1–9,6) (1928). 69  W. Baumgartner, Neue Zürcher Zeitung 6.2.1935.

Rudolf Smend 1851–1913

Diesen Großvater habe ich nicht mehr gekannt, wohl aber die Großmutter, die ihn um ein Vierteljahrhundert überlebte. Ich durfte allwöchentlich bei ihr zu Gast sein und bewegte mich dann zwischen den Möbeln, Bildern und Büchern, in denen, wie ich inzwischen weiß, die großväterliche Welt noch ganz präsent war. Vor allem hatten es mir die Bilder in ihren altmodischen Rahmen angetan. Was gab es für ein empfängliches Knabengemüt auf Piranesis „Titusbogen“ oder Merians „sehr anmuthigem Prospect des Münsters und Rheinbrücken zu Basel“ alles zu entdecken, und welchen Stoff boten zwei unheimliche Gemälde, Menzels „Friedrich der Große in der Schlacht bei Hochkirch“ und Guido Renis „Judith mit dem Haupte des Holofernes“, der kindlichen Phantasie! Später erfuhr ich, dass Carlyles vielbändige Biographie Friedrichs des Großen ein Lieblingsbuch des Großvaters war und dass ihn als Alttestamentler die Apokryphen besonders beschäftigten. Und dann die Gelehrtenköpfe! Sie begannen mit dem goldgerahmten Basler Humanisten Bonifatius Amerbach (nach Holbein), nach ihm kam der gestrenge Heidelberger Philologe Janus Gruterus, ein ferner Vorfahr, gefolgt von zwei kuriosen Spitznasigen im Profil, dem Physiognomiker Johann Caspar Lavater und seinem mystisch-pietistischen Freund Johann Gerhard Hasenkamp, gegen den Goethe auf seiner Rheinreise 1744 Klopstocks „Messias“ und Herders „Älteste Urkunde“ verteidigte1, und schließlich zwei Orientalisten aus dem 19. Jahrhundert: grimmig blickend Heinrich Ewald mit seinen langen Haaren (ihn hatte der Großvater noch erlebt), unaufdringlich klug sein Schüler Johann Gildemeister, des Großvaters Doktorvater, unter dessen Porträt ich die eigenhändige Unterschrift buchstabierte: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Den meisten Raum nahm natürlich die Familie ein, würdige Männer und Frauen in Stichen und Pastellen. Urgroßvater, Großvater und Vater des Großvaters waren in ununterbrochener Aufeinanderfolge mehr als ein Jahrhundert Pastoren der reformierten Gemeinde Lengerich im Tecklenburgischen am Teutoburger Wald gewesen. Der Urgroßvater, Rudolph mit 1  Goethe, Begegnungen und Gespräche, hg.v. E. u. R. Grumach I (1965) 280; leider wohl apokryph: ebd. 486.

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Namen (1730–1819), ein trocken-orthodoxer Calvinist aus Groninger Schule, schrieb für seinen Sohn Florens (1777–1845) ein theologisches Vademecum in Frage und Antwort, damit er nicht der Neologie anheimfiele. Doch der Sohn, meines Großvaters Großvater, geriet in die Nähe des „Biblizisten“ Gottfried Menken und heiratete Friederike Hasenkamp, die Tochter des einen jener beiden Spitznasigen und Patentochter des anderen; unter sein eigenes Bild schrieb er das (von ihm gewiss antiorthodox verstandene) Pauluswort: „Das Reich Gottes stehet nicht in Worten, sondern in Kraft.“ Er war mit dem Minister Ernst von Bodelschwingh befreundet und taufte dessen Sohn, den Gründer von Bethel. Den Begabtesten in der Reihe, Friedrich (1814–83), den Vater meines Großvaters, holte die westfälische Kirche nach Münster ins Konsistorium, wo er sich in schwieriger Zeit Verdienste erwarb, für die ihn die Bonner evangelisch-theologische Fakultät zum Ehrendoktor machte. Aus seiner Ehe mit einer Fabrikantentochter aus Barmen gingen acht Kinder hervor, darunter zwei Theologieprofessoren, Rudolf und Julius (1857–1930). In dem einen meint man mehr die westfälische Art des Vaters, in dem anderen die bergisch-rheinische der Mutter zu erkennen. Beiden waren ihre frommen Vorfahren immer gegenwärtig und beide waren sich einig in der Ablehnung der Orthodoxie ihres Urgroßvaters, aber sonst unterschieden sie sich sehr. Indem Julius die Orgel „zur Würde einer ‚zweiten Kanzel‘“ erhob, brachte er es sogar zu einer (abfälligen) Erwähnung in Karl Barths Dogmatik 2. Er war eine Künstlernatur, Pianist von Graden, versierter Liturgiker und wirkungsvoller Kanzelredner, dazu ein leichthändiger Schriftsteller und Redakteur. Mit alledem erregte er das Missfallen seines älteren Bruders, der ihn einmal im Zorn anfuhr: „Ich verwünsche die Stunde, in der du zum ersten Mal eine Taste angerührt hast.“ Der Weg des Älteren und Schwierigeren begann nicht gradlinig. Zeitlebens sehr naturverbunden – übrigens auch dies auf der Spur seiner geistlichen Vorfahren, von denen mehr als einer heimlich zur Jagd ging – wollte er zunächst Förster werden. Aber ein abgebrochenes Probejahr im Forstamt ergab, dass ihm für diesen Beruf die nötige körperliche Robustheit fehlte, und so wandte er sich mit nur kurzer Verzögerung dem angestammten Metier zu: zum Sommer 1870 immatrikulierte er sich an der Göttinger theologischen Fakultät. Dort blieb er drei Semester, und schon in das erste fiel die Begegnung, die über seinen künftigen Weg entschied: neben den Vorlesungen der Koryphäen Lotze und Ritschl und des Abtes (von Bursfelde) Ehrenfeuchter belegte er, wie das Abgangszeugnis verzeichnet, ein „kirchengeschichtliches Conversatorium bei Repetent Wellhausen“. Es war Wellhausens letzte Veranstaltung als Repetent, denn am Ende dieses Semesters habilitierte er sich, um fortan als Privatdozent zu lehren. Bei der öffentlichen Disputation war der erstsemestrige stud. theol. Smend zugegen, die Dissertation (und Habilitationsschrift) „De gentibus et 2  KD I/1, 64.

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familiis Judaeis“ erhielt er mitsamt den Thesen von Wellhausen zum Geschenk. In den nächsten beiden Semestern belegte er wiederum je eine Veranstaltung bei Lotze und Ritschl, dazu beide Male eine bei Theodor Zahn, außerdem aber jedes Mal zwei bei Wellhausen: im Winter 1870/71 Hiob (fünfstündig!) und arabisches Privatissimum, im Sommer 1871 Geschichte des Volkes Israel (ebenfalls fünfstündig) und wiederum arabisches Privatissimum. Dass er das übrige Göttinger alttestamentliche Angebot nicht wahrgenommen hat, legt den Schluss nahe, dass er sein besonderes Interesse am Alten Testament nicht schon mitbrachte, sondern durch Wellhausen vermittelt bekam, den er zunächst ja nicht in einer alttestamentlichen, sondern in einer kirchenhistorischen Lehrveranstaltung kennenlernte. Der sieben Jahre ältere Wellhausen, der längst im Alten Testament beheimatet war, zog ihn dorthin, wobei nicht stark genug hervorgehoben werden kann, dass neben das Studium des Alten Testaments sogleich das des Arabischen trat; Bibelwissenschaft und Semitistik gehörten nach Göttinger und nicht nur Göttinger Tradition für Wellhausen und so auch für seinen Schüler aufs engste zusammen. Und der Schüler hatte ein großes Glück damit, nicht nur durch diesen Lehrer, sondern durch ihn gerade anhand der Themen dieser beiden Semester in die alttestamentliche Wissenschaft eingeführt zu werden: beim Buch Hiob schlug das Herz des Theologen Wellhausen – ihm widmete er nicht nur seine erste, sondern (1913) auch seine letzte Vorlesung –, und eine radikal neue Sicht der Geschichte des Volkes Israel war es, die seinen Ruhm begründete. Wie sehr es Smend mit dem Alten Testament ernst war, zeigt der Umstand, dass er sich noch in Göttingen, für ein 19jähriges Anfangssemester ungewöhnlich, Gesenius’ großen Thesaurus (21829–53) anschaffte, den er in den nächsten vier Jahrzehnten mit Hunderten von Randnotizen versah; zweifellos ging der Kauf auf einen Rat Wellhausens zurück 3. Gleichwohl war Wellhausen nicht daran gelegen, den Schüler zu eng an sich zu binden, vor allem auch nicht an Göttingen, von wo er ja selbst energisch fortstrebte, um anderswo zu einer Professur zu kommen. So ging Smend zunächst für ein Semester (Winter 1871/72) nach Berlin. Dort verhielt er sich ähnlich wie in Göttingen; außer Glaubenslehre bei Dorner belegte er nur Altes Testament und dieses nur bei August Dillmann (1823–94), Schüler von Wellhausens Lehrer Ewald aus dessen Tübinger Zeit und seit kurzem Nachfolger Hengstenbergs in Berlin. Smend führte sich bei ihm als Freund Wellhausens ein, der nach Semesterschluss an Dillmann schrieb: „Ihre Freundlichkeit gegen diesen [Smend], von der er nicht genug zu rühmen weiß, habe ich zu einem kleinen Bruchtheil mir anzuziehen gewagt. Wenn er nur bei Ihnen Einleitung ins Alte Testament hätte hören können! Hoffentlich lesen Sie dieselbe künftigen 3 Der in der Deuerlich’schen Buchhandlung gekaufte Lederband hat den Eintrag „R. Smend. st. theol. GA [Georgia Augusta] 1871.“ Zu Wellhausens Schätzung des Buches vgl. F. Bleek, Einleitung in das Alte Testament (41878) 655.

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Winter.“4 Was Smend gehört hatte, waren „nur“ die Psalmen, dazu neben dem „exegetischen Seminar“ eine „Erklärung der syrischen Bibelübersetzung der Apokryphen des Alten Testaments“. Den zunächst gehegten Plan, nach einem sommerlichen Bonner Intermezzo zum Winter 1872/73 nach Berlin zurückzugehen, gab er wegen eines „Halsübels“ auf, das sich angeblich in dem milderen Klima Bonns besser kurieren ließ. Dass er dann bis zum Schluss seines Studiums in Bonn blieb, begründete er Dillmann gegenüber mit einem „langwierigen Magenleiden“5 – spätestens seit damals überschatteten häufige Krankheiten, darunter vor allem eine periodisch wiederkehrende schwere Depressivität, sein Leben. Er hatte viel zu klagen und schrieb einmal an einen befreundeten Kollegen: „Ich bin ein Zaunigel, der teils aus Unbeholfenheit teils aus Kurzsichtigkeit immer an das Nächste sich halten muß, der aber auch aus Trägheit und Schwachheit sich langsam fortbewegt, dabei ein kranker Mann, in dessen Kopf und Herz immer nur für Eine Sache, die er gerade vor sich hatte, Raum gewesen ist. Ein Gelehrter bin ich deshalb nie geworden, hätte auch nie den Ehrgeiz haben dürfen, einer zu werden.“6 Was Dillmann betrifft: Smends Verbindung mit diesem überaus gediegenen und angesehenen Forscher und Lehrer blieb bestehen, obwohl er ihn nach einigen Jahren durch seinen Anschluss an Wellhausens Neuorientierung der alttestamentlichen Wissenschaft schwer enttäuschen musste. Immerhin scheint Dillmann sich noch aufrichtig gefreut zu haben, als ihm Wellhausen und Smend gemeinsam zu seinem 70. Geburtstag telegrafierten, den er nicht lange überlebte7. In Bonn hielt den angehenden Alttestamentler nicht nur das Klima, sondern mindestens ebenso sehr der Umstand, dass er dort in einem dritten Schüler Ewalds, aber dem ältesten der drei, Johann Gildemeister (1812–90), den Lehrer gefunden hatte, der ihm noch mehr als Wellhausen für seine weitere Arbeit die unmittelbare Anleitung geben konnte. Der heute vergessene Mann, der 1859 von der alttestamentlichen Professur in Marburg auf die orientalistische in Bonn übergegangen war, sei hier mit den Worten eines etwas entlegenen Nachrufs charakterisiert: „Keiner der [1890] noch lebenden Orientalisten kam Gildemeister an Wissen und Belesenheit gleich. Er umfasste nicht nur das Gebiet der semitischen Sprachen im weitesten Umfang – vielleicht mit Ausschluss des Assyrischen, jedoch mit vollem Einschluss der alttestamentlichen Exegese – sondern auch das Gebiet der indischen und persischen Dialekte und nicht weniger auch das der klassischen Philologie. Er hatte alles gelesen und kannte die Literatur, auch was Bibliographie betrifft, in weitestem Umfange mit unvergleichbarer Sicherheit, sein Gedächtniss liess ihn fast nie im Stich. 4  Wellhausen, Briefe (2013) 9f. 5  Vgl. seine Briefe vom 24.8.1872 und 8.8.1875 (Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Dillmann). 6  An Ad. Jülicher 22.5.1908 (Univ. Bibl. Marburg, Nachlass Jülicher). 7  Das Telegramm ist nicht erhalten, vgl. aber Smends Brief an Dillmann vom 17.5.1893 und Wellhausen, Briefe 318.

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Neben dieser ungeheuren Receptivität hielt freilich die Productivität nicht ganz gleichen Schritt: Gildemeister hat relativ wenig geschrieben, aber alles, was er veröffentlicht hat, trägt den Stempel äusserster Sorgfalt und Akribie, neben der ein Kritiker oder gar Gegner niemals aufzukommen vermochte. […] Seine ausserordentliche Schärfe des Urtheils zeigte sich nicht bloss in seinen Werken, wie etwa seinen Streitschriften8, sondern vor Allem auch im persönlichen Umgang: die Tage, die er auf den Philologenversammlungen verbrachte, werden den jüngeren Fachgenossen, an die er sich dann gerne anschloss, […] wegen der unverwüstlichen Heiterkeit und des sprudelnden Witzes in dankbarer Erinnerung bleiben. […] Er wollte nur den Thatbestand reden lassen, subjective Urtheile suchte er zu vermeiden. Mit dem reichen Schatze seines Wissens war er sehr freigiebig. Es verdross ihn nicht, bogenlange Briefe zu schreiben, wenn er nur annehmen konnte, dass der Empfänger für Belehrung zugänglich war. Wo er dagegen ‚innere Unwahrhaftigkeit‘ wahrnahm, zog er sich am liebsten zurück; diese war ihm ‚widerwärtig‘.“9 Smend, der ihn „zeitlebens als Muster eines Gelehrten verehrte“10 und ihn zweifellos – Wellhausen war dafür zu inkommensurabel – als sein persönliches Vorbild betrachtete, hat vierzig Jahre später sein letztes Buch „in Dankbarkeit und Verehrung“ dem Andenken Gildemeisters gewidmet und es mit den Worten geschlossen: „In seiner philologischen Gelehrsamkeit und Kunst, die an Ausdehnung und Sicherheit vielleicht beispiellos sind, hatte er die Wahrhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit ausgeprägt, von der sein ganzes Wesen getragen war, und mit einer vielleicht ebenso beispiellosen Aufopferung stellte er sein ganzes Wissen und Können immerfort und ohne Ansehen der Person in den Dienst von jedermann. In stiller Arbeit bewährte er diese höchsten Tugenden des Gelehrten und des Menschen, die Fernstehenden verborgen blieben und die sich auch dem Bewußtsein seiner Schüler nicht aufdrängten, weil er sie in wortloser Selbstverständlichkeit übte. Er hat mich auch in die Auslegung der Genesis eingeführt.“11 Als „merkwürdig“ notierte Smend, dass Gildemeister „in seinen Vorlesungen wie im Verkehr jede Äußerung über den Werth der Dinge vermied. Wie mir seine Frau [nach seinem Tod] erzählte, hatte er ihr, die hochkirchlich war, nie mit einem Worte gesagt, wie er über religiöse Dinge denke.“12 Außer der Genesis bot Gildemeister in jenen Bonner Semestern „nur“ Semitistisches. So las Smend bei ihm arabische, syrische und äthiopische Texte. Das Alte Testament studierte er im Übrigen bei Adolf Kamphausen, die restliche 8  Viel Aufsehen erregte 1844 „Der heilige Rock zu Trier und die zwanzig anderen heiligen ungenähten Röcke“, von Gildemeister zusammen mit seinem Kollegen Heinrich Sybel verfasst (Anm. R.S.). 9  H. Guthe, ZDPV 13 (1890) IIIf. Vgl. auch Wellhausen, Briefe 251f. 10  J. Wellhausen, Chronik der Georg-August-Universität zu Göttingen für das Rechnungsjahr 1913 (1914) 8. 11  R. Smend, Die Erzählung des Hexateuch auf ihre Quellen untersucht (1912) 361. 12  Smend an F. Overbeck 7./8.4.1893 (Univ.-Bibl. Basel, Nachlass Overbeck).

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Theologie blieb wie schon in Göttingen und Berlin am Rande. Gleichwohl absolvierte er im April 1874 vor dem Konsistorium in Münster das Examen pro licentia concionandi „gut“. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits Dr. phil. der Bonner philosophischen Fakultät. Die Dissertation bestand in der Edition, Übersetzung und Kommentierung eines berühmten 131zeiligen Liedes aus dem Divan des Beduinendichters Dsu r’Rumma (gest. 735)13. Die Disputation fand am 28. Januar 1874 statt, einer der adversarii war der stud. theol. Carl Heinrich Cornill (1854–1920), mit noch nicht 20 Jahren gut zwei Jahre jünger als der 22jährige Promovend. Gildemeister steuerte zur Disputation ein detailliertes kritisches Votum bei und schloss das Ganze mit einer Anrede an den frischgebackenen Doktor: „Ex quo disciplinae meae te tradidisti, cognovi te sollertem, industrium, propositi tenacem, difficultatibus in re ardua non perterritum nec victum; indefesso studio tibi comparasti linguarum perdifficilium cognitionem accuratam certam, qualem assequi aequalium tuorum non multi valent. Dum igitur tibi primam hanc lanceam gratulor, spero, imo confido fore ut etiam in posterum in via qua incepisti pergas, spero fore ut dum laboribus novos addideris labores, laudibus et honoribus addantur ulteriores laudes atque honores.“14 Der nächste Schritt, die Promotion (und Habilitation) in der theologischen Fakultät, konnte nicht in Bonn erfolgen, wahrscheinlich weil hier im Vorjahr Karl Budde promoviert und habilitiert worden war – übrigens unter Beteiligung Smends als adversarius bei der Disputation15 – und seitdem als Privatdozent wirkte. So wandte Smend sich an Lagarde in Göttingen und schlug ihm sogleich als Thema das apokryphe Buch Baruch vor, weil ihm „sowohl die Zeitbestimmung desselben bei Ewald sehr vag als das Verhältniß desselben zum Buche Daniel noch nicht ganz aufgeklärt“ schien16. Aber dieser Vorstoß blieb erfolglos, und so sah sich der Petent nach einem anderen Mentor und einem zentraleren und aktuelleren Thema um. Es war erst wenige Jahre her, dass Karl Heinrich Graf seine berühmte Hypothese von der Posteriorität des priesterlichen Gesetzes aufgestellt und dass der große Abraham Kuenen seine israelitische Religionsgeschichte geschrieben hatte, die nicht bei Mose, sondern bei den ersten Schriftpropheten einsetzte17, und es war noch einige Jahre hin, dass Julius Wellhausen auf ihrer Linie sein neues Konzept der Geschichte Israels vorlegte. In dieser Gärungszeit versuchte eine Reihe älterer und jüngerer 13  Über diesen Dichter vgl. Th. Nöldeke, ZA 33 (1921) 169–97, über das fragliche Lied dort 177f.: „Dies Gedicht, das schon 1874 Rudolf Smend als würdiger Schüler Gildemeisters in Text und Übersetzung musterhaft herausgegeben hat […]“. 14  Den Zettel, auf dem Gildemeister diese Ansprache fixiert hatte, fand Smend, als er 1890 den Nachlass des Lehrers ordnete. 15  S.o. 411 und vgl. ThStKr 51 (1878) 153–73. 16 Brief vom 3.2.1874 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Nachlass Lagarde). Von einer Promotion ist in diesem Brief allerdings nicht direkt die Rede; sie wäre bei Lagardes Verhältnis zur theologischen Fakultät auch nicht problemlos gewesen. 17  S.o. 310.

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Forscher unter verschiedenen Gesichtspunkten und selten sine ira et studio zur Lösung des Problems beizutragen, dessen Tragweite die Begriffspaare Gesetz/Propheten und Israel/Judentum bezeichnen. Unter den Bestreitern der Grafschen Hypothese ragte Eduard Riehm (1830–88) in Halle hervor, der in der Pentateuchkritik durch eine respektable Monographie über das Deuteronomium18 ausgewiesen war. „Mit wohlthuendem Eifer für die Sache“, so Wellhausen, vertrat er „die frühere Meinung über die Priorität der Grundschrift [also der Priesterschrift]. Das Zugeständnis der thatsächlichen Wirkungslosigkeit und Unbekanntheit ihrer Gesetze in der vorexilischen Zeit glaubt[e] er mit der Annahme einer verschämten Latenz paralysiren zu können“19. Ihm, übrigens einem Freund Kamphausens, konnte sich der junge Smend getrost mit der Dissertation anvertrauen, die er im Münsteraner Elternhaus schrieb und im Mai 1875 der Hallenser Fakultät einreichte: „Quidnam prophetae saeculi noni et octavi de religionis Israeliticae moribus et institutis eorumque origine et antiquitate prodant.“ Im Druck erhielt sie nachträglich noch den plakativen Obertitel „Moses apud Prophetas.“ Die Untersuchung, nach dem Urteil eines Rezensenten „auf scharfsinnige und umsichtige Weise“, mit „strenger Logik, mit gewandter Benutzung aller Momente, namentlich in einer die Schlußfolgerungen vorsichtig begrenzenden Art“ geführt20, gelangte zu dem Ergebnis, dass die Propheten ein seit alters bestehendes Bundesverhältnis zwischen Jahwe und Israel und ein damit zusammenhängendes religiös-sittliches Herkommen voraussetzen, das sich mit der „levitischen“ Gesetzgebung in den mittleren Büchern des Pentateuchs materiell einigermaßen in Einklang bringen lässt, allerdings nirgends ausdrücklich auf sie Bezug nimmt. Zwingende Argumente sieht Smend weder für ein frühes („mosaisches“) noch für ein spätes (nachexilisches) Datum dieser Gesetzgebung. Im zweiten Fall, den er also nicht ganz ausschließt, verneint er ihre Zugehörigkeit zum „ersten Elohisten“ (der Priesterschrift), von der Graf sich noch durch seinen „Goel“ Kuenen hatte überzeugen lassen21. Den Kern der Grafschen Hypothese, die Voranstellung des Deuteronomiums vor der Priesterschrift, lehnt er entschieden ab. Nicht zu Unrecht bemängelt er, dass die Grafianer bisher keine genauere Vorstellung von der Komposition des Pentateuchs entwickelt haben22. Aber Offenheit bei ihm selbst verrät die fünfte seiner zehn Disputationsthesen vom 31. Juli 1875: „Dass der sogenannte erste Elohist der älteste Erzähler der Genesis sei, ist eine bisher unbewiesene Behauptung.“ 18  Die Gesetzgebung Mosis im Lande Moab (1854). 19  Riehm: ThStKr 41 (1868) 372–76; Wellhausen: F. Bleek, Einleitung in das Alte Testament 4 (1878) 173. 20  L. Diestel, ThLZ 1 (1876) 202. 21  S.o. 309. 22 „Ceterum qui Grafium sequuntur, quidnam de Pentateuchi compositione sentiant, accuratius adhuc nemo exposuit.“ Zum Vorstehenden vgl. besonders Moses apud Prophetas 73–75.

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Einer seiner genauesten Leser war Abraham Kuenen, der sogleich erkannte, „dat de auteur eene bijdrage heeft willen leveren tot wederlegging van mijn ‚Godsdienst van Israel‘“23. Doch die Lektüre führte ihn zu dem zuversichtlichen Schluss, die Verfechter der Priorität des priesterlichen Gesetzes könnten mit Pyrrhus sagen: „Noch ein solcher Sieg, und es ist um mich geschehen.“ Wenn ihre Sache durch einen tüchtigen Mann (een bekwaam man), wie es Dr. Smend offensichtlich sei, nicht besser verteidigt werden könne, dann sei die endgültige Entscheidung nicht zweifelhaft und auch nicht mehr fern24. Fast gleichzeitig mit der Smendschen Dissertation erschien ein Buch, das Kuenens Geschichtsbild auf selbständige Weise bestätigte und verschärfte: des Göttinger Privatdozenten Bernhard Duhm „Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion“ (1875). Der Titel deutet, wie bei Smend, die These an, und indem Smend diese These negativ dahin formulierte, Duhm fordere, „daß die sogenannte mosaisch-gesetzliche Periode aus der Geschichte der israelitischen Religion zu streichen sei“, fixierte er scharf, ja überscharf seinen Gegensatz zu dem älteren Göttinger Wellhausen-Schüler, und man versteht, dass er das Bedürfnis empfand, seine eigene Position noch einmal, nunmehr im Verhältnis zu Duhm, zu durchdenken. Dazu öffnete ihm Riehm bereitwillig die von ihm herausgegebenen „Theologischen Studien und Kritiken“ für eine ausführliche Abhandlung „Ueber die von den Propheten des achten Jahrhunderts vorausgesetzte Entwicklungsstufe der israelitischen Religion“25. Der Standpunkt ist noch ziemlich der gleiche wie in der Dissertation: die Prophetie des 8. Jahrhunderts erscheint „als die organische Entwicklung von Keimen, die in der Vergangenheit lagen“26, die Grundgedanken des Deuteronomiums sind „im wesentlichen uralt“27, was aber auch von den Gesetzen im Leviticus gilt, selbst „wenn man annimmt, dass der Leviticus nach dem Exil geschrieben sei“28 – wozu sich Smend aber immer noch nicht verstehen kann: „Wir wüßten […] nicht, was sich auf Grund der älteren Prophetenschriften gegen eine frühere Abfassung des Leviticus einwenden ließe.“ 29 Diesmal kam die Reaktion aus Schottland, und sie lautete ganz ähnlich wie die vorjährige aus den Niederlanden: W. Robertson Smith fand in Smends Aufsatz „many important considerations“, doch ob der Verfasser mit seiner Meinung über das Alter der levitischen Gesetzgebung Recht habe, sei „another question“. Aber wie

23  ThT 10 (1876) 267. 24  Ebd. 272. 25  ThStKr 49 (1876) 599–664, Zitat 635. 26  Ebd. 608. 27  Ebd. 654. 28  Ebd. 655. 29  Ebd. 661.

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schon „Moses apud prophetas“ gebe der Aufsatz „the promise of very valuable service in the field of biblical study“30. „Er wurde indessen bald anderer Meinung und ein überzeugter Anhänger der Grafschen Hypothese“, konstatierte später mit der ihm eigenen Trockenheit der Mann, der diesen Sinneswandel herbeigeführt hatte, Julius Wellhausen31. Er lieferte 1876/77 die 1875 von Smend angemahnte „genauere Vorstellung von der Komposition des Pentateuchs“ und zog 1878 die Konsequenzen der Grafschen Hypothese für die Geschichte Israels32. Das Dokument für Smends Konversion zu Graf (und in diesem Sinn zu Wellhausen) ist sein Ezechielkommentar im „kurzgefassten exegetischen Handbuch“, den er 1877 in Angriff nahm33 und 1880 abschloss. Das Vorwort aus dem März 1880 enthält einen unmissverständlichen Widerruf des 1875 und 1876 Gesagten: „Nach den neueren Verhandlungen kann von einer Bezeugung des Priestercodex vor dem Exil wohl nicht mehr die Rede sein. Wohin man nur in der älteren Literatur greift, man stösst auf die flagrantesten Widersprüche mit seinen Vorschriften, und was noch wichtiger ist, auf die auffallendste Unbekanntschaft mit seinen Grundgedanken. Es ist deshalb eine ganz abstracte Hypothese, vermittelst deren man seine vorexilische Entstehung festzuhalten sucht.“ Von dieser Hypothese ausgehend sei er selbst „an die vorliegende Arbeit mit der zuversichtlichen Erwartung herangetreten, sichere Spuren von einer Benutzung des Priestercodex durch Ezechiel aufzeigen zu können, aber so zahlreich die Berührungspuncte“ seien, nirgends habe er „das Gesuchte gefunden, an einer grossen Zahl von Stellen“ glaube er „das Gegenteil sehr wahrscheinlich gemacht, an manchen […] auch positiv bewiesen zu haben“34. Wellhausen, der eine Korrektur des Kommentars las und eine Reihe von Emendationen beisteuerte35, wird das ohne Überraschung zur Kenntnis genommen haben. Allerdings musste er sich im gleichen Vorwort auch sagen lassen, er behandle den Ezechiel mit einer „Geringschätzung“, die man „nicht für ernst gemeint halten“ könne36 und die er beim positiven Aufbau der Geschichte Israels gewiss aufgeben werde. Er ließ es sich gesagt sein und strich den fraglichen Satz37. Für Smend war Ezechiel „der Anfänger einer neuen Zeit, der geistige Vater des Judenthums, der als solcher ohne Zweifel eine der ersten Stellen unter den Männern des A.T. 30  W.R. Smith, Lectures and Essays (1912) 396, aus einem Artikel von 1877 über Old Testament Study in 1876. 31  Chronik (wie Anm. 10) 8. 32  S.o. 348–50. 33  Brief an Dillmann 11.4.1877. Dort zur Begründung: „Allein schon sein [Ezechiels] Verhältnis zur Grundschrift des Pentateuchs wäre einer genaueren Untersuchung bedürftig.“ 34  Ezechiel (1880) VIf., am Anfang in Übereinstimmung mit dem Exemplar des Verfassers dreimal „ihren“ in „seinen“ verbessert. 35  Ebd. IX. 36  Ebd. VIII; gemeint ist Geschichte Israels I (1878) 419. 37  Prolegomena zur Geschichte Israels (21883) 428. Gleichgeblieben: Geschichte Israels I, 437f. = Prolegomena 2447. Vgl. dann Israelitische und jüdische Geschichte (1894) 109–13.

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einnimmt. […] Ezechiel meistern heißt in der That die Geschichte meistern, deren Gang gerade hier so verständlich ist wie nur irgendwo.“ Allerdings nicht jedem verständlich, sondern nur dem, „dem die wahre Aufgabe der biblischen Theologie, das Werden der Offenbarung zu verfolgen und aufzuzeigen, wirklich am Herzen liegt“38. Ob Wellhausen das auch so gesagt hätte? Einer der Nachfolger hat Smends Kommentar aufgrund seiner Bestimmung des „religionsgeschichtlich“ entscheidend wichtigen Verhältnisses zum Priesterkodex „ein Ereignis auf dem Boden der Exegese“ Ezechiels genannt39; auf anderem Gebiet, dem literarkritischen, gilt er heute – außer vielleicht bei Endtext-Enthusiasten, falls sie ihn kennen – beinahe schon als Kuriosum: für Smend ist das Buch „weniger eine Geschichte seiner [Ezechiels] Wirksamkeit, als vielmehr ein Gesammtausdruck seiner Ueberzeugungen, der in den Rahmen jener gelegt ist“, höchstwahrscheinlich „auch in einem Zuge niedergeschrieben“ als „die logische Entwicklung von Gedanken nach einem wohlüberlegten und z. Th. ganz schematischen Plane, man könnte kein Stück herausnehmen, ohne das ganze Ensemble zu zerstören“40. Sogar ein getreuer Schüler Smends sah sich zu der Feststellung genötigt: „Diese Anerkennung der Einheitlichkeit des Buches geschah auf Kosten seiner Wahrheit und Lebensnähe.“41 Im 20. Jahrhundert hat sich das Buch in wachsender Entfernung von Smends Kommentar als geradezu paradigmatischer Gegenstand einer immer kritischer werdenden Literarkritik erwiesen. Es versteht sich leicht, dass Smends Mentor Riehm über den Kommentar nicht glücklich war, zumal da Wellhausen ihn selbst vor kurzem gründlich hergenommen hatte42. Der Smend, auf den er sich später noch einmal berief43, war denn auch nicht der von 1880, sondern der von 1875/76. Ähnlich dachte natürlich auch der alte Delitzsch im benachbarten Leipzig, der Smend bis dahin als einem „angenehmen zugänglichen Collegen“44 freundlich begegnet war. Er nannte den Kommentar „sorgfältig und vielfach fördernd“, bemängelte aber, dass er „ganz und gar auf Wellhausen’s Geschichtskonstruktion basirt und auch von der Einwirkung Wellhausen’schen Geistes und Tones sich nicht so, wie es das freimüthige Vorwort erwarten läßt, freizumachen vermocht hat“45. Umso schwerer wog für Smend, dass ihm Abraham Kuenen, der Kritiker von „Moses apud Prophetas“, aufgrund des Ezechielkommentars „eene eereplaats […] onder de uitleggers van het O. Testament“ zusprach und die Hoffnung 38  Ezechiel VIII. 39  A. Bertholet, Das Buch Hesekiel (1897) XXIV. 40  Smend, Ezechiel XXIf. 41  O. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament (31964) 495. 42  Bleek, Einleitung 4173–77. 43  Ed. Riehm, Alttestamentliche Theologie, hg.v. K. Pahncke (1889) 57. 44  Briefwechsel zwischen Franz Delitzsch und Wolf Wilhelm Graf Baudissin, hg.v. O. Eißfeldt u. K.H. Rengstorf (1973) 461. 45  ZKWL 1 (1880) 288.

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äußerte, „Dr. Smend nog dikwerf [oft] te ontmoeten [begegnen] op het terrein, waarop hij door dezen commentaar zoo voortreffelijk heeft gedebuteerd“46. Der Abschluss des „Ezechiel“ fiel zusammen mit dem Abschied von Halle. Zum Sommersemester 1880 zog Smend mit seiner jungen Frau und einem vier Monate alten Töchterchen nach Basel, von wo Emil Kautzsch nach Tübingen gewechselt war. Auf Kautzschs Lehrstuhl hatte sich auch Wellhausen Hoffnungen gemacht47, aber sein nicht lange danach gefasster Entschluss, in die philosophische Fakultät überzutreten48, lässt zweifeln, ob er einem Ruf an die Basler theologische Fakultät wirklich gefolgt wäre. Immerhin: noch nach Jahrzehnten grollte Frau Wellhausen den Baslern, weil sie damals nicht ihren Mann, sondern „seinen zweiten Aufguß, Smend, nahmen“49. Dieser, voller Begeisterung für das junge preußisch-deutsche Reich, zögerte ein wenig, ins Ausland zu gehen; aber er war, wie eine Rücksprache im Berliner Ministerium ergab, in Preußen ohne Aussicht auf Beförderung – in Halle vertraten das Alte Testament auf absehbare Zeit die Ordinarien Riehm und Schlottmann –, und so nahm er den Ruf an. Den Entschluss erleichterte der Umstand, dass im letzten Jahr zwei nahe Freunde Halle verlassen hatten: der Bibliothekar und Textforscher Oskar von Gebhardt (1844–1916), Harnacks Freund und Mitarbeiter, um vorläufig nach Göttingen, der Systematiker Wilhelm Herrmann (1846– 1922), später der Lehrer Karl Barths und Rudolf Bultmanns, um endgültig nach Marburg zu gehen. Die Verbindung zu beiden blieb bestehen. Mit Herrmann, der, seinerseits frischgebackener Privatdozent, 1875 bei seiner Disputation einer der drei Adversarii gewesen war, verband Smend das Ideal einer unbedingten, unpathetischen Wahrhaftigkeit; beide unternahmen damals und auch noch später gemeinsam tagelange Wanderungen. Aus Göttinger Tischgesprächen im Hause Smends ist überliefert, dass der Gastgeber auf längere Ausführungen des Gastes lediglich mit dem Seufzer reagierte: „Ach Herrmann, du mit deinem Neukantianismus!“ Die Stärke des Freundes sah er so: „Herrmann ist ein trefflicher Mensch, von Herzen fromm und so gar nicht in das Ritschl’sche System gebannt. Er wirft es jeden Tag von sich, sobald er einen besseren Weg sieht, dem Volke in Wahrheit das Evangelium zu predigen. Er könnte wirklich jeden Tag ein Bauernpastor werden, was ich seinen Collegen von der Schule nicht zutraue.“50 In Anwandlungen von Überdruss an der Wissenschaft konnte Smend dieses Ideal auch für sich selbst kultivieren: „Im Stillen sehne ich mich oft nach dem Schicksal und dem Glück eines Landpfarrers. Ich glaube, ich käme da [anders als Herrmann] gar nicht einmal mit der Kirchenbehörde und dem Dogma in Conflict.“51 46  ThT 14 (1880) 641f. 47  Vgl. Wellhausen, Briefe 65f. 48  Ebd. 98. 49  Brief an Ad. Jülicher 3.2.1918 (Univ. Bibl. Marburg, Nachlass Jülicher). 50  Smend an Rudolf Stähelin 17.3.1890 (Staatsarchiv Basel, Nachlass Stähelin). 51  An Stähelin 19.3.1893.

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Der Beginn in Basel war schwer: am 4. Mai 1880 starb, kein halbes Jahr alt, das Kind. Am 21. Mai musste Smend seine Antrittsvorlesung halten, zu der nach hergebrachter Weise der Dekan „die hohen Behörden, die Lehrer der Universität, die Studierenden und alle Freunde der Wissenschaft“ in die Aula des Museums einlud, in den feierlichen Saal, der noch heute für derartige Veranstaltungen gebraucht wird und in dem damals, um das berühmteste Beispiel zu nennen, Jacob Burckhardt den Großteil seiner kulturhistorischen Vorträge hielt. Smend behandelte prinzipiell und umfassend „die Genesis des Judenthums“52. Seine ersten Sätze: „Israel und das Judenthum, Israeliten und Juden sind für die populäre Vorstellung ziemlich identische Begriffe, in Wahrheit sind sie sehr verschieden. Das alte Israel war ein Volk und ein nationaler Staat, das Judenthum eine religiöse Gemeinde. Hier haben wir die in der Weltgeschichte völlig vereinzelt dastehende Thatsache, dass die nationale Religion den Untergang des nationalen Staates überdauerte und den Rest des alten Volkes sogar viel fester zusammenschloß als einst Staat und Volksthum es vermocht hatten. Diese merkwürdige Metamorphose war freilich nur deshalb möglich, weil die Religion schon im alten Israel gegenüber von Staat und Volksthum eine solche Selbständigkeit erlangt hatte, dass sie nicht in den Untergang jener verwickelt wurde – und mehr als das, die Religion hatte den Untergang von Staat und Volksthum längst gefordert, ehe er eintrat. Trotzdem wäre es ein Irrthum zu glauben, dass die israelitische Religion von jeher abgesehen von Staat und Volksthum diese Selbständigkeit besessen oder gar in dieser Weise ihnen gegenübergestanden hätte. Was das Facit der Geschichte des alten Israel war, kann nicht ihr Ausgangspunkt gewesen sein.“53 Das ist Wellhausen in Kurzfassung, und daran schließt sich in ständiger stillschweigender Anknüpfung an die „Geschichte Israels“ von 1878 und ebenso stillschweigender Revision der eigenen Ansichten von 1875/76 ein Tour d’horizon durch die israelitischjüdische Religionsgeschichte, für uns mit wenig Überraschungen, aber damals immerhin in den Augen A. Kuenens a „very interesting sketch“54. Smends Fazit: „Es kann […] keinem Zweifel unterliegen, daß die nächste Aufgabe der atl. Theologie vor allen Dingen die Geschichte des vorchristlichen Judenthums ist.“55 Einen ersten eigenen Beitrag dazu hatte der Redner gerade geliefert, indem er den Ezechiel als „geistigen Vater des Judentums“ kommentierte. Nach dem ersten Basler Semester schrieb er aus dem Urlaub an Freund Gebhardt diesen Bericht: „Hoffentlich kann ich Anfang September wieder mit frischen Kräften in Basel anfangen. Allmälig bin ich mit den dortigen Verhältnissen vertrauter geworden und kann die dortige Situation, soweit sie für mich von Bedeutung ist, übersehen. Im Ganzen bin ich recht gern dort, 52  In erweiterter Fassung erschienen in ZAW 2 (1882) 94–151. 53  Ebd. 94f. 54 An Historical-Critical Inquiry into the Origin and Composition of the Hexateuch (1886) xxix1. 55  Ebd. 97.

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freilich in der stillen Hoffnung, daß ich bei längerem Leben nicht immer dort bleibe. Die Basler sind an sich ein höchst vortrefflicher Menschenschlag. So eine kleine Republik, die sehr sehr viel Geld besitzt, ist der günstigste Boden, um die einzelne Persönlichkeit nach allen Seiten zu entwickeln. Aber namentlich gedeihen dort häusliche Tugenden. Die Geschlossenheit eines Basler Hauses ist von großem Eindruck auf mich gewesen. Die Basler besitzen sehr viel Gemeinsinn, was uns Deutschen in hohem Grade auffällt, dem öffentlichen Wohle opfert der Einzelne Zeit und Geld in überraschendem Maße. Auf ihre Universität sind sie stolz und Jedermann ist an seinem Theile bemüht, sie auf dem Damm zu halten, auch gehört es zum guten Tone, allgemein wissenschaftlich interessirt zu sein. Die Kehrseite ist aber auch die, dass in dem kleinen Staate alle Wissenschaft möglichst practisch sein soll und Jedermann in allem Thun und Reden politisch ist. Die Schärfe, mit der die Gegensätze von Rechts und Links in Staat und Kirche einander gegenüberstehen, verschlimmert diesen an sich natürlichen Übelstand, zumal die beiden Parteien ziemlich gleich stark sind und die Majorität jeden Augenblick schwankt. Da bin ich nun sehr unbrauchbar, während mein Vorgänger Kautzsch eine große Rolle gespielt hat. Die kirchlich conservative Partei verdient die größte Hochachtung, man kann in gewissem Sinne sagen, daß es sich in Basel um Anständig und Unanständig handelt, wenn man sich für die eine oder andere Partei entscheiden soll. Vor dem Basler Pietismus muß man tiefen Respect haben. Aber ich bin nun einmal kein Pietist und werde es hier auch nicht werden. Das hat für mich freilich den Vorteil, dass man mich nicht allzu sehr in Anspruch nehmen wird und ich mich meiner nächsten Aufgabe auch mehr widmen kann, als andere. Kautzsch ist vor lauter practischer Thätigkeit in Vereinen, Predigten etc. zu nichts gekommen. Ich werde mich übrigens aufs Schulmeistern legen müssen. Die Bibliothek hat an neueren Sachen sehr wenig, viel weniger noch als die Hallesche, im akademischen Leseverein fehlt an theologischen Zeitschriften und erst recht an orientalischen das Allergewöhnlichste. Einen Fachgenossen, von dem ich für meine nächsten Zwecke etwas lernen könnte, habe ich nicht. Orelli56 geht in practisch kirchlicher Tätigkeit auf und hat mit der theologischen Wissenschaft abgeschlossen. Kaftan57 gefällt mir weit besser, als ich anfangs erwartet hatte. […] Overbeck58 ist im Verkehr die Liebenswürdigkeit selbst, ich möchte gern mit ihm näher verkehren, aber er ist im Vergleich zu mir allzu gelehrt und 56 Konrad v. Orelli (1846–1912), seit 1873 Inhaber einer vom Verein für christlichtheologische Wissenschaft unterhaltenen Stiftungsprofessur, 1881 (gleichzeitig mit Smend) zum Ordinarius ernannt. Das Verhältnis zwischen beiden Kollegen war gut: „Mein Specialcollege Orelli ist ein trefflicher Mensch, seine Freundschaft ist für mich von großem Werth“ (Brief Smends an F. Spitta 24.8.1880, Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Spitta). 57 Julius Kaftan (1848–1926), seit 1874/81 Inhaber einer zweiten derartigen Stiftungsprofessur, 1883 nach Berlin abgegangen. Er erklärte seinerseits Smend für „unbedeutend“ (Wellhausen, Briefe 214). 58  Franz Overbeck (1837–1905), seit 1870 ao., seit 1871 o. Professor für neutestamentliche Exegese und ältere Kirchengeschichte.

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allgemein theologisch steht er doch auf einem allzu disparaten Standpunct. Am allerbesten gefällt mir Prof. Stähelin59, das ist ein Mann von gründlicher Bildung und höchst verständigem Urteil. Die Studenten sind sehr fleißig, ich will nun das Unterrichten lernen, was doch meine nächste Aufgabe ist. Das Büchermachen soll einstweilen ruhen.“60 In den nächsten Jahren lebte er sich in Basel so gut ein, dass später Wellhausen „gar nicht begreifen“ konnte, dass er von dort wieder fortgegangen war61. Nach anfänglichem Zögern ließ er sich gern in den geselligen Verkehr der Kollegen hineinziehen, bis hin zum Kegelspiel im Casino und auf der Schützenmatte. An den Fakultätsgeschäften beteiligte er sich pflichtbewusst und lebhaft; er rief das theologische Seminar mit seinen Abteilungen ins Leben62. Sein engster Freund unter den Theologen wurde bald der Kirchenhistoriker und ZwingliBiograph Stähelin, aber auch Overbeck trat er nahe; er nahm dessen Tod zum Anlass, ihn gegenüber Jülicher als einen Kollegen zu verteidigen, „der mir in seiner moralischen und allgemein menschlichen Persönlichkeit als ein Auserwählter erschienen ist – trotz seiner mir ganz unbegreiflichen Stellung zur Religion“; er sei mit ihm „practisch immer genau d’accord“ gewesen63. Enge Beziehungen bestanden auch in die philosophische Nachbarfakultät; im Fall des Historikers Wilhelm Vischer (1833–86) und des Gräzisten und Indogermanisten Jacob Wackernagel (1853–1938) wurden sie durch wechselseitige Patenschaften bekräftigt. Gemeinsame Neigungen führten zur Freundschaft mit dem philologisch und historisch gebildeten Nationalökonomen Karl Bücher (1847–1930, seit 1892 in Leipzig), nicht zuletzt die Verehrung für Jacob Burckhardt. In Büchers Lebenserinnerungen64 heißt es: „Nach seiner Vorlesung pflegte Jakob Burckhardt die Lesegesellschaft am Münsterplatz zu besuchen, und dort sind wir oft in der Stunde zwischen 12 und 1 Uhr mittags mit ihm zusammengetroffen, mein verstorbener Freund und Kollege Rudolf Smend und Burckhardts Neffe Oeri, und haben uns seiner treffenden Bemerkungen über Politisches und Soziales erfreut.“ Der berühmte und bescheidene Mann gab dem jungen Alttestamentler „manchen Erweis gütiger Gastlichkeit“65, vorzugsweise auf Wanderungen zu zweit in der Basler Umgebung, wo sie gern die badischen Rotweine im „Ziel“ und in der „Krone“ von Grenzach tranken. Smend hielt sich lebenslang etwas darauf zugute, dass er in den dabei gepflogenen Gesprächen 59  Rudolf Stähelin (1841–1900), 1873 Privatdozent und ao., 1875 o. Professor der Kirchengeschichte. 60  Brief aus Alexandersbad vom 24.7.1880 (Staatsbibliothek Berlin, Sammlung Darmstaedter). 61  Brief Smend an Overbeck 4.4.1894. 62  Vgl. Overbecks Brief an Harnack 5.1.1886 (in: Overbeck, Werke und Nachlass VIII, 2008, 333); dazu E. Bonjour, Die Universität Basel (1960) 528–30. 63  Brief vom 5.7.1905; ausführlich über Overbeck schon am 13.11.1901. 64  I (1919) 328. 65  Smend an Burckhardt 18.5.1893 bei H. Heimpel, Zwei Historiker (1962) 64. Vgl. auch W. Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie VI (1977) 846f.

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– zweifellos vergeblich – Burckhardt davon zu überzeugen versucht hatte, dass Rembrandt das Alte Testament besser verstand als Rubens66. Beim Begräbnis W. Vischers (1886) sagte Burckhardt nach der Ansprache des Antistes Stockmeyer über 2 Kor 12,9 („Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“) zu dem im Trauergeleit neben ihm gehenden Smend: „Gegen das, was wir an diesem Grabe gehört haben, ist alles andere Dreck.“67 Noch einen anderen, in ähnliche Richtung gehenden Ausspruch Burckhardts hat Smend überliefert: „Wir ‚blinden Heiden‘ sehen besser, wie hoch das Münster ist als die, die darinnen sitzen.“68 Zum 75. Geburtstag schrieb er dem „Hochverehrten“: „Vielleicht erlauben Sie […] Einem, der gelegentlich über den Zaun ein wenig in Ihren Garten sehen durfte, Ihnen zu sagen, daß er an den Garten und an den Gärtner zeitlebens denken wird.“ Er unterstrich seinen Glückwunsch mit einer Göttinger Schinkenwurst69, die Burckhardt als „wunderbares Geschenk“ entgegennahm; ob er aber auch nur, wie angekündigt, einen „weihevollen ersten Biß“ getan hat70, wird wohl immer zu den ungelösten Problemen der Burckhardtforschung gehören71. Der Neu-Basler verwirklichte seinen Vorsatz, zunächst das Unterrichten zu lernen, mit großer Hingabe, nicht nur in der Universität, sondern auch im Pädagogium am Münsterplatz, dem Basler Gymnasium, wo der Inhaber der alttestamentlichen Professur den Hebräischunterricht zu erteilen hatte. Sein komplementärer Vorsatz, das Bücherschreiben einstweilen ruhen zu lassen, wäre beinahe folgenschwer durchkreuzt worden, indem er die babylonischassyrische Geschichte in Perthes’ „Handbüchern der alten Geschichte“ übernahm. Ob vielleicht Gildemeister dahinter steckte, der ihn auf diese Weise in die Orientalistik zurückholen wollte? Oder Riehm, den Perthes einige Jahre später um sein Urteil bat, als R. Kittel die „Geschichte der Hebräer“ schreiben wollte72? „Es ist“, schrieb Smend nach seiner Zusage ahnungsvoll, „eine etwas weit aussehende Geschichte, ob ich darüber noch einmal Assyriolog werde, muß sich finden.“73 Natürlich hätte er es werden müssen, und das hätte seiner Arbeit am Alten Testament eine ganz andere Richtung gegeben, wäre aber 66  Einen Anlass mag der Vortrag über „Die Malerei und das Neue Testament“ gegeben haben, den Burckhardt am 27.10.1885 in der Aula hielt (Kritische Gesamtausgabe XIII, 475–87, vgl. 919). Zu Burckhardt und Rembrandt vgl. ebd. XVIII, 549–609 (Vortrag von 1877) und etwa Kaegi IV (1967) 324–26 (mit weiterer Lit.), VI (1977) 738f. 67  A. v. Martin, Die Religion in Jacob Burckhardts Leben und Denken (1942) 263 nach einem Bericht Eberhard Vischers; dort allerdings die Fassung „Es ist doch alles Dreck außer der Religion.“ Der obige Wortlaut (bei N. Bolt, Wege und Begegnungen, 1935, 55) passt besser in die Situation. 68  Bei C. Neumann, Jacob Burckhardt (1927) 272. 69  Heimpel (Anm. 65) 65. 70  Burckhardt an Smend: Burckhardt, Briefe X (1986) 103. 71  Vgl. Burckhardts Brief an seinen Neffen Grüninger ebd. 100. 72  S.u. 460. 73  Brief an F. Spitta 24.8.1880.

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zweifellos auch dem damals nicht immer glücklichen Verhältnis zwischen den Disziplinen zugutegekommen. Der jungen Assyriologie, die ebenso wie die „biblische“ Archäologie gern mit konservativ-apologetischer Bibelwissenschaft verbündet war und mitunter zu haltlosen Spekulationen neigte, hätte es nicht geschadet, von einem Vertreter des damals avantgardistischen Flügels der alttestamentlichen Wissenschaft historisch-kritisch bilanziert zu werden, und umgekehrt kann man vermuten, dass in der endgültigen Ausformung von Wellhausens Bild der Geschichte Israels (1894) die altorientalische Dimension aufgrund einer solchen in seinem Sinn geleisteten Freundesarbeit kräftiger hervorgetreten wäre. Aber so sehr man es bedauern mag: im Blick auf seine Kräfte tat Smend wohl gut daran, sich gleich bei der Zusage von Perthes „Zeit und Ruhe assecuriren“ zu lassen und bald danach von dem Vorhaben Abstand zu nehmen74. Auf dem Gebiet der Geschichte des vorchristlichen Judentums, die er in seiner Antrittsvorlesung die nächste Aufgabe der alttestamentlichen Theologie genannt hatte, war ja genug Arbeit zu tun. Hatte er in Halle den Propheten Ezechiel als den „geistigen Vater des Judentums“ dargestellt, so fasste er in Basel zunächst die „Zusammensetzung der jüdischen Gemeinde im ersten Jahrhundert ihres Bestehens“ ins Auge. Er analysierte dafür penibel eine der sprödesten Textgruppen des Alten Testaments, die Namenlisten in den Büchern Esra und Nehemia, und unterbreitete das Ergebnis dem akademischen Publikum im Programm der Rektoratsfeier von 188175. Allgemeiner und eingängiger redete er zu den Baslern in einigen Vorträgen der kommenden Jahre: „Über die Bedeutung des Jerusalemer Tempels in der alttestamentlichen Religion“76, „Über jüdische Apocalyptik“77, „Der Prediger Salomo“78. Daneben steht eine exegetische Arbeit wie die über Jesaja 24–27, die diese Kapitel in das 5. oder eher das 4. Jahrhundert v.Chr. setzt79 – man bedenke, dass damals noch Delitzsch’s Diktum im Raum stand, sie seien „so gewiß von Jesaia und nicht von einem andern Propheten, als nicht zwei Menschen in der Welt mit genau denselben Gesichtern zu finden“ seien80. So nannte Delitzsch die Abhandlung Smends denn auch „eine neue Rutschpartie auf der nachexilischen schiefen Ebene“81. Später rutschte er Smend ein klein wenig hinterher, indem er befand: „nicht Jesaia selbst, aber ein Jünger Jesaia’s 74  An seiner Stelle lieferte C.P. Tiele eine zweibändige Babylonisch-Assyrische Geschichte (1886/88). 75  Die Listen der Bücher Esra und Nehemia zusammengestellt und untersucht. Programm zur Rectoratsfeier der Universität Basel 1881. Auf die Art der Untersuchung dürfte Wellhausens Dissertation De gentibus et familiis Judaeis von 1870 eingewirkt haben. 76  ThStKr 57 (1884) 689–740. 77  ZAW 5 (1885) 225–50. 78  KBRS 45 (1889) 1–23; auch separat. 79  ZAW 4 (1884) 161–224. 80  F. Delitzsch, Biblischer Commentar über den Propheten Jesaia (21869) 313; vgl. Smend a.a.O. 193. 81  Briefwechsel (s. Anm. 44) 491.

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der hier den Meister überbietet“82. Einer ganz anderen Aufgabe, die er noch aus Halle mitgebracht hatte, unterzog sich Smend gerade um ihrer Andersartigkeit willen: der Bearbeitung einer Serie topographischer Artikel in Riehms „Handwörterbuch des Biblischen Altertums für gebildete Bibelleser“ (1884); obwohl er nie in den Orient reiste, bewahrte er der historischen Geographie sein Interesse83. Zur benachbarten Epigraphik lieferte er einen Beitrag, indem er 1886 zusammen mit einem gebürtigen Basler, dem Tübinger Semitisten Albert Socin (1844–99), im Pariser Louvre die direkten und indirekten Überreste der 1868 gefundenen Stele des Königs Mesa von Moab untersuchte und ihre Inschrift in Nachzeichnung, Transkription, Übersetzung und kritischer Bearbeitung neu herausgab84. Die Edition überholte die vorangegangenen ersten Versuche und wurde ihrerseits durch ihre Nachfolgerinnen überholt, gemäß der Ankündigung Smends und Socins, sie „würden es ohne Neid sehen, wenn die Nachlese Ephraim’s besser wäre als die Lese Abi-‛Ezer’s“85. Die letzte größere Veröffentlichung der Basler Jahre wurde die bekannteste: „Ueber das Ich der Psalmen“86. Davon ausgehend, „daß der Psalter das Gesangbuch des zweiten Tempels“ war87 und dass es sich beim Tempeldienst in Jerusalem „zweifellos um die Gemeinde und nicht um die einzelnen Seelen“ handelte88, postulierte Smend im Anschluss an einen breiten Strom jüdischer und christlicher Auslegung ein grundsätzlich kollektives Verständnis jenes „Ich“. Er fand damit nicht wenige Anhänger über die deutschsprachige Wissenschaft hinaus; aber seine These lud auch zu mannigfachem Widerspruch ein, und nach einer Generation lieferte der Gunkelschüler Balla unter dem gleichen Titel eine vernichtende Widerlegung, die allerdings das Kind mit dem Bade ausschüttete. Schon Balla musste einräumen, „daß es eine Personifikation Israels und auch Lieder gegeben hat, deren Ich nicht ein Einzelner, sondern das Volk ist“89, und die seitherige Forschung, vor allem die in der Gunkelschule vernachlässigte Literarkritik, hat immer mehr eine „collective reinterpretation in the psalms“90 aufgewiesen. So war es doch etwas vorschnell, wenn Bernhard Duhm, ohne Smend beim Namen zu nennen, „das allegorische Ich, das kürzlich wieder umging“, kurzerhand einen „nichtigen Spuk“ nannte91. Smend plante 82  Commentar (41889) 286, vgl. 298. 83  Vgl. Zur Geschichte und Topographie des Ostjordanlandes, ZAW 22 (1902) 129–58. 84  R. Smend und A. Socin, Die Inschrift des Königs Mesa von Moab für akademische Vorlesungen herausgegeben (1886). Als erster reagierte Th. Nöldeke: LZD (1887) 59–61. 85  A.a.O. 5; vgl. Ri 8,2. 86  ZAW 8 (1888) 49–147. 87  Ebd. 50. 88  Ebd. 51; vgl. 55: „Schwerlich hat es sonst in der Welt ein Gemeindegebet von solcher Gewalt gegeben, das dabei so sehr Gebet gewesen wäre, wie das jüdische.“ 89  E. Balla, Das Ich der Psalmen (1912) 4. 90  So der Titel der Dissertation von M. Marttila (2006); dort auch eine Darstellung der Forschungsgeschichte. 91  B. Duhm, Die Psalmen (21922) XX.

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seine Psalmenstudien durch eine Arbeit über den Messias im Psalter fortzusetzen92, aber anderes schob sich in den Vordergrund. Das Basler „Stillleben“, wie er es nachträglich nannte, dauerte neun Jahre. Am 17. Mai 1888 wurde in der Göttinger philosophischen Fakultät durch den Tod Ernst Bertheaus der eine, alttestamentlich ausgerichtete, der beiden Lehrstühle frei, die seit Heinrich Ewalds Rückkehr aus Tübingen 1848 nebeneinander an der Stelle des alten Michaelis-Eichhorn-Ewaldschen Stuhls standen; den anderen besetzte seit 1869 Paul de Lagarde (1827–91), der sich auch in Biblisches kräftig einmischte. Die Situation war zusätzlich dadurch kompliziert, dass auch in der theologischen Fakultät ein Ordinarius für Altes Testament (und systematische Theologie!) saß, der elegante Ritschlianer Hermann Schultz (1836–1903), Smends Basler Vor-Vorgänger, und daneben der schlecht bezahlte Extraordinarius Duhm, wie Smend Schüler und Freund Wellhausens, aber wegen seiner offen zur Schau getragenen Unabhängigkeit bei den Ordinarien wenig beliebt und in Göttingen ohne die Chance eines Aufstiegs; es half ihm nichts, dass Wellhausen, damals in Marburg, bei den Theologen für ihn warb. Wellhausen war es auch, der die Partie um Bertheaus Nachfolge eröffnete. Schon zu Bertheaus Lebzeiten, am 9. Mai 1888, legte er dem Lenker der preußischen Hochschulpolitik, Friedrich Althoff in Berlin, brieflich Smend ans Herz; nirgends ist Smend so genau charakterisiert worden wie in den wenigen Sätzen dieses „unerbetenen Urtheils“, von dem der Schreiber hoffte, es werde nicht dazu dienen, „den Empfohlenen zu discreditiren“93. Aber dann lief die Sache zunächst nicht auf Smend zu, sondern auf Wellhausen selbst. Zwar schrieb Lagarde, der Inhaber des Nachbarlehrstuhls, noch vor Bertheaus Beerdigung, am 18. Mai, seinerseits einen Brief an Althoff, in dem er seine Zustimmung zu einer Berufung Wellhausens mit schärfsten Worten ausschloss94, doch angesichts der Tatsache, dass prominente Mitglieder der philosophischen und die ganze theologische Fakultät für Wellhausen optierten, der ja unstreitig nicht nur der namhafteste Vertreter des Faches überhaupt, sondern auch ein alter Göttinger Theologe war, schwenkte er nach wenigen Tagen überraschend um und schlug Wellhausen an erster Stelle vor; so beschloss die philosophische Fakultät am 21. Juni und setzte an die zweite Stelle ihrer Vorschlagsliste pari passu Cornill in Königsberg und Smend. Aber auch bei den Theologen, die in Bezug auf diesen Lehrstuhl ein Mitspracherecht hatten, gab es eine Überraschung, und zwar in umgekehrter Richtung: anscheinend auf Grund einer kirchlichen Intervention aus Hannover rückten sie mit Beschluss vom 23. Juli von Wellhausen ab und erklärten sich für Smend, neben dem sie Budde in Bonn und Nowack in Straßburg als „eventuell in Betracht“ kommend 92  ZAW 8, 861. 93  Wellhausen, Briefe 213f. 94  Dies und das Folgende nach den Akten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I Rep. 76 Va Sekt. 6 Tit. IV Nr. 1 Bd. XIII und nach Aufzeichnungen Lagardes in dessen Nachlass.

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nannten; den im Beschluss der Philosophen nicht erwähnten Duhm lehnten sie unzweideutig ab, fügten aber hinzu, „bei seiner ausgezeichneten wissenschaftlichen Begabung und Lehrtüchtigkeit“ sei ihm „eine anderweitige Beförderung zu einer ordentlichen Professur an einer anderen Fakultät wohl zu gönnen“. Von Wellhausen wusste man, dass er auf Göttingen keine große Lust hatte: er war gern in Marburg, wo ihm Althoff jetzt die bisher verweigerte Abhaltung alttestamentlicher Vorlesungen gestattete, in Göttingen waren ihm Ritschl und Lagarde „unheimlich“95. Die Sondierungen, die auf Grund der beiden Fakultätsvoten im Auftrag Althoffs der Göttinger Universitätskurator, ein Herr von Meier, vornahm, ergaben, dass sich Lagarde für Cornill, die Mehrheit der Philosophen und alle Theologen für Smend aussprachen; Ritschl wollte Smend sogar in der theologischen statt in der philosophischen Fakultät haben, was aber schon dessen reformierte Konfession ausschloss. Der Kurator beendete seinen Bericht nach Berlin mit dem Satz: „Am Einfachsten scheint mir mithin eine Berufung nach Basel.“ Diese erfolgte am 15. Oktober und enthielt den Hinweis: „Sollten Sie in Basel einen von unseren alttestamentlichen Extraordinarien, so namentlich Duhm oder Budde, gebrauchen können, so würde uns das sehr angenehm sein.“ Es machte Smend, der ein starkes Gerechtigkeitsempfinden hatte, zu schaffen, dass er in Göttingen Duhm vorgezogen wurde, doch Wellhausen beruhigte ihn: „Du kannst doch nicht dafür, daß man Duhm nicht will.“96 Um so mehr freute er sich, zum Abschluss der Verhandlungen nach Berlin melden zu können: „Ich zweifle nicht dass die hiesige alttestamentliche Professur Duhm angetragen werden wird.“97 Darauf hingewirkt zu haben – im Grunde seit Duhms 1885 von ihm herbeigeführter Basler Ehrenpromotion – dürfte für Smend die größte Genugtuung beim Abschied von Basel gewesen sein. Im Gegenzug mietete Duhm in Göttingen die erste Smendsche Wohnung, hängte dort zum Empfang ein von ihm selbst eingerichtetes Thermo-, Baround Hygrometer auf und veranlasste, dass die bisher aus seinem väterlichen Hof in Bingum regelmäßig an ihn geschickte ostfriesische Butter fortan in das Haus Smend geliefert wurde. Im März 1889 erfolgte der Umzug. Auf der Durchreise wurde die Familie in Marburg von den Freunden Wellhausen und Herrmann frohgemut begrüßt98, aber auf dem Kasseler Bahnhof geschah etwas, woran sich der damals 7jährige älteste Sohn lebenslang mit Bewegung erinnerte: Vater Smend kaufte eine Zeitung und las in ihr, dass tags zuvor Ritschl gestorben war; er hatte sich trotz aller theologischen Vorbehalte – vor allem Ritschls Eliminierung der biblischen Rede vom Zorn Gottes betreffend – am meisten auf das Zusammensein mit diesem Mann gefreut und nahm seinen Tod tief erschüttert als unglückliches Vorzeichen für die kommenden Jahre. 95  Wellhausen, Briefe 217. 96  Ebd. 218. 97  An Althoff 15.11.1888. 98  Brief Smends an Stähelin 11.4.1889.

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Aber auf die Dauer wurde er in Göttingen doch ganz heimisch; 1900 konnte ihn weder Bonn (Nachfolge Kamphausen) noch Marburg (Nachfolge Baudissin) ernstlich verlocken. Er hatte die kleineren Verhältnisse in Basel genossen, nahm aber die Herausforderungen, die die größeren in Göttingen stellten, von vornherein entschlossen an. Wie schon in Basel war er kein stilles Mitglied der Gremien, denen er angehörte, sondern beteiligte sich aktiv an den akademischen Geschäften. In Streitfragen „mit seinem starken sittlichen Gefühl immer am stärksten erregt“99, ging er auch keinem Konflikt aus dem Wege. Bei der Einführung des Frauenstudiums gehörte er – namentlich als Rektor100 – zu den Aufhaltern, bei der Teilung der philosophischen Fakultät zu den Neuerern, beides mit Entschiedenheit101. Hier sei aus einem vertraulichen Bericht zitiert, den der Universitätskurator Höpfner 1897 an den Berliner Kultusminister schickte: „Der Professor Smend, obwohl nach seiner temperamentvollen, etwas reizbaren Art ohne Zweifel der Gefahr ausgesetzt gelegentlich heftig mit Kollegen zusammenzustoßen, genießt in dem Kreise derselben, soviel mir bekannt, gleichwohl hohe Achtung, die sich offenbar ebensowohl auf seinen lauteren Charakter wie auf seine hohe wissenschaftliche Begabung und gründliche Gelehrsamkeit bezieht. Ich habe denselben auch nie anders als einen sehr ernsthaften Vertreter seines Berufs kennen gelernt und das wärmste Interesse für ihn genommen“102. Er exponierte sich auch außerhalb der Universität. Die Göttinger reformierte Gemeinde bestimmte er als tonangebendes Mitglied ihres Presbyteriums zweimal, 1901 und 1908, sich dem vom Ministerium gewünschten Anschluss an die reformierte Landeskirche zu verweigern, mit der Begründung, das „Wesen und die Macht des Protestantismus“ liege „in den Individuen und sodann in den Ortsgemeinden, in denen sich die Einzelnen, religiös und kirchlich Interessirten, aufgrund des örtlich überall verschiedenen religiösen Bedürfnisses zu gemeinsamer Arbeit zusammenschließen“; die preußische Staatsregierung solle eine Gemeinde wie diese „wenigstens als ein kleines Versuchsfeld dulden“103. Smend und ihm folgend die Gemeinde drangen damit durch, nach den (unvorhersehbaren) Erfahrungen der nächsten Generation mit nicht nur segensreicher Wirkung; der 1901 und 1908 versäumte Schritt wurde 2012 als überfällig nachgeholt.

99  G. Roethe in: Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder, bearb. v. D. Ruprecht u. K. Stackmann (2000) I, 561. 100  Damals offiziell „Prorektor“, weil den Titel des ‚Rector magnificentissimus‘ in der Nachfolge der Könige von England und Hannover ein Hohenzollernprinz führte. 101  Statt aus den Akten und der Literatur belege ich beide Vorgänge mit den pointierten Berichten Wellhausens: Briefe 359, 421; dazu Roethe/Schröder (vorige Anm.) II, 194. 102  11.3.1897 (Personalakte im Göttinger Universitätsarchiv). Dazu sei bemerkt, dass das persönliche Verhältnis zwischen Smend und Höpfner nicht gut war. 103  An den Minister 17.5.1901 (hier nach einer Abschrift).

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Gelegentlich trat Smend auch als politischer Redner für die Nationalliberalen auf, so im Wahlkampf 1907 gemeinsam mit Ed. Schwartz „vor Bürgern und Bauern gegen Papst und Türken“104 und beim Kommers zu Kaisers Geburtstag 1909, wo bei allem pflichtmäßigen Patriotismus hinter dem „Vertrauen“, dass „alle Guten sich mit dem Kaiser und Könige, als dem Erben der besten monarchischen Tradition, immer wieder zusammenfinden müssen“105, eine leise Sorge durchzuklingen scheint. Gerade weil Smend ein überzeugter Monarchist war, hatte er eine heftige Aversion gegen Wilhelm II.; seine Söhne hörten ihnen mehr als einmal mit zornbebender Stimme die Worte hervorstoßen: „Der ist kein König.“ Die offiziellen und privaten Nebenbeschäftigungen – unter letzteren herausragend: Jagd und Familiengeschichte – traten nie in Konkurrenz zu Smends Beruf. Er war trotz gelegentlicher Anwandlungen von Zweifel an seiner Eignung mit Leib und Seele Professor. Das spürten, wie es sich gehört, vor allem die Studenten. Jemand, der ihn fast täglich vor Augen hatte, hielt fest: „Er vernachlässigte aber darum [trotz seiner lebhaften Beteiligung am akademischen, politischen und kirchlichen Leben] in keiner Weise seinen Lehrberuf. Mit Vorliebe und mit besonderem Geschick leitete er die Uebungen des Alttestamentlichen Seminars; er sorgte auch anderweit väterlich für seine Studenten und ließ sich dabei keine Mühe verdrießen.“106 Seine Haltung im Kolleg hat ein Hörer so charakterisiert: „Für uns war der Dozent Rudolf Smend durch strenge vornehme Sachlichkeit gekennzeichnet. Polemik, gar persönliche, Herummäkeln an fremden Ansichten gab es hier nicht. Die Sache kam beherrschend zur Sprache, alles andere nur, soweit es zur Sache etwas zu sagen hatte. Den Traditionsgebundenen konnte manch schroffes Urteil befremden; dem Lernfrohen erschloß sich auch hier des Meisters Wahrhaftigkeit. Sauberkeit im Arbeiten und Denken war ein Zug, der Smend charakteristisch auszeichnete. Starke Entschiedenheit im Urteil war nie mit Überheblichkeit oder Selbstgefälligkeit verbunden. Hier war alles echt, von jeglichem Zweck, der nicht der Sache diente, frei. Nichts war ihm fremder, als erbaulich werden. Wer aber zu hören verstand, der empfand je und je die tiefe Ergriffenheit von dem großen Gegenstand. In diesem Punkt waren die Freunde, der Westfale und der Niedersachse [Wellhausen], gänzlich einander gleich; doch Smend hatte nicht den niedlichen Humor, der so oft in Wellhausens Vorlesungen blitzte; er war jenem gegenüber der gehaltenere, förmlichere.“107 104 Wellhausen, Briefe 496; Brandi, Leo, Titius und Bousset waren ebenfalls beteiligt (Roethe/Schröder a.a.O. II, 338). 105  Wortlaut der Rede: Göttinger Zeitung 47 (1909) Nr. 14851, 28.1. 106  Wellhausen, Chronik (s. Anm. 10) 8. 107  A. Zillessen (1871–1937), stud.theol. in Göttingen 1892–94, zusammen mit K. Arper Verfasser des „Evangelischen Kirchenbuchs“ (1917–29), in einem handschriftlichen Manuskript „Meine Erinnerungen an meinen verehrten Lehrer, Professor D. Rudolf Smend in Göttingen“ (Aachen 1935, im Besitz des Verf.).

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Das alttestamentliche Seminar war Bestandteil des theologischen Seminars, doch der dazugehörige Lehrstuhl verblieb zu Smends Lebzeiten in der philosophischen Fakultät. Das behagte ihm durchaus, und er schrieb nach Basel: „Ein Theologe ist in der Minorität immer besser aufgehoben als in der Majorität.“108 Schon vorher hatte er an die gleiche – theologische – Adresse den Satz riskiert: „Die Philologen und Historiker sind am Ende bessere Menschen“109. Unter ihnen fand er seine Freunde, mit einigen von ihnen trank er allwöchentlich im Rahmen eines lockeren „Kränzchens“110 in wechselnden Göttinger Lokalen Bier, so wie er in Basel mit den Theologen gekegelt hatte: mit den klassischen Philologen Wilamowitz, Leo und Schwartz, den Sprachvergleichern Wilhelm Schulze und Wackernagel (ihn hatte er aus Basel geholt), den Ägyptologen Pietschmann und Sethe, dem Iranisten Andreas, dem Mittellateiner „Meyer aus Speyer“, den Germanisten Roethe und Schröder; am meisten ergötzten ihn die Lästerreden des legendären Papsturkundenforschers Kehr, mit dem er auch auf die Jagd ging. Es versteht sich, dass an den Bierabenden nebenbei, und nicht nur nebenbei, reichlich Fakultäts-, Universitätsund Wissenschaftspolitik getrieben wurde. Wichtiger als alle Genannten zusammen war für Smend ein Kollege, der eher selten in diesen Kreis kam, weil er nicht so viel Bier vertrug und sein Gehör immer schlechter wurde: Julius Wellhausen111. 1889 war der eine der beiden gestorben, die ihm in Göttingen „unheimlich“ gewesen waren, Ritschl, Ende 1891 war der zweite, Lagarde, gefolgt, und nach einem monatelangen Hin und Her, über das hier nicht zu berichten ist, hatte Wellhausen zum Wintersemester 1892/93 etwas widerwillig seine Nachfolge angetreten. Für Smend bedeutete das eine große Veränderung. Zwar war er mit Lagarde nach frostigem Anfang einigermaßen ausgekommen, aber eine wirkliche Nähe hatte nicht entstehen können. Unter dem frischen Eindruck seines plötzlichen Todes schrieb Smend über den älteren Kollegen: „Er war ein tief unglücklicher Mensch, durch eigene Schuld, aber auch durch die Schuld anderer und durch seine Natur. Zum Höchsten strebend fehlte es ihm doch an nachhaltiger Schwungkraft und weit ausschauend wurde er mit nichts vertraut. Durch und durch Romantiker war er zu kritisch gestimmt, um irgendwo in der Geschichte sein Ideal realisirt finden zu können. Im Zorn zerschlug er alles, was er einst verehrt hatte, und konnte es ihm nie vergeben, daß es ihn einstmals bethört hatte. Wie mit der Geschichte so war er mit allen Menschen verfeindet, die anders sein wollten als er. Aber das Schlimmste war, daß seine ethische Entwicklung mit seiner religiösen nicht Schritt hielt und sein unausrottbarer Hang zu Eitelkeit und 108  An R. Stähelin 17.12.1896. 109 17.7.1892. 110  Vgl. Roethe/Schröder a.a.O. I, 305 u.ö. 111  Vgl. aber von ihm: Briefe 298f. Handelt es sich bei diesen Donnerstag-Abenden um eine Gegengründung?

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Unwahrhaftigkeit ihn friedlos machte.“112 Und später, aus einigem Abstand: „Das Seufzen der Kreatur hatte bei ihm einen schrillen Ton.“113 Übrigens versah Smend bei Lagardes Begräbnis neben der dominierenden Rede des Prorektors Wilamowitz auf Bitten der Witwe die Funktion des Geistlichen; ein Pfarrer kam bei Lagardes Stellung zur Kirche nicht in Betracht114. Wellhausen hat öffentlich bekannt, dass er den Umgang mit Smend „zu seinem täglichen Brode rechnete“115, und hat für sein Verhältnis zu ihm das Wort Liebe gebraucht116. „Je enger und intimer eine Freundschaft ist,“ schreibt Ed. Schwartz im Blick auf beide, „um so schwerer ist die Probe, der ein Nebeneinanderwirken in demselben Fach, an derselben Universität sie unterwirft. Beide haben sie makellos bestanden, bis zuletzt; wer das Verhältnis der alten und allmählich alternden Freunde in der Nähe betrachtete, wünschte sich wohl einen gemütvollen Dichter um es mit all seinen kleinen Zügen zu schildern und festzuhalten.“117 Der Dichter, den es nicht gab, hätte hoffentlich nicht verschwiegen, dass Wellhausen es mit dem Freund doch auch nicht immer ganz leicht hatte. Als Herrmann ihm einmal schrieb, er entbehre ihn in Marburg, antwortete er: „Ich entbehre Sie auch […]. Hier habe ich zwar Smend sehr lieb, aber er ist geneigt, mich über pari zu behandeln.“118 Smend, so Wellhausen ein andermal an Herrmann, sei kein so „uninteressanter Waschlappen“ wie die Göttinger Fakultätstheologen. „Aber er widerspricht mir nie und dann schwelgt er in moralischer Ekstase über unbedeutende Dinge: beides liebe ich gar nicht.“119 Trotzdem: „Hätte ich nicht Smend, so kröche ich auf den Knien und auf Erbsen wieder nach Marburg zurück.“120 Als er 1892 nach Göttingen kam, fand er den Freund mit dem Abschluss seines zweiten Buches, des „Lehrbuchs der alttestamentlichen Religionsgeschichte“, beschäftigt: „Er ist äußerst fidel, daß dies Schmerzenskind, das er so viele Jahre unterm Herzen getragen hat, nun endlich zur Welt kommt.“121 Wie bei seinem ersten Buch, dem Ezechielkommentar, hatte Smend die Aufgabe nicht übernommen, um eine Reihe zu komplettieren – diesmal die „Sammlung theologischer Lehrbücher“, deren Flaggschiff Harnacks Dogmengeschichte war –, sondern weil er damit, wie er in der Vorrede erklärte, „einem Bedürfnis zu entsprechen glaubte“. Die Bedeutung des Alten Testaments für das theologische Studium könne „kaum hoch genug angeschlagen werden. Denn 112  An Stähelin 29.12.1891. 113  An Overbeck 31.12.1892. 114  Vgl. Theodor Mommsen und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Briefwechsel, hg.v. W.M. Calder III u. R. Kirstein (2003) II, 584f. 115  Chronik (Anm. 10) 9. 116  Briefe (2013) 618. 117  Ges. Schriften I (21963) 351. 118  Briefe 491; Herrmanns Brief ist nicht erhalten. 119  Ebd. 295. 120  Ebd. 299. 121 Ebd.

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der religiösen Verbildung begegnet das Alte Testament mit ebenso einfachen wie grossen Anschauungen und Empfindungen und als Vorgeschichte des Christenthums stellt die alttestamentliche Religionsgeschichte ebenso sehr die Einheitlichkeit des geschichtlichen Werdens wie die Verschiedenheit und die Lebenswahrheit seiner einzelnen Phasen vor Augen.“ Nachdem „die von W. Vatke eingeleitete kritische Bewegung […] das geschichtliche Verständnis der alttestamentlichen Religion neu erschlossen“ habe, sei nunmehr „auch die Forderung einer möglichst individualisirenden Darstellung ihrer Geschichte gestellt“ – vollends seit K.H. Grafs spezielleren Nachweisungen, die A. Kuenen „zuerst religionsgeschichtlich verwerthet“ habe122. Smend tut das aufs neue und unter Benutzung der seit Kuenens „Godsdienst“ (1869/70) erschienenen Arbeiten Duhms, W.R. Smiths, Stades und vor allem natürlich Wellhausens am ausführlichsten, weithin im Vorgriff auf Wellhausens „Israelitische und jüdische Geschichte“, die seinem Buch nach Jahresfrist folgen sollte. Der herkömmliche Name „Alttestamentliche Theologie“ ist im Obertitel beibehalten, aber mit dem Begriff der „Geschichte“ im Haupttitel wird ernst gemacht: es darf „nirgendwo ein von aussen herangebrachtes doctrinäres Schema den Leitfaden der Darstellung abgeben. Er will vielmehr in jedem Falle gefunden sein mit der Frage, was für diese und jene Zeit die Noth und das Glück des Lebens war und was die Religion für beide bedeutete.“123 Dass streng genommen nicht das Alte Testament, sondern Israel (und das Judentum) eine Religionsgeschichte hat, ist für Smend offenkundig kein Problem gewesen; erst seine Nachfolger haben den Namen der Disziplin entsprechend geändert. Aber zu Smends Titel stimmt, dass seine Darstellung sich auf den Kanon beschränkt – dies freilich mit einer religionsgeschichtlichen Begründung: die Apokryphen und Pseudepigraphen weisen „an echt religiösem Leben und Denken […], abgesehen von Sirach, kaum etwas auf, was sich nicht schon im Kanon nachweisen liesse“124. Hier hat Smend seit dem Beginn der Arbeit seine „Auffassung des Judenthums […] nicht unwesentlich korrigiren müssen“, nämlich im Sinn einer schärferen Unterscheidung zwischen vor- und nachmakkabäischem Judentum. „Soweit die Vorgeschichte des Christenthums […] für uns geschichtlich erkennbar ist, liegt seine positive Vorbereitung in der vormakkabäischen Zeit, wogegen die nachmakkabäische hierfür wesentlich nur negative Bedeutung hat.“ Erst in ihr sieht Smend „die Gesetzesreligion der Pharisäer und Schriftgelehrten entstanden, zu der das Evangelium in Gegensatz trat“125. Die Schilderung der Theologie zwischen dem Exil und den Makkabäern hat ein Rezensent „geradezu meisterhaft“ genannt126, für einen anderen gehört sie „zu dem Schönsten, was je 122  Smend, Lehrbuch (1893) 4f. 123  Ebd. 6. 124  Ebd. 7. 125  Ebd. Vf. 126  C. Schmidt, PrJ 75 (1894) 162.

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über diese Sache geschrieben ist“127– die entsprechende Partie in Wellhausens „Geschichte“ lag ja noch nicht vor. Einem dritten Rezensenten muss man recht geben, wenn er in Smends Buch „mehr eine Analyse der wichtigsten Denkmale der alttestamentlichen Religion, mehr einzelne fein ausgeführte Bilder, als eine in recht anschaulichen und entschiedenen Strichen gehaltene Zeichnung des Verlaufes der Religionsgeschichte vor sich zu haben“ meinte128. Indem Smend seine Aufgabe „in erster Linie“ so sah, lieferte er mutatis mutandis, was zwei Generationen später für G. v. Rad in dessen Wortwahl „vor allem der Gegenstand einer Theologie des Alten Testaments“ sein sollte: einen Durchgang durch die „alttestamentliche Zeugniswelt“129, aber eingebettet in die Geschichte (und Religionsgeschichte!) Israels und des älteren Judentums, wie Vatke und Wellhausen sie sahen, also in einer Dreigliederung mit der (dominierenden) Prophetie in der Mitte. Aus dem exegetischen Detail verdient Hervorhebung, dass Smend als erster mit Argumenten die berühmte Verheißung des neuen Bundes Jer 31,31–34 dem Propheten absprach130. Dagegen protestierte umgehend Friedrich Giesebrecht (1852–1910), Wellhausens Schüler aus der Greifswalder Zeit, unter anderem mit dem Argument, wenn Smend recht hätte, würden Wellhausens Darlegungen über Jeremia „beträchtlich an Gewicht verlieren“131, aber es scheint, als habe Wellhausen selbst dem Verdikt ebenso umgehend zugestimmt132. Mehr Zeit brauchte ein anderer, der sich aber als der „mit Abstand bedeutendste aller Ausleger des Buches“ Jeremia133 erweisen sollte. Bernhard Duhm schrieb 1901: „Ein Ereignis war für mich das kühne Urteil Smends über Cap. 31; ich habe mich lange dagegen gewehrt, aber schliesslich eingesehen, dass Smend in der Hauptsache Recht hat. Die Folge war, dass ich auch andere Stücke, deren hohe Bedeutung mir ihren jeremianischen Ursprung bis dahin ohne Weiteres verbürgt hatte, kritisch zu untersuchen wagte. Das Endergebnis“ bedeutete für Duhm „die Befreiung von einem Albdruck“134. Es sollte lange dauern, bis eine Mehrheit der Exegeten auf seine Seite trat. Smends erstes Buch war ein Kommentar zum „geistigen Vater des Judentums“ gewesen, das dritte wurde ein Kommentar zum herausragenden Autor der Schlussphase des vorchristlichen Judentums, Jesus Sirach oder Ben Sira. Sogleich nach dem Abschluss der Religionsgeschichte, im Sommer 1893, 127  C. Siegfried, ThLZ 18 (1893) 610. 128  K. Marti, LZB 43 (1893) 1635 in Anknüpfung an Smends Wortlaut a.a.O. VI. 129  Vgl. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I 2(1962) 124. 130 Lehrbuch 1239–411 (2249–511). Vorher nur summarisch und thetisch B. Stade, Geschichte des Volkes Israel I (1887) 646f.2. 131  F. Giesebrecht, Das Buch Jeremia (1894) 268 (21907, XIXf.). 132  Die Anführung der Stelle in Geschichte Israels (1880) 76, Sketch oft he History of Israel and Judah (31891) 123 sowie Skizzen und Vorarbeiten I (1884) 77 ist in der Israelitischen und jüdischen Geschichte (1894) stillschweigend fortgefallen. 133  Ch. Levin, Die Verheißung des neuen Bundes (1985) 15. 134  Das Buch Jeremia (1901) VII.

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ging er an die Arbeit, die von vornherein in ungewöhnlich hohem Ausmaß eine textkritische sein musste, weil das apokryphe Buch nicht im hebräischen Urtext, sondern nur in griechischer und syrischer Übersetzung erhalten war. Smend analysierte das verwickelte Verhältnis dieser Übersetzungen zueinander und suchte von dort aus eine Vorstellung vom Urtext zu gewinnen. Seine Kinder hörten ihn in jenen Jahren stundenlang in seinem Arbeitszimmer, im Garten und auf Spaziergängen den hebräischen Sirach vor sich hinmurmeln, wie er ihn sich dachte, wobei er eben außer der Philologie auch den Sprachklang zu Hilfe nahm. Er hatte den Kommentar nahezu druckfertig, da gebot ihm 1896 die überraschende Entdeckung eines großen Fragments des hebräischen Textes (Sir 39,15–49,11) durch S. Schechter (1847–1915) Einhalt. Es befriedigte ihn natürlich, seine Rückübersetzung (die sich leider nicht erhalten hat) mit dem alt-neuen Text zu vergleichen und an vielen Stellen bestätigt zu finden. Aber er hielt sich damit nicht lange auf, sondern schrieb sogleich eine sachkundige Rezension der Erstausgabe des Fragments von A.E. Cowley und A. Neubauer135 und reiste Ostern 1897 nach Oxford, um die dort liegenden Blätter zu untersuchen – das Cambridger Blatt untersuchte für ihn noch einmal Schechter – und danach durch eine eigene Neuausgabe in den Abhandlungen der Göttinger Akademie136 den „demnächst zu veröffentlichenden Commentar“ zu entlasten137. Die Reise war für ihn ein großer Eindruck: „Land und Leute haben mich wirklich interessirt und die Pracht von Oxford hat mich förmlich verblüfft, je weniger ich auch über die dortigen Hebraisten erstaunen konnte. Übrigens beneidete ich die Engländer um die Sicherheit der Formen, in denen sie sich bewegen, und die Abgemessenheit, mit der sie ihren Stimmungen und Gesinnungen Ausdruck geben, schien mir ebenso viel Selbstzucht wie Heuchelei zu bedeuten.“138 Zwei Umstände verhinderten, dass der Kommentar gleich danach zum Abschluss kam: das (Pro-) Rektorat der Göttinger Universität, das Smend 1897/98 zu verwalten hatte, und vor allem das Auftauchen einer Anzahl weiterer hebräischer Fragmente, hinter das erst eine zusammenfassende Faksimile-Ausgabe von 1901 einen vorläufigen Schlusspunkt setzte139. War damit „uns eins der wichtigsten Apokrypha des Alten Testaments gleichsam neu geschenkt“140, so stellte sich doch bald unliebsam heraus, dass der Text in allen seinen Fassungen noch mehr „verderbt“ war, als man bisher wusste, so dass, wie ein kundiger Referent formulierte, „für 135  ThLZ 22 (1897) 161–66. 136  Das hebräische Fragment der Weisheit des Jesus Sirach, AGWG.NF 2,2 (1897). 137  Ebd. 3. 138  An F. Overbeck 8.8.1897. 139  Facsimiles of the fragments hitherto recovered of the book of Ecclesiasticus in Hebrew (Oxford/Cambridge 1901). Rezension von Smend: ThLZ 27 (1902) 491f. – Als 1900 R. Smend jun. in Basel Bernhard Duhm einen Gruß seines Vaters überbrachte, verband Duhm seinen Gegengruß mit dem Wunsch, es möchten nicht zu bald neue Sirach-Fragmente auftauchen, die den Abschluss von Smends Arbeit noch weiter verzögern würden. 140  R. Smend, GGA 168 (1906) 755.

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einen Alttestamentler kaum eine schwerere, kompliziertere, größere Anforderungen an Wissen, Fleiß, Akribie, Scharfsinn und strengste Selbstzucht, d.h. an alle Eigenschaften des Charakters wie der Intelligenz eines Gelehrten stellende Aufgabe existiert[e] als diese Neu-Erforschung des Sirach“. Aber der Referent konnte im Rückblick hinzufügen, dass „in Smend ihr der geeignete Bearbeiter erwachsen“ war: „er durfte diese monumentalen Leistungen wohl den Meistern der orientalischen Wissenschaft, Nöldeke und Wellhausen, widmen“141. Die Widmungen stehen in der Textausgabe „Die Weisheit des Jesus Sirach hebräisch und deutsch. Mit einem hebräischen Glossar“ (an Nöldeke) und in dem voluminösen Kommentar (518 Seiten) „Die Weisheit des Jesus Sirach erklärt“ (an Wellhausen), beide 1906 erschienen und begleitet von einem „Griechisch-syrisch-hebräischen Index zur Weisheit des Jesus Sirach“ (1907); eine begonnene Konkordanz zu den hebräischen Fragmenten hat Smend nicht abgeschlossen142. Das Ausmaß der philologischen Bemühung, die weithin Pionierarbeit sein musste (und durfte!), sollte nicht verdecken, dass sie kein Selbstzweck war: „das Textkritische steht im Dienst der Exegese. Den Sinn der einzelnen Worte und Sätze und die Zusammenhänge will Sm. aufspüren: weil die Textzeugen selber schon großenteils auf Grund mehr oder minder willkürlicher Exegese zu Stande gekommen sind, läßt sich gerade bei Sirach die Auslegung oft gar nicht von der Besprechung der Varianten loslösen.“143 Insgesamt fasst Smend den Sirach als einen „Wortführer der Gesetzestreuen gegen die Hellenisten“ auf144. Die mehr als zehnjährige Arbeit zog auch die Familie in Mitleidenschaft: schon früh schrieb Frau Smend nach Basel vom Sirach ihres Mannes, „der ihm nach meiner unmaßgeblichen Ansicht mehr Noth macht, als er werth ist. Ich darf das zwar nicht laut sagen, denn er schwärmt für den alten Rebb, der mir zu unglimpflich mit den Frauen umgeht, an denen er stellenweise kein gutes Haar läßt.“145 Aber von Smends Übersetzung hat immerhin W. Bousset gemeint: „Es ist als wenn unter der Hand des Kundigen ein altes Gemälde, das von den Unbilden der Jahrhunderte entstellt war, in seinem ursprünglichen Glanze wieder vor unsern Augen ersteht.“146 Und Nöldeke schrieb an Smend: „Jedenfalls haben Sie sich um das alte Buch ein Verdienst erworben, das noch nach Jahrhunderten wird anerkannt werden. Aber, es bleibt dabei: Sie müssen auch den griechischen Text herstellen.“147 Die Sirachfunde in der Mitte des 20. Jahrhunderts (Qumran, Masada) haben Smends Leistung neu 141  A. Jülicher, ThLZ 33 (1908) 324. 142  Zum Ganzen vgl. die ausführliche Selbstanzeige GGA 168 (1906) 755–71. 143  Jülicher a.a.O. 325. 144  Die Weisheit … erklärt XXf. 145  Hedwig Smend an Marie Stähelin 12.1.1897 (Staatsarchiv Basel, Nachlass Stähelin). Vgl. Sir 9,1–13; 23,32–37; 25,17–34; 42,11–14 (Lutherbibel). 146  ThR 10 (1907) 338. 147  Brief vom 13.8.1906. Der griechische Text war dann bei Joseph Ziegler in den besten Händen.

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in Erinnerung gerufen; „Yadin sagte mir zweimal“, berichtet I.L. Seeligmann, „daß er bei seiner Arbeit an diesem [Masada-]Fragment tief beeindruckt ist von der editorischen Arbeit Smends, von seiner Methode und der Richtigkeit vieler seiner Ergänzungen und Vermutungen.“148 Während der Arbeit am Sirach verlor Smend die übrige vorchristlichjüdisch-apokryphe Literatur nicht aus den Augen. Besonders beschäftigte ihn das Buch Tobit und von ihm aus der berühmte und vieldiskutierte, aber nicht leicht fassbare Achikar-Roman, der dort wie auch anderswo seine Spuren hinterlassen hat149. Er schrieb ihm in seiner syrischen Fassung und deren Derivaten unbeschadet polytheistischer Elemente jüdische Herkunft zu und plädierte namentlich für seine Priorität vor dem griechischen Fabeldichter Aesop150. Nöldeke nannte die Arbeit die „bei weitem beste Behandlung dieses Gegenstandes“151, für Wilamowitz war mit ihr „ein Eckstein für die Forschung nach der so zu sagen internationalen Literaturgeschichte der vorhellenistischen Zeit“ gelegt152. Wilamowitz konnte dieses Urteil mit der Nachricht verbinden153, dass Ed. Sachau soeben in der Berliner Akademie von aramäischen AchikarFragmenten in Elephantine berichtet hatte. Sie ergaben, wie kaum anders zu erwarten, vorjüdisch-orientalischen Ursprung des Romans und seiner Weisheitssprüche. Smend beteiligte sich an der dadurch auf eine neue Stufe gehobenen Diskussion im brieflichen Austausch mit Nöldeke und in kritischen Rezensionen der Elephantine-Arbeiten von Sachau und Ed. Meyer154. Die Kritik an Meyer steigerte er zu sowohl persönlicher als auch sachlicher Schärfe, indem er, eine ältere Kontroverse zwischen Wellhausen und Meyer fortführend155, Meyers These, das Judentum sei „eine Schöpfung des Perserreichs“ gewesen156, eine „dilettantische Übertreibung“ nannte; vielmehr sei das Judentum „von den Juden selbst geschaffen, d.h. von einem immerfort sich erneuernden Kreise gesetzeseifriger Männer, welche die Reste des Volkes Israel zu einer Gemeinde des Gesetzes organisierten und die Willigen sammelten und die Widerstrebenden besiegten oder ausschieden. Hierfür haben sie auch die Gunst benutzt, in der 148  Brief an R. Hanhart 30.7.1964. Vgl. Y. Yadin, The Ben Sira Scroll from Masada (1965). 149  Orientierung über den Gegenstand und seine Erforschung bei E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi 4III (1909) 247–58; ders., The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, ed. G. Vermes et al. III,1 (1986) 232–39. Vgl. aber auch die Kritik bei A. Hausrath, Achiqar und Aesop, SHAW.PH 1918, 2. 150  R. Smend, Alter und Herkunft des Achikar-Romans und sein Verhältnis zu Aesop, BZAW 13 (1908) 55–125. 151  Th. Nöldeke, Zum Achiqar, AGWG.NF 14,4 (1913) 1. Die Abhandlung ist Smend gerade noch zu dessen Lebzeiten gewidmet. 152  Brief an Smend vom 20.1.1908; vgl. Wilamowitz in: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache (Die Kultur der Gegenwart I,8, 31912) 57. 153  Im genannten Brief. 154  ThLZ 37 (1912) 387–93.484–88.677f. Vgl. schon ThLZ 32 (1907) 705–11. 155  Vgl. J. Wellhausen, GGA 159 (1897) 89–97; Ed. Meyer, Julius Wellhausen und meine Schrift über die Entstehung des Judentums (1897). 156  Ed. Meyer, Der Papyrusfund von Elephantine (1912) 96.

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einzelne von ihnen bei den Perserkönigen standen.“157 Ich stelle daneben als eine andere Variation des Themas einen etwas älteren Ausspruch, den der ehemalige stud. theol. Paul Althaus überliefert hat: „Mein alttestamentlicher Lehrer in Göttingen, Rudolf Smend, sagte uns in den Tagen des Bibel-Babel-Streites [1902/03] einmal: ‚Was machen sich die Leute denn viele Mühe, den Vorzug Israels vor den anderen Völkern des Orients lange zu beweisen? Israel ist doch wie das einzig wache Volk unter lauter Schlummernden, Träumenden!‘“158 Kurz bevor das Sirach-Projekt seinen unerwartet großen Umfang annahm, Anfang 1897, schloss der Verlag Reimer mit Smend einen Vertrag über eine Einleitung in das Alte Testament, die das von Wellhausen bearbeitete Bleeksche Lehrbuch – endlich – ablösen sollte. Nach Ablauf der SirachDekade stürzte sich Smend auf den Hexateuch, aber daraus wurde nicht der erste Teil eines Lehrbuchs159, sondern eine umfangreiche eigene Monographie – sein viertes und letztes Buch, mit hohem Anspruch und Aufwand geschrieben160. Smend betrachtete unter Berufung auf seinen Lehrer Gildemeister den Weg der Hexateuchkritik als eine Art Kreisbewegung von der Quellenhypothese (meist Urkundenhypothese genannt) über die Fragmentenund die Ergänzungshypothese wieder zur Quellenhypothese, eine Bewegung, die „nicht nur logisch notwendig, sondern zum Teil auch in der Natur der Sache begründet war“161. Er bestritt nicht, dass die Fragmenten- und die Ergänzungshypothese Richtiges zur Sprache gebracht hatten, aber das alles Übrige umgreifende Recht lag für ihn bei der Quellenhypothese, natürlich nicht in ihrer anfänglichen Gestalt, die mit zwei Quellen rechnete (Astruc), aber auch noch nicht in der von Hupfeld etablierten und von Wellhausen und Kuenen modifizierten Gestalt als Dreiquellenhypothese, die in seinen Augen besonders bei den beiden älteren Quellen, dem Jahwisten und dem Elohisten, noch zu viele Elemente der Ergänzungshypothese enthielt162. Er suchte den Schaden zu beheben, indem er statt des schon von Wellhausen und nicht nur von ihm als uneinheitlich betrachteten Jahwisten (J) zwei selbständige Quellen (J1 und J2) postulierte und damit die Dreiquellenhypothese (JEP) durch eine Vierquellenhypothese (J1J2EP) ersetzte. Den Nachweis und also das 157  ThLZ 37, 486f. 158  In: Vaterländische Kundgebung der Evangelischen Kirche (Kirchentag zu Königsberg, Berlin 1927) 24. 159  Anhaltspunkte dafür, wie er dieses Lehrbuch geschrieben bzw. nicht geschrieben hätte, gibt seine Rezension von Baudissins entsprechendem Werk ThLZ 27 (1902) 347–51. 160 Die Erzählung des Hexateuch auf ihre Quellen untersucht (1912). Auch hier eine ausführliche Selbstanzeige: GGA 174 (1912) 591–611. 161  Erzählung a.a.O. 2. Gildemeister sah hier sogar einen „Beweis für die Wahrheit des Hegelschen Satzes von der Selbstbewegung des Geistes“ (GGA 174, 1912, 591). 162 Vollends abwegig fand er „die in der Pentateuchkritik schon einmal vollzogene Umbildung einer Urkundenhypothese zu einer Fragmentenhypothese“, wie er sie bei H. Gunkel und seinen Schülern vor Augen zu haben glaubte, vgl. H. Holzinger, ThStKr 87 (1914) 301.

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Aufspüren und die Rekonstruktion von vier parallelen Gesamterzählungen ließ er sich ein halbes Jahrzehnt angestrengtester Arbeit kosten, die, schon was die Hauptaufgabe angeht, eben die Zweiteilung des Jahwisten, auf einen bekannt fleißigen und kundigen Rezensenten, der sich „die unsägliche Mühe nicht verdriessen“ ließ, „hier Smend von Anfang bis Ende nachzugehen“, bereits „äusserlich […] den Eindruck einer Sisyphusarbeit“ machte163. Auch Wohlwollende sahen sich fürs erste zu einem wirklich fundierten Urteil außerstande, weil die Nachprüfung des Einzelnen zu viel Zeit erforderte164. Und nicht alle waren wohlwollend. So erklärte, natürlich zugleich im Namen des von Smend165 arg und ungerecht gezausten Gunkel, Greßmann in einer zweieinhalb Seiten langen Anmerkung das Unternehmen für „gescheitert“166, und ihm ist im Laufe des Jahrhunderts die Mehrzahl der Exegeten gefolgt, soweit sie überhaupt nennenswert Notiz von literarkritischer Arbeit nahm. Smend war daran schon dadurch nicht schuldlos, dass er es nicht verstanden hatte, den überaus komplizierten Stoff einigermaßen übersichtlich vorzuführen; hier schuf ein Jahrzehnt später Eißfeldt durch seine Hexateuchsynopse (1922) Abhilfe, allerdings in einer der Literarkritik immer weniger gewogenen Umgebung167. Für Einsichtige ist Smends Buch bis heute „eine reiche Fundgrube exegetischer Beobachtungen“168, die ihren Wert nicht schon dadurch verlieren, dass sie dort im Dienst einer von vornherein unwahrscheinlichen These stehen. Wellhausen las getreulich Korrektur und lobte vieles, aber es war schwerlich in seinem Sinn, wenn seine Literarkritik durch eine kaum überbietbar konsequente Urkundenhypothese fortgesetzt wurde, und so ist es wohl kein Zufall, dass die einzige Äußerung, die wir von ihm über Smends Unternehmen besitzen, nur eine Detailfrage betrifft und negativ ist169. Allerdings schrieb er im Nachruf auf Smend: „Er wollte die Analyse des Hexateuchs fortsetzen durch eine Analyse der historischen Bücher des Alten Testaments und betrieb die Vorarbeiten dazu mit gewohnter Gründlichkeit in seinem Seminar. Es ist sehr schade, daß er nicht dazu gekommen ist, seine Ergebnisse zusammenzufassen und zu veröffentlichen.“170 Wellhausen selbst holte hier das noch Mögliche nach, indem er das, was er in Smends Nachlass an einschlägigen kürzeren oder längeren Notizen vorfand, Heinrich Holzinger (1863–1944) zukommen ließ, der sie zu einer Publikation von Auf-

163  R. Kittel, ThLBl 36 (1915) 194. 164  J. Meinhold, DLZ 34 (1913) 1303; H.J. Elhorst, NThT 2 (1913) 4; G. Hölscher, ThR 16 (1913) 291. 165  Erzählung 42. 166  H. Greßmann, Mose und seine Zeit (1913) 369ff.4. 167  S.u. 696f. 168  Ch. Levin, Der Jahwist (1993) 16; vgl. früher etwa Hölscher a.a.O. 169  Israelitische und jüdische Geschichte (71914) 341. 170  Chronik (s. Anm. 10) 8f.

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satzlänge zusammenstellte171; größere Wirkung ist ihnen ähnlich wie gleichgerichteten Entwürfen anderer, vor allem Buddes, nicht beschieden gewesen. Im Erscheinungsjahr der „Erzählung des Hexateuchs“, 1912, trat am Göttinger theologischen Stift der neue Inspektor Emanuel Hirsch (1888–1972) sein Amt an. Er hatte sich allen Theologieprofessoren vorzustellen, so auch Smend. Darüber schrieb er zwei Jahrzehnte später an dessen Sohn172: „Bei meinem Besuch […] traf ich ihn nicht. Er machte mir feierlich mit Cylinder Gegenbesuch (es war das 1. Mal, daß jemand mit Cylinder zu mir kam) und blieb dann, durch das Gespräch verführt, unfeierlich lange. Er kam ziemlich schnell, als er Resonanz spürte, dahin, mir seine letzten Gesichtspunkte zu entwickeln. (Bei ungezählten Menschen ist es mir so gegangen, daß sie sich bei der 1. Begegnung wesentlich explizierten.) Das eine war die Furcht Gottes173. Er sprach von den alttestam. Profeten, die gewußt hätten, was Furcht Gottes sei, und sprach davon, daß diese ihre Predigt in der heutigen Kirche vergessen sei, zum Schaden des Evangeliums. Von da aus kam er dazu, mir seine Stellung zum neuen Testamente zu entwickeln, wie es überall nichts sei als eine Entfaltung lebendiger Menschlichkeit unter einer neuen Gestalt der Furcht Gottes. Er grenzte sich gegen Inspiration ab und sagte dann, gerade, wenn man es ganz einfach menschlich nehme, sei das neue Testament groß. Es sei eine Probe auf jedermann, ob er das zu empfinden fähig sei. ‚Wer den Philipperbrief liest, ohne innerlich ergriffen, hingerissen zu sein, der ist ein unvollkommener Mensch.‘ Nun aber sei zum rechten Aufnehmen und Verstehen eins freilich nötig, Wahrhaftigkeit und Unbefangenheit, daß man nicht seine Dogmatik hineinlese. Dazu aber sei – und nun kam er aufs Zweite – Bedingung Philologie. ‚Die Philologie ist eine Schule der Wahrhaftigkeit.‘ […] Dann kam er von da aus auf Wellhausen und Wilamowitz. Er erzählte einige Anekdoten, die seine Freundschaft und Verehrung für Wellhausen und seine Abneigung gegen Wilamowitz’ Pathetik dokumentierten. Es waren die üblichen Kollegenanekdoten Göttinger Stils, mit jener Mischung von Esprit, feiner Bosheit und Belehrung. Er machte gewissermaßen 2 Richtungen der Philologie anschaulich, die echte in Wahrhaftigkeit und Ehrfurcht (Wellhausen) und die unechte, die sich pathetisch begeistert und das Objekt durch Weltanschauung ruiniert (Wilamowitz). […] Irgendwie ganz plötzlich war er am Ende und verschwand wieder. Ich war bald danach bei ihm eingeladen. Da ging es nun nicht gut. Ich war damals grundsätzlich abstinent und trank darum stillschweigend nur etwas Wasser. Das merkte er, fragte nach dem Grund, und auf die sehr bescheiden gegebene Antwort koramierte er mich: ‚Wenn ich jemand an meinen Tisch bitte, um mit mir 171  R. Smend, JE in den geschichtlichen Büchern des AT (ZAW 39, 1922, 181–217); mit J ist natürlich J1+J2 gemeint. – Holzinger hielt 1914 für möglich, dass Smends „Komposition“ „eine Bedeutung gewinnen“ würde „wie einst Wellhausens Komposition des Hexateuchs“ (ThLZ 39, 231). 172  Brief vom 27.10.1932. 173  Hervorhebung (auch im Folgenden) von Hirsch.

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und meinen Freunden fröhlich zu sein, dann erwarte ich auch, daß er mein Getränk trinkt.‘ Ich schwieg, er kam nicht wieder in Stimmung, und er hat mich seitdem nicht wieder eingeladen. So hatte die intensive erste Berührung keine Folge. Einmal habe ich ihn noch in seiner Wohnung besucht, ich habe keine Erinnerung mehr daran. Dann war er bald auch recht krank. Aber dieser Zusammenstoß mit seiner Ungerechtigkeit hat doch nicht das Bild von dem ersten unvergeßlichen Sonntagvormittag im Stiftsinspectorzimmer Stumpfebiel 2 auslöschen können. […] Ich habe schon damals empfunden, und empfinde es heute noch stärker: es hat in Ihrem HE. Vater die Mischung von Einsamkeit, die selbst durch Stellung hoher Ansprüche an die Menschen sich erschuf, und Güte, die Menschen suchte und persönlich sich mitzuteilen suchte, gelegen. Es war auch mir gegenüber an jenem Besuchsvormittag zweierlei, einmal einfache Güte und Freundlichkeit, die mir die fremde Welt leichter machen wollte, in die ich mich einzufinden hatte, dann aber auch ganz evident ein auf der Lauer liegendes Mitteilungsbedürfnis, welches in der Wüste des theologischen und kirchlichen Schwindels nach Menschen suchte und auf ein junges schmales und nachdenkliches Gesicht hin, das offene Bereitschaft zeigte, es wagte, die Saat von dem auszustreuen, das ihm am Herzen lag. Daneben dann aber die Graciositas des geborenen Causeurs, der alles Ernste und ihm Wichtige doch wieder so zu verhüllen wußte, daß er nicht als Dozent wirkte, sondern eben als Mensch, ja, trotz allem Tiefergehenden, als feiner alter Herr, der den Jungen unwillkürlich lehrte, daß er noch viel an Erziehung zu lernen habe.“ Aus heutiger Sicht hat Smend am stärksten indirekt nachgewirkt, in einem vielbändigen Werk, das hundert Jahre nach seinem Tod noch nicht abgeschlossen ist und das auf keinem Titel seinen Namen trägt: in der SeptuagintaAusgabe der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Er war ein großer Liebhaber der Septuaginta174, empfahl den Studenten ihre regelmäßige Lektüre ebenso wie die der Biblia Hebraica und empfand es seit Lagardes Tod als Göttinger Pflicht, die von diesem geplante kritische Ausgabe der Septuaginta zustandezubringen, umso mehr als er in Alfred Rahlfs den idealen Mann für diese Aufgabe erkannte. „Rudolf Smend“, so schrieb 1914 Jacob Wackernagel als Vorsitzender der Akademie-Kommission, „hat im Frühjahr 1907 durch ein Schreiben an den damaligen Ministerialdirektor Friedrich Althoff die erste Anregung zum Septuaginta-Unternehmen gegeben und mit der ihm eigenen zähen Energie alles aufgeboten, um das Unternehmen ins Leben zu rufen und ihm über die schwierigen ersten Zeiten hinwegzuhelfen. Er hat auch von Anfang an der engeren Septuaginta-Kommission angehört und bis in seine letzte Krankheit hinein – er wohnte noch am 31. Mai 1913 einer Kommissionssitzung bei – durch seine lebhafte Teilnahme an den Verhandlungen und durch 174  Dabei hatte ihm anlässlich des Ezechielkommentars Ad. Merx den Vorwurf gemacht, er habe „ein Vorurtheil gegen die Septuaginta, welches verhindert, dieselbe unbefangen zu hören und sie ihr Zeugnis abgeben zu lassen“ (JPTh 9, 1883) 65. Um dieselbe Zeit äußerte sich umgekehrt Smend über Merx nicht gerade freundlich (DLZ 1, 1880, 185–87).

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die kräftige Vertretung seiner auf ausgebreitete Sachkenntnis gegründeten Überzeugung das Unternehmen sehr gefördert.“175 Ebenfalls 1914 stellte Alfred Rahlfs dem für die Ausgabe grundlegenden Verzeichnis der griechischen Handschriften des Alten Testaments den Satz voran: „Dem Andenken Rudolf Smends († 27.12.1913), des geistigen Vaters des Septuaginta-Unternehmens, sei dieses Werk, dessen Vollendung er sehnlich herbeiwünschte, aber leider nicht mehr erleben sollte, gewidmet.“176 Ende 1912 erkrankte er schwerer als je an seiner alten Depressivität; vielleicht hatte er sich mit der „Sisyphusarbeit“ an der Erzählung des Hexateuch übernommen – auf die er allerdings stolz war –, vielleicht spielten als auslösende Faktoren auch familiäre Sorgen mit. Den größeren Teil des Jahres 1913 verbrachte er in wechselnden Sanatorien, ohne Heilung zu finden, am Jahresende nahm er sich in tiefer Verzweiflung das Leben. In der Fülle der Beileidskundgebungen wurde ein ungewöhnliches Maß an Zuneigung und Dankbarkeit sichtbar; ich beschränke mich auf zwei Sätze Wilhelm Herrmanns, der kein Freund großer Worte war: „Bei allen, die ihm näher stehen durften, wird sich neben dem bittern Schmerz der Dank für das hervordrängen, was wir in diesem sonnigen Menschen empfangen haben. Wenn wir auch bisweilen zu merken meinten, wie er schwerblütig an manchem trug, worüber andere leicht hinwegkamen, so hatte er doch immer wieder in seiner Freundlichkeit und Treue die Kraft, uns das Leben hell und warm zu machen.“177

175  NGWG Geschäftliche Mitteilungen 1914, 21. 176  MSU II, III. Vgl. auch R. Smend, Der geistige Vater des Septuaginta-Unternehmens, in: Studien zur Septuaginta – Robert Hanhart zu Ehren, hg.v. D. Fraenkel u.a., MSU XX (1990) 332–44, und zum weiteren Rahmen Die Göttinger Septuaginta. Ein editorisches Jahrhundertprojekt, hg.v. R.G. Kratz u. B. Neuschäfer, MSU XXX (2013). 177  An Hedwig Smend 30.12.1913.

Rudolf Kittel 1853–1929

Der Name Rudolf Kittel steht nicht mehr auf dem Rücken der Biblia Hebraica, aber er ist im Bewusstsein geblieben als der eines markanten, zeitweise tonangebenden Repräsentanten der alttestamentlichen Wissenschaft. In deren großer Leipziger Tradition nimmt er den Platz zwischen Franz Delitzsch und Albrecht Alt ein. Beide waren sehr verschieden voneinander, und er war von beiden sehr verschieden. Sein Einfluss dürfte sowohl dem des Vorgängers als auch dem des Nachfolgers vergleichbar gewesen sein. Einer von denen, die die Leipziger Tradition draußen fortsetzten, Martin Noth, erzählte gern, es sei für ihn ein großer Augenblick gewesen, als er zu Beginn seines ersten Studiensemesters am Schwarzen Brett der Leipziger Universität Kittels eigenhändige Unterschrift entdeckte, und man mag es symbolisch nehmen, dass er an Kittels letztem Seminar teilgenommen hat. Unter den Genannten hatte Kittel mit Alt gemeinsam, dass er kein Sachse, sondern durch und durch ein Süddeutscher war. Der Vater, ein Lehrer, stammte aus dem westlichen, die Mutter aus dem östlichen, dem reichsstädtisch-bayrischen Schwaben, er selbst wurde, am 28. März 1853, dazwischen geboren, in Eningen unter der Achalm, dem Berg, dessen Lage vor der Alb Albrecht Alt mit der des Tabor vor Galiläa zu vergleichen pflegte. Beide Eltern starben früh – „ich war arm und eine Waise“, umschreibt er seine äußere und wohl auch innere Situation als Tübinger Student1. Vermutlich hat ihn das für sein ganzes Leben mitgeprägt. Er war offenkundig kein einfacher Mann, selbständig, selbstbewusst, empfindlich. Konkurrenten und Rezensenten vergaß er nichts. Man darf ihm dabei ein starkes Gerechtigkeitsempfinden zugute halten. Er war nicht nur gegen andere hart, sondern auch gegen sich selbst. Sein Fleiß kannte keine Grenzen. Am Sarg der Gattin eines Kollegen sagte er: „Das Leben einer Gelehrtenfrau heischt Opfer, die andere Stände oft genug übersehen, wenn sie den unseren beneiden. So viel er beneidenswertes hat – an der Seite eines arbeitsfreudigen und arbeitsrüstigen, Nacht und Tag dem Arbeitstisch gehören1  In seiner Selbstdarstellung RWGS I (1925) 113–44, hier 116. Im Folgenden wird die Selbstdarstellung durchgängig benutzt, mit Einzelnachweis aber in der Regel nur bei wörtlichen Zitaten.

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den Gelehrten nicht verdrossen zu werden und innerlich zu vereinsamen, ist eine Kunst, die gelernt sein will.“2 Wenn ihm selber „vor etwas graute, so wars: vor der Zeit, in der er einmal nicht mehr hätte arbeiten können“, so charakterisierte ihn einer seiner Söhne3. Er durchlief die übliche Ausbildung der württembergischen Theologen. Im Maulbronner Seminar legte er den Grundstein für seine spätere Karriere als Alttestamentler, indem er bei einem Lehrer, mit dem er wegen Bevorzugung von Mitschülern auf Kriegsfuß stand, die beste Zensur im Hebräischen errang. Der Professor, den er als Tübinger Student und Stiftsinsasse (1871–75) am meisten hörte4, war der Alttestamentler Ludwig Diestel (1825–78). Ihn nannte er zeitlebens seinen Lehrer, und noch 1925 schrieb er den bemerkenswerten Satz, bei ihm habe er „das Alte Testament zum erstenmal so sehen gelernt, wie wir es heute noch sehen“. Wie wir es heute noch sehen: Wellhausens kritische Hauptwerke, in den auf Kittels Studium folgenden Jahren erschienen, hatten also sein bei Diestel gewonnenes Bild vom Alten Testament nicht entscheidend verändert, und noch weniger hatten das in der Folgezeit die Entdeckungen der Archäologie getan; diese waren für ihn vielmehr geradezu ein Gegengift gegen Wellhausens revolutionäre Anschauungen gewesen. Gleichwohl, fährt der Rückblick von 1925 fort5, war es nicht Diestel, der dem Studenten die Wissenschaft nahebrachte, sondern Karl Weizsäcker (1822–99), der Nachfolger des großen F.C. Baur. In einer nur von zweien besuchten Übung führte er ihn, der bis dahin wie so mancher Stiftler vor und nach ihm mit „philosophischen Floskeln und Systemen“ gelebt hatte, „in feiner, geistvoller und scharfsinniger Art ohne Regeln und Theorien durch die Themen, die er stellte, und die Winke, die er gab, in eine [ihm] ganz neue Welt ein, die Welt historischen Denkens“. In dieser Welt sollte sich Rudolf Kittel lebenslang bewegen. Aber er blieb dabei mehr als mancher andere, auch und gerade unter den Alttestamentlern, ein Theologe. Das war Johann Tobias Beck (1804–78) zu verdanken, bei dem er in Tübingen neutestamentliche Vorlesungen hörte, dazu Ethik und „Pastorallehre“. Schon sein Vater war ein Anhänger Becks gewesen, und die Mutter hatte ihn, als er zu studieren begann, diesem originalsten und wirkungsmächtigsten unter den lebenden Tübinger Theologen vorgestellt. Der Student trat dem Professor nicht eigentlich nahe, übernahm auch nicht seine speziellen Lehren; aber er fand bei ihm seinen „Zug zum Irrationalen“ befriedigt, neben dem allerdings als der stärkere ein „starker und bohrender Drang zum Intellekt“ stand. „Wis2  R. Kittel, Ein Abschiedswort, gesprochen am Sarge der Frau Emilie Bücher, geb. Mittermaier (1909, in Leipzig als Manuskript gedruckt), 11. 3  Bei J. Hempel, Rudolf Kittel †, ZDMG 84 (1930) 78–93, hier 78. 4  Verzeichnis der von ihm besuchten Vorlesungen im Archiv des Tübinger Stifts; für seine Mitteilung danke ich dem Ephorus Prof. E. Jüngel. 5  Selbstdarstellung 114.

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senschaft und Frömmigkeit waren mir nie Gegensätze“: das führte er auf das Nebeneinander von Beck und Weizsäcker in seinem Studium zurück6. 1874 schrieb die Tübinger evangelisch-theologische Fakultät eine Preisaufgabe aus, die Diestel so formuliert hatte: „Es soll untersucht werden, welche Folgerungen für die pentateuchische Frage, namentlich in Betreff des Alters und des Inhalts der sogenannten Grundschrift, sich aus der Vergleichung sowohl der Ezechielischen Gesetzgebung Kap. 40ff., als auch der die Volksgeschichte behandelnden Psalmen mit dem Inhalte des Pentateuches ergeben.“7 Die Aufgabe betraf die Kardinalfrage der alttestamentlichen Wissenschaft jener Zeit. Seit einigen Jahren lag K.H. Grafs Spätdatierung jener „Grundschrift“, künftig Priesterschrift genannt, auf dem Tisch, und die Geister begannen sich an ihr zu scheiden. Es war kein schlechter Gedanke von Diestel, die Frage sozusagen von außen, von Ezechiel und den „Geschichtspsalmen“ her behandeln zu lassen. Das geschah gleichzeitig, mutatis mutandis und mit umgekehrtem Resultat, auch anderswo: 1875, als die Tübinger Preisarbeit abzuliefern war, erschien Bernhard Duhms „Theologie der Propheten“, die Grafs Hypothese voll bestätigte. Der Tübinger Bearbeiter konnte Duhms Buch damals kaum schon kennen, noch weniger natürlich die dann 1876–78 erschienenen Arbeiten J. Wellhausens zur Kritik des Hexateuchs. Dass Rudolf Kittel dieser Bearbeiter wurde und damit in die alttestamentliche Wissenschaft eintrat, ging auf den gelehrten und einflussreichen Stiftsinspektor Paul Buder (1836–1914) zurück, der ihn in Erinnerung an die Maulbronner Hebräischzensur dazu ermunterte. Die Arbeit ist nicht erhalten; wir haben über sie nur Kittels eigenen Bericht, wonach ihr Ergebnis war, „daß Graf zwar richtig die Priesterschrift hinter B und C [J und E], aber sie zu Unrecht ihren Hauptbestandteilen nach in die nachexilische Zeit verlegt habe“8. Dem anonym einzureichenden Manuskript gab Kittel einen Satz von Franz Delitzsch als Motto bei: „Es gibt eine Macht der Thatsachen, unter welche die Wissenschaft auch wider ihre Neigung sich zu beugen hat.“ Wollte er damit der Partei Grafs angesichts der von ihm beigebrachten Argumente den Rückzug nahelegen oder umgekehrt den Umstand, dass er immerhin ein kleines Stück nachgegeben hatte, als einen Akt entsagender Wahrheitsliebe stilisieren? So oder so erweisen die Arbeit und das Motto die konservative Grundhaltung, der Kittel zeitlebens treu geblieben ist. Die Fakultät, also Diestel, erkannte auf „bündige Klarheit“ und „eindringenden Scharfsinn“ und damit Preiswürdigkeit. 1879 verhalf die Arbeit ihrem Autor unverhofft auch noch zum Titel eines Doktors der Philosophie. Er war nach einigen Jahren des Kirchendienstes im Frühjahr 1879 als Repetent an das Tübinger Stift zurückgekehrt und hatte dort eine Lehrveranstaltung über Kant angekündigt. Dafür aber schien dem Epho6  Selbstdarstellung 115. 7 Zit. nach: Bekanntmachung der Ergebnisse der akademischen Preisbewerbung vom Jahre 1874 bis 1875 (Tübingen 1875). 8  Selbstdarstellung 117.

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rus Buder die Legitimierung durch eine philosophische Promotion angebracht, und er schlug gleich vor, die Preisschrift von 1874/75 so, wie sie war, als Dissertation zu verwenden. Trotz Kittels Einwand, inzwischen sei doch Wellhausen erschienen, spielte – Diestel war gerade gestorben, sein Nachfolger Kautzsch noch nicht berufen – der Orientalist Albert Socin sofort mit, und nach wenigen Tagen, am 24. Juli 1879, fand das Rigorosum statt, in dem Socin arabische Grammatik und der Philosoph Edmund Pfleiderer neuere Philosophiegeschichte prüfte. Das Resultat lautete „bene“ – die damalige Höchstnote „cum laude“ gab die vier Jahre alte und nicht als solche geschriebene Dissertation nicht her. Sie auf den neuesten Stand zu bringen, empfand der frischgebackene Dr. phil. als seine nächste Pflicht. Für das Wintersemester 1879/80 kündigte er nichts Philosophisches an, sondern eine „Übung zu Geschichte und Stand der Kritik des Pentateuch (ein- bis zweistündig)“, und im Zusammenhang damit entstand dann der in mehreren Teilen publizierte Aufsatz „Die neueste Wendung der pentateuchischen Frage. Versuch einer Kritik von Wellhausens Geschichte Israels“9. Der Untertitel trifft zu: von der ersten bis zur letzten Seite sehen wir Kittel mit Wellhausen beschäftigt, und zwar mit dem ersten Band der „Geschichte Israels“ von 1878. Wellhausen hatte dort die nachexilische Abfassung des „Priestercodex“, wie Kittel ohne weiteres anerkennt, „mit dem eindringenden Scharfsinn des kühnen Kritikers, mit der rücksichtslosen Consequenz des reinen Historikers und mit der blendenden Darstellung eines Feuilletonisten“ verfochten. Kittel gesteht auch zu, dass, wenn Wellhausen recht hat, „die alttestamentliche Religionsgeschichte auf den Kopf zu stellen“ ist, oder richtiger: „dann stand sie früher auf dem Kopfe und ist erst von unten an neu zu bauen“10. Um Wellhausen zu widerlegen und also einen solchen Neubau überflüssig zu machen, greift Kittel drei Kapitel aus der „Geschichte des Cultus“ heraus, die den ersten Teil jenes Bandes ausmacht, nämlich die Kapitel über den Ort des Gottesdienstes, die Opfer und die Priester und Leviten. Wellhausen hatte jeweils im Deuteronomium die große Zäsur zur älteren Zeit gesehen und darauf zunächst Ezechiel und dann die Priesterschrift folgen lassen. Kittel präsentiert und zerpflückt Wellhausens Argumente mit Akribie und Scharfsinn und macht sich für seine Gegenposition die Einsicht Wellhausens zunutze, dass die Priesterschrift ein „Conglomerat“ ist, „gleichsam die Arbeit einer ganzen Schule“11, nur dass er selbst diese Schule schon in vorexilischer Zeit verwurzelt sein lässt. So bekommt er die Möglichkeit, priesterschriftliche Texte oder Textteile, die klar nachdeuteronomisch sind, nicht über die Datierung der ganzen Priesterschrift entscheiden zu lassen. Das erfordert öfters eine ziemlich subtile Literarkritik. So nimmt Kittel aus den Opferbestimmungen Lev 17,2–9 im An9  ThSW 2 (1881) 29–62.147–69; 3 (1882) 278–314. 10  2 (1881) 31. 11  Wellhausen, Geschichte Israels I, 8.

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schluss an Vorlesungen seines Lehrers Diestel, übrigens auch an Wellhausen12 , die Nennungen der Stiftshütte und des Lagers heraus und erklärt das Verbleibende als Anweisung, nicht beliebig, sondern an einem der noch in großer Zahl bestehenden Jahweheiligtümer zu schlachten bzw. zu opfern. Diese Heiligtümer wurden später vom Deuteronomium abgeschafft, allerdings mit dem Zugeständnis, dass entfernt Wohnende profan schlachten dürfen. Dieses Zugeständnis macht die jetzige Forderung von Lev 17,2–9 rückgängig, indem sie die Opferung alles Geschlachteten am zentralen Heiligtum befiehlt. Der priesterschriftliche Text ist also teils vor-, teils nachdeuteronomisch, Priesterschrift und Deuteronomium stehen nicht im Verhältnis eines klaren Nacheinanders, sondern repräsentieren zwei Parteien, eine priesterliche und eine prophetische, die zwar „Einen Weg“ gingen, aber sich doch unterwegs durchaus „zankten“13. Entsprechend gibt es in der Priesterschrift eine ältere Schicht, die die Trennung von Priestern und Leviten noch nicht kennt (vgl. Num 17,16–28), während eine jüngere die Unterordnung der Leviten wenn schon nicht feststellt, so doch fordert (vgl. Num 16,8–11); wieder steht das Deuteronomium (vgl. 18,1–6) in der Mitte. Ans Ende rückt Ezechiel (Kap. 44), der die Trennung bereits vorauszusetzen scheint, so wie er auch in der Opfergesetzgebung nicht vor, sondern nach der Priesterschrift zu stehen kommt. In formelhafter Vereinfachung: an die Stelle von Wellhausens Reihenfolge D – Ez – P setzt Kittel P – D – P – Ez. Als der Pentateuch-Aufsatz im Druck erschien, war sein Verfasser schon von Tübingen nach Stuttgart übergesiedelt, um, mit dem Titel eines Professors, in den oberen Klassen des neugegründeten Karlsgymnasiums Religion und Hebräisch zu unterrichten. Wie ernst er diese Aufgabe nahm, zeigt ein Buch, das aus seiner Vorbereitung auf die Religionsstunden hervorging: „Sittliche Fragen. Ethisches und Apologetisches über Freiheit, Gewissen und Sittengesetz“ (1885). Noch heute liest man diese Einführung in die Grundlagen der Ethik mit Gewinn, so sehr die Zeit über vieles hinweggegangen ist. Kittel streitet für die Willensfreiheit gegen den Determinismus, für das Gewissen als Stimme Gottes und gegen die Möglichkeit einer religionslosen Moral. Der große Gegner ist Kant, den er bei Wilhelm Herrmann falsch interpretiert findet. Kittel schickte das Manuskript an die Haagsche Genootschap tot verdediging van de Christelijke godsdienst, um damit deren jährlich ausgeschriebenen Preis zu gewinnen. Das misslang, weil die Arbeit dem gestellten Thema nicht ganz entsprach und ihre Position zu dem gerade in Holland virulenten Problem des Determinismus die Erwartungen der Genootschap nicht erfüllte. Immerhin beeindruckte einen alttestamentlichen Gönner, den Kittel in jenen Jahren gewann, August Dillmann in Berlin, dieser Abstecher in die Philosophie so sehr, dass er Kittel weiter auf ethischem und dogmatischem Gebiet tätig sehen wollte und ihm schon 12  JDTh 22 (1877) 425. 13  ThSW 2 (1881) 38.

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einen entsprechenden Lehrstuhl in Heidelberg zudachte; aber damit stieß er nicht auf Gegenliebe. Dillmann (1823–94), wie Kittel ein Schwabe, besaß einigen Einfluss im Berliner Kultusministerium und hatte schon Wellhausen, seinem jüngeren Mitschüler bei Heinrich Ewald, den Weg nach Greifswald und dann Bernhard Stade den nach Gießen geebnet. Kittel empfahl sich ihm durch eine Besprechung seines Kommentars zu Exodus und Leviticus, in der er sich in den wesentlichen Punkten gegen Wellhausen auf seine Seite stellte14 . Seine Briefe an Dillmann15 bezeugen eine Gesinnungsgemeinschaft, die sich über den Tod hinaus bewährte, indem Kittel das „Handbuch der alttestamentlichen Theologie“ aus Dillmanns Nachlass herausbrachte (1895) und seinen Jesajakommentar neu bearbeitete (61898). Auf eigenen Füßen stehend, hat er allerdings die Gegenmeinung zu Wellhausen ungleich produktiver und wirkungsvoller vertreten als Dillmann. Es ist für ihn bezeichnend, wie sein erstes größeres Werk zustande kam. Bis dahin mit vagen Plänen einer Geschichte des israelitischen Priestertums beschäftigt16, stieß er, wohl 1884, im Lehrerzimmer seines Gymnasiums auf einen Prospekt des Verlags Perthes in Gotha über eine Reihe von „Handbüchern der Alten Geschichte“ und stellte fest, dass für die Geschichte der „Hebräer“ noch kein Bearbeiter angegeben war. Flugs setzte er sich hin, schrieb an Perthes und erhielt die auch für ihn selbst gewiss überraschend positive Antwort, er solle, da ja noch unbekannt, zunächst einmal eine Probe, etwa die Geschichte des Mose, ausarbeiten. Perthes hatte sich, bevor er antwortete, an den Alttestamentler Eduard Riehm in Halle gewandt, dem ähnlich wie Dillmann Kittels Stellung zu Wellhausen gefiel und der dann Kittel zuredete, den Plan auszuführen17. Man denkt unwillkürlich daran, wie Theodor Mommsen ziemlich genau im gleichen Alter an seine Römische Geschichte kam: die Verleger Reimer und Hirzel hörten einen Vortrag von ihm, suchten ihn anschließend mit der Frage auf, ob er sie schreiben wolle, und er sagte ja. Aber Mommsen war längst kein so unbeschriebenes Blatt mehr wie Kittel, hatte andererseits „an nichts weniger als an Geschichtsschreibung“ gedacht18, und die Initiative lag nicht bei ihm. Beide „Geschichten“ begannen nach wenigen Jahren zu erscheinen, beide hatten dann ihrerseits eine lange Geschichte, beide blieben streng genommen Torsi. Eine von ihnen wurde große Geschichtsschreibung, ja Weltliteratur, die andere, die Kittelsche also, immerhin eine Standardwerk, das jahrzehntelang seinen Dienst getan hat und nie völlig ersetzt worden ist. Kittel schrieb 1885 die gewünschte Probe in Gestalt der Patriarchengeschichte. Sie gefiel, und so konnte er sich an das Übrige machen. 1887 war er mit dem ersten Band fertig, er erschien 1888 mit dem Titel „Geschichte der Hebräer. 14  LZD 1881, 169–71. 15  In der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin. 16  An Dillmann 17.12.1882. 17  Kittel an Dillmann 17.3.1885. 18  Vgl. L. Wickert, Theodor Mommsen III (1969) 399.655.

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1. Halbband: Quellenkunde und Geschichte der Zeit bis zum Tode Josuas“. Die Einteilung in Quellenkunde und Geschichte folgt dem Vorbild Wellhausens, dessen erster Band 1878 mit dem Satz begann: „Das vorliegende Buch unterscheidet sich von seinesgleichen dadurch, daß die Kritik der Quellen darin einen ebenso breiten Raum einnimmt als die Darstellung der Geschichte.“ Kittel liefert eingangs eine Gesamtkritik des Hexateuchs und stellt im weiteren jeweils der „Geschichte“ die „Quellenkunde“ voran – allerdings in einer Weise, die den von Wellhausen herkommenden Leser schmerzlich enttäuscht. Das durchgängige Bemühen, Wellhausens Positionen zu erschüttern, gibt dem Ganzen einen defensiv-apologetischen Grundzug und hat nichts von der Kraft und dem Glanz, die bei Wellhausen nicht erst die Darstellung der Geschichte, sondern schon die im ersten Band, den späteren „Prolegomena“, zusammengefasste Kritik der Quellen zu einer noch heute hinreißenden Lektüre machen. Immerhin: seit 1888/92 gab es eine Alternative zu Wellhausens „Geschichte“ und einen Gelehrten, der sich berufen fühlte, anstelle der abtretenden Größen Delitzsch und Dillmann das konservative Lager anzuführen. „Wellhausen“, so stellte Kittel sich und der Nachwelt die Situation einigermaßen dramatisch dar19, „hatte in den seit 1878 verflossenen zehn Jahren schon in so großem Umfang die Zustimmung beinahe aller für wissenschaftlich gelten wollender Fachgenossen, besonders der jüngeren, erworben, daß mein Buch vielen als ein bedenkliches Wagestück erschien. Ich selbst war mir bewußt, daß ich ein Schwimmen gegen den Strom unternahm und damit den Verlust meiner wissenschaftlichen Reputation in Aussicht zu nehmen hatte.“ Die andere Seite – auf der es schwerlich ein Schulhaupt gab, sicher nicht den an dergleichen uninteressierten Wellhausen, allenfalls den freilich außerhalb Gießens hochschulpolitisch kaum erfolgreichen Stade – war in Kittels Augen ständig damit beschäftigt, durch eine rigorose Parteipolitik im Rezensionswesen und bei Berufungen Andersdenkenden das Wasser abzugraben, und so wurde er seinerseits schon früh auf beiden Gebieten aktiv. Als er das erste Exemplar des ersten Bandes der „Geschichte der Hebräer“ in Händen hatte, fuhr er damit nach Tübingen, um Emil Kautzsch, den Nachfolger Diestels, zu bitten, er möge ihn „durch Übernahme der Anzeige in der Theol. Lit. Zeitg. […] vor dem Schicksal bewahren, das kurz zuvor Schürer [der Gründer und damalige Herausgeber der ThLZ] Dillmanns Kommentar zu NuDtJos dort durch Stade hatte bereiten lassen“20. Noch bevor er mit dieser Bitte herausgekommen war, stieß Kautzsch beim Blättern auf eine Passage über die Priesterschrift, zu der er nur bemerken konnte: „Das tut mir recht leid; hier sind wir doch seit Wellhausen weiter.“ Daraufhin war Kittel an der Rezension nicht mehr interessiert. Er wandte sich auf Kautzschs Rat an Kamphausen in Bonn, mit gleichem 19  Geschichte des Volkes Israel II6.7 (1925) VII. 20  Vgl. ThLZ 12 (1887) 193–200 – übrigens eine bei aller Kritik sehr respektvolle Besprechung.

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Ergebnis. „Nun wird wohl“, klagte er Dillmann, „nichts mehr übrig bleiben. Ich werde mich Schürer auf Gnade und Ungnade ergeben müssen; doch werde ich dabei wenigstens brieflich an sein Anstandsgefühl appellieren mit der Bemerkung: ich glaube annehmen zu dürfen, daß in diesem Falle nicht St. als Hauptkonkurrent und prinzipieller Gegner meiner Auffassung zum Recensenten bestellt werde, sondern etwa Baethgen oder Nowack. Geschieht es doch, so will ich mich mit Würde in das Unvermeidliche schicken.“ Es überrascht bei einem so sehr in Kontroversen denkenden und dabei seiner Sache scheinbar so sicheren Mann wie Kittel, mit welcher Selbstverständlichkeit er antichambriert, um nicht den vielleicht schärfsten, gewiss aber kompetentesten Rezensenten zu erhalten – von Stade, einem Kittel nicht unähnlichen Mann, war 1887 der erste Band einer an Wellhausen orientierten, aber keineswegs unselbständigen Geschichte des Volkes Israel erschienen. Schürer ließ sich, offenbar auch durch Kautzsch, erweichen und vertraute die Rezension zwar nicht Baethgen oder Nowack, aber doch auch nicht Stade an, sondern „ließ“ durch den Reuß-Schüler L. Horst, wie Kittel sich ausdrückte, „die Abtötung in etwas menschlicherer Form vollziehen“21. Einem unbefangenen Leser der Rezension muss der Begriff „Abtötung“ als weit übertrieben erscheinen. Horst stellt einige naheliegende Fragen zu Deuteronomium und Priesterschrift und zur von Kittel angenommenen Historizität der Patriarchen, findet das Ganze in seiner Kombination aus Quellenkritik und Geschichtsdarstellung kein Kunstwerk und keine Geschichte der Hebräer, schließt aber mit dem Urteil: Kittel „geht mit so großer Bedachtsamkeit und Gründlichkeit zu Werk und veranschaulicht, zustimmend oder widersprechend, den heutigen Stand der Forschung so trefflich, dass man ihm alle Anerkennung zollt und aus seiner gewissenhaften Arbeit, auch wo man nicht überzeugt wird, großen Nutzen zieht“22 . Eine weitere, in Kritik und Anerkennung ähnlich gemischte Rezension nannte Kittel gar eine „hämische Abschlachtung“ – sie stammte von Eberhard Nestle (1851–1931), seinem „bisher besten Freund“23, der er natürlich fortan nicht mehr war. Als der zweite Band der „Geschichte“ nach anderthalb Jahren noch nicht in der Theologischen Literaturzeitung angezeigt war, erwog der erboste Kittel, an die Redaktion zu schreiben, „daß ich jetzt verzichte“24 . In Berufungsangelegenheiten bescheinigte sich Kittel selbst den „Grundsatz“, sich „immer passiv zu halten“25, aber schon als es 1888 in Tübingen um die Nachfolge des nach Halle abgewanderten Kautzsch ging, blieb er offenkundig nicht ganz untätig, wobei er auf die Unterstützung durch das Konsistorium gegenüber einem von der Fakultät vorgeschlagenen Wellhausianer spekulierte und auf der anderen Seite bedauerte, dass der ihm wohlgesonnene Minister ei21  Das Vorstehende nach Geschichte II6.7, VII und Kittels Brief an Dillmann vom 5.1.1888. 22  ThLZ 13 (1888) 541. 23  LZD 1888, 1733f.; vgl. Kittel an Dillmann 1.1.1889. 24  An Dillmann 31.12.1893. 25  Brief an R. Seeberg 23.3.1897 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlass 1052 Seeberg, Bd. 72).

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nem Fakultätsvorschlag wohl nicht gern zuwiderhandeln würde26. Noch bevor die Tübinger Angelegenheit entschieden war, kam er andernorts zum Zuge, nämlich in Breslau, also in Preußen. Dillmann hatte den ersten Band der „Geschichte“, zweifellos mit einer Empfehlung, dem entscheidenden Mann im Berliner Kultusministerium, dem Geheimrat Althoff, zugehen lassen, und auf dessen Veranlassung fuhr der Berliner Neutestamentler Bernhard Weiß, der auch Oberkonsistorialrat und Vortragender Rat im Ministerium war, nach Stuttgart und hörte sich Kittels Schulunterricht an. Das geschah im April 1888, zum Wintersemester 1888/89 war Kittel in Breslau 27. Es blieb ihm bewusst, dass er Dillmann diese seine erste Professur verdankte. Die Einflussnahme für Wellhausen und Stade hat Dillmann später bereut; Kittel enttäuschte ihn nicht. Übrigens wurde diesem nach seiner Zusage in Breslau der Tübinger Lehrstuhl doch noch angeboten. Er konnte aber nicht mehr zurück und bekam zugetragen, dass die Tübinger Fakultät ihm daraufhin die bei Erstberufenen übliche Ehrenpromotion vorenthielt – was er später der Öffentlichkeit zu unterbreiten für angebracht hielt28. Das Breslauer Jahrzehnt, bis 1898, war mit Arbeit überfüllt. Ohne die übliche Vorbereitungszeit des Privatdozenten in die Professur gelangt, hatte Kittel sogleich das ganze Fach zu vertreten, und das bedeutete in jedem Semester zwei Hauptvorlesungen, zu denen ein Publikum oder Seminar und die übrigen Geschäfte kamen. Um zu demonstrieren, dass er ein Theologe und zwar ein kirchlicher Theologe war und dass „das Alte Testament auf Grund unserer heutigen Erkenntnis von ihm in noch vollkommenerer Weise, als es bisher geschehen ist, für die Gemeinde fruchtbar gemacht werden kann“, bestieg er nicht nur das Katheder, sondern auch die Kanzel; eine von ihm allein bestrittene Predigtreihe im Universitätsgottesdienst veröffentlichte er unter dem Titel „Aus dem Leben des Propheten Jesaja“ (1894)29. Und nicht zu vergessen: mehrere Semester saß er auch unter einem Katheder, nämlich bei Friedrich Delitzsch (1850–1922), dem Assyriologen, den er einen „Lehrer von Gottes Gnaden“ nannte, dem er aber nach seinen maßlosen Angriffen auf das Alte Testament im Babel-Bibel-Streit (1902/03) und vollends in der „Großen Täuschung“ (1920) wohl oder übel die Freundschaft kündigen musste30. Das erste Buch der Breslauer Jahre war der zweite Halbband der Geschichte der Hebräer (1892). Wie im ersten Halbband geht auch hier der Darstellung des Geschichtsverlaufs – zunächst Richterzeit, Saul, David und Salomo, dann die weitere Königszeit – jeweils eine „Quellenkunde“ voran. Sie kann sich aber kürzer fassen als im ersten Halbband, weil die Probleme hier nicht so kompliziert 26  An Dillmann 5.1.1888, vgl. weiter die Briefe vom 6. und 22.3.1888. 27  Vgl. seine Briefe an Dillmann vom 24.4.1888 und 1.1.1889. 28  Geschichte des Volkes Israel II6.7, VIf.VIIf. 29  Dort VI das obige Zitat. 30  Selbstdarstellung 125f.

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sind wie beim Hexateuch. Bekanntlich fehlen sie aber auch hier keineswegs. Damals wurde die Diskussion vor allem durch die von Cornill und Budde vertretene, später von anderen weiter ausgebaute These bestimmt, in den Büchern Richter, Samuel und Könige setzten sich die älteren Hexateuchquellen fort. Kittel31 wischt diese These nicht einfach vom Tisch, gesteht vielmehr allerlei Anklänge und Analogien zu, rechnet aber seinerseits viel stärker mit einer Reihe redaktionell aneinandergefügter Erzählungen und Sammlungen, vertritt also, in der Terminologie der Hexateuchkritik, keine Urkunden-, sondern eine Fragmentenhypothese32 . Er hat damit der späteren Forschung, in deren Zentrum eine Ergänzungs- und Bearbeitungshypothese steht (Noths „deuteronomistisches Geschichtswerk“), wichtige Vorarbeit geleistet. Seine Gründlichkeit verlangte aber bei den Geschichtsbüchern nach mehr. Zur Vorbereitung des zweiten Halbbandes der Geschichte der Hebräer übersetzte er auf eigenen Wunsch in Kautzschs „Heiliger Schrift des Alten Testaments“ die Bücher Richter, Samuel und Ruth (1892); in der erläuterten Fassung der späteren Auflagen (41924, ohne Ruth) ist Kittels Übersetzung noch heute ein guter Leitfaden für eine erste wissenschaftliche Lektüre dieser Bücher. Aber man kann verstehen, dass sie, zumal in ihrer ersten Gestalt, dem Autor zu kurz war, und so bot er, kaum war der zweite Halbband der „Geschichte“ fertig, einem namhaften Verleger einen vollständigen Kommentar zu den alttestamentlichen Geschichtsbüchern an. Zustande kamen davon in Nowacks „Göttinger Handkommentar“ die umfangreichen Erklärungen der Königs- und der Chronikbücher. Sie erschienen 1900 und 1902, nach einem für Kittels Verhältnisse ungewöhnlich langen Zeitraum. Aber er war in der Zwischenzeit keineswegs untätig gewesen, hatte vielmehr unter manchem anderen in Paul Haupts „Regenbogenbibel“ die Chronik bearbeitet (1895) und im „Kurzgefaßten exegetischen Handbuch“ den Jesaja (1898). An letzterem hatte er die geringste Freude, nicht nur weil er Dillmann überarbeiten und vielfach korrigieren musste, sondern auch weil ihm die aphoristische Anlage des „Handbuchs“ – er zitierte dazu das jesajanische „Hier ein wenig, da ein wenig“ – nicht zusagte; sein Bestreben war es, den Lesern, namentlich den studentischen, „ein zusammenhängendes Bild der Gedanken des Verfassers und der wichtigsten zu ihrem Verständnis nötigen historischen Begebenheiten oder theologischen Vorstellungen zu geben, wenn nötig in besonderen Abhandlungen oder Exkursen“33. Auf allseitiger Information und Erörterung beruht der Erfolg der Kittelschen Kommentare kaum weniger als darauf, dass sie die Extreme meiden, also weder bei der ungeprüften Tradition verharren, noch durch kritische Radikalismen beunruhigen. Wie die Kommentare von Delitzsch und Dillmann waren sie nicht nur für Gesinnungsgenossen brauchbar und sind das geblieben. 31  Vgl. auch seinen Aufsatz „Die pentateuchischen Urkunden in den Büchern Richter und Samuel“ (ThStKr 65, 1892, 44–71). 32  Vgl. O. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament 3(1964) 326. 33  Selbstdarstellung 129.

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Der Kommentar zu den Königsbüchern erschien, obschon größtenteils in Breslau fertiggestellt, erst in Kittels Leipziger Zeit. Breslau war von vornherein kaum als Endstation gedacht gewesen. Kittels spätere öffentliche Bemerkung, Althoff habe den preußischen Fakultäten das Rückgrat gebrochen34, lässt vermuten, dass er sich nicht nur in Breslau, sondern überhaupt in Preußen nicht wohlfühlte. 1897 sehen wir ihn, immerhin soeben zum Rektor aufgestiegen, unbeschadet seines Grundsatzes, sich „bei derartigen Angelegenheiten immer passiv zu halten“, einen Fühler nach Erlangen ausstrecken, wo der alttestamentliche Lehrstuhl vakant war; er schrieb ungefragt einen Brief an den ihm in konservativer Grundgesinnung verbundenen damaligen Erlanger, bald Berliner Systematiker Reinhold Seeberg, in dem er ihm seine sämtlichen Familienbeziehungen nach Bayern darlegte, um sich dadurch der Regierung in München akzeptabler zu machen35. Als aus diesem Projekt nichts wurde, bot Leipzig, von wo Frants Buhl, Franz Delitzschs unmittelbarer Nachfolger, nach achtjähriger Gastrolle 1898 in das heimatliche Kopenhagen zurückkehrte, einen mehr als gleichwertigen Ersatz. Hier kam er in eine prominente und einigermaßen geschlossene Fakultät. Deren Haupt und Senior Luthardt (1823–1902) lernte ihn gleich beim Antrittsbesuch auf bezeichnende Weise kennen. Es ging wieder einmal um eine Rezension. In Luthardts Theologischem Literaturblatt war gerade Kittels Jesajakommentar „in einer stark gehässigen Weise“ behandelt worden, und Kittel vermutete in dem anonymen Rezensenten scharfsinnig einen anderen Anwärter auf den Leipziger Lehrstuhl. Luthardt bestätigte diese Vermutung und bot Kittel an, ihm „durch selbständige Bekanntgabe des Namens Genugtuung zu verschaffen“, was Kittel mit dankender Ablehnung quittierte36. Doch viel mehr als seine Empfindlichkeiten bekam Leipzig alsbald seine Stärken zu spüren. Gleich zu Semesterbeginn im November 1898 stellte er seine Grundüberzeugungen und seine Arbeitsrichtung in zwei Ansprachen vor, die er in einem Heft „Zur Theologie des Alten Testaments“ vereinte37. Die eine, betitelt „Das Alte Testament und die Theologie“, bildete den Anfang der Vorlesung über Alttestamentliche Theologie und kündigte freie historische Forschung an, aber in der „Gebundenheit im Evangelium von Christo“38, die andere bestimmte den Gottesknecht bei Deuterojesaja als eine historische Gestalt der Exilszeit, die die babylonische oder persische Obrigkeit als Messias der Juden hingerichtet habe, vielleicht Serubbabel oder Jojachin – ein Gedanke, den 34  Geschichte II7, IX Anm. 35  23.3. (und noch einmal 7.4.) 1897 (s. Anm. 25). Übrigens hatte er schon 1894 einen ganz ähnlichen Brief an Hermann Cremer in Greifswald geschrieben; vgl. R. Stupperich, Hermann Cremer. Haupt der „Greifswalder Schule“. Briefwechsel und Dokumente (1988) 143f. 36  Selbstdarstellung 129f., vgl. ThLBl 19 (1898) 241–43. Der Rezensent „mißbilligt“ die Art, wie Kittel „mit Dillmann’s geistigem Eigenthum umgegangen ist“ (243). 37  Erschienen 1899. 38  A.a.O. 11.

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Kittel später weiter ausgebaut und dem er noch 1927 im Schlussband der „Geschichte des Volkes Israel“ eine große Tragweite gegeben hat39. Noch im ersten Leipziger Semester wurde er auch in einer anderen Richtung aktiv. Er fand in seinem Fach einen reinen Vorlesungsbetrieb vor; die Studenten waren, wie er sich ausdrückte, nur Hörer, nicht aber Mitarbeiter. Er freute sich über „Fleiß und innere Teilnahme“, vermisste aber „in hohem Grade das Vermögen und selbst Verlangen eigener wissenschaftlicher Bethätigung“. Um diesen Zustand zu ändern, gelte es, „Interesse an dem Betrieb wissenschaftlicher Arbeit – nicht bloß, wie jetzt, an den Resultaten – zu wecken“; das müsse „– ganz abgesehen von dem gelehrten Nachwuchs – das Ziel bei der Heranbildung einer evangelischen Geistlichkeit, die diesen Namen verdient, sein“. In solcher Absicht beantragte Kittel am 7. Dezember 1898 die Einrichtung eines alttestamentlichen Seminars40. Er stand mit diesem Schritt nicht allein. Allenthalben wurden in jenen Jahren Seminare für die geisteswissenschaftlichen Disziplinen eingerichtet. Ihre unmittelbaren Vorläufer waren studentische Arbeitskreise, von Professoren gegründet und geleitet, wo Texte gelesen, Themen besprochen und Abhandlungen geschrieben wurden, mit denen man Preise gewinnen konnte. In Leipzig gab es schon seit längerem zwei beliebte und erfolgreiche neutestamentliche Seminare, aber noch kein alttestamentliches; weder Kittels Vorgänger Buhl noch sein Fachkollege, der Extraordinarius Hermann Guthe, scheinen in dieser Richtung interessiert gewesen zu sein. Kittel erbat zum 1. Oktober 1899 einen Raum mit Arbeitsplätzen für etwa 25 Studierende, dazu eine Anfangssumme von 3500 Mark und weiter jährlich 600 Mark zur Anschaffung von Literatur. Das Ministerium bewilligte so, dass schon im Sommersemester 1899, also früher als beantragt, gemeinsam mit dem Romanischen und dem Englischen Seminar das gerade freigewordene dritte Stockwerk eines Hauses in der Universitätsstraße bezogen werden konnte. Die Arbeit regelte eine am 8. Mai von Kittel nach Dresden abgesandte, am 10. Mai dort eingetroffene und am 12. Mai – wiederum: welcher Galopp des damaligen Amtsschimmels! – genehmigte Ordnung, deren Wortlaut (in seiner ministeriellen Fassung)41 hier mitgeteilt sei: § 1. Das Alt-Testamentliche Seminar setzt sich die Aufgabe einzelne Studierende in die wissenschaftliche Methode der Forschung am Alten Testament einzuführen und sie zu selbständigem Arbeiten auf diesem Gebiete anzuleiten. § 2. Zu diesem Zweck werden wöchentliche Übungen abgehalten und wird den Mitgliedern Gelegenheit zum Arbeiten gegeben. Die Mitglieder, über deren Zahl der Direktor entscheidet, sind zu regelmäßigem Besuch der Übungen verpflichtet. 39  III/1, 248. 40  Akten, das Alttestamentliche Seminar bei der Universität Leipzig betr., Staatsarchiv Dresden, Min. f. Volksbildung Nr. 10193/8, Bl. 3. 41  Ebd. Bl. 19.

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§ 3. Mit dem Seminar ist eine Bibliothek verbunden, welche den Zweck hat, die für die Alt-Testamentliche Wissenschaft unentbehrlichen Werke den Mitgliedern zugänglich zu machen. Die Benützung derselben wie des Seminararbeitsraumes ist den Mitgliedern auch außerhalb der Sitzungen für ihre mit den Seminararbeiten zusammenhängenden Studien gestattet. § 4. Es werden in der Regel nur Studierende aufgenommen, die schon 3 Semester Theologie studiert haben. Aus ihrer Zahl wählt der Direktor einen Senior, der ihn in der äußeren Geschäftsführung zu unterstützen und die Bibliothek unter seiner Aufsicht zu verwalten hat. § 5. Wer gleichzeitig Mitglied mehrerer anderer Seminarien oder zur Arbeit verpflichtender Übungen ist, kann für das betreffende Semester nicht Mitglied des Alt-Testamentlichen Seminars werden.

Es wäre lohnend, aber zu weitläufig, aus der zeitweise glanzvollen Geschichte dieses Seminars zu berichten. An ihrem Anfang geschah etwas, was die Arbeit aller Seminare und beschämenderweise überdurchschnittlich der theologischen begleitet, nämlich ein Bücherdiebstahl, der Neuanschaffungen im Wert von über 400 Mark (damaligen Wertes!) betraf; Kittel, beim Ministerium fast immer erfolgreich, bekam die hohe Summe postwendend ersetzt. Er konnte bei Gelegenheit der schriftlichen Diebstahlsmeldung42 auch berichten, dass das Seminar sich „steigender Benützung“ erfreue und er, um nicht über die Zahl von 25 Mitgliedern hinauszugehen, „eine zweite Abteilung in Gestalt eines Proseminars“ eröffnet habe, das fast 40 Studenten umfasse, für die er „einen eigenen Abend in jeder Woche eingerichtet“ habe. Die Mitgliederzahlen steigerten sich in den nächsten Jahren schnell. Der weitere Ausbau galt zunächst vor allem dem Proseminar, und zwar darum, weil Quantität und Qualität des Hebräischunterrichts in den Gymnasien immer mehr abnahmen. Es musste also regelmäßig hebräischer Anfangsunterricht erteilt und die Sprache in den exegetischen Übungen des Proseminars eingeübt werden. Weil Kittel das nicht alles selber machen konnte, beantragte43 und erhielt er einen Assistenten, zunächst in Gestalt eines nebenamtlich beschäftigten Pfarrers, später als Inhaber einer vollen Stelle, die jahrzehntelang in der Fakultät die einzige blieb und als „die Kittelsche Stelle“ mit besonderer Sorgfalt besetzt wurde. Ihr erster Inhaber war seit 1920 Friedrich Baumgärtel (1888–1981), ihm folgte 1922 Gottfried Quell (1896– 1976). Kittel ließ sich von beiden und nicht nur von ihnen neben ihren Seminarverpflichtungen auch bei seinen eigenen Vorhaben, voran der Biblia Hebraica, kräftig zuarbeiten und regte sie zweifellos auch seinerseits mannigfach an. So überragend die Rolle war, die er und dann sein nicht ganz so vielseitiger, dafür 42  Ebd. Bl. 25. 43  Ebd. Bl. 27/28.

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aber um so originalerer Nachfolger Albrecht Alt spielten, so wenig wird man doch sagen dürfen, dass die alttestamentliche Wissenschaft zu ihren Zeiten in Leipzig nur von großen Solisten betrieben wurde; beide suchten das Ensemble, beide waren ebenso Lehrer wie Forscher, zogen einen Kreis fähiger Schüler heran und hatten nicht nur literarisch, sondern auch, ja zuerst durch ihren mündlichen Vortrag eine kaum zu überschätzende Wirkung. Sein unmittelbares Ziel hat Kittel im Herbst 1903 bei Gelegenheit des ersten Antrags auf eine Assistentenstelle schlicht so umschrieben: „Bei der hohen Bedeutung, welche die Alttestamentlichen Studien – wie gerade das letzte Jahr gezeigt hat [eine Anspielung auf den Babel-Bibel-Streit] – für die Theologie besitzen, glaube ich alles tun zu sollen, dieselben auch in Leipzig auf ihrer Höhe zu erhalten.“44 Für die erste Leipziger Zeit hatte sich Kittel eine Neubearbeitung seiner Geschichte der Hebräer vorgenommen. Aber der Verlag gab seinem Drängen nicht nach, weil die erste Auflage „noch längst nicht erschöpft“ war45. So sann Kittel auf anderes, und es fand sich. 1902 fiel ihm als designiertem Dekan der Theologischen Fakultät nach Leipziger Herkommen die Aufgabe zu, mit einem „Reformationsprogramm“ zur Feier des Rektoratswechsels einzuladen. Er nutzte die Gelegenheit, um auf nicht weniger als 86 Seiten „Über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Neuausgabe der hebräischen Bibel“ zu handeln, für diesmal noch gemäß dem Untertitel in Gestalt von „Studien und Erwägungen“, aber doch schon so, dass die „neue Ausgabe“ mit „Notwendigkeit“ am Horizont erscheinen musste und dass kaum ein anderer als eben Kittel für ihre Realisierung in Betracht kam. Die damals benutzten hebräischen Bibeln boten den masoretischen Text im Anschluss an die Drucke seit dem 16. Jahrhundert mit allerlei Verbesserungen, die sich aus deren Vergleich und aus einem überwiegend wenig wertvollen Handschriftenmaterial ergaben, aber keinen zureichenden Apparat, schon gar keinen, der nennenswert über den masoretischen Text hinaus- oder richtiger: hinter ihn zurückführte. Dies letztere ist aber eine unerlässliche Aufgabe, weil es, wie Kittel ausführlich darlegt, schon in vormasoretischer Zeit eine große Zahl von Fehlerquellen gegeben hat, deren Folgen im masoretischen Text autoritativ fixiert sind. Den Versuch einer partiellen Herstellung des noch nicht fehlerhaften Textes, womöglich des auf den jeweils ersten Autor zurückgehenden „Urtextes“ – des „Autographon“, wie Kittel sagt – unternimmt jeder ernstzunehmende wissenschaftliche Kommentar, die klügste einzelne Vorarbeit zu einer Gesamtausgabe in diesem Sinn hatte 1871 Wellhausen mit seinem „Text der Bücher Samuelis“ geliefert, die am weitesten gediehene Durchführung war und ist die Hauptsche „Regenbogenbibel“, zu der Kittel die Chronik beigesteuert hatte. Dort zeigte und zeigt sich allerdings auch die Problematik dieses Ver44  Ebd. Bl. 28. 45  Selbstdarstellung 131.

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suchs, die, sehr abgekürzt gesagt, in der Gefahr der Vermengung von Text- und Literarkritik liegt. Die Texte sind zu ganz verschiedenen Zeiten und meist in komplizierten Ergänzungs- und Sammlungsprozessen entstanden – wieweit kann und soll da die Textkritik jeweils zum Anfang vorstoßen? Mindestens könnte das nur in einem ziemlich ungleichmäßigen und zudem leicht in Willkür ausartenden Verfahren geschehen. So bestimmt Kittel die Aufgabe dahin, einen zwar großenteils im Verhältnis zum „Urtext“ jüngeren, dafür aber „einheitlichen“ Text zu rekonstruieren, nämlich denjenigen, der den beiden uns vorliegenden großen Überlieferungen, der hebräischen und der griechischen, zugrunde liegt, also den hebräischen Text des 4. Jahrhunderts v. Chr., bevor die Septuaginta entstand. Der Apparat hätte abweichende Lesarten des masoretischen Textes, der Handschriften und der Übersetzungen nachzuweisen, aber auch – mit Vorsicht auszuwählende – Konjekturen. Eine große Schwierigkeit bei der Durchführung dieses Programms ergab sich aus der überragenden Bedeutung des masoretischen Textes. Zwar konnte sich Kittel nach dem Gesagten nicht auf Theodor Nöldekes Forderung einlassen, eine Ausgabe des hebräischen Alten Testaments solle „nie über den masorethischen Text hinausgehen“46. Aber er musste zugestehen, „daß die Richtung, in welcher wir uns beim Suchen nach dem besten erreichbaren Bibeltexte zu bewegen haben, keine andere sein kann, als diejenige, in welcher der Massoretentext liegt. Ihn haben wir in seine Anfänge zurückzuverfolgen.“47 Konnte dann aber, von anderen Gründen ganz abgesehen, auf seine vollständige Wiedergabe verzichtet werden? Musste die Ausgabe also nicht in zwei Spalten nebeneinander den hypothetisch rekonstruierten hebräischen Text des 4. Jahrhunderts und den masoretischen enthalten? Dies aber verbot sich aus Kostengründen. So entschied sich Kittel notgedrungen dafür, auf den rekonstruierten Text überhaupt zu verzichten und lediglich den masoretischen Text abzudrucken und ihm einen Apparat beizugeben, der nur das wirklich Wichtige enthielt, das, was, wie er in den Prolegomena der Ausgabe sagte, „vel hoc vel illo modo insigne vel gravius est“. Für die Bearbeitung der einzelnen biblischen Bücher gewann er G. Beer (Sprüche, Hiob), F. Buhl (Psalmen, Esther), G. Dalman (Hohes Lied), S. R. Driver (Deuteronomium, Josua), M. Löhr (Daniel, Esra-Nehemia), W. Nowack (Zwölf Propheten), J. W. Rothstein (Jeremia, Ezechiel) und V. Ryssel (Exodus–Numeri). Den nicht kleinen Rest übernahm er selbst, dazu die Vereinheitlichung der Beiträge, die dadurch in bewunderungswürdiger Weise zu einem Ganzen wurden. Die beiden Bände erschienen zuerst 1905/06 und wurden mehrfach in verbesserter Form nachgedruckt, bis 1929–37 die dritte, nach Kittels Tod von Alt und Eißfeldt redigierte Auflage an ihre Stelle trat, die aufgrund der Vorarbeiten Paul Kahles den masoretischen Text in seiner ältesten erreichbaren Gestalt, der des Codex Leningradensis (Petropolitanus), bot 46  ZWTh 16 (1873) 118. 47  Über die Notwendigkeit 46.

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und den (vermehrten) Apparat nach wichtigen und weniger wichtigen Varianten gliederte. Auch die Bearbeiter der einzelnen biblischen Bücher hatten fast durchweg gewechselt – außer dass Kittel auch hier noch am Ende seines Lebens wiederum das meiste tat. Natürlich ist immer wieder bedauert worden, dass er sein ursprüngliches Vorhaben, die Ausgabe des kritisch rekonstruierten Textes, weder in der einen noch in der anderen Form verwirklicht hatte; ein Rezensent aus der Umgebung Wellhausens zitierte sogar Jes 14,12: „Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern.“48 Aber wie die Dinge lagen und liegen, konnte und kann, wie inzwischen auch das viel anspruchsvollere Unternehmen der Hebrew University Bible zeigt, auf absehbare Zeit kaum etwas grundsätzlich anderes gemacht werden als das, was Kittel gemacht hat. Sein stolzer Satz bleibt bestehen: „Die Handausgabe wird vervollkommnet, auch von Zeit zu Zeit erneuert werden können, zu entbehren wird sie nicht sein, solange das Lesen des Grundtextes einen Bestandteil des Bibelstudiums bildet.“49 Nebenbei, was die Vervollkommnung angeht: es gibt Leute, darunter sehr gelehrte, die die Biblia Hebraica am liebsten in einer ihrer ersten Ausgaben und am wenigsten gern, obwohl sie da ästhetisch am anspruchsvollsten ist, in der letzten vollständigen, der (oder den) „Stuttgartensia“, benutzen. Für den erstaunlich schnellen Abschluss der Arbeit belohnte sich Kittel 1907 mit einer Reise in den Orient. Sie erfüllte ihm einen alten Wunsch. Er interessierte sich schon lange für das, was die Archäologie zum Verständnis der Bibel beitrug, hatte sich mit den Amarnatafeln beschäftigt und in den Babel-BibelStreit eingegriffen (Die babylonischen Ausgrabungen und die biblische Urgeschichte, 1903; Der Babel-Bibel-Streit und die Offenbarungsfrage, ebenfalls 1903) und war nun immer mehr auf unmittelbare Anschauung aus. Endlich in Palästina unterwegs, scheint er keine Minute ungenutzt gelassen zu haben. Zurückgekehrt legte er der Universität als Reformationsprogramm für 1907 eine Abhandlung über den Schlangenstein im Kidrontal bei Jerusalem vor, die er dann (Vorwort Ende Oktober 1907, erschienen 1908) mit drei weiteren Stücken ähnlichen Inhalts zu einem Band von „Studien zur hebräischen Archäologie und Religionsgeschichte“ vereinigte – dem ersten Heft der „Beiträge zur Wissenschaft vom Alten Testament“, die später in die von Kittels Nachfolger Albrecht Alt und seinem Sohn Gerhard Kittel herausgegebenen „Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament“ übergingen und die als Gegenstück zu den liberalen „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments“ unter Gunkel und Bousset, später Bultmann konzipiert gewesen sein dürften. Das ziemlich stattliche erste „Heft“ widmete Kittel seiner Frau, der „allezeit verständnisvollen feinsinnigen Genossin meiner Arbeit“, die

48  F. Giesebrecht, ThLZ 31 (1913) 371. 49  Selbstdarstellung 134.

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ihm in Palästina „durch ihre vielseitigen Interessen und reichen Sprachkenntnisse eine besonders wertvolle Begleiterin war“50. Aber der Ertrag der Reise ging weit über Spezialitäten hinaus. Kittel hat sie geradezu einen „Wendepunkt“ in seiner Auffassung vom Alten Testament genannt. „So vieles mir hinsichtlich der Notwendigkeit einer Neuorientierung der alttestamentlichen Studien am Alten Orient und des neuen Aufrisses der Geschichte Israels schon seit Jahren aufgegangen war: das A.T. selbst hatte ich doch immer noch in erster Linie als literarisches Denkmal, als Buch ins Auge gefaßt. Im Anblick des Landes selbst und seiner von der Vorzeit zeugenden Stätten, in der Versenkung in das Leben im Land und in der Wüste, die auch jetzt noch das Wort vom immovable Orient wahr machten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, daß es im Grunde doch nicht das Buch ist, das wir im A.T. vor uns haben und zu verstehen suchen, sondern ein reiches, bewegtes, aber überall durchaus lebendiges Leben – geschichtliches, kulturgeschichtliches, religiöses Leben.“ Und noch einmal: „statt des Buches und der Bücher das Leben, statt der ‚Quellen‘ die Persönlichkeiten, statt der religiösen Vorstellungen die Frömmigkeit selbst“ – das stand ihm fortan fest, das betonte er bei jeder Gelegenheit51. Nach der Rückkehr aus dem Orient stellte sich unverhofft die Notwendigkeit einer Neuauflage der Geschichte der Hebräer heraus. Der Zeitpunkt hätte nicht passender sein können. Kittel machte sich gleich ans Werk, 1909 erschien, „völlig neubearbeitet“, der zweite Band, 1912, „fast vollständig neubearbeitet“, der erste. Der Umfang war verdoppelt, der Titel lautete nunmehr „Geschichte des Volkes Israel“, aus den „Halbbänden“ waren „Bände geworden“, was die Aussicht auf einen dritten, mit dem Exil einsetzenden Band eröffnete. Völlig neu war ein zweihundertseitiger Anfangsteil über Palästina in der „Urzeit“ (5.6: „Urund Frühzeit“), eine sehr lehrreiche Zusammenfassung des damaligen Wissensstandes. Die „fast“ oder ganz vollständige Neubearbeitung des Weiteren bestand äußerlich vor allem in der minuziösen Darbietung und Diskussion des vielen, was an Quellenmaterial und Forschungsmeinungen hinzugekommen war. Man vermisst nichts und niemanden, befindet sich namentlich in den Anmerkungen immer auf dem allerneuesten Stand, und sei es durch die jeweiligen Nachträge, denen im ersten Band sogar noch „Nachträge II“ hinterhergeschickt wurden und die später auch einmal als separates Heft erschienen (I4, 1921). Albrecht Alt pflegte, wenn er in seiner eigenen Vorlesung über die Geschichte des Volkes Israel auf Kittels Werk zu sprechen kam, starke Zweifel zu äußern, ob wohl irgend jemand dessen Text ganz gelesen habe, aber er pries die Anmerkungen als Keller, in die man immer wieder hinabsteigen könne, um etwas Gutes heraufzuholen. Die Bände wurden durch die vielen Erweiterungen so ungefüge – und auch unwirtschaftlich –, dass in den letzten Auflagen (I5.6 1923, II6.7 1925) die „Einleitung in den Hexateuch“ – immer noch die beste Zusammen50  Selbstdarstellung 137. 51  Selbstdarstellung 136f.

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fassung des damaligen Forschungsstands52 – und weiteres an „Quellenkunde“ fortfallen musste. Kittel tröstete sich damit, dass manches davon, „was ehedem lebhaften Widerspruch erregt hatte“, inzwischen „nahezu Gemeingut geworden“ war53. Als einen nun immer mehr anerkannten Pionier des wissenschaftlichen Fortschritts empfand sich Kittel nicht nur im Blick auf seinen Umgang mit den biblischen Quellen. Das große Verdienst, das er sich durch die Einbeziehung des vorisraelitischen Palästina und des übrigen alten Vorderen Orients erworben hat, liegt ja auch am Tage. Um es mit Martin Noth54 zu sagen: „Man wird zwar heute nicht mehr mit Kittel die Geschichte Israels mit einer Darstellung der ganzen Ur- und Frühzeit Palästinas eröffnen (gegen II6 S. XI), da eine Geschichte Palästinas heutzutage schon eine Aufgabe für sich und etwas anderes ist als eine Geschichte Israels und die Kulturgeschichte Palästinas nur im größeren Zusammenhang wenigstens mit der Syriens behandelt werden kann; aber das Einbeziehen Israels in das große Ganze seiner Umwelt, das Kittel als Aufgabe klar erkannt hat, bleibt für jede Darstellung der Geschichte Israels fortan eine sachliche Notwendigkeit.“ Es schmälert Kittels Verdienst kaum, wenn man festhält, dass auch hier die Widerlegung Wellhausens ein Hauptziel gewesen ist. In diese Richtung ging es, wenn er die Tragweite der Entdeckung der Amarnatafeln „ungeheuer“ nannte und dazu die Erläuterung gab: „Statt daß, wie man annahm, hinter Saul oder Mose das Dunkel einer geschichtslosen Urzeit zusammenschlug, zeigte sich mit einemmal, daß hinter deren Zeit eine große an Ereignissen und Kulturerrungenschaften reiche Periode deutlich vor uns ins Licht der Geschichte eintrat. Und statt einer schriftlosen Vergangenheit tauchte ein reiches Schrifttum in Kanaan vor uns auf und strafte mit einem Schlage aufs schnödeste die Theorien von der Unmöglichkeit eines frühisraelitischen Schrifttums allesamt Lügen. Die Folgerungen waren leicht zu ziehen. Literarisch war damit ein gutes Teil der Graf-Wellhausenschen Hypothese durch die Tatsachen selbst in Frage gestellt: der Gang der Dinge selbst hatte deren Gegnern einen mächtigen Bundesgenossen zugeführt. Historisch aber war erst recht der zwingende Beweis erbracht, daß dem bisherigen Gebäude der israelitischen Geschichte das Fundament und den Baumeistern die Maßstäbe gefehlt hatten. Man durfte von jetzt an die Geschichte Israels nur noch als Geschichte Kanaans mit dem Beginn in der frühsten vorisraelitischen Vorzeit schreiben. Nur so konnte man das Werden und die spätere Gestalt des Volkstums verstehen.“55 So viel daran richtig war und sich schon in Kittels „Geschichte“ als fruchtbar erwies – widerlegte es Wellhausens Analyse des Pentateuchs und sein Urteil über dessen historische Aussagekraft? Heute denken in dieser Sache auch 52 I2, 237–335. 53  Geschichte II6.7, VI. 54  Geschichte Israels 2(1954) 53. 55  Geschichte II6.7, IXf.

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und gerade Gelehrte, die hinsichtlich der Einbeziehung Kanaans grundsätzlich Kittel Recht geben würden, noch viel kritischer als Wellhausen. Kittel dagegen sehen wir in der zweiten Auflage seiner „Geschichte“ eher noch bestärkt in der Grundhaltung, die der große Abraham Kuenen bei Gelegenheit der ersten Auflage so gekennzeichnet hatte: „Augenscheinlich will er verteidigen und retten, was irgend eine Handhabe dafür bietet […].“56 Man lese etwa, wie er 1888 der Historizität der phantastischen Geschichte von Abrahams Sieg über die Könige (Gen 14) „immer noch die größte Wahrscheinlichkeit“ gibt und 1912 unter dem Druck der Gegenargumente in einer vorsichtigen Rückzugsbewegung dort immerhin noch „vielfach die allgemeinen Verhältnisse der Zeit richtig wiedergegeben“ findet und es für eine „Tatsache“ erklärt, „daß hier Abraham in alter, nicht zu beanstandender Überlieferung als greifbare, dem Leben entnommene Persönlichkeit vor uns zu stehen scheint“57. Kittels Schüler beobachteten bei ihrem Lehrer eine „gewissenhafte Scheu, ja nicht Stücke des Überlieferungsbestandes verloren gehen zu lassen“58. Es hatte auch eine apologetische Seite, wenn er gegen ein überzogenes Entwicklungsdenken die Gleichzeitigkeit verschiedener Stufen der Religion betonte und sich dagegen wandte, „die niedere Volksreligion kurzweg für die Religion Israels auszugeben“59. Einer in seinen Augen übertriebenen Neigung zu Spätdatierungen begegnete er gern mit dem allgemeinen Argument, es sei eine „Verirrung“, die „nachexilische Restaurationsepoche für die Zeit der eigentlichen Fruchtbarkeit des israelitischen Geistes anzusehen“60 – ein Vorwurf, von dem sich Wellhausen nur sehr in Grenzen getroffen zu sehen brauchte. Aber es wäre ungerecht, wollte man Kittel nur aufgrund solcher Allgemeinheiten beurteilen. So wichtig sie ihm waren und auch seine exegetisch-historischen Entscheidungen beeinflussten, er vernachlässigte doch keineswegs die sachliche Einzelargumentation, umging Unbequemes nicht, war durchaus revisionsbereit und viel zu klug, um zugunsten konservativer Lösungen mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Ich habe eben nur unvollständig zitiert, was Kuenen, der ein noch gerechterer, weil gelassenerer Mann war als Kittel, über diesen gesagt hat. Sein Satz hat die zweite Hälfte: „[…] aber wenn er sich klar geworden ist, daß er von der Überlieferung abweichen muß, entzieht er sich dieser Pflicht nicht.“61 Es war zu keiner Zeit Kittels Art, sich Pflichten zu entziehen. Trotzdem versuchte er das begreiflicherweise zunächst, als er 1912 in der Strafsache gegen den Antisemiten Theodor Fritsch wegen „Gotteslästerung und Beschimpfung 56  A. Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft (1894) 444. 57  Geschichte I1 161, 2433.436 58  Hempel (Anm. 3) 86. 59  Geschichte II2 (1909) VIII. 60  Selbstdarstellung 122. 61  S. Anm. 56.

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einer Religionsgesellschaft“ ein Gutachten liefern sollte. Er musste es dann doch tun und veröffentlichte später das Gutachten, als der „Central-Verein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ es kennenlernen wollte62 . Es lief darauf hinaus, Fritsch sei nicht zu verurteilen, weil er in seiner Schrift „Mein Beweismaterial gegen Jahwe“ in Wirklichkeit nicht den Gott des heutigen Judentums beschimpfe, was übrigens auch eine Beschimpfung des christlichen Glaubens wäre, sondern eine „niederere, mehr volksmäßige“ Gottesanschauung innerhalb des Alten Testaments, der dort eine „höhere, vorwiegend in den Kreisen der Profeten vertretene“ gegenüberstehe63. Er sei zu einem geschichtlichen Verständnis nicht imstande, ebenso wenig wie auf der anderen Seite die jüdischen Gutachter in jenem Verfahren und wie auch die protestantische Orthodoxie64 . Damit stellt Kittel keineswegs in Abrede, dass für den jüdischen und christlichen Glauben „jener Gott [des altisraelitischen Volksglaubens] und unser Gott einer und derselben Entwicklungsreihe angehöre und darum auch ein und derselbe Gott genannt werden könne“; es handle sich um zwei „verschiedene Entwicklungs- und Erkenntnisstufen derselben Gottheit oder des allgemeinen israelitisch-christlichen Gottesbewußtseins“65. Aus seiner intellektuellen und moralischen Verachtung des Angeklagten macht Kittel keinen Hehl; er hielt ihn aber wohl für harmloser, als er war66. Großen Wert legt er darauf, dass er seinerseits mit seiner geschichtlichen Betrachtungsweise Israel nicht herabwürdigen will: „Niemand kann über seine wirklichen Verdienste um die Geschichte höher denken als ich.“ Im besonderen bezieht er sich dabei auf die Propheten: „Sie knüpfen an Mose an und führen seine Gottesidee fort. Ihnen ist Jahwe der einzige Gott der Welt und ein streng sittliches Wesen. Zwar ist auch bei ihnen der sittliche Monotheismus nicht immer mit voller und allseitiger Folgerichtigkeit durchgeführt. Trotzdem aber muß gesagt werden, daß in ihnen Israel der Menschheit ein Erbe übermittelt hat, das zum Höchsten und Besten gehört, was je eine Nation der Welt geschenkt hat. Das Judentum hat bis zum heutigen Tag allen Grund, auf diese unvergleichliche Errungenschaft seiner erleuchteten Geister stolz zu sein, und es ist töricht, ihm diesen Ruhm schmälern zu wollen.“67 Zu den Pflichten der Wissenschaft gehörte für Kittel, dass sie sich auch außerhalb ihrer engen akademischen Grenzen mitzuteilen hat. Als ihn 1909 das sächsische Kultusministerium fragte, ob er „geneigt sei, in einem Kursus von 62  Judenfeindschaft oder Gotteslästerung? Ein gerichtliches Gutachten (1914). Vgl. die kritischen Referate bei U. Kusche, Die unterlegene Religion (1991) 119–23 und Ch. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland (1999) 215–23(–31). 63  Ebd. 65. 64  Ebd. 62. 65  Ebd. 68. 66  Vgl. ebd. 51.73–77. 67  Ebd. 36f.

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sechs Vorträgen [sich] darüber auszusprechen, was wirklich als gesicherte Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft anzusehen sei“, gratulierte er dem Ministerium zu diesem Vorhaben, hielt die Vorträge und publizierte sie unter dem Titel „Die Alttestamentliche Wissenschaft in ihren wichtigsten Ergebnissen mit Berücksichtigung des Religionsunterrichts“ (1910). Das Buch, in mehreren Auflagen weit verbreitet, ist noch heute lesbar und lesenswert – und sei es als Ermunterung an uns Fachleute, vor derlei nicht zurückzuschrecken. Hierher gehören auch die Vorlesungen über „Die Religion des Volkes Israel“, 1920 in Uppsala gehalten und 1921 publiziert, und gehört endlich, mit höherem literarischen Anspruch, der auch äußerlich schöne stattliche Band „Gestalten und Gedanken in Israel. Geschichten eines Volkes in Charakterbildern“ (1925, 21932). Darin wird, mit dem Vorwort zu reden, „im Unterschied von den bisherigen Darstellungen, die Entwicklung Israels rein vom Persönlichen aus zu verstehen gesucht, so daß das Buch als eine Art Zeichnung israelitisch-jüdischer ‚Charakterköpfe‘ gelten kann. Sie ist getragen von dem Gedanken, daß bei aller Würdigung der demokratischen Ideen doch die Weltgeschichte als eine schlechthin aristokratische Erscheinung zu würdigen ist. Im Grunde machen sie die Heroen, die führenden Geister. Wo es die Masse zu tun scheint, da meint sie es vielleicht, weil sie nicht erwägt, daß sie unter der Diktatur – der physischen oder geistigen – weniger Einzelner steht. Die folgenden Blätter sollen, wie ich hoffe, zeigen, daß von dieser Beobachtung aus manche neue Lichter auf die Entwicklung und das innere Leben des merkwürdigsten aller Kulturvölker der Erde fallen.“ Außerdem möchte Kittel „an der Hand eines bedeutsamen Stückes Geschichte einen Wahn zerstreuen helfen, dessen unheilvolle Wirkungen auf das Denken und Handeln vieler, besonders unter den Moralisten, Politikern und Staatsmännern aller Länder, er in einem langen Leben beobachtet zu haben glaubt: den Wahn, als hätten Politik und Wirtschaft, weil eignen Gesetzen unterworfen, mit der allgemeinen menschlichen Moral nichts zu tun.“ Das ist 1925 geschrieben, nach einem Jahrzehnt, das in Sachen Politik und Moral einigen Anschauungsunterricht geliefert hatte und in dem auch Kittel in härtere Pflichten genommen worden war als die des Gutachters und des Verfassers von Büchern für weitere Kreise. Den ersten Weltkrieg hatte er sehr bewusst nicht nur als deutscher Patriot, sondern auch als Theologe und Alttestamentler erlebt und reflektiert. Sein im vorletzten Kriegsjahr gehaltener Vortrag „Kriege in biblischen Landen“ (erschienen 1918) ist „ein beredtes Zeugnis nicht nur für die ambivalente Haltung der Religion zu Krieg und Frieden, sondern ebenfalls für die zeitgeschichtliche Bedingtheit wissenschaftlicher wie jeder sonstigen Form von Bibelauslegung“68. 1914, das Jahr des Kriegsausbruchs, hatte für Kittel den Abschluss seines einstweilen letzten größeren Werkes gebracht, des ihm besonders am Herzen liegenden Psalmenkommentars in der Sellinschen Reihe, und, tief in sein Leben einschneidend, den Tod seiner Frau. Er lebte da68  A. Scherer, Festschrift H.J. Boecker (2008) 129.

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nach „vollkommen zurückgezogen“69 und konzentrierte sich auf die Vorarbeiten zum dritten Band der Geschichte des Volkes Israel. Aber dann forderte anderes sein Recht. Für 1917/18 wurde dem 64jährigen das Rektorat der Universität übertragen, das ganz im Zeichen des Krieges und seines herannahenden unglücklichen Endes stand. Viel war für verwundet heimgekehrte Studenten zu tun, auch für Studentinnen, von denen viele in Munitionsfabriken arbeiteten. Kittel richtete einen Mittags- und Abendtisch am Naschmarkt ein und gewann dafür Leipziger Mäzene, unter ihnen den Maler und Bildhauer Max Klinger. Dazu kam ein Heim für Kriegsbeschädigte und überhaupt eine Neuorganisation des studentischen Wohnungswesens. Im Sommer 1918 hielt eine Gruppe von Professoren in der Ukraine unter Beteiligung des Rektors Vorlesungen für sächsische Soldaten; die Bahnen, in denen sie von Kiew nach Charkow fuhren, waren „ständig das Ziel des Angriffs starker, auf Kiew losstrebender bolschewistischer Banden“70. Kittel gab das Amt des Rektors am Reformationstag 1918, wenig mehr als eine Woche vor dem Ende des deutschen Kaiserreichs, an seinen Nachfolger, den Mathematiker Otto Hölder, im Bewusstsein weiter, „daß das kommende Jahr ein Schicksalsjahr für die Leipziger Universität werden“ könne71. Das Rektorat Hölder stand unter keinem guten Stern. Seit dem 8. November herrschte ein Arbeiter- und Soldatenrat, der eine unabhängige Republik Leipzig anstrebte, wodurch er sich immerhin zur sozialistischen Regierung in Dresden in einen Gegensatz begab, der für die Universität Leipzig in prekärer Lage von großem Nutzen war. Der Konflikt zwischen Arbeiter- und Soldatenrat und Universität entzündete sich, wie es in solchen Fällen oft geschieht, an einem Symbol, nämlich einer roten Fahne, die der Rat an den öffentlichen Gebäuden aufziehen ließ, was infolge eines Ungeschicks des Rektors auch auf dem Dach der Universität geschah. Dagegen erhob sich mit dem Motto „Die Wissenschaft untersteht nicht der Partei! Rot ist aber Parteifarbe!“ die Studentenschaft, die Fahne wurde heruntergeholt, aber wieder aufgezogen, es gab Versammlungen, Krawalle und Verhaftungen und schließlich einen Kompromiss, der der Universität wenigstens die rote Fahne ersparte. Diesen Kompromiss erreichte am 3. Dezember im Ministerium nicht der Rektor, sondern der statt seiner amtierende Prorektor, also Kittel. Hölder war der Situation nicht gewachsen gewesen und hatte am 30. November zurücktreten müssen. Kittel bemühte sich um andere Kandidaten, wurde aber am 9. Dezember zum zweiten Mal zum Rektor gewählt. Er besaß das Vertrauen nicht nur der Professoren, sondern auch der Studenten, nicht zuletzt der linksgerichteten, wozu die sozialen Maßnahmen in seinem ersten Rektoratsjahr beigetragen hatten. Ausschlaggebend dürfte die Entschiedenheit gewesen sein, mit der er die Universität politisch neutral hielt. 69  R. Kittel, Die Universität Leipzig im Jahr der Revolution 1918/19 (1930) 1. 70  Rektoratswechsel an der Universität Leipzig am 31. Oktober 1918, 4, vgl. 14f.16f. 71  Ebd. 19. Das Folgende nach R. Kittel, Die Universität im Jahr der Revolution (1930).

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Die radikale „Leipziger Volkszeitung“ schrieb: „Professor Kittel will, daß die Universität nur der Wissenschaft diene. Wir teilen diesen Standpunkt.“72 Die folgenden Monate verliefen dramatisch. Höhepunkt war am 8. März 1919 der – nicht erstmalige – Versuch Bewaffneter, in die Universität einzudringen, wo eine große Versammlung der Studentenschaft sich von Kittel nur mit Mühe davon abhalten ließ, auf der Straße einen Demonstrationszug zu veranstalten, der wahrscheinlich zu einem Blutbad geführt hätte. Die Studenten hinter sich, trat Kittel nach draußen und blickte auf drei oder vier entsicherte Gewehre, die auf seine Brust und seinen Hals gerichtet waren. Ihre Träger erklärten, hier gingen gefährliche Dinge vor, eine Untersuchung auf Waffen und Flugblätter müsse stattfinden. Kittel lehnte das ab, richtete sich hoch auf, sah „die Kerle“ nacheinander scharf an und forderte sie „mit scheinbarer Seelenruhe“ auf: „So schießen Sie doch.“ – „Ja, wir schießen.“ – „Tun Sie es doch, wenn Sie können.“ – „Warum sollen wir nicht können?“ – „Weil Sie das nicht fertig bringen.“ Und dann drückte er den Gewehrlauf „des Frechsten“ in die Höhe, „so daß er senkrecht gegen den Himmel starrte“, worauf der Mann „vollkommen verblüfft und verwirrt“ niederkniete und das Gewehr entsicherte. Kittel konnte nun seine „bisher so zuversichtlichen Gegner […] wie ein Trüpplein williger Schafe die Treppe hinunterschieben bis ans Außentor, wo massenhaft angesammelter Mob stand.“73 Man erzählt sich den Vorgang in Leipzig noch heute, nachdem so vieles Vergleichbare dazwischengetreten ist. Am 11. Mai machte die Reichsregierung im Einvernehmen mit der sächsischen Regierung dem Spuk des Arbeiter- und Soldatenrates ein Ende; das gerade begonnene Sommersemester konnte ohne Störungen dieser Art stattfinden. In ihm beendete auch eine Kommission des Senats ihre Arbeit, die seit dem Dezember unter Kittels Vorsitz getagt hatte und an der ihm offenbar besonders gelegen war. Sie galt der Universitätsreform, ihr gehörten Vertreter der Ordinarien und der Nichtordinarien an, hinzugezogen wurden Vertreter der Studentenschaft sowie der Assistenten und Beamten „in Fällen, wo deren Angelegenheiten zur Beratung standen“; schließlich ein Vertreter des Ministeriums, „um den Standpunkt der Regierung zur Geltung zu bringen“74 . Traktanden, auf die es Kittel besonders ankam, waren: die Einführung einer Altersgrenze für Professoren, die Vertretung der Nichtordinarien in Senat und Fakultäten, die Möglichkeit eines Erlöschens der venia legendi nicht bewährter Privatdozenten nach fünf Jahren. Der am letzten Tag von Kittels Rektorat, dem 30. Oktober 1919, der Regierung als „Werk der Verständigung unter den verschiedenen Gruppen innerhalb der Universität und mit den Schwesteranstalten“ vorgelegte Entwurf wurde allerdings nur in einzelnen Punkten verwirklicht75. 72  Die Universität (s. vorige Anm.) 69. 73  Ebd. 96–98. 74  Ebd. 128f. 75  Ebd. 130f.

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Was die Universitätsangehörigen in jenem Sommersemester 1919 wohl am meisten bewegt hat, machte Kittel zum Gegenstand von drei sehr ernsten akademischen Reden, die er überschrieb: „Wider den Mordfrieden“ (nach der Übergabe der Friedensbedingungen in Versailles), „Von der Legio sacra“ (bei der Feier der Universität zum Gedächtnis ihrer Gefallenen und zur Begrüßung der Heimgekehrten), „Die weinende Germania“ (bei der Trauerkundgebung der Universität aus Anlass des Friedensschlusses)76. Einige Jahre später sprach er noch einmal bei einer akademischen Trauerfeier, nämlich nach der Ermordung des Außenministers Walther Rathenau Ende Juni 1922. Die Rede77 ist der entschiedene Aufruf eines alten Monarchisten, sich loyal auf den Boden der neuen Republik zu stellen und den politisch Andersdenkenden zu achten, eine scharfe Absage gegen die Gewalt von rechts, gegen antisemitische Hetze und gegen die Verunglimpfungen des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Angesichts dieses Dokuments ist mir unvorstellbar, dass Kittel nach 1933 die Irrwege seines jüngeren Sohnes, des Neutestamentlers Gerhard Kittel (1868–1948), und seines ihm ähnlichsten eigenen Schülers, Johannes Hempel, auch nur von ferne gebilligt hätte. Es blieb ihm erspart, diese Zeit zu erleben. Aber auch die gefürchtete Zeit, „in der er einmal nicht mehr hätte arbeiten können“, kam nicht. Er blieb tätig bis tief in sein letztes Lebensjahr. Nach der Rektoratszeit hatte er zunächst die ersten beiden Bände der Geschichte des Volkes Israel in ihre letzte Gestalt gebracht und dann die Studien zum Judentum der persischen und hellenistischen Periode wieder aufgenommen, die zum dritten Band führen sollten78. Wie tief er dabei auch in den Hellenismus vordrang, zeigt die Abhandlung über „Die hellenistische Mysterienreligion und das Alte Testament“ (1924) mit ihrer These, dass in die alexandrinischen Mysterienkulte viel mehr Jüdisches als Iranisches eingegangen sei. Das opus magnum, als das man den dritten Band mit seinen 762 Seiten wohl bezeichnen kann – er erschien 1927 und 1929 in zwei Hälften –, umfasste dann „nur“ die persische Zeit, diese aber in einer gegenüber den beiden Vorgängerbänden noch gesteigerten Breite der Darstellung auch der außerisraelitischen Verhältnisse und der Geistesgeschichte; der Lesbarkeit kommt eine drastische Reduktion des Anmerkungsapparats zugute. Als Beispiel für die Grundtendenz sei die Darstellung des Esra angeführt, den Wilhelm Bousset neben Nehemia „undeutlich und schemenhaft“ und womöglich „nur eine spätere der Gestalt des Nehemia nachgezeichnete Figur specifisch gesetzlicher Tendenz“ genannt hatte79. 76  Gesammelt erschienen: R. Kittel, Leipziger Akademische Reden zum Kriegsende (1919). 77  Akademische Nachrichten 6. Juli 1922, 28f. 78  Gewichtiges Anfangsdokument das Leipziger Reformationsprogramm 1918 „Zur Frage der Entstehung des Judentums“. 79  Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter 1(1903) 139.

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Kittel findet ihn „nichts weniger als undeutlich und schemenhaft“80, malt sein Bild mit kräftigen Farben und freut sich der Übereinstimmung mit dem jungen H.H. Schaeder81. Noch mehr freute er sich, dass er seinem „lieben Amtsnachfolger Professor Alt“ für vielfache Mitwirkung an diesem seinen letzten Werk danken konnte82 . Aber die Freude über seine Nachfolge war nicht ungetrübt. Im gleichen Jahr, in dem Alt seine Stelle antrat, 1924, war auch die andere alttestamentliche Professur zu besetzen, und auf ihr hätte Kittel gern Johannes Hempel gesehen. Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Am 29. April meldeten die Leipziger Neuesten Nachrichten83, die fragliche Professur solle, „wie man hört, mit einem Vertreter der konservativen Richtung besetzt werden, obwohl bereits die andere Professur für das gleiche Fach ein Vertreter der gleichen Richtung“ innehabe. Das aber würde „einem jahrzehntelangen Brauch widersprechen, wonach bisher wenigstens einer der beiden Leipziger Professoren für alttestamentliche Theologie der kritischen Richtung angehört hat, und einen weiteren Schritt in der Richtung bedeuten, die moderne Theologie mit ihrer fruchtbaren und fördernden Arbeit aus unserer Landesuniversität ganz auszuschalten.“ Die Zeitung sprach die Erwartung aus, „daß das Volksbildungsministerium im Interesse der Wissenschaft wie der Kirche diesen Versuchen entgegentreten und die Gleichberechtigung der theologischen Richtungen an unserer Landesuniversität wahren“ werde. Erbost verwahrte sich Kittel in der übernächsten Nummer84 gegen den Verdacht, er und Alt seien nicht kritisch, und dagegen, dass er einer kirchenpolitischen Partei zugerechnet werde; die Stellen seien nicht nach dem Parteibuch, sondern nach der Befähigung zu besetzen. Einige Monate später, als die Entscheidung gefallen und der neue Mann am Ort war, rief Kittel den „Tod der freien Wissenschaft“ aus und wetterte unter Hinweis auf seine Verdienste gegen das Ministerium, das es bei jener Besetzung „nicht nur nicht nötig“ fand, seinen „Rat zu hören, sondern augenscheinlich für dringend geboten, ihn bewußt zu umgehen“; so sehe „der Dank vom Hause Habsburg“ aus85. Der Berufene, Emil Balla (1885–1956), ähnelte seinem Nebenmann Alt 1924 darin, dass er ein guter Lehrer war, aber noch nicht viel publiziert hatte – Kittel ließ damals drucken, er habe den „für ein Leipziger Ordinariat zu fordernden Leistungsnachweis“ nicht erbracht86 –; der überragende Rang Alts stellte sich einem weiteren Kreis erst später heraus. Balla war ganz und gar ein Schüler Hermann Gunkels. Zu diesem empfand Kittel an sich eine größere Nähe als zu Wellhausen. 1912 schrieb er über Gunkels Auffassung vom Pentateuch: „In 80  Geschichte III/2, 585. 81  Vgl. das Vorwort zu III/2. 82 Ebd. 83  Nr. 119, S. 10. 84  121, 1.5.1924, S. 6. 85  Geschichte II6.7, VII1. 86 Ebd.

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der zeitlichen Ansetzung der Quellen in der Hauptsache sich an Wellhausen haltend, berührt er sich doch mit manchem von dessen Gegnern darin, dass er über das Alter der hier niedergelegten Stoffe vielfach gesünderen Ansichten huldigt als die Mehrheit der Schüler Wellhausens, von der er sich außerdem durch Zurückstellen der rein literarischen zugunsten der ästhetischen und religionsgeschichtlichen Betrachtung der Stoffe sowie die stärkere Würdigung der Schriftstellerpersönlichkeiten vorteilhaft abhebt.“87 In Kittels Psalmenkommentar von 1914 bemerkt man auf Schritt und Tritt die Anregung durch Gunkels „Ausgewählte Psalmen“, und das Vorwort erkennt das auch ausdrücklich an. Als Kittel 1921 auf dem Ersten Deutschen Orientalistentag in Leipzig programmatisch „Die Zukunft der Alttestamentlichen Wissenschaft“ beschrieb88, stellte er drei Richtungen heraus: die nach Wellhausen benannte historisch-kritische, genauer literarkritische, die „ästhetisch-folkloristische“ und schließlich die von ihm selbst repräsentierte Richtung, „die sich bemüht, das Wertvolle am Erbe der älteren in Synagoge und Kirche überlieferten Auffassung zu erhalten und zu vertiefen“89. Der Literarkritik bescheinigte Kittel, drei Jahre nach dem Tode Wellhausens, ihr „Zeitalter“ sei „verflossen“. Nun ging es also um die beiden anderen Richtungen, und da sagte Kittel der zweiten voraus, sie werde „mit der dritten immer mehr gemeinsame Ziele gewinnen, ohne daß wohl je die grundsätzlichen Unterschiede der Betrachtungsweisen ganz verschwinden“ würden90. Das sah wie eine ausgestreckte Hand aus, und Gunkel, der Wortführer der zweiten „Richtung“, machte zunächst Anstalten, sie zu ergreifen. Aber seine Erwiderung91 mündete bald in eine Klage darüber, wie sehr Kittel die Religionsgeschichtliche Schule missverstanden habe, und in die Forderung, dass die anderen Richtungen „die neue Stellung zu uns mit der Tat beweisen“ sollten. Als Erklärung, „für das AT. gebe es heute keine verschiedenen Richtungen mehr“92 , lässt sich Gunkels Äußerung nur mit großer Mühe lesen93. Vielmehr bestanden sowohl Gunkel als auch Kittel durchaus auf den „grundsätzlichen Unterschieden der Betrachtungsweisen“. Was Gunkel betrifft, so wussten er und seine Schüler sich weiter als „Liberale“ von Kittel und dessen Schülern als „Positiven“ geschieden und blieben bei dem Verdacht, die Gegenseite finde an der Gattungsgeschichte vor allem darum Gefallen, weil sich mit ihrer Hilfe viele 87  Geschichte II2, 254. 88  ZAW 39 (1921) 84–99. Vgl. zum Folgenden R. Smend, Bibel und Wissenschaft (2004) 265–80. 89  90. Dass nach Kittel die Arbeit dieser Richtung „im Stil Hengstenbergs“ geschähe (H.J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 31982, 394), ist ganz abwegig. 90 91. 91  Die Richtungen der alttestamentlichen Forschung, ChW 36 (1922) 64–67. 92  Kittel, Geschichte II7, VIII Anm. 93  Etwas anders die zweite Äußerung, auf die Kittel offenbar anspielt: O. Eißfeldt, OLZ 25 (1922) 411–14.

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Spätdatierungen der Literarkritik überspielen oder rückgängig machen ließen. Und natürlich stand Gunkel Kittel darin nicht nach, die eigene Richtung durch die ministerielle Personalpolitik übervorteilt zu sehen. Die Berufung Ballas nach Leipzig – Kittel und Alt zeigten ihm dort jahrelang die kalte Schulter – dürfte das Verhältnis noch mehr abgekühlt haben. Ein Zeugnis dafür ist die in Kittels Todesjahr erschienene Neuauflage seines Psalmenkommentars, in der er aus dem alten Vorwort das Lob für Gunkel strich und ein Nachwort hinzufügte, das dem inzwischen erschienenen Gunkelschen Kommentar theologische Dürftigkeit vorwirft und ihm auch sonst am Zeuge flickt94 . Kaum war Kittel begraben, erschien eine ziemlich kritische Besprechung des Buches aus der Feder des Gunkelschülers Walter Baumgartner95, über die Johannes Hempel sogleich urteilte, diesen „Angriff auf einen Toten zur Apologie seines Lehrers“ hätte Baumgartner „besser unterdrückt“96, worauf Baumgartner trocken erwiderte, die Besprechung, noch zu Lebzeiten Kittels geschrieben und abgeschickt, sei weder als Angriff noch als Apologie gemeint, und wenn das besprochene Buch weiterlaufe, müsse das die Besprechung auch dürfen97. Nach dem Tod Kittels (20. Oktober 1929) und des seit langem kranken Gunkel (11. März 1932) hatte in Deutschland auch die alttestamentliche Wissenschaft bald andere Sorgen. Sie rissen neue Gräben auf und ließen alte, die trotz allem „doch recht schmal geworden“ waren98, fast verschwinden. In Leipzig wirkte Albrecht Alt nach Ballas Weggang (1930) in großer Eintracht mit dem Gunkelschüler Joachim Begrich (1900–45). Seine eigenen Schüler, wie schon er selbst, bedienten sich auf selbstverständlichste Weise der Gunkelschen Formgeschichte, standen aber als Theologen eher auf seiten Kittels. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass das Zeitalter der Literarkritik nicht ganz so verflossen gewesen ist, wie Kittel meinte. Manche gewichtige Frage aus diesem Bereich steht noch oder wieder oder ganz neu auf der Tagesordnung und findet Antworten, die sich von der Tradition noch weiter entfernen als diejenigen Wellhausens. Aber es ist gut, wenn sich auf der Seite derer, die demgegenüber „das Wertvolle am Erbe der älteren in Synagoge und Kirche überlieferten Auffassung“ zur Geltung bringen wollen, immer wieder Gelehrte befinden, denen Rudolf Kittels oft beschworener „gesunder Konservativismus“99, seine Stoffbeherrschung und sein Streben nach Gerechtigkeit Vorbild sind.

94  Die Psalmen 5.6(1929) 464–66. 95  OLZ 33 (1930) 292–95. 96  ZAW 48 (1930) 2211. 97  ZAW 48 (1930) 320f. 98  Gunkel, ChW 36, 65. 99  Vgl. z.B. J. W. Rothstein in der Besprechung der Geschichte des Volkes Israel II2, DLZ 32 (1911) 2154–58, hier 2155, oder W. Staerk in der Besprechung des Psalmenkommentars, ThLZ 40 (1915) 76–79, hier 78.

Karl Marti 1855–1925

Die Art dieses Berner Alttestamentlers hat sein Zürcher Kollege Ludwig Köhler durch eine Erinnerung charakterisiert: „Unvergeßlich wird uns ein Zürcher Abend vor ein paar Jahren sein, wo wir unser vier Schweizer Alttestamentler mit einem berühmten ausländischen Fachgenossen kameradschaftlich beisammen saßen. Der Fremde floß nur so von neuen, übrigens geistreichen, aber auch reichlich kühnen Beobachtungen über. Zwei von uns schwiegen, vom Schwall übermocht. Der Dritte wagte sein schüchternes ‚Ja, aber‘. Nur Marti sagte ein übers andere Mal mit ungeheurer Gelassenheit und den echtesten Kehllauten: ,Das glaube ich Ihnen aber nicht, Herr Kollega‘, und zog, das einzige Zeichen von Bewegung, rascher als sonst an seiner Zigarre.“1 Marti war 1855 geboren, also elf Jahre jünger als Wellhausen. Er hatte als Alttestamentler noch ein „vorwellhausensches“ Stadium gehabt: 1880, zwei Jahre nach den „Prolegomena“, war er so kühn gewesen, in einer umfänglichen Abhandlung2 „Spuren der sogenannten Grundschrift des Hexateuchs in den vorexilischen Propheten des Alten Testaments“ zu suchen und damit den Satz anzufechten, das Gesetz sei jünger als die Propheten. Allerdings war das nicht die Kühnheit des Neuerers gewesen, sondern die, mit der man sich einer mächtigen Woge entgegenstellt. Marti war ein Mann von Bedacht und Charakter. Er machte nicht gleich bei jeder Mode mit, sondern erwog hin und her, bis er etwas übernahm. Wenn es sich bewährte, ließ er sich nicht mehr davon abbringen. So hielt er es auf die Dauer auch mit „Gesetz und Propheten“. In den späteren achtziger Jahren sehen wir ihn als überzeugten Anhänger und Verteidiger Wellhausens3, und das ist er geblieben. Niemand hat in der Schweiz für die Verbreitung der neuen Auffassung vom Alten Testament mehr getan als er. Ohne diesen seinen heimatlichen Hintergrund und Wirkungskreis lässt er sich nicht verstehen. Er gehörte zu den sagenhaften Schuljungen, die ihre lateinischen und griechischen Vokabeln und den Homer beim Hüten des Viehs memoriert haben. „Aus solchem Holz erwachsen Männer und Forscher“, konstatierte in seiner 1  Neue Zürcher Zeitung 26.4.1925 (Nr. 645). 2  JPTh 6 (1880) 127–61.308–54; kurz und scharf zurückgewiesen von A. Kuenen, ThT 14 (1880) 638f. 3  Vgl. KBRS 2 (1887) 65–67.69–72.93–96.

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Grabrede am 25. April 1925, der Martis 70. Geburtstag war, der Berner Kollege Hadorn4. Karl wurde als ältestes von zwölf Kindern eines aus dem Bernischen „eingewanderten“ Lehrerpaares im Baselbiet geboren; er hatte später selbst elf Kinder. Zwei benachbarte Pfarrer regten an, dass der begabte Junge trotz finanzieller Schwierigkeiten auf das Pädagogium in Basel kam, wo Nietzsche und Burckhardt zu seinen Lehrern gehörten. Mit der Theologie, die er dann, im Alumneum wohnend, studierte, konkurrierten ernstlich Philologie und Orientalia, aber in einem Göttinger Semester beeindruckte ihn Ritschl so sehr, dass er bei der Stange blieb. Ritschl behielt für ihn eine Autorität, der später nur diejenige Wellhausens gleichkam5. Nach dem Examen studierte er noch zwei Semester Biblisches und Semitisches bei Delitzsch und Fleischer in Leipzig (wie vorher in Basel bei Kautzsch und Socin). Siebzehn Jahre Landpfarramt schlossen sich an, zunächst in einer entlegenen Gemeinde namens Buus-Maisprach, dann, nach Promotion und Habilitation näher an Basel, in Muttenz. 1895 holte man ihn als Nachfolger Samuel Oettlis (1846–1911), der – was für Marti kaum möglich gewesen wäre – nach Greifswald ging, in die elterliche Heimat Bern zurück. Dort war er in den nächsten drei Jahrzehnten geradezu eine Institution. Er lehrte Altes Testament in der theologischen, Semitistik in der philosophischen Fakultät6, Hebräisch im Gymnasium, war Präsident der landeskirchlichen Prüfungskommission und Mitglied der Synode – ein allseits hoch respektierter Mann, „bescheiden, gleichmäßig, tüchtig“, wie Köhler ihn charakterisierte7. Budde nannte ihn mit einer ähnlichen Trias „das Vorbild der Wahrhaftigkeit, der Gewissenhaftigkeit, der Frömmigkeit“: niemals habe er „andern, geschweige sich selbst, etwas weis gemacht oder nur die halbe Wahrheit gesagt, mochte, was er zu sagen hatte, noch so unwillkommen und unliebsam sein“; niemals seien seine wissenschaftlichen Mitteilungen „flüchtige Einfälle“ gewesen, „im Augenblick geboren, leichtfertig der Öffentlichkeit übergeben, um ebenso leichtfertig bald mit ebenso flüchtigen vertauscht zu werden, sondern immer und ausnahmslos handelte es sich um das Ergebnis gründlichster Untersuchung, um gewissenhafteste Entscheidungen“; „auf Schritt und Tritt“ sei ihm dabei bewusst gewesen, „daß die alttestamentliche Religion die Grundlage unserer eigenen, christlichen ist, daß das ganze Alte Testament auf Jesum Christum hinzielt und in ihm gipfelt, daß also die alttestamentliche Wissenschaft einen unveräußerlichen, unentbehrlichen Bestandteil der christlichen Religion darstellt“8. 4  Professor D. Dr. Karl Marti 1855–1925. Trauerfeier in der Nydeckkirche in Bern Samstag den 25. April 1925, 6. Die biographischen Angaben im Folgenden stammen meist aus diesem Heft. Vgl. ferner KBRS 40 (1925) 65f. (M. Haller).68.75.78f. und vor allem die Würdigung durch H.-P. Mathys, ThZ 48 (1992) 356–68. 5  Vgl. seine Darstellung der Theologie Ritschls KBRS (1886) 73–75.77–79.81–83. 6  Vgl. R. Feller, Die Universität Bern 1834–1934 (1935) 479. 7  S. Anm. 1. 8  Ansprache auf der Trauerfeier (s. Anm. 4) 28f.

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Budde selbst besaß die von ihm gerühmte Tugend der Gewissenhaftigkeit in hohem Grade, bei Marti litt sie ein wenig darunter, dass seine „gewissenhaftesten Entscheidungen“ sich in aller Regel auf bereits vorhandene Möglichkeiten bezogen. Er war kein eigentlich originaler Forscher, nicht auf Neues aus, bewegte wenig. In dieser Schwäche lag allerdings auch seine oft gerühmte Stärke. „Ich habe“, so noch einmal Köhler, „selten beobachtet, daß jemand an seiner Unparteilichkeit und der Sicherheit seines Urteiles zweifelte. Er war der große Richter der Zunft, unabhängig, gelassen, sachkundig – in wieviel Neugebackenem erkannte er nicht mit stillem Lächeln altes Gut, nur neu aufgerüstet! – und gerecht. Dazu hilfsbereit.“ Man kann sich danach seine wissenschaftliche Autor- und Herausgeberschaft leicht vorstellen – und wird sie nicht geringschätzen. Der Kurze HandCommentar zum Alten Testament, in heute undenkbarer Rekordzeit veröffentlicht (1897–1903) und wohltuend frei von unnötiger Ausführlichkeit, war eine große herausgeberische Leistung, auch wenn wir heute zwar (hoffentlich) weiter und wieder Duhms Jeremia oder Buddes Richter, aber kaum noch Martis Jesaja, Dodekapropheton und Daniel benutzen. Gleichwohl haben auch diese nüchternen und klugen Kommentare viel Respekt gefunden, nicht zuletzt durch ihre Selbständigkeit gegenüber dem großen Vorbild Duhms an wichtigen Stellen: Marti konnte Jes 9,1–6 und 11,1–8 nicht für authentisch halten, die Gottesknechtslieder schrieb er dem Deuterojesaja zu und bezog sie auf Israel. Gediegen aber vergangen ist die „Geschichte der israelitischen Religion“ in ihren verschiedenen Fassungen als immer mehr verselbständigte Neubearbeitung von August Kaysers Theologie des Alten Testaments (1897, 1903, 1907) und unter dem Titel „Die Religion des Alten Testaments unter den Religionen des vorderen Orients“ pointiert als nachträglicher Einführungsband zum Kurzen Hand-Commentar (1906). Was Marti als Philologe und als Pädagoge konnte – und verlangte, zeigt seine „Kurzgefaßte Grammatik der biblisch-aramäischen Sprache“, die in der Porta linguarum orientalium drei Auflagen erlebte (1896, 1911, 1925). Um den ganzen Marti kennenzulernen, darf man sich nicht auf diese gelehrten Grundrisse beschränken, sondern muss hinzunehmen, was er von Zeit zu Zeit im Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, in der „Christlichen Welt“ und anderswo geäußert hat, grundsätzlich oder aktuell oder meist beides und stets im voraus die Charakteristik bestätigend, die Budde im Rückblick gegeben hat9. Soweit die Ansprachen beim Begräbnis, aber auch glaubhafte Zeugnisse, die man noch nach Jahrzehnten aus Schweizer Mund hören konnte, ein Urteil erlauben, war Marti ein geschätzter und erfolgreicher Lehrer – wozu nicht im Widerspruch stehen muss, dass der junge Karl Barth das bei ihm Gehörte als „eine arg trockene Weisheit“ empfand10. 9  Alles Bibliographische bei W. Baumgartner, BZAW 41 (1925) 323–31, dazu Ergänzungen von H.-P. Mathys (Anm. 4) 36013. 10  K. Barth in: Schleiermacher-Auswahl, hg. von H. Bolli (1968) 290. – Unter dem frischen Eindruck von Martis Tod allerdings „ehrte“ Barth in einem Berner Vortrag „in dankbaren und

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Geraume Zeit nach Barth studierte in Bern ein anderer Gigant der Zukunft, Gerhard Scholem (1897–1982) aus Berlin, wo man ein flotteres Tempo gewohnt ist als in Bern. Im Seminar über Hiob hatte jeder Teilnehmer einen Vers zu lesen, und wenn Scholem an der Reihe war, mahnte Marti: „Herr Scholem, lesen Sie nicht so schnell!“11 Über Martis Hebräisch urteilte Scholem hart: er „liest wie ein Anfänger, ohne jede Resonanz, die doch die Vorbedingung aller Einsicht wäre“12 . Aber er bemerkte an dem „wirklich herzensguten alten Mann“13, dass er „kein Hehl aus seinen Sympathien für die Juden“ machte14 , und noch sechs Jahrzehnte später freute es ihn, dem Pfarrer und Dichter Kurt Marti im Andenken an dessen Großvater schriftlich „die Hand zu drücken“15. Einem Studenten in Martis letztem Semester blieb der Ausspruch haften: „Im Leben wird man nie fertig“16 – bei einem geborenen Patriarchen kein selbstverständliches Bekenntnis. Es stimmt aber zu dem Satz, mit dem im September 1921 Marti seinen Jubiläumsaufsatz zum 100. Heft der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft abschloß, die er seit Stades Tod herausgegeben hatte: „Nach der vierzigjährigen Wanderung winkt nicht die ‫נּוחה‬ ‫מ ׇ‬, ְ die Ruhe, sondern der Kampf, aber der Kampf um das gelobte Land der immer genauer erkannten Wahrheit.“17 Was diesem Satz als Würdigung der ersten 40 Jahre oder 99 Hefte vorangeht18, ist im Kontrast zu Rudolf Kittels Vortrag im selben Heft über die Zukunft der Alttestamentlichen Wissenschaft19 großenteils eine Aufzählung von Beiträgen nach Sachgebieten. Von der Zukunft spricht auch Marti, und er weist für sie der alttestamentlichen Wissenschaft eine dreifache theologische Aufgabe zu: sie solle zeigen, dass die „materialistische“ Eschatologie und die „juristische“ Rechtfertigungslehre nicht im Sinne der Propheten seien, sondern „jüdische Erbstücke einer nicht auf der Höhe des Christentums stehenden Religionsphase“, und sie solle die Propheten überhaupt „in ihrem innersten Wesen und ihre Religion in ihrer reinen Einfachheit“ als „die beste Analogie für Jesus und die Einfachheit seines Evangeliums“ erkennen, fern von „mystischen und gnostischen Ideen“20. Geschrieben im gleichen September 1921, in dem nur 60 Kilometer von Bern anerkennenden Worten die großen Verdienste“ des Verstorbenen, der „stets für die ganze Bibel eingetreten“ sei (K. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, 1990, 502). 11  Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (1994) 123. 12  G. Scholem, Briefe I (1994) 183. 13  Ebd. 184. 14  Wie Anm. 11. 15  Briefe I, 390. 16  Trauerfeier (s. Anm. 4) 21. 17  ZAW 39 (1921) 107. 18  Ebd. 100–07. 19  Ebd. 84–99. 20  Ebd. 105–07. Vgl. auch die Berner Rektoratsrede: Stand und Aufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft in der Gegenwart (1911).

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entfernt Karl Barth das Vorwort zur zweiten Auflage seines „Römerbriefes“ schrieb! Es bedarf nicht vieler Worte, dass die alttestamentliche Wissenschaft in den stürmischen nächsten Jahr-zehnten sehr andere Wege gehen musste, als Marti ihr vorgezeichnet hatte. Aber einen „großen Richter der Zunft“ mit den Eigenschaften, die Köhler an Marti rühmte, hätte sie gerade damals gut gebrauchen können – und nicht nur damals.

Johannes Meinhold 1861–1937

Vor seine letzte Schrift1 setzte Johannes Meinhold das paulinische „Wir können nichts wider die Wahrheit, sondern für die Wahrheit“. Man kann dieses Wort als Motto seines Lebens als Mensch, Christ und Gelehrter betrachten. Er ist eine ungewöhnlich geschlossene Erscheinung gewesen. Die Wahrheit war ihm einfach, klar, im Grunde unproblematisch. Er verstand es auf eine für seine Zeit und Welt charakteristische Weise, zugleich ein frommer Christ liberaler Prägung, ein erzpreußischer Deutschnationaler und ein unbefangener Bibelkritiker in der Nachfolge Wellhausens zu sein. Innerhalb der evangelischen Kirche, der er anders als Wellhausen mit ganzem Herzen angehörte, verloren für ihn die hergebrachten Unterschiede an Gewicht; er war ein überzeugter Unionsmann. Für das, was er als die Wahrheit erkannt hatte, kämpfte er in der Kirche und in der weiteren Öffentlichkeit mit der ihm angeborenen Zähigkeit des Pommern. Seine spätere Position war ihm nicht an der Wiege gesungen, und trotzdem glaubt man das Elternhaus wirksam in der Art, wie er sie behauptete. Er wurde am 12. August 1861 als achtes Kind des Vaters und als fünftes der Mutter in Cammin geboren. Sein Vater, Karl Meinhold (1813–88), spielte in der pommerschen Kirche eine wichtige Rolle2. Ursprünglich nach dem Vorbild seines eigenen Vaters, der Pfarrer auf der Insel Usedom gewesen war, mit starker Neigung zum Rationalismus, im Studium von Tholuck und Schleiermacher beeindruckt, war er als junger Pfarrer zu einem konsequenten Vertreter des Luthertums innerhalb der preußischen Union geworden. Er gehörte nicht zu den Radikalen, die die Landeskirche verlassen wollten, kam aber mit dem Oberkirchenrat mehrfach in heftigen Streit, der zu disziplinarischen Maßnahmen führte. Bei seinem Tod war der Frieden mit den kirchlichen Behörden wiederhergestellt. Der Sohn hat ihm, den er „eine eigenartige, willensstarke Natur“ nennt, das beste Andenken bewahrt. „In Ermahnung und Strafrede“, so schreibt er3, „in Ernst und Scherz (und er besaß einen köstlichen Humor) haben seine elf Kin1  Das Alte Testament und evangelisches Christentum (1931). 2  Vgl. über ihn RE3 XII, 507–10. 3  Im Bonner Album Professorum. Dieses (hg.v. H. Faulenbach [1995] 185–90) ist auch im Folgenden benutzt und zitiert.

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der ihn stets als liebenden fürsorgenden Vater kennen und lieben gelernt. Ihm stand die Mutter in ihrer lieblichen zarten Art, in ihrer Sorge und Hingebung als rechte Ergänzung zur Seite. Sooft ich meines Elternhauses […] liebend gedenke, kann ich Gott nicht genug danken für die Gnade, welche er mir durch die Erziehung in diesem einfachen, gemütvollen, aufrichtig frommen und fröhlichen Hause zuteil werden ließ.“ Man hat Meinhold später gelegentlich Pietätlosigkeit gegenüber dem Vater vorgeworfen, weil er dessen theologische und kirchliche Meinungen nicht teilte; er hat diesen Vorwurf nie verstanden und damit den Vater und sich selbst geehrt. Der väterliche Einfluss war es, der den Sohn nach dem Besuch der Domschule in Cammin und des Gymnasiums in Stettin zum Studium der Theologie bestimmte. Er studierte von 1879 an drei Semester in Leipzig, eins in Berlin und zwei in Greifswald. In Leipzig fand er Kahnis anregend und Luthardts Dogmatik (im Unterschied zu seiner Ethik) uninteressant. Vor allem hörte er Franz Delitzsch und „gewann seine Persönlichkeit außerordentlich lieb“, ohne ihm aber eigentlich näherzutreten. Bei Delitzsch stellte er vor allem fest, dass es mit seinem eigenen Hebräisch, das von der Schule stammte, schlecht stand, und so warf er sich in dem Bewusstsein, „daß ein künftiger Pastor in erster Linie in der heiligen Schrift zu Hause sein“ und ihre Sprachen beherrschen müsse, „mit Eifer auf das Studium des Hebräischen“. Er hielt ein hebräisches Kränzchen ab und las mit Hilfe eines Rabbiners die Pirke Aboth (wofür er ihm seinerseits Latein beibrachte). Die hebräischen Studien ergänzte er durch arabische und syrische bei Friedrich Delitzsch (1850–1922) und äthiopische bei Krehl (1825–1901). In Berlin hörte er vor allem Dillmann (1823–94) und schrieb eine Seminararbeit „De compositione libri Jeremiae“, für die er eine Prämie bekam. In Greifswald widmete er sich im Blick auf das nahende Examen mehr der systematischen und der praktischen Theologie. Doch rückte das Examen plötzlich wieder in die Ferne, weil der Vater und die Greifswalder Professoren ihm zu einem weiteren Studium und der wissenschaftlichen Laufbahn im Alten Testament rieten. Er studierte daraufhin in Tübingen bei Socin (1844–99) Arabisch und ging noch einmal nach Leipzig, um sich von Friedrich Delitzsch ins Akkadische (damals „Assyrische“) einführen zu lassen. Dann schrieb er eine Dissertation über die Komposition des Buches Daniel (1884), und in Greifswald fanden 1884 am 2. Dezember das mündliche Examen, am 17. Dezember die Disputation und am 19. Dezember die Antrittsvorlesung über das Thema „Studium assyriacum quantum afferat ad linguam hebraicam rectius cognoscendam“ statt. Der Entschluss für die Universitätslaufbahn stand in dieser Zeit nicht immer fest. Meinhold, der oft zu Hause predigte und den Vater im Konfirmandenunterricht vertrat, wurde als Pfarrer in Cammin gewünscht. Die Sache scheiterte daran, dass das Konsistorium mit einem 1886 abgelegten Kolloquium nicht zufrieden war und ein volles Examen pro ministerio verlangte, wozu Meinhold nicht bereit war, vor allem aber daran, dass er in die akademische Tätig-

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keit gleich zu Anfang viel stärker hineingezwungen wurde, als ihm lieb war. Der Ordinarius Bredenkamp (1847–1904), Wellhausens ungleicher Nachfolger auf dem Greifswalder Lehrstuhl, erkrankte im Dezember 1884 schwer, und im Januar 1885 musste Meinhold für ihn das Psalmenkolleg zu Ende führen; im Sommer 1885 hatte er für Bredenkamp Genesis, im Winter 1885/86 Einleitung in das Alte Testament zu lesen. Im Herbst 1888 wurde er zum Extraordinarius ernannt und teilte sich von da an mit Friedrich Giesebrecht (1852–1910, Privatdozent seit 1879, Extraordinarius seit 1883) in die Arbeit des Ordinarius, weil Bredenkamp endgültig arbeitsunfähig geworden war. Im Winter 1889/90 trat er in Bonn die Nachfolge Buddes an. Nach allen Zeugnissen, die uns vorliegen, ist er dort gern gewesen und hat man ihn dort gern gehabt. Er genoss die Landschaft, wanderte viel mit seiner Familie und mit Kollegen – über das moderne „Zigeunertum“ der vielen Reisen macht er gelegentlich eine spitze Bemerkung4 – und beteiligte sich lebhaft am akademischen Leben. 1903 wurde er Ordinarius, 1927/28 war er Rektor, 1928 wurde er emeritiert. Zum siebzigsten Geburtstag verlieh ihm die Greifswalder Philosophische Fakultät den Ehrendoktor. Sein Tod am 16. Mai 1937 wurde herzlich betrauert, obwohl Meinhold damals schon eine Gestalt abgeschlossener Vergangenheit war. Meinhold hat bei den in verschiedenem Grade konservativen Alttestamentlern Delitzsch und Dillmann studiert und sich stets ihren Schüler genannt. Eine seiner ersten Veröffentlichungen, mit der er besonders weit wirken konnte, erschien in einem konservativen Werk: der Kommentar zum Danielbuch in Stracks und Zöcklers „Kurzgefaßtem Kommentar zu den heiligen Schriften Alten und Neuen Testaments“ (1889); Meinhold tritt dort in einer Reihe mit Namen wie Luthardt, v. Orelli und Oettli auf. Kein Jahrzehnt später sollte er mit Orelli (1846–1912) heftig die Klingen kreuzen. Orelli schrieb (in Luthardts Zeitschrift!) eine ganze Artikelserie gegen ihn, die Meinhold vorwarf, er habe sich Wellhausen an die Rockschöße gehängt5. In der Tat hatte Meinhold sich nach seiner Habilitation immer mehr mit Wellhausens Schriften beschäftigt, und dabei hatten dessen Aufstellungen sich ihm „als der Hauptsache nach richtig“ ergeben. Die Prolegomena zur Geschichte Israels wirkten auf ihn, wie er selbst sagt, geradezu „befreiend“. Fortan bekannte er, Wellhausen, den er nie gehört hatte und nicht persönlich kannte, „am meisten zu verdanken“. Eins freilich, so hielt er 1896 Orelli entgegen, scheide ihn von Wellhausen, „nämlich das Betonen des übernatürlichen Momentes in der Geschichte Israels und seines Prophetismus“6 – also ein schon 4  Die Weisheit Israels in Spruch, Sage und Dichtung (1908) 89. 5  AELKZ 28 (1895) 217–21.41–44.68–72.89–92.316–19; auch separat: C. v. Orelli, Wider unberechtigte Machtsprüche heutiger Kritiker. Antwort auf Prof. Meinholds Schrift: „Wider den Kleinglauben“ (1895). 6  Jesus und das Alte Testament. Ein zweites ernstes Wort an die evangelischen Christen (1896) XVIIf.

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durch das Wort „Betonen“ als nicht besonders präzise gekennzeichneter Vorbehalt allgemein theologischer Art, mit dem sich gegen Wellhausens Methoden und Ergebnisse nicht viel ausrichten ließ; und das wollte Meinhold gewiss auch nicht tun. Er ist als Historiker fast überall in Wellhausens Bahnen gegangen, wobei freilich geschah, was oft bei den Schülern großer Lehrer geschieht: er übernahm Schemata, ohne den Geist des Lehrers zu haben. Wellhausens Bücher sind kaum weniger frisch als am ersten Tag; was Meinhold geschrieben hat, ist „nur“ gute Fachliteratur einer nun weit zurückliegenden Zeit. Man liest es freilich mit Achtung und Gewinn, besonders dort, wo Meinhold die kritischen Einsichten Wellhausens nicht, wie es in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts die Regel war, erweicht, sondern vielmehr weiterführt und verschärft; stellenweise war er seiner Zeit sogar klar voraus. Es handelt sich zunächst um eine Reihe von Untersuchungen zu klassischen Einzelthemen der alttestamentlichen Wissenschaft. In den „Beiträgen zur Erklärung des Buches Daniel I“ (1888), die den Anfang machten, sucht Meinhold vor allem die Abfassungszeit der Erzählungen in Dan 2–6 näher zu bestimmen. Er kommt darauf hinaus, dass sie nachexilisch, aber vormakkabäisch sind, aus einer Zeit nämlich, „welche von einem so schroffen Gegensatz zwischen Heiden und Juden, wie er seit der Makkabäerzeit nicht wieder schwand, noch nichts wußte“7. Damit kehrt er gegen die Verfechter der völligen Einheitlichkeit, die es auch unter kritischen Exegeten immer wieder gegeben hat8, zu einer alten These Eichhorns zurück9. Die Untersuchung über „Die Jesajaerzählungen Jesaja 36–39“ (1898) vergleicht präzise die Versionen über Sanheribs Feldzug gegen Jerusalem mit dem Ergebnis, dass 2 Kön 18,13b–16 und Sanheribs eigener Bericht auf dem sog. Taylor-Prisma von sagenhaften Elementen frei sind (Sanheribs Bericht freilich nicht vom Verdacht der Schönfärberei), dass dann 2 Kön 18,17–19,9a die zweite Stufe bildet und 2 Kön 19,9b–36 die dritte, jüngste, in der die Geschichte auf den Kopf gestellt ist. Meinhold korrigiert dabei stillschweigend und mit Recht Wellhausen10, der in den Ereignissen des Jahres 701, wohl in Unterschätzung der Angaben des Taylor-Prismas, eine glänzende Bestätigung von Jesajas Prophetie erblickte. Nach Meinhold kam Hiskia wie vorher Ahas mit einem „blauen Auge“ davon11. Auf einem alten Tummelplatz von Apologetik und Kritik, nämlich bei der Geschichte von Abrahams Kampf und seiner Begegnung mit Melchisedek in Genesis 14, stellt sich Meinhold in einem eigenen Buch12 auf die scharf kritische 7  Ebd. 70. 8  S.o. 234.327. 9  Vgl. dessen Einleitung in das Alte Testament 4IV (1824) 504–21. 10  Israelitische und jüdische Geschichte (1894) 87f.; vgl. 7. Aufl. (1914 [1981]) 1221. 11  A.a.O. 104. 12  1. Mose 14. Eine historisch-kritische Untersuchung (1911).

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Seite: das Kapitel, keiner der Pentateuchquellen zugehörig, ist ein spätes literarisches Produkt, das keine Geschichte enthält. Was weiter die Erzählung des Pentateuchs angeht, so beteiligte sich Meinhold lebhaft an der von Wellhausens Schüler Smend eingeleiteten Zweiteilung der jahwistischen Quelle in ihrer ganzen Länge13. Die form- und gattungsgeschichtlichen Arbeiten Gunkels und Greßmanns verfolgte er ohne viel Verständnis, aber auch ohne das in der Umgebung Wellhausens verbreitete Ressentiment. Bei der Urgeschichte war er schon vor Smends Quellenscheidung ungefähr mit Gunkels Auffassung des Jahwisten einig, die, Budde folgend, dort zwei jahwistische Fäden annahm14. Den Versuchen, die Pentateuchquellen über das Buch Josua hinaus in den Büchern Richter, Samuel und Könige festzustellen, begegnete er aufgeschlossen15. Einen wichtigen Platz in der Geschichte der Forschung nimmt Meinholds Arbeit über die Lade Jahwes ein16. Man betrachtete die Lade traditionell als einen Behälter, gleichgültig was man sich als dessen Inhalt vorstellte. Dagegen vertrat der Philologe W. Reichel die Meinung, es habe sich bei ihr um einen leeren Gottesthron gehandelt, unter dem sich freilich ein Kasten mit den Gesetzestafeln befunden hätte17. Reichel war vom Alten Testament ausgegangen, hatte sich dann aber hauptsächlich um Parallelen bei anderen Völkern bemüht. Meinhold vervollständigte seine Untersuchung durch eine genauere Erfassung des alttestamentlichen Tatbestandes. Die Lade ist danach kein eigentlicher Kasten, sondern ein kastenartiger Thron, auf dem Jahwe sitzend vorgestellt wird. Meinhold erfuhr damit viel Widerspruch, besonders von seinem Freund Budde18, und es blieb Martin Dibelius vorbehalten, in seiner Tübinger philosophischen Dissertation19 die These von der Lade als dem Thron Jahwes durch eine umfassende religionsgeschichtliche Untersuchung so wahrscheinlich zu machen, dass sie weithin angenommen wurde – allerdings nicht von Budde20. Weniger Glück hatte Meinhold zu Lebzeiten mit seiner These, der jüdische Sabbat sei eine erst auf Ezechiel zurückgehende und in noch späterer Zeit durchgesetzte Einrichtung, die den im alten Israel unter dem Namen Sabbat gefeierten Vollmondstag nach dessen Abschaffung durch die deuteronomische Reform mit dem Siebentageschema verbunden habe21. Budde widersprach auch 13  ZAW 39 (1921) 42–57; vgl. R. Smend, Die Erzählung des Hexateuch auf ihre Quellen untersucht (1912). 14  Meinhold, Die biblische Urgeschichte 1. Mose 1–12. Gemeinverständlich dargestellt (1904); vgl. K. Budde, Die Biblische Urgeschichte (1883); H. Gunkel, Genesis (1901). 15  Einführung in das Alte Testament (1919) 136f.175. 16  Die „Lade Jahves“ (1900). 17  W. Reichel, Über vorhellenische Götterculte (1897) 23–28. 18  ZAW 21 (1901) 193–97. 19  Die Lade Jahves (1906). 20  Vgl. ThStKr 79 (1906) 489–507. 21  Sabbat und Woche im Alten Testament (1905); vgl. die späteren Verteidigungen ZAW 29 (1909) 81–112; 48 (1930) 121–38.

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hier mit Schärfe22, aber Meinhold trat ihm mit einem frohgemuten „amicus Budde, magis amica veritas!“ entgegen23 und gewann immerhin den kühnen und scharfsinnigen Hölscher, seinen späteren Bonner Nachfolger, zum Bundesgenossen24. Für die meisten war ein allzu hoher Preis zu zahlen, weil der siebentäglich gefeierte Sabbat im Dekalog steht, der Dekalog aber von der Mehrzahl der Gelehrten wenn schon nicht mehr auf Mose, dann doch immer noch in die Frühzeit Israels zurückgeführt wurde. Indem Meinhold ihn ins Exil versetzte – nicht nur wegen des Sabbats, sondern auch wegen des Fehlens von Anklängen bei den Propheten und im Deuteronomium –, stellte er sich 190525, wo Wellhausens Datierung in die prophetische Zeit noch auf der Tagesordnung stand26, und erst recht in der Bonner Rektoratsrede von 1926, als man in der Regel zu erheblich konservativeren Meinungen zurückgekehrt war, sehr bewusst in Gegensatz zu diesen27. Es sollte ein halbes Jahrhundert dauern, bis der Wind sich wieder gedreht hatte und Meinholds These, mit neuen Argumenten untermauert, zum endgültigen Sieg geführt wurde28. In all diesen Arbeiten zeigt sich Meinholds vielseitige Gelehrsamkeit und Produktivität; man kann sie auch noch an mancherlei kleineren Veröffentlichungen sehen, nicht zuletzt an der Ausgabe eines Traktats in der Gießener Mischna29. Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, dass Meinhold, jedenfalls in seiner früheren Zeit, ins Fragmentarische zu geraten drohte. Er kündigte mehrfach Fortsetzungen von Arbeiten an, die er dann nicht lieferte: die „Beiträge zur Erklärung des Buches Daniel“ sind über das erste Bändchen nicht hinausgekommen, und das Versprechen, dem Buch über die Jesajaerzählungen würden „weitere über des großen Propheten Leben und Wirken wie über die mit seinem Namen verknüpften Schriften folgen“30, wurde nur durch die Arbeit „Der heilige Rest“ (Teil 1, 1903) eingelöst, die ihrerseits ein Fragment zu diesem Thema (nämlich nur bis Jesaja reichend) war und überdies als Band I einer Serie von „Studien zur israelitischen Religionsgeschichte“ erschien; die weiteren Bände blieben aus. In der Vorrede bemerkte Meinhold: „Die Studien bei dieser Arbeit haben mich in der schon länger gehegten Überzeugung bestärkt, daß wir nicht im stande sind, auch wol nie sein werden, eine Geschichte Israels zu schreiben, welche diesen Namen mit Recht verdiente. Je glänzender die Arbei22  Vgl. zuletzt ZAW 48 (1930) 138–45. 23  ZAW 48, 122. 24  Vgl. G. Hölscher, Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion (1922) 80f.147f. 25  Sabbat und Woche 37–40. 26  Vgl. Israelitische und jüdische Geschichte (1894) 93. 27  Vgl. Der Dekalog. Rektoratsrede gehalten zu Bonn am Rhein am 7. November 1926 (1927) 5. 28  Vgl. A. Lemaire, RB 80 (1973) 161–85; Ch. Levin, Der Sturz der Königin Atalja (1982) 39–42; T. Veijola in: Prophet und Prophetenbuch (Festschrift O. Kaiser, 1989) 246–64 (Moses Erben [2000] 61–75). 29  Joma (Der Versöhnungstag). Text, Übersetzung und Erklärung (1913). 30 Vorwort.

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ten auf diesem Gebiete sind, desto deutlicher zeigt sich in ihnen, daß die künstliche Phantasie gar zu viel Raum für ihre Tätigkeit hat, oft genug hergeben muß, was uns die überkommenen Quellen verschweigen. Wer die Spärlichkeit unserer Nachrichten und die kärgliche Beschaffenheit der so sparsam fließenden Quellen ins Auge faßt, wird mir zustimmen müssen. Diese Erwägungen haben mich bestimmt, den Herrn Verleger zu bitten, mich von dem vor längerer Zeit abgeschlossenen Vertrag betreffend eine von mir zu schreibende ,Geschichte Israels‘ zu entbinden.“ Nicht in Preisgabe, sondern in Bestätigung dieses vorbildlichen Wissens um die Beschränktheit unserer Möglichkeiten hat Meinhold später eine bemerkenswerte populäre Gesamtdarstellung der „Geschichte des jüdischen Volkes von seinen Anfängen bis gegen 600 n. Chr.“ geliefert, 1916 in der Reihe „Wissenschaft und Bildung“, mit 2 Seiten über die „Anfänge“, 5 Seiten über die Zeit von Saul bis Salomo (unter denen das Doppelreich „in Wahrheit wohl kaum über eine Personalunion hinausgekommen“ sei31), 9 Seiten über die getrennten Reiche (d. h. faktisch über die „jüdischen“ Propheten des 8. Jahrhunderts und das Deuteronomium) und 87 Seiten über die exilische und nachexilische Zeit. Dazu kamen noch zwei weitere, in andere Richtung gehende Überblicke. Der eine von ihnen ist die bekannte „Einführung in das Alte Testament. Geschichte, Literatur und Religion Israels“32, das Gegenstück zu dem noch weiter verbreiteten „Knopf-Weinel-Lietzmann“ über das Neue Testament, der andere heißt „Die Weisheit Israels in Spruch, Sage und Dichtung“. Dieses Buch, 1908 erschienen und in der späteren Weisheitsdiskussion so gut wie unbeachtet, obwohl es manches von ihr vorwegnimmt33, gibt innerhalb der eigentlich nur scheinbaren Begrenzung des Themas ein Bild von der Geschichte der israelitischen Religion im ganzen und von Meinholds persönlicher Stellung zu ihr. Einem ersten Teil über die Weisheitsliteratur und ihre Gottes- und Weltanschauung folgt ein zweiter über die Entstehung und Entwicklung der Weisheit Israels. Diese Entwicklung ist in drei Perioden verlaufen: der vorprophetischen, der prophetischen und der jüdischen. Weisheit bedeutet in der ältesten Zeit „Wissen, Wissen um den Namen und den Kult der Götter, denen man dienen will, Wissen um die Mittel, freundliche Götter und Geister für sich zu gewinnen, feindliche fern zu halten oder zu vertreiben. […] Es ist der Einblick in das Innere der Dinge und ihre Bedeutung und damit die Herrschaft über sie. Die Kunst der Politik, der weisen Rechtsprechung beruht auf göttlicher Weisheit, die hervorragenden Menschen zuteil ward.“34 Das ist alles zunächst nicht spezifisch israelitisch, mag auch Jahwe als der die Weisheit spendende Gott gedacht sein. Das israelitische Element kommt durch den prophetischen Geist hinein, der sich schon in vorprophetischer Zeit ankündigt: im Wege hin zur Alleinverehrung Jahwes, 31  A.a.O. 4. 32  Sammlung Töpelmann I/1 (1919, 31932). 33  Vgl. J.L. Crenshaw, Studies in Ancient Israelite Wisdom (1976) 3.36f. 34  Ebd. 206.

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im Bild von diesem Gott. Aber der Monotheismus des Gottes, der „zuerst und durchaus der Herr und Erhalter der sittlichen Welt“ ist35, ragt doch über alles Bisherige weit hinaus. Indem die Propheten vom Volk das rechte Handeln nach dem Willen dieses Gottes verlangen, lehren sie es Weisheit. Bei Jeremia erfolgt dann der Übergang zur jüdischen Weisheit, die sich nicht mehr in erster Linie an das Volk, sondern an den Einzelnen wendet. Ihr Kernstück ist das Dogma der Entsprechung von Tat und Ergehen im Leben des Menschen. Weisheit ist Religion im weitesten Sinn, und mag auch gerade in ihren Bereich viel orientalisches und griechisches Gut eingedrungen sein, so sind die israelitischen Weisen doch nicht Philosophen wie die griechischen, sondern Theologen und als solche ein bevorzugter Stand im Judentum. Meinhold hat das Buch über die Weisheit als Beteiligter geschrieben, weithin mit polemischem Unterton. Zwar gesteht er zu, dass die Weisheit uns „nicht bloß zeitlich näher“ steht als die prophetischen Reden, weil in ihr „die Frömmigkeit der einzelnen Seele stärker ihre Schwingen zu rühren“ beginnt36, aber sie bietet ihm gerade in ihrer ausgebildetsten Form „die Gedanken einer gut spießbürgerlichen Moral, deren letzter Schluß das eigene Glück, das eigene Wohlergehen, die eigene Zufriedenheit ist – als ob es nicht etwas Höheres darüber hinaus gäbe, als ob nicht Glücklichmachen weit über dem Glücklichsein stünde, als ob nicht die Großen in der Weltgeschichte, die genialen und dämonischen Naturen gerade dadurch anderen viel Glück gebracht hätten, daß sie auf eigenes Glück und Glücksgefühl mehr oder weniger verzichteten. […] Wir atmen hier die dumpfe Zimmerluft des Stubenhockers, der im Schlafrock am warmen Ofen sitzend durch gebrochenes Fensterlicht in die Welt da draußen schaut und weder Willen noch Kraft hat, hinauszustürmen in den Kampf des Lebens und der Natur. Er hört nicht die Stimme des Sturmes, der ihn umtost, das Brüllen des Meeres, das ihn umtönt. Er weiß nichts von der Freude am Kampf und Ringen, die zur höchsten Entfaltung der Kraft, zur Hingabe des ganzen Lebens an einen großen Zweck, zum Gewinne des höchsten Preises führt.“37 Wenn trotzdem „eine Erlösungsreligion für die Menschheit“ „aus dem Schoße der jüdischen Kirche hervorging, so fällt das Verdienst daran nicht den Theologen dieser Kirche, sondern der in ihr noch bewahrten schlichten innigen Frömmigkeit zu, die sich hier den Schwankungen und Lehren aller Theologie zum Trotz behauptete, ja im Kampf mit ihr den Sieg davon trug, weil sie in Gott gegründet war“38. Diesen Kampf führen Jeremia, der Gottesknecht Deuterojesajas, Hiob und der Dichter des 73. Psalms. Für Hiob ist die Religion „Sache des Herzens und nicht des Kopfes. Und hier, wie so oft, trägt das Herz den Sieg über den Kopf da35  Ebd. 224. 36  Ebd. 237. 37  Ebd. 138f. 38  Ebd. 143.

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von und ist dabei auf dem rechten Weg.“39 Die Gewissheit des 73. Psalms, dass Gott „alle Zeit meines Herzens Trost und mein Teil“ ist, „ist ja nun wirklich eine nicht aus dem Kopf der Theologie, sondern aus dem Herzen der Frömmigkeit geborene Lösung, eine Lösung, die weit hinausgeht über die Ausgleichsund Vergeltungshoffnungen, wie sie sich durch das Neue Testament hindurch bis auf unsere Tage erhalten haben, eine Lösung überdies, die jedem Frommen zugänglich ist, was von jener anderen Auffassung vom Grund und Zweck des prophetischen Leidens nicht so gilt, da nicht jeder das Zeug und den Beruf zum Prophetentum hat. Und doch ist dieser letzte und höchste Zweck vom Leiden des Frommen uns in dem Tode Jesu von Nazareth stets vor Augen gestellt. In ihm hat die von Jeremia über den Gottesknecht bei Jesaia führende Linie erst ihr Ende erreicht. […] Vor dem Leiden dieser Auserwählten, vor dem Kreuz Christi zumal zerbricht die ganze Lohntheorie und damit das Fundament der jüdischen Weisheit. Aus dem Verhältnis Jahves zu Israel auf das Verhältnis der Gottheit zur Seele des einzelnen Israeliten übertragen hat sie doch keine Berechtigung mehr auf dem Boden einer Weltreligion.“40 Im Zusammenhang der jüdisch-weisheitlichen Vergeltungslehre steht für Meinhold auch die Rechtfertigungslehre des Paulus. Sie ist darum abzulehnen. „Hat Luther so scharf gegen den Judaismus in der Kirche angekämpft, so gibt sich vieles von dem, was er, was die Väter des Protestantismus noch nicht als judaistisch, vielmehr als Fundament des Glaubens ansahen, uns als altes Erbstück der jüdischen Theologie. Protestantisch und evangelisch ist es, auch gegen diesen Judaismus im Namen der Religion die Stimme zu erheben.“41 Zur Charakterisierung von Meinholds Theologie folge noch ein Zitat aus dem Alterswerk von 1931 „Das Alte Testament und evangelisches Christentum“: „Die Sonne steht am Himmel und leuchtet. Sie bedarf keiner Stützen. Ebenso das ‚Wort Gottes‘. Es steht fest, leuchtet von ihm selbst und bedarf keiner theologischen Krücken. Vielmehr, wie Hiob im Kampf gegen das Glaubensdogma der Stimme des Gewissens folgt und damit wahrer Frömmigkeit die Straße frei macht, so kann auch der protestantische Christ sich nur zu dem bekennen, was er als Gottes Wort erkennt, was in seinem Innern deutlichen Widerhall findet. Denn es gibt auch ein christliches Gewissen. Dem muß er folgen. Das ist nicht ein ‚Subjektivismus‘, der Gott selbst und seine Offenbarung in menschliche Gedanken und Gefühle auflöst, sondern das ist Protestantismus, das ist Christentum, wie es uns in der Urkirche, bei Luther und anderen Heroen der Frömmigkeit klar entgegentritt.“ Meinhold fährt fort: „gerade dieser Grundsatz gibt uns den Weg zur rechten Würdigung des A. T., sodaß wir einerseits der Gefahr entgehen, ‚das Kind mit dem Bade auszuschütten‘, manche köstliche Perle zu verlieren, andererseits aber auch nicht allerlei mitschlep39  Ebd. 149. 40  Ebd. 151–53. 41  Ebd. 154.

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pen, was unser religiöses Leben beschwert und was uns an eine niedere Stufe der Frömmigkeit bindet.“42 Wie die Würdigung des Alten Testaments danach auszusehen habe, hatte Meinhold auch schon 1896 in der Schrift „Jesus und das Alte Testament“ entwickelt. Unterschiede werden nicht sichtbar; nur die Anlässe und damit auch die Adressen sind verschieden: 1931 einerseits die deutschkirchlichen Kreise43, andererseits die dialektische Theologie, genauer Barth, Brunner und Vischer44, 1896 die konservativen Gegner Meinholds in einem Streit, der ihn zeitweise weithin bekannt machte. Er hatte auf dem Ferienkursus der Bonner Evangelisch-Theologischen Fakultät von 1894 über die Anfänge der israelitischen Religion und Geschichte gesprochen und dabei die Entwicklung aus primitiven Anfängen über den Mosaismus und den Prophetismus bis hin zu Jesus Christus dargestellt. 1895 veröffentlichte er den Vortrag mit einem Nachwort unter dem Titel „Wider den Kleinglauben. Ein ernstes Wort an die evangelischen Christen aller Parteien.“ Den Kleinglauben sah er in der überaus heftigen frommen Reaktion auf seinen Vortrag und seines neutestamentlichen Kollegen und Freundes Eduard Grafe (1855–1922) Parallelvortrag in der Sammlung von „Bekenntnisfreunden“, die sich gegen die Bibelkritik auf die reformatorischen Bekenntnisse beriefen, den Professoren vorwarfen, sie hielten sich für unfehlbar, die Lehrfreiheit eingeengt wünschten, Grafe das Recht zum Examinieren bestritten und eigene kirchliche Ausbildungsstätten für Theologiestudenten planten. Meinhold wandte sich aber nicht nur gegen diese Kreise, die in Friedrich v. Bodelschwingh ihren bekanntesten Exponenten hatten, sondern auch gegen „positive“ Kollegen, vor allem Martin Kähler, der 1895 vor der Gnadauer Konferenz seinen berühmten Vortrag „Jesus und das Alte Testament“ hielt und ihn bald darauf in erweiterter Form veröffentlichte45. Die „Bekenntnisfreunde“ stürzen in Meinholds Augen „den Hauptgrundsatz der Bekenntnisschriften um, indem sie die Schriftauslegung durch die Bekenntnisse binden wollen“46. Ihr Beharren auf der Lehre von der Verbalinspiration ist wichtigstes Zeichen des „Kleinglaubens“, den Meinhold ihnen zum Vorwurf macht. Seine Gegenposition formuliert er ähnlich den schon angeführten Sätzen: „wer in Dingen des evangelischen Glaubens das große Wort führen will, der möge erst einmal lernen, welch eine große Sache es um den evangelischen Herzensglauben ist. Ja, ich bin der gewissen Zuversicht, daß nur durch volle und glatte Anerkennung dieses evangelischen Herzensglaubens allein das Evangelium in unser Volk wieder hereingebracht werden kann. Mit all unsern Theologieen ‚rechts‘ und ‚links‘, ‚positiv‘ und ‚negativ‘ locken wir keinen Hund mehr hinter dem Ofen heraus. Theologische Spitzfindigkeiten sind 42  Ebd. 41f. 43  Vgl. Das Alte Testament und evangelisches Christentum 4–6. 44  Ebd. 6f. 45  Neudruck, hg.v. E. Kähler, 1965. 46  Jesus und das Alte Testament XIf., vgl. 83f.

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unsrer Zeit ein ungenießbares Brot. Um so empfänglicher wird aber das Gemüt für die Person Christi. […] Und wenn der evangelische Oberkirchenrat am Schluß seines Bescheides über unsre Vorträge die Hoffnung ausspricht, daß immer noch gläubige, dem Heilande dienende Professoren der Kirche erstehen würden, so nehmen wir mit vollem Ernst für uns dies Wort in Anspruch: denn wir stellen Christum ganz in die Mitte, wollen weiter nichts als ihn zur Ehre bringen […]. Nur Christus ist für uns Christen die Thür zum Alten Testament; was auf andrem Wege zu uns eindringen will, müssen wir kraft unsrer Jüngerschaft Jesu abweisen (Joh 10). Thun wir das nicht, so ist Jesus nicht das Herz, der Quellpunkt unsres ganzen Glaubens. Daß wir hierin recht handeln, zeigt schon die Weise, wie Jesus sich dem Alten Testament grundsätzlich gegenüberstellt.“47 Und dazu hat der Exeget und Theologe Meinhold folgende einfache These: „die innere Stellung, die Christus zum Alten Testament einnimmt, wird durch die neuere Kritik bestätigt, seine äußere Stellung allerdings, die mit jener in Widerspruch steht, nicht als maßgebend anerkannt.“48 Mit der äußeren Stellung ist gemeint: Jesus las das Alte Testament wie die Schriftgelehrten seiner Zeit, er war ihnen nicht als Literarkritiker und Historiker voraus, teilte ihr Weltbild, glaubte an die Existenz des Teufels, hielt das Gesetz; er irrte also, was „die Gebiete des Wissens und die Dinge der Erscheinungswelt“ angeht, und er musste es, „wenn er seinen Heilandsberuf erfüllen wollte. Ein jeder Mensch ist an seine Zeit gebunden“49. Anders steht es mit dem, was Meinhold die „innere Stellung“ nennt50. „Die Blüte reift zur Frucht aus, sie erfüllt sich in der Frucht, aber nur durch ihre eigene Auflösung. Daß Jesus sich dieser seiner auflösenden Stellung zum Alten Testament vollkommen bewußt gewesen ist, unterliegt keinem Zweifel.“51 Er stellte sich in drei Punkten gegen das Alte Testament: in seiner Lehre von Gott, vom wahren Gottesdienst und von seiner eigenen Person. „Was von den Lehren und Erzählungen des Alten Testaments sich mit seiner Auffassung dieser Dinge nicht vereinigen läßt, mag für die Forscher von höchstem Wert und Interesse sein, dem Christen kann es nicht als volle Frucht der wahren Gotteserkenntnis gelten.“52 Gott ist für Jesus, anders als für das Alte Testament, Geist und vollkommene Liebe; auch gilt ihm das Alte Testament nicht als Gottes Wort. Was den Gottesdienst angeht, so akzeptiert Jesus den Sabbat als humane Einrichtung, aber nicht in seiner religiösen Bedeutung; „Sabbatsfeier […], Opfer, Tempeldienst u. s. w. gehören nicht zu dem, was wir in Christi Sinn Religion nennen können. Religion ist ihm etwas durchaus Innerliches, Geistiges: Religion ist ihm Glaube.“53 Hierin schließt Jesus sich unter Umgehung der 47  Ebd. 45f. 48  Ebd. XIX. 49  Ebd. 3–43, Zitate 40.27. 50  Ebd. 43–109. 51  Ebd. 47. 52  Ebd. 50. 53  Ebd. 88.

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nachprophetischen jüdischen Geschichte an die Religion der Propheten an, ihren Glauben vollendend; allerdings reden sie von „Jahwe, dem Gott Israels“, dagegen „Christus ist der Sohn des himmlischen Vaters, der ein Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden. Und das sind zwei sehr verschiedene Dinge.“54 Und schließlich „die Stellung, welche Christus seiner eigenen Person dem Alten Testament gegenüber beilegt“55: er will das Alte Testament erfüllen, aber nicht als der nationale Messias, den Israel erwartet, sondern als der Prophet und Gottesknecht, der der ganzen Welt dient. Dies alles sieht Meinhold im Frieden mit der modernen Kritik. Jesus ist der Endpunkt einer Entwicklung, die in der Gottesauffassung vom Stammesgott über den Nationalgott zum Weltgott geführt hat. Indem die Wissenschaft diese Einsicht gewinnt, bestätigt sie Jesu Kritik am Alten Testament. „Wissen und Glauben sind nicht gegeneinander.“56 Es ist begreiflich, dass Meinhold sich in der Theologie der zwanziger und dreißiger Jahre nicht mehr zu Hause fühlen konnte. Die kirchenpolitischen Vorgänge zu Anfang des Dritten Reiches, die sich in Bonn sozusagen vor seiner Haustür abspielten, hat er kaum verstanden. Er hielt sich an das, was sich ihm lebenslang bewährt hatte, und blieb dabei, wie sein Nachfolger Gustav Hölscher bezeugte, „ein Optimist“, „erfüllt von dem Glauben, daß das Wirkliche in seinem letzten Grunde nicht schlecht und die Wahrheit nicht verderblich sein kann“57. Und wer traut sich die Behauptung zu, dass seine hier mit Absicht so ausgiebig vorgeführte Denkweise in unserer Theologie nur noch eine Sache der Vergangenheit ist?

54  Ebd. 90. 55  Ebd. 98–107. 56  Ebd. 143. 57  ChW 51 (1937) 540.

Hermann Gunkel 1862–1932

Kein Gelehrter hat auf die Methode der biblischen Exegese weit über Deutschland hinaus im mittleren Drittel des 20. Jahrhunderts so tief eingewirkt wie Hermann Gunkel. Der Bereich der von ihm selbst durchgeführten und angeregten Arbeiten ist scheinbar etwas vage, in Wirklichkeit recht präzise umschrieben mit dem Titel der Schriftenreihe, die er von 1903 bis 1920 gemeinsam mit Wilhelm Bousset, danach mit Rudolf Bultmann herausgab und die inzwischen mehr als 250 Bände umfasst: „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments“. Gunkel war wie die beiden anderen großen Alttestamentler seiner Zeit, Julius Wellhausen und Bernhard Duhm, Niedersachse. Er wurde am 23. Mai 1862 als Pastorensohn in Springe geboren1. Der Vater ging noch im selben Jahr an die Nikolaikirche in Lüneburg. Schon der Großvater war Pastor gewesen, der Urgroßvater, mit Namen Kunkel, ein Eichsfelder Katholik, der zum Protestantismus übergetreten war. Die geistliche Herkunft hat bei Hermann Gunkels Berufswahl gewiss mitgewirkt. Und sie war wohl auch beteiligt, wenn er, ebenso wie sein Gießener Vorgänger Stade und anders als Wellhausen, seine wissenschaftliche Arbeit in der Universität durchaus als einen Dienst an der Kirche verstand. Von der Orthodoxie seines Vaters kam er freilich bald ab; die theologischen Äußerungen, die wir von ihm besitzen, sind durchweg die eines Liberalen im Stil seiner Zeit. Im Lüneburger Pfarrhaus wuchs er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Karl, später Reichsgerichtsrat in Leipzig, in die Bildungswelt des 19. Jahrhunderts hinein. Die häusliche Atmosphäre regte ihn für Religion, Geschichte und Literatur an, der Tertianer las mit Begeisterung Gustav Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit und die historischen Anmerkungen zu Scheffels 1  Grundlegend zu Leben und Werk jetzt K. Hammann, Hermann Gunkel. Eine Biographie (2014). Daneben bleibt nützlich W. Klatt, Hermann Gunkel. Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode (FRLANT 100, 1969). Die beste Würdigung aus der Nähe gibt W. Baumgartner, Congress Volume Bonn 1962 (1963) 1–18 = H. Gunkel, Genesis ( 91977) 1*–18*. Bibliographie: Eucharisterion (1923) II, 214–25 mit Nachträgen bei Klatt a.a.O. 272–74. Vgl. auch E.-J. Waschke (Hg.), Hermann Gunkel (2013), mit Beiträgen von K. Hammann, U. Schnelle, St. Schorch, R. Smend u. E.-J. Waschke.

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Ekkehard; die Werke der großen Historiker werden bald gefolgt sein. Als alter Mann nach seinen Lieblingsbeschäftigungen gefragt, nannte er deutsche Lyrik und politische Geschichte. Es hat keinen Sinn, einem dieser Interessengebiete die Priorität zuzusprechen. Gunkel war wie alle führenden Vertreter seiner Wissenschaft zeitlebens Historiker und legte großen Wert darauf, es zu sein. Aber die Akzente lagen bei ihm doch anders als bei Wellhausen oder Stade. Er betrachtete und analysierte Formen und Stoffe aus verschiedenen Zeiten und Räumen, ohne dass sein Hauptaugenmerk immer gleich auf die Gewinnung eines präzisen Bildes vom historischen Ablauf gerichtet gewesen wäre. Dabei kam ihm ein ästhetischer Sinn zustatten, den er von Kindheit an durch den ständigen Umgang mit der deutschen Dichtung ausgebildet hatte. Das Studium der Theologie – Hebräisch hatte er nach damaligem Brauch schon auf dem Lüneburger Gymnasium gelernt – begann er im Sommersemester 1881 in Göttingen. Dort hörte er, wie seine meisten Studiengenossen, mit Eifer Albrecht Ritschl (1822–89): Römerbrief, Neutestamentliche Theologie, eine zweisemestrige Dogmatik. Aber er vernachlässigte die übrigen Disziplinen nicht und sah sich auch jenseits der Fakultätsgrenzen um, in Germanistik, Geschichte und Philosophie; in seinen letzten Semestern erlebte er noch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), der 1883 nach Göttingen kam. Im Blick auf Gunkels spätere Arbeit ist die Begegnung mit zwei Dozenten erwähnenswert, die im damaligen Göttingen eher Außenseiter waren, Bernhard Duhm und Paul de Lagarde (1827–91), in Gunkels Worten „tiefsinnig“ der eine, „vielseitig und rätselhaft“ der andere2. Bei Duhm hörte er ein Kolleg über die Geschichte Israels und eins über die paulinische Eschatologie. Ein engerer Kontakt ergab sich zu Lagarde, der ihn ins Syrische und Arabische einführte. Dergleichen fand damals noch mehr als heute im kleinsten Kreise statt – bezeichnend Lagardes Erstaunen, als er in der ersten Syrischstunde des Sommersemesters 1885 außer dem erwarteten Gunkel noch einen zweiten Teilnehmer vorfand, nämlich Alfred Rahlfs, der bald der ihm nächststehende Schüler werden sollte3. Die Göttinger Studienzeit wurde durch drei Semester in Gießen unterbrochen, wo Gunkel Adolf Harnack (1851–1930) und Bernhard Stade zu Füßen saß, nicht ahnend, dass er einmal des einen Kollege und des anderen Nachfolger werden würde. Im Jahre 1901 widmete er seinen Genesiskommentar Harnack als dem Mann, „von dem ich, nächst meinem Vater, unter allen meinen theologischen Lehrern am meisten gelernt habe“. Dieses Urteil wiegt um so schwerer, als Harnack mit den „Religionsgeschichtlern“ im engeren Sinn, zu denen Gunkel gehörte, nicht viel zu tun haben wollte. Aber seine Wirkung auf diese Schule war groß; was Gunkel betrifft, so sprach er dessen geschichtlichen Sinn an und bildete ihn weiter aus; er hat Gunkel auch persönlich gefördert. In Stade hatte 2  H. Gunkel, Wilhelm Bousset. Gedächtnisrede (1920) 8. 3  A. Rahlfs, MSU 4 (1928) 91f.

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Gunkel zum zweiten Mal – nach Duhm – einen Alttestamentler vor sich, der Wellhausens Sicht von der Geschichte des alten Israel vertrat. Gunkel war – wie ja auch Stade – nie Wellhausens persönlicher Schüler; trotzdem bezeichnet der von ihm stets mit Respekt genannte Name Wellhausen die wichtigste Voraussetzung für seine eigene Arbeit am Alten Testament – eine Voraussetzung allerdings, bei der er nicht stehenblieb, sondern von der aus er einen neuen und eigenen Weg einschlug. Dafür aber bekam er die entscheidenden Anregungen von keinem seiner akademischen Lehrer, sondern in einem Kreis junger Theologen in Göttingen, den man „die kleine Fakultät“ nannte. Führender Kopf dieses Kreises, dessen Zusammensetzung natürlich wechselte, war der Kirchenhistoriker Albert Eichhorn (1856–1926), den Krankheit an literarischer Produktion, nicht aber an scharfem Beobachten und fruchtbarem Kritisieren hinderte. Neben Gunkel standen Wilhelm Bousset (1865–1920) und William Wrede (1859–1906), später traten Ernst Troeltsch (1865–1923), Johannes Weiß (1863–1914) und Wilhelm Heitmüller (1869–1926) hinzu. Man hat damit schon die wichtigsten Vertreter der bald sehr einflussreichen „religionsgeschichtlichen Schule“ beisammen, soweit sie Theologen waren. Gunkel war sehr empfindlich gegen das Missverständnis, es sei dabei von vornherein auf die Religionen überhaupt und die biblische Religion nur als einen Sonderfall aus ihnen abgesehen gewesen. Nein, der Hauptgegenstand sollte die biblische Religion sein, frei von den wirklichen und vermeintlichen Schablonen Ritschlscher Dogmatik, aber auch Wellhausenscher Literarkritik, in ihrem ursprünglichen bewegten geschichtlichen Lebenszusammenhang, dann freilich auch im Zusammenhang der anderen Religionen, gegen die sie sich mit innerem Recht durchgesetzt hatte. Mehr noch als im Prinzipiellen lag die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung der Schule in den überaus vielfältigen „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments“ – innerhalb und außerhalb jener Reihe –, deren Programm detaillierteste Einzelarbeit mit weitestem Horizont verband. An die Spitze dieser Arbeit trat Gunkel 1888 mit seiner Göttinger Dissertation. Er hatte 1885 in Hannover das erste theologische Examen bestanden und sich seitdem, mit weiteren Studien beschäftigt, in Göttingen, Lüneburg und Leipzig aufgehalten. Den Unterhalt verdiente er sich großenteils durch Privatunterricht, nebenbei absolvierte er in Lüneburg einen pädagogischen Kursus. Vom Militärdienst wurde er wegen Kurzsichtigkeit (infolge zu vielen Lesens) dauernd freigestellt, doch ließ er sich später in Halle für den Kriegsfall als Krankenpfleger ausbilden. Die freien Studien der Jahre 1885–88 fanden ihren Abschluss in der Abhandlung „Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus“, die er der Göttinger theologischen Fakultät einreichte. Die Schrift nannte sich im Untertitel eine „biblisch-theologische Studie“. Diese traditionelle Klassifikation passte indessen kaum noch zum Inhalt. Denn

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einmal beschränkte sich Gunkel nicht auf die kanonischen Schriften der Bibel Alten und Neuen Testaments, sondern zog, wie er es schon als Student bei der Arbeit am Neuen Testament getan hatte, die apokryphe Literatur heran, in der Einsicht, dass das Neue Testament mehr noch als aus dem Alten Testament aus dem Judentum heraus zu erklären sei, dem „eigentlichen Mutterschoß des Evangeliums“4. Vor allem aber relativierte er die theologische Lehre vom Geist, indem er sie als die Deutung psychologischer Vorgänge, pneumatischer Erlebnisse verstand, die ihn als Religionshistoriker – „wer am Worte haftet, kann das Leben nicht sehen“ – viel mehr interessierten als die „biblisch-theologischen Begriffe“5; der übernatürlichen Seite der biblischen, speziell der paulinischen Lehre konnte er wenig abgewinnen. Was die Bibel Geist nennt, wurde durch die Beschreibung von seinen Wirkungen her lebendiger, aber auch fremder, als es sowohl der traditionellen Theologie als auch dem neuzeitlichen Idealismus gewesen war. Gunkel hatte damit, ohne es zu wollen, eine Axt auch an die Wurzel der liberalen Theologie gelegt. Noch weniger als ihm selbst war das wohl der Göttinger Fakultät bewusst, die in der Dissertation „hervorragende wissenschaftliche Begabung, exegetische Gewandtheit und eindringenden Scharfsinn“ erkannte und ihn, nachdem er der damaligen Ordnung gemäß am 27. Juni 1888 das Kolloquium in allen fünf theologischen Fächern magna cum laude bestanden und am 15. Oktober eine Thesenreihe gegen die Opponenten Carl Mirbt (1860–1929) und Johannes Weiß öffentlich verteidigt hatte, zum Licentiaten promovierte. Schon am 16. Oktober folgte nach seiner öffentlichen Probevorlesung über „Die Eschatologie der jüdischen Apokalypsen“ die Habilitation „für das Fach der biblischen Theologie und Exegese“6. Er hat diese Venia legendi allerdings nur ein Semester lang wahrgenommen. Schon im Mai 1889 habilitierte er sich erneut, diesmal in Halle. Die Gründe für den Wechsel sind nicht mehr mit voller Sicherheit aufzuhellen. Sie lagen wohl überwiegend in Göttingen, wo Gunkel allseitige Sympathie nicht besessen zu haben scheint. Allem Anschein nach folgten die Beteiligten unmittelbar einem Wink des Berliner Ministerialdirigenten Friedrich Althoff (1839–1908), der in jenen Jahrzehnten die preußische Universitätspolitik bestimmte7. Ebenso einschneidend wie der Ortswechsel war für 4  Die Wirkungen des heiligen Geistes (21899) 3. 5  Ebd. VIII. 6  Vgl. Göttinger Universitätsarchiv 4 II b/84. 7  Vgl. K. v. Rabenau, EvTh 30 (1970) 433–44. Das dort (436) konstatierte Schweigen der Akten an entscheidender Stelle lässt sich einigermaßen ausgleichen durch die (von Gunkels Hand stammende) Abschrift eines Briefes von Althoff an Gunkel vom 30.3.1889 im Nachlass Lagardes (Nieders. Staats- und Universitätsbibliothek Cod. MS Lag. Briefe XXIV, 87): „Von Halle aus ist in Anregung gebracht worden, ob Sie Sich nicht dort als Privatdozent habilitieren wollen. Soweit ich die Verhältnisse übersehe, wird sich dies auch in Ihrem Interesse empfehlen. Ich bitte Sie, die Sachen in nähere Erwägung zu ziehen, und wenn Sie vielleicht mit mir darüber zu sprechen wünschen, mich nächsten Dienstag oder Mittwoch auf meinem Bureau zu besuchen.“ Vgl. jetzt Hammann (Anm. 1) 50–53.

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Gunkel der Umstand, dass seine akademische Lehrtätigkeit sich von jetzt an im wesentlichen auf das Alte Testament zu beschränken hatte. Er sprach später von „gewissen Schickungen“, die ihn vom Neuen Testament „auf ein anderes, wenn auch verwandtes Fach abgedrängt“ hätten8. Neutestamentliche Arbeiten hat er nur noch im Ausnahmefall veröffentlicht, so eine Erklärung des 1. Petrusbriefs in den Göttinger „Schriften des Neuen Testaments“ (1906). Der führende Neutestamentler der Religionsgeschichtlichen Schule wurde Wilhelm Bousset, der in Gunkels letzten Gießener Jahren dort an seiner Seite gewirkt hat. Aber im religionsgeschichtlichen Zusammenhang erlosch Gunkels Interesse am Neuen Testament natürlich nicht. In der Schrift „Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments“, deren Grundzüge ihm bereits in seiner Hallenser Zeit feststanden und mit der er 1906 die Reihe der „Forschungen“ eröffnete, beschrieb er das Christentum als eine synkretistische Religion – eine Definition, die viel Anstoß erregte, aber durch Rudolf Bultmann Gemeingut geworden ist. Nicht lange vor dem Abschied von Halle, im Oktober 1894, schrieb Gunkel das Vorwort zu dem großen Buch „Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit“ (1895), an dem er diese Jahre hindurch gearbeitet hatte. Er widmete es Albert Eichhorn, der uns schon als geistiges Haupt der „kleinen Fakultät“ in Göttingen begegnet ist, wo er sich aber nur vorübergehend aufgehalten hatte. In Halle sammelte sich um ihn ein Kreis, in dem Gunkel vor allem dem Assyriologen Heinrich Zimmern nahetrat. Zimmerns Wissen kam „Schöpfung und Chaos“ neben Eichhorns ständiger Kritik am meisten zugute. Gunkel hatte 1889 in seiner Antrittsvorlesung, offenkundig in Anknüpfung an die vorjährige Göttinger Probevorlesung, über „Die eschatologische Hoffnung des Judentums in ihrem Verhältnis zu alt- und neutestamentlichen Erwartungen“ gehandelt. Beim weiteren Überdenken dieser Thematik machte er die Entdeckung, dass das 12. Kapitel der Johannesoffenbarung mythologisch sei, worüber er, wie er später berichtet hat9, „in einen hohen Enthusiasmus geriet: ich schwebte über der Erde wie die seligen Götter!“ Auf die Erde zurückgekehrt, führte er dann, von Eichhorn methodisch, von Zimmern und anderen stofflich beraten, jene mythologische Tradition auf die alte babylonische Kosmogonie zurück, in deren Nachgeschichte sowohl die Darstellung der urzeitlichen Schöpfung im ersten Kapitel der Bibel (Gen 1) als auch die Weissagung der endzeitlichen Schöpfung in der Johannesoffenbarung gehöre. Der Nachweis, materialreich, kühn und in vielem anfechtbar, hat mehr noch in der Methode als in der Sache Schule gemacht; „traditionsgeschichtliche“ Arbeit ist seit Gunkel innerhalb der biblischen Grenzen und über sie hinaus hundertfältig getrieben worden, sauber und mit wahrscheinlichen Ergebnissen, aber auch disziplinlos und wirr.

8  Gedächtnisrede auf Bousset (Anm. 2) 11. 9  Bei W. Klatt, ZThK 66 (1969) 5.

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Gunkel pflegte über seine Methode sorgfältig Rechenschaft zu geben. Um so mehr schmerzte es ihn und rief seinen Protest hervor, als Wellhausen ihn im wesentlichen abwies mit der Begründung, für das Verständnis der biblischen Texte komme es auf den Ursprung der in ihnen verwendeten Stoffe nicht an10. Dabei stand er Wellhausen geistig und auch in der biblischen Hermeneutik bei aller individuellen und wissenschaftlichen Verschiedenheit – man kann mit Schillers Begriffen Wellhausen naiv, Gunkel sentimentalisch nennen – näher, als es später manchem seiner Enkelschüler lieb war. Alle Arbeit an Formen und Stoffen hinderte ihn nicht, in zuweilen fast schwärmerisch-pathetischen Worten die (geschichtliche, religiöse, schriftstellerische) Einzelpersönlichkeit zuoberst zu stellen, und ebensowenig hinderten ihn der Verzicht auf den übernatürlichen Offenbarungsbegriff einerseits, die (von ihm selbst auch durch Vergleiche mit ägyptischer Literatur wesentlich erweiterte) Einsicht in die vielen ausländischen kulturell-religiösen Einflüsse auf Israel andererseits, Israel nach wie vor „das Volk der Offenbarung“ zu nennen. Im Babel-Bibel-Streit, den 1902 der Assyriologe Friedrich Delitzsch (1850–1922) entfachte, bezog er eindeutig in diesem Sinne Stellung11. Das Jahr 1894 brachte Gunkel außer dem Abschluss von „Schöpfung und Chaos“ den Titel eines außerordentlichen Professors und vor allem die Heirat mit Elisabeth Beelitz, Tochter des Hallenser Dompredigers. 1895 folgte die Ernennung zum außerordentlichen Professor in Berlin, wo er bis zu seiner Berufung nach Gießen 1907 eine reiche Wirksamkeit entfaltete. Er war als auf der Höhe der Zeit stehender Forscher wie als Lehrer den dortigen Ordinarien seines Faches – zuerst, nach Dillmanns Tod, Baethgen, dann Baudissin – überlegen. Unverdächtige Zeugen wie Otto Dibelius und Karl Barth haben bei allen theologischen Vorbehalten noch nach Jahrzehnten bekannt, dass man in Gunkels Berliner Vorlesungen wissenschaftliche Methode lernte und etwas vom lebendigen Geist des Alten Testaments verspürte12; in Berlin hörten ihn auch Rudolf Bultmann (1884–1976) und Günther Dehn (1882–1970); Martin Dibelius (1883–1947), der spätere Neutestamentler, wurde unter seiner Obhut promoviert13. Gunkel muss – anders als Wellhausen – ein begeisternder Lehrer gewesen sein. Ältere Kollegen von auswärts, die sich bei ihm ins Kolleg setzten, um ihn auf seine Berufungsfähigkeit anzusehen – 1889 Emil Kautzsch aus Halle in Göttingen, 1891 Bernhard Weiß (1827–1918) aus Berlin in Halle –, wussten von seinen pädagogischen Gaben Eindrucksvolles zu berichten14. Seine Hörerzahlen lagen denn auch erheblich über dem Durchschnitt. Für besonders 10  J. Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten VI (1899) 225–34.; dazu Gunkel, ZWTh 42 (1899) 581–611. 11  Israel und Babylonien (1903). 12  Dibelius: Ein Christ ist immer im Dienst (1961) 59f.; Barth: Schleiermacher-Auswahl, hg.v. H. Bolli (1968) 290f. 13  Vgl. sein Zeugnis über Gunkel FuF 8 (1932) 146f. 14  v. Rabenau (Anm. 7) 435.438.

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Interessierte veranstaltete er gern Sozietäten, in denen er Fragen besprach, die ihn besonders beschäftigten. So wirkte er nicht nur auf die Gesamtheit der Studenten, sondern bildete in energischem Werben und Fordern auch einen Schülerkreis heran, der seine Arbeit verstand und fortsetzte. Aber Gunkel trat auch gern aus dem engeren akademischen Bereich heraus. Er hielt Vorträge an vielen Orten und in sehr verschiedenen Kreisen, und er publizierte mit offenkundiger Begabung neben seinen wissenschaftlichen Werken im engeren Sinn auch immer wieder für das breitere Publikum. In vielen literarischen Organen arbeitete er mit, vor allem in der „Christlichen Welt“, der Zeitschrift des „freien Protestantismus“, in der sich zahlreiche Aufsätze, Betrachtungen, Rezensionen, aber auch empfindungsreiche Gedichte aus seiner Feder finden. An mehreren großen Unternehmen, die die theologische Arbeit seiner näheren und weiteren Gesinnungsgenossen vermittelten und zusammenfassten, war er planend und ratend, aber auch mit umfangreichen eigenen Beiträgen beteiligt: an den „Religionsgeschichtlichen Volksbüchern“, der „Religion in Geschichte und Gegenwart“ – darin mehr als 300 Artikel Gunkels! –15 und dem „Göttinger Bibelwerk“. Gegen Anfang dieser Tätigkeit, 1900, sprach er von einer „heiligen Pflicht“ der historisch arbeitenden Theologen: „Unser Volk dürstet nach euren Worten über die Religion und ihre Geschichte! Seid ja nicht zu ängstlich und glaubt ja nicht, das, was ihr erkannt habt, dem Laien verschweigen zu müssen! […] Wenn ihr aber schweigt, dann reden die Schwätzer!“16 Bei einem Mann wie Gunkel versteht sich von selbst, dass er über alledem die Forschungsarbeit nicht vergaß. Die Frucht der ersten Berliner Jahre war ein Werk, das bis heute den Ruf eines Klassikers genießt: die Erklärung der Genesis im „Göttinger Handkommentar zum Alten Testament“, erschienen 1901. Gunkel hielt die vorhandenen Genesiskommentare in dem, worauf es ankomme, für ungenügend: zu viel Philologie, Archäologie, Quellenkritik, zu wenig Erklärung des Sinnes, Darstellung der Religion. Auch er vernachlässigte das quellenkritische Problem nicht. Im Gegenteil, er versuchte die in die Genesis eingegangenen älteren Literaturwerke noch genauer herauszupräparieren als Wellhausen und erklärte die Texte sogar nach der Reihenfolge, die sie in diesen älteren Werken hatten. Aber das war ihm nicht die Hauptsache. Der Weg zum Verständnis führte für ihn über eine in engem Zusammenhang ästhetische und literaturgeschichtliche Betrachtung, die sich auf die Kunstform der verwendeten literarischen und vor allem vorliterarischen Gattungen zu richten hat. „Die Genesis ist eine Sammlung von Sagen“ – so beginnt die berühmte Einleitung des Kommentars, die dann ausführlich die Arten und die Formensprache dieser Sagen beschreibt und damit das Muster für alle spätere Analyse biblischer Gattungen geliefert hat. Entscheidender Bestandteil 15  Vgl. R. Conrad, Lexikonpolitik (2006) 306–09 und passim. 16  ChW 14 (1900) 60.

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der Aufgabe war dabei vom Genesiskommentar an, wenngleich Gunkel seine Methode erst in den folgenden Jahren ausdrücklich als solche entwickelte, die Bestimmung des „Sitzes“ jeder Gattung „im Leben“ als Schlüssel für ihr geschichtliches Verständnis. Gunkel rechnete nicht ohne Grund darauf, dass die trotz aller Anknüpfungen an die Vorgänger von Herder bis Wellhausen neue Fragestellung und die aus ihr folgende Lebendigkeit der Texterklärung dem Kommentar auch über den Kreis der Fachgenossen und der Theologiestudenten hinaus Leser verschaffen würden. Die Erwartung trog nicht; das Buch erlebte zu Gunkels Lebzeiten fünf Auflagen, nach seinem Tod vier unveränderte Nachdrucke – bei dieser „Gattung“ ein ganz ungewöhnlicher Erfolg. Dazu kam noch eine besonders auf die weiteren Kreise zugeschnittene kürzere Fassung in den „Schriften des Alten Testaments“ (zuerst 1911). Für Gunkel ist charakteristisch, dass er sich bei den Neubearbeitungen vielfach revidierte. Er sagte von sich: „Für Leute die eine Autorität haben wollen, bin ich eine unbequeme Autorität, weil ich mich so oft ändere.“17 Das bedeutete nicht leichtsinnige Experimentierlust und auch nicht, dass die Grundlinien nicht im wesentlichen die gleichen geblieben wären. Etwas anders verhielt es sich bei seinem Freund Hugo Greßmann, der ihm in den Berliner Jahren nahetrat und ihm dort 1907 als Extraordinarius nachfolgte. Gunkel beobachtete Greßmanns geschwinden Hypothesendrang nicht ganz ohne Sorge, wurde aber auf der anderen Seite von ihm so sehr angeregt, dass er die Begegnung mit Greßmann – nach derjenigen mit Eichhorn – das zweite große Glück seines Lebens nennen konnte18. Greßmann setzte Gunkels eschatologische Untersuchungen fort und behandelte in freier Anwendung der Gunkelschen Methode die Patriarchenerzählungen, die Mosesagen und die ganze ältere Geschichtsschreibung Israels. Auf die späteren Auflagen des Genesiskommentars und auf Gunkels weitere Arbeit an den erzählenden Gattungen wirkte er vor allem ein, indem er ihn auf die Probleme des Märchens und in diesem Zusammenhang auf W. Wundts „Völkerpsychologie“ hinwies. Hatten die ersten beiden Auflagen des Genesiskommentars auf den Spuren der Brüder Grimm die Mythen als den Anfang aller Erzählungen gesehen, so traten später die Märchen an die erste Stelle. Gunkel wendete schließlich in der Greßmann gewidmeten Schrift „Das Märchen im Alten Testament“ von 1921 diese Kategorie auf überraschend weite Gebiete des biblischen Erzählungsstoffes an. Im Genesiskommentar hat er diesen Wandel seiner Auffassung nur ungleichmäßig durchgeführt; eine geplante gänzliche Neubearbeitung, die das leisten und außerdem stärker das Zusammenwachsen der Einzelsagen zu „Sagenkränzen“ verfolgen sollte, ist nicht mehr zustandegekommen19. 17  Baumgartner (Anm. 1) 12. 18  ZThK 66, 4. 19  Vgl. H. Schmidt, ThBl 11 (1932) 103; Klatt, Hermann Gunkel 134; J.W. Rogerson, Myth in Old Testament Interpretation (1974) 57–65; auch Gunkel selbst im Nachtrag zu „Die israelitische Literatur“ (1925) 110f.

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Die literatur-, genauer gattungsgeschichtliche Arbeitsweise passte natürlich nicht nur auf die Erzählungen. Den ersten Anstoß hatte Gunkel auch gar nicht dort gewonnen, sondern bei den Psalmen, deren Formensprache sie zu dem in dieser Hinsicht ergiebigsten Stoff im ganzen Alten Testament macht. In den mittleren Jahren der Berliner Zeit schrieb er für weitere Kreise eine Anzahl von Psalmenerklärungen, die sich durchaus nicht auf das Formale beschränkten, sondern sich intensiv und mit viel Intuition – Gunkel konnte auch sagen, wer Jesaja erkläre, müsse träumen, er sei Jesaja20 – in die Frömmigkeit der Psalmisten hineinzuversetzen suchten. Die Sammlung dieser Erklärungen in den „Ausgewählten Psalmen“ von 1904 fand weite Verbreitung. Am wenigsten hat Gunkel im Detail zur Erklärung der Propheten beigetragen. Dass er darum für dieses Gebiet nichts bedeutet hätte, wäre aber ein großes Missverständnis. Die frühen Arbeiten zur Eschatologie hatten es ja zu einem großen Teil mit prophetischen Stoffen zu tun. In die Berliner Zeit fällt die schöne Übersetzung und Erklärung der Apokalypse 4. Esra21. Aber auch schon die Dissertation über die Wirkungen des heiligen Geistes galt Phänomenen, die für die Prophetie konstitutiv sind. Gunkel hatte damit sogar die zeitliche Priorität vor Bernhard Duhms berühmtem Jesajakommentar von 1892, der, offenkundig aufgrund langer Vorarbeit, das ekstatisch-irrationale Element zum erstenmal in der Prophetenexegese voll zur Geltung brachte. Wahrscheinlich hat Gunkel als Hörer Duhms von ihm in dieser Sache einige Anregung empfangen. Er selbst veröffentlichte 1903 einen Aufsatz über die „geheimen Erfahrungen“ der Propheten22, der von dieser Seite her ein Gesamtbild der Prophetie versuchte und der später, um eine grundlegende, die Gattungsgeschichte auch hier einbringende Übersicht über die Propheten als Schriftsteller und Dichter erweitert, der Erklärung der „großen Propheten“ durch Gunkels Schüler Hans Schmidt (1877–1953) in den „Schriften des Alten Testaments“ vorangestellt wurde. Die Pionierarbeit an den einzelnen Teilen des Alten Testaments drängte auf eine Gesamtdarstellung der altisraelitischen Literatur unter gattungsgeschichtlichem Gesichtspunkt. Die Gelegenheit dazu bot sich in dem von Paul Hinneberg herausgegebenen Sammelwerk „Die Kultur der Gegenwart“23. Leider ist es Gunkel später nicht mehr gelungen, die dortige Skizze von fünfzig Seiten – er gab sie 1925 noch einmal mit einem Nachtrag heraus24 – durch ein großes Buch zu ersetzen und damit womöglich, wie er gern sagte, das Testament des großen Herder zu vollstrecken25. 20  Baumgartner (Anm. 1) 14. 21 Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, hg. von E. Kautzsch (1900) II, 331–401. 22  Das Suchen der Zeit, Blätter deutscher Zukunft 1, 112–53. 23  I, 7 (1906). 24  Neudruck 1963. 25  Vgl. das Vorwort zur 3. Aufl. der „Genesis“. Zur Sache: M. Witte in U.E. Eisen/E.S. Gerstenberger (Hgg.), Hermann Gunkel Revisited (2010), 21–51.

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Sieht man auf die staunenswerte Arbeitsleistung der Berliner Jahre und auf ihr Echo bei den Studenten und im Publikum, dann könnte man vermuten, Gunkel sei damals von Hochgefühl erfüllt gewesen. Doch das war nicht der Fall. Er erschien als „ein nervöser Mensch, ständig niedergedrückt und verbittert“26; auch in den gedruckten Äußerungen schwingt das oft mit. Gunkel fühlte sich, und manchmal zweifellos mit Grund, von den älteren Fachgenossen ungerecht behandelt, er hatte noch kein Ordinariat und lebte finanziell in unzureichenden Verhältnissen – dies auch ein Motiv für die vielfältige Produktion und Vortragstätigkeit. In Berlin wurde er, wenn dazu Gelegenheit schien, nicht befördert, 1900 entging ihm der Marburger Lehrstuhl nur knapp. So kam nach dem Tod Bernhard Stades Ende 1906 der Gießener Ruf wie eine Erlösung27. In Gießen war es nicht schwierig, sich auf Gunkel als ersten auf der Vorschlagsliste (danach Bertholet, Beer und Steuernagel) zu einigen. Das einzige Problem lag in der Person von Stades Schüler Friedrich Schwally (1863–1919), der am Ort saß und sich Hoffnungen machte, die er nicht freiwillig aufzugeben bereit war. Zudem war er Gunkel als Semitist zweifellos überlegen. Die Fakultät ließ sich dadurch nicht beirren und schlug mit großem Nachdruck – auch in der Erwartung, dass Schwally ihn nach der philologischen Seite gut ergänzen würde – Gunkel vor. Dessen wirksamster Fürsprecher war Karl Budde in Marburg gewesen, der Gunkel dort 1900 vorgezogen worden war. Zwar stellte er in Übereinstimmung mit manchen anderen Beobachtern, darunter auch dem verstorbenen Stade, bei Gunkel „Schattenseiten“ fest: die Schwächen in der Philologie, „etwas Impulsives, Impressionistisches, womit er leicht über die Grenzen des Beweisbaren oder doch Bewiesenen hinausschießt“, und, damit zusammenhängend, „das starke individuelle Bewußtsein“, „vermöge dessen er etwa dazu neigt, fremde Vor- und Mitarbeit zu übersehen oder nicht ausreichend zu würdigen“. Gunkel genoss auch bei Leuten, die in keinem Richtungsgegensatz zu ihm standen, nicht nur Wohlwollen. Schon äußerlich, wie W. Baumgartner berichtet28, eine „eher spießbürgerliche Figur […] mit Hängebacken und einem […] langen Schnurrbart“, war er nicht für jedermann anziehend. Aber das von manchem als übersteigert empfundene Selbstbewusstsein war wohl auch die Reaktion auf Unterschätzung und ungerechte Behandlung, und wer wollte ihm angesichts der unbestreitbar großen wissenschaftlichen Leistung alles Recht absprechen? Dazu kam, dass, wie Budde selbst hinzufügte, Gunkel in hohem Grade bereit war, „zu lernen, Fehler einzugestehen und zu berichtigen“. Und die hervorragenden Eigenschaften des Forschers und Lehrers wogen auch in den Augen eines wissenschaftlich in vielem anders Denkenden 26  Dibelius (Anm. 12) 60. 27  Das Folgende nach den in der Gießener Universität befindlichen „Akten der Großherzogl. Landes-Universität zu Gießen betreffend: Die Wiederbesetzung der durch das Ableben des Gr. Geheimen Kirchenrats Professor D. Dr. Stade in Erledigung gekommenen ordentlichen Professur in der theologischen Fakultät durch Professor Dr. Gunkel in Berlin.“ 28  (Anm. 1) 2.

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wie Budde die „Schattenseiten“ bei weitem auf. „Alles in allem genommen würde Gießen“, so schloss Budde seinen Rat, „mit Gunkels Berufung sicher eine glänzende Vertretung des Fachs, eine wirkliche Zugkraft erhalten, einen Mann, der auch die Aussicht einer Entwicklung über sich hinaus eröffnet.“ Das hat sich bewahrheitet. Wie sein Vorgänger Stade, dessen universitätspolitisches Temperament er freilich nicht besaß, hat Gunkel für Rang und Ruf der Gießener Fakultät in der erheblich kürzeren Zeit seines dortigen Wirkens viel bedeutet. Seine Verdienste fanden nun auch offiziell immer mehr Anerkennung, so durch die Verleihung eines philosophischen Ehrendoktors aus Breslau und eines theologischen aus Oslo, beide 1911. Trotz der Not der Kriegszeit, die natürlich auch an ihm nicht vorüberging, hat er die Gießener Jahre die schönsten seines Lebens genannt29. Er hatte zwar viel weniger Studenten als in Berlin und sie erschienen ihm geistig unbeweglicher, aber die Verhältnisse in der Fakultät waren – bei deren einigermaßen homogen liberalem Charakter kein Wunder – harmonisch, die Beziehungen in die anderen Fakultäten gut. Wenngleich der Schülerkreis weniger später klangvolle Namen aufwies als in Berlin, kamen doch bereits einigermaßen „fertige“ Leute wie der Norweger Sigmund Mowinckel und der Schweizer Walter Baumgartner eigens nach Gießen, um von Gunkel zu lernen. Wer es ernst meinte, dem öffnete er sich bereitwillig, dem erzählte er und den ließ er an seiner Arbeit teilhaben. Diese Arbeit galt in der Gießener Zeit, nachdem die „Religion in Geschichte und Gegenwart“ fürs erste abgeschlossen war, überwiegend den Psalmen. Im Jahre 1912 bat ihn der Verleger Gustav Ruprecht, die Neubearbeitung dieses biblischen Buches im „Göttinger Handkommentar“ zu übernehmen. In der Tat lag es nahe, dass der Begründer der gattungsgeschichtlichen Methode an deren dankbarstem Gegenstand die Analyse bis in die Einzelheiten selbst vornahm. Er war hier länger und besser vorbereitet als seinerzeit bei der Genesis, und so ahnte er, wie er später berichtete, nicht, „welche furchtbare Last von Arbeit ich mit dieser Zusage auf meine Schultern nahm“. Die gelehrte Literatur war bei dem für die Kirche wichtigsten Buch des Alten Testaments eher noch umfangreicher als bei der Genesis, die textkritischen und philologischen Probleme mussten hier gerade Gunkel große Schwierigkeiten machen. „[…] wie lange hat es manchmal gedauert, bis ich mit mir selber einig war, wie die einzelne schwierige Stelle oder das ganze Gedicht oder nun gar die gesamte Geschichte des Psalmengesangs aufzufassen seien. Wie oft habe ich mich gefragt, ob es mir überhaupt vergönnt sein würde, das Ende der Arbeit zu sehen.“30 Er sah es erst 1926, und auch da nur, weil er die zusammenfassende Einleitung aus dem Kommentar herausnahm und zu einem eigenen Werk machte – das erst nach seinem Tode vollendet werden sollte. 29  Baumgartner ebd. 8. 30  Die Psalmen (1926) VI. – Zur Problematik dieser Arbeit vgl. von der Textkritik her St. Schorch, Gunkels Konjekturen, in Waschke (Anm. 1) 85–105.

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So fiel der Abschluss der Gießener Zeit nicht mit einer Zäsur in seiner gelehrten Arbeit zusammen. Ein tiefer Einschnitt war dagegen der Tod Wilhelm Boussets, dem er am 9. Mai 1920 die Gedächtnisrede halten musste. Dass die gerade begonnene Zusammenarbeit mit dem ihm kongenialen Religionsgeschichtler im neutestamentlichen Nachbarfach so jäh abbrach, hat Gunkel den Fortgang aus Gießen sicherlich erleichtert. Die Hoffnung auf einen größeren Wirkungskreis – er wurde in Heidelberg und Tübingen von den Fakultäten vorgeschlagen, aber von den Regierungen nicht berufen – wurde ihm 1920 durch einen Ruf nach Halle erfüllt. Der jetzt in den Personalien der preußischen Universitäten maßgebende Carl Heinrich Becker (1876–1933) hatte sich damit über den Wunsch der dortigen Fakultät hinweggesetzt, die Gunkel einhellig nicht wünschte. Gunkel seinerseits wäre lieber nach Berlin gegangen, was beim nunmehrigen Wohlwollen des Ministeriums gegenüber der religionsgeschichtlichen Schule auch zeitweise nicht als unmöglich erschien. Aber er fand sich mit Halle ab und Halle mit ihm31. In der alttestamentlichen Tradition des Ortes bedeutete er nach Wilhelm Gesenius den zweiten großen Höhepunkt. 1923 wurde ihm eine ungewöhnlich gewichtige zweibändige Festschrift überreicht, die den Titel Eucharisterion trug; der erste Band stammte von Alt-, der zweite von Neutestamentlern. Es war gut, dass man mit dieser Ehrung nicht bis zu Gunkels 70. Geburtstag gewartet hatte; denn ihn sollte er nicht mehr erleben. Um die Mitte der zwanziger Jahre ließen seine Kräfte nach. Beschwerden der inneren Organe und Arteriosklerose bewogen ihn 1927, sich emeritieren zu lassen und sich fortan mit einem Lehrauftrag für alttestamentliche Literaturgeschichte zu begnügen; seinen Lehrstuhl übernahm Hans Schmidt, der ihm auch schon in Gießen nachgefolgt war. Er selbst musste alle weiteren literarischen Pläne, darunter den einer Autobiographie, aufgeben und sich, von der Neuauflage der „Religion in Geschichte und Gegenwart“ abgesehen, auf die „Einleitung in die Psalmen“ konzentrieren. Aber auch sie überstieg bald seine Kräfte. Er beteiligte fortschreitend den besten Schüler der Hallenser Zeit, Joachim Begrich (1900–45), an der Arbeit und legte schließlich Weihnachten 1931 die Vollendung des Werkes ganz in dessen Hände. Bald danach besuchte ihn an seinem letzten Krankenlager der neuberufene Praktische Theologe Günther Dehn (1887–1970), dem aufgrund seiner Äußerungen zum Kriegsproblem die Fakultätskollegen die kalte Schulter zeigten und eine politisch fanatisierte Studentenschaft die Lehrtätigkeit zur Qual machte – ein Vorspiel künftiger Zeiten. Gunkel war für Dehns Haltung aufgeschlossen; sein angestammter Patriotismus hatte ihn nicht gehindert, gegen Kriegsende viel Schuld an der deutschen Lage bei der eigenen Staats- und Heeresleitung zu finden und sich dann dem Weimarer Staat vertrauensvoll zur Verfügung zu stellen. Er erklärte sich mit Dehn solidarisch und bedauerte, nichts mehr für 31  Vgl. v. Rabenau (Anm. 7) 438–44.

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ihn tun zu können. Über seinen eigenen Zustand berichtete er illusionslos32. Am 11. März 1932 ist er gestorben. Im folgenden Jahr erschien die „Einleitung in die Psalmen“, die, wenngleich nicht mehr ganz aus seiner Feder, neben dem Genesiskommentar als das zweite seiner klassischen Werke gelten darf. Die Grundthesen über den Sitz der Psalmen im Leben waren, zumal in der Abwandlung durch Mowinckel, der, zu Gunkel ähnlich stehend wie Marx zu Hegel, den Kultus als diesen Sitz im Leben bestimmte, Ausgangspunkt für die Arbeit mehr als einer Generation. Wenn dabei Irrwege gegangen wurden, lag es nicht zuletzt daran, dass man zwar Gunkels Namen beschwor, aber nicht das Gleichgewicht von Intuition und Methode halten konnte, das die biblische Exegese bei diesem Mann zu einer wahrhaft ästhetischen Tätigkeit gemacht hatte.

32  Vgl. G. Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre (1964) 279.

Alfred Rahlfs 1865–1935

In einem Gespräch mit Robert Hanhart über seine Göttinger Jahre (1921–25) äußerte Karl Barth, er sei nur bei zwei seiner damaligen Kollegen sicher, dass sie in den Himmel kämen, nämlich bei Walter Bauer (1877–1960) und Alfred Rahlfs; diese beiden wollten keine großen Theologen sein, arbeiteten aber an etwas Gutem und Nützlichem, der eine an einem Wörterbuch zum griechischen Neuen Testament, der andere an einer Ausgabe der Septuaginta. Das war in erster Linie ein – ziemlich scharfes – Urteil über den damaligen Zustand der theologischen Fakultät, in zweiter Linie aber doch auch eins über die beiden Gelehrten und ihre Werke, und da hat es sich schlagend bestätigt: Bauers Wörterbuch und Rahlfs’ Septuaginta sind in geringfügigen Überarbeitungen noch heute nahezu konkurrenzlos weltweit im Gebrauch. Es fügte sich, dass 1935 Bauer in der Göttinger Gesellschaft – heute Akademie – der Wissenschaften den Nachruf auf Rahlfs vorzutragen hatte1. In ihm, dem Muster eines würdigen akademischen Nekrologs, bleibt Rahlfs als Person merkwürdig blass, was kaum nur an Bauer gelegen hat, dem es eine Lust war, Kollegen mit Witz und Farbe zu charakterisieren. Anders als Bauer selbst verschwand Rahlfs hinter seinen Aufgaben, richtiger: seiner einen Aufgabe. Ein Leben für die Septuaginta! Otto Alfred Rahlfs wurde am 29. Mai 1865 in dem damaligen Dorf Linden bei Hannover geboren, als Sohn des Kantors und Lehrers, später Hauptlehrers Georg Rahlfs und dessen Frau Ottilie, geb. Brüel. Den ersten Unterricht wird er bei seinem Vater genossen haben, bevor er von 1873 an das Gymnasium Lyceum II in Hannover besuchte. Den täglichen Fußmarsch von Linden zum Georgsplatz hatte vielleicht zwei Jahrzehnte vorher auch schon sein späterer Fachgenosse Julius Wellhausen gemacht, der dasselbe Gymnasium besuchte, weil es in seiner Vaterstadt Hameln noch keins gab und er in dieser Zeit wohl in Linden wohnte, wo sein Vater, Großvater und Urgroßvater zu Hause gewesen waren und nach wie vor einige Wellhausens lebten. Damals war Hannover noch Residenz eines Königreichs; ob die Degradierung zur preußischen Provinz1  W. Bauer, Alfred Rahlfs, NGWG Jahresbericht über das Geschäftsjahr 1934/35, 60–65 = Rahlfs, Septuaginta-Studien (1965) 11–16.

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hauptstadt 1866, ein Jahr vor Alfred Rahlfs’ Geburt, in dessen Familie so katastrophal empfunden wurde wie in vielen anderen Hannoverschen Familien, auch bei den Wellhausens, wissen wir nicht, so wie wir auch von seiner eigenen politischen Haltung nichts wissen. Von der Musikalität seines Kantor-Vaters scheint er etwas mitbekommen zu haben: in Göttingen „spielte“ er mit Frau Wellhausen zusammen – sie Klavier, er Geige2. 1883 verließ er das Gymnasium, um in Göttingen Theologie zu studieren. Das Reifezeugnis3 bescheinigte ihm „stetige Aufmerksamkeit und gewissenhaften, gründlichen Fleiß“, dazu ein „sittliches Verhalten“, das „stets lobenswert, höchst zuverlässig“ war. Seine Leistungen wurden überwiegend als „gut“ bewertet, als „sehr gut“ in Religion, Griechisch und Hebräisch, den wichtigsten Fächern für einen Theologen im Allgemeinen, einen Septuagintaforscher im Besonderen; aber Rahlfs wollte schlicht Pfarrer werden. Von den sechs Semestern des damals üblichen „Trienniums“ verbrachte er fünf in Göttingen, eins in Halle4. Die Göttinger Theologen, bei denen er am meisten und wohl auch am liebsten hörte, waren Ritschl mit Dogmatik, Ethik und neutestamentlicher Theologie, Reuter mit dem gesamten Turnus der Kirchengeschichte und, keinesfalls zu vergessen, Duhm mit Psalmen, Einleitung und Eschatologie (letztere zunächst biblisch, nach vier Semestern noch einmal paulinisch). In dem Hallenser Wintersemester suchte er sich einige Rosinen heraus, indem er Beyschlag, Riehm, Kähler und den Privatdozenten Karl Müller hörte. Abstecher in die Philosophie machte er in Göttingen unter Baumann und Georg Elias Müller, in Halle unter Rudolf Haym, in die deutsche Philologie in Göttingen unter Karl Goedeke und dem Privatdozenten Edward Schröder. Dies alles deutet auf ein normales Theologiestudium von vielleicht überdurchschnittlichem Geschmack hin, aber noch nicht auf den späteren Alfred Rahlfs. Doch auch diesen gab es schon, und zwar seit einem genau fixierbaren Zeitpunkt; die Schlüsselfigur, Paul de Lagarde (1827–91), Ewalds Nachfolger und Wellhausens Vorgänger auf dem orientalistischen bzw. semitistischen Lehrstuhl, hat später geradezu feierlich den Satz zu Protokoll gegeben: „Rahlfs ist seit Ostern 1885 mein Schüler.“5 Hören wir Rahlfs selbst! „Ich habe bei Lagarde zuerst in meinem fünften Semester [Sommer 1885] gehört, und zwar Syrisch. Lagarde hatte diese Vorlesung für Hermann Gunkel angekündigt und erwartete, nur ihn in dem minimalen Hörsaal, in welchem er solche Vorlesungen hielt, vorzufinden. Beim Eintreten sah er auch mich da sitzen, schoß auf mich zu und fragte: ‚Was wollen Sie denn hier?‘ Bestürzt erwiderte ich, ich wolle Syrisch hören. Darauf Lagarde: ‚Was wollen Sie denn damit?‘ Nun sagte ich, ich hätte gehört, daß Kenntnis 2  J. Wellhausen, Briefe (2013) 322. 3  Univ. Arch. Göttingen, Rep.-Akte, Theol. SA 0056.2. 4  Abgangszeugnisse Göttingen 1884 Nr. 384, 1886 Nr. 143. Für Halle vgl. den Lebenslauf in der Göttinger philos. Promotionsakte. 5  Univ. Bibl. Cod. MS Lagarde 149 (150:949).

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des Syrischen für die Erklärung der Bibel und für die alte Kirchengeschichte nützlich sei, und da ich mich als Theologe für beides sehr interessiere, hätte ich es für zweckmäßig gehalten, auch Syrisch zu lernen. Darauf gestattete mir Lagarde, vorläufig dazubleiben, bestellte mich aber in sein Haus, wo er mit mir noch weiter darüber sprechen wolle. Nicht ohne Herzklopfen meldete ich mich dort; er sprach mit mir eingehender über meine Arbeiten und meine Absichten und gab mir dann, durch diese Aussprache offenbar befriedigt, endgültig die Erlaubnis, an der Vorlesung teilzunehmen. Lagardes Unterricht fesselte mich dann sehr, und auch er fand Gefallen an mir. Er sagte mir später einmal, er hätte es mir immer an den Augen angesehen, wenn mir etwas, was er auseinandersetzte, eingegangen sei. Einmal allerdings wurde er auch ungehalten. Ich hatte den zu übersetzenden syrischen Text schon eine Woche vorher präpariert und nun nicht wieder angesehen; infolgedessen hatte ich einiges vergessen und blieb beim Übersetzen mehrmals stecken. Darüber wurde Lagarde sehr böse, ließ mich aufhören und strafte mich während des Restes der Stunde mit vollständiger Nichtbeachtung. Dies kränkte mich so, daß ich mich seitdem immer sehr sorgfältig präparierte. Am Ende des Semesters besuchte mich Lagarde, als ich krankheitshalber sein Kolleg nicht besuchen konnte, auf meiner Studentenbude, um sich nach meinem Ergehen zu erkundigen, und schickte mir dann am folgenden Tage 11 Bände seiner Werke zu meiner weiteren Ausbildung. Als ich am Anfang des folgenden Semesters wieder nach Göttingen kam, hatte Lagarde einen ganzen Zukunftsplan für mich entworfen, der darauf hinauslief, ich sollte das Doktorexamen, dessen Thema er schon bereit hielt, machen und später suchen, Inspektor des Göttinger Theologischen Stifts zu werden, was dann auch alles so geschehen ist.“6 Alles und noch mehr! Rahlfs absolvierte seine letzten beiden Semester und zog sich anschließend, im Frühjahr 1886, nach Linden ins Elternhaus zurück, um seine philosophische Dissertation zu schreiben und sich auf die Examina vorzubereiten. Die Dissertation bestand in einer Ausgabe der Anmerkungen zu den salomonischen Schriften im Bibelkommentar des Gregor Barhebraeus (Abulfarag) aus dem 13. Jahrhundert7 nach drei Handschriften, zweien in Berlin, einer in Göttingen, 29 Seiten syrischem Text, 5 Seiten Vorwort, 2 Seiten Anhang, ausschließlich die Formalien, nicht den Inhalt betreffend, nach dem Urteil eines Rezensenten „sehr sorgfältig, fast möchte man sagen allzu sorgfältig“. „Es ist“, sagt der Rezensent, „allerdings nothwendig, daß man die Zucht der peinlichsten Genauigkeit durchmache – dabei verdient Herr Rahlfs alles Lob –, aber mit Unwichtigem und Unnöthigem darf man den Leser doch ver6  A. Rahlfs, Paul de Lagardes wissenschaftliches Lebenswerk im Rahmen einer Geschichte seines Lebens dargestellt, MSU 4,1 (1928) 91f.; Gedächtnisrede zu Paul de Lagardes 100. Geburtstag, NGWG 1927/28, Gesch. Mitt. 74–89, hier 88f. 7  A. Rahlfs, Des Gregorius Abulfarag genannt Bar Ebhroyo Anmerkungen zu den Salomonischen Schriften (1887).

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schonen.“8 Am 1. Dezember 1886 ging das Manuskript nach Göttingen, am 8. Februar 1887 – Rahlfs war noch nicht 22 Jahre alt – fand das Rigorosum statt. Im Hauptfach „biblische Wissenschaft“ (eine Stunde) fragte ihn Lagarde „nach dem Unterschiede des Kanons der Juden und des alten Testaments“, „nach den Theilen des Alten Testaments, und den Gründen (historische theologische) für diese Eintheilung“, dann „nach dem Zustande des Texts – Archetypus der Juden, Mittel ihn zu kontrollieren, Emendation“, dann nach „den ältesten und jüngsten Theilen der einzelnen Theile des A.Ts (Deutero-Zacharias, Psalm 68, Exodus Ende)“, schließlich „nach dem Stande der Pentateuchkritik“. Den Beschluss machte das Lesen und Übersetzen einer prosaischen und einer metrischen Stelle aus Harizi. Als zweites Fach hatte Rahlfs die Philosophie gewählt, ˙ und der Prüfer, G.E. Müller, hatte ihm gesagt, er brauche dafür „nur Kants 3 Kritiken studiert zu haben“. Aber da er dort „bei jedem Satze stolperte“ und „durch Einpauken von Kompendien nichts ordentlich“ verstand, hatte er „die hauptsächlichsten Werke auch der älteren Philosophen“, die ihm leichter erschienen als Kant, in deutscher Übersetzung gelesen – letzteres aus Zeitmangel und ungern. In der halbstündigen Prüfung stellte Müller „gutes Verständnis und sehr lobenswerthe Kenntnisse“ fest. Das Gesamturteil war „summa cum laude“9. Mit gleichem Resultat („ausgezeichnet“) brachte er im Herbst das erste theologische Examen hinter sich, um sich danach noch ein Jahr privaten Studien im Elternhaus zu widmen; durch Unterricht verdiente er nebenher etwas Geld. In steter brieflicher Fühlung mit Lagarde arbeitete er den im Rigorosum berührten Harizi durch, dazu Syrisches, die Anfangsgründe des Arabischen nach ˙ Socins Grammatik, natürlich auch das Alte Testament, daneben Kirchengeschichte, aber ausdrücklich nicht Dogmengeschichte, Dogmatik und Philosophie10. Und zum zweiten Mal stellte Lagarde ein Dissertationsthema, diesmal für die theologische Lizentiatenprüfung, bei der formell nicht er, sondern der Alttestamentler und Systematiker Hermann Schultz (1836–1903), Ritschls Parteigänger in der Fakultät, zuständig war. Lagarde schlug eine Untersuchung des Wortpaars ‫ ָע ִני‬und ‫ ָע ָנו‬vor, das man mit „arm“, „demütig“ u.ä. zu übersetzen pflegt. Rahlfs fing an, konnte sich aber mit Lagardes Ableitung aus dem Aramäischen nicht befreunden und wollte daher hinwerfen, wovon Lagarde ihn energisch zurückpfiff: „Mich kränkt solcher Angriff im Mindesten nicht. Sie wissen selbst, daß ich als erste Pflicht fast ansehe, meine Schüler selbstständig zu machen. Also nur heraus damit.“11 Auch in einem zweiten Punkt, der schon in Lagardes erstem „Zukunftsplan“ vorgesehen war, hatte Rahlfs Beden8  L. Horst, ThLZ 13 (1888) 137. 9  Univ. Archiv Göttingen Phil. Fak. Dekanat Wagner 1886/87 II Promotionen Bd. I Nr. 24 S. 42a–g; Rahlfs an Lagarde 26.7.1886 (Nieders. Staats- und Univ. Bibl. Cod. MS Lagarde 150:949). 10  Vgl. seinen Brief vom 30.10.1887 (wie Anm. 4). 11  Brief vom 18.4.1888 (wie Anm. 4).

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ken, bei der Bewerbung um die Inspektorenstelle im Theologischen Stift: „es ist mir zweifelhaft, was die Herrn Theologen, die dann meine Vorgesetzten wären, dazu sagen würden, daß ich bei Ihnen in die Schule gehe, zumal sie schon bisher ein einigermaßen zweifelhaftes Gesicht machten, wenn einmal auf Sie die Rede kam, und einer von ihnen mich bekehren wollte, lieber mit Prof. Schultz über meine Dissertationsangelegenheiten Rücksprache zu nehmen.“12 Dazu Lagarde: „Sich um das Inspectorat des hiesigen theologischen Stifts zu bewerben, rathe ich Ihnen sehr […]. Die Theologen protestantischer Observanz können mir nicht gewogen sein, da ich den Protestantismus für abgelebt erklärt habe und erkläre. Schultz ist so schreiender Dilettant in Allem was er thut und treibt, daß gegen ihn ich allerdings auch andere Bedenken habe. Einige Nullen sind nicht fett genug, als daß ich sie beengen sollte.“13 Lagardes Wille geschah, und alles ging gut. Rahlfs bewarb sich, die Fakultät hatte keine Zweifel an seiner Qualifikation und beschloss lediglich, auf Antrag von Schultz, den Kandidaten noch eine Predigt in der Nikolaikirche halten zu lassen – was zwanzig Jahre vorher in gleicher Lage auch Julius Wellhausen widerfahren war. Aber darüber hinaus beantragte Ritschl schriftlich, „die vorliegende Sache in einer Sitzung zu verhandeln“, und Schultz sekundierte mit der Begründung: „Da derjenige der Herren Collegen, welcher H. Rahlfs entscheidend beeinflußt hat, noch jetzt wieder eine Schrift voll Schmähungen gegen den Stand der Theologen herausgegeben hat [in Klammern gibt Schultz kräftige Beispiele], so möchte ich wenigstens persönlich überzeugt sein, daß sein Schüler einen ev. Einfluß auf unsre Studenten nicht im Geiste seines Meisters ausüben wird.“ Die Sitzung scheint auch in Ritschls und Schultz’ Augen die Harmlosigkeit zwar nicht des Meisters, aber doch des Schülers ergeben zu haben, so dass diesem zum 1. Oktober 1888 für zwei Jahre das Stift anvertraut wurde14. Knapp ein Jahr nach dem Ende des Inspektorats, im August 1891, reichte er die Dissertation über ‫ ָע ִני‬und ‫ָע ָנו‬, nunmehr mit Beschränkung auf die Psalmen, ein und bat, damit zu Promotion und Habilitation zugelassen zu werden. Die Gutachter aus der theologischen und der philosophischen Fakultät, Schultz und Smend – ähnlich dann übrigens Budde in der Theologischen Literaturzeitung15 –, ließen sich von den literarkritischen, geschichtlichen und theologischen Thesen der Arbeit nicht überzeugen, wohl aber von den philologischen und textkritischen Fähigkeiten des Verfassers und so auch von dem Ergebnis, dass ‫ ָע ִני‬profane, ‫ ָע ָנו‬religiöse Bedeutung hat. Das Rigorosum am 31. Oktober erbrachte ein „magna cum laude“ in den biblischen Fächern und der Kirchengeschichte (bei Schultz, Wiesinger und Bonwetsch), ein „rite“ in der Systematischen (bei Haering), ein „cum laude“ in der Praktischen Theologie (bei Knoke) 12  Brief vom 13.4.1888. 13  Brief vom 18.4.1888. 14  Univ. Archiv Göttingen Theol. SA 0056.2. 15  18 (1893) 636f.

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und als Gesamtnote. Die letzte Promotionsleistung war der Übung gemäß die öffentliche Verteidigung von 14 Thesen am Samstag (!) dem 14. November nachmittags 4 Uhr gegen den Privatdozenten Wilhelm Bousset (1865–1920) und den nunmehrigen Stiftsinspektor Heinrich Hackmann (1864–1935) als Opponenten – beide mit mehr Grund als Rahlfs stereotyp zu den Gründungsvätern der Religionsgeschichtlichen Schule gerechnet. Ich greife sieben der Thesen heraus: Alle hebräischen Handschriften des Alten Testaments gehen auf Einen, relativ jungen Archetypus zurück, zählen daher bei der Feststellung des Textes nur als Ein Zeuge (I, bei dieser These wird Rahlfs die Disputation möglichst lange gehalten haben). Gen 1 ist antiparsistisch (III). Jes 1 ist aus mehreren, nicht zusammenhängenden Stücken zusammengesetzt (V). Eine hebräische Metrik lässt sich nicht schreiben (VII). Der Semipelagianismus ist die falsche Äußerung eines an sich richtigen Strebens (XI). Die Behauptung, dass auch die hebräische Punktation inspiriert sei, ist die unabweisbare Konsequenz der alten Inspirationslehre (XII). Die Gemeinde ist auf Grund der Ergebnisse der historischen Bibelforschung in ein besseres Verständnis der Bibel einzuführen (XIV). Im Anschluss an die Disputation wählte die Fakultät aus drei Vorschlägen des Petenten das Thema aus, über das er elf Tage später, am 25. November, seinen Habilitationsvortrag zu halten hatte. Die Vorschläge waren 1. Die Idee des Buches Jonas, 2. Spinoza als Alttestamentler, 3. Psalm 3716. Die Fakultät wählte, wie es meist zu geschehen pflegt, das erste. Wenige Wochen nach diesem doppelten Erfolg traf den frisch gebackenen Privatdozenten ein harter Schlag: der Tod Lagardes. Hier sein Bericht: „Mehrere Jahre lang habe ich das Glück genossen, im Lagardeschen Hause uneingeladen und ohne vorherige Anmeldung zum Abendessen mit ihm und seiner Frau kommen zu dürfen. Diese Stunden waren immer höchst anregend und genußreich. Hier gab er sich völlig ungezwungen, plauderte von allem möglichen und besprach mit mir auch alles, was sich auf meine persönlichen Verhältnisse bezog. So war ich bei ihm noch kurz vor dem Ende. Es war ihm wegen der bevorstehenden Darmkrebs-Operation eine besondere Diät verordnet, und es fiel mir auf, daß er, der sonst einen guten Appetit hatte, nur wenig aß. Ich fragte nach dem Grunde, erhielt aber eine ausweichende Antwort. Nach dem Essen ließ uns Frau Lagarde allein, und Lagarde zeigte mir seine im Druck befindlichen Werke und setzte mir auseinander, wie er sich die Fortsetzung derselben dachte. Das fiel mir auf, weil er derartiges sonst nie getan hatte. Aber ich ahnte nichts von der tödlichen Krankheit, und so dachte ich nicht weiter über jene auffällige Auseinandersetzung nach, die ich übrigens bei der Fülle des mir zum Teil noch fremden Stoffs auch nur teilweise verstanden hatte; erst nachher erfuhr ich, daß er mir die Aufgabe zugedacht hatte, diese Werke abzuschließen und herauszugeben“ – anders gesagt, in der nächsten, aber vielleicht auch in der ferneren Zukunft sein wissenschaftliches Erbe zu verwalten. 16  Univ. Archiv Göttingen Theol. Prom. 0204.

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Dieser Bericht steht in der Gedenkrede, die Rahlfs 1927 in der Feier der Göttinger Akademie zu Lagardes 100. Geburtstag gehalten hat und die die stark gekürzte Fassung einer zunächst zu diesem Anlass verfassten umfangreicheren Würdigung von „Paul de Lagardes wissenschaftlichem Lebenswerk im Rahmen einer Geschichte seines Lebens“ ist17. Walter Bauer hat mit Recht von einem „bleibenden Ehrenmal“ gesprochen. Es ehrt nicht nur den Lehrer, sondern auch den Schüler, der in vieler Hinsicht das genaue Gegenteil des Lehrers gewesen ist, was er aber, da zu seinen Tugenden die Bescheidenheit gehörte, nirgends sagt, obwohl es die Verwirklichung des Kernstücks der Pläne des Lehrers nach dessen Tod erst möglich gemacht hat. Lagarde ist in dieser Sache wohl nicht ganz ohne Einsicht und Ahnung gewesen, wie etwa die Rigorosität zeigt, mit der er Rahlfs zwang, eine begonnene Beschäftigung mit dem Sanskrit aufzugeben: der Schüler sollte sich nicht zersplittern, wie er selbst sich zersplittert hatte18. Bei der Lektüre der abschließenden Würdigung überrascht, wie distanziert, ja scharf und stellenweise geradezu vernichtend sich Rahlfs über Lagardes Arbeit ausgerechnet an der Septuaginta äußert und mit welcher Nüchternheit er ihm eine „kolossale Überschätzung der Septuaginta“ ankreidet19. Zur wichtigsten sachlichen Differenz wurde, dass Rahlfs immer mehr von dem „Lagardeschen Ideal eines Aufbaues nach den berühmten Rezensionen des Origenes, Lukian und Hesych“ abkam, mit der Begründung: „wenn wir vorwärtskommen wollen, müssen wir uns nicht von vorgefaßten Theorien, sondern lediglich von dem gegebenen Material leiten lassen“. Aber das ist 1926 geschrieben20; zur Zeit von Lagardes Tod lag bis dahin noch ein gutes Stück vor ihm. Lagardes Nachfolger wurde, ganz und gar nicht im Sinn des Verstorbenen, nach einsemestriger Vakanz Julius Wellhausen, bei dem Rahlfs alsbald arabische Texte las. Wellhausen schrieb als ersten Eindruck an seinen Freund Robertson Smith in Cambridge: „er hat guten Verstand und ist peinlich genau – ob er auch Ideen in seinem Kopfe hat, weiss ich nicht; er kommt mir etwas dürr vor“21. Ich füge dem ein späteres Urteil Wellhausens hinzu, im Februar 1907 an Harnack, in die Vorbereitungsphase des Göttinger Akademie-Unternehmens gehörig: „Ich schicke Ihnen das 2. Heft der LXXstudien von Rahlfs, mit der Bitte es zu behalten. Ich möchte Sie für das Buch und den Verfasser interessiren. Seinen Fleiß, Zuverlässigkeit, Sachlichkeit, fehlende Eitelkeit brauche ich nicht hervorzuheben. Aber bewundernswerth ist es, wie er es verstanden hat, das sperrige, spröde, unendlich zersplitterte Material zu ordnen. Ich habe das kaum je in solchem Maße empfunden, am wenigsten bei Lagarde, dessen LXXstudien sich überhaupt nicht von ferne mit denen seines Schülers messen können. […] 17  S.o. Anm. 6. Das obige Zitat: Lebenswerk 93f., Gedächtnisrede 88f. 18  Vgl. Rahlfs, Lebenswerk 93, Gedächtnisrede 88. 19  Lebenswerk 84. 20  Septuaginta I. Genesis, Vorwort; vgl. W. Bauer a.a.O. 64 (15). 21  Brief an W.R. Smith 6.11.1892 (Wellhausen, Briefe 293).

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Mir scheint, daß der Mann in die Lage gesetzt werden muß, eine Ausgabe der LXX zu machen […]. Zum Dozenten ist er nicht geboren (wenngleich wohl zum Unterricht). Aber für einen solchen wissenschaftlichen Arbeiter sollte doch in Preußen auch Platz und Geld vorhanden sein, zumal wenn der Gegenstand der Arbeit so wichtig ist.“22 In der Tat nahm der Unterricht in Rahlfs’ Veranstaltungsprogramm nicht weniger Platz ein als die Vorlesungen, die, er war ja schließlich Professor für Altes Testament, die landesüblichen biblischen Bücher behandelten, dazu Einleitung und Geschichte, aber nicht Theologie. Was er dort vortrug, ist unbekannt, da er über diese Themen nicht publizierte – vermutlich das damalige Durchschnittswissen in der wohlgeordneten, fasslichen Form, die ihm ebenso wie den Studenten Bedürfnis war; und es ist anzunehmen, dass er anders als die meisten seiner Fachgenossen mit dem jeweiligen Stoff durchkam, also am Semesterende in der Genesis nicht erst bei der Sintflut und in der Geschichte Israels bei König Salomo angelangt war. Es wäre nicht verwunderlich, wenn er mehr Hörer gehabt hätte als Wellhausen. Aber sein Herz schlug nicht hier, sondern in den Sprachkursen, die er unter der Bezeichnung „Unterricht im Hebräischen für Anfänger“ oder „Hebräische Grammatik für Anfänger“ von 1895 bis 1933 fast in jedem Semester hielt, in der Regel sommers 5stündig um 7 Uhr morgens, winters 4stündig zu späterer Zeit – mir fällt so schnell kein damaliger, geschweige denn heutiger Kollege ein, der sich dieser Aufgabe freiwillig unterziehen würde. Allerdings dürfte bei Rahlfs auch ein finanzielles Motiv beteiligt gewesen sein. Nach den Akten war er immer knapp bei Kasse, zumal nachdem er eine Familie gegründet hatte: 1902 heiratete er Julie Erythropel, Angehörige einer verzweigten hannoverschen Pastorenfamilie; dem Paar wurden fünf Kinder geschenkt, 1913 erwies sich ein Hauskauf als unumgänglich, man zog in ein Haus schräg gegenüber dem Lagardeschen, das die Witwe noch bewohnte, Friedländer Weg 10. Damals war Rahlfs seit zwölf Jahren außerordentlicher Professor, 1914 wurde er dann zum ordentlichen Honorarprofessor, 1919 zum persönlichen Ordinarius ernannt, das eine, um nicht hinter Alfred Bertholet, das andere, um nicht hinter Walter Bauer zurückgesetzt zu werden, die beide jünger waren als er; beide Ernennungen brachten kein höheres Gehalt. Wichtiger für die Wissenschaft war, dass tatsächlich „der Mann in die Lage gesetzt“ wurde, „eine Ausgabe der LXX zu machen“. „Platz und Geld“ fanden sich „in Preußen“, genauer natürlich in Göttingen, wo der Alttestamentler Rudolf Smend seit langem überzeugt war, dass Rahlfs „wie kein Zweiter den Beruf“ hatte, „die von Lagarde verlangte methodische Erforschung der Septuaginta in die Hand zu nehmen“23. Seit dem Frühjahr 1907 – nicht zufällig schrieb 22  18.2.1907 (Wellhausen, Briefe 501f.). 23  ThLZ 33 (1908) 132. Von Smend formuliert ist auch die Preisaufgabe der Beneke-Stiftung der Gesellschaft der Wissenschaften 1907 „Das Verhältnis des sog. Luciantextes der Septua-

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damals Wellhausen an Harnack – setzte Smend im Berliner Ministerium und in der Göttinger Gesellschaft (später Akademie) der Wissenschaften alle Hebel dafür in Bewegung, dass die Rahlfssche Arbeit einen institutionellen Rahmen bekam, und sie bekam ihn tatsächlich mit einer heute kaum mehr vorstellbaren Geschwindigkeit in Gestalt des „Septuaginta-Unternehmens“, das bereits am 1. April 1908 seine Arbeit aufnahm24. Es besteht unter vielfach veränderten Umständen noch heute, ohne dass seine Arbeit schon vollendet wäre, und noch heute steht im Garten von Friedländer Weg 10 ein kleines unscheinbares Extra-Häuschen, eher eine Laube, wie Jesajas „Hütte im Weinberg“; hier vor allem betrieb Rahlfs in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens, was schon lange fast unbemerkt und jenseits aller amtlichen Verpflichtungen sein Hauptgeschäft gewesen war: die von Lagarde übernommene Arbeit an der Septuaginta mit dem Ziel ihrer kritischen Edition. Hier entstanden die Vorstufen dieser Edition – 1922 Ruth, 1926 die Genesis, 1931 der Psalter –, hier erlebte Rahlfs die Einschränkungen und Bedrohungen, denen das Unternehmen bald ausgesetzt war und die sich auf verschiedene Weise noch lange fortsetzen und das endgültige Gelingen sogar über die Hundertjährigkeit hinaus verzögern sollten, hier krönte er aber auch seine unermüdliche eigene Arbeit mit der kurz vor seinem Tod 1935 erschienenen Handausgabe des Ganzen, die, außerhalb des Akademie-Unternehmens entstanden, doch für dieses und für alle übrige Septuaginta-Forschung bis auf weiteres das unentbehrlichste Arbeitsinstrument und, nebenbei, auch noch unter dem Namen Rahlfs–Hanhart ein schönes und schön zu lesendes Buch ist. In Dresden-Loschwitz zeigt man das Gartenhaus, in dem Schiller den Don Carlos vollendet hat, in Salzburg ein Lusthäuschen, in dem Mozart, als es noch in Wien stand, Teile der Zauberflöte komponiert haben soll – tertium datur, und zwar in Göttingen; denn wer wollte behaupten, dass die Septuaginta niedrigeren Ranges wäre als der Don Carlos und sogar die Zauberflöte? Und von Rahlfs dürfte immer noch gelten, was ein Jahr nach seinem Tod ein kritischer Freund des Göttinger Unternehmens gesagt hat: „Wo wir auf seinen Schultern weiter kommen, betreten wir Land, das er gesehen hat.“25

ginta zu der ihm zu Grunde liegenden Überlieferung“ und deren Beurteilung NGWG. Gesch. Mitteilungen 1910, 35–40. 24  Vgl. dazu R.G. Kratz und B. Neuschäfer, Die Göttinger Septuaginta. Ein editorisches Jahrhundertprojekt, MSU XXX (2013). Dort 273–328 der Briefwechsel zwischen Rahlfs und Lagarde, hg.v. Ch. Schäfer. 25  P. Katz, ThLZ 61 (1936) 268. – Zu Rahlfs jetzt Ch. Schäfer, Alfred Rahlfs (1865–1935) und die kritische Edition der Septuaginta (2016).

Alfred Bertholet 1868–1951

Als „unseren Vater“ redete ihn 1938 der große Gerardus van der Leeuw (1890– 1950) im Namen der Religionshistoriker an1. Dabei war und blieb Alfred Bertholet Alttestamentler, ein Alttestamentler allerdings von ungewöhnlicher thematischer Weite. Auch sonst charakterisiert ihn Weite, den Grandseigneur mit dem mächtigen Kopf und der kraftvollen Handschrift, den Bürger von Basel, Aigle, Villeneuve und Roche, den Schweizer in Deutschland, den Basler Studenten, der Jacob Burckhardt hörte, den Berliner Professor, dessen Violinspiel Max Planck am Klavier begleitete. Seine älteste Erinnerung waren Basler Fasnachtstrommeln, die jäh seinen kindlichen Schlaf unterbrachen2. Das geschah in dem schmalen siebenstöckigen Haus „am Bäumlein“ in der Augustinergasse über dem Rhein, wo er zusammen mit seiner Schwester eine glückliche Jugend hatte. Der Vater, Französischlehrer und später Konrektor am Gymnasium, sprach zu Hause nur französisch, so dass die Kinder zweisprachig aufwuchsen. Die Bertholets waren eine Honoratiorenfamilie im waadtländischen Aigle. Dort verbrachte Alfred Bertholet alle Schulferien bei Tanten und Cousinen, dort hatte er noch bis 1945 einen Restbesitz an Reben. „Wein war ein Teil seiner Kultur“, berichtet sein Enkel. Die Musikalität kam von der Mutter, die mütterlicherseits aus der großbürgerlichen Familie von Mayr in Arbon am Bodensee stammte; auch dort war Alfred Bertholet zu Hause. Ein kompromisslos orthodoxer Konfirmandenunterricht bestimmte ihn, das Fach der Theologie zu wählen. Er studierte außer einem Straßburger und einem Berliner Semester in Basel. In Straßburg beeindruckte ihn Friedrich Spitta (1852–1924), in Berlin Adolf Harnack (1851–1930), in Basel nannte er 1  In der gedruckten Glückwunschadresse „Alfred Bertholet […] grüßen bei seinem Eintritt in das 15. Lustrum seine Freunde, Kollegen und Schüler“. 2  A. Bertholet, Erinnerungen eines Musikfreundes (1950) 6. Das Biographische im Folgenden weitgehend nach den „Personalien, vom Verstorbenen im Jahre 1948 aufgezeichnet“ in dem nach seinem Tod gedruckten Gedenkheft, das außerdem die Ansprache von Ed. Thurneysen und die Gedenkreden von W. Baumgartner (in Basel) und L. Rost (in Berlin) enthält (letztere etwas verändert auch in ThLZ 77 [1952] 114–18). Für wertvolle Mitteilungen bin ich außerdem Bertholets Enkel Prof. Dr. Andreas Tammann in Basel zu Dank verpflichtet.

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die Alttestamentler Rudolf Smend3, Konrad von Orelli (1846–1912) und „ganz besonders“ Bernhard Duhm seine Lehrer; sie veranlassten ihn auch, in Straßburg bei Theodor Nöldeke (1836–1930) Arabisch zu treiben. Das Leben kam darüber nicht zu kurz. Er war Mitglied der „Zofingia“ und öffnete, tolerant wie er war, in deren Basler Sektion als Präses Abstinenzlern den Zugang. Vor allem musizierte er. Er spielte die Geige, zeitweise im großen Orchester der Allgemeinen Musikgesellschaft, und beteiligte sich während seiner gesamten Basler Zeit am musikalischen Leben der Stadt. Der Gymnasiast sang Brahms’ Parzenlied unter dem Dirigat des Komponisten mit und wurde von diesem unter Schulterklopfen als „tapferer kleiner Sänger“ angeredet, der Dozent war Präsident des Münsterchors und Administrator der Musikschule und des neugegründeten Konservatoriums, wo er Ferruccio Busoni als Leiter eines Meisterkurses zu begrüßen hatte und unter den Schülern den Pianisten Edwin Fischer (1886–1960) kennenlernte, mit dem er bis ins Alter verbunden blieb. Beim Deutschen Tonkünstlerfest, das 1903 in Basel stattfand, war er der Quartiermeister; durch seinen eigenen Gast, den späteren Thomaskantor Karl Straube, kam er mit Max Reger in Beziehung. Von den Basler Freunden seien der Theologe Carl Albrecht Bernoulli (1868–1937) und der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin (1864–1945) genannt. Einer anderthalbjährigen Pfarrerstätigkeit an der holländisch-deutschen Gemeinde in Livorno, gleich nach dem zweiten theologischen Examen und der Ordination angetreten, machte lebensgefährliche Krankheit ein Ende. Die lange Zeit der Genesung nutzte er zu wissenschaftlicher Arbeit, wie sie ihm längst als Ziel vor Augen gestanden hatte. Er löste eine 1893/94 von der Basler Fakultät ausgeschriebene Preisaufgabe und arbeitete das Resultat zu einer Dissertation aus, mit der ihn die Fakultät 1895 promovierte und 1896 auch habilitierte. Das Thema stammte von Duhm, der Rang des 1896 unter dem Titel „Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden“ erschienenen Buches, mit 368 Seiten für eine damalige Dissertation ungewöhnlich umfangreich, rechtfertigte seine akademische Doppelverwendung vollauf. Motiv und Ergebnis der Untersuchung lassen sich nicht besser zusammenfassen, als es der Autor im Vorwort getan hat. Er betont ihren theologischen Charakter und erläutert: „Worauf wir ja als Theologen bei all unserer Arbeit, selbst auf entlegeneren Gebieten, im tiefsten Grunde unser Absehen richten, ist das Christentum dem wissenschaftlichen Verständnis um etwas näher zu bringen. Das ist auch der letzte Zweck, der mir bei der vorliegenden Untersuchung vorgeschwebt hat. Es gilt als etwas Selbstverständliches vom Universalismus des Christentums zu reden. In wiefern ist nach dieser Seite die israelitische und die jüdische Religion die Vorbereitung auf dasselbe gewesen? Und wenn im Judentum 3  Von ihm berichtete er später, dass er sein „erstes tieferes Interesse am Alten Testament zu wecken verstanden hatte“ (Brief an R. Smend jun. 14.4.1940).

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selber Keime zum Universalismus lagen, warum ist es nicht ihm, sondern doch erst dem Christentum gelungen, sich die Welt zu erobern? Gerade aus diesem Unterschiede muß ein helles Licht auf das Wesen des Christentums fallen – aber zugleich freilich auch auf das Wesen des Judentums; und das ist der nächste Zweck, der mich bei meiner Arbeit geleitet hat. Ja, es dürfte sich vielleicht zeigen, daß nicht leicht etwas in gleichem Maße dazu geeignet ist, den Charakter der nomistischen Religion scharf hervortreten zu lassen, wie eben die Untersuchung der Frage nach der Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden, macht doch gerade hier der Anbruch der theokratischen Periode mit der Einführung der deuteronomischen Verfassung einen besonders tiefen Einschnitt; denn während in der alten Zeit […] die Stellung der Israeliten zu den Fremden keine wesentlich andere ist als die aller anderen Völker, bahnt sich mit dem allmählichen Aufkommen des Gesetzes auf einmal eine merkwürdige Umwandlung an. Aus den ausländischen Fremden, den ‚Völkern‘, werden ‚Heiden‘; aus dem inländischen Fremden, dem ‚Ger‘, wird der ‚Proselyt‘. Die Auffassung, die sich darin kundgiebt, ist die, daß Religion sich in einer Verfassung darstelle. Sie kommt zur Herrschaft durch den Sieg der Sache Esras und Nehemias, und der Verlauf der weiteren Geschichte auf palästinensischem wie auf hellenistischem Boden führt uns schließlich nur zur Erkenntnis, daß die Juden allen zeitweiligen universalistischen Motiven zum Trotz unfähig waren, mit dieser physisch beschränkten Auffassung zu brechen: darum fiel ihnen auch die Welt nicht zu.“ Es ist deutlich: hier wird Julius Wellhausens differenzierende Sicht von Israel und dem Judentum an einem wichtigen Gegenstand erprobt und bestätigt. Bertholets Monographie bildet den Ausgangspunkt aller seitherigen Untersuchungen zu diesem Gegenstand, auch wo man ihren „weiten ideengeschichtlichen Horizont“4 nicht übernahm oder in den philologisch-historischen Einzelfragen zu anderen Ergebnissen gelangte. Ein überzeugender Ausgangspunkt war sie aber auch für die akademische Karriere ihres Verfassers. Sie blieb nicht lange allein. Das Manuskript war noch nicht beim Verlag, da erzählte Bernhard Duhm seinem Schüler, Karl Marti in Bern sei vom Verleger Siebeck gefragt worden, ob er einen „ganz kurz gefaßten“ Kommentar zum Alten Testament herausgeben wolle, und ermunterte ihn, Marti seine Mitarbeit anzubieten. Bertholet tat das5 und erhielt eine freundliche Antwort6, die ihm sogar die Äußerung bestimmter Wünsche anheimstellte. Er „verbat“ sich daraufhin das Hohelied und erinnerte daran, dass er sich in seiner Dissertation mit Ruth und Jona beschäftigt habe7. Aber Marti hatte mit dem 27jährigen Größeres vor: er bot ihm das Buch Ezechiel an. Bertholet sagte ohne langes Zögern zu 4  Ch. Bultmann, Der Fremde im antiken Juda (1992) 10. 5  Brief an Marti 27.8.1895 (Burgerbibliothek Bern, Nachlass Marti; dort auch die im Folgenden zitierten Briefe). 6  Sie ist wie der größte Teil von Bertholets schriftlichem Nachlass nicht erhalten. 7  Brief vom 4.9.95.

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und begründete das mit seiner Arbeitsökonomie: „Ich habe mir nämlich überlegt, daß ich mich auf eine solche größere Arbeit auch viel besser concentrieren könnte als auf eine kleine, weil sie mir zugleich Stoff böte zu einem ersten Colleg, unter Umständen sogar auch zur Habilitationsvorlesung, so daß ich ziemlich meine ganze Arbeitszeit darauf verlegen könnte – abgesehen von meiner Dissertation, an der aber die Arbeit stätig vorwärtsgeht.“8 Und einige Wochen später: „Daß Sie mir Ezechiel zur Bearbeitung zugeteilt, dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar. Ich hoffe Ihnen bis Ende nächsten Jahres das Manuskript fertig zustellen zu können. Angefangen habe ich zwar noch nicht; ich freue mich aber sehr auf die Arbeit.“9 Ende nächsten Jahres, also nach 13 Monaten, war er zwar noch nicht fertig, aber immerhin nach 23 Monaten, am 10. Oktober 1897, konnte er das erste gedruckte Exemplar Duhm zum 50. Geburtstag überreichen10. Der Umfang war mit seinen 285 Seiten, denkt man an die 1415 Seiten des Ezechielkommentars von Bertholets Göttinger Nachfolger W. Zimmerli, gnädig, ging aber, wie Bertholet dem Herausgeber erschrocken mitteilen musste, auch damit schon „über das vorgeschriebene Maß ziemlich hinaus“11. Noch vor dem Abschluss bekundete er seine „freudige Bereitwilligkeit“ zu weiteren Kommentaren und beantwortete Martis Frage, welche Bücher ihm „angenehm“ wären, damit, dass er „Budde am liebsten Sam., Holzinger Dtn abnähme“12. Bei Samuel misslang, beim Deuteronomium glückte es. Am 1. Juli 1897 erklärte er sich bereit, das Manuskript bis zum 1. Oktober 1898 fertigzustellen – wohl wissend, dass am Ezechiel noch einiges zu tun und eine Erklärung des Buches Ruth einzuschieben war, die 1898 im Megillot-Band des „Kurzen Hand-Commentars“ erschien. Retardierend wirkte der Umstand, dass Carl Steuernagel kurz vor dem Abschluss eines Deuteronomiumkommentars stand. „Ich sehe“, fand Bertholet, „wirklich nicht ein, was eine Jagd hier sollte, bei der ich doch den Kürzeren zöge; viel lieber möchte ich […] Steuernagels Dtn ruhig erscheinen lassen, und dann das meine darauf setzen.“13 Aber auch die Arbeit an den Vorlesungen kostete unerwartet viel Zeit. Im Frühjahr 1898 heißt es: „Nur ganz verstohlene Augenblicke kommen Dt zu Gute, und ich sehe voraus, daß ich bis Oktober mit dem Manuskript nicht zu Ende bin.“14 Die Voraussicht bestätigte sich. Das Deuteronomium „ist viel mehr Arbeit als ich gemeint!“, gesteht Bertholet wenige Tage vor dem selbstgesetzten Termin15, und einen Monat danach:

8 4.10.95. 9 14.11.95. 10  Brief an Marti 11.10.97. 11  An Marti 15.8.97. 12  An Marti 4.6.97. 13  An Marti 8.11.97. 14  An Marti 28.5.98. 15  An Marti 25.9.98.

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„Leider will meine Arbeit am Dtn nicht recht gedeihen.“16 Aber zu Weihnachten sind ihm freundliche Kritiken des Ezechiel „ein angenehmer Festgruß und eine Ermutigung, am Dtn tüchtig weiterzuarbeiten“17. Ein Vierteljahr später „verzweifelt“ er, aber immerhin schon „am Anfang von Dtn 33“, also dem vorletzten Kapitel des Buches18. Dieses Kapitel hat es freilich in sich und wird darum ausführlicher kommentiert als alle anderen, nämlich zehn Seiten lang: „es ist eines der wenigen Kapp. des Dtns, zu denen je ein Kommentar zur Hand genommen wird – also mag es wohl so hingehen“19. Im Juni 1899 empfing Marti den Hauptteil des Manuskripts mit einer Entschuldigung für dessen „blutiges Aussehen“: Bertholet hatte unmittelbar vor der Absendung in freudiger Hast sein rotes Tintenfass darüber geleert20. Noch ehe die Arbeit am Deuteronomium richtig im Gange war, erschien schon das nächste Kommentarprojekt am Horizont: Marti fragte im Herbst 1897, ob Bertholet auch anstelle Holzingers den Leviticus übernehmen wolle21. Bertholet freundete sich damit bald an und erwog zeitweise sogar, den Leviticus noch vor dem Deuteronomium fertigzustellen22, kam davon aber wieder ab23. Als Arbeitszeit fasste er, als er begann, ein Jahr ins Auge, bis zum 1. August 190024; viel länger brauchte er tatsächlich nicht25, das Erscheinungsjahr 1901 suggeriert einen größeren Abstand vom Deuteronomiumkommentar, als er tatsächlich bestand. Noch schneller ging es mit dem letzten Band in der Reihe, dem von Benzinger aufgegebenen Kommentar zu Esra und Nehemia; er war Ende 1901 fertig und erschien Anfang 1902 im Druck 26. Nicht erst im Licht seitheriger Erfahrungen ist es eine erstaunliche Leistung des Verlegers und des Herausgebers gewesen, innerhalb eines guten halben Jahrzehnts, von 1897 bis 1904, einen seriösen wissenschaftlichen Gesamtkommentar zum Alten Testament zustandezubringen. Marti stützte sich auf einen Stab von Mitarbeitern, die jeder mindestens zwei Bücher übernahmen, die Arbeit nicht lange vor sich herschoben und im Notfall bereit waren, kurzfristig für säumige oder abtrünnige Kollegen einzuspringen. Bei der Auswahl bewies er Geschick, nicht zuletzt indem er aus seiner eigenen akademischen Heimat Basel nicht nur den genialen Bernhard Duhm engagierte – von ihm erschienen 1897 Hiob, 1899 die Psalmen, 1901 Jeremia –, sondern auch den jungen Bertholet, von dem noch nicht einmal die fertige Dissertation vorlag, 16  An Marti 1.11.98. 17  An Marti 30.12.98. 18  An Marti 31.3.98. 19  An Marti 18.6.99. 20  An Marti 12.6.99. 21  Vgl. Bertholets Briefe an Marti vom 8. und 14.11.97. 22  An Marti 1.9.98. 23  An Marti 25.9.98. 24  An Marti 19.7.99. 25  An Marti 9. und 11.11.1900. 26  Vgl. die Briefe an Marti aus dieser Zeit.

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der aber zum Kommentator wie geschaffen war, wenngleich auf gänzlich andere Weise als Duhm. Seine Werke stehen nicht im Dienst origineller Thesen, sondern unterrichten ohne Einbuße an wissenschaftlichem Niveau kundig und geschickt über einen sicher beherrschten und organisierten Stoff. Die Urteile sind stets wohlbegründet, aber Alternativen werden nicht verschwiegen. Man hat bei der Lektüre dieser Kommentare nicht den Eindruck, hier schreibe ein Anfänger. Für Bertholet bedeuteten sie natürlich eine harte Fron, aber zugleich die beste Gelegenheit, sich rasch auf breiterer Front in das Alte Testament einzuarbeiten. Zwischen seinem eigenen Leviticuskommentar und dem gleichzeitig erschienenen von Bruno Baentsch konstatierte er eine „merkwürdig weitgehende Übereinstimmung“, die aber „kein unerfreuliches Zeichen“ sei; sie sei „dazu angethan, die Erkenntnis zu fördern, wie sehr man nach dem gegenwärtigen Stand der atl. Forschung darauf angewiesen ist, sich auf einzelnen ihrer Gebiete innerhalb gewisser relativ eng beschränkter Grenzen zu halten“27. Diese Grenzen waren in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts abgesteckt. Natürlich ist Wellhausen der große Name und der meistzitierte Autor, aber er versperrt keineswegs den Blick auf die übrigen, soweit sie etwas zu sagen haben. Bertholet hat sich immer nach allen Seiten orientiert und ist nicht von ungefähr von früh an ein ungemein fleißiger und gewissenhafter Rezensent gewesen. Wo seine wissenschaftliche Heimat war, konnte nie zweifelhaft sein. „Sie wissen“, schreibt er in einem seiner ersten Briefe an Marti, den Verehrer Wellhausens und Ritschls28, „daß ich persönlich die Auffassung des A.T., die Sie vertreten, für die einzig wahre halte, u. ich freue mich, wenn diese Wahrheit immer mehr zum Gemeingut größerer Kreise gemacht wird.“29 Aber etwa im Blick auf die Kritik der Bücher Esra und Nehemia – die Hauptgesichtspunkte der heute heftig geführten Diskussion waren damals schon bekannt – kann er Marti auch gestehen: „Vielleicht bin ich ‚konservativer‘ als Sie’s wünschten; aber ich bin’s aus Überzeugung!“30 Wie wenig er einfach der Mann einer Schule war, zeigt die Offenheit, mit der er Gunkels Genesiskommentar begegnet; er findet, dass „die kritische Anschauung gewisse Correcturen, die er an ihr vornimmt, nicht unbesehen von der Hand weisen darf“31. Auf Gunkels zentrale Thesen schwenkt er damit durchaus nicht ein: „In der Auffassung der Entstehung der Psalmen vermag ich ja nun allerdings Ihnen nicht zu folgen, wie Sie schon wissen.“32 Im eigenen Lager, wenn man es so nennen darf, hält er sich gegenüber einer immer genaueren Quellenscheidung, wie sie etwa Budde oder Steuernagel üben, deutlich zurück. Es ist ihm nicht gegeben, Buddes „frohen Glauben an 27  Bertholet, Leviticus, XX Anm. 28  Vgl. H.-P. Mathys, ThZ 48 (1992) 360–62. 29  Brief vom 21.3.95. 30 1.12.01. 31  ThLZ 27 (1902) 137. 32  Brief an Gunkel vom 3.12.1911 (Universitätsbibliothek Halle, Nachlass Gunkel).

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die Möglichkeit gewisser haarfeiner Spaltungen des überlieferten Erzählungsstoffes zu theilen“, und er fragt sich auch, „ob die Mühe, die aufgewendet wird, um über gewisse unstreitig wichtige Ergebnisse der Quellenkritik hinauszukommen, in einem annehmbaren Verhältnisse stehe zum theologischen und religionsgeschichtlichen Gewinn“33. An die Adresse Steuernagels äußert er sich bewusst „ketzerisch“ gegen eine Quellenkritik, „die den Text zu Tode hetzt, bis glücklich jedes Wort und Wörtlein unter Dach und Fach gebracht ist, und das mit so viel Ernst und ehrlichem Eifer, als läge darin eine der Hauptaufgaben unserer gegenwärtigen alttestamentlichen Arbeit beschlossen“34. Vermutlich war er nicht beleidigt, als Steuernagel ihm seinerseits vorhielt, seine Stärke liege „nicht auf dem Gebiet selbständiger Quellenanalyse“, hier sei er „mehr oder weniger nur ein allerdings selbständige Kritik übender Referent; die Gaben sind eben verschieden vertheilt und B.’s Gaben liegen auf andern Gebieten“35. Es waren zwei große Gebiete, denen Bertholet seit jener Zeit seine Gaben zugutekommen ließ: das nachexilische Judentum und die allgemeine Religionsgeschichte. War es schon in der Dissertation um das Judentum im Gegensatz zum alten Israel gegangen, so fixierte Bertholet in zwei frühen Vorträgen über je eine Gestalt am Anfang und am Ende des fraglichen Zeitraums sein künftiges Arbeitsgebiet. Die Habilitationsvorlesung im Sommersemester 1896 bestimmt im Anschluss an Bertholets Lehrer Smend den Propheten Ezechiel als „Vater des Judentums“36, ein Aulavortrag im darauffolgenden Winter schildert plastisch die Herrschaft Herodes’ des Großen, dessen Ziel „der großartige Versuch“ gewesen sei, „das Judentum mit der hellenistischen Welt und ihrer Kultur in Einklang zu bringen“, und den man nicht „mit jüdischen oder gar christlichen Werten messen“ dürfe37. Die Weiterarbeit wurde zunächst durch die Kommentierung der einschlägigen biblischen Bücher dirigiert. So gleich im Sommer 1897, als das Buch Ruth an der Reihe war: „Ich muß mich zuerst ganz in die Geschichte der Entstehung des Judentums einarbeiten; denn ich meine, daß Ruth in jene Zeit gehöre.“38 Wie intensiv Bertholet dann ein Jahrzehnt lang den schwierigen und spröden Stoff durchdrang, zeigt die Souveränität, mit der er im Schlussteil von Buddes „Geschichte der althebräischen Litteratur“ die Apokryphen und Pseudepigraphen abhandelte39. Er hoffte darin den Leser, der 33  ThLZ 23 (1898) 211. Dazu brieflich an Marti 28.5.98: „Ist Budde über meine Recension in ThLZ. wohl ärgerlich?“ 34  ThLZ 26 (1901) 215. 35  ThLZ 25 (1900) 434. 36 Der Verfassungsentwurf des Hesekiel in seiner religionsgeschichtlichen Bedeutung (1896, 21922) 21. Vgl. R. Smend, Der Prophet Ezechiel (21880) VIII und A. Bertholet, Das Buch Hesekiel (1897) XXIV. 37  ChW 11 (1897) 1131–34.1196f.1210–13, Zitate 1211.1213. Vgl. den Brief an Marti vom 9.11.96. 38  An Marti 12.6.97. 39  Die Litteraturen des Ostens in Einzeldarstellungen VII/1 (1906, 21909) 335–422.

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„mit Apokryphen und Pseudepigraphen in eine Zeit geistiger Erstarrung des Judentums, als die man sich seine letzten vorchristlichen Jahrhunderte früher wohl vorgestellt hat, geführt zu werden glaubte“, eines besseren zu belehren; diese Schriften waren ihm „von dem ein beredtes Zeugnis, was des Judentums unvergängliche Größe bleibt“40. Das rief danach, die literaturgeschichtliche Synthese durch eine religionsgeschichtlich-theologische zu ergänzen. Die Gelegenheit bot sich, indem Bertholet nach Bernhard Stades Tod den Auftrag erhielt, den zweiten Band von dessen Biblischer Theologie des Alten Testaments zu schreiben. Stade hatte vorgehabt, ähnlich dem Verfahren Wellhausens in der Israelitischen und jüdischen Geschichte mit einer Darstellung der Predigt Jesu zu schließen41. Für Bertholet dagegen war Jesu Werk so sehr „Neuschöpfung“, dass er zwar sein nach langer Vorarbeit42 1911 erschienenes Buch „Die jüdische Religion von der Zeit Esras bis zum Zeitalter Christi“ nannte, aber doch nur das Zeitalter und nicht dessen Namengeber darstellte43. Gleichwohl stritt er auch hier gegen die traditionelle Auffassung, „daß dieser Zeitraum von 4½ Jahrhunderten lediglich eine Erstarrung und Verknöcherung schon gegebener Gedanken zum Inhalt habe“. Man habe „gründlich umzulernen angefangen“, und es werde „in dieser Beziehung sogar noch mehr zu tun sein“. Das hänge damit zusammen, dass eine Reihe früher für älter gehaltener Quellen sich als erst nachesranisch herausgestellt hätten, wodurch das damalige Judentum als eine „komplexe religiöse Größe“ erkennbar geworden sei, die sich keineswegs ganz auf den Nenner des Gesetzes bringen lasse44. Nicht zufällig ist die Partie über Hiob45 ein Höhepunkt des Buches, ähnlich wie bei Wellhausen46, dessen (komplexe!) Gesamtauffassung des nachexilischen Judentums häufig durchschimmert. Für die spätere Zeit hat Bertholet den meisten Nutzen aus den Werken Schürers und Boussets gezogen47. Von Bousset ließ er sich vor allem in der Frage ausländischer, namentlich iranischer Einflüsse auf die jüdische Religion anregen. Er selbst rechnete an vielen Stellen mit solchen Einflüssen, sah aber in der Offenheit des Judentums dafür „nicht ein Zeichen seiner Schwäche, sondern seiner Kraft“; „was man rezipierte, nahm nur die Stelle des geistigen Tributes der außerjüdischen Religionen an den Jahweglauben ein, den man sich gerne gefallen ließ“48. 40  Ebd. 422. 41  Biblische Theologie des Alten Testaments I (1905) 5f., vgl. Akademische Reden und Abhandlungen (21907) 94f. 42  Vgl. seinen Brief an Gunkel vom 13.12.08. 43  Vgl. ebd. 496. 44  Ebd. 1.83f. 45  Ebd. §§ 9f., S. 98–135. 46  Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 71914, 205–08. 47  E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi (41901–1909); W. Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter (1903). 48  Das religionsgeschichtliche Problem des Spätjudentums (1909) 20.

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In derartigen Fragen war er mittlerweile längst zum Fachmann geworden. Als ihm 1898 Marti die Kommentierung auch noch des Josua anbot, lehnte er ab mit der Begründung: „Meine Arbeit hat sich in der letzten Zeit in etwas anderer Richtung bewegt, und ich möchte in der nächsten Zeit sie mehr und mehr verfolgen: es ist die allgemeine Religionsgeschichte, die mich mächtig anzieht und wo ich neue Aussichten sich mir eröffnen sehe. Ich gehe sogar mit dem Gedanken um, Sanskrit anzufangen.“49 Er stand damit, worauf er gern hinwies50, in einer verhältnismäßig alten Basler Tradition: seit 1837 wurden dort, zuerst von einem Neutestamentler namens Johann Georg Müller51, regelmäßig religionsgeschichtliche Vorlesungen gehalten; ein besonderes Interesse in dieser Richtung hatten, jeder auf seine Weise, die beiden älteren Kollegen Bertholets, von Orelli und Duhm. Vorangegangen war ihnen allen kein Geringerer als W. M. L. de Wette mit einer 1827 publizierten Basler Vorlesungsreihe „Über die Religion, ihr Wesen, ihre Erscheinungsformen und ihren Einfluß auf das Leben“. Hatte de Wette den meisten seiner Nachfolger eine durchdachte philosophisch-theologische Deutung des „Wesens“ der Religion voraus, so überholten sie ihn schnell in der detaillierten Kenntnis ihrer „Erscheinungsformen“, für die das Anschauungsmaterial von allen Seiten heranströmte und nach Interpretation und Ordnung verlangte. Diese Arbeit gewann früher und umfassender als in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen einen internationalen Charakter, und daran hat bereits der junge Bertholet einen Anteil gehabt52. Im September 1900 besuchte er den „Premier Congrès international d’Histoire des Religions“ in Paris, auf dem „das deutsche Element sozusagen gänzlich fehlte“. Um „es womöglich zu künftiger Mitarbeit ungezwungen heranzuziehen“, wurde ins Auge gefasst, den nächsten Kongress im deutschen Sprachgebiet stattfinden zu lassen. Da die Religionsgeschichte an den deutschschweizerischen Universitäten und speziell in Basel damals eine erheblich größere Rolle spielte als in Deutschland und da Bertholet der einzige in Paris anwesende deutschsprachige Professor war, bekam er den inoffiziellen Auftrag, in Basel zu sondieren. Er hatte Erfolg, und der zweite Kongress fand 1904 dort statt. Bertholet als sein Generalsekretär trug wesentlich zu seinem glanzvollen Gelingen bei und war fortan eine zentrale Gestalt nicht nur auf diesen Kongressen und bei ihrer Organisation, sondern auch in der internationalen Gemeinschaft der Religionshistoriker überhaupt. Das bezeugt eindrucksvoll ein Dokument aus viel späterer Zeit, die Glückwunschadresse, die ihm 1938 an seinem 70. Geburtstag, zu einem der Internationalität alles andere als günstigen Zeitpunkt, überreicht wurde. Sie enthält faksimilierte 49 21.4.98. 50  Vgl. seine Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften (SPAW.PH 1938, C–CII) CI. 51  Vgl. E. Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart (1960) 157. 52  Zum Folgenden vgl. Verhandlungen des II. Internationalen Kongresses für Allgemeine Religionsgeschichte in Basel (1905); dort 1–34 Bertholets Bericht.

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Briefe von Stanley A. Cook, Max Haller, Sten Konow, Gerardus van der Leeuw, Adolphe Lods, Martin P. Nilsson, Arthur Darby Nock, Raffaele Pettazzoni und Tadeusz Zielinski und danach die Unterschriften von fast zweihundert weiteren Gelehrten, unter ihnen viele klangvolle Namen; allerdings fehlen die Juden. Bertholet hat sich an der religionsgeschichtlichen Arbeit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf vielfache Weise beteiligt, zunächst in Einzelstudien, die er meist nicht nur den Fachkollegen, sondern auch einem allgemeineren Publikum vorlegte. So hielt er bereits im Januar 1900 einen Aulavortrag über Seelen- und Geisterglauben, im Februar einen Bernoullianumsvortrag über den Buddhismus53, und es ist kein Zufall, dass die Mohr-Siebecksche „Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte“ sein beliebtester Publikationsort wurde. Offenkundig war er ein eindrucksvoller Redner, interessant ohne jede Effekthascherei, ein meist umfangreiches Material auf ein klar angegebenes Problem hin disponierend, die Möglichkeiten mit ruhiger Sachlichkeit gegeneinander abwägend – man hat ihm eine „fast klassische Abgeklärtheit des Urteils“ nachgerühmt54 – und den Gedankengang übersichtlich und folgerichtig zu Ende führend, wobei Sicherheiten nicht vorgetäuscht wurden, wenn sie nicht vorhanden waren. Bertholet beherrschte aber nicht nur die Kunst der Abhandlung, sondern auch die der Erzählung, wie etwa die sechs Vorträge zeigen, die er im Januar und Februar 1910 „in einem vom Basler Erziehungsdepartement angeordneten populären Kurs“ über „Das Ende des jüdischen Staatswesens“ hielt55. Über Richtung und Themen seiner religionsgeschichtlichen Arbeit kann die Aufzählung von Einzelstudien, meist also Vorträgen, wenigstens eine grobe Orientierung geben56: Die Gefilde der Seligen (1903), Seelenwanderung (1904), Dynamismus und Personalismus in der Seelenauffassung (1930), Über den Ursprung des Totemismus (1918), Das Wesen der Magie (1926), Über Gemination von Kultriten. Ein Beitrag zur Unterscheidung von Religion und Magie (1929), Über kultische Motivverschiebungen (1938), Der Sinn des kultischen Opfers (1942), Der Versöhnungsgedanke in der Religion (1913), Weibliches Priestertum (1950)57, Wortanklang und Volksetymologie in ihrer Wirkung auf religiösen Glauben und Brauch (1940), Die Macht der Schrift in Glauben und Aberglauben (1948), Religionsgeschichtliche Ambivalenzerscheinungen (1948), Parallelen der Religionsgeschichte58, Götterspaltung 53  An Marti 11.1.00. 54  Rost (Anm. 2) 30 (115). 55  1910 in Tübingen erschienen. 56  Die genaueren bibliographischen Angaben bei V. Tammann-Bertholet, Bibliographie Alfred Bertholet, in: Festschrift für Alfred Bertholet, hg.v. W. Baumgartner u.a. (1950) 564–78. 57  In: Beiträge zur Gesellungs- und Völkerwissenschaft. Festschrift zum 80. Geburtstag von Richard Thurnwald (1950) 42–52 (noch nicht bei V. Tammann-Bertholet). 58  HUCA XXIII, 1950/51, 561–78. Ebenfalls noch nicht bei Tammann-Bertholet.

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und Göttervereinigung (1933), Das Geschlecht der Gottheit (1934), Die gegenwärtige Gestalt des Islams (1926), Buddhismus und Christentum (1902), Der Buddhismus und seine Bedeutung für unser Geistesleben (1904), Buddhismus im Abendland der Gegenwart (1928), Religion und Krieg (1915), Kultur und Religion (1924). Die Vielzahl der Detailarbeiten rief nach einer Gesamtdarstellung, und eine solche in Gestalt einer „umfassenden Phänomenologie der Religion“ hat Bertholet durchaus als Ziel im Auge gehabt und mehrfach angekündigt, so besonders 1938 in seiner Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften59 – dort unter Nennung einer höchst anspruchsvollen Parallele, nämlich der einer „nach Formkategorien gegliederten Kunstgeschichte, wie Jakob Burckhardt sie gemeint hat“60. Leider war es ihm nicht vergönnt, diesen Plan auszuführen. Dass ihm das Material zu Gebote stand wie vielleicht keinem Zweiten, bewies er durch die Betreuung der religionsgeschichtlichen Abteilung in der zweiten Auflage der „Religion in Geschichte und Gegenwart“ und noch mehr durch sein „Wörterbuch der Religionen“, das postum 1952 in „Kröners Taschenausgabe“ erschien. Eine gedrängte Skizze der leitenden Gesichtspunkte steuerte er zum letzten Kriegsheft der „Forschungen und Fortschritte“ bei, in dem sich „eine Anzahl der ältesten und treuesten Mitarbeiter, führende Männer der deutschen Wissenschaft“ äußern sollten – das Heft beginnt mit Planck und endet mit Bertholet61. Die Stichworte sind: Religionsgeschichte und Religionsphänomenologie, Religion im engeren und im weiteren Sinn, das hinter den äußeren Phänomenen Stehende (die „anima“), Entwicklung, Gegensätzlichkeiten und Ambivalenzen, lebendige Geschichte als eigentliches Wesen der Religion. Die Skizze lässt nicht erkennen, wieweit hinter ihr schon ein wenigstens in den Grundzügen ausgeführtes Werk steht. Sollte Bertholets letzte Berliner Vorlesung, eine „Phänomenologie der Religion“, im Wintersemester 1937/38 zweistündig gehalten, in seiner letzten Basler Vorlesung über „Grundformen der Erscheinungswelt der Gottesverehrung“ wiederzuerkennen sein, die J. Hempel 1953 postum herausgab, dann war zu dem großen Buch noch ein weiter Weg. Das Buch hätte wohl nicht die Poesie von van der Leeuws, des großen Konkurrenten und Freundes, „Phänomenologie“ gehabt, aber es wäre ihm an Gediegenheit und Benutzbarkeit überlegen gewesen. Über Mangel an Kritik hätte Bertholet sicher nicht zu klagen gehabt. „Mit Schlagwörtern und Theorien wie Animismus, Totemismus usw. ist nichts getan (das ein Einwand gegen Bertholets Methode)“, schrieb Mowinckel an Gunkel62, und ähnlich hat innerhalb und außerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule mancher gedacht. Im Rückblick konstatiert der Historiograph der Berliner theologischen 59  S.o. Anm. 50. 60  Ebd. CI. 61  Zur Religionsphänomenologie, FuF 21/23 (1947) 29–31. 62 26.5.1928.

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Fakultät bei Bertholet bei aller Anerkennung eine allgemeine Gefahr von zwei Seiten: „Nur überdeckte der Phänomenologe immer wieder sowohl den Historiker wie den Theologen.“63 Die Gefahr, dass in der religionsgeschichtlichen Zusammenschau „das geschichtliche Moment in den Hintergrund träte“, brachte Heinrich Lüders, der Sekretär der Philosophisch-historischen Klasse der Berliner Akademie, in seiner Erwiderung auf Bertholets Antrittsrede zur Sprache, um daraus die Folgerung zu ziehen, Bertholets Wissenschaft sei besser als Religionsphänomenologie zu bezeichnen64. Damit rannte er bei Bertholet offene Türen ein, zumal er ihn als einen erprobten Philologen und Historiker kannte. Bertholet mag gelegentlich in der Gefahr gewesen sein, die israelitische Religion eher im Licht eines Abstractums von Religion oder primitiver Religion zu sehen als in dem ihrer konkreten Nachbarreligionen65; aber eine grundsätzliche Alternative bestand hier für ihn keinesfalls, und einen weiten Horizont bewies seine Position allemal. Was die Theologie angeht, legte er Wert darauf, dass sowohl die Religionsgeschichte als auch die Religionsphänomenologie sich auf „Fragen nach Wert und Wahrheit der Religion“ nicht einlasse, sie vielmehr der Religionsphilosophie und der Dogmatik überlasse66; und namentlich für die letztere hegte er, obwohl er etwa mit Karl Barth in den gemeinsamen Göttinger Jahren auf gutem Fuß stand – Barth vergnügte sich damals an der „Weltlichkeit und Gewandtheit“ des Ehepaars Bertholet67 –, so gut wie keine Sympathien. Aber es wird immer wieder deutlich, dass er sich als einen Christen verstand und sein Christentum feinsinnig und verantwortungsbewusst reflektierte – man lese etwa den schönen Vortrag „Ästhetische und christliche Lebensauffassung“68. Da die „Phänomenologie“ nicht zustandekam, ging die literarische Wirkung des Religionshistorikers außer vom „Wörterbuch“ von zwei Standardwerken aus, die er in selbstloser Weise betreute, dem „Religionsgeschichtlichen Lesebuch“ und dem „Chantepie de la Saussaye“. Das „Lesebuch“ bietet in seiner ersten Auflage (1908) in einem stattlichen Band von 400 Seiten Texte aus der kanonischen Literatur der Chinesen, der Inder, der Perser und der Araber in der Übersetzung von vier Fachleuten und mit deren Erläuterungen. Bertholet hat das Register ausgearbeitet und eine sehr lesenswerte Einleitung vorangestellt, die mit einer an Harnack gerichteten Apologie nicht nur dieses Werkes, sondern der Allgemeinen Religionsgeschichte überhaupt beginnt. Noch wirksamer wurde das Werk in der gänzlich erneuerten, auf 17 Einzelhefte erweiterten zweiten Auflage (1926–32), in der Bertholet neben der Arbeit des Herausgebers das Heft über die Religion des Alten Testaments selbst besorgte. Das „Lehrbuch 63  W. Elliger, 150 Jahre Theologische Fakultät Berlin (1960) 111. 64  A.a.O. (Anm. 50) CIII. 65  Vgl. Der Beitrag des Alten Testaments zur allgemeinen Religionsgeschichte (1923). 66  Wörterbuch der Religionen (1952) 401f. 67  K. Barth – E. Thurneysen, Briefwechsel II (1974) 5. 68  Tübingen 1910.

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der Religionsgeschichte“ des Leidener Religionshistorikers P. D. Chantepie de la Saussaye war nach dem Tod seines Herausgebers (1920) auf den Schweden Ed. Lehmann übergegangen, und dieser wiederum konnte nichts Besseres tun als Bertholet heranzuziehen, der akkurat die eigentlichen Redaktionsgeschäfte versah und ohne fremde Hilfe das fast hundertseitige Register (in drei Spalten!) herstellte. Wir haben schon mehrfach über Bertholets Basler Zeit hinausgegriffen. Er war 1899 zum außerordentlichen und 1905 zum ordentlichen Professor befördert worden, bezog aber auch als solcher nur ein geringes Gehalt und hatte in dem umschwärmten Duhm und in v. Orelli, zu dem die „positiven“ Studenten gingen, zwei Kollegen, die seiner Lehrtätigkeit nicht viel Raum ließen. So war es ihm eine Erlösung, als er 1913 als Nachfolger Julius Grills nach Tübingen berufen wurde. Er ging als Familienvater. 1906 hatte er die aus puritanischem Kaufmannshaus stammende Salome Schmid geheiratet, die nach der Darstellung des Enkels hoch intelligent war, mehr sozial als religiös, mehr kunstsinnig als musisch, und die die Finanzen und den Haushalt in Ordnung hielt. 1907 und 1910 waren die beiden Töchter geboren worden. Die nach Bertholets eigener Aussage „höchst beglückende“ Tübinger Zeit69 dauerte nur drei Semester. Zum Winter 1914/15 trat er in Göttingen die Nachfolge seines einstigen Lehrers Smend an, und er hat das „nicht zu bereuen gehabt“70. Eine der ersten Pflichten war der Antrittsbesuch beim Ehepaar Wellhausen. Die siebenjährige Tochter Verena durfte mitkommen und war, wie sie mir Jahrzehnte später erzählte, aufs höchste gespannt, weil sie ihren Vater von Wellhausen hatte sprechen hören wie sonst nur vom lieben Gott. Sie verfolgte an einem Nebentischchen sitzend die etwas mühsame Unterhaltung und stellte sich seitdem noch lange Gott so vor wie den alten Wellhausen: weißhaarig, etwas unbeweglich, sehr freundlich und schrecklich schwerhörig. Vater Bertholet wird sehr bedauert haben, zu dem kranken Mann nicht mehr in eine nähere Beziehung treten zu können; immerhin fungierte er bei seinem Begräbnis am 10. Januar 1918 als Geistlicher. Schon bald ergaben sich andere Beziehungen, darunter die Freundschaft mit dem Kunsthistoriker Oskar Hagen, der das Göttinger Akademische Orchester dirigierte. Bei gemeinsamem Händel-Musizieren entstand im Herbst 1919 der Gedanke, zum ersten Mal seit zwei Jahrhunderten eine Händel-Oper aufzuführen, und dieser Gedanke wurde nicht zuletzt durch Bertholets Organisationstalent bereits im Juni 1920 mit der „Rodelinde“ in die Tat umgesetzt. Die noch heute blühenden Göttinger Händel-Festspiele zählen Bertholet nach wie vor zu ihren Gründungsvätern; als der „getreue Eckhardt der Händel-Opern“, wie ihn der Historiker Karl 69  Seine dortige Antrittsrede „Die Eigenart der alttestamentlichen Religion“ fand den uneingeschränkten Beifall des Marburger Philosophen H. Cohen (AZJ 77 [1913] 472–74; Jüdische Schriften II [1924] 510–15). 70  Gedenkheft 5f.

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Brandi nannte71, wurde er 1935 eingeladen, die Göttinger Festrede zu Händels 250. Geburtstag zu halten72. Dazu musste er aus Berlin anreisen, wo er, seit 1928 als Hugo Greßmanns Nachfolger Ordinarius für Altes Testament und Allgemeine Religionsgeschichte, auf dem Höhepunkt seines Lebens und seiner Wirksamkeit stand. Wie in Göttingen war er ein hochgeachteter Lehrer73, und wie dort ergänzte ihn sein alttestamentlicher Fachkollege aufs beste, wenngleich sozusagen nach der anderen Seite: war es in Göttingen der strohtrockene Rahlfs gewesen, so in Berlin der quicklebendige Sellin, der ihm nicht übelnahm, dass er einst in einer Rezension geschrieben hatte: „Ich kann S.’s Buch nicht aus der Hand legen, ohne an den Verf. die Aufforderung übrig zu haben: δός μοι ποῦ στῶ. Überall merkt man ihm an, wie völlig er für seine Person davon überzeugt ist, festen Boden unter den Füßen zu haben. Das ist unter lauter Schwankendem das eigentlich Feste, und sein Buch legt in glänzender Weise dafür Zeugnis ab, wie ihm selber seine Hypothese über eine Fülle von Schwierigkeiten hinweghilft, deren Lösung Andern großenteils nicht so klipp und klar vor Augen liegt.“74 Die Sätze charakterisieren nicht nur Sellin, sondern auch Bertholet. „Vielleicht“, meint ein damaliger Kollege75, „war es gerade diese Verschiedenheit, die ihr Nebeneinander erleichterte, vielleicht aber war es das letztlich Gemeinsame, die Ablehnung alles Zweideutigen, Unklaren, die Zurückweisung des Unechten; denn hier fanden sich die beiden so verschieden Veranlagten, und dem Ungeist, der 1933 die Herrschaft an sich riß, beugte sich keiner.“ Diesen Ungeist hatte der Schweizer Bürger nun in der Hauptstadt täglich vor Augen. Er war in Göttingen zuerst 1914 vereidigt worden, dann 1920 auf die Weimarer und 1921 auf die preußische Verfassung, jetzt, 1934, musste er auf Hitler schwören. Die Distanz, die dem Schweizer möglich war, hielt er, so gut es ging. Sein Haus war ein Zentrum der schweizerischen Kolonie in Berlin. Er unterstützte seine Frau, als sie 1936 einen Dienst einrichtete, um Juden durch Visabeschaffung, Möbeltransporte, finanzielle Transaktionen und anderes bei der Auswanderung zu helfen. Im Zuge dieser Hilfe kauften sie in Dahlem von einem Juden das Haus, das sie von da an bewohnten; der Kauf wurde nach 1945 gerichtlich als humanitärer Akt anerkannt. Mehrfach war Gefahr im Verzug, so als 1940 oder 1941, während Bertholet schwerkrank im Bett lag, im Keller ein jüdisches Kind geboren wurde. Aber solange es ging, führten die Bertholets ihr stets reges gesellschaftliches Leben weiter. Die nächsten Freunde waren, mit ihren Frauen, der Indologe Lüders, der Historiker Meinecke und der Pathologe 71  Mitteilungen des Universitätsbundes Göttingen 15 (1933) 10. 72  Ebd. 17 (1935) 1–6. 73  Allerdings hatte in Göttingen der „distinguierte Basler Ästhet“ den Studenten Wolfgang Trillhaas weniger beeindruckt als vorher Otto Procksch in Erlangen, der „ganz im Alten Testament lebte“ (W. Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit, 1976, 84.88). 74  ThLZ 24 (1899) 606. 75  Rost (Anm. 2) 38.

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Roessle, dazu kamen weitere Kollegen wie Planck und Sauerbruch, Künstler wie Emil Nolde, Wirtschaftler, Politiker und Diplomaten und natürlich Musiker in großer Zahl. Bertholet blieb in seinen deutschen Jahrzehnten der produktive Gelehrte, der er in Basel gewesen war. Mochten dabei auch religionsgeschichtliche Themen im Vordergrund stehen, so behielt doch das Alte Testament sein Recht. Es kamen noch drei größere Bücher zustande, zwei in Göttingen und eins in Berlin. Den Anfang machte 1919 die „Kulturgeschichte Israels“, vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht als eine Art Ergänzung zu den „Schriften des Alten Testaments“ gedacht, aber als selbständiges und auch originales Werk erschienen. Es knüpfte an die älteren „Archäologien“ an, arbeitete aber nach Möglichkeit die Ergebnisse der altorientalischen Forschung und besonders der Ausgrabungen ein, achtete auf die geschichtliche Entwicklung und behandelte ausführlich das „geistige Leben“: Recht, Wissen, bildende Kunst, Musik, Literatur und Religion. Für die Ausgrabungen bezog sich Bertholet auf Kittel, für die Literaturgeschichte auf Gunkel. Beide hatten dann allerdings einiges auszusetzen. Kittel beanstandete die Scheidung einer amoritischen und einer kanaanäischen Periode, die gesonderte Behandlung der „Übergänge“ und die Unterbewertung des Beduinentums76, Gunkel77, soviel sich vermuten lässt, im Aufbau des Ganzen die Vernachlässigung des Exils, worauf Bertholet replizierte, er habe ursprünglich zwei Bände schreiben wollen, eine israelitische und eine jüdische Kulturgeschichte, und habe nun einiges Nachexilische in den einzigen Band aufgenommen. Das Buch, bei allen Schwächen ein erneutes Zeugnis für Bertholets Gabe, einen riesigen Stoff lesbar zu bewältigen, ist in deutscher Sprache bis heute nicht wirklich ersetzt worden. Das gilt leider auch vom „Kautzsch-Bertholet“, der zweibändigen „Heiligen Schrift des Alten Testaments“, die Bertholet 1922 in Verbindung mit den früheren Mitarbeitern, zu denen Otto Eißfeldt hinzutrat, in vierter Auflage herausgeben konnte. Er selbst übersetzte und kommentierte darin die Psalmen und verbesserte das Gesamtwerk nicht nur in vielen Einzelheiten, sondern auch in der Anlage der Erläuterungen, indem er die textkritischen Noten von den Sachbemerkungen trennte. Im Vorwort wünschte er, daß die Übersetzung dem Alten Testament neue Freunde werben möchte: „Bei allen Angriffen, denen es gerade in letzter Zeit ausgesetzt gewesen ist, kann es nicht ausbleiben, daß es seine Stellung siegreich behaupten wird; denn wie kaum ein zweites Buch verkündet es, was jeder Zeit und keiner mehr als der unsern Not tut, Glauben an Zukunft!“ Die beiden Bände sind für zahllose Theologen und Nichttheologen bis heute die unentbehrliche Handausgabe des Alten Testaments geblieben. Wer meint, Bertholet habe zwar viel gesammelt und geordnet, aber keine prononcierten Thesen vertreten, kann sich durch den 1936 im Handbuch zum 76  Geschichte des Volkes Israel I (41921) Nachträge XXIf. 77  In einem nicht erhaltenen Brief, auf den Bertholet am 6.2.1921 antwortete.

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Alten Testament erschienenen Hesekielkommentar eines Besseren belehren lassen. Von dem ersten Kommentar (1897) ist dort fast „kein Stein auf dem andern stehen geblieben“78. Die seinerzeit erwogene Möglichkeit, „in der Verschiedenheit einzelner Entwürfe über ein gleiches Thema eine Spur zu finden, daß Hes. nicht mehr dazu gekommen sei, sein Buch einer völlig abschließenden Revision zu unterziehen“79, wird jetzt zu der Annahme erweitert, dass man sich den literarischen Nachlass des Propheten „etwa in der Art ‚loser Blätter‘ eines eigenen Skizzenbuches zu denken habe“80. Vor allem aber sucht Bertholet die Schwierigkeit, die der in manchen Texten naheliegende Eindruck einer direkten Rede des angeblichen Exilspropheten an die Jerusalemer hervorruft, durch die scharfsinnige Hypothese einer doppelten Wirksamkeit Hesekiels zu beheben: zunächst in Jerusalem (Berufungsvision 2,3–3,9), dann im Exil (Berufungsvision 1,4–2,2)81. Nach heutiger Auffassung allerdings „erzeugt“ diese Hypothese, wie einige ähnliche, „mehr Probleme, als sie aus der Welt schafft“82. Als Krönung seiner Arbeit am Alten Testament plante Bertholet eine israelitische Religionsgeschichte83. Leider ist sie ebensowenig zustandegekommen wie ihr religionsgeschichtliches Gegenstück, die Phänomenologie. Der Wunsch des Emeritus, nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in die heimatliche Schweiz zurückzukehren, scheiterte an der Weigerung der deutschen Behörden, ihm dorthin seine Bezüge zu zahlen. Die Kriegszeit verbrachte die Familie – beide Schwiegersöhne standen an der Front – großenteils in einem oberbayerischen Exil. Fast die ganze Bibliothek und vieles andere ging in und um Berlin beim Einmarsch der Russen verloren. Ende 1945 gelang die Übersiedlung in die Schweiz, 1947 der Einzug in ein eigenes Haus in Basel. Dafür, dass die Verbindung nach Deutschland nicht abriss, sorgte ein ständiger Besucherstrom, zu dem das Ehepaar Heuss und die Witwe Max Plancks gehörten. Besonders gern machte Bertholet seit 1948 von der Möglichkeit Gebrauch, an der Basler theologischen Fakultät als „Gastdozent“ Vorlesungen zu halten. Die meiste Zeit verbrachte er damit, das 1941 abgeschlossene und 1944 vernichtete Manuskript des „Wörterbuchs der Religionen“ nach seinen noch vorhandenen Notizen zu rekonstruieren; das Erscheinen dieses seitdem vielfach bewährten Buchs – es wurde noch mehrere Male im wesentlichen in der von Bertholet geprägten Form aufgelegt – erlebte er nicht mehr. Seinen 80. Geburtstag würdigte die internationale Fachwelt durch eine Festschrift von hohem Niveau – sie konnte allerdings erst 1950 erscheinen – und die Basler Fakultät durch ein Sonderheft der Theologischen Zeitschrift84. Bei dessen Über78  Ebd. V. 79  1897, 58. 80  1936, XIV. 81  Vgl. 1936, XIV–XVI. 82  O. Kaiser, Einleitung in das Alte Testament (51984) 263. 83  Vgl. Chantepie de la Saussaye 4I, IV. 84  ThZ 4 (1948) Heft 5.

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reichung hielt Walter Baumgartner eine Laudatio, die er, wie der ihm in gegenseitigem Misstrauen verbundene Kirchenratspräsident Alphons Koechlin mir später erzählte, bei Bertholets Begräbnis am 28. August 1951 wörtlich wiederholte, nur mit durchgehender Ersetzung des Präsens durch das Präteritum. Baumgartner schloss, zumindest 1951, indem er „die Demut und die Frömmigkeit des großen Gelehrten“ in Erinnerung rief. Im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts nannte ein amerikanisches Lexikon Bertholet „the last great nineteenth-century scholar of Hebrew religion“85.

85  DBiblI (1999) I, 125 (D.G. Schley).

Otto Procksch 1874–1947

Auf die Frage, bei welchen ausländischen Büchern seines Faches ihre NichtÜbersetzung ins Englische besonders zu bedauern sei, nannte Robert P. Carroll (1941–2000) an erster Stelle Otto Prockschs Theologie des Alten Testaments1. Das überrascht, weil Procksch ein eher konservativer und Carroll ein eher kritischer Forscher war und weil Prockschs Buch, erst nach dem Tod seines Autors erschienen, schon im deutschen Sprachbereich ohne größere Wirkung geblieben ist. Um so mehr ist es geboten, das Buch und seinen Autor in die Erinnerung zu rufen. „Er kam für mich dem Idealbild eines deutschen Professors nahe, an das man sich heute nur mit leichter Wehmut, aber zugleich mit großer Dankbarkeit erinnern kann“, hat ein ehemaliger Student über Procksch gesagt, ein Student übrigens, der gegenüber diesem Idealbild durchaus nicht unkritisch war und auch nicht gegenüber der Art, wie Procksch ihm nahekam2. Procksch kam aus dem Herzen Deutschlands, aus Thüringen3. Er wurde am 9. August 1874 in Eisenberg geboren, wo sein Vater bis 1891 Lehrer war, um dann als Direktor das traditionsreiche Gymnasium in Altenburg im nahen Sachsen zu übernehmen. Im Geist dieser Schulen, der in Eisenberg mehr christlich, in Altenburg mehr humanistisch geprägt war, ist Otto Procksch aufgewachsen. Und er hatte die große deutsche Vergangenheit sozusagen vor der Tür: am Kyffhäuser den Mythos des alten Kaisertums, auf der Wartburg die Reformation Luthers, in Weimar die Klassik Goethes und Schillers, in Jena und Leipzig die napoleonischen Kriege. Er sah Bismarck, nach dem er benannt war, noch mit eigenen Augen, und obwohl ihn dessen Entlassung durch Wilhelm II. irritierte, blieb er über alle politischen Wechselfälle hinweg überzeugter Monarchist. Demokratie, Liberalismus, Sozialismus und Internationalismus waren ihm suspekt, die deutsche Jugend wünschte er in Heldenverehrung à la Carlyle erzogen. Seine persönliche Zukunft kündigte sich früh an: in Eisenberg beeindruckte ihn ein Religionslehrer, der dem Erlanger Lutheraner Frank nahestand, und auf Franks Spuren stieß er auch in Altenburg. Als Primaner nach 1  ExpT 100 (1988/89) 44f. 2  W. v. Loewenich, Erlebte Theologie (1979) 124. 3  Vgl. zum Folgenden seine Selbstdarstellung RWGS II (1926) 161–94. Ich weise von dort mit Seitenzahl nur wörtliche Zitate nach.

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seinem Lieblingsstudium gefragt, antwortete er: „Hebräisch“. Nicht nur seine geistigen Interessen legten ihm einen gelehrten Beruf nahe, sondern auch die Behinderung durch ein Hüftleiden, gegen das er zeitlebens mit großer Disziplin ankämpfte. Diszipliniert war auch seine Arbeitsweise. „Harnack soll ja in seiner Jugend täglich 14 Stunden gearbeitet haben, meinte er, er selbst habe es nur auf 11 gebracht.“4 Auf Elternhaus und Schule dürfte nicht zuletzt sein Umgang mit der Sprache zurückzuführen sein; er schrieb ein makelloses Deutsch. Merkwürdigerweise ging er zum Studium nicht gleich nach Erlangen, wohin doch „die Magnetnadel seit früher Jugend gezeigt hatte“5, sondern zunächst für einen schönen Sommer nach Tübingen. Seine alttestamentlichen Studien begann er dort mit einer spröden Jesajavorlesung von Julius Grill (1840–1930), die ihn zu der Bemerkung veranlasste: „Im allgemeinen habe ich sachliche Vorlesungen, auch wenn sie trocken waren und anderen langweilig erschienen, dem faszinierenden Vortrag, besonders wenn er mit Mätzchen verbunden war, vorgezogen.“6 Immerhin bekam er bei Grill den gerade erschienenen Kommentar Duhms vorgeführt, dessen Größe ihm allerdings erst später durch eigene Lektüre aufging. Die wichtigsten Semester verbrachte er anschließend in Leipzig, das seiner Heimat nahe lag, die Universität seines Vaters gewesen war und auch seine eigene „geistige Heimat“7 werden sollte. Die Reihe seiner Leipziger Lehrer ist imposant. Er hörte noch Dogmatik und Ethik beim alten Luthardt (1823–1902), mit tiefem Eindruck Kirchengeschichte bei Hauck (1845–1918), in dem die Geschichte „zum Kunstwerk wurde“, lernte Arabisch bei Socin (1844–99) und Akkadisch bei Zimmern (1862–1931) und studierte vor allem Altes Testament bei Frants Buhl (1850–1932), Franz Delitzschs Schüler und Nachfolger, der auf selbständige Weise die Gedanken Wellhausens in Skandinavien heimisch machte. Nicht ganz leicht fiel es, die orientalischen Studien so zu beschränken, dass die Theologie nicht zu kurz kam. Noch in später Rückschau empfand er „die Freude, wenn sich aus der mühseligen Keilschrift Namen wie Omri und Jehu entwickelten oder die Sintfluterzählung Gestalt gewann“8. Aber so viel Zeit er weiter auf diese Gebiete verwendete, die Führung behielt doch das Alte Testament und dort die Theologie. Um der Theologie willen ging er im sechsten Semester endlich nach Erlangen. Bei Reinhold Seeberg (1859–1935) besuchte er ein Seminar über Schleiermachers Glaubenslehre, vor allem aber nahm er alles mit, was Theodor Zahn (1838–1933) anbot. Dessen gewaltige Gelehrsamkeit imponierte ihm, sein Konservatismus stieß ihn nicht ab: „Gerade weil er [in der Vorlesung] das Matthäusevangelium als ein Werk des Apostels, als eine Einheit faßte, ohne sich um die Quellenfragen 4  v. Loewenich a.a.O. 122. 5  Selbstdarstellung 172. 6  Ebd. 170. 7 Ebd. 8  Ebd. 171.

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viel zu kümmern, erhielt er die Schüler in Selbständigkeit gegenüber den landläufigen Theorien. Denn immer bleibt es eine Hauptaufgabe der Exegese, ein Schriftwerk als Ganzes zu verstehen, ehe man in die Entstehungsgeschichte eindringt. Doch regte diese Behandlung auch gerade zum Nachdenken über die Quellenfragen an; man bekam einen selbständigen Ausgangspunkt, von dem aus eine eigene Lösung versucht werden konnte.“ Zahn blieb sein „Erlanger großer Lehrer“9. Leipzig (und Erlangen) einerseits, Göttingen andererseits: das bedeutete in der Theologie und im besonderen in der Exegese, voran der alttestamentlichen, zwei grundverschiedene Atmosphären. Es ehrt den Studenten Procksch, dass er es bei dem einen Erlanger Semester beließ und für ein weiteres nach Göttingen ging: „Ich wollte aus Wellhausens Becher an der Quelle wenigstens einmal trinken, auch Schürer hören, überhaupt die Göttinger Luft mir einmal um die Nase wehen lassen.“ Als Redner lief beiden ein Dritter den Rang ab, Wilamowitz (1848–1931) mit einer Vorlesung über die Kultur der römischen Kaiserzeit. Schürer (1844–1910) hatte wie Grill einen „anmutlosen, nur auf die Sache gerichteten Vortrag“, durch den „ein erbaulicher Zug“ klang. Von dem, um dessentwillen er gekommen war, entwarf Procksch eine Skizze, die es verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden; sie zeigt, wie er beobachten und charakterisieren konnte: „Wellhausen warf das Bild, das ich mir von ihm gemacht, völlig um. Der mächtige Kopf mit der schönen Stirn, die die Hälfte der ganzen Gesichtshöhe ausmachte, die treuen blauen Augen, die Freundlichkeit, mit der er den Studenten begegnen konnte, die nichts waren und nichts hatten, glich der Behaglichkeit eines Löwen, der einen kleinen Hund ruhig um sich herumspielen läßt. Seine Gestalt ist mir später durch die Erzählungen seines jüngeren Freundes Giesebrecht noch lebendiger und liebenswerter geworden. Sein Vortrag kam seiner Schriftstellerkunst nicht gleich. Er haßte alle Pose so sehr, daß er fast mit Nachlässigkeit zu posieren schien, wenn er in der Jüdischen Geschichte den Zuhörern beim Sprechen den Rücken zukehrte. Er konnte auch im Ausdruck biblischer Dinge verletzen; aber das Große nahm er groß, wie seine Werke zeigen. Er fühlte sich gewiß im Grunde nicht mehr als Theologen; warum wäre er sonst freiwillig, nur aus reiner Wahrheitsliebe, aus der Theologischen Fakultät ausgeschieden? Aber als Geschichtsschreiber und Religionsforscher hat er auf seinem Gebiete seinesgleichen nicht gehabt. Er beherrschte ja nicht nur die biblische Geschichtswelt Alten und Neuen Testaments, sondern auch die arabische. Wo er mit seiner Forschung eingriff, machte er Epoche.“10 Man kann nicht nur Procksch über Wellhausen zitieren, sondern auch Wellhausen über Procksch, genauer über dessen Erstlingswerk. Procksch war von Göttingen nach Leipzig zurückgekehrt, hatte dort seine Studien vervoll9  Ebd. 172. 10  Ebd. 173f.

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ständigt, das erste theologische Examen abgelegt und fast nebenbei ganz selbständig eine Dissertation über ein mit Socin vereinbartes Thema geschrieben, mit der er 1898 zum Dr. phil. promoviert wurde. Das Buch „Ueber die Blutrache bei den vorislamischen Arabern und Mohammeds Stellung zu ihr“, 1899 bei Teubner erschienen, kann in Kürze nicht besser vorgestellt und gewürdigt werden als mit Wellhausens Worten: „In dieser Abhandlung eines jungen Altenburger Theologen ist der Stoff nicht bloß sehr fleißig zusammengetragen, sondern auch mit einem respectablen Aufwand von geistiger Anstrengung verarbeitet. Der Verf. geht am Anfang hypothetisch von der durch W. R. Smith (Kinship and marriage) formulierten und beinah zum Dogma gewordenen Ansicht aus, wonach der politische Charakter der Blutrache primär und der leidenschaftliche und religiöse secundär sein soll. Er zeigt aber, daß man damit bei den Arabern nicht durchkommt. Eine Verwandtschaft ohne Grade und eine darauf beruhende, alle ihre Mitglieder gleichmäßig verbindende, nach Außen fest abgeschlossene politische Gemeinschaft gibt es in dem uns bekannten Arabien nicht. Die Verwandtschaft und die politische Gemeinschaft ist genealogisch abgestuft; die Grenzen sind zuerst nur fließende Uebergänge und eine feste Terminologie für die weiteren und engeren Verbände ist nicht ausgebildet, aber eine Abstufung besteht und ein Gegensatz zwischen den Extremen. Eine solidarische Gemeinschaft, die dem Einzelnen die Blutrache aus der Hand nähme, besteht dagegen vor Muhammed nicht. Auch was über das Verhältniß der Gemeinde von Medina, an deren Spitze der Prophet stand, zum altarabischen Stammwesen ausgesagt wird, ist wohl durchdacht. Die Bewerthung des von Muhammed inaugurierten Rechtes und Staates scheint mir aber nicht ganz gerecht. Für seine Zeit hat er Großes geleistet; der Fehler war nur, daß es für alle Zeit gelten sollte. Das ist der Fehler der Theokratie; sie übersieht, daß die Organisation der Gemeinschaft nichts Göttliches und Ewiges sein kann, sondern wechselnden menschlichen Bedürfnissen zu genügen hat. Manchmal quält sich der Verf. noch etwas mit Schwierigkeiten, die nur auf dem von ihm bereits überwundenen Standpunkte von W. R. Smith entstehen.“11 Der junge Doktor begann am Leipziger „Predigerkolleg“ eine kirchliche Ausbildung, die 1900/01 in eine siebenmonatige Reise nach England und Skandinavien mündete, finanziert mit einem Stipendium des Kollegs. In England traten ihm „die Gestalten der Dickensschen Kunst überall leibhaftig entgegen“, aber im Burenkrieg sah er wie die meisten Deutschen nur das „Right or Wrong, my Country“ wirksam12. Mehr Sympathie entwickelte er für Schweden und Finnland, die er, anders als Dänemark, eng mit Deutschland verbunden fand. Der letzte Teil der Reise gehörte der Wissenschaft. Prockschs Leipziger Lehrer Buhl war 1898 nach Kopenhagen zurückgekehrt, und von ihm angeregt und intensiv begleitet entstand dort der Entwurf einer Schrift 11  ThLZ 25 (1900) 385 (Hervorhebungen von Wellhausen). 12  Selbstdarstellung 175.

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über „Geschichtsbetrachtung und geschichtliche Überlieferung bei den vorexilischen Propheten“, mit der Procksch im Sommer 1901 in Königsberg den Grad eines Licentiaten erwarb und sich anschließend habilitierte13. In den folgenden Königsberger Jahren hatte er Gelegenheit, die alttestamentlichen Hauptvorlesungen auszuarbeiten, die ihm der dortige Ordinarius, Friedrich Giesebrecht (1852–1910), großzügig überließ. Es war die Zeit, in der zunächst Harnacks „Wesen des Christentums“ und dann der Streit um Babel und Bibel die Gemüter erregten. Procksch war die Erregung „ganz unverständlich“, und er war „froh, als sie abflaute“14. Er hatte genug damit zu tun, neben den Vorlesungen die Arbeit über die Geschichtsbetrachtung der Propheten durch eine weitere über die wichtigste dort ins Auge gefasste „geschichtliche Überlieferung“ fortzuführen. Das Ergebnis war ein umfangreiches Werk mit dem Titel „Das nordhebräische Sagenbuch. Die Elohimquelle übersetzt und untersucht“15. Bei den älteren Propheten hatte Procksch keine Bekanntschaft mit dem Werk des Jahwisten gefunden, der „höchst persönliche(n) Schöpfung eines Genies nicht der dichterischen Gestaltungskraft, sondern auch der Religion und Weltbetrachtung“16, wohl aber mannigfach mit dem Elohisten, der das volkstümliche Sagengut des Nordreiches fixiert hat; er stand der frühen Prophetie nahe und war besonders von Elia beeinflußt – sein Gebrauch des Namens Elohim weist ihn als „überzeugten Monotheisten“ aus17. Procksch liefert von seiner Schrift, so wie sie sich ihm darstellt, eine vollständige Übersetzung mit literarkritischen Einleitungen und Noten und graphischer Unterscheidung der literarischen Bestandteile: Grundschrift E1, übernommene Gesetze (Dekalog, Bundesbuch), jüngere Einsätze E2, Geschichte Josuas (deuteronomistisch bearbeiteter Schlussteil der Grundschrift). Jahwist und Elohist sind voneinander unabhängig, haben also eine gemeinsame Grundlage von hohem Alter. Als letzte und höchste Aufgabe betrachtet Procksch die Rekonstruktion der geschichtlichen Wirklichkeit aus der Sage. Hier wendet er sich gegen Wellhausens Auffassung, die Vätergeschichte sei eine Rückprojektion aus den Verhältnissen der älteren Königszeit. Vielmehr bietet gerade der Elohist dem Historiker erstaunlich viel an verwertbarem Material: nicht nur Mose und der Sinaibund sind historisch, sondern auch Abraham, „der Anfänger einer neuen reinen, milden Religion“18. Für das Gesamtverständnis der israelitischen Geschichte ist die Unterscheidung der Lea- und der Rahelstämme fundamental; die Überlieferung der ersteren hat sich vor allem beim Jahwisten, die – wichtigere – der letzteren beim Elohisten erhalten. 13  Erschienen 1902 bei Hinrichs in Leipzig. 14  Selbstdarstellung 178. 15  Wiederum bei Hinrichs, Leipzig 1906. 16  Geschichtsbetrachtung 3. 17  Das nordhebräische Sagenbuch 199. 18  Ebd. 357.

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Als „Die Elohimquelle“ erschien, war ihr Autor schon auf dem Weg zu einem neuen Wirkungsort, nach Greifswald. Dort hat er von 1906 bis 1924 gewirkt, zunächst als außerordentlicher Professor, 1909 nach Ablehnung eines Rufes nach Wien (Nachfolge Sellin) als Inhaber eines persönlichen, 1912 nach dem Tod seines Kollegen Oettli eines etatsmäßigen Ordinariats. In der Mitte dieser Zeit wurde er Vater einer von vornherein großen Familie: er heiratete eine Witwe, die vier Töchter in die Ehe brachte. Schon 1907 ließ er sich beurlauben, um ein halbes Jahr als Mitarbeiter am Deutschen evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des heiligen Landes in Jerusalem tätig zu sein. Unter Anleitung des Institutsdirektors Gustaf Dalman (1855–1941) lernte er das Land kennen und, für beide bezeichnend, „zur Überlieferung wieder Vertrauen fassen; hinter dem zerrissenen Schleier der Legende zeigten sich die Konturen der Geschichte, und so wurde ich allmählich heimisch“19. Während des „Lehrkurses“ im Februar und März 1908 hatte der „Mitarbeiter“ auch die Aufgabe, an der Seite des Direktors den von den Landeskirchen entsandten Stipendiaten („Mitgliedern“) Vorlesungen zu halten. Er behandelte die Baugeschichte Jerusalems und hielt außerdem einen öffentlichen Vortrag über den „Schauplatz der Geschichte Davids“20. Einer der Stipendiaten war der neun Jahre jüngere Predigtamtskandidat Albrecht Alt aus München, entsandt von der bayerischen Kirche. Mit ihm schloss Procksch sogleich Freundschaft, und diese Freundschaft wurde eins der wichtigsten Elemente seines weiteren Lebens. Von 1909 bis 1914, als Alt nach Basel wechselte, wirkten beide nebeneinander in Greifswald, und in dieser Zeit sagte Procksch zu einem Kollegen aus anderer Fakultät21 in geradezu feierlichem Ton: „Mit mir ist es nichts Besonderes; aber aus Alt wird einmal etwas Großes werden.“ Er bezeichnete sich gern als den Schüler des Jüngeren und erkannte dessen Überlegenheit auf den Gebieten von Geographie, Archäologie, Recht und Geschichte stets an. Das hieß keineswegs, dass er selber auf diesen Gebieten unkundig und unproduktiv gewesen wäre oder dass er Alts Thesen kritiklos übernommen hätte; er war ihnen gegenüber selbständiger als mancher Fachgenosse. Was ihn sachlich mit Alt am meisten verband, war ihrer beider Hochschätzung der Geschichte. Aber während Alt sich fast ausschließlich der historischen Forschung selbst hingab, wobei ihn allerdings auch die immanenten Gesetze der historischen Abläufe stark interessierten, hatte Procksch nichts Geringeres als eine „Theologie der Geschichte“ – der Ausdruck scheint von ihm selber zu stammen – im Sinn. Er betrachtete darin den großen Erlanger Konrad von Hofmann (1810–77) als seinen Vorgänger, dessen nicht leicht zugängliche Hauptwerke „Der Schriftbeweis“ (1852–55) und „Weissagung und 19  Selbstdarstellung 181. 20  Vgl. Dalman, PJB 4 (1908) 4–6; Procksch, PJB 5 (1909) 58–80. 21  Meinem Vater, der damals regelmäßig mit beiden verkehrte – alle drei waren Junggesellen – und der sich Prockschs noch nach Jahrzehnten als des „Inbegriffs einer anima candida“ erinnerte.

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Erfüllung“ (1841/44) er 1910 unter diesem Gesichtspunkt interpretierte22, um dann 1916 einen eigenen „Entwurf“ mit eben dem Titel „Theologie der Geschichte“ vorzulegen23. Die anscheinend gehegte Absicht, aus dem Entwurf ein Buch zu machen, hat er nicht ausgeführt; welches Gewicht er aber auf die dort geäußerten Gedanken legte, geht daraus hervor, dass er sie 1925 in seiner programmatischen Erlanger Antrittsrede erneut vortrug24 und dass er sein letztes und wichtigstes Buch, die Theologie des Alten Testaments, mit einem Hinweis auf jenen Entwurf begann25. Er konnte sogar sagen, die alttestamentliche Theologie sei „nur ein Ausschnitt der Geschichtstheologie, in dem sich aber ihre Grundlinien sehr wohl deutlich machen ließen“26. Gegenüber der im 19. Jahrhundert ausgebildeten Geschichtsphilosophie einerseits und Religionsgeschichte andererseits hielt er es für seine Aufgabe, mit Hofmann die Geschichte dem Glauben und der Theologie zurückzugewinnen. Er bezog in drei Schritten aufeinander: Christus und den Christen, Christus und die Geschichte, den Christen und die Geschichte. „Der auferstandene Christus ist nicht nur der Mittelpunkt der mikrokosmischen Glaubenswelt in mir, sondern auch der makrokosmischen Glaubenswelt außer mir. Er ist der Mittelpunkt der Innenseite wie der Außenseite der Geschichte. Er ist nicht nur die Zentralgestalt des jüdischen Volkes, in der sich seine Geschichte vollendet, sondern auch die Zentralgestalt der Weltgeschichte, durch die sie in zwei Welten, äußerlich und innerlich, geteilt wird. […] Er ist der Zielpunkt der Geschichte Israels, aber auch der Weltgeschichte, denn auf diesen auferstandenen Christus, in dem alle Zeit und Ewigkeit aufgehoben wird, bewegt sie sich hin. Die theologische Geschichtsbetrachtung ist eschatologisch; sie kennt ein Ziel, in dem sich alle Geschichte vollenden soll, ohne das sie sich auflöst in ein Chaos der Begebenheiten.“27 So wichtig Procksch diese Gedanken waren, verlor er sich doch nicht ins Spekulative, sondern rief sich gewissermaßen zur Ordnung: „Die Geschichtstheologie wird stets von einer gesunden Schriftwissenschaft abhängig sein. […] Ihr Zentrum aber hat die Schriftwissenschaft in der Exegese.“28 Und so wurde das magnum opus der Greifswalder Jahre der Kommentar zur Genesis, 1913, ein Jahr vor Kittels „Psalmen“, in Sellins Reihe erschienen. Er gilt mit Recht als das „Leipziger“ und also konservativere Gegenstück zu Gunkels Bearbeitung der Genesis im liberalen „Göttinger Handkommentar“. Aber beide haben auch vieles gemeinsam, angefangen damit, dass sie die Texte nach Quellen getrennt erklären. Procksch ist darin sogar der Konsequentere: während Gunkel jeweils 22  Hofmanns Geschichtsauffassung: AELKZ 43 (1910) 1034–38.1058–63. 23  AELKZ 48 (1915) 6–11.30–39. 24  Die Geschichte als Glaubensinhalt: NKZ 36 (1925) 485–99. 25  Theologie des Alten Testaments (1950) 1. 26  Selbstdarstellung 181. 27  NKZ 36, 489. 28  Selbstdarstellung 182f.

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für die Urgeschichte und die größeren Teile der Erzvätererzählung P einerseits, JE andererseits zusammennimmt, behandelt Procksch für die gesamte Genesis zunächst J, dann E, dann P, die für ihn bis zum babylonischen Exil alle drei nebeneinander bestanden haben. „In der Genesis“, begründet er dieses Verfahren im Zusammenhang einer noch und gerade heute lesenswerten Erörterung über „Ziele und Grenzen der Exegese“, „liegen die Quellen so deutlich zutage, sie ergeben, auseinandergelöst, einen so deutlichen Einblick in ältere Erzählungen, daß man es nicht verwerfen kann, wenn man die Quellen gesondert übersetzt und erklärt, um vom Charakter, von der Darstellungskunst, von der Gedankenwelt einer jeden einen klaren Eindruck zu geben. Die Größe des Schriftwerks tritt in der getrennten Quellenbehandlung oft plastischer zutage, als wenn man in der Erklärung von Kapitel zu Kapitel fortschreitet, ohne Rücksicht auf den Wechsel der Quellen. […] Das Schriftwerk selbst darf aber auch bei getrennter Behandlung seiner Quellen nicht als Ganzes aus dem Auge verloren werden.“29 Noch heute wird Gunkels inzwischen reichlich hundertjähriger Kommentar als Klassiker gelesen; um ein Urteil zu gewinnen, lohnt es sich aber immer, bei der Lektüre Procksch daneben zu legen. Seine ausdrückliche oder stillschweigende, immer wohltuend unpolemische Kritik an Gunkel gilt vielen Einzelheiten, in denen er als Philologe oft die besseren Karten hat, vor allem aber der Gunkelschen Tendenz, den Ursprung der Sagen im Märchen zu sehen. Für Procksch ist die Sage die „wichtigste Trägerin geschichtlicher Überlieferung in einem vorliterarischen Zeitalter“30. So ist es folgerichtig, dass der Kommentar in einen Entwurf „der Geschichte“ ausmündet, „von der die Genesis erzählt“31. Nicht lange vor dem Abschluss seiner Arbeit an der Genesis schrieb Procksch: „Ach wie will ich mich freuen, wenn ich zu Ende mit meiner Sache bin. Ich möchte dann einige Zeit am liebsten sprachlichen und vor allem neutestamentlichen Studien leben, die mir auf der Seele brennen.“32 In den Sprachen, alten und neuen, morgen- und abendländischen, übte er sich immer; ein Theologe, so fand er, „müsse eigentlich neun Sprachen lernen, um neben der Bibel und den antiken Quellen auch die ausländische Literatur lesen zu können“33. Zur Abfassung größerer sprachgeschichtlicher Studien, die er damals und später geplant zu haben scheint, ist er nicht gekommen. Aber vor und nach dem Genesiskommentar erschien anderes genug, auch an selbständigen Schriften: die trotz ihrer Bestimmung für weitere Kreise gehaltvolle und dichte Auslegung der Kleinen Propheten34, die ganz selbständigen text29  NKZ 36, 726f. 30  Selbstdarstellung 183. 31  Die Genesis übersetzt und erklärt (1913) 516. 32  Brief an R. Smend 4.2.1912. 33  v. Loewenich (Anm. 2) 123. 34  Die kleinen prophetischen Schriften vor dem Exil; Die kleinen prophetischen Schriften nach dem Exil (1910/1916).

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geschichtlichen Arbeiten zur Septuaginta35, eine über den damaligen Wissensstand vorzüglich orientierende kurze Darstellung der Völker Altpalästinas36. Eine Gruppe für sich bilden die neutestamentlichen Studien: zunächst die Vorträge über Johannes den Täufer37 und Petrus38, dann, wohl das, was ihm 1912 „auf der Seele brannte“, die umfangreiche Untersuchung „Petrus und Johannes bei Marcus und Matthäus“39. Sie bietet eine originelle Lösung des synoptischen Problems an: es hat neben der Redenquelle nicht eine, sondern zwei weitere Quellen gegeben, die von Markus zusammengearbeitet worden sind, deren eine, die „synoptische Grundschrift“, aber auch Lukas noch selbständig vorgelegen hat und aus ihm besser zu erschließen ist, während die andere, die „Sonderquelle“, nur in Markus (und Matthäus) eingegangen ist; die „Grundschrift“ ist petrinischen, die „Sonderquelle“ johanneischen Ursprungs, ja vielleicht sogar vom Apostel Johannes verfasst, ebenso wie viel später das nach ihm benannte, mit der „Sonderquelle“ in manchem verwandte Evangelium. In neuerer Zeit sind alt- und neutestamentliche Exegese und Einleitungswissenschaft nur ganz selten von einem und demselben Exegeten ernsthaft betrieben worden; die Ausnahme Procksch zeigt nach beiden Seiten hin aufschlussreich die Analogie der Ergebnisse bei gleicher Grundhaltung und Arbeitsweise. Als er 1925 nach Erlangen übersiedelte, tat er es in dem Gefühl, an den Ort seiner eigentlichen Bestimmung zu kommen. Bei aller Bismarckverehrung war er doch in Preußen und namentlich in der unierten Kirche nie völlig zu Hause gewesen. Franken und die bayerischen Alpen ließen ihn verschmerzen, dass er nicht mehr an der Ostsee lebte und Skandinavien vor der Tür hatte. Nach Erlangen zog ihn „das lutherische Land, die lutherische Kirche und die lutherische Theologie“40. Nicht nur ihm ging es so; 1923 war Werner Elert (1885– 1954) nach Erlangen gekommen, noch 1925 folgte Paul Althaus (1888–1966). In den nächsten beiden Jahrzehnten bildeten die drei ein „Triumvirat“41 von großer Anziehungskraft. Procksch und Elert standen sich besonders nahe, weil sie beide noch „lutherischer“ waren als Althaus – was etwas heißen wollte. Für die Studenten war es ein großer Gewinn, auf diese Weise von ihren Lehrern in verhältnismäßig hohem Grade die Einheit der Theologie vorgeführt zu bekommen und sie nicht in sich selber herstellen zu müssen, wozu noch kam, dass der Alttestamentler Procksch systematisch zu denken verstand und der Systematiker Althaus auch neutestamentliche Exegese lehrte.

35  Studien zur Geschichte der Septuaginta. Die Propheten (1910); Die Septuaginta Hieronymi im Dodekapropheton (1914). 36  Die Völker Altpalästinas (1914). 37  Johannes der Täufer (1907). 38  Petrus (1916). 39  Gütersloh 1920. 40  Selbstdarstellung 184. 41  K. Beyschlag, Die Erlanger Theologie (1993) 146.

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Procksch „war ein außerordentlich eindrucksvoller Lehrer, der […] ganz im Alten Testament lebte“42. Wenn er „an dem Katheder stand, wirkte er mit seinem etwas struppigen Bart selbst wie ein alttestamentlicher Prophet. Er sprach in einem gepflegten Stil, mit sonorer Stimme, ohne Hast. Seine typische Geste beim Vortrag, als ob er in der Luft mit der rechten Hand einen Apfel durchschnitte, bleibt wohl allen seinen Hörern unvergessen.“43 „Er verglich sich des öfteren in seiner originellen Art mit einem balzenden Auerhahn, da er, während er vortrug, nicht sah und hörte, was da außerhalb seiner vorging.“44 „Im Seminar war Procksch streng. Er wachte unerbittlich über der Präsenz. ,Eine Entschuldigung gibt es nur im Todesfall.’ Die Teilnahme an Stiftungsfesten in Bubenreuth oder Uttenreuth mußte rigoros unterbrochen werden; da galt auch keine Rücksicht auf die Tanzdamen. Für jede Sitzung war ein Text zum Präparieren aufgegeben; von einigen Versen mußten die Verbalformen analysiert und schriftlich eingereicht werden. Ich sehe Procksch noch vor mir, wie ihm vor innerer Erregung der kalte Schweiß ausbrach, als er einen Studenten ertappte, der nicht präpariert war.“45 Aber er besaß auch die Freiheit, von seiner gewöhnlichen Strenge abzuweichen. Nach Jahrzehnten erinnerte sich ein bekannter Fernsehpfarrer, der mit akademischer Theologie nicht viel im Sinn hatte, ihn und seine Mitprüflinge habe einst der Alttestamentler, „ein körperlich behinderter, geistvoller und geistlich bewegter Mann“, das Hebraicum „zwar mit Ach und Krach, aber immerhin“ bestehen lassen, weil er ihnen wohl „den Weg zu vielen weiteren Prüfungen aller Art nicht verbauen wollte“; ihm sei es „immer ein Hinweis auf Qualität, wenn jemand sich und sein Fach nicht für allein entscheidend hält“46. Bei aller Entschiedenheit der eigenen Position unterließ Procksch es strikt, Andersdenkende zu verunglimpfen. „Wie er sich auch im Seminar leidenschaftlich gegen eine abwertende Äußerung eines Gelbschnabels über Heinrich G. A. Ewald wandte. So war bei diesem konservativen Gelehrten nicht gewettet, daß das Gebot wissenschaftlicher Fairness hätte verletzt werden dürfen!“47 Die Probe, auf die das Dritte Reich die deutschen Professoren stellte, bestand er besser als seine beiden Mittriumviren. Sein politisches Credo blieb, wie schon angedeutet, sowohl nach 1918 als auch nach 1933 die Monarchie. Alljährlich gedachte er am 27. Januar, „Kaisers Geburtstag“, in der Vorlesung des verbannten Wilhelm II. An Hitlers Geburtstag, dem 20. April, soll er, ebenfalls in der Vorlesung, den Satz riskiert haben: „Der Segen Jahwes möge über ihm walten!“ Als im Mai 1933 ein prominenter „Deutscher Christ“ in einer großen Versammlung über die Ziele seiner Bewegung sprach und dabei das Judentum 42  W. Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit (1976) 84. 43  v. Loewenich a.a.O. 64. 44  H. Preuß, ELKZ 2 (1948) 228. 45  v. Loewenich a.a.O. 65. 46  A. Sommerauer, Auf meine Art. Erinnerungen eines Unbequemen (1989) 78. 47  Trillhaas a.a.O. 84.

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angriff und forderte, dass Nichtarier aus dem Pfarrerstand entfernt werden und die Studenten sich statt mit dem Alten Testament besser mit Eugenik beschäftigen sollten, humpelte Procksch in der Diskussion auf das Podium und erklärte: „Ich werde in Zukunft nicht mehr über die jüdischen Könige prüfen. Den Apostel Paulus könnte man vielleicht wenigstens als Vikar von Erlangen-Neustadt anstellen. Und was die Tante Eugenie anlangt...“ Starker Beifall hinderte ihn am Weitersprechen48. Obwohl das Judentum wegen seines Zusammenhangs mit Demokratie, Liberalismus, Sozialismus und Internationalismus ihm seit je unsympathisch war49, blieb er, wie sich von selbst verstand, gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus immun. Und er tat, was seines Amtes war, indem er das Alte Testament gegen alle Angriffe verteidigte. „Ist die Theologie etwa eine Römerin oder eine Griechin?“, fragte er in einem Vortrag und antwortete: „Nein, sie ist eine Hebräerin.“50 Unterdessen ging, von den Zeitläuften unbeirrt, aber nicht unberührt und sie direkt und indirekt oft berührend, die literarische Produktion weiter. Aus der Fülle der kleineren Arbeiten, die in Erlangen entstanden, greife ich fast aufs Geratewohl heraus: „König Josia“ (1928)51, „Der Staatsgedanke in der Prophetie“ (1933!)52, „Das Bekenntnis im Alten Testament“ (1936!)53, „Fürst und Priester bei Hesekiel“ (1940/41)54. Noch in Greifswald war die zweite Auflage des Genesiskommentars entstanden, in zahlreichen Einzelheiten, aber nicht in der Konzeption verändert und noch entschiedener gegen Gunkel abgesetzt: „in neueren Arbeiten tritt bei ihm die verhängnisvolle Verwechslung von Sage und Märchen noch spürbarer hervor. Demgegenüber möchte der hier veröffentlichte Kommentar die Genesis als Quelle einer Geschichte und eines Glaubens verstehen lehren, zu dem unser eigenes Leben in persönlichem Zusammenhang steht.“55 Dem Kommentar zur Genesis folgte 1930, ebenfalls in Sellins Reihe, der zu Jesaja. Auch hier hatte Procksch das Gegenstück zur klassischen Bearbeitung im „Göttinger Handkommentar“ zu liefern, nämlich zu Bernhard Duhms Erklärung von 1892. Duhms Gegenstand war das ganze Buch gewesen, und er hatte gerade in dessen zweitem Teil (Kap. 40–66) epochemachende Entdeckungen gemacht. Procksch konnte sich auf den ersten Teil beschränken und war umso mehr bemüht, die Texte in der assyrischen Zeit zu verankern, darunter nicht wenige, die Duhm und seine nächsten Nachfolger dem Propheten 48  v. Loewenich a.a.O. 123f. 49  Vgl. die Greifswalder Vorträge Altes Testament und Judentum (1921), die auf die Assimilation als einzige Lösung der „Judenfrage“ hinauslaufen. 50  v. Loewenich a.a.O. 64. 51  Zahn-Festgabe (1928) 19–53. Ist es ein Zeichen unserer Zeit, dass dieser wichtige Aufsatz in dem so gründlichen Josia-Buch von W. Boyd Barrick (The King and the Cemeteries, VT.S 88, 2002) nicht einmal in der Bibliographie auftaucht? 52  Gütersloh: Bertelsmann. 53  In der Reihe „Theologia militans“. 54  ZAW 58, 99–133. 55  Genesis (2.31924) V.

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abgesprochen hatten. Es fällt auf, dass der Kommentar, vergleichbar dem zur Genesis, von der damals im Aufschwung befindlichen Gattungsforschung kaum Gebrauch macht. Dagegen ist er, wie übrigens auch schon der Genesiskommentar, sehr am Metrum interessiert, emendiert auch häufig metri causa. Dem Ganzen liegt, das ist die Hauptthese, ein von Jesaja selbst stammendes, aus Sammlungen seiner Reden und einem Prolog bestehendes Buch zugrunde, für dessen Rekonstruktion der Grundsatz gilt, dass es „von denkbarer Vollkommenheit war, wie sie dem formgewaltigsten aller alttestamentlichen Schriftsteller entspricht“56; es umfasste im wesentlichen Jes. 1; 2–6; 9,7–10,4; 28–31(32). Die dahinter stehende Person sieht der Kommentator mit den Augen Carlyles: „Der Held als Prophet ist in keiner Gestalt der Geschichte so rein verkörpert wie in Jesaia. Und wenn Carlyle vom Helden fordert, daß er in seiner Natur gleich große Entwicklungskraft zum König und Feldherrn, zum Staatsmann und Priester, zum Seher und Dichter trage, so ist Jesaia eines der großartigsten Beispiele dieses Helden an sich.“57 Procksch wollte danach „noch neun Bücher schreiben, deren Titel und innerer Gang in ihm schon feststanden“58. Er musste froh sein, dass wenigstens eins zustande kam; dieses eine freilich wog mehrere auf. Der „Theologie des Alten Testaments“ liegt eine Vorlesung zugrunde, die Procksch in dreieinhalb Jahrzehnten oft gehalten hat, aber sie bedurfte dann doch einer völlig neuen Ausarbeitung. Zu ihr kam Procksch, als er nach seiner Emeritierung (1939) gänzlich in sein Haus in Alterschrofen bei Füssen im Allgäu übersiedelte, von wo er allerdings noch oft nach Erlangen fuhr, weil er in Ermangelung eines Nachfolgers seinen Lehrstuhl weiter vertreten musste. Die Aussicht, ein so umfangreiches Werk – es ist 787 Druckseiten stark – noch gedruckt zu bekommen, wurde von Jahr zu Jahr geringer. Aber Procksch hat als schwerkranker Mann noch die ersten Druckbogen lesen können. Das Buch ist klar gegliedert. Procksch zerschlug den gordischen Knoten, der in der Frage „historische oder systematische Darstellung oder Mischung aus beiden“ besteht – oder zerschlug ihn auch nicht –, indem er beides hintereinander gab: zunächst die „Geschichtswelt“, dann die „Gedankenwelt“, letztere etwas kürzer, weil vieles schon davor zur Sprache gekommen war. Sein unmittelbarer Vorgänger mit dieser Zweiteilung war Sellin59 (1867–1946), den Weg hatte Hermann Schultz (1836–1903) vorgezeichnet60. Die „Geschichtswelt“ durchläuft drei Etappen: die altprophetische Zeit (Erzväter, Mose, Israel in Kanaan), die Königszeit (König und Prophet, Nordreichspropheten, Jesaja, das Jahrhundert des Deuteronomiums, Deuterojesaja) und die Zeit des Kirchen56  Jesaia (1930) 1. 57  Ebd. 14f. 58  Preuß (Anm. 44) 228. 59  E. Sellin, Alttestamentliche Theologie auf religionsgeschichtlicher Grundlage I/II (1933). 60  H. Schultz, Alttestamentliche Theologie (41889), im Unterschied zu den früheren Auflagen.

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staates (von der Priesterschrift bis zur Apokalyptik). Nach dieser „Vertikalen“ die „Horizontale“, der „Querschnitt“ durch die „drei großen Gedankenkreise, die in Gott das gleiche Zentrum haben und sich daher auf die gleiche Ebene projizieren lassen“61: Gott und Welt (Offenbarung, Schöpfung, Weltbild), Gott und Volk (Gnadenwahl, Kult, Recht, messianische Hoffnung), Gott und Mensch (Glaube, Versöhnung, Gemeinschaft mit Gott)62. Mit der Dreiteilung der „Gedankenwelt“ hat das Buch Schule gemacht, bevor es herauskam. 1933 erschien der erste der drei Bände von Walther Eichrodts „Theologie des Alten Testaments“, in der diese Dreiteilung bereits durchgeführt ist, allerdings mit Vertauschung der ersten beiden Teile, so dass „Gott und Volk“ am Anfang steht. Eichrodt (1890–1978) hat anerkannt, dass er die Formulierung der „drei Hauptkreise“ dem „von O. Procksch seinen Vorlesungen über alttestamentliche Theologie zugrundegelegten Aufriß“ verdankte63. Die seitherige Literatur hat daraus kurzerhand ein Lehrer-SchülerVerhältnis zwischen Procksch und Eichrodt erschlossen64 und dieses genauer in Erlangen lokalisiert65, ja sogar gewusst, dass Eichrodt sich dort „unter der Obhut von O. Procksch“ habilitiert habe66. Aber als Procksch nach Erlangen kam, war Eichrodt längst Professor in Basel, und lange vorher hatte Eichrodt zwar ein (einziges) Semester (Sommer 1909) in Greifswald studiert, aber in diesem Semester las Procksch nicht Theologie des Alten Testaments67. So wird Eichrodt auf andere Weise von Prockschs Aufriss Kenntnis bekommen haben. Dass in der von ihm vollzogenen Umstellung „der Einfluß der Theologie Karl Barths unverkennbar“68 sei, hat wenig für sich; die „Voranstellung des „Partikularismus“ vor den „Universalismus“ lag schon dem 19. Jahrhundert nahe – man vergleiche nur die Gliederung des „zweiten Hauptteils“ bei Schultz69 –, und zwischen Barth und Eichrodt haben weder sachlich noch persönlich engere Beziehungen bestanden, schon gar nicht, bevor Barth (1935, zwei Jahre nach Eichrodts erstem Band) nach Basel kam. Ebenso wenig braucht man70 bei Eichrodts stärkerer Akzentuierung des „Bundes“ an Barth zu denken. In dieser Sache gibt Procksch seinem „Schüler“ 61  Vgl. Theologie des Alten Testaments (1950) 19. 62  Eine Übersicht über den Inhalt gibt J.N. Schofield in: R.B. Laurien (ed.), Contemporary Old Testament Theologies (1970) 93–119. 63  W. Eichrodt, Theologie des Alten Testaments I (61959) 7, vgl. auch Prockschs Reklamation seines „Eigentums“ Theologie 421. 64  H. Graf Reventlow, Hauptprobleme der alttestamentlichen Theologie im 20. Jahrhundert (1982) 54. 65  H.D. Preuß, Theologie des Alten Testaments I (1991) 9. 66  M. Sæbø, TRE IX (1982) 371; B. S. Childs, Dictionary of Biblical Interpretation (1999) I, 325. 67  Freundliche Mitteilung von Herrn I. Garbe in Greifswald. 68  R. Rendtorff, Kanon und Theologie (1991) 6. 69  Alttestamentliche Theologie 401ff. 70  Mit Rendtorff a.a.O., vgl. wieder Schultz a.a.O.

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nicht viel nach. Immerhin nennt er den Gottesbund den „zureichenden Grund des Verständnisses für den alttestamentlichen Glauben“71 und findet es „berechtigt, wenn er auch in der Theologie des Alten Testaments zum Hauptbegriff genommen wird, wie es im 17. Jahrhundert durch Coccejus geschah und gegenwärtig durch Eichrodt geschehen ist“72. Das steht allerdings mit der „Geschichte des Bundesgedankens“, die bei Procksch73 wie bei Eichrodt74 unter gleicher Überschrift traktiert wird, in engstem Zusammenhang, denn: „auch der Bundesgedanke hat seine Geschichte, die sich in der Auffassung der alttestamentlichen Quellen widerspiegelt“75. Für beide, Procksch und Eichrodt, hat diese Geschichte den gleichen Ausgangspunkt: „Der Sinaibund steht als rocher de bronce am Anfang der Geschichte des Gottesvolkes“ (Procksch76), „die vom AT selbst an die Hand gegebene Vorstellung, daß Mose […] die Jahweverehrung auf einen Bundesschluß begründete,“ bleibt „die gesicherte Grundlage für die Beurteilung des israelitischen Gottesverhältnisses“ (Eichrodt77). Das ist konservative Geschichtsbetrachtung, aber es ist Geschichtsbetrachtung, und sie konnte sich auf Wellhausens Freund und Prockschs Königsberger Kollegen Friedrich Giesebrecht berufen, der gegen den Freund die Geschichtlichkeit des Sinaibundes zu erweisen versucht hatte78. Dass spätestens seit Lothar Perlitt79 und Ernest Nicholson80 die Lage anders ist, ja dass Prockschs „Theologie“ schon zur Zeit ihres Erscheinens „in manchen Bereichen, wie etwa betr. der Geschichtlichkeit von Abraham oder Mose überholt“ war81, was ja mutatis mutandis von fast allen unseren Werken gilt, stellt den Anspruch, die Leidenschaft und auch die Kompetenz gerade dieses Theologen in Sachen der Geschichte nicht in Frage. Man hat ihn, wenn überhaupt, dann nicht in seinem Sinn gelesen, wenn man sagt, er habe dem als mangelhaft empfundenen systematischen Teil den geschichtlichen „vorangestellt“82. Sein Herz hing an der „Geschichtswelt“ zumindest nicht weniger als an der „Gedankenwelt“, in deren Darstellung doch auch das Geschichtliche 71  Theologie 90. 72  Ebd. 513. 73  Ebd. 521–31. 74  Theologie I, 15–32. 75  Theologie 522. 76  Ebd. 521. 77  Theologie I, 9f. 78  Die Geschichtlichkeit des Sinaibundes (1900), vgl. Procksch, Das nordhebräische Sagenbuch 370; Theologie 90. 79  Bundestheologie im Alten Testament (1969). 80  God and his people. Covenant and theology in the Old Testament (1986). 81  Preuß, Theologie 8. 82  Rendtorff (Anm. 68) 6. Vgl. schon G. v. Rad, Gesammelte Studien zum Alten Testament (1973) 278. H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments (31982) 504 spricht bei der „Gedankenwelt“ von einem „geschichtsfremden, dogmatisierenden Sammeln des alttestamentlichen Ideengutes“.

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durchweg sein Recht bekommt83. Dass in den „gewaltigen Metamorphosen“, die die alttestamentliche Theologie durchgemacht hat, „sich doch der Glaube des Alten Testaments im Kern gleich geblieben“ ist84, ist auch eine historische These; aber nicht nur. Denn dass es überall „ein und derselbe Gott“ ist, „um den die Glaubenswelt kreist“, dem der Mensch sich unterwerfen muss, „wenn er ihn kennenlernen soll, wie sich Patriarchen und Propheten ihm unterworfen haben, wenn er sie aus Vaterhaus und Freundschaft und Vaterland vertrieb“85, das ist eine Aussage des Glaubens, und in der Tat lässt Procksch keinen Zweifel daran, dass er als Glaubender schreibt, genauer als Christ. Dagegen ist mit Schärfe eingewendet worden, die Konsequenz dieser Position sei, dass man „faktisch die Wissenschaft preisgibt und damit aus dem Konzert einer überprüfbaren Wissenschaft ausscheidet, um stattdessen ein Gespräch im Ghetto der Gläubigen zu führen, denen allein die Wahrheit aufgehen kann“86. Auf diesen Einwand hätte Procksch vermutlich mit dem Programm einer „pneumatischen Exegese“ geantwortet, das in den zwanziger Jahren eine Zeitlang die Gemüter bewegte und an dem er einen – nicht ganz vorbehaltlosen – Anteil hatte87. Häufiger ist ein zweiter Einwand. Prockschs Theologie des Alten Testaments beginnt mit dem Satz: „Alle Theologie ist Christologie.“ Dieser Satz, so kann man immer wieder lesen, wird dann im Einzelnen nicht durchgeführt88. Dagegen hat E. Würthwein (1909–96) geltend gemacht, Procksch habe wohl gewusst, „was er tat, als er […] auf alle christologischen Auslegungskünste verzichtete und das Alte Testament als ‚Hintergrund‘, als ‚Anknüpfungspunkt‘ für die Predigt Jesu verstanden wissen wollte“89. Vielleicht hätte Procksch der doppelten These E. Jüngels nicht ohne weiteres zugestimmt, die Alttestamentliche Wissenschaft entlaste die übrigen theologischen Wissenschaften, indem sie von Jesus Christus schweige, während die Neutestamentliche Wissenschaft die übrigen theologischen Disziplinen entlaste, indem sie die biblischen Texte insgesamt von Jesus Christus reden lasse90; aber diese These sagt bündig kaum etwas Anderes, als was in dem scheinbaren Missverhältnis zwischen Prockschs erstem Satz und dem übrigen Buch liegt. Umgekehrt wie Procksch hielt es sein jüngerer Zeitgenosse Wilhelm Vischer, der, von der gleichen Wahrheit ausgehend wie er, dass alle Theologie Christologie ist, schon das Alte Testament allenthalben von 83  Richtig B. Schroven, Theologie des Alten Testaments zwischen Anpassung und Widerspruch (1995) 95: Procksch wollte beide Teile „als eine theologische Einheit verstanden wissen“. 84  Procksch, Theologie 713. 85 Ebd. 86  A.H.J. Gunneweg, Biblische Theologie des Alten Testaments (1993) 22. 87  Vgl. hier nur Selbstdarstellung 189f. und NKZ 36, 729f. 88  Vgl. z.B. R.C. Dentan, Preface to Old Testament Theology (1963) 74; Kraus (Anm. 82) 504; J.H. Hayes/F. Prussner, Old Testament Theology. Its History and Development (1985) 192; Preuß, Theologie I, 8. 89  ThR 36 (1971) 205. Dazu Procksch, Christus im Alten Testament: NKZ 44 (1933) 57–83. 90  E. Jüngel, Unterwegs zur Sache (1972) 58.

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Jesus Christus reden ließ91. Sein Freund Karl Barth, 1932 darauf angesprochen, stimmte dem, wie auch in späterer Zeit, nur etwas halbherzig zu, erklärte aber, „man müsse Vischer insofern recht geben, als die anderen Alttestamentler doch lauter ‚Halunken‘ seien“; doch er ergänzte – sein Gesprächspartner kam aus Erlangen –: „nun, Ihr Procksch ist vielleicht eine Ausnahme“92. Halunken hin, Halunken her – dass Procksch eine Ausnahme war, dürfte richtig sein. Er starb am 7. April 1947, am Morgen des Ostermontags. Sein Buch erschien drei Jahre später mit einem Vorwort Gerhard von Rads, bei dem sein Erbe trotz aller Unterschiede, die zwischen ihnen bestanden, in guten Händen lag.

91  Das Christuszeugnis des Alten Testaments I/II (1934/42). 92  v. Loewenich (Anm. 2) 64f.

Hugo Greßmann 1877–1927

Als 1924 die Herausgabe der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft von Karl Marti auf Hugo Greßmann überging, wurde das, wie ein führender Brite formulierte, als ein „turning point“ empfunden: nach der Dominanz der Literarkritik Wellhausenscher Prägung nun die Beschäftigung mit Archäologie, vergleichender Anthropologie und Religionswissenschaft, mit Volksglauben und Ritus, nicht zu vergessen mit den vorliterarischen Formen und Gattungen und ihrem Sitz im Leben1. Der Wechsel war von ähnlicher Symbolkraft wie 1906/07 derjenige auf dem Gießener Lehrstuhl von Stade zu Gunkel. Doch während dort ein Mann auf der Höhe seiner Leistung abgelöst wurde und die neue Arbeitsweise sich erst durchsetzen mußte, war die ZAW unter Marti, wie noch lange die Rede ging2, in einen „Dornröschenschlaf“ versunken. Für die Rolle des Prinzen, der sie wieder zum Leben erweckte, war Greßmann eine glänzende Besetzung. In mehr als einer Hinsicht das Gegenteil Martis, eines im übrigen sehr verdienten Gelehrten, verstand er die Zeitschrift „in den kurzen drei Jahren seiner Herausgeberschaft […] erneut auf die Höhe eines international bedeutsamen Organs zu heben“3. Und das war bei weitem nicht die einzige Leistung, die dieser Mann, der gerade fünfzigjährig starb, für seine Wissenschaft erbrachte. Wie die gelehrten Anfänge seiner beiden Vorgänger bei der ZAW, der Wellhausianer Stade und Marti, noch in der vorwellhausischen Ära gelegen hatten, so war Greßmann, der sich wiederum ein Zeitalter weiter wußte, unmittelbar – ich zitiere seinen Freund Gunkel4 – „aus der Wellhausen’schen Schule hervorgegangen“. Der am 27. März 1877 als Sohn eines Bahnhofsverwalters im lauenburgischen Mölln Geborene wuchs in Travemünde auf, besuchte – übrigens gleichzeitig mit dem zwei Jahre älteren Thomas Mann – das Gymnasium Catharineum in Lübeck und begann das Studium der Theologie in Greifswald. „Durch Giesebrechts begeisternde Vorlesungen“, so berichtet er5, „gewann ich eine Vor1  Vgl. Th.H. Robinson, ET 46 (1934/35) 301. 2  E. Sellin, ZAW 45 (1927) XVII; W. Zimmerli, ZAW 78 (1966) IV. 3  Zimmerli a.a.O. 4 RGG 2II, 1454. 5  Im Lebenslauf, der der Kieler theologischen Dissertation von 1902 beigegeben ist. Biographisches weiter in E. Sellins Gedächtnisrede ZAW 45 (1927) VII–XX, sowie bei K. Galling,

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liebe für das Alte Testament, die in Göttingen noch verstärkt wurde“ – durch Wellhausen und Smend, die seine Lehrer im Fach gewesen sind. Daneben studierte er orientalische Sprachen, in Göttingen außer bei den Genannten bei Schultheß, in Marburg bei Jensen, und nach dem theologischen Examen in Kiel bei Georg Hoffmann und Lidzbarski. Als Lehrer, denen er „zu tiefem Dank verpflichtet“ sei, nennt er weiter Bousset in Göttingen – er wird ihm als erster das Gedankengut der „religionsgeschichtlichen Schule“ nahegebracht haben – und Baumgarten in Kiel – er wird weitgehend für das verantwortlich gewesen sein, was Greßmann als Theologe vertrat. Die Göttinger philosophische Fakultät, in der ja seit J. D. Michaelis das Alte Testament untergebracht war, stellte für das akademische Jahr 1897/ 98 die Preisaufgabe: „Die in Jes 56–66 vorausgesetzten zeitgeschichtlichen Verhältnisse sollen untersucht werden.“ Es gingen zwei Bearbeitungen ein. Das Motto der ersten lautete: Οὐ δύναται λυϑῆναι ἡ γραφή, das Motto der zweiten: „Sei ein Schwätzer – und sieh, Alle Schwierigkeiten verschwinden.“

Den Gutachtern, Wellhausen und Smend, war schwerlich bekannt, dass das zweite Motto von Kierkegaard stammte6, und mit diesem Namen hätten sie wohl auch wenig anzufangen gewusst. Wollte der Bewerber mit dem Zitat – Kierkegaard legt die Worte Menschen in den Mund, die sich „beschwerliche Probleme vom Halse […] schaffen“ möchten – vorsorglich Selbstkritik üben? Jedenfalls zeugte es von Originalität und davon, dass der Bewerber sich in der neuesten theologisch-philosophischen Literatur umgesehen hatte. Den Gutachtern war manches in der ersten Arbeit sympathischer, aber den Ausschlag gab Wellhausens Feststellung: „Der mit dem frechen Motto hat Judiz.“ Und so wurde der Preis der ersten Arbeit mit einem freundlichen Elogium („rühmlicher Fleiß“, „Umsicht nach allen Seiten“, leider Defizite an Präzision und Darstellungsgabe, aber „im Übrigen sehr lobenswerth“) verweigert und der zweiten mit etwas sauersüßen Worten zuerkannt: „Der Verfasser hat sich mit selbständigem Urtheil und nicht ohne Erfolg um die Erklärung des schwierigen Abschnitts bemüht und den Sprachgebrauch dieser Kapitel nach der lexikalischen Seite mit Verständniss untersucht. Als ein Mangel ist es zu bezeichnen, dass er die von Kosters angeregten Verhandlungen über die Rückkehr aus dem Exil nicht berücksichtigt hat. Gleichwohl hat die Fakultät in Anerkennung des Geleisteten ihm den Preis nicht versagen wollen.“ Als Verfasser ergab sich für die erste Arbeit cand. theol. NDB VII, 50f. Vgl. auch P. Welten in: 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, hg.v. G. Besier und Ch. Gestrich (1989) 336–47. 6  Die unmittelbare Quelle dürfte H. Höffding, Sören Kierkegaard als Philosoph (1896) 157 gewesen sein, die Fundstelle bei Kierkegaard ist: Der Augenblick Nr. 9, 4. Stück (in der Übersetzung von A. Dorner und Ch. Schrempf unter dem Titel „Sören Kierkegaards Angriff auf die Christenheit“ I, 1896, 359–61 mit dem Wortlaut „Werde ein Schwätzer...“, in den späteren deutschen Werkausgaben bei Schrempf XII, 147–49, bei Hirsch-Gerdes XXXIV, 308–11).

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August Marahrens aus Hannover, für die zweite stud. theol. Hugo Greßmann aus Travemünde7. Dem „Verlierer“ stand keine kleinere Karriere bevor als dem „Gewinner“: zur Zeit von Greßmanns frühem Tod war er bereits Landesbischof in Hannover. Die gekrönte Preisschrift umfasst im Druck 34 Seiten. Sie nimmt im ersten Satz sehr knapp auf Duhms Tritojesaja-These Bezug, die damals ein paar Jahre alt war. Die Literatur wird „als bekannt vorausgesetzt“ und dafür auf das Verzeichnis in Kittels Kommentar verwiesen. In der Arbeit begegnen mit einer einzigen Ausnahme keine Titel, Jahres- und Seitenzahlen, und nur dort, wo sie wirklich nötig sind, die Namen von Autoren; auch Kosters kommt in der Druckfassung noch zu seinem Recht oder vielmehr Unrecht. Greßmann durchmustert die Kapitel mit sicherem Blick und gelangt zu einem Ergebnis, das in der Hauptsache Duhm bestätigt, aber auch wieder ganz selbständig ist: Jes 56–66 aus vielen, meistens zusammenhanglosen Stücken zusammengesetzt, durchweg nachexilisch, aber nicht genauer datierbar, nicht sicher von einem einzigen Verfasser, sicher nicht von Deuterojesaja, was gerade aus den Berührungen von Kap. 60 etwa mit Kap. 54 hervorgeht. Kap. 56–66 sind von 40–55 abhängig und von vornherein als Fortsetzung dazu geschrieben. Den Abschluss der Arbeit macht eine genau durchdachte, unmittelbar aussagekräftige Sprachstatistik. Das Ganze sieht weder nach einem Anfänger noch nach dem „Schwätzer“ des Mottos aus; ein solches Debüt ließ viel erwarten. Die Göttinger Fakultät nahm die Arbeit mit Recht als Dissertation an – was heute bei so gänzlichem Mangel an Ballast undenkbar wäre. 1899 erhielt der 22jährige nach cum laude bestandener Prüfung den Titel eines Dr. phil. Die nächste akademische Station war Kiel. Hier wurde 1902 der wissenschaftliche Ausweis durch eine theologische Promotion komplettiert, auf die sogleich die Habilitation folgte. Als Dissertation dienten „Studien zu Eusebs Theophanie“, entstanden im Zusammenhang mit der Edition dieses Werkes, die Greßmann in den „Griechischen christlichen Schriftstellern der ersten drei Jahrhunderte“ 1904 vorlegte, die Habilitationsschrift behandelte „Musik und Musikinstrumente im Alten Testament“. Die thematische Weite ist für den nun einsetzenden Katarakt von Greßmanns literarischer Produktion bezeichnend8. Als gemeinsamer Nenner taugt am ehesten der Begriff der Religionsgeschichte – selbst die Arbeit über Musik und Musikinstrumente heißt im Untertitel „Eine religionsgeschichtliche Studie“. Für diese Ausrichtung seiner Arbeit wurde entscheidend, dass Greßmann in Kiel den 1901 von Halle dorthin gekommenen Kirchenhistoriker Albert Eichhorn zum Freund gewann, der als stiller Inspirator der „religionsgeschichtlichen Schule“ viel mehr bedeutet hat, als die geringe Zahl seiner Veröffentlichungen zu erkennen gibt. Wie Gunkel ihm 1895 „Schöpfung 7  Vgl. R. Smend, Festrede im Namen der Georg-August-Universität zur akademischen Preisvertheilung am VIII. Juni MDCCCXCVIII gehalten, 20f. 8  Bibliographie: G. Sprondel, ZAW 69 (1957) 211–28; Ergänzungen dazu: W. Baumgartner, ZAW 74 (1962) 213.

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und Chaos“ gewidmet hatte, so widmete ihm (und Bousset) Greßmann 1905 seinen „Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie“, wozu er später bemerkte: „Ich hätte ihn auf jeder Seite nennen können, wenn es auch schwer war, seinen Anteil jedesmal genau abzugrenzen; denn er hat alle Probleme von Anfang bis Ende mit mir durchgesprochen. Ich trug ihm den Stoff, den er nicht beherrschte, und meine Auffassung vor, um sein Urteil zu hören. Er hatte die wunderbare Fähigkeit, die ich bisher nie wieder bei einem Menschen gefunden habe, auch weitausgreifende Konzeptionen im Moment, wo man sie aussprach, zu erfassen, ihren schwachen Punkt zu erkennen und unbarmherzig jedes Kartenhaus so lange zu zerstören, bis der Wiederaufbau ausgeschlossen war.“9 Greßmanns Kartenhaus von 1905 hatte mit dem Gunkelschen von 1895 einige Ähnlichkeit: beidemale die weit hinter die biblischen Zeugnisse zurückgreifende Konstruktion einer von diesen vorausgesetzten Gedankenwelt großenteils ausländischer Herkunft, beidemale dann in der Wissenschaft eine geradezu spaltende Wirkung. Während Gunkels und Greßmanns Thesen in der Religionsgeschichtlichen Schule, aber aus naheliegenden Gründen auch bei konservativen Fachgenossen freudig begrüßt wurden, erfuhren sie in der Umgebung Wellhausens scharfe Kritik. „Ein ziemlich dummdreistes Buch“ habe Greßmann geschrieben, teilte Wellhausen 1905 Nöldeke mit; er wolle es aber „nicht öffentlich beurtheilen wegen persönlicher Beziehungen“10. Die öffentliche Beurteilung besorgte Wellhausens Schüler und Greßmanns Lehrer Giesebrecht11, worauf Greßmann mit einer ausführlichen Apologie reagierte12. Der Beobachter jenseits des Kanals, der mit Greßmanns Namen jenen „turning point“ verbunden sah, notierte gelassen: „The newer school may from time to time be charged with allowing too much play to imagination and with basing their conclusions an somewhat subjective reasoning.“13 Nun gibt es verschiedene Grade der Subjektivität, und so war es auch in der „newer school“. Gewiss stand Greßmann nie ernstlich in der Gefahr, der „Schwätzer“ seines Mottos von 1898 zu werden. Aber sein Einfallsreichtum und seine Hypothesenfreudigkeit – man lese etwa, wie er in die Lade Jahwes (als eine unter vielen Laden!) das Bild eines Jungstiers und dann auch noch das einer weiblichen Gottheit hineinpraktiziert14 – haben manchem nüchternen Zeitgenossen den Atem verschlagen, so auch Greßmanns wichtigstem Weggefährten Hermann Gunkel, der sich dadurch aber nicht hindern ließ, ihrer beider Verbindung als „ein großes Glück seines Lebens“ zu betrachten15.

9  H. Greßmann, Albert Eichhorn und Die Religionsgeschichtliche Schule (1914) 22. 10  Briefe (2013) 467. 11  ThStKr 80 (1907) 619–30. 12  ThStKr 81 (1908) 307–17. 13  Robinson (wie Anm. 1). 14  Die Lade Jahves und das Allerheiligste des salomonischen Tempels (1920) 17–44. 15  Vgl. W. Klatt, Hermann Gunkel (1969) 110.

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Diese Verbindung dürfte bald nach Eichhorns Erscheinen in Kiel durch dessen Vermittlung zustandegekommen sein. Vielleicht schlägt sie sich schon in Greßmanns erster Promotionsthese von 1902 nieder: „Die Problemstellung Wellhausens betreffend die Abfassungszeit des Psalters ist falsch.“ In der Folgezeit verband beide Männer nicht nur diese schnell ins Grundsätzliche gehende und von Ressentiment nicht freie Frontstellung16, sondern mehr noch die gegenseitige Anregung bei beiderseits ungewöhnlich fruchtbarer Arbeit. Am stärksten trat die Gemeinsamkeit in den von Gunkel konzipierten „Schriften des Alten Testaments“ zutage. Von diesem „älteren Göttinger Bibelwerk“ hat Greßmann (nach Gunkels „Urgeschichte und Patriarchen“) den zweiten und den dritten Band geschrieben, „Die Anfänge Israels“ (als zweiten Band der „Sagen des Alten Testaments“) und „Die älteste Geschichtsschreibung Israels“ (erschienen 1914 und 1910). Es handelt sich um eine Übersetzung und Erklärung der Bücher von Exodus bis 2. Könige 15 sowie Amos und Hosea, wobei aber, besonders im zweiten Band, die biblische Reihenfolge oft zugunsten einer sachlichen Neugruppierung durchbrochen ist; die „älteste Gesetzgebung“ (Bundesbuch und Dekaloge) folgt erst im dritten Band auf die Geschichte Salomos. Lebendiger und lesbarer ist der große Stoff von keinem einzelnen Wissenschaftler behandelt worden, und schon gar nicht origineller. Wie Gunkel bei der Erklärung der Genesis seinen eigenen Kommentar voraussetzen konnte, so Greßmann beim weiteren Pentateuch seinen „Kommentar zu den Mose-Sagen“, der 1913 unter dem Titel „Mose und seine Zeit“ wie schon die „Eschatologie“ in Gunkels „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments“ erschien und dessen wissenschaftsgeschichtliche Stellung präzise durch die gemeinsame Widmung an Eduard Meyer und Gunkel bezeichnet ist. In jenen Jahren arbeitete Greßmann auch daran, „die Mythen des Alten und des Neuen Testaments in ihrer Genesis, ihrer Entwicklung und ihrem Verblühen zu verstehen und darzustellen“17. Der hochgemute, ihm sehr gemäße Plan kam allerdings nicht zur Ausführung. Dagegen gedieh die Neubearbeitung des „Ursprungs der israelitisch-jüdischen Eschatologie“, vom Verlag 1913 noch für „mutmaßlich 1913“ angekündigt18, zu einem Manuskriptenkonvolut, das Hans Schmidt 1929 aus dem Nachlaß unter dem von Greßmann vorgesehenen Titel „Der Messias“ wiederum in den „Forschungen“ herausgeben konnte. Dabei trat Greßmanns experimentelle Arbeitsweise vielfach zutage, am frappantesten im Kapitel über den Menschensohn. Hier fand Schmidt im Nachlass zwei Niederschriften über Dan 7 vor, die die Vorstellung aus iranisch-babylonischer Tradition herleiten, und eine dritte, die an Ägypten denkt, ohne dass erkennbar war, was Greßmanns letzte Meinung gewesen ist. Schmidt half sich, indem er alle drei Fassungen druckte19. 16  Vgl. Greßmanns Erklärung bei Klatt a.a.O. 73f. Dazu Wellhausen in seinem oben Anm. 10 zitierten Brief von 1905: „Die Jungen haben natürlich immer Recht gegen die Alten.“ 17  Vgl. Klatt a.a.O. 195–97. 18  Im Anzeigenteil von „Mose und seine Zeit“. 19  A.a.O. 343–65.365–73.401–14; vgl. 6*.

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Greßmann verbrachte seine letzten beiden Jahrzehnte in Berlin. 1907 erhielt er dort die durch Gunkels Weggang freigewordene außerordentliche Professur, 1921 nach Ablehnung eines Rufes nach Gießen – wiederum in die Nachfolge Gunkels – ein Ordinariat neben Ernst Sellin, mit dem er sich gut vertrug. Er gehörte zu den interessanteren Mitgliedern der Fakultät Harnacks und Holls, und es gab Studenten, die nicht zuletzt seinetwegen nach Berlin kamen. Als Schüler aus den letzten Jahren sei wenigstens Kurt Galling (1900–87) genannt, der ihm in manchem ähnelte. Aber sein zentrales Anliegen war die normale akademische Lehre nicht. Der größte Dienst, den er ihr geleistet hat, dürfte der indirekte gewesen sein, der in der Herausgabe der „Altorientalischen Texte und Bilder zum Alten Testament“ bestand, von denen 1909 die erste, 1926/27 die „völlig neugestaltete und stark vermehrte“ zweite Auflage erschien. Die Leistung der beteiligten Orientalisten – Ranke in beiden Auflagen, Ungnad in der ersten, Ebeling und Rhodokanakis in der zweiten – wird nicht geschmälert, wenn man Greßmann das Hauptverdienst daran zuschreibt, dass die Sammlung auf lange Zeit ein unentbehrliches Standardwerk wurde; die Variationen der Konzeption in Pritchards „Ancient Near Eastern Texts and Pictures Relating to the Old Testament“ und Kaisers „Texten aus der Umwelt des Alten Testaments” sind dafür die beste Bestätigung. Die „Texte“ und „Bilder“ belegten handgreiflich den programmatischen Satz, mit dem Greßmann 1924 die „Neue Folge“ der ZAW einleitete: „Auf das literarkritische ist das vorderorientalische Zeitalter gefolgt.“20 Im gleichen Jahrgang besprach Greßmann die Berührungen der 1923 publizierten Lehre des Amenemope mit den „Sprüchen Salomos“, um im Anschluss daran die Frage der „vorexilischen Spruchdichtung Israels“ neu aufzurollen21. Fortan sorgten die variabel gestalteten „Bemerkungen des Herausgebers“ für die aktuelle Unterrichtung des Lesers – nicht zuletzt über die Ausgrabungen, an denen Greßmann seit einem achtmonatigen Aufenthalt in Dalmans Jerusalemer Institut 1906/07 lebhaft interessiert war. Er photographierte dort auch und legte eine umfangreiche Photosammlung an, von der ein Teil neuerdings mit instruktiven Begleittexten veröffentlicht worden ist22. Neben manchem anderen kam in Berlin noch eine große organisatorische Aufgabe auf ihn zu. Nach dem Tode von Hermann L. Strack (1922) übernahm er das von diesem begründete Institutum Judaicum und gab ihm mit der ihm eigenen Tatkraft ein neues Gesicht und eine neue Bestimmung: nicht mehr Judenmission, sondern strenge Wissenschaft. Dafür sah er eine aktuelle Begründung: „Gerade heute, wo eine starke Welle des Antisemitismus über unser Volk dahingeht, und wo das Bild des Judentums durch der Parteien Gunst 20  ZAW 42 = N.F. 1 (1924) 8f. 21  A.a.O. 272–96. 22  S. Gebauer, R. Liwak, P. Welten, Pilger, Forscher, Abenteurer. Das Heilige Land in frühen Fotografien der Sammlung Gressmann (2014). Vgl. auch S. Gebauer, Hugo Gressmann als Palästinaforscher, ZDPV 129 (2013) 217–33.

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und Haß verzerrt wird, bedarf es doppelt einer wissenschaftlichen Würdigung, die fern von dem Lärm des Tages und den Übertreibungen der Leidenschaft die geschichtlichen Tatsachen so objektiv, gerecht und vorurteilslos wie möglich darstellt.“ Eine solche Würdigung erfolge aber „am besten in der Form einer Selbstdarstellung des Judentums“. „Denn wahre Objektivität setzt immer Liebe voraus, und darum ist der jüdische Forscher der jüdischen Religion gegenüber immer im Vorteil; er muß sie notwendig besser kennen als der christliche Forscher.“ In diesem – Kritik ja nicht ausschließenden – Sinn und ausdrücklich auch „als eine Anerkennung der jüdischen Wissenschaft“ lud Greßmann die Professoren und Rabbiner Ismar Elbogen, Juda Bergmann, Michael Guttmann, Julius Guttmann und Leo Baeck zu einer Reihe von Vorträgen ein, die 1925/26 stattfanden und 1927 unter dem Titel „Entwicklungsstufen der jüdischen Religion“ mit Greßmanns programmatischer Einführung im Druck erschienen23. Detaillierter war der Aufsatz über die Aufgaben der Wissenschaft des nachbiblischen Judentums, mit dem er 1925 den zweiten Band der neugestalteten ZAW eröffnete. Hier teilte er auch seinen Plan mit, gemeinsam mit Hans Lietzmann und Harry Torczyner unter dem Titel „Judaica, monumenta et studia“ in drei Abteilungen „die Literatur und die archäologischen Funde des hellenistisch-byzantinischen Judentums etwa vom III. vorchr. bis zum V. nachchr. Jh. möglichst vollständig“ zugänglich zu machen24. Obwohl ihm jene Zeit nicht ganz fremd war – er hatte mancherlei zur hellenistischen Religionsgeschichte publiziert, an Klostermanns Synoptiker-Bänden in Lietzmanns Handbuch zum Neuen Testament mitgewirkt und soeben (1925/26) Boussets „Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter“ neu herausgegeben –, ließ er sich damit, wie überhaupt mit der Leitung des Institutum Judaicum, noch im fortgeschrittenen Alter auf ein weiteres riesiges Arbeitspensum ein; aber das konnte bei ihm niemanden verwundern. Es war eine jüdische Einladung, die Greßmann zur letzten Station seines Lebens führte. Das 1922 von Rabbi Stephen S. Wise gegründete Jewish Institute of Religion in New York 25 übertrug ihm als erstem eine Gastprofessur für nichtjüdische auswärtige Gelehrte, die er im Februar und März 1927 wahrnahm. Vorlesungen an protestantischen Colleges und Universitäten schlossen sich an. Am 31. März erkrankte er in Chicago an einer Lungenentzündung, der sein Herz am 7. April nicht mehr gewachsen war26. Vielleicht hatte er sich in den letzten Jahren zu viel zugemutet. Stets zum Streit bereit, legte er sich noch 1926 mit Emil Brunner an, der ihm bei der Auslegung der Sündenfallgeschichte die Ergebnisse der kritischen Wissenschaft zu wenig beachtet hatte. Er warf ihm eine „Scheuklappen-Dogmatik“ vor und erklärte in diesem Zusammenhang die Theologie Karl Barths für „nicht christlich oder höchstens halbchristlich“; sie stamme „aus dem 4. Esra“ 23  Daraus (2f.) die obigen Zitate. 24  ZAW 43 = N.F. 2 (1925) 92. 25  Vgl. EJ VIII, 216f.; XVI, 566–68. 26  Vgl. M. Rade, ChW 41 (1927) 458f.

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und sei „bezeichnend für eine Zeit des Zusammenbruchs und der Inflation“27. Der Streit ging hin und her28 und zeigte gegenseitige Verständnislosigkeit. Greßmann schloss mit der Prophezeiung, „solange es eine historisch-kritische Geschichtswissenschaft in der Theologie und im Besonderen auf dem Gebiet der alttestamentlichen Forschung“ gebe, solange würden „Brunner und Genossen auf Granit beißen“29, hielt es allerdings für richtig, einige Wochen später noch die Erklärung nachzutragen, für ihn als gläubigen Christen sei die Absolutheit des Christentums selbstverständlich und er sei seit langem Mitglied des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins30. Barth fand, Brunner hätte „ebensogut mit einem Holzpflock diskutieren“ können „wie mit diesem Mann, der über die Frage: Was ist Theologie? noch keine fünf Minuten nachzudenken für nötig gehalten“ habe31. Ein anderer Großer hatte sich früher nicht weniger drastisch ausgedrückt, Julius Wellhausen in einer Charakteristik der „religionsgeschichtlichen Schule“: „Der derbe Greßmann nimmt sich possirlich unter den Rittern vom Geist aus, macht aber die Bocksprünge unter lautem Gemecker mit.“32 Dagegen rühmte der Berliner Dekan, der ihn seit langem kannte, positiv „die Natürlichkeit und Naivität des eigenen Erlebens“, die Greßmann „den Schlüssel zum Verständnis gerade der einfachsten, noch im Naturleben wurzelnden Religionen der Vorzeit“ gegeben hätten, die „besondere Vorliebe“, ja „einzigartige Begabung“, „sich in diese Sphäre natürlicher Lebensfreudigkeit zu versetzen und das Primitivste zu erfassen“33. Das bewegendste Zeugnis für das unermüdliche Forschen und Fragen des Mannes ist der Satz, den er auf dem Sterbebett aussprach: „So wird sich nun auch dieses Rätsel lösen.“34 Die von Theodore H. Robinson verfaßte Beileidsadresse der Society for Old Testament Study gab der Dankbarkeit dafür Ausdruck, dass Greßmanns Besuche die britischen Kollegen instand gesetzt hatten „to appreciate the simple beauty of his character and the atmosphere of goodwill which radiated from his charming personality. To know him was to love him – and not a few of us knew him.“35

27  ChW 40 (1926) 845. 28  Brunner: ChW 40 (1926) 994–98; Greßmann: ebd. 1050–53. Eine Darstellung unter Einbeziehung des auf Greßmanns Seite stehenden Zürchers L. Köhler gibt K. Schmid in: Biblische Theologie und historisches Denken, hg.v. M. Keßler u. M. Wallraff (2008) 335–55. 29  A.a.O. 1053. 30  A.a.O. 1275. 31  Brief an M. Rade vom 7.11.1926, in: Karl Barth – Martin Rade, Ein Briefwechsel, hg.v. Ch. Schwöbel (1981) 218. 32  Briefe (2013) 630. 33  A. Titius, ZAW 45 (1927) IIIf. 34  H. Schmidt in H. Greßmann, Der Messias (1929) 3. 35  ZAW 45 (1927) V. S.u. 757.

Gustav Hölscher 1877–1955

In Heidelberg kann man der Vorstellung begegnen, es habe dort vor 1950, also vor dem Amtsantritt Gerhard v. Rads, keine nennenswerte Beschäftigung mit dem Alten Testament gegeben. Die Erwähnung des 1949 emeritierten Gustav Hölscher löste bald kaum mehr als ein Achselzucken aus: ein schon zu Lebzeiten überholter Mann. Der dritten RGG war er noch einen Artikel wert, die vierte und die TRE haben ihn gestrichen. Dabei war er, ganz wie nach ihm v. Rad, allerbestes Heidelberg, von einer vielseitigen Bildung, Gelehrsamkeit und Produktivität, die keinen Vergleich zu scheuen brauchte, dazu mit einer menschlichen und politischen Haltung, wie man sie so manchem seiner Kollegen gewünscht hätte. Zur vorläufigen Charakteristik mögen die Zeugnisse dreier sehr verschiedener Leute dienen, die ihn kannten. Karl Barth schrieb nach der ersten Begegnung: „ein Alttestamentler extrem kritischen Kalibers, […] äußerst fein organisiert, mit einem sympathisch scharf geschnittenen Gesicht und einer, wie er erzählte, spät aber endlich doch erwachten Liebe zu theologischen – Fragen wenigstens, aber auch entschlossen, auf seinem Gebiet keinen vorschnellen Unfug zu dulden“1. Weiter Helmut Thielicke, der in Heidelberg bei ihm studierte: „Gustav Hölscher war ein zartgliedriger älterer Herr von nobler Geistigkeit und mit einem herrlichen Gelehrtenkopf, der an Erasmus von Rotterdam erinnerte. Die auf Form, fast auf Ritual getrimmten Abendveranstaltungen in seinem Haus waren gleichwohl nie steif, weil die herzliche Zuwendung der Gastgeber und ihr zugleich souveränes Spiel mit der Form Befangenheit nicht aufkommen ließen. Nur einmal maß er mich mit 1  Brief an Ed. Thurneysen 6.10.1929: Barth – Thurneysen, Briefwechsel II (1974) 677. – Das Folgende fußt auf drei autobiographischen Texten: Hölschers Eintrag in das Album Professorum der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (hg. v. H. Faulenbach, 1995, 261–269), 1929 oder bald danach (I), einem aus Anlass von Hölschers 100. Geburtstag unter der Überschrift „Gelehrter in politischer Zeit“ in der Ruperto-Carola (29, 1977, 53–60) gedruckten, „nachgelassenen Lebensbericht“, „vermutlich im Jahr 1945 geschrieben“ (II), und einem achtseitigen unpaginierten Typoskript „Lebenslauf von Prof. D. Dr. Gustav Hölscher, z. Zt. Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg“ aus dem Besitz von Otto Plöger (III); Hölscher war 1945 – 1947 Dekan. Bei wörtlichen Zitaten sind diese Texte mit I-III bezeichnet, im Fall von III mit nachträglicher Paginierung.

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sublim angedeuteter Missbilligung von oben bis unten, als meine Textilien nicht ganz der korrekten, seinem Hause angemessenen Norm entsprachen.“2 Schließlich ein gewichtiger Kollege auf seinem Gebiet: Sigmund Mowinckel beeilte sich, seiner Kritik an einer Einzelmeinung Hölschers hinzuzufügen: „Das verhindert aber nicht, dass man immer viel von ihm lernen kann. Sein Blick für das Konkrete, sein Sinn für die tragenden Ideen, sein Vermögen, die Dinge kurz und klar darzustellen, verleugnen sich nie.“3 Nach seiner Herkunft war Gustav Diedrich Hillard Hölscher Ostfriese, allerdings nach der Typologie seines älteren Landsmanns Bernhard Duhm4 nicht von der schwerfällig-erdgebundenen, sondern von der beweglichen Sorte, was ja eine Portion Eigensinn nicht ausschließt. Er wurde am 17. Juni 1877 in Norden geboren, woher schon seine Eltern stammten, der Vater ein Anwaltssohn, die Mutter eine Arzttochter. Vom Vater erbte er „ein etwas sanguinisches Temperament und die Lust zur Aktivität“, von der Mutter „vielleicht einen gewissen Sinn für Ordnung und Rationalität“, „von beiden die Lust am Lebendigen und ein Fehlen jeder Neigung zur abstrakten Logik und Spekulation“5. Der Vater (1845–1911)6, zunächst Medizinstudent, war unter dem Eindruck Johann Tobias Becks in Tübingen zur Theologie übergegangen und hatte nach dem Studium fünf Jahre als Hauslehrer in Kurland zugebracht und danach ein halbes Jahr in Italien antike und mittelalterliche Kunst genossen, bevor er das Pfarramt im heimischen Norden antrat. Der konservative Lutheraner pflegte viele Interessen, an denen er die Seinen gern teilhaben ließ. Gustav, den ältesten seiner drei Söhne – der nächste, Uvo, wurde ein namhafter Archäo- und Ägyptologe –, unterrichtete er „mehrere Jahre hindurch in der Geschichte der Baukunst und Malerei“; in der Familie wurde Italienisch „mit besonderer Vorliebe getrieben und im Verkehr mit italienischen Gästen geübt“7. Als der Sohn viel später zum ersten Mal nach Rom reisen konnte, freute er sich „wie ein Kind darauf“8. Die Zahl seiner Italienreisen schätzte er im Rückblick auf zwölf. 1880 wurde der Vater Studiendirektor des Predigerseminars in Loccum, 1885 erster Pfarrer an der Nikolaikirche in Leipzig, dann auch Leiter des katechetischen Seminars der dortigen Universität, Herausgeber der Evangelisch-lutherischen Kirchenzeitung und des Theologischen Literaturblatts, Vorsitzender des Gustav-Adolf-Vereins und manches andere. Dem Sohn

2  Zu Gast auf einem schönen Stern (31984) 110. 3  Erwägungen zur Pentateuch Quellenfrage (1964) 51f. 4  S.o. 358. 5  I, 262. 6  Der Sohn setzte ihm (anonym) ein für weitere Kreise bestimmtes liebevolles Denkmal: D. Wilhelm Hölscher. Ein Lebensbild (1912). 7  II, 53. 8  Brief an H. Gunkel 11.9.1924 (s.u. Anm. 47).

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wurde Leipzig zur „zweiten Heimat“9. Die Nikolaischule, eins der traditionsreichsten deutschen Gymnasien, vermittelte ihm die Bildung jener Zeit und weckte besonders seine Liebe zur Philologie. Er lernte dort auch Hebräisch, daneben privatim Syrisch und Englisch. Unter den vielen Anregungen, die das Kulturleben der Stadt ihm bot, standen neben den kunstgeschichtlichen die musikalischen obenan. Er war Mitglied des Gewandhauschors unter Arthur Nikisch und erlebte Brahms und Grieg. Seit seinem sechsten Lebensjahr ein passionierter Geigenspieler, wurde er „manchmal ermuntert, Musiker zu werden“; er „sah aber“, dass seine Begabung „auf ganz anderem Gebiete lag“10. Er wird an den Anfangssatz von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ gedacht haben, als er schrieb: „Als ein Reinprodukt damaliger humanistischer Erziehung, lebend in den antiken Klassikern und tief beeinflußt von Goethe verließ ich 1896 die Schule, um Theologie zu studieren.“11 Früher war es seine „knabenhafte jahrelange Schwärmerei“ gewesen, als Missionar nach Indien zu gehen12, aber das war lange her; er hatte mittlerweile „in der Schule einen freien Religionsunterricht“ gehabt und konnte „schon seit der Konfirmandenzeit“ nicht mehr in den Bahnen des Vaters denken. Gleichwohl führte er den Entschluss zum Theologiestudium auf den „unbewußten Einfluß des Elternhauses“ zurück. Der Vater veranlasste ihn, mit drei Semestern Erlangen zu beginnen, aber das „war ein Mißgriff; ich habe dort nur den Widerspruch gegen die dortige Theologie gelernt“. Den größten Erfolg hatte bei ihm der konservative Privatdozent Ernst Sellin (1867–1946), indem er seine Hörer vor Wellhausen warnte, woraufhin der erstsemestrige Hölscher diesen studierte und für die moderne Bibelkritik gewonnen war. Das steht hinter seiner Aussage, dass ihn „das Bibelstudium sofort leidenschaftlich reizte“. Im übrigen trieb er „eifrig Syrisch und Arabisch“13, aber auch Philosophie: „mit Feuereifer“ arbeitete er sich „durch die Philosophen von Descartes bis Schopenhauer durch“. Nach Leipzig zurückgekehrt, konnte er der dortigen Theologie nicht mehr abgewinnen als der Erlanger. Aber er hörte „ausgezeichnete Vorlesungen in Kirchengeschichte bei Hauck, in Philosophie bei Wundt und lernte weiter Arabisch bei Socin, Syrisch bei Zimmern“; besonders Wundt regte ihn „mit seiner Experimentalphilosophie und seiner empiristischen Kritik des deutschen Idealismus von Kant bis Hegel lebhaft an“. Ein näheres, in Freundschaft übergehendes Verhältnis entstand zu den Alttestamentlern Buhl und Guthe. Als Theologe war er „Autodidakt“, gab sich „mit Ritschl und Kant reichlich ab“, „fand aber wenig Befriedigung an diesen Studien“14. Zum Alten Testament studierte er Wellhausen, Stade und Marti, zum Neuen Holtzmann; 9  I, 262. 10  III, 1f. 11  I, 262. 12  II, 53; das Folgende nach I, 262f. 13  II, 53f. 14  I, 262.

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„die Synoptiker und die Person Jesu haben mich tief beschäftigt“15. Dazu kamen weitere Sprachstudien, außer den schon genannten akkadische, äthiopische und persische. Diese Studien setzte er nach dem ersten theologischen Examen (1900 in Leipzig) ein Semester in Berlin fort, mit der Absicht, Orientalist zu werden. Aber Harnack, an dessen Seminar er teilnahm, fesselte ihn „so stark“, dass er „von der Theologie nicht loskam“16. Den Abschied vom Orient bedeutete das nicht. Zwar zerschlug sich die Aussicht auf eine dreijährige Hauslehrerstelle in Kairo, um deretwillen er sich bereits eine Zeitlang in München aufgehalten hatte, um dort seine künftigen Zöglinge kennenzulernen und sich bei einem Syrer im Lesen und Sprechen des modernen Arabisch zu üben, aber er war in Berlin nicht nur in Harnacks kirchenhistorischem, sondern auch in Wilhelm Sieglins (1855–1935) historisch-geographischem Seminar gewesen und hatte dort die Anregung zu einer Dissertation über „Palästina in der persischen und hellenistischen Zeit“ erhalten. Mit ihr wurde er 1902 zum Dr. phil. promoviert, nicht in Berlin, sondern in Leipzig bei dem Arabisten August Fischer und dem Althistoriker Curt Wachsmuth. Es handelte sich um eine territorialgeschichtliche Untersuchung mit dem doppelten Ziel einer „Fixierung 1) der politischen Grenzen, welche zu administrativen Zwecken von der persischen, seleukidischen oder ptolemäischen Regierung gesetzt wurden, und 2) der ethnographischen Grenzen einzelner Stämme innerhalb jener administrativen Bezirke; an letzteres schließt sich dann eine Untersuchung über die Ausbreitung des Judentums [als des wichtigsten jener „Stämme“] innerhalb Palästinas an“17. Geschichte als Territorialgeschichte und diese vornehmlich als Geschichte von Grenzen: das ist eine Forschungsrichtung, wie sie bald danach von Albrecht Alt zur Meisterschaft gebracht wurden. Mit Alt hatte Hölscher auch die souveräne Beherrschung des Materials und die Thesenfreudigkeit gemeinsam, wobei der vielseitigere Hölscher mit den Thesen noch um einiges schneller zu sein pflegte. Übrigens hielt die Dissertation exakt das später von Alt gewünschte Höchstmaß ein: sie umfasst 99 Seiten18. Doch bevor sie in den Buchhandel kam19, verschaffte sie ihrem Autor eine unschätzbare Gelegenheit, landeskundliche Erfahrung zu gewinnen. Die Deutsche Orient-Gesellschaft wurde damals durch den großen deutschjüdischen Mäzen James Simon (1851–1932) – seine Büste steht im Foyer der Berliner Gemäldegalerie – instandgesetzt, über Mesopotamien und Ägypten hinaus auch Palästina in ihre Grabungen einzubeziehen, war sich aber über mögliche Objekte noch im Unklaren und beauftragte daher zwei junge Gelehrte, 15  I, 262f., vgl. III, 2. 16  I, 263. 17  So im Vorwort. 18  S.u. 657f. 19  1903 als Heft 5 der von W. Sieglin herausgegebenen Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie.

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den Archäologen Hermann Thiersch (1874–1939) und eben Gustav Hölscher, das ganze Land zu rekognoszieren und Vorschläge zu machen; Hölscher war aufgrund seiner Dissertation durch seinen Lehrer Guthe ins Spiel gebracht worden. Die beiden Herren waren, begleitet von einem Dragoman und seinen Leuten, von Anfang April bis Ende August 1903 von Nord nach Süd zu Pferde und mit Zelten im Land unterwegs und lieferten darüber einen durch eigene Fotos illustrierten lebendigen Bericht, den sie in der Berliner Philharmonie vorzuführen hatten und der auch dem Kaiser zu Gesicht kam20. Er beschreibt einen Tell nach dem anderen im Blick auf seine Gegebenheiten und Möglichkeiten, wobei den heutigen Leser erstaunt, wie viele von ihnen damals noch „frei“ waren. Die wichtigsten, durchweg mindestens teilweise alsbald verwirklichten Vorschläge betrafen Megiddo, Jericho und die galiläischen Synagogen, dazu Sichem, dessen Identifikation mit dem Tell Balata den beiden auf Anhieb gelang. Die Aufforderung der Orient-Gesellschaft, sich selber an diesen Ausgrabungen zu beteiligen, schlug Hölscher aus, um ohne Verzug die akademische Laufbahn anzutreten; der Aufenthalt in Palästina hatte ihn darin bestärkt, Alttestamentler zu werden. 1904 wurde er in Marburg zum Licentiaten promoviert, 1905 habilitierte er sich in Halle, wo Emil Kautzsch als Vorsitzender des Deutschen Palästina-Vereins Entlastung brauchte. Hölscher, seit 1903 Mitglied des Vereins, gab dessen „Mitteilungen und Nachrichten“ in der Nachfolge Hermann Guthes von 1907 bis 1912 und die „Gemeinverständlichen Hefte zur Palästinakunde“, die unter dem Titel „Das Land der Bibel“ erschienen, von 1914 bis 1923 heraus, gehörte dem geschäftsführenden Vorstand von 1908 bis 1924 an21 und lieferte neben der administrativen Arbeit auch mancherlei inhaltliche Beiträge, darunter eine Serie von „Bemerkungen zur Topographie Palästinas“22. Finanziell war diese Tätigkeit für den Privatdozenten nicht ganz unerheblich, stärker fielen allerdings bei den hohen Hallenser Studentenzahlen die Hebräischkurse ins Gewicht. Mit dem theologischen Motiven für diese Studentenzahlen – Martin Kähler war noch am Leben! – wollte er aber nichts zu tun haben: gegenüber seinem Mit-Liberalen Gunkel legte er Wert auf die Feststellung, sein dortiger Aufenthalt sei „ein sehr zufälliger“23. Der Fachwelt machte er sich bekannt, indem er auf die philosophische Dissertation, von der schon die Rede war, in jährlichen Abständen drei weitere Monographien ähnlichen Umfangs und lose zusammenhängender Thematik folgen ließ: 1904 als theologische Dissertation „Die Quellen des Josephus für die Zeit vom Exil bis zum jüdischen Kriege“, 1905 als Habilitationsschrift „Kano20  Vgl. MDOG 23 (1904) 1–52. 21  U. Hübner (Hg.), Palaestina exploranda (2006) 22f. 22  1. Die Feldzüge des Makkabäers Judas (1. Makk 5.) (ZDPV 29, 1906, 139–151), 2. Das Jordantal südlich von Bēsān (33, 1910, 16–25), 3. Sichem und Umgebung (ebd. 98–106), 4. Gath und Aseka (34, 1911, 49–53). 23  Brief vom 1.7.1915 (s.u. Anm. 47).

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nisch und Apokryph. Ein Kapitel aus der Geschichte des alttestamentlichen Kanons“ und 1906 „Der Sadduzäismus. Eine kritische Untersuchung zur späteren jüdischen Religionsgeschichte“. Für die Fachwelt reagierten zwei Autoritäten, Emil Schürer (1844–1910) und Wilhelm Bousset (1865–1920), Schürer Jahr für Jahr in „seiner“ Theologischen Literaturzeitung, Bousset 1907 in einem Sammelreferat „seiner“ Theologischen Rundschau. Für beide stand außer Frage, was Schürer schon von der philosophischen Dissertation etwas hölzern so sagte: „Mit dieser Erstlingsschrift tritt der Verf. als ein wohlgerüsteter auf den Plan.“ Ich füge hinzu: man vergisst bei ihrer Lektüre schnell, dass ein Anfänger schreibt. Aber Schürer fährt fort: „Der bleibende Werth seiner Arbeit würde jedoch größer sein, wenn er gewagte Hypothesen und unsichere Meinungen mit etwas weniger Sicherheit hingestellt hätte.“24 Dasselbe Doppelgesicht attestiert Schürer der Habilitationsschrift: „volle Beherrschung des Stoffes, gründlichste Forschung auch in allen Einzelheiten, lebhafte Kombinationsgabe; dabei aber eine verhängnisvolle Neigung zu unmöglichen Hypothesen“25. Im Blick auf „Die Quellen des Josephus“ sekundiert Bousset: die Arbeit „zeigt grossen Fleiss, eine völlige Beherrschung des Stoffes und achtungswerten Scharfsinn. Doch gewinnt H. seine Resultate etwas allzu rasch und stürmisch und weiss die Grenzlinie zwischen dem, was wir wissen können, und dem, was nur Vermutung bleibt, nicht sicher zu ziehen.“26 In der Sache erklärt Bousset zur Schrift über den Sadduzäismus rundheraus: „Ich muß der Darlegung von Anfang bis zu Ende widersprechen.“27 Ebensowenig wie Schürer28 kann er die gewagte JosephusInterpretation anerkennen, aufgrund derer Hölscher das seit Abraham Geiger (1810–74) gültige Bild von den Sadduzäern als der Partei des priesterlichen Adels außer Kurs setzen und die Rolle der Sadduzäer im Judentum herunterspielen will29. Skeptisch bleiben beide Rezensenten auch gegen Hölschers Doppelthese, von einem jüdischen Bibelkanon könne man nicht vor dem 1. Jahrhundert v. Chr. reden und für seine Bildung habe vor allem die Abgrenzung gegen die apokalyptische Literatur den Ausschlag gegeben30. Was endlich die höchst scharfsinnige Abhandlung über die Quellen des Josephus betrifft, kommt Bousset zu dem harten Urteil, Hölscher habe „über die Sätze hinaus, die Schürer […] als Resultat der bisherigen Arbeit verzeichnet, eigentlich kaum einen einzigen sicheren Schritt getan“31. Schürer selbst gibt zu Hölschers Verfahren einige Hinweise, die über den Anlass hinaus bedenkenswert geblieben 24  ThLZ 28 (1903) 260. 25  ThLZ 31 (1906) 100. 26  ThR 10 (1907) 296. 27  ThR 10, 422. 28  ThLZ 32 (1907) 200–203; vgl. auch Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi 4II (1907) 48843. 29  ThR 10, 421–25; vgl. A. Geiger, JZWL 2 (1863) 11–54. 30  Schürer: ThLZ 31, 98–101; Bousset: ThR 10, 434. 31  ThR 10, 296.

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sind. Im Verhältnis zu den bisherigen Analysen beobachtet er bei Hölscher den „Versuch einer noch viel weiter durchgeführten Zuweisung der einzelnen Stücke an die verschiedenen Quellen“ und findet sich dadurch „an die Methode der Pentateuchkritik erinnert, wie sie heute von vielen geübt wird. Hier begnügt man sich ja auch längst nicht mehr damit, die Hauptschichten im großen und ganzen nachzuweisen, sondern man weiß von jedem Vers und Versteil, ob er von J1 J2 J3 oder P1 P2 P3 usw. herrührt. Ich gestehe, daß ich diese subtile Methode nicht für gewinnreich halte, und muß dies Urteil auch bezüglich des analogen Verfahrens von Hölscher aussprechen. Seine Ausführungen würden viel überzeugender wirken, wenn er sich größere Beschränkung auferlegt und seine Kraft auf diejenigen Punkte konzentriert hätte, an welchen einigermaßen sichere Resultate zu erreichen sind.“ Besonders kritisiert Schürer, dass bei Hölscher jedes „Minus und Plus, jede Verschiedenheit in der Anordnung des Stoffes, jede auch noch so geringe sachliche Abweichung […] nicht etwa auf eine verschiedene Art der Quellenbenützung von Seite des Josephus, auf größere oder geringere Sorgfalt in der Arbeit, sondern auf verschiedene Quellen, die ihm vorgelegen haben sollen, zurückgeführt“ wird. Es werde „viel zu wenig mit der Selbständigkeit und Freiheit des Schriftstellers, die unter Umständen auch in Willkür und Nachlässigkeit sich äußert, gerechnet“32; Josephus sei „kein allzu sorgfältiger Schriftsteller“ gewesen33. Die mehrfache Kritik dürfte Schürer und die übrige Fachwelt nicht gehindert haben, Hölscher nach dessen vierter Monographie noch für ebenso „wohlgerüstet“ zu halten wie nach der ersten. Aber alle vier hatten den Mangel, dass sie das Alte Testament, auf das doch Hölschers venia legendi lautete, nur an der Peripherie betrafen und also seine Berufungschancen verzögerten. Das war nicht anders bei den drei Schriften, die er gleich anschließend wiederum in rascher Folge herausbrachte: einer inhaltreichen „Landes- und Volkskunde Palästinas“ in der Sammlung Göschen (1907), einer sehr lesbaren Skizze „Die Geschichte der Juden in Palästina seit dem Jahre 70 nach Chr.“ (1909) und der gerühmten34 Ausgabe der Traktate Sanhedrin und Makkot in P. Fiebigs „Ausgewählten Mischnatractaten in deutscher Übersetzung“ (1910). Er sprach selber von der „Neigung“, sein „Arbeitsgebiet möglichst breit auszuweiten“, die ihn dazu „verführt“ habe, „anfangs allzuviel kleinere Arbeiten in Angriff zu nehmen“35, aber auch von „viel Gewinn“ dabei36. Der außerkanonischen jüdischen Literatur blieb er bis ins Alter treu, aber zunächst galt es, die für ihn ja ohnehin nicht gar zu prinzipielle Grenze zum Kanon zu überschreiten. Er tat das, indem er, zunächst noch nah dieser Grenze, in der dritten Auflage von Kautzschs „Heiliger Schrift des Alten Testaments“ (1910) die Bücher Esra 32  ThLZ 29, 649. 33  Ebd. 651. 34  Vgl. W. Bousset, ThR 13 (1910) 458. 35  II, 54/56. 36  I, 267.

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und Nehemia bearbeitete. Später distanzierte er sich von diesem ersten Versuch: „noch viel zu stark in fremden Gleisen“37: die Echtheit der aramäischen Briefe in Esr 4,6–6,8 unterliegt 1910 lediglich „schweren Bedenken“, an der Geschichtlichkeit des Esra wird nicht gerüttelt38. Das und vieles sonst wird in der vierten Auflage (1923) anders sein: da sind jene Briefe „grobe Fälschungen“39, und die „Esra-Erzählung“ ist zur „Esralegende“ abgesunken40. Zu den schärferen Kritikern des Doppelbuchs hat Hölscher aber schon 1910 gehört. Erst „nach längerem Zögern“41 ging er an das nächste Thema, und nun an ein sehr großes: die Propheten. 1913 brachte er in der Festschrift für R. Kittel42 Material aus Syrien und Kleinasien dafür bei, dass das israelitische Prophetentum jedenfalls nach seiner ekstatisch-mantischen Seite nicht „althebräischen“, sondern kanaanäischen Ursprungs ist, und 1914 folgte das Opus magnum „Die Profeten. Untersuchungen zur Religionsgeschichte“. Beim ersten Kapitel darin, „Ekstase und Vision“, liefert W. Wundts Völkerpsychologie die Kategorien und B. Duhms Prophetenexegese den meisten Stoff, soweit er alttestamentlich ist; aber die Darstellung ist in ihrer Weise ganz neu und bis heute nicht übertroffen. Sie schließt mit dem Bedauern des Historikers über „die seiner Wissenschaft geziemende Beschränkung […], nicht in eine grundsätzliche, philosophische und praktisch-religiöse Wertung dieser Erscheinungen einzutreten“43. Es folgen zwei Kapitel vor allem religionsgeschichtlicher Vergleichung: „Die ältere Mantik“ und „Das ekstatische Profetentum“, letzteres in breiterer Ausführung des Aufsatzes für Kittel, dann aber das Phänomen auf israelitischer Seite beschreibend, bevor unter „Jahwismus und Profetentum“ der Weg beschrieben wird, an dessen Ende die „großen Profeten“, indem sie „den Gedanken von der Einheit Gottes und dem sittlichen Sinn des Weltgeschehens, vor allem der Geschichte, klar formulierten, […] die Kultusreligion zur sittlichen Religion, die Naturreligion zur Geschichtsreligion erhoben“ haben44. Das folgende fünfte Kapitel erzählt, anfangend mit Amos, die Wirksamkeit dieser Propheten. Seine Lesbarkeit, auch für Fernstehende, ist damit erkauft, dass die literarkritischen Fragen ausgegliedert und im letzten und längsten Kapitel des Buches zusammengefasst besprochen sind. Vermutlich würde mancher heutige Alttestamentler dieses letzte Kapitel, „Die Entstehung der Prophetenbücher“ mit dem Schlussabschnitt „Die Redaktion der Prophetenbücher“, als erstes lesen. Ein maßgeblicher Rezensent von 37  I, 267. 38 450. 39 494. 40 493. 41  II, 56. 42  Alttestamentliche Studien, 89–100. 43  A.a.O. 77. S. 78 wird „die gemeinsame Arbeit der Psychologie und der Religionsgeschichte“ gefordert, „um das Wesen der Religion und damit der höchsten Lebenswerte philosophisch zu erfassen“. – Von Theologie kein Wort! 44 188.

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1914, Hugo Greßmann, dachte umgekehrt: „Das Buch würde sehr gewinnen, wenn dieser Teil völlig fehlte.“ Der Grund: „Wer […] die übliche Literarkritik der Schule Wellhausens, wie sie innerhalb der Prophetenschriften betrieben wird, als einen einzigen großen Irrtum ablehnt, wird diesen Ausführungen Hölschers nicht zu folgen vermögen.“45 Wenn Greßmann seinerseits im Namen einer Schule sprach, dann war es die seines älteren Freundes Hermann Gunkel, der die Literarkritik zwar nicht so pauschal abtat wie Greßmann in dem zitierten Satz, ihr aber doch die Erforschung der literarischen und vor allem der vorliterarischen Gattungen als die dringendere Aufgabe entgegenstellte und damit für Jahrzehnte wie kein zweiter die Richtung der Bibelwissenschaft bestimmte. Hölscher sollte später auch mit der neutestamentlichen Variante dieser Arbeitsweise in enge Berührung kommen, indem ihre drei wichtigsten Repräsentanten, Rudolf Bultmann (1884–1976), Karl Ludwig Schmidt (1891– 1956) und Martin Dibelius (1883–1947), nacheinander seine Fakultätskollegen wurden. Ein Jahr nach Hölscher veröffentlichte auch Gunkel eine Darstellung der Prophetie46. Immer am Gespräch interessiert, schickte er sie (als Gegengabe?) an Hölscher, der, am 22. Juni 1915, mit folgender Postkarte reagierte: „Sehr verehrter Herr Kollege, Ihre mir freundlichst zugesandte Arbeit über das Profetentum habe ich mit dem Interesse gelesen, mit dem ich alle Ihre Arbeiten lese. Auch diesmal habe ich wieder vielerlei gelernt, wenn auch mein Widerspruch nicht ausgeblieben ist. Soweit ich sehe, gründet sich dieser zumeist auf eine andere literarische Beurteilung der Quellen. Um so mehr wünschte ich, daß Sie die grundsätzliche Gemeinsamkeit unserer Standpunkte und wissenschaftlichen Methode stärker empfänden als die in der Wissenschaft unvermeidlichen Gegensätze, und ich begrüße auch in diesem Sinne Ihre liebenswürdige Übersendung als ein erstes Zeichen persönlicher Berührung mit Ihnen; ich habe früher in Berlin wohl zu Ihren Füßen gesessen, bin aber seitdem immer nur der Schüler Ihrer Bücher gewesen. Mit verbindlichem Gruße Ihr stets ergebener G. Hölscher.“ Gunkel antwortete postwendend mit der Aufforderung, Hölscher möge ihm seine Position näher darlegen. Das tat Hölscher, auch er beinahe postwendend, am 1. Juli in einem Brief von 19 Seiten, der zusammen mit einigen Briefen, die ihm folgten, ein wissenschaftliches Dokument hohen Ranges ist47. Ich kann hier nur einiges Wenige herausheben. Gunkel hatte eine „Lücke“ in Hölschers Arbeiten konstatiert und damit offenbar das Übergehen seiner eigenen Gattungsforschung gemeint. In seiner Antwort bestreitet Hölscher, hier unkundig oder „mit irgend einer törichten Abneigung oder einem Vorurteil irgendwelcher Art“ zu handeln. Um den wirklichen „Differenzpunkt“ zu ermitteln, reduziert er Gunkels Bei45  ThLZ 39, 452. 46  Die Propheten als Schriftsteller und Dichter, in: H. Schmidt, Die großen Propheten (SAT 2,2, 1915) XI–LXXI. 47  Die Briefe befinden sich in der Universitätsbibliothek Halle unter der Signatur Yi 33 I H.

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spiele für die Übernahme nichtprophetischer Gattungen in die prophetische Dichtung drastisch (meist nicht Übernahmen, sondern nur Erwähnungen, oft auch keine Gattungen) und findet diese Erscheinung überwiegend erst in späteren Partien der Prophetenbücher. Und dabei zeigt sich: „Ein wesentlicher Unterschied zwischen uns – der nicht nur ein Wortstreit sein dürfte – ist der, daß Sie alles was nur irgendwo und von irgendwelcher Hand in unsere vorliegenden Prophetenbücher hineingestellt ist, zur ‚profetischen Literatur‘ rechnen, und darnach den Profetischen Stil und seine Entwicklung und seine allmähliche Bereicherung darstellen, während ich unsere Bücher in der vorliegenden Gestalt nicht mehr als direkte Erzeugnisse des Profetismus, sondern der späteren Schule verstehe, welche ihre Erbauungsbücher mit mannigfachen Erzeugnissen von sehr bunter stilistischer Form aufputzt. Gerade an diesem Punkte aber läuft unsere Differenz schließlich auf einen Streit über das Alter der einzelnen Teile der profetischen Literatur hinaus, wird also schließlich ein Streit literarkritischer Art, der wieder mit der gesamten Geschichtskonstruktion zusammenhängt.“ Was den gemeinen Prophetenspruch betrifft, sieht Hölscher die Gattungen dort stark zusammenschmilzen; so ist die „Scheltrede“ „doch wohl nicht eigentlich selbständig“, sondern implizit Drohung oder deren Bestandteil. Ein fundamentaler Unterschied liegt darin, dass Gunkel die alte Prophetie geheimnisvoll, rätselhaft, mysteriös, übernatürlich reden hört, während Hölscher bei Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia als „das gerade Bemerkenswerte das verhältnismäßige Fehlen des Mysteriösen, diese Klarheit, durch die sie sich über den Dämmerzustand des Aberglaubens erhoben,“ sieht. „Gerade die Bedeutung, die die Profeten auf dem Wege zur rationalen Welt- und Gotteserkenntnis darstellen, erscheint mir immer als das besonders Wichtige und Eigenartige. Das stellt sie so hoch über die Späteren, die wieder in die Dämmervorstellungen von allerlei Aberglauben zurücksinken. Diese Schauer des Mystischen, die Sie [Gunkel] in Jes. 6 und ähnlichen Visionen schon zu fühlen scheinen, empfinde ich nicht. Ich empfinde hier den Reflex jener antiken Stimmung, für die die Gottheit Furcht, Entsetzen, Ehrfurcht, Zittern vor dem Übergewaltigen weckt, aber nichts Mystisches, nicht jenes schaurig-süße Entzücken, das erst die jüngeren Zeiten kennen, als Diesseits und Jenseits stärker auseinander gerückt sind, als aus dem Kontrast zum Natürlichen sich erst die eigentlich mystische Stimmung ergibt, die dem Übernatürlichen eine ganz neue Färbung gibt.“ „Ich gestehe, daß ich mich mit Händen und Füßen sträube, die Propheten mit dem Mantel der Theurgen und Mysten zu behängen. Ihre Bildersprache kann ich nicht als mystisches Verhüllen verstehen48; das hätten sie doch noch etwas besser machen müssen. Jeder versteht sie leicht, wie auch wir sie verstehen; ja sie scheuen sich ja gar nicht, mit höchst verständlichen Worten die Dinge mit Namen zu nennen.“ Als ein weiteres Beispiel, um ihrer beider Differenz zu fassen, greift Hölscher Gunkels Kenn48  Im Brief zu „verhüllen“ verschrieben.

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zeichnung des prophetischen Stils als „eigentümlich springend“ heraus, mit der er an sich einverstanden ist, deren Benutzung dazu, „den abrupten Übergang von der Unheilsweissagung zur Heilsweissagung zu erklären“, ihm aber als problematisch erscheint, jedenfalls in Gunkels berühmtem Beispiel Jes 6,13. „Ich muß gestehen, daß mich Ihre Bezeichnung der 3 Schlußworte [„Heiliger Same ist sein Stumpf“] als ‚genial‘ und Ihre Warnung vor der Unechtheitserklärung gerade hier am wenigsten überzeugen kann, wo uns sogar die LXX von der allmählichen Bereicherung des Textes durch derartige versöhnende Abschlüsse überzeugt. Ja, ich muß hier ganz offen sein: wenn ich die Verteidigung solcher Stellen bei Ihnen lese, dann drängt sich mir das Gefühl auf, daß bei all Ihren feinen Einzelbeobachtungen doch irgendwo ein methodischer Fehler stecken muß, und ich sehe ihn in einer unwillkürlichen Abneigung gegen literarkritische Operationen. Ich verstehe es wohl, wenn einen unsere kritische Zersetzung der Profetenbücher ästhetisch sehr wenig befriedigt und wenn gerade ästhetisch feinfühlende Leute vielleicht am ehesten sich davon abgestoßen fühlen, aber ich für mein Teil komme nicht über das Gefühl hinweg, daß man mit einer Methode, die bei zahlreichen Widersprüchen, ja Unordentlichkeiten des Textes immer den ‚Stil‘ und die ‚Tradition‘ zu Hülfe ruft, auf einer schiefen Ebene ist.“ In seinem nächsten Brief, am 10. Januar 1916, bezieht sich Hölscher auf Gunkels inzwischen erschienene Broschüre über „Israels Heldentum“ und eine wohl briefliche „Verheißung“ Gunkels, die gattungsgeschichtliche Betrachtung werde „eine starke Modifizierung der üblichen Datierungen“, besonders der Psalmen, ergeben. Darüber könne er „natürlich jetzt gar nichts sagen“, bemerkt Hölscher vorsichtig und fährt fort: „Das Geschichtsbild, das ich mir bisher entworfen habe, begreift die umfangreichsten Bücher hebräischer Dichtungen wie Psalmen, Hiob, Sprüche, Sirach, Salomopsalmen u. ähnl. als Angehörige einer und derselben größeren Periode; ich sträube mich vorläufig energisch dagegen, wesentliche Teile dieser Bücher als altisraelitisch anzusehen. Sie erscheinen mir in der älteren Königszeit als Fremdkörper. Auch Ihr Aufsatz über das ‚Heldentum‘ kommt mir nur wie eine Bestätigung dieser Meinung vor. Denn Sie zeichnen ja mit Recht ein kriegerisch rauhes Zeitalter voll Blut und Blutrache und Zügellosigkeit. Aber es ist zugleich doch auch ein Zeitalter, dessen Religion wir nur aus überlieferter Gewohnheit den Namen des reinen ‚Heidentums‘ versagen, das nach all seinen wirklich alten Dichtungen und Erzählungen sehr viel profaner gewesen ist als die gesamte Psalmdichtung voraussetzt. Zugleich erscheint mir auch alles, was die alte Zeit gedichtet hat, so viel urwüchsiger, einfacher und kunstloser, als die Dichtungen des Psalmzeitalters, die – wie wir uns wohl ausdrücken – oft doch sehr ‚langdrahterig‘ sind. Das gilt von vielen Stücken der Profetenbücher, die oft so unendlich viel Worte machen und so wenig Inhalt bieten. Ich erinnere mich an Ihre eigenen Ausführungen über den breiter werdenden Stil der Jüngeren in Ihrer Genesis. Ich würde dies aber gerade besonders auch auf die Entwicklung der Dichtung

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anwenden, und denke dabei u.a. z.B. an die vielen langatmigen Heidenorakel, denen Sie so gern ein höheres Alter zusprechen möchten, als es mir wahrscheinlich erscheint. […] Am Ende wird im Streit derjenige gewinnen, der das wahrscheinlichste Gesamtbild der geschichtlichen Entwicklung zu zeichnen weiß. Das ist es jedenfalls, was der Wellhausenschen Geschichtsdarstellung seine Überzeugungskraft verliehen hat, und ich habe immer den Eindruck, als ob Ihr eigenes Geschichtsbild sich von diesem Gesamtbilde im Grunde gar nicht so weit entfernt. Es wird uns gegenwärtig immer gesagt, daß die Entdeckung Babylons und des alten Orients dies Geschichtsbild umgestürzt habe. Ich habe das eigentlich nie recht begreifen können. Es ist mir immer ein Trost gewesen, daß ein erster Kenner dieses Orients wie Ed. Meyer, auch kein anderes Gesamtbild gewonnen hat.“ Zwei Monate und einen Brief weiter, am 13. März 1916, nimmt sich der Jüngere heraus, den Älteren aufzufordern, das Gesangbuch vorzunehmen, und „zählen Sie nur einmal, wie viel mittelalterliche oder altkirchliche Lieder darin sind. Viele sind’s sicher nicht, und meist doch in charakteristischer Umgestaltung.“ Das geht natürlich auf den Psalter, den Gunkel nach anderen gern mit dem Gesangbuch verglich, worin ihn Hölscher beim Wort nimmt, unter gleichzeitigem Hinweis auf Gunkels Anerkenntnis in der RGG49, dass das Gros der kanonischen Psalmen nachexilisch ist: „Von da aus stellen wir berechtigterweise seit Wellhausens Formulierung die Frage: gibt es vorexilische Psalmen, d.h. sind solche uns erhalten? Kann man es beweisen? Ihre Antwort, daß die Gattung als solche alt sei, beweist dafür doch gar nichts. Bei einzelnen Psalmen wie 19A, 29 u.a. kommen Sie zur ‚Möglichkeit‘ – aber weiter kommen Sie auch nicht. Die andere Möglichkeit, nachexil. Datierung, besteht ebenso gut.“ Und ob es Gunkel nicht zu denken gibt, dass Konservative wie Staerk und Kittel seine Aufstellungen „mit besonderer Genugtuung begrüßen“? „Sie werden hier letzten Endes nur benutzt, um die unbequeme Kritik zu bekämpfen. […] Ich muß Ihnen dennoch trotz allem gestehen, daß ich Sie – trotz aller kleinen Differenzen zwischen uns – als Gesinnungsgenossen betrachte gegenüber einer Richtung, die die Wissenschaftlichkeit unserer Wissenschaft mehr gefährdet, als es vielleicht diese und jene Hartnäckigkeit unserer Lehrer der früheren Generation tut.“ Vielleicht ist es dieser Satz gewesen, der Gunkel bewogen hat, auch seinerseits einen Schritt auf Hölscher zuzugehen. Der eben zitierte Brief hatte mit einem doppelten Bedauern Hölschers begonnen: „Wir schießen unsere Pfeile z.T. aneinander vorbei.“ Und „Sie betrachten mich, glaub’ ich, noch immer als einen, der zur Gattungsforschung bekehrt werden müßte. Das ist tatsächlich nicht mehr nötig.“ Beim nächsten Mal, am 23. Juni 1916, kann sich Hölscher auf eine anscheinend in der Zwischenzeit erfolgte Äußerung Gunkels beziehen, er, Hölscher, sei der einzige Wellhausianer, der die Bedeutung der Gattungs49  1I (1913) 1942.

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forschung ihm gegenüber anerkannt habe – was wiederum Hölscher „daraus“ versteht, „daß die Bezeichnung ‚Wellhausianer‘ (in dem relativen Sinne, in dem ich mich gern als solchen bezeichnen lasse) auf nur wenige der jüngsten Generation noch anwendbar“ sei. Fortan klingt der Ton entspannter. Nach anderthalb Jahren der Korrespondenz schreibt Hölscher für Gunkel das Inhaltsverzeichnis seiner Einleitungsvorlesung ab, und zur Jahreswende 1916/17 kündigt Gunkel seinen Besuch in Halle an50; bei diesem ersten Kennenlernen werden sie sich gründlich ausgesprochen haben. Wenige Jahre später tauschten sie sogar ihre Wohnungen: Gunkel nahm 1920 einen Ruf nach Halle an, wodurch der Gießener Lehrstuhl für Hölscher frei wurde; Gunkel wird mit diesem Nachfolger einverstanden gewesen sein, obwohl er noch lieber seinen Schüler Baumgartner dort gesehen hätte. Die Zeit in Halle war für Hölscher lang geworden. 1905 habilitiert, hatte er 1912 den Titel Professor erhalten. 1913/14 vertrat er den kranken Alttestamentler R. Smend in Göttingen, der Stadt Schürers, Boussets und, nicht zu vergessen, Wellhausens. Schürer lebte nicht mehr, mit Bousset ergab sich eine veritable Freundschaft; ob er den altersschwachen Wellhausen zu Gesicht bekam, wissen wir nicht. 1915 erhielt er in Halle eine außerordentliche Professur, 1917 den theologischen Ehrendoktor. Noch wichtiger: 1908 heiratete er die Norwegerin Borghild Gjessing, von der ich alte Marburger und Bonner noch habe mit Entzücken sprechen hören. Von den beiden Söhnen wurde Wilhelm (1912– 1943, in Russland vermisst) Ägyptologe, Uvo (1914–1996) ein bedeutender Gräzist. Gustav Hölscher lernte Norwegisch sprechen wie Deutsch, war oft und lange in Norwegen und unterhielt rege Beziehungen zur skandinavischen Wissenschaft; die Akademien in Oslo und Lund wählten ihn zu ihrem Mitglied. Den interessantesten skandinavischen Alttestamentler des Jahrhunderts, Sigmund Mowinckel, stellte er sogar seinen Landsleuten in ihrer theologischen Zeitschrift vor!51 Aber er war gegen spezifische Schwächen der skandinavischen Wissenschaft nicht blind: bei dem Dänen Johannes Pedersen (1883–1977) rügte er die Vernachlässigung der Literarkritik noch schärfer als bei Gunkel52. Am ersten Weltkrieg brauchte er, für kriegsuntauglich erklärt, nicht teilzunehmen. Stattdessen suchte er „Arbeit als Armenpfleger in einem der ärmsten Viertel von Halle“ und lernte „dort die Not, aber auch die Stimmung des Proletariats ein wenig kennen“53. Über seine Hinwendung zu den sozialen und politischen Problemen hat er berichtet: „Eine erste eigene Besinnung war bei mir eingetreten, als ich durch den Kreis um Friedrich Naumann, dann durch enge Berührung mit Wilhelm Bousset in Göttingen den demokratischen und sozialen Ideen innerlich näher trat. […] Die bismarckisch-nationalliberale Tradition, in der wir auf dem Gymnasium erzogen worden waren, und die 50  Vgl. Hölschers Briefe vom 1. und 28.12.1916. 51  Sigmund Mowinckel som gammeltestamentlig forsker: NTT 24 (1923) 73–138. 52  In der Besprechung von dessen „Israel“, ThStKr 108 (1937/38) 234–62, bes. 260ff. 53  II, 56.

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uns vorgetragene Staatsmoral, die mit den privaten Begriffen von Recht und Moral nichts zu tun haben sollte, wurde mir allmählich zum brennenden Problem. Der Krieg erwies sich als Auswirkung von Ursachen, die tief in der militaristischen Geschichte und Politik des preußischen Staates lagen und durch die das sittliche Rechtsgefühl vor allem der gebildeten Kreise weithin verwirrt war. Das deutsche Publikum vermochte sich damals, anders als im letzten Kriege, leidlich gut zu unterrichten: wir konnten die Berichte des Generalstabs durch regelmäßige Lektüre von Schweizer und norwegischen Zeitungen kontrollieren und uns ein einigermaßen zuverlässiges Bild von den Ereignissen machen. So war es mir, wie manchem anderen, seit der Marneschlacht und erst recht seit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg nicht mehr zweifelhaft, daß der Krieg für Deutschland verloren war. Die Wahrheit wurde dem deutschen Volke offiziell bis zuletzt vorenthalten. Zu diesem Urteil war auch einer der Historiker an der Universität Halle, der Professor Karl Heldmann, auf Grund kritischer Studien der Kriegsnachrichten gelangt; ich wurde mit ihm bekannt, als seine Post auf Veranlassung des Ludendorffschen Hauptquartiers beschlagnahmt und er durch ein juristisch ganz unhaltbares Urteil wegen ‚Geheimbündelei und Majestätsbeleidigung‘ zu Gefängnis verurteilt worden wurde, worauf die Universitätsgesellschaft ihn und seine Familie pflichtschuldigst feige boykottierte. Die mutige Haltung dieses Märtyrers hat großen Eindruck auf mich gemacht. Daß in der evangelischen Kirche nur selten ein Wort der Kritik gegenüber Politik und Krieg laut wurde, war traditionell und offenbarte ihre Abhängigkeit vom Staat. Die Predigten auf den Kanzeln waren oft unerträglich, so daß ich, obwohl Gemeindeältester, mich in die Gottesdienste der freien lutherischen Gemeinde flüchtete. Daß sich die Volksmassen von einer solchen Kirche nichts mehr sagen ließen, war kein Wunder.“ Nach dem Krieg war ihm die Stellung, die er politisch einzunehmen hatte, „nicht mehr zweifelhaft. Wollten wir einen neuen Krieg vermeiden und zu einem allmählichen Wiederaufbau gesunden deutschen Lebens kommen, so mußte man sich an die Seite der Männer stellen, die wie Ebert, Stresemann, Brüning redlich bemüht waren, durch loyale Haltung gegen die Siegermächte aus der Not herauszukommen. Ich habe fortan bei Wahlen meine Stimme immer für den demokratischen oder auch den sozialdemokratischen Kandidaten abgegeben.“54 Seine „politische Nahrung war vor allem die Frankfurter Zeitung, neben der ich, immer bewußter pazifistisch gesinnt, das international gut unterrichtete Organ des Pazifismus, die ‚Menschheit‘ las, in welchem der christlich gesinnte Pädagoge und Pazifist Fr. W. Foerster das Wort nahm. Ich kam mit diesen Kreisen auch in persönliche Berührung.“55 So lang die Zeit in Halle gewesen war, so kurz sollte die in Gießen sein. 1920 trat er dort an, 1921 zog er nach Marburg weiter, beides übrigens gleich54 Ebd. 55  A.a.O. 57.

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zeitig mit Rudolf Bultmann, mit dem ihn seitdem „herzliche Freundschaft verband“56. Drei weitere Freunde, die er, überall ein geselliger Mann, in Gießen gewonnen hatte, ließ er dort zurück: den Alttestamentler v. Gall, den Philosophen Horneffer und den Systematischen Theologen Mayer: ihnen widmete er zum Abschied die „Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion“. In Marburg kam er „in den angeregtesten und theologisch bewegtesten Kollegenkreis, der trotz aller Mannigfaltigkeit der Charaktere ein vorbildlich einmütiges Ganze bildete“57. Als ihm politisch gleichgesinnt nennt er außer Bultmann Rade und Hermelink; in den anderen Fakultäten seien es „nur sehr wenige“ gewesen. Nicht zuletzt waren die Marburger Jahre „fruchtbar durch eine erfreuliche Muße für wissenschaftliche Arbeit“58. Den Anfang seiner Marburger literarischen Produktion machte 1922 die eben erwähnte „Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion“, ein kurzes Lehrbuch, für die meisten Studierenden wohl zu komprimiert und daher nicht über die erste Auflage hinausgekommen, aber für Fachleute eine Fundgrube, weil es kaum irgendwo einfach die communis opinio bietet und oft immer noch (oder wieder) überraschend aktuell ist. Das Vorwort fixiert den Standort des Verfassers ähnlich wie schon seine Briefe an Gunkel: „Es war das Verdienst der älteren Generation zu Ende des vorigen Jahrhunderts [also der WellhausenGeneration], die Grundlinien der israelitischen Literatur- und Religionsgeschichte erstmals sicher zu zeichnen. Dieser älteren Forschung verdankt auch die vorliegende Arbeit das Beste. Es wäre erfreulich, wenn jene Grundlinien heute als anerkannte Ergebnisse geboten werden könnten. Statt dessen befindet sich die alttestamentliche Wissenschaft zur Zeit in einem Zustande unsicheren Tastens und Suchens, das seinen Grund weniger in der Schwierigkeit neuer, durch die religionsvergleichende Forschung aufgedeckter Probleme als in einer Abwendung von strenger literarkritischer Arbeit hat.“ Ausdrücklich stellt Hölscher das Buch auch in den Zusammenhang seiner eigenen wissenschaftlichen Biographie: rückwärts verweist er auf seine Schriften von der territorialgeschichtlichen Dissertation an, vorwärts auf „eine demnächst erscheinende Arbeit über ‚Das Königsbuch‘, in welcher auch das deuteronomische Problem von neuem angeschnitten ist“. Diese Arbeit widmete er Gunkel im „Eucharisterion“ zu dessen 60. Geburtstag am 23. Mai 1922 mit der Bitte um „wohlwollende Aufnahme und freundliche Erwägung der darin gegen ein Grunddogma unserer alttest. Literarkritik geäußerten Bedenken“59. Vielleicht erinnerte sich Gunkel, dass Hölscher ihm schon 1916 geschrieben hatte, nach seiner Meinung gelte „von sehr vielen alttest. Büchern und Quellen“, dass man sie „immer zu flott datiert“. „Z.B. sind mir immer wieder Zweifel gekommen an der unbedingten Identifikation des 56  Karl Barth – Rudolf Bultmann, Briefwechsel (21994) 312. 57  I, 266. 58  II, 57. 59  Brief vom 21.5.1922.

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Deuteronomiums mit dem Gesetzbuch Josias. Die ganze Beweisführung hängt eigentlich an Zwirnsfäden; die Masse der deuteronomischen Gesetze scheint doch erst im Exil kodifiziert zu sein, wenigstens in den gegenwärtigen Rahmen eingestellt zu sein, wenn sie auch der Sache nach zum größten Teil alt sind. Aber ob das gerade von den sog. Zentralisationsgesetzen gilt, ist viel unsicherer als man meist meint. Aber man rührt dabei ja wohl an das heiligste Dogma der Schule.“60 „Dogma“, gar „Grunddogma“ bedeutete in Hölschers – wie auch in Gunkels – Augen nichts Gutes, und so sehen wir ihn denn mit Energie zu Werke gehen, um jene vor allem mit dem Namen W.M.L. de Wettes verbundene „Identifikation“ zunichte zu machen. Der 56 Seiten lange Aufsatz im „Eucharisterion“61 analysiert das gesamte Königsbuch – mit dem Untertitel genauer „seine Quellen und seine Redaktion“ – im Grunde nur zu dem einzigen Zweck, anderthalb Verse daraus als Zusatz des deuteronomistischen Redaktors zu seiner (jahwistisch-) elohistischen Quelle und damit, weil schon diese Quelle erst in die Exilszeit gehöre, als historisch wertlos zu erweisen. Es handelt sich um 2. Kön 23,8a.9, die Angabe über die Beseitigung der außerjerusalemischen Heiligtümer durch König Josia62. Mit ihrer Eliminierung ist der Weg frei für die Untersuchung von „Komposition und Ursprung des Deuteronomiums“ in einem der längsten Aufsätze, die je in der ZAW erschienen sind, mit 94 Seiten gerade noch im Altschen Rahmen für Dissertationen63. Er versetzt das Deuteronomium, und zwar auch schon das durch Abzug mancher Ergänzungen rekonstruierte „Urdeuteronomium“ vor allem durch den Nachweis des utopischen Charakters eines Großteils seiner Bestimmungen, unbeschadet der Verwendung älterer Rechtsüberlieferung, aus der vor- in die nachexilische Zeit, als „ein ideales Programm, welches mit kühnen Forderungen die Wirklichkeit meistern und umformen möchte“, vergleichbar und auch zeitlich nah dem Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) und dem Gesetzesprogramm des Buches Ezechiel (40– 48)64. Den Ansatz bestätigt die späte Bezeugung: der elohistischen Quelle und den Propheten Jeremia und Ezechiel ist die Beseitigung der Höhen und also das Deuteronomium noch nicht bekannt, ebensowenig den Elephantine-Papyri; erst bei Nehemia ist das, in Grenzen, anders – hier kann Hölscher auf seine gerade 1922/23 erneuerte Bearbeitung von Esra–Nehemia im „Kautzsch-Bertholet“ hinweisen65. 1924 lässt er den Schlussstein seiner Beweisführung folgen, die Monographie „Hesekiel. Der Dichter und das Buch. Eine literarkritische Untersuchung“66. Die These konnte man schon zwei Jahre vorher in der Geschichte

60  Brief vom 1.12.1916. 61 158–213. 62 205–11. 63  40 (1922) 161–255. 64 229. 65 2472. 66  BZAW 39.

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der israelitischen und jüdischen Religion lesen67: „der echte Hesekiel steht mit beiden Füßen auf dem Boden der älteren prophetischen Zeit; zum Gesetzeslehrer und Vater des späteren Nomismus ist Hesekiel erst durch den im fünften Jahrhundert schreibenden Verfasser des nach ihm genannten Buches geworden.“ Etwas ausführlicher nun gegen Anfang der Monographie68: „Durch die Befreiung der Gedichte Hesekiels aus der öden prosaischen Schablone, in die die Redaktion seine Gedichte eingespannt hat, tritt der Dichter Hesekiel mit seiner blendenden, phantasievollen und leidenschaftlichen Rhetorik nunmehr ins helle Licht. Auch religionsgeschichtlich verändert sich das Bild Hesekiels ganz und gar: er ist nicht mehr der steife priesterliche Literat und Bahnbrecher des gesetzlich-ritualistischen Judentums, für den man ihn hält, sondern ein echter Prophet der judäischen Antike, ein Gesinnungsverwandter des echten Jeremia.“ Die Analogie zu Duhms Verfahren mit Jeremia springt in die Augen und ist Hölscher natürlich bewusst gewesen; vielleicht war es ihm auch Vorbild. Die Fülle dieser Arbeiten von 1922–24 erinnert an die der Anfangsjahre seit 1902, nur dass dort der Zusammenhang lockerer war; jetzt handelt es sich im Grunde um eine einzige Untersuchung, eingepasst in die „Religionsgeschichte“ am Anfang und dann verteilt „auf eine Reihe von Einzelarbeiten“69. Wären Schürer und Bousset noch am Leben gewesen, hätten sie wiederum ein Übermaß an Scharfsinn und Kühnheit beanstanden können. Nun erhob die „Schule“, bei der Hölscher übrigens keineswegs nur an die Anhänger Wellhausens gedacht hatte, ihre Stimme, am mächtigsten in der Gestalt von Hölschers Marburger Vorgänger Karl Budde70. „Der Kampf um das Deuteronomium“, als den der notorisch unvoreingenommene Berichterstatter Walter Baumgartner, mit Hölscher freundschaftlich verbunden, die Diskussion der folgenden Jahre charakterisiert hat71, ließ die große Mehrzahl der Mitforscher im Ergebnis „zur de Wetteschen Theorie als der am besten begründeten“ zurückkehren72 – falls sie sich je von ihr entfernt hatten. Hölscher blieb bei seiner Meinung73, wodurch sich aber an seinem Verhältnis zu Wellhausen wenig änderte: die relative Chronologie der „Grafschen Hypothese“ blieb ja bestehen, wenn die absolute sich um ein Jahrhundert nach unten verschob74. Für den Rang von Hölschers Schriften gerade in den ersten Marburger Jahren mag das Zeugnis Walther Zimmerlis stehen, der ein Menschenalter später den bedeutendsten 67  Dort 114. Entsprechend die durch einen großen Abstand getrennte Behandlung des Hesekiel ben Buzi (§51, S. 113–15) und des Buches Hesekiel (§60, S. 136f.) 68 5f. 69  ZAW 40, 161. 70  ZAW 44 (1926) 177–224. 71  ThR NF 1 (1929) 7–25. 72  Ebd. 25. 73  Vgl. Geschichtsschreibung in Israel (1952) 405f. 74  Nach J.E. McFadyen (in: A.S. Peake, The People and the Book, 1925, 218) soll Hölscher geäußert haben, „that of the work of Wellhausen and his school hardly one stone remains upon another“. Wo ist der Beleg?

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Kommentar zu Ezechiel schrieb, den wir besitzen, und über dieser Arbeit immer wieder bekundete, er halte die These von Hölschers Buch nicht für richtig, lerne aber aus ihm auf Schritt und Tritt mehr als aus jedem anderen. Die Konzentration auf das Deuteronomium bedeutete bei Hölschers wissenschaftlichem Temperament nicht, dass ihm darüber seine übrigen Interessen aus dem Blick gerieten. Eine Priorität behielt immer das nachexilische Judentum mit Josephus als der Hauptquelle, für deren weitere Verwendung 1916 der große Artikel „Josephus“ im „Pauly-Wissowa“75 in Revision und Fortführung der theologischen Dissertation von 1904 den Grund gelegt hatte76. Unter den späteren Artikeln im „Pauly-Wissowa“ ragt der über Levi77 hervor, in dem quer durch das Alte Testament eine Vielzahl von Fragen angeschnitten ist. Mowinckels „Psalmenstudien“ regten Hölscher an, „Die Ursprünge der jüdischen Eschatologie“ neu zu durchdenken und dabei, etwas überraschend, dem „Thronbesteigungsfest Jahwes“ eine Schlüsselrolle zuzuschreiben, aber so, dass von Eschatologie erst nach dem Ende des staatlichen Kultus, also seit dem Exil, die Rede sein kann78. Wiederholt analysierte er jüdische Schriften der Frühzeit im Blick auf Komposition und Entstehung: 1916 die Himmelfahrt Moses79, 1919 das Buch Daniel80, 1929 die Damaskusschrift81, zwischendurch lieferte er wertvolle Miszellen wie 1919/20 die Erklärung der Rahabsage aus einer Kultlegende in Jericho82 oder 1925 eine sehr belesene Übersicht über biblische Namen im Judentum83. Besonders gern machte er von der wieder eröffneten Möglichkeit Gebrauch, in ausländischen Zeitschriften zu publizieren: „Les origines de la communauté juive à l’époque perse“ und „Problèmes de la littérature apocalyptique juive“ in der nach dem Krieg begründeten Straßburger Revue d’Histoire et de Philosophie religieuses84 und „Urgemeinde und Spätjudentum“ in den Abhandlungen der Norwegischen Akademie85 – unter anderem mit dem Ergebnis, dass die mandäischen Texte „keine neuen Kenntnisse über die Geschichte des Urchristentums und seinen Zusammenhang mit Johannes dem Täufer“ bringen86. Besonders die Verbindung nach Straßburg trug Hölscher „heftige Angriffe von seiten nationalistischer Kollegen in Deutschland“ ein87. 75  IX, 1934–2000. 76  Wichtig die Stellungnahme von W. Otto, Herodes (1913) XIIIf. und Hölschers direkte und indirekte Auseinandersetzung mit ihr a.a.O. 1943–94. 77  XXIV (1925) 2155–2208. 78  Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen 41 (1925). 79  ZNW 17, 108–27.149–58. 80  ThStKr 92, 113–18. 81  ZNW 28, 21–46. 82  ZAW 38, 54–57. 83  Vom Alten Testament. Karl Marti zum 70. Geburtstag (BZAW 41) 148–57. 84  6 (1926) 105–26; 9 (1929) 101–14. 85  ANVAO.HF 1928, 4. 86 26. 87 II,57.

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Ein großes und befreiendes Ereignis war für ihn wie für viele deutsche Wissenschaftler die Teilnahme am Internationalen Historikerkongress in Oslo 1928. Im gleichen Jahr 1928 bewogen seine Fähigkeiten das preußische Kultusministerium unter der Federführung des erfahrenen Ministerialdirigenten Werner Richter (1883–1960), eines der Nachfolger des legendären Althoff, ihn mit einer besonderen Mission zu betrauen88. In Bonn befand sich die evangelischtheologische Fakultät seit langen Jahren in einem etwas kümmerlichen Zustand, der die Blüte ihrer Schwesterfakultät in Münster spätestens durch die Berufung Karl Barths (1925) in noch hellerem Licht erscheinen ließ. Als 1928 in Bonn drei ordentliche Lehrstühle frei waren, ergriff man in Berlin die Gelegenheit, hier Wandel zu schaffen, indem man die gleichrangigen Exegeten Hölscher und Dibelius (Heidelberg) dorthin berief und ihnen auf die Besetzung des dritten, systematischen Lehrstuhls maßgeblichen Einfluss zugestand. Das war schon darum heikel, weil das Ministerium von der zerstrittenen und widerwilligen Fakultät Vorschläge brauchte, aus denen es wählen konnte89. „Am schnellsten einigte sich die Fakultät beim traditionell [zuletzt mit J. Meinhold] liberal besetzten Alten Testament auf Gustav Hölscher“90, dessen Berufung bereits im Sommer 1928 gelang und der vom Sommer 1929 an in Bonn wirkte. Dagegen kniff Dibelius mit der Begründung, „daß die dortige fakultätspolitische und kirchliche Situation mit Schwierigkeiten belastet ist, die für den mit den Verhältnissen nicht Vertrauten nicht leicht zu übersehen und erst recht nicht leicht zu überwinden sind“91. Statt seiner kam K.L. Schmidt. Als Systematiker wollte Hölscher und mit ihm Richter zunächst Tillich, aber diesen „lehnte“ der Oberkirchenrat „kategorisch ab“. Weiter berichtet Hölscher92: „Ich habe dann alles überlegt, was für Bonn noch in Frage kommen könnte, und es blieb niemand mehr übrig, der eine mir persönlich noch zusagende Theologie vertrat. In der Überzeugung dass Bonn nur durch einen ‚prominenten‘ Systematiker auf die Beine zu helfen war, habe ich mich dann zu Barth entschlossen, und wenn ich heute noch einmal vor der Wahl stünde, ich weiss nicht, ob ich nicht dasselbe tun würde. Denn die Dinge lagen hier einfach so, dass unsere rheinischen Theologen in dieser Zeit, in der ja Systematik Trumpf ist, einfach nach Münster abschwammen. An der Gesamtsituation der Zeit kann kein einzelner etwas Wesentliches ändern. Also warum nicht die Diskussion ebenso gut in Bonn wie in Münster ausfechten? Dies sind meine Überlegungen gewesen.“ Barth kam zum Sommer 1930 nach Bonn, wo sich Hölscher und Schmidt schon seit Frühjahr bzw. Herbst 1929 befanden, 1931 wurde infolge einer aufgrund der Kon88  Zum Folgenden vgl. E. Bizer in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Evangelische Theologie (1968) 243–54, notwendig ergänzt durch Hölschers Aufzeichnungen (s.o. Anm. 1) und seinen Brief an H. Gunkel vom 27.4.1931. 89  Fast nur diese Seite der Sache tritt in den Akten hervor, die Bizer benutzen konnte. 90  J.F.G. Goeters, EvTheol 47 (1987) 138. 91  An die Fakultät, bei Bizer 244. 92  An Gunkel.

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version Erik Petersons entstandenen weiteren Vakanz das Quartett der Neuen durch den Kirchenhistoriker Ernst Wolf (1902–71) vervollständigt, zunächst als Extraordinarius; auch hier scheint Hölscher die Initiative gehabt zu haben93. „Was uns“, schrieb Hölscher bald nach der Ankunft94, „aus den in vieler Hinsicht idealen Verhältnissen in Marburg zu nochmaligem Wechsel bestimmte, war die Lust zu neuer Arbeit und Anregung, auch die grösseren und kulturell reicheren Verhältnisse in der Rheinstadt, nicht zuletzt wohl auch die Schönheit des herrlichen Rheintals.“ Als 1945 der Bonner Rektor den seit einem Jahrzehnt in Heidelberg Exilierten nach Bonn zurückholen wollte, sagte dieser im Blick auf sein fortgeschrittenes Alter ab, nannte aber die Bonner Jahre „die schönste Zeit meines akademischen Wanderlebens“ und gestand: „Könnte ich jetzt ganz frei wählen, so wäre die Entscheidung für mich nicht schwer.“95 Wie es mit Karl Barth ging, lässt sich leicht ausmalen. Am besten berichtet Hölscher selbst: „Ich hegte im stillen die geheime Hoffnung, dass eine persönliche Zusammenarbeit mit einem so bedeutenden Manne wie Barth doch vielleicht zu einem engeren Gedankenaustausch und damit auch zu einer tieferen Rücksichtnahme Barths auf die unveräusserlichen Ergebnisse der historischen Arbeit führen würde. Darin habe ich mich, wie ich jetzt wohl rundweg zugeben muß, getäuscht, und was schlimmer fast noch ist, auch K.L. Schmidt schwimmt ganz in diesem Fahrwasser.“96 Umgekehrt sprach Barth bei Hölscher von einem „rein positivistischen […] Standpunkt“97 und sah ihn „heftig unter den Folgen der liberalen Erbsünde“ leiden „und auch sonst stark zum Typus des vormärzlichen deutschen Professorentums“ neigen98. Zu einem Waffengang, an dem Barth selbst sich allerdings nur indirekt beteiligt zu haben scheint, kam es, als am 17. Januar 1931 in Barths Sozietät Wilhelm Vischer über „Die Identität des Alten und Neuen Testaments“ sprach und in der Diskussion der dazu eingeladene Hölscher „ein wenig mit Keulen“ schlug „zum grössten Vergnügen der Studenten“99. Hölscher sah sich nicht nur Vischer, sondern auch Barth gegenüber in der stärkeren Position und glaubte, „dass nicht einmal Barth so ganz fest von der Dauer seiner Erfolge überzeugt“ sei. „Was wird denn auch von der Barthischen Dialektik übrigbleiben, wenn man erst einmal hinter das Geheimnis dieser windigen Grösse des ‚Wortes‘ gekommen ist. Sobald man dieses Fantom einmal auf seine reale Substanz hin wirklich geprüft haben wird 93  Ein halbes Jahr vor dem Ergehen des Rufes logierte Wolf bei Hölscher (Album Professorum 27913). 94  I, 266. 95  Brief vom 23.11.1945 (im Bonner Universitätsarchiv). 96  Brief an Gunkel 27.4.1931; ähnlich III, 6f. 97  Brief an F. Horst, 17.3.1931, in: Karl Barth–Eduard Thurneysen, Briefwechsel III (2000) 875. 98  Brief an W. Loew vom 5.6.1930 (ebd. 118). 99  An Gunkel a.a.O., vgl. Barth–Thurneysen III, 875; auch St. Felber, Wilhelm Vischer als Ausleger der Heiligen Schrift (1999) 207299 und unten 780f.

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und es dann in Luft vergeht, so steht man so gut wie vor dem Nichts.“100 Es ist sehr zu bedauern, dass das Zusammensein in Bonn nur wenige, dazu äußerst unruhige Jahre dauern konnte; sonst hätte Barth den „engeren Gedankenaustausch“ ohne jeden Zweifel gesucht und herbeigeführt – dies umso mehr, als er gleich zu Anfang sagte: „Auch mit Hölscher kann ich sehr gut“101 und sich daran nichts geändert haben dürfte. Dazu stimmt, dass Hölschers Rückblick es nicht bei den theologischen Divergenzen belässt, sondern fortfährt: „Im übrigen haben wir neu nach Bonn Gekommenen gut zusammengearbeitet, und es ist manches Gute damals geschaffen worden, so eine glückliche Zusammenarbeit zwischen Fakultät und Kirchenregierung, der Ausbau eines in Deutschland einzigartigen Theologischen Seminars und seiner Bibliothek. Vor allem verstanden wir uns in politischer Hinsicht.“102 Die Vergrößerung und Reorganisierung des Seminars, dessen Leistungen die Jahresberichte eindrücklich illustrieren103, war Hölschers Werk, und er war stolz darauf. „Ich habe“, schrieb er an Gunkel, „meine ganze Kraft in den letzten Semestern daran gewandt, unser Seminar hier äusserlich in Stand zu bringen. Wenn ich es heute mit dem Zustande vergleiche, in dem ich es vorfand, so habe ich meine Freude daran. Ich kann jetzt hier schreiben in einem tadellos hergerichteten Direktorzimmer, welches ein wahres Schmuckkästchen unseres Universitätsneubaus ist und ich werde von allen, die mich hier besuchen, darum beneidet.“104 Eine schwere Zeit begann für ihn, als 1930 seine Frau plötzlich starb – er heiratete 1934 wieder – und er bald danach lebensgefährlich operiert werden musste. Es gelang ihm damals, sich in ein denkbar gegenwartsfernes Thema zu vertiefen und ein Buch abzuschließen, das im Oktober 1932 unter dem Titel „Syrische Verskunst“ erschien. Die hebräische und dann überhaupt die semitische Metrik war seit langem eine Art wissenschaftliches Hobby gewesen, das er mit Leidenschaft betrieb und das in besonderer Weise seinem Wesen entsprochen haben muss. Der „Syrischen Verskunst“ stellte er so etwas wie ein ästhetisches Credo voran, Sätze, die in seiner stocknüchternen gelehrten Produktion einzig dastehen: Ist es nur eine Angelegenheit gelehrter Neugier, wenn wir nach dem Versrhythmus einer toten Sprache fragen? Warum bemüht sich der Geiger, die Schöpfungen der großen Meister vor lauschenden Ohren neu zu schaffen, warum ein Schauspieler, die Werke der Dichter Augen und Ohren vorzuzaubern?

100  An Gunkel a.a.O. 101  An Loew (s.o. Anm. 98). 102  III, 7. 103  Goeters a.a.O. 140. 104  Brief vom 27.4.1931.

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Musik und Dichtung sind für das Ohr. Erst der Vortrag macht sie lebendig, macht Vergangenes gegenwärtig, gibt dem bloß Vorgestellten und Begrifflichen Gestalt und Wirklichkeit. Nur im Erleben der Form ergreifen wir den Inhalt des Kunstwerkes. Alle Kunst ist Form, Gestaltung des Ungeformten. Weshalb reden die Dichter in Versen? Weil sie die Formlosigkeit der Leidenschaft und des überquellenden Gefühls an sich erlitten haben. Die Form sehen heißt ihnen das Mittel, über das fortwährende Leiden des Triebes hinauszukommen.

Er widmete die „Syrische Verskunst“ dem Andenken des 1919 verstorbenen Leipziger Musiktheoretikers Hugo Riemann, von dem – er veröffentlichte 1903 ein „System der musikalischen Rhythmik und Metrik“ – er zu solchen Gedanken angeregt gewesen sein dürfte. Mehr noch war er mit dem Germanisten Eduard Sievers (1850–1932), ebenfalls in Leipzig, im Gespräch; wenn er in seinen frühen Dozentenjahren seinen Studenten „mit naivstem Dilettantismus [….] die Psalmen rhythmisch“ vorlas105, dann wird das nach dem unter Alttestamentlern am meisten verbreiteten „akzentuierenden“ System geschehen sein, dessen Hauptvertreter eben Sievers war. Aber 1917 gestand er Gunkel (einem Anhänger Sievers’ übrigens): „Heute schweige ich darüber.“106 Bei ihm lägen „lauter dicke metrische Manuskripte der hebräischen Texte schon vor“, aber es seien „nur ganz provisorische Kladden“. In der komplizierten Diskussion um das akzentuierende („anapästische“) System einerseits, das von G.W.H. Bickell (1838–1906) inaugurierte „quantitierende“ („jambische“ oder auch „trochäische“) andererseits107 suchte er vor allem durch eine aufwendige Untersuchung der arabischen und der syrischen Poesie Klarheit zu gewinnen. Den arabischen Teil veröffentlichte er 1920108, für den syrischen reiste er 1924, 1926 und 1929 nach Rom, um sich von dortigen Syrern unmittelbar belehren zu lassen, bevor er 1932 die „Syrische Verskunst“ vorlegte. Schon vorab hatte er thesenartig „Elemente arabischer, syrischer und hebräischer Metrik“ zusammengestellt109 und dabei in der Hauptsache110 für Bickell optiert. Die zuständigen Orientalisten konnten sich allerdings mit seinen Voraussetzungen und Resultaten nur in Grenzen befreunden111, und im Blick auf das Hebräische war sein eigenes letztes Wort an Gunkel ein resigniertes: „Allah weiss es am besten.“112 Die politische Einigkeit der verjüngten Fakultät kam nur zu bald in ihre Bewährungsprobe. Als das Dritte Reich hereinbrach, war Hölscher Dekan und 105  Brief an Gunkel 7.7.1917. 106 Ebd. 107  Vgl. die Hölscher-nahe Darstellung bei S. Mowinckel, The Psalms in Israel’s Worship (1962) II, 261–66; kürzer O. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament (31964) 80–84. 108  ZDMG 74, 359–416. 109  Festschrift Budde (BZAW 34, 1920) 93–101. 110  Abweichungen: Ultimaakzent, Möglichkeit der Synkope (a.a.O. 100). 111  Vgl. besonders die Rezension G. Bergsträßers OLZ 36 (1933) 748–54. 112  Brief vom 27.4.1931.

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Seminardirektor. Ein Schlaglicht auf seine Befindlichkeit: am 19. März 1933 saß er – Karl Barth war auf Reisen – eine Stunde bei Charlotte von Kirschbaum, „geknickt und verletzt von der Brutalität des Lebens und der jüngsten Vorgänge, irgendwie besorgt um seine Zukunft und doch zu anständig, diese Besorgnis in den Vordergrund treten zu lassen“113. Zu Beginn des Sommersemesters wurde er als Dekan mit Stimmenmehrheit wiedergewählt, lehnte aber „wegen der Zumutung der Mitverantwortung für die Gleichschaltung“ ab, ebenso nach ihm Barth und Wolf; der mit drei Stimmen bei sechs Enthaltungen gewählte Deutsche Christ Pfennigsdorf setzte ihn als Seminardirektor ab und ernannte dafür den anderen Deutschen Christen Schmidt-Japing, „was ein reiner Willkürakt, aber rechtlich unanfechtbar war, weil die Ernennung nun allein in der Kompetenz des Dekans stand“114. Für K.L. Schmidt, wegen Zugehörigkeit zur SPD im Sommer beurlaubt, zum Winter entlassen, übernahm Barth zusätzlich die vierstündige Vorlesung im Neuen Testament, Hölscher das Seminar115. Von Zeit zu Zeit trafen sich Barth, Hölscher, Schmidt und Wolf im Hause Barth, um ihre Sorge um die Zukunft der Fakultät zu besprechen, wobei sie einmal durch Hölschers Vermittlung der mutige Universitätskurator beriet116. Bald wurde auch kirchenpolitisches Handeln erforderlich. Bei den „Kirchenwahlen“ am 23. Juli kandidierte neben der übermächtigen „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ und der ihr opponierenden Gruppe „Evangelische Kirche“ (bzw. „Evangelium und Kirche“) im letzten Augenblick auf Initiative von K.L. Schmidt und E. Wolf noch eine dritte Liste „Für die Freiheit des Evangeliums“, an deren Spitze Karl Barth stand117. Dieser hielt am Vorabend der Wahl eine fulminante Rede, in der er die beiden anderen Listen für unwählbar erklärte, denn: „Die Evangelisch-Kirchlichen sagen heimlich, gedämpft und zurückhaltend, was die Deutschen Christen offen, laut und ungebrochen sagen. […] Ich weiß nicht, ob ich, wenn ich zwischen diesen beiden Fronten zu wählen hätte, schließlich nicht doch noch lieber den wenigstens kräftigeren Irrtum der Deutschen Christen wählen würde.“118 „Nach der Rede umarmte ihn Hölscher unter Tränen.“119 Die Liste erhielt 6 der 60 Sitze in der Gemeindeverordnetenversammlung, darauf die Professoren Barth, Hölscher und Wolf120. Eine weitere Initiative führte nach außerhalb: am 11. und 12. November besprachen sich Barth, Hölscher und Wolf, dazu der ihnen gleichgesinnte Privatdozent Fritz Lieb in Marburg mit den dortigen Kollegen Bultmann, von Soden und Schlier 113  Brief v. Kirschbaum an H. Traub, in: K. Barth, Briefe des Jahres 1933, hg.v. E. Busch (2004) 91. 114  Bizer a.a.O. 254f.; vgl. Goeters a.a.O. 143. 115  Goeters a.a.O. 144. 116  Vgl. Barth, Briefe des Jahres 1933, 244. 117  Auf ihrem Flugblatt (abgebildet bei H. Prolingheuer, Der Fall Karl Barth, 1977, 214) ist Hölscher einer der vier Unterzeichner. 118  K. Barth, Für die Freiheit des Evangeliums (TEH 2, 1933) 13. 119  E. Busch, Karl Barths Lebenslauf (1975) 241. 120  Vgl. Barth–Thurneysen, Briefwechsel III, 472f.; Barth, Briefe des Jahres 1933, 301.

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und schickten einen von v. Soden entworfenen Protestbrief an den Reichsbischof, in dem sie als „Lehrer deutscher evangelischer Theologie“ gegen die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ die Anklage erhoben, „daß sie das Wesen der evangelischen Kirche durch ihre nach unserer Überzeugung in entscheidenden Punkten schrift- und bekenntniswidrige Lehre und durch den unbestreitbaren Mißbrauch der Gewalt verleugnet und verdirbt“121. Zwischendurch gelang Hölscher ein Aufenthalt in Rom, von wo aus er eine launige Karte („Wir sind unverbesserliche deutsche Romantiker“) an Barth schickte, der für diese Stadt ebenso viel Sinn hatte wie er – ein Jahr später sollte dort das „Nein!“ an Emil Brunner zu Papier kommen. Barth schickte die Karte des „Zeit- und Streitgenossen“ an K.L. Schmidt weiter in der Erwartung, dass ihr Inhalt auch ihn „eigentümlich erheitern“ werde; Hölscher habe „wirklich eine liebenswürdige Art, sich allen Gleichschaltungssorgen zu entziehen“122. Dabei war Hölscher um diese Zeit – Anfang August 1933 – zweifellos längst klar, dass auch für ihn selbst die „Gleichschaltung“ mit den beiden Absetzungen des Frühjahrs noch nicht beendet war. In der Tat: „Ohne ein Wort der Vorbereitung oder der Begründung“ versetzte ihn ein Erlass vom 17. April 1934 „an eine andere Universität“; welche das sein sollte, erfuhr er erst ein Jahr später: Heidelberg; dorthin hatte er sich im Sommersemester 1935 zu verfügen123. Seinen Lehrstuhl besetzte Anton Jirku, ein in jeder Hinsicht unwürdiges Zwischenglied zwischen ihm und Martin Noth, den Sitz in der Gemeindeverordnetenversammlung Charlotte v. Kirschbaum – bis zu ihrem baldigen Weggang im Gefolge Karl Barths nach Basel. Die Erneuerung der Fakultät seit 1929, an der Hölscher maßgeblich beteiligt war, hatte die Fakultät „zu ihrer größten Blüte und bis dahin stärksten Frequenz“ gebracht, jetzt war sie, mochte sie auch äußerlich weiterbestehen, zerstört. „Mit der Entlassung oder Zwangsversetzung von sechs Ordinarien und vier Nichtordinarien in den Jahren 1933– 1935 ist die Fakultät Opfer der nationalsozialistischen Politik geworden wie keine andere akademische Korporation Deutschlands.“124 Seine Versetzung ausgerechnet nach Heidelberg hat Hölscher „das Sonderbarste“ genannt, „was mir passiert ist; denn sie war betrieben worden von Leuten, die kein Interesse an mir haben konnten. Der Heidelberger alttestamentliche Lehrstuhl war nach der Emeritierung von Georg Beer auf einmütigen Vorschlag aller nationalsozialistischen Instanzen, Fakultät, Rektor und Senat, Ministerien, Dozentenführung, Studentenführung u.a. von Berlin aus durch die Berufung eines Parteigenossen, des Professors Weiser 121  Hier nach Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens, hg.v. E. Dinkler und E. Dinkler-von Schubert (21986) 363. 122  Barth, Briefe des Jahres 1933, 325. 123  Bizer 258; im Album Professorum ist der 9. April 1934 das Datum des Erlasses. 124  J.F.G. Goeters in: Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, hg. von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (1987) 56.

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in Tübingen, besetzt worden. Meine Berufung nach Heidelberg erfolgte also, indem die schon perfekte Berufung von Weiser rückgängig gemacht wurde.“125 In seinem ersten Heidelberger Semester verhängte die Studentenführung über seine Vorlesung den Boykott, indem sie die Hörer „mit Entziehung von Stipendium und Freitisch bedrohte“, wogegen Ministerium und Rektor nichts unternahmen. „So verkrümelte sich meine anfangs erfreulich zahlreiche Zuhörerschaft bis auf drei ältere Geistliche der Stadt, einen russischen Juden und einen tapferen Theologiestudenten.“126 Im nächsten Semester kehrte Normalität ein, wenn man im Blick auf diese Zeit, zu der auch das Schrumpfen der theologischen Fakultäten gehörte127, von Normalität sprechen kann. Hölscher mied die Universitätsfeierlichkeiten und „lebte in einer Art Verborgenheit“128, hatte aber gute Freunde – er nennt die Theologen Dibelius, Hupfeld und Frommel –, gehörte zum Kreis um Marianne Weber, die Witwe des großen Max, spielte die Geige und unterrichtete auch darin, ging nicht ins Kino und legte Wert darauf, kein Radio zu besitzen – „was besonders während des Krieges nicht unerfreulich war, da es einem das Anhören von Propagandareden ersparte“129. Der Pflicht, an den nationalen Feiertagen die Hakenkreuzfahne zu hissen, soll er so entsprochen haben, dass seine Fahne eine Winzigkeit hatte, „die neben der Größe der nachbarlichen Fahnen auch so etwas wie ein Bekenntnis war“130. Ihn entsetzten die Judenverfolgungen und „die stumpfe und brutale Gleichgültigkeit weiter Kreise gegen das begangene Unrecht, gegen die anzukämpfen fast hoffnungslos war“. Man darf annehmen, dass er es versucht hat, und eigenes Handeln steht sicher auch hinter dem Satz: „Was wir jüdischen Freunden an Hilfe und Freundschaft erweisen konnten, war leider wenig genug“131. Wenigstens für die Zukunft hatte er den Wunsch: „Mögen unsere Kinder, auf die wir jetzt unsere Hoffnung setzen, einmal zu der Erkenntnis kommen, daß nur Gerechtigkeit einen dauernden sozialen und politischen Frieden bringen kann.“132 Einen „Lichtpunkt des wissenschaftlichen Lebens in all diesen dunklen Jahren“ nannte er die Akademie der Wissenschaften, die „in ihren Verhandlungen und Veröffentlichungen stets einen sachlichen und unpolitischen Standpunkt“ einnahm und „deshalb auch von der Partei offen und heimlich grundsätzlich angegriffen wurde“133. Sie bot ihm der Ungunst der Zeit zum Trotz die Möglichkeit zur Publikation mehrerer gehaltvoller Arbeiten ganz 125  III, 7f. 126  II, 59. 127  Vgl. C.H. Meisiek, Evangelisches Theologiestudium im Dritten Reich (1993) 419. 128  III, 8. 129  II, 59. 130  H. Thielicke, Zu Gast auf einem schönen Stern 110. 131 Ebd. 132  II, 60. 133  II, 59.

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verschiedener Art: Die Hohenpriesterliste des Josephus und die evangelische Chronologie (1940), Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung (1942), Drei Erdkarten. Ein Beitrag zur Erdkenntnis des hebräischen Altertums (1949). Er beteiligte sich auch an den „Schriften des Nikolaus von Cues“, die die Akademie in deutscher Übersetzung herausbrachte, indem er zum ersten Band (1943) der Cribratio Alkoran („Sichtung des Alkorans“) die Anmerkungen beisteuerte und beim zweiten Band (1946) auch die Übersetzung besorgte134. Diesen Akademieschriften war 1937 der Kommentar zum Buch Hiob in Eißfeldts Handbuch zum Alten Testament vorangegangen – schon durch seine Kürze und Präzision eine Wohltat für eine Zeit, in der die Kommentare immer dicker und weitläufiger werden. „Ergriffen ist man ja immer wieder,“ hatte Hölscher schon 1916 an Gunkel geschrieben, „wenn man dies schönste Buch des Alten Testaments (den Jahvisten nehme ich aus) wieder einmal gründlich durchnimmt“, und er hatte damals die Lostrennung der Jahwerede durch Volz hart getadelt, denn in dieser sehe er selbst „eigentlich den Schlüssel zum Buche“135. Der Kommentar distanziert sich auch sonst von den literarkritischen Operationen seit Volz überraschend scharf: „Man löst das Werk in eine Menge von selbständigen Teilen und Einzelstücken auf, die man trotz sehr verwandten Stils und verwandter Ideen auf lauter verschiedene Autoren verteilt; man zerschlägt damit das Werk in viele kleine Bruchstücke und setzt sie womöglich nach eigener Rekonstruktion neu zusammen.“136 Es entsprach nicht dem Stil des Kommentars, den Lesern die Schönheit des Buches als solche vor Augen zu führen. Das tat Hölscher in dem eindrucksvollen Versuch einer „dichterischen Nachbildung“, der unter dem Titel: „Das Gedicht von Hiob und seinen drei Freunden“137 1948 im Insel-Verlag erschien. Die Übersetzung besteht aus paarweise zusammengestellten Distichen, in denen sich das Ende der vierten Zeile auf das der zweiten reimt; das Metrum ist der fünffüßige Jambus, „der dem Pathos des hebräischen Verses vielleicht am nächsten kommt“138. Über Hölschers Emeritierung haben wir den Bericht seines jüngeren Freundes H. v. Campenhausen (1903–89), der ihn schon in Marburg dafür verehrte, dass er „das einzig gesellschaftlich gebildete Haus unter den Theologen machte“139: „Die Fakultätssitzung (am 29.VI.48)“, in der über die Nachfolge entschieden werden musste, „begann damit, daß Hölscher selbst seine Vorschläge machte. Ich weiß nicht mehr, welche Namen er nannte – es waren sicher lauter tüchtige Gelehrte und Philologen, aber Rad war nicht darunter. 134  Heft 6 und 7 der Ausgabe, Bd. 221 und 222 von Meiners Philosophischer Bibliothek. 135  Brief vom 16.1.1916. 136 (21952) 5f. 137  Elihu wird, obwohl die Übersetzung seine Reden enthält, hier nicht als Freund gewertet! 138  A.a.O. 13. 139  Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen. Autobiografie, hg.v. R. Slenczka (2005) 113.

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Hölscher hielt ihn für einen netten, liebenswürdigen Menschen, der auch dies oder das ganz Nette geschrieben hatte; aber als Gelehrter war er in seinen Augen gänzlich unbedeutend. Daß auch eine geistige Durchdringung und theologische Interpretation des alttestamentlichen Stoffes ‚bedeutend‘ sein könne, war ihm, dem scharfsinnigen und überskeptischen Forscher alten Stils, noch nie in den Sinn gekommen. Und dann gaben wir unsere Stimmen ab: einer nach dem andern sprach sich für primo loco Rad aus. Es war bitter für Hölscher zu sehen, wie unabwendbar die Entscheidung gegen ihn, den damals noch einzigen Fachmann, ausfiel; aber er beherrschte sich, tief resigniert, und ließ den Dingen ihren Lauf. Aber es dauerte, bis er nach Rads Ankunft schließlich ihn zusammen mit mir zu einem Thee einlud, bei dem dann alles natürlich sehr höflich und gebildet von statten ging.“140 Merkwürdigerweise ist die Beziehung zwischen diesen beiden durch und durch kultivierten Menschen nicht wesentlich über den einen „Thee“ hinausgekommen. Dabei könnte man sie sich leicht miteinander musizierend vorstellen, so wie Hölscher einst in Halle mit dem alten Cornill musiziert hatte141. Und wieviel Gesprächsstoff hätte das gemeinsame Fach geboten, allgemeinen und speziellen! Zu dem speziellen hätte etwa die Apokalyptik gehören können, die Hölscher gegen die communis opinio, grob gesagt, nicht aus der Prophetie, sondern aus der Weisheit herleitete142, worin es ihm später auf anderem Wege v. Rad gleichtat143. Und es muss ihnen ja auch vor Augen gestanden haben, dass im gerade abgelaufenen Jahrzehnt unter ihren Namen zwei Abhandlungen fast gleichen Titels erschienen waren: „Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung“ von Hölscher (1941), „Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung im Alten Israel“ von v. Rad (1944)144. Die Gegenstände sind durchaus verschieden, aber die Gemeinsamkeiten des über sie hinausgehenden geistigen Horizonts deutet schon der Umstand an, dass sowohl Hölscher als auch v. Rad sich auf Ed. Meyer, Ed. Schwartz und Otto Regenbogen als Gewährsleute für das Verhältnis der Griechen zur Geschichte beziehen. Hölscher hat seine Abhandlung, die dem Erzählungswerk des Jahwisten galt, später zu einem umfangreichen Buch erweitert: „Geschichtsschreibung in Israel. Untersuchungen zum Jahwisten und Elohisten“145, nunmehr mit Akzent auf dem Elohisten und insgesamt eine Analyse (und Synthese) der beiden großen Quellenwerke, die nach Hölschers Auffassung den Büchern Genesis– Könige zugrundeliegen, J bis zum Abfall Rehabeams, E bis zur Freilassung 140  Ebd. 310f. 141  Vgl. seinen Brief an Gunkel vom 30.6.1920. 142  Vgl. nur Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion 187; weiteres bei J. M. Schmidt, Die jüdische Apokalyptik. Die Geschichte ihrer Erforschung von den Anfängen bis zu den Textfunden von Qumran (1969) 258f. u.ö. 143  Theologie des Alten Testaments II (11960) 319–32, (21965) 314–22. 144  AKuG 32, 1–42 (später in: Ges. Studien zum Alten Testament, 41971, 148–88). 145  SHVL.L (1952).

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Jojachins. Hölschers Buch ist das letzte und seit Wellhausens „Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher“ am meisten imponierende Dokument der klassischen Literarkritik und ihrer Urkundenhypothese, geschrieben keineswegs unter Nichtbeachtung, wohl aber meist wohlbedachter Relativierung der mit dem Namen Gunkels verbundenen neueren Wege der Exegese und im Bewusstsein, zu ihnen eine notwendige Alternative zu bieten. So fasste es auch die Gegenseite auf: Martin Noth schickte 1943 seinen „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ die Bemerkung voran, Hölschers Arbeit von 1942 sei „nach Voraussetzungen und Art so anders, daß es kaum sinnvoll gewesen wäre, in eine Auseinandersetzung über die vielen gegensätzlich beurteilten Einzelheiten einzutreten. So mögen die beiden verschiedenen Gesamtauffassungen, durch die das Urteil auch über die Einzelheiten bestimmt ist, nebeneinander in die Öffentlichkeit treten und jede für sich die Anerkennung der Sachkenner zu erringen versuchen.“ Ganz entsprechend verfuhr 1952 in umgekehrter Richtung Hölscher, aber nicht ohne einleitend eine pointierte Kritik an Noths inzwischen erschienener „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ zu liefern, die auch v. Rads Anteil an der Nothschen Konzeption einbezieht: „sehr bedenklich“ sei es, „aus jungen poetischen Erwähnungen der pentateuchischen Vorgänge eine Vorgeschichte der Tradition zu konstruieren, deren hypothetischen und oft recht willkürlichen Charakter der Verfasser selber immer wieder betonen muss“146. Einem Besucher in seinen letzten, oft einsamen Jahren – es war Walther Zimmerli – klagte Hölscher darüber, dass die alttestamentliche Wissenschaft so völlig unter dem Namen Gunkels und nicht mehr dem Wellhausens stehe, also die Literarkritik in sträflicher Weise vernachlässige. Das hat sich inzwischen geändert, wenngleich die Literarkritik heute viel weniger mit „Urkunden“ als mit „Fortschreibungen“ arbeitet und Hölschers „Geschichtsschreibung“ ebenso als ein Anachronismus gilt wie vor fünfzig Jahren, und wie vor achtzig Jahren sein „Hesekiel“ ein Anachronismus war147. Über die Qualität dieser Arbeiten besagt das aber gar nichts und so auch nichts gegen Mowinckels Erfahrung, „dass man immer viel von ihm lernen kann“. Wir sollten uns also, wo wir nur können, durch Walter Dietrichs Ratschlag ermuntern lassen: „Vgl. zum Ganzen Hölscher“!148

146  Geschichtsschreibung 18. 147  Ch. Levin, Die Verheißung des neuen Bundes (1985) 1621. 148  W. Dietrich, Prophetie und Geschichte (1972) 139115.

Martin Buber 1878–1965

Ich habe Buber zweimal erlebt, einmal von weitem und einmal aus der Nähe. 1951 sprach die Universität Hamburg Buber den Hansischen Goethepreis zu. Er nahm ihn als „eins der vorerst noch wenigen Zeichen einer aus der gegenmenschlichen Chaotik unserer Zeit erstehenden neuen Humanität“ an1, obwohl er dafür in der israelischen Presse heftig kritisiert wurde, und erklärte sich nach einigem Zögern2 auch bereit, ihn in einer öffentlichen Feier entgegenzunehmen. Dies geschah im Juni 1953, und er hielt dabei einen Vortrag über „Geltung und Grenze des politischen Prinzips“3, den er anschließend in sieben deutschen Universitäten wiederholte, zuletzt in Göttingen. Als er vom dortigen Rektor, dem Historiker Hermann Heimpel, ehrfurchtsvoll-fürsorglich durch die überfüllte Aula zum Katheder geleitet wurde, war seine kleine Gestalt kaum zu sehen, doch sobald er das Wort ergriffen hatte, beherrschten sein mächtiger Kopf und seine kraftvolle Stimme den großen Raum. Offenkundig war er ein ebenso virtuoser Redner wie Schriftsteller. Man konnte ihm immer noch die wienerisch-galizische Herkunft anhören, er sprach mit präziser Artikulation – n und g getrennt! – und in einem eindringlich-emphatischen, leicht feierlichen Ton, den man fürs Leben im Ohr behielt. Den Vorwurf der Undeutlichkeit oder Unverständlichkeit – man erzählte sich da in Jerusalem hübsche Anekdoten4 – fand ich weder damals noch später bestätigt. Natürlich gab es auf einem Denkweg wie dem seinen Spannungen und Wandlungen, aber er wusste immer, was er sagen wollte, und formulierte es mit großer Sorgfalt so genau, wie es ihm irgend möglich war. Ausgangspunkt des Vortrags von 1953 war ein – neutestamentlicher! – Bibeltext, Jesu Wort vom Zinsgroschen: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Mt 22,21 par.). Im Bestreben, „sich dem nicht mehr einer 1  Briefwechsel, hg.v. G. Schaeder III (1975) 298. 2  Vgl. ebd. 310. 3 1947 verfasst, 1953 als letztes Stück aufgenommen in „Hinweise“ (330–46), dann in Werke I (1962) 1095–1108. 4  Etwa: als Buber einige Zeit im Land ist, wird gefragt, ob er inzwischen genug (Neu-) Hebräisch gelernt hat, um sich verständlich auszudrücken. Antwort: ja, aber noch nicht genug, um sich unverständlich auszudrücken.

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Stunde, sondern allen Stunden zugehörigen Urgrund der Botschaft zu nähern“, erklärte Buber es für notwendig, „die geläufige Meinung aufzugeben, wonach hier von einer Teilung zwischen verschiedenen Bezirken der gleichen Sphäre die Rede sei“. Vielmehr gebe es zwei Sphären, die der „Ganzheit“ und die der „Sonderung“; in die erste – Buber erinnerte ausdrücklich an das deuteronomische „mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Macht“ – gehöre das Geben an Gott, in die zweite das an den Staat; dieses werde „von der Sphäre der Ganzheit aus ermächtigt“. Buber nannte Namen für die Absolutsetzung der Sphäre der „Sonderung“ – Hegel, aber auch Marx, auch Heidegger, indirekt auch Carl Schmitt – und plädierte für den gemeinsamen Versuch derer, „denen die Sprache der menschlichen Wahrheit gemeinsam ist“, „endlich Gott zu geben, was Gottes ist, oder, was hier, da eine sich verlierende Menschheit vor Gott steht, das gleiche ist, dem Menschen zu geben, was des Menschen ist, um ihn davor zu retten, daß er durch das politische Prinzip verschlungen wird“. Der Vortrag machte tiefen Eindruck; sprach hier doch jemand, der zugleich Ausleger der Bibel beider Testamente, Theologe, Religionswissenschaftler, Philosoph, politischer Denker und Wegweiser, vor allem aber, auf deutschem Parkett 1953 noch fast ein Wunder, Jude war, ja „der Erzjude“, wie er manchmal genannt wurde und sich wohl auch selbst nannte, und in dem allen eine Gestalt von unzweifelhaftem, unverwechselbarem Charisma – eben Buber. Nach dem Vortrag bat ihn Rektor Heimpel auf die Freitreppe vor der Aula: auf dem Wilhelmsplatz hatte sich eine große Menge von Studenten versammelt, um dem Gast eine Ovation darzubringen, die allen Beteiligten unvergesslich blieb5. Sechs Jahre später schickte ich Buber auf Veranlassung I.L. Seeligmanns meine Schrift über das Mosebild6, in der ich auf einigen Seiten seinen „Moses“ besprochen hatte. Er bedankte sich mit einem freundlichen Brief in der Handschrift, deren kräftige Linien und Schwünge an die Handschrift Michelangelos erinnern können, und bat zugleich Seeligmann, mich ihm bei meinem bevorstehenden ersten Aufenthalt in Jerusalem vorzustellen. So meldeten wir uns eines Vormittags im April 1960 nach telefonischer Verabredung an der Tür des schönen Hauses in Talbiyeh, neben der in lateinischen Buchstaben „Martin Buber“, in hebräischen „Mordechai Buber“ stand, wurden von Bubers Enkelin aufs liebenswürdigste hineingeleitet und saßen ihm dann vielleicht zwei Stunden zu zweit gegenüber. Seeligmann überließ mir auf unserer Seite fast ganz das Wort, und Buber nahm mir sofort alle Befangenheit, indem er mich wie einen alten Bekannten behandelte. Er besaß eine Gabe konzentrierten und zugleich ermunternden Zuhörens, wie ich sie bis dahin nur bei Karl Barth erlebt hatte. Selber sprach er bedächtig und mit einem ruhigen Ernst, der 5  Vgl. Sch. Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber (1966) 167. Dort wird, vermutlich nach Bubers eigener Darstellung, eine Zahl von 3000 Studenten genannt. Dafür möchte ich mich nicht verbürgen, aber mehrere Hundert waren es bestimmt. 6  Das Mosebild von Heinrich Ewald bis Martin Noth (1959), vgl. dort 66–69.

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hin und wieder einen versteckten Humor durchschimmern ließ. Seine großen dunklen Augen hatten das Gegenüber fest im Blick; nur wenn er länger redete, wandte er sich manchmal zur Seite, so dass man sein markantes Profil vor sich hatte. Er begann mit der Frage, die ungefähr das einzige Stück von – scheinbarem – small talk an diesem Vormittag war: was in meinem bisher dreiwöchigen Aufenthalt „im Land“ die stärksten Eindrücke gewesen wären. Ich nannte den See Genezareth und den Hügel von Samaria, beide in der Verbindung von landschaftlicher Schönheit und geschichtlicher Bedeutung. Das fand offenbar Bubers Beifall. Er sagte, man sei heute in Israel vor allem auf Archäologie aus, die Jugend wisse in einem technischen Sinn Scherben und Mauerreste zu datieren und drohe darüber die große Chance zu versäumen, das Land als den Schauplatz der Geschichte zu erfahren. Die biblische Zeit sei unwiederbringlich vergangen, aber die Landschaften und die Orte bestünden in ihrer Substanz immer noch und lüden dazu ein, sich das Gewesene und Geschehene vorzustellen; es koste Mühe, aber die Mühe lohne sich. Er sprach von „territorialer Anschauung“ und rühmte Albrecht Alt als einen, der sie in einzigartiger Weise besessen und gelehrt habe. Ihm selbst sei sie am einprägsamsten in seinen Jerusalemer Anfängen durch Judah Magnes [1877–1948] vermittelt worden, den ersten Präsidenten der Hebräischen Universität. Dieser habe ihn auf den Ölberg geführt und ihm dort das zu ihren Füßen liegende Jerusalem erklärt. Der Höhepunkt sei gewesen, wie er ihm mit ausgestrecktem Zeigefinger die Stationen von Davids Flucht vor Absalom (2 Sam 15) vorgeführt habe. Und Buber zählte auf, seinerseits den Zeigefinger ausstreckend und bei jeder Station etwas weiter bewegend: dort stand das Haus, wo David seine Kebsfrauen zurückließ, dort zogen die Kretiter und Pletiter und Gatiter und auch der Gatiter Ittai an ihm vorüber, dort überschritt das Volk und dann David selber den Kidron, dort ließ er die Priester Zadok und Ebjatar mit der Lade in die Stadt zurückkehren, und dann – Bubers Finger bewegte sich schräg aufwärts – stieg er weinend und barfuß hier auf den Ölberg, von dessen Höhe er den Arkiter Huschai in die Stadt zurückschickte, damit er, wie Buber übersetzte, den Rat des Ahithophel „zerbröckelte“; den Abstieg in östlicher Richtung zum Jordan hin deutete Buber mit einer leichten Rückwendung auf seinem Stuhl an. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass er mit der gleichen Suggestivkraft wohl auch seine chassidischen Geschichten zu erzählen pflegte. Er schloss: „Dem heutigen Israel, besonders seiner Jugend, fehlt der Finger des Herrn Magnes. Ich hoffe, auch das wird sich ändern, wenn, vielleicht in fünfzig Jahren, die Menucha, die Ruhe, eingekehrt sein wird.“ Der zweite Gesprächsgang bestand in einer ausführlichen Antwort Bubers auf meine Frage, wann wohl mit dem Abschluss seiner Bibelübersetzung zu rechnen sei. Er berichtete kurz von seiner gegenwärtigen Arbeit an den letzten „Schriften“, die ihm außer Daniel keine große Mühe mehr machten, und eingehender von den Problemen, die er vorher mit Hiob gehabt hatte; einiges davon

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erkannte ich 1962 in der Beilage zu den „Schriftwerken“ wieder7. Den dritten Gesprächsgang leitete Seeligmann ein, indem er auf mein Interesse an Julius Wellhausen hinwies. Buber überlegte kurz und sagte dann mit Betonung: „Ich brauche nicht zu sagen, wie viel ich dem Mann verdanke. Sein Irrtum war, dass er annahm, die Anfänge8 seien profan gewesen.“9 Wir sprachen dann zunächst weniger über Wellhausen als über die Anfänge Israels unter diesem Gesichtspunkt. Ich kritisierte dabei den Begriff der „primitiven Pansakralität“, den ich bei v. Rad10 gelesen hatte, peinlicherweise ohne in diesem Augenblick gegenwärtig zu haben, dass v. Rad den Ausdruck von Buber übernommen hatte, bei dem er ausgerechnet in einem Wellhausen-Referat stand11. Buber bemerkte dazu mit einem feinen Lächeln, das ich erst hinterher verstand, der Begriff sei „vielleicht nicht ganz glücklich“. Im übrigen berührten wir verschiedene Aspekte seines „Königtums Gottes“, von dem ich damals sehr beeindruckt war und das er bei dieser Gelegenheit ausdrücklich für das wichtigste seiner Bücher zur Bibel erklärte; dieser Gesprächsteil hat, wie ich heute sehe, in meiner Anfang 1961 geschriebenen Habilitationsschrift „Jahwekrieg und Stämmebund“ deutliche Spuren hinterlassen. Die Rede kam ausführlich auf Bubers Begriff der „Theopolitik“12 und daran anknüpfend wieder auf Wellhausen, nämlich seine Entgegensetzung von Theokratie „als Idee und als Anstalt“13 und Bubers Gegenposition14, wobei Buber „dem Mann“ unbeschadet aller Kritik noch einmal seine hohe Achtung bezeugte. Auf seine abschließende Frage nach einer Biographie Wellhausens nannte ich ihm mit starker Empfehlung die Gedenkrede von Ed. Schwartz, die er sich daraufhin in den nächsten Tagen bei Seeligmann auslieh, aber diesem wieder zurückgab, nachdem er auf Schwartzens (kaum zutreffenden) Satz gestoßen war, Wellhausen habe es im Ersten Weltkrieg „bitter“ empfunden, „dass er dem Vaterland keine Söhne stellen konnte“15; hier mochte Buber nicht weiterlesen16. Beim Abschied, schon in der Tür, sagte er noch: „Und wenn auch ich Ihnen eine Lektüre empfehlen darf: lesen Sie Agnon, er ist unser größter Dichter“ – und lächelnd zu Seeligmann gewandt: „Das ist er doch?“

7  Dann in: Werke II, 1170–74; Werkausgabe (MBW) XIV, 228–31. 8  Vielleicht sagte er auch: die Anfänge Israels. 9  Offenbar eine für Buber charakteristische Redeweise: er konnte auch von Th. Herzls „Irrtum“ oder „Grundirrtum“ sprechen (Der Jude und sein Judentum, 1963, 478). 10  Der Heilige Krieg im alten Israel (21952) 29. 11  Moses (1948) 141 (Werke II, 137) mit unexakter Quellenangabe, vgl. auch Moses 151f. (147f.). 12  Vgl. Königtum Gottes (31956) 115 (Werke II, 683f.; MBW XV, 174); Der Glaube der Propheten (21984) 162–93 (Werke II, 368–99). 13  Prolegomena zur Geschichte Israels (61905) 409–24. 14  Königtum Gottes 39f.115–49 (Werke II, 547f.683–723; MBW XV, 107.174–99). 15  Im Separatdruck (1919) 13, in Schwartz’ gesammelten Schriften I (21963) 339. 16  Vgl. dazu MBW I, 73–83 (M. Treml); III, 38–42 (B. Schäfer).

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Das Kapitel Buber bekam damals noch einen Nachtrag, und zwar durch keinen Geringeren als Gerhard/Gershom Scholem (1897–1982). Bei ihm hatte uns Seeligmann für den nächsten Tag angemeldet. Ich wusste vage von dem Kabbalaforscher und erwartete einen weltabgewandten, scheuen Gelehrten mit einem noch längeren Bart als dem Buberschen und war aufs höchste erstaunt, als eine schlanke bewegliche Gestalt mit einem eher kleinen Kopf, auffällig abstehenden Ohren und einem ungeheuer intelligenten Gesicht aus der oberen Etagentür ins Treppenhaus von Rehob Abarbanel 28 trat. Irgend etwas am Habitus des Mannes erinnerte mich unwillkürlich an Max Liebermann, so dass mich das waschechte Berlinerisch seiner Anrede an Seeligmann kaum überraschte: „Na Kollege, wen haben Sie denn da angebracht?“ Er schob uns in sein großes, an den Wänden bis zur Decke mit Büchern gefülltes Arbeitszimmer, und noch im Stehen fragte er mich: „Was machen Sie, was haben Sie gelernt?“ Ich bekannte mich stolz als Assistenten von Professor Noth in Bonn, worauf er mich scharf anfuhr: der habe mit seiner These über Mose gezeigt, dass er kein Historiker sei. Dann setzten wir uns, und es entspann sich eine muntere Unterhaltung, bei der er uns mit zielsicher zugeworfenen Schokoladenstücken bewirtete. Auch er war ein aufmerksamer Zuhörer, aber anders als Buber eher in der Art eines Raubvogels ständig auf der Lauer, dazwischenzufahren, und sei es auch nur mit dem scheinbar verwunderten Ausruf: „Was Sie sagen!“ Die Rede kam, wohl im Anschluss an meinen Bericht über mein bisheriges Jerusalemer Programm, bald auf Buber und hier zunächst, leider allzu kurz, seinen „Moses“ im Kontrast zu dem Nothschen und dann die „Erzählungen der Chassidim“, die seit Jahren zu meinen Lieblingsbüchern gehörten. Da fand Scholem denn doch einiges zurechtzurücken, und er besorgte das in einem einstündigen Privatissimum, bei dem mir Hören und Sehen verging. Er urteilte über den Historiker Buber ebenso scharf wie über den Historiker Noth, aber prinzipieller und aus viel größerer Nähe, ja der Nähe eines der ältesten BuberSchüler, als den er sich ausdrücklich bezeichnete; diese Schülerschaft sei allerdings schon früh eine kritische geworden. Bubers Schriften zur Bibel gäben sich als Wissenschaft, führten Literatur auf und setzten sich mit ihr auseinander, aber das geschehe doch eigentlich nur zum Schein. In Wahrheit sei seine Exegese eine „pneumatische Exegese mit Anmerkungen“, wobei die Anmerkungen vor allem den Zweck hätten, eben diesen Tatbestand zu verwischen. Bei den Schriften zum Chassidismus sei es noch schlimmer. Ob ich etwa in den „Erzählungen der Chassidim“ auch nur eine einzige Quellenangabe gefunden hätte? Buber gebühre das Verdienst, einen großen und wichtigen Teil des jüdischen Lebens und Denkens neu ins Bewusstsein gerückt zu haben, aber er habe das nicht als Historiker getan, und er habe den Chassidismus fundamental missverstanden. Seine Bücher, so zitierte Scholem genussvoll Simon Dubnow, seien „geeignet, die Kontemplation, nicht aber die Forschung zu fördern“. Die Erforschung des Chassidismus werde nach Buber noch einmal neu anzufangen haben.

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Das Gespräch nahm eine andere Wendung, als Frau Fania Scholem nach Hause kam; sie hatte einem Wunderrabbi außerhalb Jerusalems zugesehen und berichtete darüber zum lebhaften Ergötzen ihres Mannes. Ich bedauerte hinterher, nicht auch ihn auf Wellhausen angesprochen zu haben; vielleicht hätte ich damit ahnungslos eine ähnliche Explosion hervorgerufen wie mit der Erwähnung Noths17. Was Scholem über Buber gesagt hatte – übrigens viel ausführlicher, als ich es hier wiedergegeben habe –, konnte man später fast wörtlich in der Neuen Zürcher Zeitung nachlesen18; die beiden Aufsätze, auf Eranos-Tagungen vorgetragen und inzwischen in Scholems „Judaica“ leicht greifbar19, wiegen ganze Stapel durchaus ehrenwerter anderer Buber-Literatur auf. Es empfiehlt sich aber, die Apologie Bubers hinzuzunehmen, die sein und doch auch Scholems Freund Ernst Simon (1899–1988) dem zweiten Aufsatz am gleichen Ort und in gleicher Kompetenz folgen ließ20. Mir hat das Verhältnis von Buber und Scholem – es ist zu Recht oder Unrecht mit dem von Mose und Josua verglichen21, aber auch ein „Kampf um den Platz des legitimen Sprechers des Judentums“ genannt worden22 – seit jenen Jerusalemer Apriltagen als eine geradezu klassische Konstellation vor Augen gestanden. Wie froh war und bin ich, mich nicht für einen von beiden gegen den anderen entscheiden zu müssen! Fünf Jahre nach jenem ersten Jerusalem-Besuch, im Juli 1965, konnte ich zuhören, wie Scholem als Vizepräsident der israelischen Akademie der Wissenschaften in der Eröffnungsveranstaltung des Fourth World Congress of Jewish Studies den kurz vorher verstorbenen Vorgänger und Antipoden würdigte23. Ich genoss die schnell gesprochenen Sätze, soweit ich ihr Hebräisch verstand, und ahnte natürlich nichts von dem maliziösen Gerücht, Buber habe 1960 bei seiner eigenen Wahl zum Gründungspräsidenten der Akademie spekuliert, ob die einzige Gegenstimme, die es gab, wohl die Stimme Scholems gewesen sei24. 17  Vgl. Scholem, Tagebücher I (1995) 59; II (2000) 83f. 18 Martin Bubers Deutung des Chassidismus: NZZ Literatur und Kunst 20./27.5.1962; Martin Bubers Auffassung des Judentums: ebd. 2./9.4.1967. 19  I (1963) 165–202 (dort 169 das Dubnow-Zitat); II (1970) 133–92 (dort 184 die „pneumatische Exegese mit Anmerkungen“). Auf den ersten Aufsatz reagierte Buber mit Ausführungen (zuerst NZZ 31.3.1963, dann Werke III, 991–98; MBW XVII, 326–32), die Scholem privatim gegenüber Th. W. Adorno mit unüberbietbarer Schärfe abqualifizierte (Briefe II, 1995, 94), um dann öffentlich eine zahmere „Nachbemerkung“ zu schreiben (Judaica I, 203–06). 20  Scholem und Buber: NZZ Literatur und Kunst 11.7.1967; leider, wenigstens in der deutschen Fassung, später nicht wieder gedruckt. 21  W. Kaufmann in: Martin Buber. Bilanz seines Denkens, hg.v. J. Bloch u. H. Gordon (1983) 36 (im Blick auf die Erforschung des Chassidismus). Vgl. auch K.S. Davidowicz, Gershom Scholem und Martin Buber. Die Geschichte eines Mißverständnisses (1995). 22 D. Weidner, Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben (2003) 73. 23  Er hatte bereits an Bubers Grab gesprochen und davor zu seiner Frau gesagt: „nenne mir drei Punkte, über die ich sprechen kann, ohne direkt die Unwahrheit zu sagen. Daß mir das gelungen ist, rechne ich mir hoch an.“ (Briefe II, 139; leider wurde die Ansprache nicht gedruckt). 24  M. Friedman, Martin Buber’s Life and Work III (1983) 381.

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Kein Gerücht war die vornehme Rede, die Scholem „an einem denkwürdigen Tage“ im Februar 1961 zum Abschluss von Bubers Bibelübersetzung hielt25. Sie endete im Blick auf die Zukunft dieser Übersetzung melancholisch-pessimistisch, und darin tat es ihr einige Jahre später Scholems letzte Buber-Würdigung gleich, indem sie mit der Gedichtzeile schloss: „Selig, die säen und nicht ernten.“26 Doch Buber sah 1961 in seiner direkten Antwort auf Scholem „schon Zeichen dafür“, dass der Übersetzung, auch was ihre Wirkung anging, „ein Gelingen beschieden“ sei27, und war in jenen Jahren vollauf damit beschäftigt, soweit es an ihm lag, eine vorläufige Ernte dessen einzubringen, was er lebenslang gesät hatte: er veranstaltete „eine echte Monumentalausgabe“ seiner „Werke“, mit der „recht eigentlich, das Korn in die Scheuer gebracht“ sein sollte28. In den drei starken Bänden „letzter Hand“, von Buber selbst ausgewählt und redigiert und von den Verlagen Kösel und Hegner in gewohnter Opulenz herausgebracht, hat man alle für Buber damals noch aktuellen Schriften zur Philosophie (I, 1962), zur Bibel (II, 1964) und zum Chassidismus (III, 1963) beisammen. 1963 gliederte sich, in Einband und Typographie gleich, bei Melzer ein Band „Aufsätze und Reden“ mit dem Titel „Der Jude und sein Judentum“ an29, und 1972–75 folgten bei Bubers wichtigstem Verleger Lambert Schneider und in ähnlicher Ausstattung wie die „Werke“ drei Bände „Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten“ mit einer ausführlichen biographischen Einleitung der Herausgeberin Grete Schaeder. In diesen sieben gleichformatigen Bänden besitzt bis zur Vollendung der seit 2001 erscheinenden, auf 21 Bände angelegten „Werkausgabe“ (MBW) jede Beschäftigung mit Bubers Leben und Werk eine solide Grundlage. Buber selbst hat darauf aufmerksam gemacht, dass die in Bd. II der „Werke“ gesammelten Schriften zur Bibel zeitlich viel später beginnen als die Schriften zur Philosophie (I) und zum Chassidismus (III), und hat dafür die Erklärung gegeben, dass er „zum Dienst an der Bibel erst habe reifen müssen“30. In der Tat begann dieser „Dienst“ erst in der zweiten Hälfte seines fünften Lebensjahrzehnts, und merkwürdigerweise ist er nie seine berufliche Lehraufgabe gewesen, auch und gerade in Jerusalem nicht: die Professur, die ihm 1938 dort übertragen wurde, lautete auf Sozialphilosophie31, und bei seiner ungewöhnlichen Vielseitigkeit war er durchaus imstande, auch dieses Fach zu 25  NZZ Literatur und Kunst 31.3.1963; Judaica I, 207–15. 26  Judaica II, 192. 27  Werke II, 1182; MBW XIV, 227 (allerdings wohl nachträglich retouchiert). 28  Briefwechsel III, 618; vgl. Der Jude und sein Judentum (1963) X und z.B. Ben-Chorin (Anm. 5) 233. 29  Für Buber handelte es sich hier nicht um „Werke im engeren Sinne“, sondern meist eher um „Gelegenheitsarbeiten“ (Briefwechsel III, 621). 30  Werke II, 7. 31  Noch viel später hatte G. Scholem Anlass, sich gegen die Darstellung Ben-Chorins (Zwiegespräche mit Martin Buber, 1966, 38–48) zu wehren, nach der er „wesentlich dazu beigetragen habe, Bubers Berufung auf ein ihm kongeniales Forschungsgebiet zu verhindern“ (Frankfurter Hefte 22, 1967, 229–31, Zitat 230).

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vertreten, natürlich, wie alles, auf seine eigene Weise. Davon kann hier nicht gehandelt werden, und auch nur in wenigen Stichworten von seinem Lebensgang, der schon oft und in den verschiedensten Graden der Ausführlichkeit dargestellt worden ist32. Nach der Trennung seiner Eltern bei den Großeltern Buber in Lemberg aufgewachsen, war er durch den Großvater, den Bankier und Midrasch-Herausgeber Salomon Buber (1827–1906), in jüdischer Tradition, durch die Großmutter Adele in deutscher Sprache und Literatur heimisch geworden. Er hatte dort das polnische Gymnasium besucht und in der Bukowina erste Eindrücke von den Chassidim und ihrer mystischen Religiosität gewonnen. Es folgten Jahre eines sehr lebendigen, nicht von Fachgrenzen beengten Studiums in seiner Geburtsstadt Wien und dann in Leipzig, Zürich und Berlin, wo Wilhelm Dilthey und Georg Simmel seine Lehrer waren. Er nahm mannigfache geistigphilosophisch-künstlerische Anregungen in sich auf (Nietzsche!) und wurde, namentlich in Wien, Literat unter Literaten; noch in seinen späten Jahren bewies er eine intime Vertrautheit mit dieser Welt33. In Zürich lernte er seine Frau, die als bayerische Katholikin geborene Schriftstellerin Paula Winkler (1877–1958), in Berlin den ihn tief beeinflussenden anarchistischen Sozialisten Gustav Landauer (1870–1919, ermordet) kennen. Schon vor der Jahrhundertwende begann er sich in der zionistischen Bewegung zu engagieren, anfangs auf Seiten Theodor Herzls, dann im Widerspruch gegen dessen politischnationalistischen Kurs; ein erster Höhepunkt waren die „Drei Reden über das Judentum“, 1909/11 in Prag gehalten34. Zunächst in Berlin, seit 1916 in Heppenheim an der Bergstraße ansässig und seit 1919 an Franz Rosenzweigs „Freiem jüdischen Lehrhaus“ in Frankfurt, seit 1925 auch an der dortigen Universität tätig (1930 Honorarprofessur)35, entfaltete er eine rührige Wirksamkeit als Redner, Lehrer, Lektor, Herausgeber, Organisator und nicht zuletzt als Autor. Seinen geistigen Weg in dieser Zeit bezeichnet plakativ und also cum grano salis 32  Als Standardwerk tritt jetzt D. Bourel, Martin Buber. Sentinelle de l‘humanité (2015) neben die dreibändige Biographie von Friedman (s. Anm. 24). Als kürzere Darstellungen behalten die von H. Kohn (1930, 21961) und Grete Schaeder (1966) ihren Wert. Das hiesige Thema behandelt nüchtern und übersichtlich K.-J. Illman, Leitwort–Tendenz–Synthese. Programm und Praxis in der Exegese Martin Bubers (Åbo 1977). Für die Frühzeit sind zwei kleine autobiographische Schriften aufschlussreich, bei denen man allerdings den Eindruck hat, dass Buber ebenso viel übergeht wie mitteilt: Mein Weg zum Chassidismus (1917; Werke III, 959–73) und Begegnung. Autobiographische Fragmente (zuerst 1960; 1963 in: Die Philosophie Martin Bubers, hg.v. P.A. Schilpp u. M. Friedman, 1–34). Als Korrektiv lesenswert: H. Gordon, Der geborgene Ästhet – eine neue Deutung von Bubers Leben, in: Bloch/Gordon (Anm. 21) 45–60. 33  Viele Zeugnisse dafür bei W. Kraft, Gespräche mit Martin Buber (1966). 34  Der Jude und sein Judentum (1963) 9–46; MBW III, 219–56. 35  Gut aufgearbeitet von W. Schottroff, Martin Buber an der Universität Frankfurt, in: Martin Buber. Internationales Symposium zum 20. Todestag, hg.v. W. Licharz u. H. Schmidt (1989) I, 19–95 (= Martin Buber, Erich Foerster, Paul Tillich. Evangelische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Frankfurt a.M. 1914–1933, hg.v. D. Stoodt, 1990, 69–131).

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zu nehmen der Buchtitel „Von der Mystik zum Dialog“36. Am vorläufigen Ende dieses Weges steht das berühmte Buch „Ich und Du“ von 192337, laut Buber das „schwierigste von allen, das aber am geeignetsten ist, den Leser in das Reich des Gesprächs einzuführen“38. Noch bevor das Buch erschienen war, lieferte Franz Rosenzweig die fundamentale Kritik: „Sie geben“, schrieb er an Buber, „dem Ich-Du im Ich-Es einen Krüppel zum Gegner. Daß dieser Krüppel die moderne Welt regiert, ändert nichts daran, daß es ein Krüppel ist: Dieses Es haben Sie freilich leicht abführen.“39 Und: „Was soll denn aus Ich und Du werden, wenn sie die ganze Welt und den Schöpfer dazu verschlingen müssen?“40 Rosenzweig (1886–1929) war unter Bubers Freunden der zwanziger Jahre der wichtigste und zugleich sein kongenialer Partner in den Anfängen der Bibelübersetzung, die sein umfangreichstes und meistbenutztes Werk werden sollte. Über ihre Entstehung hat Buber mehrfach berichtet, am schönsten in einem Text, dessen deutschsprachiges Original erst Jahrzehnte nach seinem Tod ans Licht kam41. Er habe, erzählt er dort, „als Kind jahrelang den Urtext durch und durch gekannt“, habe aber nach der ersten Lektüre einer – jüdischen – Übersetzung angefangen, sich „über die Bibel zu ärgern“. Als er später „Luthers deutsche Bibel kennen lernte, verdrängte der Reiz der Sprache das Ärgernis“; er bemerkte „plötzlich, daß ich die Bibel mit literarischem Vergnügen las; das erschreckte mich so, dass ich viele Jahre lang keine Bibelübersetzung mehr in die Hand nahm. Ich versuchte zu dem Urtext zurückzukehren; aber nun kam er mir hart und fremd vor, die Worte hatten ihre Geläufigkeit verloren, sie sprangen mir ins Gesicht, immer wieder musste ich mich wundern, dass es so ein Buch auf der Welt gibt und dass ich daran geschmiedet bin.“ Viel später begann er „wieder in der hebräischen Bibel zu lesen, nicht in einem Zug, nur von Zeit zu Zeit ein Stück. Sie war nicht mehr geläufig wie in der Kindheit, sie war aber auch nicht mehr fremd wie nachher, jedes Wort musste erobert werden, aber es liess sich erobern. Seither hiess die Bibel in meinem Herzen nicht anders als das unübersetzte Buch.“42 Der Umstand, dass Luther „die hebräische Bibel in das Deutsch seines Neuen Testaments übersetzt“ hatte, „in eine von christlicher Theologie geprägte Sprache“, und dann vollends der in Deutschland wachsende Antisemitismus ließen bei Buber und einigen Berliner Freunden den Plan einer neuen Übersetzung entstehen, die „die wirkliche Gestalt der Schrift sichtbar zu 36  P.R. Mendes-Flohr (1979, Übersetzung einer Dissertation der Brandeis University von 1974). Vgl. seither besonders B. Witte, Jüdische Tradition und literarische Moderne (2007) 95– 140. 37  Werke I, 77–160 (170). 38  Buber, Briefwechsel III, 527 an Dag Hammarskjöld, der „Ich und Du“ kurz vor seinem Tod aus dem Deutschen ins Schwedische zu übersetzen begann. 39  Buber, Briefwechsel II, 125 (F. Rosenzweig, Ges. Schriften I, 1979, 824). 40  Ebd. 128 (826f.). 41  Warum und wie wir die Schrift übersetzten, MBW XIV, 170–85. 42  Ebd. 172f.

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machen“ versuchte und zeigte, „dass der Geist, der über den Wassern schwebt, keine Taube, sondern ein Adler ist“. Nachdem schon ein Verlag gewonnen war, machte der Krieg dem Plan ein Ende, aber Buber, nun nicht mehr in Berlin, sondern „in dem stillen Heppenheim“, las „die Schrift von neuem, und zwar in ihrer Reihenfolge, ohne über einen scheinbar unwichtigen Vers hinwegzulesen. Ich liess kein abgeschliffenes Wort vorbei, ohne mich auf seine ursprüngliche Mächtigkeit zu besinnen; ich nahm kein abstraktes Wort als solches hin, sondern spürte seiner wurzelhaften Sinnlichkeit, dann aber freilich auch seinem Bedeutungswandel nach; ich drang in den Bau der Sätze ein, bis mir der ganze Satz in der Eigentümlichkeit seiner Struktur etwas sagte, was aus der Reihe der Wörter allein nicht zu erschliessen war; ich liess durch meine dienende Stimme den Rhythmus, in dem die Botschaft erst zur Vollständigkeit ihres Ausdrucks gelangte, in meine Ohren und in mein staunendes Herz dringen. So vergingen wieder mehrere Jahre. An eine Übersetzung zu denken, wagte ich längst nicht mehr, dazu war alles zu gross geworden […]. Und doch entstanden damals, unmerklich, die grundsätzlichen Einsichten, die Rosenzweig einmal ‚die fundamentalen Punkte‘ unserer Übersetzung genannt hat, die er aus meinen ‚theoretischen Andeutungen‘ und meinem ‚praktischen Vorgehen‘ gelernt habe. Freilich, ohne die grosse und kritisch-schöpferische geistige Leidenschaft, mit der Rosenzweig sie aufnahm und ausbildete, wären sie nie zu den tragenden Prinzipien einer Übersetzung geworden.“43 Sozusagen den Katalysator machte ein junger Verleger namens Lambert Schneider (1900–70), Christ (Buber: „urarisch“), mit einer Jüdin verheiratet44. Er wollte seine Produktion mit einer „handlichen Bibelausgabe“ beginnen und fragte Buber, ob er ihm „die Redaktion anvertrauen“ dürfe; wenn nicht, erbat er anderweitigen Rat „und den Hinweis auf einen geeigneten Mann“45. Ein Gespräch in Heppenheim führte dazu, dass Buber die Übersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche übernahm, allerdings unter Hinzuziehung Rosenzweigs, der damals schon todkrank war, aber in seinen letzten vier Lebensjahren noch bewundernswert intensiv mitarbeiten konnte. Er war zunächst dafür, sich mit einer Bearbeitung der Lutherbibel zu begnügen, doch die ersten Versuche ergaben die Notwendigkeit eines ganz neuen Werkes. Erstaunlich schnell, kaum mehr als ein halbes Jahr nach Schneiders erstem Brief, erschien der erste Band: „Die Schrift. Zu verdeutschen unternommen von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Die fünf Bücher der Weisung. Erstes Buch. Das Buch Im Anfang“ (1925). Es folgten, seit 1932 im Schocken Verlag, dessen Geschäftsführer Schneider geworden war, die anschließenden biblischen Bücher, bis 1938 43  Ebd. 173–75. 44  MBW XIV, 177. – Vgl. im übrigen L. Schneider, Rechenschaft über vierzig Jahre Verlagsarbeit (1965); H. Altenhein, Lambert Schneider und seine Verlage: Aus dem Antiquariat NF 8 (2010) 128–41. 45  Brief vom 6.5.1925 (Buber, Briefwechsel II, 218). Dieser Brief (und ebenso der folgende, ebd. 218f.) deckt Bubers späteren Bericht (MBW XIV, 215 u.ö.) nicht in allen Punkten.

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die Schließung des Verlags und Bubers Übersiedlung nach Jerusalem bei den Proverbien (Buber: „Buch der Gleichsprüche“, später „Gleichworte“) ein vorläufiges Ende erzwang. Nach der großen Unterbrechung war es Buber vergönnt, das Werk im Verlag Jakob Hegner – bei ihm waren schon die ersten Bände gedruckt worden – zu erneuern (erster Band „Die Bücher der Weisung“, 1954) und mit dem vollständigen Schlussteil („Die Schriftwerke“, 1962) zu vollenden. Postum kehrte es noch einmal zu Lambert Schneider zurück (neubearbeitete und verbesserte Ausgaben 1985–87 u.ö.). Es steht unter den Übersetzungen, nicht nur der Bibel, wie ein erratischer Block da. Kaum eine andere Übersetzung ist von so viel Selbstexplikation ihrer Autoren begleitet gewesen, hat so viel Diskussion pro und contra, so viel Widerspruch, aber auch so viel Bewunderung hervorgerufen. Auf der Mitte des Weges hat Buber seine und Rosenzweigs Äußerungen zu einem auch allgemein-hermeneutisch und theologisch ergiebigen Band zusammengestellt46. Ein prägnantes Resümee der leitenden Gesichtspunkte enthält der dort wiedergegebene, in polemischer Absicht geschriebene Aufsatz „Eine Übersetzung der Schrift“ (1927)47, dessen Kernsätze lauten48: „1. Das ‚Alte Testament‘ ist bisher nie so übersetzt worden, daß man auf die sinnliche Grundbedeutung des einzelnen Wortes zurückgegangen wäre; man begnügte sich damit, ein ‚entsprechendes‘ einzusetzen. 2. Wir versuchen, was bisher ebenfalls noch nicht geschehen ist, die Synonyma auseinanderzuhalten, soweit es die deutsche Sprache ermöglicht, also nicht zwei verschiedene hebräische Wörter durch das gleiche deutsche, noch auch – zumindest innerhalb desselben Zusammenhangs – ein hebräisches Wort durch zwei verschiedene deutsche wiederzugeben; wir sind darüber hinaus bestrebt, wo zwischen mehreren Wörtern Wurzelverwandtschaft besteht, sie auch im Deutschen zu erhalten. 3. Wie das einzelne Wort in seiner ursprünglichen sinnlichen Bedeutung, so ist uns auch das hebräische Wortgefüge nichts Nebensächliches, das sich gegen die Gewohnheiten der Sprache, in die übersetzt wird, nicht behaupten dürfte49. Wir kennen keinen ‚Inhalt‘, der von dieser Form, in der er uns gegeben ist, abzulösen und einer anderen einzutun wäre. Diese Form selber gilt es in der artverschiedenen Sprache so seßhaft zu machen, als es deren Grenzen (die Grenzen, nicht die Gewohnheiten) gewähren.

46  Die Schrift und ihre Verdeutschung (1936). Bubers seitherige Äußerungen finden sich in MBW XIV, leider ohne Rosenzweigs Anteil an dem Buch von 1936; er ist aber im 3. Band von Rosenzweigs Gesammelten Schriften (1984) wieder zugänglich. 47  Die Schrift und ihre Verdeutschung 300–09; MBW XIV, 133–38. 48  In ihrer gekürzten Wiedergabe (ohne die Beispiele) folge ich Kohn (Anm. 32) 369f. und H.-Ch. Askani, Das Problem der Übersetzung – dargestellt an Franz Rosenzweig (1997) 153f. Bei Askani im Anschluss daran (154–247) eine vorzügliche Darstellung des Gesamtprogramms. 49  Kohn und Askani unrichtig: „durfte“.

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4. Wir nehmen, wie die wortlichen50, so auch die lautlichen Eigentümlichkeiten des Textes ernst. So ist uns aufgegangen, daß seine nicht seltenen Alliterationen und Assonanzen nicht durch ästhetische Kategorien allein erfaßt werden können: es sind, wenn auch nicht immer, so doch immer wieder Stellen von religiöser Wichtigkeit, an denen sie stehen, und sie dienen dazu, diese Wichtigkeit sinnlich hervortreten zu lassen. 5. Daß wir von unserer Auffassung der Treue aus statt der geläufigen Gräzisierungen und Latinisierungen der biblischen Eigennamen diese selbst aufnehmen mußten, braucht nicht erklärt zu werden. 6. Wir haben die ‚laute‘ Bibel im Sinn. Wir gehen von der Einsicht51 aus, daß die Bibel aus lebendigem Vortrag stammt und zu lebendigem Vortrag bestimmt ist, daß die Rede ihre eigentliche Existenz, die Schrift nur ihre Erhaltungsform ist. Daraus ergibt sich unsere Methode der rhythmischen Wiedergabe. Unsere Übersetzung ist die erste kolometrische, d.h. die erste, die dem Texte seine natürliche, von den Gesetzen des menschlichen Atems und der menschlichen Rede regierte Gliederung in Sinnzeilen gibt, von denen jede eine rhythmische Einheit darstellt.“

Eine knappere Lektion erteilte Buber dem Pfarrer und Dichter Albrecht Goes (1908–2000), als dieser bei einem Treffen in Tübingen um 1958 in einem ihm gereichten Manuskriptblatt der Übersetzung „lautlos-aufmerksam“ vor sich hin las: „Das ist nichts! Laut müssen Sie lesen, sogar wenn Sie nur für sich meditieren. Nicht nur [um] des Rhythmus willen oder der sogenannten Schönheit zuliebe, das ist sekundär, sondern damit Sie neu erfahren, daß er ein Du ist, das man anreden kann. Deshalb auch wird der Gottesname mit ‚Ich bin da‘ wiedergegeben, wird die Thora nicht mit ‚Gesetz‘ übersetzt, sondern mit dem Wort ‚Weisung‘. Gesetze sind stumme Faszikel, hinter der Weisung hören Sie die Stimme, den Weisenden.“52 Wer weiß, vielleicht hat Buber dem Dichterpfarrer anschließend ein oder zwei Kapitel vorgelesen, in jenem eigentümlichen, glücklicherweise auf Platten53 bewahrten Singsang gemäß der durchgängigen Übertragung „in natürliche, von den Gesetzen des menschlichen Atems regierte, sinngemäß geschlossene Sprechabsätze, in Kola […], von denen jedes eine leicht sprechbare und leicht merkbare, also rhythmisch geordnete Einheit bildet“54. Buber gewann auch Rosenzweig für die „Kolometrie“55, ja dieser behauptete gegenüber einem notorischen Skeptiker in solchen Dingen, dem Schweizer Alttestamentler Walter Baumgartner, „grade der prosaischste Teil des Pentateuchs, die gesetzlichen Partieen von P,“ helle sich „in seiner Stileigenart (die ‚Rückläufigkeiten‘) durch die kolometrische Schreibung erst auf“56. An50  Kohn und Askani: „wörtlichen“. 51  Kohn und Askani: „Ansicht“. 52  A. Goes in: Es ist ein Weinen in der Welt, hg.v. H.J. Schultz (1990) 202. 53  Martin Buber liest aus der heiligen Schrift Israels (CD Christophorus Wort 1958/96). 54  MBW XIV, 217. 55  Vgl. dessen Aufsatz „Die Schrift und das Wort“ (1925; Ges. Schriften III, 1984, 777–83). 56  Rosenzweig, Ges. Schriften I/2 (1979) 1194.

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dererseits war Rosenzweig klar, dass diese Gliederung „willkürlich“, „Versuch“ bleiben müsse57. Er hatte wohl seine Gründe, wenn er auf den „Kolenbau“ völlig verzichtete und ihn Buber überließ58. Den Reigen der Kritiker führte nicht zufällig Gerhard Scholem an, der schon vorher hatte verlauten lassen: „Ich fürchte für diese Übersetzung das Schlimmste.“59 Er „verehrte“ an der fertigen Übersetzung der Genesis die „großartige sachliche Deutlichkeit“, war aber „mit Zweifel erfüllt“ an der „aus der besonderen Wörtlichkeit fast unheimlich herausspringende[n], übermäßige[n] Tonhöhe […] dieser Prosa“, in der „schon die Erzählungen der Genesis […] von verschlossenem Pathos fast bersten“; man komme „bei solchen Übersetzungen doch nicht um die Entscheidung herum, ob man die Offenbarung oder ein ‚Kunstwerk‘ zu übersetzen hat, und ich glaube, daß die Übersetzung von biblischer Prosa und das Maß der Hereinnahme des Gesanges in sie hiervon nolens volens mitbestimmt wird“. Scholem fragt sich – und beantwortet die Frage nicht –, was diesen „Umschwung, diese virtuelle Verschiebung der Sprachhöhe noch innerhalb einer so fanatischen Treue eigentlich hervorruft“. Irritiert ist er beim Begriff des „‚Künders‘ statt des guten alten Propheten“, aber sicherlich auch sonst nicht selten von einer „übertriebenen und darum falschen Feierlichkeit“60. Die exegetisch-philologische Wissenschaft gab sich mit Bubers Übersetzung, aufs Ganze gesehen, nicht viel Mühe. So fertigte W. Baumgartner in einer Sammelrezension sechs neue Bände mit dem Satz ab: „Die rhythmische Übersetzung von Buber und Rosenzweig, die jetzt stillschweigend Textänderungen aufnimmt (Jes 1,31; 9,2 u.ö.), ist einer gewissen ästhetischen Wirkung sicher, wird aber oft durch gesuchte Nachahmung hebräischen Stils und gequälte Neuschöpfungen (Hinleitspende, Schickplatz, Darhöhung, Sasse, geniedert, ich werde gestummt usw.) ungenießbar.“61 Philologisches Detail fand in die Kommentare und die Lexika, etwa das von Baumgartner, so gut wie keinen Eingang, auch wo es das vielleicht wert gewesen wäre – wie ja umgekehrt auch Buber über manches einhellige Ergebnis der Forschung souverän hinwegging. 57  Ges. Schriften III, 780 (die Anführungszeichen bei ihm selbst, vgl. dazu Askani a.a.O. 243). 58  Vgl. MBW XIV, 145.218. 59  Scholem, Briefe I (1994) 230. 60  Scholem an Buber 27.4.1926 (Buber, Briefwechsel II, 252f.). Zum Problem der Prosa vgl. Bubers Antwort vom 24.5.1926 (ebd. 257), die immerhin anerkennt, dass Scholems Einwand „der ernsteste, ja eigentlich der einzige ernsthafte“ ist, „den wir bisher gehört haben“. Schärfer hatte sich Scholem nach den ersten Proben gegenüber Ernst Simon geäußert: „von Lutherbibel keine Spur. Luther hat ein sicher echteres Gefühl für die Tonhöhe der Sprache gehabt, und in dieser haben sich B–R schwer vergriffen, gar nicht zu reden von der wilden Preziösenhaftigkeit dieses Loschens.“ (Briefe I, 231f.; Loschen jiddisch „Sprache“). 61  ARW 31 (1935) 281. Als bemerkenswerte Stellungnahmen von christlicher Seite nenne ich außerdem die des Protestanten J. Fichtner (WuD NF 6, 1959, 22–44 = Gottes Weisheit, 1965, 130–42) und die des Katholiken N. Lohfink (StZ 169, 1961/62, 444–54).

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Einen klaren Rückschritt bedeutete es, dass die „Kolometrie“, indem sie weithin den Parallelismus membrorum zudeckte62, und – worauf ja Scholem den Finger gelegt hatte – überhaupt den Unterschied zwischen Poesie und Prosa einebnete, ein wichtiges Mittel der Exegese vor allem in den Prophetenbüchern preisgab63. Aber den Einwänden Scholems und aller weiteren Kritiker ging voran, was zu Neujahr 1926 Rafael Buber (1900–90) seinem Vater schrieb: „Die Genesis ist sehr schön in Deiner Übertragung. Ich lese gern drin und habe dabei oft das Gefühl ich lese hebräisch. Ich glaube Du wirst verstehen, was ich damit meine. Es ist eben nicht nur die getreue Übersetzung im Rhythmus der Bibel sondern es ist der Urtext in der schönen deutschen Sprache. Ich lese ihn jedenfalls deutsch und begreife ihn hebräisch.“64 Einen Schritt weiter ging noch im selben Jahr der verdiente Genesis- und Exodus-Kommentator Benno Jacob (1862– 1945), ebenfalls in einem Brief an Buber: „Ich kenne […] keine Übersetzung, die so sehr das Original ersetzt und doch so sehr darauf drängt, das Original selbst kennen zu lernen.“65 Trifft das zu, dann könnte der große Kritiker Scholem bei jener Abschlussfeier 1961 nicht ganz im Unrecht gewesen sein, als er Buber und Rosenzweig etwas vorsichtig und vielleicht auch etwas doppelbödig als „Hauptabsicht bei diesem Unternehmen“ den „Anruf an den Leser“ zuschrieb: „gehe hin und lerne Hebräisch!“66 Mit Recht stellte Scholem bei derselben Gelegenheit fest, dass Bubers Übersetzung, „ohne doch ein Wort der Erklärung als solche [sic] hinzuzufügen, zugleich auch Kommentar“ ist67. Aber mit ebensolchem Recht konnte man sich gerade zu dieser Übersetzung einen gesonderten Kommentar wünschen und hat das noch lange getan68. In der Tat hatte Buber zusammen mit Rosenzweig einen „theologischen Kommentar“ in Angriff genommen, „der die alttestamentlichen Probleme in ebender Reihenfolge zu behandeln hatte, in der der Text sie darbietet; da es durchaus, unmittelbar oder mittelbar, Probleme des Glaubens sind, sollte er ‚Der biblische Glaube‘ heißen.“69 Aber dann gebot die Arbeitsökonomie, sich zu beschränken – auch das etwas früher geplante fünfbändige Werk, dessen Anfang „Ich und Du“ bilden sollte70, kam ja nicht zustande. Ob es nur die Arbeitsökonomie war? Die bewundernswert gleichmäßige Sorg62  Merkwürdig, eine wie geringe Rolle er gerade bei Buber spielt. 63  Vgl. dazu B. Uffenheimer in: Martin Buber. Bilanz seines Denkens, hg.v. J. Bloch u. H. Gordon (1983) 189f. 64  Buber, Briefwechsel II, 240. 65  Ebd. 270. 66  Judaica I, 209 – wozu noch bemerkt werden muss, dass Hebräischlernen für Scholem eine sehr anspruchsvolle Sache war, vgl. etwa Briefe I, 185; Tagebücher II, 612–14. 67  Judaica I, 211. 68  Vgl. H. Bergmanns Brief vom 4.2.1938 in Buber, Briefwechsel II, 654. 69  Vorwort zur ersten Aufl. von „Königtum Gottes“ (1932) (31956, IX; Werke II, 489; MBW XV, 94). 70  Vgl. Briefwechsel II, 128f.

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falt in allen Teilen der Bibelübersetzung, die manchmal geradezu gewaltsame Bemühung um deren Gleichförmigkeit in Übereinstimmung mit Bubers Bekenntnis zur Einheit der Schrift71 hinderte ja nicht, dass er wie jeder mit ihr Beschäftigte zu ihren verschiedenen Teilen ein verschiedenes Verhältnis hatte und hier mehr, dort weniger sagen konnte und wollte. Einem vertrauten Freund gestand er sogar, er „habe eine ambivalente Einstellung zu unserer Bibel, sie sei nicht aus einem Guß wie das Neue Testament [!], und er ärgere sich oft über sie“72. Insgesamt wusste er, worauf noch zu kommen sein wird, am wenigsten mit dem Gesetz anzufangen. Wenn er einmal an einer Einzelstelle ein besonders kräftiges Ärgernis nahm, so bei der Tötung des Amalekiterkönigs Agag durch Samuel (1Sam 15,32f.), konnte er erklären, dafür „kein objektives Kriterium“ zu haben; „wir haben einzig den Glauben, – wenn wir ihn haben […]. Immer, wenn ich einen biblischen Text zu übertragen oder zu interpretieren habe, tue ich es mit Furcht und Zittern, in einer unentrinnbaren Schwebe zwischen dem Worte Gottes und den Worten der Menschen.“73 Dem dürfte es nicht widersprechen, wenn man Bubers „dialogisches Prinzip“ in seiner anthropologischen und theologischen Dimension als ein „stilles Apriori“ wahrnimmt, „das seine historischen Untersuchungen zur Glaubensgeschichte Israels durchgehend bestimmt und ihn in der unmittelbaren Theokratie der Anfänge Israels wie in der Stimme der Propheten Wirkungen der Du-Welt erkennen [und in einigen anderen Bereichen eben auch weniger erkennen74] läßt“75. Aufs Ganze gesehen gilt Scholems Satz: „Die Bibel ist für ihn das klassische Dokument der dialogischen Situation und des dialogischen Lebens“76. Bezogen auf Bubers Arbeitsweise spricht Scholem mit der ihm eigenen Deutlichkeit von einem seit den frühen Schriften zum Chassidismus „nie mehr abreißende[n] Prozeß, in dem er sein eigenes System in die Deutung geschichtlicher Erscheinungen legt“77. Man kann das bei Buber selbst expressis verbis bestätigt finden, so gleich im Vorwort zu den „Schriften zur Bibel“, wo er seine Psalmeninterpretationen als „Beispiele einer auf meiner Grundanschauung errichteten Exegese“ und seine Ausfüh71  Vgl. den 1926 geschriebenen ersten Satz von „Die Schrift und ihre Verdeutschung“: „Biblia, Bücher, so heißt ein Buch, ein Buch aus Büchern. Es ist aber in Wahrheit Ein Buch.“ (Ebd. 13; Werke II, 849; MBW XIV, 38). Maßgeblich dann Rosenzweigs Brief über die Einheit der Bibel (1927; Die Schrift und ihre Verdeutschung 46–51; Ges. Schriften III, 831–34). 72  S.H. Bergman, Tagebücher & Briefe (1985) II, 470. Buber reagiert dort auf Bergmans Bericht darüber, welche „Kraft“ jemand „aus der Bibel schöpft“. 73  Begegnung (41986) 74f. 74  Zusatz R.S. 75  F. Stier in: Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert, hg.v. H.J. Schultz (1966) 168. Dazu aber auch S. Talmon, Juden und Christen im Gespräch, Ges. Aufsätze II (1992) 139: „Die prophetische Dialogerfahrung wird von Buber überspitzt auf die gesamte biblische Literatur bezogen. Diese Erweiterung läßt sich […] kaum verteidigen.“ 76  Judaica II, 171. 77  Ebd. 156 in Aufnahme eines zunächst auf Bubers Lehrer Simmel gemünzten Satzes von H. Kohn (Anm. 32) 304.

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rungen über das Verhältnis von Volk und Land Israel als „Anwendung dieser Grundanschauung auf ein geschichtliches Problem“ einführt78. Buber verzichtete also auf den Gesamtkommentar, auch in der Form einer selektiven, nach den Teilen des Kanons bzw. der Übersetzung gegliederten „Auslegung der Schrift“, die „in Abschnitten aufgebaut“ sein sollte, von denen „jeder ein ‚Problem‘ behandelt“79. Stattdessen nahm er eine große Monographie in Angriff, deren Thema ihn längst beschäftigte: die Entstehung des „Messianismus“ in Israel. Er hatte schon 1910 in einer seiner „Drei Reden über das Judentum“ den Messianismus als „die am tiefsten originale Idee des Judentums“ beschrieben80 und ihn seit 1924 wiederholt in Vorlesungen und Vorträgen behandelt81. Ihm standen drei Bände vor Augen, deren Inhalt er so umriss: „Der erste Band will für die Frühzeit Israels die Glaubensvorstellung eines Volkskönigtums Gottes als eine aktuell-geschichtliche erweisen, der zweite zeigen, wie sich der sakrale Charakter des israelitischen Königs als eines ‚Gesalbten‘ JHWHs zu jener verhält; dem dritten ist es vorbehalten darzulegen, wie beide Konzeptionen sich – schon in der Königszeit – aus der Geschichte in die Eschatologie einwandeln.“82 Das Werk blieb Torso: 1932 erschien der erste Band, „Königtum Gottes“, 1964 wurden ihm in den „Werken“ die drei Anfangskapitel des Fortsetzungsbandes, „Die Gesalbten“, hinzugefügt, vom eschatologischen Schlussband liegt nichts vor. Im „Königtum Gottes“ geht Buber von der Stelle des Richterbuchs (8,22f.) aus, wo die Israeliten Gideon für sich und seine Nachkommen die Herrschaft anbieten und er sie ausschlägt mit der Begründung, Jahwe solle ihr Herrscher sein. Das Wort Gideons ist zwar nicht direkt als geschichtlich zu erweisen, aber entgegen der herrschenden Auffassung83 wenigstens „geschichtsmöglich“ als Ausdruck eines theokratischen Verfassungswillens jener Zeit (Kap. 1). – Zur Begründung folgt eine Untersuchung über das Richterbuch, dessen bekanntes Schema nicht eine ganz neue Betrachtung an die alten Erzählungen herantrage, sondern nur den ihnen selber schon innewohnenden Sinn schärfer pointiert wiedergebe. Im Zusammenhang damit erhalten wir eine Kompositionstheorie für das Richterbuch: die erste Hälfte (der Grundbestand von c. 1–12) eine Folge von 7 Erzählungen, alle erfüllt von antimonarchischer Tendenz; der zweite 78  Werke II, 7f. 79  Briefwechsel II, 284f. 80  Die Erneuerung des Judentums (1910/11, in: Der Jude und sein Judentum, 1963, 28–46, Zitat 41; MBW III, 238–56, 251). 81  Aufschlussreiche, auch über das Thema hinausgehende Einblicke in seine Vorgehensweise gibt das 2014 veröffentlichte Protokoll einer „Arbeitsgemeinschaft zu ausgewählten Abschnitten aus dem Buche Schmuel“ von 1928 (MBW XV, 46–91). 82  Das Kommende. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des messianischen Glaubens. I. Königtum Gottes (11932) Vorwort (31956, IXf.; Werke II, 489f.; MBW XV, 94f.). 83  Begründet von W. Vatke, Die Religion des Alten Testaments I (1835) 262–64 (die Seitenangabe bei Buber, Königtum 31956, 15626; Werke II, 54527; MBW XV, 10526 ist zu korrigieren), fortgeführt von Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels (61905) 235.

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Teil (c. 17–21) ein monarchisches Richterbuch aus der frühen Königszeit, beide später vom Ausgleichsgeist des Redaktors verbunden mit dem Zweck darzustellen, wie in der Richterzeit eine primitive Theokratie wohl versucht wurde, aber scheiterte (Kap. 2). – Der Alte Orient kennt zwar nirgends ein unmittelbares Gegenstück zu solch ausschließlichem Herrschertum eines Gottes, wohl aber eine „mittelbare Theokratie“ in der Vorstellung eines Gottes als Volkskönigs, der dann im irdischen König seinen Statthalter hat (Kap. 3). – Melek als Titel des westsemitischen Stammesgottes bezeichnet diesen als den führenden und mitgehenden Gott im Unterschied zum Baal als dem an einen Ort gebundenen und an diesem vorgefundenen Gott (Kap. 4). – Ein solcher Stammesgott ist nun auch Jahwe, den die Betelepisode (Gen 28) von den kanaanäischen Kultstätten gelöst und die Sinaiepisode in Verbundenheit mit, aber nicht in Gebundenheit an jenen Berg zeigt (Kap. 5). – Ist die Vätergeschichte religiös-politische Sippengeschichte, wo das Königtum Jahwes höchstens keimhaft vorhanden ist, aber die Jahwe vor allen anderen Melek-Gottheiten eigene Forderung der Unbedingtheit, Unmittelbarkeit und rückhaltlosen Vollständigkeit keineswegs fehlt, so führt dann der Auszug aus Ägypten zur entscheidenden Gottesbegegnung, wo das Volk Jahwe zum König ausruft und er diese unbedingte Herrschaft antritt (Kap. 6). – Der Sinaibund von Ex 24 ist dem Ritus nach einzigartig als heilige Handlung; alle späteren Bundesschlüsse sind bloße Wiederholung und Erneuerung (Kap. 7). – Dieses ausschließliche Königtum Gottes, das nur ein charismatisches Führertum neben sich zulässt, kommt der angeborenen demokratischen Neigung der israelitischen Halbnomaden entgegen und hebt sie in eine höhere Sphäre. In dieser „naiv-theokratischen“ Begeisterung besteht Israel all die Kämpfe der Wüstenzeit, der Landnahme und Landessicherung als Jahwekriege, d.h. als Kriege des Melek (Kap. 8). Einer der entschiedensten Kritiker des „Königtums Gottes“, wiederum W. Baumgartner, hat geurteilt: „wie immer man sich zum Ergebnis stellen mag, so bleibt ein origineller und höchst beachtenswerter Versuch, eine große Konzeption, die durch ihre Geschlossenheit, die umfassende Beweisführung, die reiche Gelehrsamkeit, die namentlich in den mehr als 70 Seiten Anmerkungen eine Fülle exegetischer, literarkritischer, religionsgeschichtlicher Bemerkungen ausschüttet, aber auch die Feinheit mancher Beobachtungen, die Gedankentiefe und die gewählte Sprache einen starken Eindruck hinterläßt.“84 Bubers Untersuchung setzt sich zum Ziel, „für eine seit Wellhausen recht leer gewordene Epoche israelitischen Daseins ein wissenschaftlich zu rechtfertigendes Geschichtsbild“85 zu gewinnen. Sie gehört damit in die Reihe von Arbeiten der zwanziger und dreißiger Jahre aus der Feder so bedeutender Gelehrter wie Mowinckel, Alt, Noth und v. Rad, die bewusst oder unbewusst, ausdrücklich oder 84  DLZ 54 (1933) 1351. Die knappe Inhaltsangabe im vorigen Absatz, die die eigene Lektüre nicht ersetzen kann, folgt mit Auslassungen wörtlich Baumgartners Referat ebd. 1348–51. 85  So das Vorwort zur ersten Aufl. (3XII; Werke II, 491; MBW XV, 96).

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stillschweigend das gleiche Ziel verfolgten und damit die Forschung zweier Generationen entscheidend bestimmten. Nicht nur schriftstellerisch, sondern auch in der Weite des Horizonts ist Buber allen Genannten mindestens ebenbürtig. Er ist auch der einzige, der den großen Bahnbrecher und Gegner Wellhausen wirklich kennt, sich seine Einsichten zunutze macht und mit ihm diskutiert86. Besonders häufig berührt er sich mit Alt, und wie dieser verwendet er „Begriffe und Gedanken“ Max Webers, den er in Heidelberg noch kennengelernt hat87, „für die Darstellung einer von der seinen wesensverschiedenen Anschauung“88. Während der Arbeit erschien Baudissins „Kyrios“ (1927/29), für Buber „eines jener erstaunlichen Denkmäler deutscher Wissenschaft“, von ihm ebenso dankbar wie kritisch im vierten Kapitel benutzt89. Mit alledem bewegt sich Buber ganz selbstverständlich im Zusammenhang jener „deutschen Wissenschaft“, wie sie für sein Fach besonders in der protestantischen Universitätstheologie ausgeprägt worden ist, und er weiß gerade auch als Jude: „Ohne diese christliche Bibelwissenschaft hätten wir es sicher nicht geschafft.“90 Ganz konsequente historische Kritik war allerdings seine Sache nicht91, und schon gar nicht hätte er sich mit solchem Pathos zu ihr bekennen und ihr eine derart fundamentale Bedeutung beimessen können wie Scholem92. Lieber zitierte er, was ihm Rosenzweig einmal geschrieben hatte: „Der Wissenschaft folgen wir doch immer, nur eben unserer.“93 Das bedeutete für die Bibelübersetzung, „daß wir […] nicht bloß so weit als irgend möglich beim massoretischen Text, als dem einzigen objektiv faßbaren, verharren mußten, sondern auch, wo es sich etwa um die Verknüpfung der einzelnen Stücke untereinander handelte, nicht auf diese oder jene angeblich herauslösbare Quelle zurückgehen durften, sondern die uns vorliegende literarische Ganzheit wiederzugeben hatten, also, um die Sigel der modernen Bibelwissenschaft zu gebrauchen, nicht J [den ‚Jahwisten‘] oder E [den ‚Elohisten‘] usw., sondern R [den ‚Redaktor‘], das heißt das Einheitsbewußtsein des Buches“94. Was die Quellen angeht: wenn Buber sagte, jemand sei „noch tief in Wellhausen befangen“95, dann waren sie gemeint. Gleichwohl hielt er „die in der 86 S.o. Anm. 14 und besonders Königtum 39f.13–15.22.117.144–46 (Werke II, 547.549– 51.560.684f.717–19; MBW XV, 107–09.114.175f.195–97). – Dazu auch D. Weidner, ZRGG 54 (2002) 48f.57–61. 87  Vgl. Königtum 3XVII (Werke II, 496; MBW XV, 99). 88  Vgl. besonders Königtum 3119–22.12949 (Werke II, 688–90.70150; MBW XV, 177–79.184 47). 89  Vgl. ebd. XVI (Werke II, 495; MBW XV, 99). 90  Bei Bergman, Tagebücher (Anm. 72) I, 520f. 91  Merkwürdig die Alternative in der Äußerung „Ich gehe nicht den Weg der ‚Bibelkritik‘, sondern […]“ (Briefwechsel III, 491). 92  Vgl. P. Schäfer in: Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen, hg.v. P. Schäfer u. G. Smith (1995) 131–42. 93  Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift (1954) 40 (MBW XIV, 217). 94 Ebd. 95  Über Rudolf Borchardt, der in Göttingen Wellhausens Hörer gewesen war: W. Kraft, Gespräche mit Martin Buber (1966) 90, vgl. Briefwechsel II, 392.

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Differenzierung von J und E […] zum Ausdruck gelangende Unterscheidung zweier großer Grundtypen der Traditionsbearbeitung für eine unverlierbare Entdeckung. Diese Typen, die also nicht Quellen, sondern Richtungen des Schrifttumes bedeuten, entstammen offenbar zwei sozial und geistig getrennten Kreisen: J dem der höfischen, größtenteils frühhöfischen Sammler, Dichter und Chronisten, kultiviert aber sagenfroh, der religiösen Überlieferung herzhaft zugewandt, aber in der Behandlung zeitgenössischer oder zeitnaher Geschichte der profan-politischen Tendenz ergeben; E dem Kreis der schon früher ihr wortverwaltendes und poetisches Amt antretenden, aber noch weit länger literarisch tätigen, hofunabhängigen, vom Volk erhaltenen Nebiim, weniger erzählungsselig, aber botschaftsbegeistert, die Geschichte als ein theopolitisches Geschehen erfahrend und darstellend, für die Ineinssetzung von Religion und Politik gegen jedes prinzipienaufteilende Nebeneinander der beiden kämpfend. Diesem ‚prophetischen‘ Typus […] sind die für die hier vertretene These maßgebenden Texte zuzuweisen. Mit der Zuweisung an ihn ist, da es sich nicht um eine Quelle, sondern um eine Bearbeitungsweise des Traditionsgutes handelt, und zwar um eine, die schon in der ältesten Traditionsformung angelegt ist, noch keine Datierung ausgesprochen.“96 Mit den Begriffen „Traditionsgut“ und „älteste Traditionsformung“ deutet Buber freilich schon an, in welche Richtung er bei den Datierungen grundsätzlich zu gehen gedenkt, und so verfährt er denn auch in der Tat mit den für seine These einschlägigen Texten, angefangen bei Gideons Spruch und – in den drei Fragmenten des zweiten Bandes – vorläufig endend bei den „elohistischen“ Texten des ersten Samuelbuches, die von der „Ablösung der unmittelbaren primitiven Theokratie durch die mittelbare“97 handeln und die man heute gemeinhin als „deuteronomistisch“ anspricht. Aber die Tradition, „auf der Buber mit schier beneidenswertem Optimismus fußt“, ist, so hat die Gegenseite alsbald durch Baumgartner eingewandt, „eine sehr viel kompliziertere und darum auch unsicherere Größe; gerade an den zentralen Punkten ist diese Auffassung durch B[uber] nicht entkräftet worden. Dann trifft seine These aber auch nicht den geschichtlichen Hergang, sondern ein jüngeres, bereits weithin konstruiertes Geschichtsbild.“98 Natürlich ließ Buber sich durch ein solches Verdikt nicht seine Vision vom Ursprung des Messianismus nehmen. Er verteidigte sie geschickt und würdig in 96  Vorwort zur 1. Auflage des „Königtums Gottes“ (3XIIIf.; Werke II, 492f.; MBW XIV, 96f.); vgl. auch den Aufsatz „Genesisprobleme“ (MGWJ 80, 1936, 81–92), der im detaillierten Gespräch mit Volz/Rudolph, Jacob und Cassuto zu dem Ergebnis kommt, dass „die tendenzkritische Forschung […] die quellenkritische verdrängt“ (91); dazu auch Königtum 3XIVf. (Werke II, 494; MBW XV, 97f.). Bereits 1928 heißt es in dem oben Anm. 81 angeführten „Protokoll“: „Es sind wohl Quellenschichten vorhanden, aber nicht so, wie sie die Bibelwissenschaft ansetzt. Statt sechs Schichten der Genesis lassen sich etwa zwanzig Schichten verschiedener Provenienz nachweisen, die durch Rhythmus und Stil, Erzählerart und Erzählerabsicht von einander zu scheiden sind.“ (MBW XV, 48). 97  Werke II, 759; MBW XV, 308. 98  DLZ 54 (1933) 1354f.

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den Vorworten zur zweiten (1936) und dritten Auflage (1956) des „Königtums“ und führte sie in jenen drei Fragmenten – „Das Volksbegehren“, „Die Erzählung von Sauls Königswahl“, „Samuel und die Abfolge der Gewalten“ – im bisherigen Stil weiter. Im Jahr vor der Emigration berichtete er von seiner „sehr schweren Arbeit am ‚Gesalbten‘“99; damals wollte er Scholem und anderen bei einem vorläufigen Jerusalem-Besuch „gern aus dem ‚Gesalbten‘ vorlesen“, denn: „Es ist ein Buch, bei dem mir der behandelte Text eine ungewohnte Methode aufgenötigt hat und an dem daher mancherlei zu bereden ist.“100 Wie gern hätte man diesem Bibel-und-Methoden-Gespräch zugehört, zumal da Scholems Reaktion auf das „Königtum Gottes“101 die Perspektive auf eine Verständigung in grundlegenden Fragen zu eröffnen schien! Aber es dürfte fraglich sein, ob das Gespräch, wenn nicht damals, dann doch später zustande gekommen ist; von jener Verständigung konnte auf die Dauer schwerlich die Rede sein. Was „Das Kommende“ und den „Gesalbten“ betrifft: noch 1948 erinnerte Buber den Verleger Salman Schocken daran, dass „die größere Hälfte“ des zweiten Bandes, also wohl die drei genannten Fragmente, „seinerzeit“, also wohl vor der Aufhebung des Verlags und Bubers Emigration 1938, gesetzt worden sei, und teilte ihm mit, dass er das Gesamtwerk, also alle drei Bände, gern „zu Ende führen würde, und zwar vornehmlich für eine englische Ausgabe“102. Aber dazu kam es noch weniger als vermutlich zu jenem Gespräch mit Scholem über den entstehenden „Gesalbten“. 1956 teilte Buber den Verzicht auf den dritten Band mit; die Arbeit an der Fortsetzung des zweiten hätten „äußere und innere Gründe“ viele Jahre lang gehindert103; dabei blieb es dann auch. Doch konnte er Schocken 1948 noch zwei kleinere Arbeiten nennen, die ganz oder fast fertig waren und beide 1950 deutsch erschienen: „Ein Volk und ein Land“ (hebr. 1945, deutsch „Israel und Palästina“) und „Der palästinische Jesus“ (deutsch „Zwei Glaubensweisen“). Damit nicht genug: das erste Jerusalemer Jahrzehnt hatte neben Bubers reicher übriger Produktion noch zwei weitere gewichtige Bücher zur Bibel erbracht, „Der Glaube der Propheten“ (holländisch 1940, hebr. 1942, deutsch 1950) und „Moses“ (hebr. 1945, deutsch 1948). Den „Moses“ stellte Buber am Ende seines Lebens den „Schriften zur Bibel“ als kräftigen Auftakt voran, wohin er ja auch der geschichtlichen Abfolge nach gehörte. Er hatte sich zu dieser Arbeit durch die Äußerung des Berliner Althistorikers Ed. Meyer (1855–1930) herausfordern lassen, Mose sei „eine mit dem Kultus in Beziehung stehende Gestalt der genealogischen Sage, nicht eine ge99  26.2.1937 (Briefwechsel II, 642). 100  An Scholem 19.4.1937 (ebd. 644). 101  Scholem an Buber 29.6.1932 (ebd. 439–41); vgl. auch Bubers Antwort vom 1.7.1932 (ebd. 441–43). 102  Briefwechsel III, 170. 103  Zusatz zum wiederabgedruckten Vorwort der 1. Auflage (3. Aufl. S. IX), in Werke II, 489 verkürzt. Vgl. MBW XV, 750f.

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schichtliche Persönlichkeit“. So habe „denn auch (abgesehen von denen, die die Tradition in Bausch und Bogen als geschichtliche Wahrheit hinnehmen) noch niemand von denen, die ihn als eine geschichtliche Gestalt behandeln, ihn mit irgend welchem Inhalt zu erfüllen, ihn als eine konkrete Individualität darzustellen oder etwas anzugeben gewußt, was er geschaffen hätte und was sein geschichtliches Werk wäre“; es sei „nicht Aufgabe der Geschichtsforschung, Romane zu erfinden“104. Bei Buber kann, schon weil auch er weiß, dass dem „disparaten Sagenkomplex […] eine geschichtliche Kontinuität nicht abzugewinnen“ ist105, von einem Roman „aufs ganze gesehen“ nicht die Rede sein, aber „doch von einem Moseportrait, wo der künstlerische Wert wahrscheinlich den der Geschichtstreue erheblich übersteigt“106. Dem Stoff entsprechend erörtert Buber hier besonders ausführlich das Verhältnis von Sage und Geschichte. Er spricht von einem „fortdauernden Kristallisationsprozeß“ und nennt ihn „seinem Wesen nach etwas völlig anderes als ein Zusammentragen und Zusammenschweißen aus mehreren Quellenschriften“, so dass die Aufgabe der Forschung eine „traditionskritische“ in dem Sinn ist, dass sie versuchen muss, „zu dem ursprünglichen, ereignisnahen Kern der Sage vorzudringen“. Gelingt es dann auch nicht, „den Verlauf der Ereignisse selber zu erfahren, so doch in einem erheblichen Maße die Art, wie das mitlebende Volk ihn erfuhr. Wir lernen die Begegnung dieses Volkes mit einem großen, es überwältigenden geschichtlichen Geschehen kennen, die sagenbildende Begeisterung, mit der es das Ungeheure bildnerisch empfing und einem bildnerischen Gedächtnis überlieferte.“107 Der Begriff der Kristallisation erinnert an H. Ewald, auf dessen Pentateuchtheorie F. Delitzsch ihn angewendet hat108, und noch mehr tut das die Vorstellung von der positiv-produktiven Rolle der Sage, bei der Buber in Umkehrung einer geläufigen Wendung auch von „Mythisierung der Geschichte“ sprechen kann109. Es kommt noch ein Begriff hinzu, den Buber allerdings nicht hier, sondern im „Glauben der Propheten“ ausdrücklich entwickelt hat: die „Faktumseinzigkeit“. „Es gibt Vorgänge, Zustände, Gestalten, Äußerungen, Taten in der Geschichte der Religion, deren Einzigkeit von solcher Art ist, daß sie nicht als erdacht, erdichtet, erfunden, sondern nur als tatsächlich zu fassen sind. Nur eine spekulative Behandlung kann zu anderem Urteil führen; die wissenschaftlich-intuitive, das heißt nach der einer Urkunde zugrunde liegenden Konkretheit forschende und zu ihr auch vordringende Methode nähert sich hier dem leibhaften Faktum.“ Es ist Buber wenigstens theoretisch klar, dass dieses

104  Ed. Meyer, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme (1906) 4511. 105  Moses (31966) 10 (Werke II, 12). 106  Illman (s. Anm. 32) 219. 107  Moses a.a.O. 18 (19). 108  S.o. 26948. 109  Moses 19 (20). – Vgl. M. Noth, CuW 4 (1928) 265–72.301–09 (Gesammelte Studien II, 1966, 29–47).

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Kriterium „nur mit äußerster Vorsicht und Sorgfalt angewandt werden darf“ und dass er sich hier „gleichsam an der Grenze der Wissenschaft“ befindet110. Der historisch-kritische Leser sieht den Autor ständig an dieser Grenze, kann aber, wenn er dafür empfänglich ist, gerade darin auch den Reiz und die Schönheit des Buches finden. Immer wieder wechselt die Perspektive: das eine Mal sehen wir den Mose, „der in vielen Zeiten geworden ist“, das andere Mal den, „der vor vielen Zeiten gewesen ist.“ „Unser Blick muß beiden zugewandt sein, ohne sie zu vermengen: die Helle des Vordergrundes umfangen und in das Dunkel der Geschichtstiefe spähen.“111 Das Bemühen richtet sich vor allem auf die Geschichtsnähe in der Tradition: „Das Werk der Sage ist groß und reißt heute wie je unser Herz hin; das darf uns aber nicht hindern, mit unserem nach Wirklichkeit verlangenden Blick, wo wir können, durch ihren Schleier zu dringen und, so gut wir können, dahinter die reine Gestalt zu schauen.“112 Mittel dabei sind natürlich auch bei Buber die „Nachprüfung des sozial-kulturellen Hintergrunds“ sowie „geographischer, politischer und anderer Angaben“ und, wichtiger, der Vergleich mit früheren und späteren Stadien der geistigen und religiösen Entwicklung113. Doch da ihm geschichtliche Erkenntnis „eine Erkenntnis nicht von Kategorien, sondern von Tatsachen ist“, legt er auf die Subsumierung etwa unter die Alternativen „kultisch– antikultisch“, „primitiv–fortgeschritten“ ebenso wenig Wert wie auf ein aus dem Sagenstoff geschöpftes Gesamturteil über die „religiöse Anschauung“ des Mose114. Mose ist weder Priester noch Prophet noch beides zusammen. „Was seine Idee und seine Aufgabe ist, die Verwirklichung der Einheit von religiösem und gesellschaftlichem Leben in der Gemeinschaft Israels, das Leibwerden der nicht kultisch beschränkten, sondern die gesamte Volksexistenz umfassenden Herrschaft Gottes, das theopolitische Prinzip, das ist ihm auch in die Tiefe des persönlichen Wesens gedrungen, hat seine Person dem Kammernsystem der Typologie enthoben, die Elemente der Seele zu einer urseltenen Einheit gemischt.“115 Kühne Worte! Sie stehen nicht allein. Dem „in das Dunkel der Geschichtstiefe spähenden“ Blick treten die Vision und die Audition am Dornbusch „aus den Grenzen der Literatur in jenen Sonderbezirk, wo sich große persönliche Glaubenserfahrungen auf nicht mehr erkennbaren Wegen fortpflanzen“116; „ein geschichtsechtes Bild“ ist ihm der der Entlastung 110  Der Glaube der Propheten (21984) 22 (Werke II, 242). Vgl. in diesem Zusammenhang die in Sachen Samuel gegen Wellhausen gerichtete Bemerkung, „daß es, wenn man eine in Geschichtstexten dargestellte Gestalt ‚in den Kategorien, die etwa in Frage kommen, durchaus nicht unterzubringen‘ vermag, dies nicht an der Ungeschichtlichkeit der Darstellung, sondern an ihrer Geschichtlichkeit liegen kann“ (Werke II, 814f.; MBW XV, 354). 111  Moses 21 (22). 112  Ebd. 146 (141f.) 113  Der Glaube der Propheten 21 (241). 114  Moses 152f.146.187 (148.142.180f.) 115  Ebd. 222 (213). 116  Ebd. 50 (50).

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bedürftige und sie mit midianitischer Hilfe bekommende Mose117; eine „gelebte Wirklichkeit“ gewahrt er hinter des Mose Gesprächen mit Jahwe; als „ein unverkennbar echter Zug“ erscheint ihm die Gotteserfahrung Ex 33, wobei sekundärer Charakter auch der wichtigsten Worte im Textzusammenhang für die „Frage nach der Echtheit der biographischen Tradition nicht relevant“ ist118. Bei der am höchsten mythologischen Szene am Sinai entschließt sich Buber zu der Frage, „welche Wirklichkeit dem Berichte zugrunde liegen kann“. Die Schau Gottes ist „die Urerfahrung, ohne deren Verständnis die innerste Beziehung des biblischen Menschen zu seinem Gott nicht zu verstehen ist“. Was Mose, Aaron und die siebzig Ältesten sehen, ist an sich nichts Übernatürliches. „Sie sind wohl vor Morgengrauen durch zähen niederhängenden Wolkendunst gewandert, und in ebendem Augenblick, da sie das Ziel betreten, zerreißt, wie es mir selber einmal widerfuhr, das dicke Gewölk und vergeht, bis auf ein verharrendes, aber schon durchglänztes Wolkengebild; genug, die saphirne Nähe des Himmels überwältigt die altgewordenen Delta-Hirten, die nie noch zu kosten, nie zu ahnen bekommen haben, was das Spiel des frühen Lichtes über den Gipfeln der Berge erschließt. […] Die Netzhaut ihrer Augen fängt nichts anderes auf, als was auch die unsre aufzufangen vermag; sie aber sehen den Offenbarer.“119 Kehrt Buber zu dem Rationalismus zurück, den einst de Wette überwand? Ja und nein: bekennt er sich auch „zur rationalen Suche nach Wirklichkeit“120, so beginnt das rationale Geschichtsverständnis für ihn doch damit, „daß die kleine Ratio durch die große überwunden wird“121. Bei der Fortsetzung des „Kommenden“ kam Buber in die Quere, dass ihn im Sommer 1938, bald nach dem Antritt seiner Arbeit in Jerusalem, die Aufforderung von G. van der Leeuw in Groningen erreichte, in einem Sammelwerk über die Religionen der Welt („De godsdiensten van de wereld“) den israelitischen Part zu übernehmen. Als einziger Nichtholländer und Nichtchrist mochte er sich dem nicht entziehen und schrieb seine Darstellung „in verhältnismäßig kurzer Zeit nieder“122. Sie kommt, namentlich in ihrer bald publizierten ungekürzten Fassung, unter Bubers Werken einer Gesamtdarstellung der biblischen Religion am nächsten. Allerdings zeigen die beiden Worte des Titels eine doppelte Einschränkung an: Buber stellt nicht die Religion als ganze dar, sondern den Glauben, und hier wiederum konzentriert auf die Propheten; er gibt eine 117  Ebd. 119 (115); durch ein „dünkt mich“ unterstreicht Buber den subjektiven Charakter der Feststellung. 118  Ebd. 183 mit Anm. 2 (176f. mit Anm. 20). 119  Ebd. 137–39 (132–35). – Vgl. auch Die Schrift und ihre Verdeutschung (1936) 24–26 (Werke II, 856f.; MBW XIV,44) und dazu Scholem, Judaica II, 17454. 120  Ebd. 75 (73). Buber konnte gerade im Gespräch über den „Moses“ sagen: „Ich bin ein verstockter Rationalist.“ (S.H. Bergman, Tagebücher & Briefe I, 1985, 691). 121  Ebd. 20 (20). 122  Der Glaube der Propheten (21984) 9 (Werke II, 233).

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„historische Darstellung der prophetischen Glaubenslehre selber in ihren wesentlichen Kundgebungen“123 mitsamt ihren Vorstadien – am Anfang steht das Deboralied – und Ausblicke auf Elemente ihrer Nachgeschichte. Einbezogen sind zum Beispiel der „Gott der Väter“ und die „Grundschrift“ des Pentateuchs („Was man als den oder die Jahwisten kennt“124), auch Hiob samt Psalm 73; da und dort, besonders gewichtig in den Ausführungen über den deuterojesajanischen Gottesknecht, wird der liegengebliebene Faden des „Kommenden“ aufgenommen. Hinzuzunehmen sind die beiden Essays „Abraham der Seher“ und „Prophetie, Apokalyptik und die geschichtliche Stunde“, die Buber zu seinen „allerwichtigsten“ zählte125 und 1955 unter dem Titel „Sehertum“ zu einem kleinen Buch zusammenfasste126. Der Höhepunkt des großen Buches, im Abstand zur reduktiven Prophetenforschung unserer Tage bewegend, fast wehmütig zu lesen, ist die eindringliche Interpretation der Schriftpropheten bis zum Exil unter den Überschriften „Um die Gerechtigkeit“ (Amos), „Um die Liebe“ (Hosea), „Die theopolitische Stunde“ (Jesaja), „Gegen das Heiligtum“ (Micha, Jeremia), „Das Mysterium“ (Deuterojesaja). Durchaus vergleichbar hatte wenige Jahrzehnte vorher Bernhard Duhm die israelitische Religion in der Konzentration – aber ebenfalls nicht Beschränkung – auf die Propheten dargestellt127. Von Walter Baumgartner, der sich noch 1959 mit Buber über Duhm ausgetauscht hat128, weiß ich, dass der große Jude für den großen Friesen mehr Sinn besaß als mancher von ihrer beider Fachgenossen. Ob Wellhausen, der weder Duhm noch die Propheten unterschätzte, wohl auch über Buber gesagt hätte, er habe „die Bedeutung der Propheten gewaltig übertrieben“129, und: es genüge nicht, ein Prophet zu sein, um die Propheten richtig zu verstehen130? Selbst Scholem ließ sich überzeugen, dass Buber in seiner Ich– Du-Philosophie einen angemessenen Zugang zur biblischen Prophetie besaß: „in seinem Buch ‚Der Glaube der Propheten‘ scheint mir der Höhepunkt von Bubers Bemühungen um das Verständnis der Bibel als eines großen Gespräches erreicht zu sein. Der Prophet ist der Vernehmende, dem zugleich in Sinnbildern Gottes Ratschluß und Forderung verdeutlicht wird. Er ist aber ebensosehr der, welcher aus der Gewißheit des Auftrages und der Sendung her sein Volk in konkreten historischen Situationen zur Entscheidung für die Forderungen Gottes und zu deren Verwirklichung aufruft. Er verlangt von Israel die Umkehr, die im Hebräischen, worauf Buber oft hingewiesen hat, identisch 123  Ebd. 7–9 (237–39). 124  Ebd. 119 (327). 125  Briefe III, 383. 126  In den „Werken“ wieder getrennt (II, 871–93 und 925–42). 127  Israels Propheten (1916, 21922) 128  S.u. 711. Übrigens hat Buber die Nachschrift „einer anscheinend frühen Vorlesung von B. Duhm über alttestamentliche Theologie“ vorgelegen (Königtum Gottes 369/18527; Werke II, 62127). 129  JDTh 21 (1876) 157. 130  S.o. 361.

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mit dem hebräischen Wort für Antwort ist. [… Buber] hat das Scheitern des Anrufs, die Unfertigkeit des nie vollendeten Dialoges, als ein konstitutives Element des Judentums dargestellt.“131 Zumindest im Blick auf die Prophetie des 8. Jahrhunderts dürfte Buber allerdings in der Gefahr gestanden haben, sein dialogisches Prinzip überzustrapazieren. Er postuliert, dass ihre Unheilsbotschaft „kein unabänderliches Verhängnis“ kundtue, vielmehr „in die Entscheidungsmächtigkeit des Augenblicks hinein“ rede, wobei die „Alternative, die hinter ihr“ stehe, „in sie nicht aufgenommen“ sei, weil „nur so […] das Wort an das Innerste der Seele rühren“, „vielleicht zum Äußersten der Tat aufrühren“ könne, „zur Umkehr“132. Mit dieser Bestreitung der Absolutheit der Unheilsbotschaft jener Propheten – formgeschichtlich gesprochen dem Postulat der Mahnung als des heimlichen oder offenen Motivs der Drohung – ist Buber nicht durchgedrungen133. Er hat seine These noch ausgebaut, indem er seiner Version von Prophetie in der Königszeit die Apokalyptik „jüdischer und jüdisch-christlicher Prägung im Zeitalter des späten Hellenismus und seines Untergangs“ gegenüberstellte: in dieser weht nirgends „der prophetische Atem der wirklichen geschehenden Geschichte und ihrer Entscheidungsfülle. Alles ist hier vorentschieden, alle menschlichen Entscheidungen sind nur noch Spiegelgefecht“134. Dem dialogischen Prinzip entspricht die Prophetie, die Apokalyptik ist ein Zerfallsprodukt. Die Unterscheidung weist über die damalige Zeit hinaus: „Wo immer […] eine lebendige geschichtliche Dialogik von göttlichem und menschlichem Handeln durchbricht, da besteht, sichtbar oder unsichtbar, ein Band mit der Prophetie Israels. Und wo immer der Mensch vor der Bedrohung durch sein eigenes Werk erschaudert und der radikal fordernden Geschichtsstunde entfliehen möchte, naht ihm die apokalyptische Vision eines unhemmbaren Ablaufs.“135 Obwohl Buber bei Gelegenheit bemerken kann, „geringschätzig“ sehe er die Apokalyptik „keineswegs an“136, ist doch klar, dass die ständige Entscheidung für die andere, die „prophetische“ Seite in seinen Augen eine fundamentale Aufgabe der Menschheit ist und bleibt. Er macht die Apokalyptik in einer „optimistischen modernen Gestaltwerdung“ bei Karl Marx dingfest137, findet sie aber laut Scholem138 „auch bei den protestantischen Theologen der Barthschen Schule“ wieder – was hier nicht weiter erörtert sei. Noch in biblischer, aber nicht mehr in alttestamentlicher Zeit hat Johannes der Täufer „den 131  Scholem, Judaica II, 176. 132  Der Glaube der Propheten 139 (345). 133  Exponent der Gegenmeinung ist H.W. Wolff, Gesammelte Studien zum Alten Testament (1964) 138f.; mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Buber: Studien zur Prophetie (1987) 39f. Auf Bubers Seite namentlich G. Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion (1969) 275 u.ö. 134  Sehertum (1955) 52.64 (Werke II, 929.936; MBW XV, 381.388). 135  Ebd. 68 (Werke II, 938; MBW XV, 390). 136  Briefe III, 367. 137  Sehertum 68–70 (Werke II, 938f.; MBW XV, 390f.). 138  Judaica II, 182.

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Ruf der Propheten ‚Kehret um!‘ wiederaufgenommen und hat, ganz im Sinn ihrer Alternativik, den drohenden Spruch drangefügt, schon sei die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt. […] Nachdem auch Jesus und gleicherweise dessen Sendlinge den Ruf wiederaufgenommen hatten, kamen die Apokalyptiker […]. Aber die Tiefe der Geschichte, die immer wieder am Werk ist, die Schöpfung zu verjüngen, steht mit dem Propheten im Bunde.“139 Den Weg ins Neue Testament ist Buber auch sonst immer wieder gegangen. Als er 1950 in dem Buch „Zwei Glaubensweisen“ das Ergebnis fixierte, berichtete er nicht nur, er habe Jesus „von Jugend auf als [seinen] großen Bruder empfunden“ – eine Aussage, die auf christlicher, aber auch auf jüdischer Seite gelegentlich Anstoß erregt hat140 –, sondern auch, das Neue Testament sei „seit nahezu 50 Jahren ein Hauptgegenstand [seiner] Studien gewesen“141. Auch hier befand er sich in vielfachem Kontakt mit der Fachwissenschaft. Am Anfang seiner „Studien“ stand Albert Schweitzer (1875–1965), den er „1901 oder 1902 durch eine Abhandlung über das Abendmahlsgeheimnis kennengelernt“ hatte, die ihm „einen tiefen Eindruck machte, weil sie Jesus mit Mysterien des jüdischen Glaubens in nahe Verbindung brachte“142. Noch vor ihm nennt er 1950 Rudolf Bultmann (1884–1976), dem er „grundlegende Belehrung im Bereich der Exegese des Neuen Testaments“ verdankte143, ja der „unter den Theologen unserer Zeit der“ ist, „von dem ich weitaus am meisten, nun [1949] schon fast drei Jahrzehnte lang, für das Verständnis des NT habe lernen können“144. Er bezog sich nicht selten auf ihn, aber natürlich blieben gravierende Unterschiede, in der Exegese und in der Hermeneutik: „mit Bultmann könnte ich, wenn ich Christ wäre, nicht zusammengehn; ich möchte mir auch mein Judentum nicht entmythisieren lassen“145. Nach diesen beiden dankt er Rudolf Otto (1869–1937) „für sein tiefes Verständnis der Majestas in der hebräischen Bibel“ und Leonhard Ragaz (1868–1945) für eine Freundschaft, in der sich eine urtreue Freundschaft zu Israel aussprach“146. Kurz vor dem Hereinbruch des Dritten Reiches, am 14. Januar 1933, fand im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart zwischen Buber und Karl Ludwig Schmidt (1891–1956), damals Neutestamentler in Bonn, ab 1935 in Basel, ein gehaltvolles „Zwiegespräch“ über „Kirche, Staat, Volk, Judentum“ statt147, dem nach einem halben Jahr eine heftige Kontroverse mit dem Tübin139  Sehertum 74 (Werke II, 942; MBW XV, 393). 140  S.H. Bergman fand sie „beleidigend“ (Tagebücher & Briefe II, 1985, 126). 141  Zwei Glaubensweisen (1950) 15 (Werke I, 657; MBW IX, 205f.). Vgl. zum Folgenden MBW IX, 50–71.421–24 (K.-J. Kuschel). 142  MBW IX, 326. 143  Zwei Glaubensweisen 16 (Werke I, 658; MBW IX, 206). 144  Briefwechsel III, 196. 145  Ebd. 368. 146  Zwei Glaubensweisen 17 (Werke I, 659; MBW IX, 207). 147  ThBl 12 (1933) 257–74 (MBW IX, 144–68,). Bubers Schlusssätze: „Die Gottestore sind offen für alle. Der Christ braucht nicht durchs Judentum, der Jude nicht durchs Christentum

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ger Neutestamentler Gerhard Kittel (1888–1948) folgte, ausgelöst durch dessen antisemitische Schrift „Die Judenfrage“148. Sie veranlasste den damaligen Breslauer Neutestamentler Ernst Lohmeyer (1890–1946, ab 1935 in Greifswald) zu zwei kongenialen brieflichen Solidaritätsbekundungen an Bubers Adresse149. Buber dankte Lohmeyer noch nach Jahren, indem er das erste Kapitel des „Gesalbten“ in der Gedenkschrift für den in Ostdeutschland ermordeten Kollegen erscheinen ließ150. Als Ziel seiner „Studien“ hat er schon früh ein Buch über das Christentum vor Augen151, später möchte er es „etwa ‚Der palästinensische Jesus‘ (im Gegensatz zum okzidentalisierten) nennen“152 – fast ist man versucht, sich ein Pendant zum „Glauben der Propheten“ und eins zu „Moses“ auszumalen. Eine Vorform und wohl weitgehend auch Vorlage des endgültig während der Belagerung Jerusalems 1948 geschriebenen, 1950 publizierten Buches dürfte eine Vorlesungsreihe gewesen sein, die Buber 1942/43 an der Jerusalemer Volkshochschule über „Judentum und Christentum“ hielt153. Indem er das endgültige Manuskript mit „Pistis und Emuna“154 und das Buch mit „Zwei Glaubensweisen“ überschrieb, brachte er zum Ausdruck, dass der vielschichtige Stoff für ihn immer mehr auf einen systematischen Nenner gerückt war. Wieder handelt es sich – Scholem spricht von Bubers „Neigung zu überspielten Antithesen“155 – um eine Alternative oder wenigstens „Zwiefältigkeit“156, und sie steht auch inhaltlich der von Prophetie und Apokalyptik nicht fern. Die beiden Glaubensweisen, in denen man hier wie dort unschwer Bubers Ich-Du- und Ich-Es-Beziehung wiedererkennen kann157, sind nach ihrer Herkunft, ihrem Wesen und auch in ihrer heutigen „Krisis“ grundverschieden. „Die Herkunft der jüdischen Emuna ist volksgeschichtlicher, die der christlichen Pistis individualgeschichtlicher Natur. Die Emuna ist in den Lebenserfahrungen Israels entstanden, die ihm Glaubenserfahrungen waren. […] Emuna ist das ‚Beharrens‘verhältnis – auch Vertrauen im existentialen Sinn zu nennen – des Menschen zu einer unsichtbaren und sich doch zu sehen gebenden, einer verborgenen, aber sich offenbazu gehen, um zu Gott zu kommen.“ In den Zusammenhang dieses Gesprächs gehört auch der kurze Text „Dom und Friedhof “ (MBW IX, 175). 148  ThBl 12 (1933) 193–202 (MBW IX, 169–74); Buber, Briefwechsel II, 486–88. 149  Briefwechsel II, 499–501.504–06 (505f. wichtige Bemerkungen zu Prophetie und Apokalyptik). 150  In memoriam Ernst Lohmeyer, hg.v. W. Schmauch (1951) 53–66 (Werke II, 727–42; MBW XV, 282–94). 151  Briefwechsel I, 346 (1913). 152  Briefwechsel III, 170 (1948, s.o. 618). 153  Vgl. die Mitteilung an L. Ragaz, der gerade eine Schrift über fast den selben Gegenstand veröffentlicht hatte (Israel, Judentum und Christentum, 1942) und die Bemerkungen Ben-Chorins zu den Vorlesungen (Briefwechsel III, 61–68). 154  Vgl. Briefwechsel III, 197. 155  Judaica II, 190. 156  So im Anfangssatz des Vorworts, vgl. auch dort 11 (Werke I, 654; MBW IX, 203). 157  Vgl. E. Simon, Entscheidung zum Judentum (1980) 153f.

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renden Führung; doch die persönliche Emuna jedes Einzelnen bleibt in die des Volkes gebettet und zieht ihre Kraft aus dem lebendigen Gedächtnis der Generationen an die großen Führungen der Urzeit. […] Die christliche Pistis wurde außerhalb der Geschichtserfahrungen von Völkern, sozusagen im Austritt aus der Geschichte, geboren, in den Seelen von Einzelnen, an die die Forderung herantrat, zu glauben, daß ein in Jerusalem gekreuzigter Mann ihr Erlöser ist. Wiewohl dieser Glaube sich seinem Wesen nach zur Frömmigkeit der völligen Hingabe […] erheben konnte und erhob, ruhte er auf einer Grundlage, die man, ungeachtet ihrer ‚Irrationalität‘, als logisch oder noetisch bezeichnen muß: dem Als-wahr-annehmen und Als-wahr-anerkennen eines verkündigten Satzes über den Gegenstand des Glaubens. […] Dieser in seinen Ursprüngen eminent griechische Akt, intensive Kenntnisnahme eines Soseins, das jenseits der geläufigen Begrifflichkeit steht, geschah […] als Handlung der sich damit gegen ihre Volksgemeinschaft abgrenzenden Person […]. Paulus spricht oft von Juden und Griechen, aber nie auf die Realität ihrer Volkstümer hin: es geht ihm einzig um die neu gestiftete Gemeinschaft, die eben wesenhaft nicht Volk ist. […] Der Glaube des Judentums und der Glaube des Christentums sind, in ihrer Weise, wesensverschieden, jeder seinem menschlichen Wurzelgrund gemäß, und werden wohl wesensverschieden bleiben, bis das Menschengeschlecht aus den Exilen der ‚Religionen‘ in das Königtum Gottes eingesammelt wird.“158 Noch ehe das Buch erschienen war, erklärte es der befreundete Philosoph Hugo Bergmann, der das Manuskript gelesen hatte, Buber gegenüber für „ein apologetisches Buch, mit allen Vorzügen und Nachteilen der Apologetik“. Er bekannte, für seinen Teil habe er „das Geborgensein in Gott im selben Maße von Christen gelernt wie von Juden“, und hielt eine kleine theologische Gegenrede: „Der Versuch, Jesus mit dem Judentum zusammen gegen das Christentum zu stellen, wie ihn das Buch unternimmt, muß, wie es mir Laien scheint, deswegen mißglücken, weil nicht der der lebendige, sondern der tote und auferstandene Jesus der ‚Stifter‘ des Chr. ist und diese also mit zu ihm gehören. Diese Auferstehung ist nun eine wirkliche oder vermeintliche Tatsache in der Welt. Wie aber soll man sich zu einer Tatsache stellen, als sie entweder bejahen oder verneinen durch ein ‚Ich glaube, daß‘ oder ‚ich glaube, daß nicht‘? Und wenn sie wirklich geschehen ist, so war sie eine so entscheidende Tatsache – die Tatsache, daß ein Mensch den Tod besiegt hat –, ein solcher Neubeginn der Menschengeschichte, daß Paulus Recht hatte, dem Glauben an die Tatsache eine entscheidende Bedeutung zuzuschreiben. Und gibt es nicht die Möglichkeit einer Pistis, die durchdrungen ist von der Sicherheit der Emuna, sodaß die begriffliche Trennung, die sicher berechtigt ist, sich doch in einer höheren Synthese aufhebt?“159 Von den christlichen Theologen, die sich zu den „Zwei Glaubens158  Zwei Glaubensweisen 179–83 (Werke I, 779–82; MBW IX, 310–12). 159  Bergmann an Buber 30.5.1949 (Buber, Briefwechsel III, 197f.). Vgl. auch E. Simon (vorletzte Anm.). – Gegen den Verdacht auf Apologetik wehrte sich Buber, wohl schon in Reaktion auf Bergmann, ausdrücklich im Vorwort (14; Werke I, 657; MBW IX, 205).

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weisen“ geäußert haben, seien Gerhard Ebeling160 und Eduard Lohse genannt, letzterer mit einer sauberen Analyse der beiden Grundbegriffe im biblischen Zusammenhang161. Auch hier ist Scholems Urteil das schärfste: er nennt die „Zwei Glaubensweisen“ Bubers „schwächstes Buch“162. Mag das stimmen oder nicht: man sollte sich durch die Fragwürdigkeit der Hauptthese nicht von der Lektüre abhalten lassen; gerade dieses Buch enthält in seinen biblischen, und das heißt vor allem: neutestamentlichen Partien eine Fülle von Beobachtungen und Betrachtungen, die seinen Verfasser als den „großen Lauscher“ zeigen, der er auch für Scholem gewesen ist163. Den dramatischen Höhepunkt der wechselvollen Beziehung zwischen Buber und Scholem dürfte ein Treffen im Jahr 1943 gebildet haben, bei dem der Jüngere dem Älteren das Resultat seiner eigenen, der Buberschen zuwiderlaufenden, historisch-kritischen Interpretation des Chassidismus vortrug. Bubers Reaktion, nach langem Schweigen, lautete: „Wenn das richtig wäre, lieber Scholem, was Sie da sagen, dann hätte ich mich ja vierzig Jahre ganz umsonst mit dem Chassidismus beschäftigt, denn dann interessiert er mich ja gar nicht.“164 Buber bestritt also, wenigstens für den Augenblick, nicht die Richtigkeit von Scholems Forschungsergebnissen, sondern bekundete, verallgemeinernd gesagt, sein Desinteresse an geschichtlichen Phänomenen, die für ihn keine existenzielle Bedeutung hatten. Im Umkehrschluss gilt: in seinen Schriften ist seine Person mit ihren Eigenschaften und Bezügen Seite für Seite in einem Ausmaß involviert, dass man stark untertreibt, wenn man sagt, sie hätten einen „subjektiven“ Einschlag; der Leser hat in ihnen immer den ganzen Buber vor sich. Das gilt, gewiss in verschiedener Nuancierung, für alle „Gattungen“ seines großen Oeuvres; auch zwischen den „Werken im engeren Sinne“ und den „Gelegenheitsarbeiten“165 besteht hier kein grundsätzlicher Unterschied. Beide Gruppen gehören notwendig zusammen, erklären einander und lassen sich nur künstlich und technisch voneinander trennen166. Immerhin ist dies durch Buber selbst geschehen, indem er 1963 einen großen Teil seiner „Aufsätze und Reden“ nicht in einem vierten Band der „Ausgabe letzter Hand“, sondern gesondert unter dem Titel „Der Jude und sein Judentum“ zusammenfasste. Er nahm darin mehrere ältere Sammlungen auf, vor allem die 1933 als „Kampf um Israel“ erschienene,

160  Zwei Glaubensweisen? In: Juden, Christen, Deutsche, hg.v. H.J. Schultz (1961) 159–68 (Wort und Glaube III, 1975, 236–45). 161  Emuna und Pistis – Jüdisches und urchristliches Verständnis des Glaubens, ZNW 68 (1977) 147–63 (Die Vielfalt des Neuen Testaments, 1982, 88–101). 162  Judaica II, 183. 163  Vgl. ebd. 153f.171. 164  Ebd. 186. 165  S.o. Anm. 29. 166  Vgl. die von H.L. Goldschmidt vorgebrachten Bedenken (Briefwechsel III, 619).

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deren Titel ihm 1963 das Stichwort zu einer Übersicht über sein eigenes „Judentum“ lieferte: „Es war und ist dies […] ein Kampf um Israel im dreifachen Sinn. Zum ersten: ein Kampf nach außen, gegen jene Mächte des Zeitalters, die die uneingeschränkte Existenzberechtigung der jüdischen Lebensgemeinschaft, sei es in ihrer Diaspora, sei es in ihrer Zentrierung in der Urheimat, bestritten. Zum zweiten: ein innerer Kampf gegen jene Kräfte im Judentum selbst, die der Errichtung des Zentrums, der Errichtung ‚Zions‘, widerstrebten. Zum dritten aber; ein allerinnerster, ganz wesenhafter Kampf, erst innerhalb der zionistischen Bewegung in der Diaspora, dann, an politischem und wirtschaftspolitischem Realismus zunehmend, mitten im Werk an dem Aufbau des neuen Israel in Palästina. Dieser dritte Kampf, der entscheidungsgewichtigste von allen, steht im Zeichen jenes Wortes (Jes 1,27), in dem sich eine große politische und überpolitische Wahrheit ausspricht: Zion werde durch Gerechtigkeit erkauft werden. ‚Zion‘ bedeutet im Munde des Propheten die Verwirklichung eines höchsten Wertes. Nur als solche eine Verwirklichung – das war in dem Spruche eingeschlossen – wird ein neuerbautes Israel dauern. Auf die Situation unserer Zeit angewandt, erschließt sich die geforderte ‚Gerechtigkeit‘ als eine doppelte: nach innen als eine soziale, als das Prinzip einer echten Gemeinschaftsstruktur, nach außen als eine nationale, als das Prinzip einer umfassenden Kooperation mit den Nachbarvölkern, gegründet auf die Erkenntnis einer Interessengemeinschaft, die allen Interessengegensätzen weit überlegen ist. Das erste Prinzip und der von ihm bestimmte Kampf richten sich gegen den im innern Leben des Volkes sich auswirkenden Gruppenegoismus, das zweite Prinzip und der von ihm bestimmte Kampf gegen einen horizontlosen Nationalismus, der den Aussichten auf eine große weite Zukunft um eines engen Scheinbestand[s] willen entsagt.“167 Jeder dieser Sätze ließe sich aus der Sammlung, der sie vorangestellt sind, mannigfach und höchst eindrucksvoll belegen und illustrieren168. Die Texte, die der Band enthält, werden in der Bibliographie an seinem Ende in der Reihenfolge ihrer Entstehung zwischen 1903 und 1960 aufgeführt – eine stillschweigende Einladung, dem „theopolitischen“ Weg des Autors als eines Juden unter Juden nach seiner eigenen Anleitung nachzugehen. Das kann hier natürlich nicht geleistet werden; einige notdürftige Angaben zur jüdischen Praxis dieses Juden 167  Der Jude und sein Judentum IXf. 168  Hinzuzunehmen wäre besonders die von P.R. Mendes-Flohr unter etwas speziellerem Gesichtspunkt besorgte Sammlung Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage (1993). Beide Sammlungen sind kombiniert in M. Buber, Politische Schriften, hg.v. A. Melzer, mit einem temperamentvollen Nachwort von R. Neudeck: „Der Kampf um Israel. Und wie Martin Buber ihn geführt haben wollte!“ (2010). Sehr lesenswert sind die über die geschichtlichen Zusammenhänge orientierenden Einleitungen von R. Weltsch (1963, 2010) und P.R. Mendes-Flohr (1993). Aus der reichen übrigen Literatur sei hingewiesen auf Y. Wagner, Martin Bubers Kampf um Israel. Sein zionistisches und politisches Denken (1999).

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müssen genügen. Er selber legte bei Gelegenheit Wert darauf, „keineswegs ein gläubiger Jude im repräsentativen Sinn“ zu sein169. Andere sahen es radikaler, so der junge Scholem, der Freunden gegenüber – ich reiße die Aussage aus dem Zusammenhang170 – Buber einen „Irrlehrer“171, „im letzten Sinne nicht jüdisch“172, ja, „das Antijüdische schlechthin“173 nennen konnte. Das „nicht jüdisch“ erläuterte er durch den Gegensatz: „sondern modern […] bei aller Jüdischkeit“174 und verwies auf den (auch von Buber hoch verehrten175) großen Zionisten Achad Haam (A. Ginzberg, 1856–1927) als Gegenbild: „Achad Haam ist, so modern er vielfach seine Sache auch verquatscht und so viele Einwände ich gegen ihn habe, doch in Wahrheit jüdisch, und der einzige, der in Wahrheit in Zion steht. Buber ist auch geistig in Heppenheim.“176 Den entscheidenden Punkt berührte Scholem, indem er es ablehnte ausgerechnet in Buber „den Repräsentanten des Jüdischen zu sehen, dessen wesentlichste Ordnungen ihm zuwider sind oder von ihm verschwiegen werden“177. In der Haltung gegenüber den „Ordnungen“ steht Buber nicht fern von Wellhausen, der so wenig in die Göttinger Kirchen ging wie Buber in die Jerusalemer Synagogen. Wie Wellhausen Paulus zitierte: „Das Gesetz ist zwischenein getreten“178 und dennoch „Israel“ und das „Judentum“ unterschied, so nennt Buber die „Lehre des Judentums“ eine „sinaitische“, wogegen die „Seele des Judentums vorsinaitisch“ ist. „Das Gesetz tut sich ihr an und sie ist hinfort nie mehr jenseits seiner zu verstehen, aber sie selber ist nicht gesetzhaft.“179 In Bubers frühen Schriften finden sich kraftvolle Anklagen: „Und das Gesetz erlangte eine Macht, wie sie in keinem Volke und zu keiner Zeit ein Gesetz besaß. Die Erziehung der Generationen geschah ausschließlich im Dienste des Gesetzes. Es gab kein persönliches gefühlgeborenes Handeln: nur das Handeln nach dem Gesetz konnte bestehen. Es gab kein selbständiges, schöpferisches Denken: nur dem Grübeln über die Bücher des Gesetzes und die Hunderte von Büchern der Deutung des Gesetzes und die Tausende von Büchern der Deutung jener Deutungsbücher war die Mitteilung gewährt.“180 Oder die Anrede an die 169  Briefwechsel III, 201. 170  Zu diesem vgl. I. Shedletzlys Einleitung zu Scholem, Briefe I (1994). 171  In: Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen, hg.v. P. Schäfer u. G. Smith (1995) 291 (1918 an W. Benjamin). 172  An E. Blum 26.10.1916 (Briefe I, 55). 173  An W. Kraft 11.8.1817 (Briefe I, 93; Briefe an Werner Kraft, 1986, 22). 174  Im Brief an Blum (vorletzte Anm.). 175  Vgl. Der Jude und sein Judentum 755–70. 176  An Blum (Anm. 172). 177  An Kraft (Anm. 173) 94 bzw. 22. 178  Röm 5,20; Motto des Schlussteils „Israel und das Judentum“ in den Prolegomena zur Geschichte Israels. Im Übrigen vgl. einstweilen ZThK 79 (1982) 278f. Aber auch Scholems Hinweis auf Nietzsche (Judaica II, 140, vgl. B. Schäfer in MBW III, 1710) sollte nicht unter den Tisch fallen. 179  Der Jude und sein Judentum 201f. (1930). 180  Ebd. 272 (MBW III, 268; 1903).

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„Gesetzesdogmatiker“: „O ihr Sicheren und Gesicherten, die ihr euch hinter der Brückenwehr des Gesetzes berget, um nicht in Gottes Abgrund blicken zu müssen!“181 Wenngleich es bei Buber in den zwanziger Jahren „zu einer, wenn auch nicht sehr durchgreifenden Revision seiner Haltung zum Gesetz“ gekommen zu sein scheint182, bleibt doch der Gesamteindruck auch im Blick auf die späteren Arbeiten bestehen. Er gilt auch für den Talmud – zur Verwunderung Scholems, der dort „jenes ‚dialogische Leben‘, das der spätere Buber so nachdrücklich in den Mittelpunkt seiner Lehre gestellt hat“, aufs deutlichste bezeugt findet183. Als sein Biograph Maurice Friedman ihn nach seinem Verhältnis zu Gesetz, Gebot und Ritual fragte, antwortete Buber: „Die Schwierigkeit liegt darin, daß ich eine solche Frage nicht unabhängig von der persönlichen Existenz sehen kann. Für meine Person weiß ich, daß ich zu tun versuche, was ich als ein an mich gerichtetes Gebot erfahre […]. Ich öffne mein Herz dem Gesetz so weit, daß ich mich, wenn ich ein Gebot an mich gerichtet weiß, verpflichtet fühle, es zu befolgen, so weit es sich an mich richtet – z. B.: ich kann am Sabbat nicht leben wie an andern Tagen; meine geistige und physische Haltung ist verändert, aber nichts in mir treibt mich dazu, genau und im einzelnen zu befolgen, was das Religionsgesetz erlaubt und was nicht. In bestimmten Augenblicken, die zum Teil ziemlich regelmäßig, zum Teil bei Gelegenheit kommen, habe ich das Bedürfnis zu beten, und dann bete ich […]; es hat auch Tage gegeben, an denen ich mich dazu gedrängt fühlte, an dem Gebet einer Gemeinde teilzunehmen; und dann tat ich es. Das ist meine Art zu leben, und wenn man will, kann man es religiöse Anarchie nennen.“184 Einen religiösen Anarchisten hat ihn denn auch Scholem genannt und seine Lehre religiösen Anarchismus, mit der Begründung: „Bubers Philosophie verlangt vom Menschen, eine Richtung einzuschlagen und eine Entscheidung zu treffen, aber sie sagt nichts darüber aus, welche Richtung und welche Entscheidung. Vielmehr sagt er ausdrücklich, dass solche Richtung und Entscheidung nur in der Welt des Es formuliert werden kann, in der die Welt des lebendigen Ich und Du sich vergegenständlicht und abstirbt. In der Welt der lebendigen Beziehung aber kann nichts formuliert werden und gibt es keine Gebote.“185 Was Buber dem Gesetz nahm, gab er der Politik. Er war ein homo politicus, auch dies allerdings auf seine eigene Weise, die aber nicht ausschloss, dass er in Theorie und Praxis viel von Anderen lernte, so von seinem Freund, dem anarchistischen Sozialisten Gustav Landauer, oder von Aharon David Gordon (1856–1922), der „zentralen Geistesgestalt im Aufbauwerk der Arbeiterschaft“ 181  Ebd. 112 (1919). 182  Scholem, Judaica II, 182 unter Bezugnahme auf Buber, Der Jude und sein Judentum 221–30, bes. 222 (1925). 183  Scholem, Von Berlin nach Jerusalem (21994) 55. 184  Briefwechsel III, 368. 185  Judaica I, 197f.

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im jüdischen Palästina; ihn, dem er nur einmal begegnete (1920 in Prag), porträtierte er am Schluss seiner Geschichte der „zionistischen Idee“ als einen „Träger der Verwirklichung“186. Das philosophisch-theologische Fundament seines eigenen Denkens und Handelns zumindest in den späteren Jahren beschrieb er in dem Vortrag von 1953, über den ich eingangs berichtet habe. Ihm war mit verwandter Zielsetzung die Jerusalemer Antrittsvorlesung von 1938 vorangegangen, „Die Forderung des Geistes und die geschichtliche Wirklichkeit“187. Beide Mal spielen Bibeltexte eine Schlüsselrolle, 1953 Jesu Wort vom Zinsgrochen, 1938 die Botschaft des Propheten Jesaja. Als Grundlegung einer politischen Theorie lässt sich auch der große Torso des „Kommenden“ lesen, also das „Königtum Gottes“ mitsamt den drei Fragmenten des „Gesalbten“; speziell die einschlägigen Kapitel in 1  Sam hat Buber (nach Vorgängern) die „biblische Politeia“ genannt188. Zum geläufigen Schlagwort wurde der Begriff der „Theopolitik“ bzw. des „Theopolitischen“189, die Hauptsache umschreibt der Doppelsatz: „Religion und Politik dürfen wir nicht voneinander trennen. Der wirkliche Glaube muss alles ergreifen.“190 Den Weg vom Glauben zur Politik empfand Buber als „oft furchtbar schwer und manchmal ein gefährliches Unternehmen“191. Er ist ihn unzählige Male gegangen, meist im Dienst des Zionismus, dem er in allen Wechselfällen, die mitunter Zerreißproben gleichkamen, zugehörig blieb – was andere, darunter sein Schüler und Biograph Hans Kohn (1891–1971), trotz aller anfänglichen Begeisterung gerade aus Treue zum Judentum nicht über sich brachten; Kohn schrieb 1929 an Buber: „Der Zionismus ist nicht das Judentum“192, was Buber kommentierte: Kohn ist „mehr auf Deklamation gestellt als auf wirkliche Wegbahnung durch das Gestrüpp der Tatsachen, aber auch gut“193. „Spätestens nach dem Tod von Achad Haam“ (1927), so ein gewichtiges Resümee aus unseren Tagen, „hat sich Buber als der Mahner der zionistischen Bewegung profiliert und ist als das Gewissen des Zioniusmus in die Geschichte Isrels eingegangen“194. Früh im Dissens zu Th. Herzls maßgeblichem Kurs hatte er insbesondere durch seine „Reden über das Judentum“ einen großen Einfluss auf die jüdische Jugend gewonnen, diese aber enttäuscht, indem er, wie Scholem klagte, „nicht in ihrer Mitte war, als es in dem großen Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg galt, lebensmäßige Konsequenzen daraus zu ziehen“195. Lange Zeit schwebte ihm eine Wirksamkeit sowohl in Deutschland als auch 186  Israel und Palästina (1950) 196–205, vgl. 206. 187  Hinweise (1953) 121–41; Werke I, 1055–69. 188  Werke II (1964) 734 (MBW XV, 288). 189  Vgl. das Jesaja-Kapitel im „Glauben der Propheten“ (21984) 162–93 (Werke II, 368–99). 190  Nachlese (1965) 197 (1933). 191 Ebd. 192  Briefwechsel II, 351. 193  Ebd. 353. 194  MBW III (2007) 13 (B. Schäfer). 195  Judaica II, 135.

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in Palästina vor, und noch in den Anfangsjahren des Dritten Reiches gelang es ihm, im Rahmen der „Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ in den dort immer enger werdenden Grenzen für einen gewissen Fortbestand jüdischen geistigen Lebens zu wirken; die Erwachsenenbildung lag ihm, der in seinen eigenen Augen „kein Universitätsmensch“ war196, auch in späteren Jahren am Herzen. Seit seiner schließlich doch unaufschiebbaren Übersiedlung nach Palästina 1938 arbeitete er ohne offizielle Funktion, aber auf den verschiedensten Ebenen ohne Scheu vor dem „Gestrüpp der Tatsachen“ unermüdlich für ein Israel, das in friedlicher Gemeinschaft mit den Arabern leben sollte. In dieser Sache hatte er spätestens seit dem Anfang der zwanziger Jahre seine ganze große Beredsamkeit aufgeboten, und er tat es bis zum Ende weiter. Zwei Jahre nach seinem Tod brachte der israelische Sieg im Sechstagekrieg die entscheidende Niederlage im „Kampf gegen einen horizontlosen Nationalismus, der den Aussichten auf eine große weite Zukunft um eines engen Scheinbestands willen entsagt“, und fünfzig Jahre nach seinem Tod scheint die „Menucha“, die er in jenem Gespräch von 1960 „vielleicht in fünfzig Jahren“ erwartete, weiter entfernt als je. Man muss leider bezweifeln, dass seine Einsprüche heute mehr Erfolg hätten als zu seinen Lebzeiten. Ihm ist immer wieder ein Mangel an Echo gerade unter Juden bescheinigt worden, am deutlichsten wiederum von Scholem, der von einer „fast völlige[n] Einflußlosigkeit Bubers in der jüdischen Welt“ spricht, „die seltsam mit seiner Anerkennung bei den Nichtjuden“ kontrastiere197. Dem entspricht, dass noch in seiner späteren Jerusalemer Zeit ein naher Freund beobachtete, es sei „ihm doch nicht gelungen, hier ganz heimisch zu werden“198. Aber er wehrte sich dagegen, für einsam gehalten zu werden: „‚Einsam‘ fühle ich mich hier durchaus nicht; ich habe an Freunden und Schülern Genüge. Unpopulär bin ich freilich, und das kann bei einem Unangepaßten, wie ich es von Jugend auf gewesen und im Alter […] geblieben bin, nicht gut anders sein. Was mir ‚weitere Kreise‘ am meisten verargen, ist: Erstens, daß ich seit 1917 aufs nachdrücklichste für eine Kooperation mit den Arabern – bis 1947 in der Form eines binationalen Staates und seit dem Sieg Israels über die Angreiferstaaten in der Form einer vorderasiatischen Völker-Föderation – eingetreten bin und mit an der Spitze der in dieser Richtung geführten Aktionen gestanden habe. Zweitens, daß ich mich […] kaum minder nachdrücklich gegen ein Zusammenwerfen des deutschen Volkes mit dem Mordgesindel der Gaskammer-Organisation gewendet habe und weiter wende.“199 Bubers Mission an Israel, genauer an der Hebräischen Universität, formulierte anlässlich seiner Abschiedsvorlesung am 17. Oktober 1951 deren Rektor, der ihn sehr gut kannte, überraschend, aber schwerlich ganz unangemessen dahin, dass Buber „nicht 196  Briefwechsel II, 589. 197  Judaica II, 135. 198  Bergman (Anm. 72) II, 194. 199  An Hans Blüher 19.1.1955 (Briefe III, 390).

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nur ein großer Forscher“ gewesen sei, „sondern daß er uns zum Gott Israels, zur Heiligkeit unseres Volkes und Landes zurückgeführt habe“200. Es mag erlaubt sein, hier als Letztes eine erst Jahrzehnte nach seinem Tod in deutscher Sprache bekanntgewordene Bemerkung Bubers über Franz Rosenzweig anzuschließen, die mir für jeden der beiden Freunde charakteristischer zu sein scheint, als man auf den ersten Blick meinen möchte: „Der Macht seines Glaubens war in seiner Seele die Macht des Humors verschwistert; gab ihm jene zu fühlen, dass die Hand, die ihn geschlagen hatte, ihn hegte, so liess ihn diese in der Luft wie auf festem Boden stehen. Von ihm habe ich die Lehre meines Lebens zu Ende gelernt, dass Glaube ohne Humor furchtbar, Humor ohne Glaube gehaltlos ist, beide miteinander aber es zustandebringen, uns die Pein ertragen zu lassen, die zu tragen ist.“201

200  Wiederum Bergman (Anm. 72) II, 99. Dort weiter unten: Ich habe den Vortrag von Buber eröffnet mit den Worten, er habe uns zum Gott Israels zurückgeführt, und das ist natürlich in der Universität, wo man nur als Wissenschaftler sprechen darf, ein ungewöhnliches Wort.“ 201  MBW XIV, 181. Vgl. dazu W. Kraft, Gespräche mit Martin Buber (1966) 93.

Ludwig Köhler 1880–1956

Dass der Alttestamentler sich für die Arbeit seines praktisch-theologischen Kollegen interessiert (und umgekehrt), sollte selbstverständlich sein. Dass beide dieselbe Person sind, ist eine seltene Ausnahme. Sie gewann Gestalt in dem Zürcher Professor Ludwig Köhler1, der als Alttestamentler Weltruf genoss und als Praktischer Theologe zumindest in seinem engeren geographischen Umkreis viel Wirkung hatte2. In diesen Umkreis wurde er nicht hineingeboren. „Ein Schweizer wird Schweizer“ hat er seine Jugenderinnerungen tituliert, ein fesselnd geschriebenes Buch, das zwei Auflagen erlebte3. Endgültig und ganz ein Schweizer wurde er erst mit 24 Jahren. Bis dahin war er eher ein Deutscher. Sein Vater, ein Kanzleibote und Versicherungsagent in Neuwied am Rhein zu Füßen des Westerwaldes, hatte in dritter Ehe eine Schaffhauserin geheiratet, die Ludwigs Mutter war und ihr einziges Kind nach dem frühen Tod des Mannes (1884) unter materiellen Entbehrungen großzog. Das geschah in Neuwied, aber Mutter und Sohn hatten in Erinnerung und Hoffnung immer die Schweiz vor Augen. Die Mutter muss den Sohn sehr geprägt haben. Bei ihr lagen stets zwei Bücher griffbereit, die Bibel und Heinrich Heines „Buch der Lieder“. „Aus der Bibel zog sie ihren Trost und ihren Glauben, auch ihren starken Trotz gegen alle Widerwärtigkeiten des Lebens. Aus Heine zog sie ihren leisen Zweifel und ihren unbekümmerten Spott gegenüber so vielem in der Welt, das groß und mächtig daherkommt und den Menschen Eindruck machen will und ist doch hohl und ohnmächtig. […] Daneben las sie auch sonst viel, ja alles, was ihr unter die Hand kam, und ich habe das von ihr geerbt, daß ich nichts Gedrucktes sehen kann, ohne es lesen zu wollen.“4 Die Mutter behauptete, der Sohn habe den Robinson Crusoe über tausendmal gelesen, wozu er bemerkte: „fünfhundert davon mö1  Er schrieb seinen Namen ohne feste Regel teils Köhler, teils Koehler. 2  Es ist aber kaum Zufall, dass ihn der Praktische Theologe Manfred Josuttis nicht als Praktischen Theologen, sondern als Alttestamentler zitiert (Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, 21980, 117f.; Der Weg ins Leben, 1991, 7260). 3  Erschienen o.J. (um 1945). Zur Biographie vgl. auch K. Engelken, BBKL IV, 246–55 (mit Bibliographie). 4  Ein Schweizer 62.

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gen übertrieben sein“5. Er lernte spielend leicht, brauchte also nicht im normalen Sinn fleißig zu sein und stellte sich daher andere Aufgaben: mit siebzehn Jahren kannte er das Matthäusevangelium griechisch auswendig, hatte die Aeneis übersetzt, las laut für sich die in der Schule mühsam durchgeackerten Reden des Cicero und kannte die deutschen Klassiker weit über das Schulpensum hinaus6. Eins seiner größten Talente entfaltete er in Privatstunden, mit und ohne Bezahlung: „was habe ich je lieber getan, als einem andern etwas beizubringen?“7 Er half Mitschülern beim Aufsatzschreiben und diktierte zwei Freunden den gleichen Aufsatz in zwei Fassungen in die Feder8. Ein Lehrer nannte ihn ein „gottgesegnetes Faultier“9. Die Gabe schneller Auffassung und Darstellung verführte ihn nicht selten zur Flüchtigkeit, von der er später bekannte, sie habe ihm „bis in die Studentenjahre hinein und selbst darüber hinaus viel zu schaffen gemacht“10. Am Gymnasium kritisierte er, dass die Lehrer zu wenig aus den Schülern gemacht, ihnen kaum Anregung gegeben, sie nicht genügend gefordert hätten. „[…] ich lag als ungeschliffener Edelstein, wenn ich so sagen darf, am Wege und keiner dachte daran, mich auch nur anzuschleifen.“11 Besonders vermisste er politische Schulung; von 1848 sei nie die Rede gewesen12. Bei einem sozialdemokratischen Hausgenossen las er heimlich die Kölnische Volkszeitung und Mehrings Geschichte des Sozialismus. Wäre er in Deutschland geblieben, so meinte er später, hätte er sich „in die Reihe der Sozialisten gestellt“. Bei alledem war er aber auch für die Stärken des damaligen Gymnasiums nicht blind. Es habe „eine rechte Schulung in den Grundlagen des für das Studium nötigen Wissens und eine gute allgemeine Bildung“ gegeben. Besonders dankbar war er für den Unterricht in der deutschen Sprache, aber auch in den Fremdsprachen Französisch, Latein und Griechisch; das Englische fehlte13. Während seine Mutter ihn bei der Eisenbahn zu sehen wünschte, wollte er selbst zuerst Konditor werden, dann – damals noch ziemlich modern – Elektriker und schließlich Missionar. Schon drei Brüder der Mutter hatten diese letzte Absicht gehabt und sie nicht ausführen können. Ihm selbst erging es ebenso. Er hätte die Mutter mitnehmen oder zurücklassen müssen, und beides war unmöglich. So wurde er Pfarrer. Er nannte es „das Erbe meiner Väter“ und seiner „inneren Neigung“ entsprechend, „in einem Kreis von Leuten zu stehen, denen

5  Ebd. 78. 6  Ebd. 93. 7  Ebd. 208. 8  Ebd. 99. 9  Ebd. 109. 10  Ebd. 92, vgl. 60. 11  Ebd. 104. 12  Ebd. 105f. 13  Ebd. 108f.

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ich zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zur Erlösung, zur Freude und zu gütiger Gestaltung ihres Lebens helfen könne“14. Von früher Kindheit an hatte er in einer festen Frömmigkeit gelebt, die durch Bibel und Gebet bestimmt war. „Es gibt in meinem Leben keinen Tag, an dem mich der Segen des Buches der Bücher nicht angerührt hätte.“ Wäre das abendliche Gebet einmal unterblieben, dann wäre er sich als Kind „wie ungewaschen vorgekommen. Später habe ich, außer dem Tischgebet, das regelmäßige Beten mit Händefalten und besonderer Anrede und dem Amen am Schluß langsam aufgegeben, aber nicht, weil ich aus dem Beten, das ist dem Reden mit Gott, herausgefallen wäre. Vielmehr ist es mir aus einer Handlung, die man zu bestimmten Zeiten des Tages und aus besonderm Anlaß vornimmt, zu einem Zustand geworden, in dem ich zu verharren trachte, so gut es nur geht. Das ist ja wohl mit dem Wort ‚Betet ohne Unterlaß‘ gemeint.“ Der Religionsunterricht in der Schule beeindruckte ihn wenig, von der Religionspädagogik, wenigstens der damaligen, sprach er mit Verachtung15. Ebenso hinterließ die Konfirmation keine tieferen Spuren, aber nicht, weil sie „leicht genommen worden wäre“, sondern „weil zu viel von ihr geredet wurde und ich ein besonders tiefes Erlebnis erwartete, das aber nicht kam“. Nach der Konfirmation trugen die Mädchen keine kurzen Röcke mehr, die Jungen keine kurzen Hosen (Ludwig Köhler tat es doch, und zwar besonders gern); sie wurden mit Fräulein, Herr und Sie angeredet und gingen, die Jungen wenigstens, sonntags nach der Kirche zum Frühschoppen ins Wirtshaus. Auch hier machte Ludwig Köhler nicht mit. Bald verzichtete er überhaupt auf den Alkohol, um es desto mehr mit dem Wasser zu halten: „Ich trinke jeden Tag ein paar Glas voll von nassem Wasser und stürze mich auch jetzt noch gern mit einem Kopfsprung in den See“16. Er war zeitlebens dankbar für einen „gesunden, geschmeidigen und zähen Leib“17. Noch im Alter versetzte er Studenten, die ihn begleiteten, durch Schnelligkeit und Ausdauer beim Wandern in Schrecken und Bewunderung. Oft wird berichtet, er habe auf Strümpfe verzichtet und die Schuhe an den bloßen Füßen getragen. Er empfahl, jede Woche einen Tag lang nichts zu essen, und hielt sich gewiss selbst daran18. Zu seinen Eigenschaften gehörte eine nicht alltägliche innere Freiheit, die sich auch im Verzicht gebildet und bewährt hatte: „es hat mir nie große Beschwerden gemacht, in den Apfel, der nicht für mich bestimmt war, nicht beißen zu dürfen“19. Er fand es ganz in Ordnung, dass er keinen Grund und Boden besaß: „Ist nicht die ganze

14  Ebd. 175f., vgl. 23. 15  Ebd. 139. 16  Ebd. 12.146–52. 17  Ebd. 145. 18  Vgl. Wahres Leben (51964) 277. 19  Ein Schweizer 159.

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Erde Gottes, ihm allein? Muß nicht, auch wer ganz fest auf seiner Scholle sitzt, zuletzt doch weiter und kann nicht bleiben?“20 Eine wichtige Vorbereitung auf den Beruf des Pfarrers war eine Tätigkeit, die er bald nach seiner Konfirmation unverhofft übernahm. Einer seiner älteren Stiefbrüder kam und erzählte, ihr Vater habe „all die Jahre seines Lebens in Neuwied einen wechselnden Kreis von kleinen Leuten um sich gehabt, die mit ihren Anliegen zu ihm gekommen seien, Geld, um diesen Leutchen zu helfen, habe unser Vater wohl selten gehabt, aber dafür etwas, das recht betrachtet und gewertet, viel kostbarer sei als Geld, nämlich selbstlosen Rat, herzliche Aufmerksamkeit und gute Dienste im Schreiben von allerlei Briefen, Gesuchen, Beschwerden und sonstigen Schriftstücken“. Er habe diese Aufgabe nach dem Tod des Vaters recht und schlecht versehen und gebe sie nun an den frisch konfirmierten Bruder weiter. Dieser fand später, damals sei die Entscheidung über sein Leben gefallen. Jung wie er war, half er den „Leutchen“, und der künftige Seelsorger hatte seinerseits bis in handfest Praktisches hinein Gewinn davon: „ich habe bei all den Briefen, die ich schrieb, an Klarheit, Raschheit, Vertrautheit mit den Briefformen, Gewandtheit in geschäftlichen Dingen, Einblick in die Zusammenhänge des Lebens vieles gewonnen, was auf eine andere Weise nicht in meinen Besitz gekommen wäre“21. Die Mutter impfte ihm auch „Freude an der Kirche“ ein, allerdings ohne „Kirchenenge“. Mutter und Sohn, und später der Sohn allein, kehrten gern ein, wo sie „fromme Lieder singen hörten, wo gebetet und gepredigt wurde“, „ohne lange zu fragen, wie die Leute sich nennen und was im einzelnen sie lehren oder nicht lehren“. Am liebsten waren sie bei den Herrnhutern, denen Ludwig Köhler seinen „Abscheu vor aller Feierlichkeit und allem kirchlichen Getue“ verdankte; er ging „Feierlichkeiten immer gern aus dem Wege“ und lachte über den „Eifer, den andre darauf wendeten“22. Sein größtes geistliches Erlebnis in jenen Jahren waren Evangelisationen von Elias Schrenk („Er hat mein Herz festgemacht und mich auf die rechte Bahn gezogen“), als Buch wirkte auf ihn „wie kaum mehr ein anderes“ das „Glück“ von Carl Hilty23. Bevor er Schweizer und Theologe werden konnte, musste er noch seine deutsche Militärpflicht erfüllen. Er tat das in Freiburg im Breisgau, also schon an der Schwelle zur Schweiz, und brachte es als „Einjährig-Freiwilliger“ bis zum Unteroffizier; nebenher studierte er ein wenig an der Universität. Natürlich fand er das Exerzieren „öde und langweilig und immer dasselbe“24, aber insgesamt buchte er dieses Jahr als Gewinn – nicht, wie manche zeitweiligen Soldaten, weil es ihn „mit allerlei Leuten von anderer Art“ zusammenbrachte (das hatte er nicht mehr nötig), sondern weil es ihn „körperlich tüchtig“ machte und ihm „für al20  Ebd. 196. 21  Ebd. 154–56. 22  Ebd. 178f.146. 23  Ebd. 180f. 24  Ebd. 216.

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lezeit das Bewußtsein“ gab, „daß der Mensch, wenn er will, weithin seinen Leib in seiner Gewalt haben kann“, und dann, weil es ihm ein weiteres Stück „innere Freiheit“ brachte; er sei (man glaubt es kaum) von Natur schüchtern gewesen, aber die „Nötigung zu handeln, das Wissen, daß jetzt ein Befehl zu geben sei, dann die Erfahrung, daß es gegangen und nicht einmal schlecht gegangen sei“, habe ihn seine Schüchternheit „vergessen und überwinden“ lassen. „Ohne meinen Militärdienst würde ich nie den Mut gefunden haben, auf einer Kanzel zu stehen.“25 Und nicht zu vergessen, was man ebenfalls oft hören kann: „Als Soldat habe ich meine große Begabung zum Schlafen ausgebildet, mit der ich noch jetzt jede Nacht meine zehn Stunden Schlaf bewältige. Dafür bin ich aber auch wach, wenn ich wach bin.“26 1900, zwanzigjährig, konnte er in die Schweiz gehen und, in Zürich, Theologie studieren. Das erste Examen bestand er 1903 mit der ganz seltenen Note „Ia“, das zweite, an das sich die Ordination anschloss, 1904. Er pflegte früh aufzustehen und anhaltend zu arbeiten. „Die Theologie, das heißt das, was mir die Universität bot, füllte, da ich leicht lernte und meine leidenschaftliche Beteiligung mich einmal Gehörtes kaum vergessen ließ, meine Zeit nicht ganz aus.“27 So gab er Privatstunden (von deren Ertrag er Bücher kaufte), bestieg Berge und trieb Arabisch, Syrisch und Samaritanisch. In seiner Verwandtschaft galten die Zürcher Theologieprofessoren als „ungläubig“, und man riet ihm, statt der Universität die Predigerschule in Basel zu besuchen. Aber ihn reizte es, diesen Unglauben kennenzulernen, „um ihn dann zu überwinden“. Es kam sehr schnell anders, indem er im ersten Semester Paul Wilhelm Schmiedels Vorlesungen über die Synoptiker und das Leben Jesu hörte. Schmiedel legte den Studenten gleich zu Anfang „die großen kritischen und tief einschneidenden Fragen dar, um die es gehen werde, und verhehlte nicht, daß er zu von dem Üblichen abweichenden Ergebnissen kommen werde. Er zeigte uns auch, wie wir selber an der Entscheidung dieser Fragen mitarbeiten könnten, und forderte uns auf, nichts von seinen Behauptungen anzunehmen, wenn es nicht einleuchtende Gründe seien, denen wir uns beugten.“ Das beeindruckte Ludwig Köhler tief. Es ging also nicht einfach darum, Theologie zu studieren, um Pfarrer zu werden, sondern es ging um die Wahrheit. In Schmiedels erster Vorlesungsstunde wurde ihm „die theologische Forschung zur Leidenschaft“. „In jener Stunde habe ich mich gefunden und bin geworden, was ich, solange ich lebe, nie aufhören werde zu sein: Theologe, nichts als Theologe.“ Das hieß aber für ihn schon bald: liberaler Theologe. Trotz aller anfänglichen Gegenwehr zerschlug ihm Schmiedels Bibelkritik die herkömmliche Kirchenlehre, erschloss ihm aber einen Jesus, der „gerade in seiner Schlichtheit und Menschlichkeit von überwältigender Größe war“28. 25  Ebd. 197f. 26  Ebd. 220. 27  Ebd. 239. 28  Ebd. 238f.

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Schmiedel (1851–1935) war sein wichtigster Lehrer, aber nicht der einzige. Die Zürcher Fakultät bestand damals aus sieben Professoren, drei Privatdozenten und zehn Studenten. Da war es unumgänglich, dass die Studenten den Professoren nahetraten, zumal wenn sie so interessiert waren wie Ludwig Köhler. So hatte er eigentlich zu allen ein besonderes Verhältnis: zu dem liberalen Dogmatiker Christ und seinem „positiven“ Kollegen Schultheß, dem Neutestamentler Kesselring, dem Alttestamentler und Religionshistoriker und zugleich Peterspfarrer Furrer, dem Alttestamentler und Orientalisten Ryssel und dem Kirchenhistoriker Egli. Aber mit Schmiedel kam es zu einer richtigen Arbeitsgemeinschaft, die auch dazu führte, dass Köhler kleine Beiträge zu Nestles Novum Testamentum Graece (wie später zu Kittels Biblia Hebraica) lieferte und kühnere wissenschaftliche Pläne schmiedete. Er wollte in der Philosophie mit einer Dissertation über syrische Lexikographie, in der Theologie mit einer Arbeit über die Septuaginta promovieren und sich dann mit einer Untersuchung über den Kolosserbrief habilitieren29. Zunächst wurde er aber (1904) Pfarrer im hochgelegenen Aeugst am Albis. Er sei dort, sagte er später, glücklich gewesen, fast wie im Paradies30. Nach allen Zeugnissen, nicht zuletzt seinem eigenen, war er mit Leib und Seele Pfarrer. Soweit man für diesen Beruf begabt und auf ihn vorbereitet sein kann, war er das, und er betrieb ihn mit Lust und Schwung. Nebenbei widmete er sich einer scheinbar trockenen philologischen Arbeit, nämlich dem Vergleich zwischen dem hebräischen und dem griechischen Text der ersten neun Kapitel des Buches Jeremia, in dem die Septuaginta ungewöhnlich stark von dem uns vorliegenden hebräischen Text abweicht. Die Untersuchung, im Druck 39 Seiten lang31, gruppiert das Material einfach und praktisch, lässt Unergiebiges beiseite und langweilt den Leser keinen Augenblick. Noch der heutige Fachmann nennt sie vorbildlich, obwohl die griechische Textgrundlage (vor dem Erscheinen der Ausgaben von Rahlfs und Ziegler) noch schwach ist und das Problem der christlichen Rezensionen fast ganz ausgeklammert bleibt32. Die Zürcher Philosophische Fakultät akzeptierte die Arbeit auf Antrag von Jakob Hausheer (1865–1943) als Dissertation und promovierte Köhler 1908. Im gleichen Jahr wurde er als Nachfolger von Konrad Furrer (1838–1908) zum zunächst nebenamtlichen außerordentlichen Professor für das Alte Testament und dessen Hilfswissenschaften an die theologische Fakultät berufen. Um Zürich näher zu sein, wechselte er 1910 in das Pfarramt von Langnau im Sihltal, 1916 siedelte er, inzwischen verheiratet, nach Zürich selbst über. Er war nunmehr vollamtlicher Extraordinarius und wurde 1923 Ordinarius. Seit 1916 oblag ihm auch die Einführung der Lehramtskandidaten in die Religionsgeschichte der Bibel, und 1923 gab es zeitweise Gedanken, ihm außerdem „ – in der Nachfolge Schmiedels – das Neue 29  Ebd 252f. 30  Ebd. 260. 31  ZAW 29 (1909) 1–39. 32  R. Hanhart mündlich.

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Testament oder die Praktische Theologie zu übertragen“; doch sie wurden verworfen. Erst 1932, „als sich abzeichnete, daß in der Nachfolge A. Meyers auf den neutestamentlichen Lehrstuhl – in der Person von W.G. Kümmel – ein Ausländer berufen werden sollte, übernahm Köhler dann doch die bisher von Meyer nebenbei vertretene Praktische Theologie. Für diesen zusätzlichen Auftrag war Köhler zweifellos der geeignete Mann.“33 Geeignet wäre er auch für das Neue Testament gewesen. Sein jüngerer Freund Walter Baumgartner berichtete später, „größere Neigung“ hätte Köhler wohl nach der neutestamentlichen Seite gezogen; den Ausschlag für das Alte Testament habe erst die Berufung von 1908 gegeben34. Köhlers zweite größere Veröffentlichung, aus einer Preisarbeit des Studenten hervorgegangen, betraf die synoptischen Evangelien35. Wie er später feststellte, war er damals mit Beobachtungen über das „sofort“ (εὐϑύς), mit dem Markus seine Perikopen verknüpft, kurz davor, Karl Ludwig Schmidts „Rahmen der Geschichte Jesu“ (1919) vorauszunehmen36. Als die Formgeschichte dann in ihrer Ausbildung durch Dibelius, Schmidt und Bultmann da war, bejahte er sie, auch auf dem Hintergrund von Gunkels bahnbrechender Arbeit am Alten Testament, in vieler Hinsicht, fand dort aber das geschichtliche Element zu kurz gekommen. „Das ist echt formgeschichtlich: man reduziert eine Erzählung aus ihrer vollen individuellen Entfaltung auf ein Motiv und stellt sie mit andern ebenso auf dasselbe Motiv reduzierten zusammen. Sie sind dann gegenseitig Varianten, und das Verdikt lautet: daß solche Motivgeschichten ungeschichtlich sind.“37 Dies und ähnliches könne durchaus berechtigt sein, müsse es aber nicht. Der „Rohstoff“ für die Synoptiker seien „nicht literarische Motive, sondern geschichtliche Erinnerungen“; darum sei „die Formung der Überlieferung nicht eine freie nach reinen literarischen Gattungen und ihren Gesetzen, sondern eine durch den Widerstand, welchen die Erinnerungsstücke den Formen entgegensetzen, gebundene“, und darum müsse „neben die formgeschichtliche, also literarkritische die sachkritische und die geschichtliche Untersuchung treten“; beide seien „bei Dibelius und Bultmann in verhängnisvoller Weise vernachlässigt“38. Für Köhler stand bei diesem zunächst nur methodologisch anmutenden Problem auch theologisch Entscheidendes auf dem Spiel. Er begriff nicht die Gleichgültigkeit, mit der einige seiner Vorgänger der Frage nach der Geschichtlichkeit Jesu gegenüberstanden – mindestens so sehr wie Bultmann sein eigener Lehrer Schmie33  H.H. Schmid, in: Die Universität Zürich 1933–1983. Festschrift zur 150-Jahr-Feier, hg. vom Rektorat der Universität Zürich (1983) 244f. 34  SThU 20 (1950) 54. 35  Sind die aus den drei ersten Evangelien zu erhebenden religiös-sittlichen Ideen Jesu durch den Glauben an die Nähe des Weltendes beeinflusst? SThZ 23 (1906) 77–93.161–88.257– 93. Die Frage war natürlich durch Albert Schweitzer veranlasst. 36  Das formgeschichtliche Problem des Neuen Testaments (1927) 23. 37  Ebd. 19. 38  Ebd. 34f.

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del mit dem damals vieldiskutierten Satz: „Meinem innersten religiösen Besitz würde kein Schaden geschehen, wenn ich mich heute überzeugen müßte, daß Jesus garnicht gelebt habe.“39 So vergaß Köhler nie das Neue Testament über dem Alten und hatte Grund, in dem jährlich erscheinenden Lexikon „Wer ist’s?“ als sein „Spezialgebiet“ regelmäßig anzugeben: „A. und N.T.“ Er äußerte sich immer wieder über Neutestamentliches, steuerte noch 1955 zu Albert Schweitzers 80. Geburtstag „Eine Handvoll Neues Testament“ bei40, und sein letztes, postum erschienenes Buch war eine für weitere Kreise bestimmte Auslegung des Markusevangeliums41. Jenes Lexikon wollte auch wissen, ob man etwas sammelte. Hier nannte Köhler: „Bilder zum A.T.“ Er interessierte sich mehr als allzu viele seiner theologischen Fachkollegen für das Sichtbare und Anschauliche, das Konkrete, die „Realien“. Der Vorsprung, den in dieser Hinsicht das Alte Testament vor dem Neuen hat, machte es ihm leicht und verlockend, vor allem Alttestamentler zu sein. Er stellte seine überaus vielseitige Arbeit auf diesem Feld frühzeitig unter ein einziges Stichwort, das, bei einem Theologen überraschend, „hebräische Kultur“ hieß, und entwarf für die alttestamentliche Wissenschaft insgesamt das Programm einer „Darstellung der Kultur der Hebräer“42. Es war und ist üblich, in der Theologie des Alten Testaments die „Krone der alttestamentlichen Wissenschaft“ zu sehen. Dagegen wandte Köhler ein – und berief sich auf Jacob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte –, dass das Höchste nicht das Ganze sein muss. Zudem sei die alttestamentliche Theologie eine Analogiebildung zur neutestamentlichen Theologie bei einem dafür schon deshalb noch weniger geeigneten Gegenstand, weil das Alte Testament anders als das Neue in einer bestimmten Kulturgemeinschaft entstanden und aus ihr heraus zu verstehen sei. Die vorhandenen Darstellungen der altisraelitischen Kultur, meist unter dem Titel „Archäologie“, genügten Köhler nicht, weil sie „keine Gesamtanschauung vom Leben und von der Leistung der Hebräer“ geben. Für ihn war die hebräische Kultur „die Gesamtheit aller Lebensäußerungen der hebräischen Gemeinschaft, die, auf dem Boden Palästinas lebend, nach Rasse, Sprache und Religion, um nur diese drei Bindemittel zu nennen, sich abhebt von der übrigen Menschheit“. Er sah vier Teile vor: Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft, Geist. Walter Baumgartner glaubte zu wissen, dass der Freund sich die Ausführung des großen Planes selber vorgenommen hatte, ja dass das Manuskript einer solchen hebräischen Kulturgeschichte schon lange in seinem Schreibtisch ruhte43. Leider traf mindestens das letztere nicht zu. Köhler war sich über die Schwierigkeiten des Vorhabens durchaus im klaren, regte zunächst „grundlegende Untersuchungen“ an und verwies für die Darstellung auf einen künftigen „Meis39  Ebd. 17. 40  Ehrfurcht vor dem Leben. Eine Freundesgabe (1955) 71–81. 41  Markusevangelium, übersetzt und erklärt (1957, 21958). 42  PrM 21 (1917) 135–46. 43  Vgl. SThU 20 (1950) 56.

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ter“44. Er selbst hat nur zwei Teile des gedachten Ganzen publiziert, den einen als Skizze, den anderen als lehrbuchmäßigen Grundriss. Die Skizze, 1952 in zehn Tübinger Gastvorlesungen vorgetragen, heißt „Der hebräische Mensch“ und behandelt vier Gegenstände: das leibliche Bild des Hebräers, sein leibliches Ergehen, seinen Lebenslauf und sein geistiges Bild45. Der Grundriss, 1936 erschienen, ist eine knapp und präzis gearbeitete Theologie des Alten Testaments, die in der Gesamtdarstellung der „Kultur“ im vierten Teil ihren Platz haben sollte, wo als Schluss des Ganzen vorgesehen war: „die Religion der Hebräer, ihre Geschichte, ihre großen Epochen, ihre Selbständigkeit wie ihre Abhängigkeit, ihr Gehalt an Frömmigkeit für das Volksganze wie für den Einzelnen, ihr theologisches System und ihre bleibende Bedeutung“46. Von einem liberalen Theologen hätte man erwartet, dass er sich unter diesen Themen als einzelnes am ehesten das geschichtliche ausgesucht hätte, aber Köhler fiel auch hier mit Lust aus dem Rahmen und wählte das „theologische System“, allerdings in einer seiner eigenen Theologie eher gemäßen lockeren Form, nämlich nach der Definition des Vorworts als „eine durch ihren Inhalt gerechtfertigte, in den richtigen Zusammenhang gebrachte Zusammenstellung derjenigen Anschauungen, Gedanken und Begriffe des AT […], welche theologisch erheblich sind oder es sein können“47. Er gliederte in Theologie, Anthropologie und Soteriologie und empfand nur an einer Stelle Schwierigkeiten, beim Kultus. Ihn in die Soteriologie einzuordnen, widerstrebte ihm, weil er nicht göttliches Heilschaffen sei; so stellte er ihn mit der Überschrift „Die Selbsterlösung der Menschen“ an den Schluss der Anthropologie. Ein britischer Kollege konstatierte trocken: „Köhler seems to be unaffected by the modern tendency to rehabilitate the cult.“48 In der Tat, diese vor allem durch den Namen S. Mowinckel bezeichnete Tendenz, der damals die nähere Zukunft gehören sollte, konnte auf den Liberalen und Wellhausen-Anhänger Köhler nicht rechnen. Dem nach Köhlers Definition von Theologie des Alten Testaments besonders wichtigen Register hebräischer Wörter am Schluss des Buches ist in den späteren Auflagen der Hinweis vorangestellt: „Zur Herleitung und Bedeutungsentfaltung dieser Wörter vergleiche Lexicon in Veteris Testamenti libros edidit L. Koehler, Leiden, 1948–53.“ Dieses Lexikon war Köhlers eigentliches Lebenswerk und sein aufwendigster Beitrag zur Erforschung der hebräischen Kultur. Noch bevor er sein Programm für deren Darstellung fixierte, schrieb er die Sätze: „Die Kultur der Hebräer […] ist das Endziel aller alttestamentlichen Wörterbuchschreibung. Alle Philologie steht im Dienste kulturgeschichtlicher Forschung oder ist

44  PrM 21 (1917) 146. 45  1921 war vorangegangen: Der Tageslauf des Hebräers (PrM 25, 233–42). 46  PrM 21 (1917) 146. 47  Theologie des Alten Testaments (31953) V. 48  N.W. Porteous in: H.H. Rowley (ed.), The Old Testament and Modern Study (1951) 330.

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vielmehr kulturgeschichtliche Forschung, und nur wo das Wörterbuch für diese Forschung alles leistet, was sich leisten läßt, ist es in seiner Art vollkommen.“49 1910 hatte Rudolf Kittel aus Anlass der neuesten Ausgabe des Gesenius-Buhl Betrachtungen über die Notwendigkeit eines neuen Lexikons angestellt50. Davon angeregt äußerte sich Köhler 1912 „Zur Weiterführung des alttestamentlichen Wörterbuches“ und variierte das Gesagte 1914, beidemale51 in einer Verknüpfung des Grundsätzlichen mit zahlreichen Einzelbeispielen, die er für alles immer auf Lager hatte und ständig vermehrte. Seine Hauptforderungen: Reduktion sprachwissenschaftlicher Theorien (unbeschadet weiterer, ja vermehrter Heranziehung der verwandten Sprachen), Erarbeitung des Wörterbuchs vom Hebräischen aus, Einbeziehung der (hierfür systematisch gesammelten und bewerteten) Konjekturen sowie der Realien (im Sinne des aus der Romanistik übernommenen Schlagworts von „Wörtern und Sachen“). Das Ideal ist für alle Wörter „ihre völlige Aufnahme nach Vorkommen, Zugehörigkeit zu literarischen Schichten und Zeiten, nach Bedeutung und nach Verschiedenheit von den Synonymen, nach ihrer Verwendung in Redensarten und ähnlichen Geַ konnte Köhler sichtspunkten“52. An einem ausgesuchten Einzelbeispiel (‫)מ ֲע ָלל‬ das einleuchtend durchführen53, aber am Ganzen? Offenkundig zielte Wilhelm Caspari (1876–1947) auf ihn, als er 1913 ärgerlich bemerkte, „daß nicht die Vorlegung einiger mehr oder minder glücklich gewählter Proben, unterstützt durch einige kritische Streiflichter auf das bisher in Wörterbüchern geleistete, genügt, um für ein neues Wörterbuch Stimmung zu machen, und ihre Veranstalter als Bearbeiter eines solchen zu legitimieren“54. Köhler versicherte, er habe kein Wörterbuch zu schreiben – „Caspari möge ganz ruhig sein“55. Daran war richtig, dass man ihn noch nicht gebeten hatte. Er hat aber 1953 von „rund vierzigjähriger Arbeit“ an seinem Lexikon gesprochen, übrigens auch davon, dass ihm in jungen Jahren sogar eine Erneuerung des großen Geseniusschen Thesaurus im Alleingang vorgeschwebt habe56. In den zwanziger Jahren fragte Heinrich Zimmern (1862–1931) in Leipzig, Mitverfasser des Gesenius-Buhl, bei Walter Baumgartner an, ob er das Werk neu bearbeiten wolle. Baumgartner, dem diese Aufgabe „damals nicht lag“57, sagte nein und nannte Köhler, der aufs beste vorbereitet war und sich nach Regelung der Formalitäten sofort mit Eifer an die Ausarbeitung machte. Dass der Leiter des Verlags Vogel 49  ZAW 32 (1912) 14. 50  ThLBl 31 (1910) 102f. 51  ZAW 32 (1912) 1–16; Zum hebräischen Wörterbuch des Alten Testaments, Festschrift Wellhausen (1914) 243–62. 52  Festschrift Wellhausen 256. 53  Ebd. 256–62. 54  OLZ 16 (1913) 337. 55  Festschrift Wellhausen 248. 56  Lexicon IX; OTS 8 (1950) 139. Dort 137: „rund dreißig Jahre geduldiger Mönchsarbeit“ bis 1942. 57  So hat er es mir um 1960 erzählt. Danach auch das Folgende.

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im Dritten Reich vom Vertrag zurücktrat, konnte ihn nicht bremsen, und am 7. Februar 1942 setzte er ein „Soli Deo Gloria!“ unter das fertige Manuskript. Gedruckt wurde es erst Jahre später, durch Vermittlung von P.A.H. de Boer (1910– 89) bei E.J. Brill in Leiden, wobei noch die Bedingung zu erfüllen war, dass den deutschen Übersetzungen jeweils auch englische beigegeben werden mussten. Den selbständigen biblisch-aramäischen Teil besorgte Baumgartner. Köhler nannte diesen Teil ein von ihm selbst „nicht erreichtes Vorbild der Sorgfalt, Genauigkeit und Vollständigkeit“58. Diese Wertung traf leider ins Schwarze und fand mehr Beifall, als Köhler lieb sein konnte. Auch Baumgartner selbst äußerte sich im kleinen Kreis sehr kritisch über das Werk seines genialischen Freundes, der „nicht der Mann war, Zeitschriften und Glossare zu exzerpieren“, und dem damit eine Grundvoraussetzung lexikographischer Arbeit abging. Ihm selbst fiel schon nach kurzer Zeit die Aufgabe zu, es besser zu machen59. Mag Köhlers Lexikon also in die Gesamtgeschichte der hebräischen Lexikographie als eine Episode eingehen, so doch als eine interessante Episode, repräsentiert durch einen ideenreichen Forscher, dem es darauf ankam, wo immer möglich „die Dinge auf die Füße zu stellen“, also sinnliche, anschauliche Grundbedeutungen zu ermitteln, die Wörter verständlich zu machen, die Sprache in ihrer Lebendigkeit erstehen zu lassen. Besser als im Lexikon liest sich das allerdings in Köhlers zahlreichen kleinen Aufsätzen zu einzelnen Vokabeln: wenn er also das Verbum für „vertrauen“ (‫ )בטח‬mit dem Substantiv für „Wassermelonen“ (‫)א ַב ִּט ִחים‬ ֲ in Verbindung bringt (man vertraut auf etwas Pralles, Festes)60 oder die „Unterwelt“ ‫)(ׁשאֹול‬ ְ mit „verwüstet sein“ (‫)ׁשאה‬61, oder wenn er, oft im Austausch mit seinem Zürcher orientalistischen Kollegen J. J. Heß (1866–1849), Pflanzen und Tiere des Alten Testaments bestimmte, meist exakt nach Linné62. Längst nicht alles hat man ihm geglaubt, aber es ist auch längst nicht alles so schwach wie die Herleitung des Namens für den Floh von der Farbe „grau“63. Besonders stolz war er darauf, beim Wandern in Italien den „Stab des Brotes“ (Lev 26,26 u.ö.) entdeckt zu haben64. Ein Entdecker ist er überhaupt gewesen und einer, der Freude hatte, seine Entdeckungen mitzuteilen – in beidem unter seinen Generationsgenossen am nächsten Hugo Greßmann verwandt, mit dem ihn besondere Sympathie verband65. Beide waren große Experimentierer, beide mit wechselndem Erfolg. Von Köhlers Entdeckungen ist schon die erste, die er publiziert hat, nämlich die These, indem Noomi den Sohn der Ruth an ihren 58  Lexicon X. 59  S.u. 725. 60  ZAW 55 (1937) 172f.; OTS 8 (1950) 144f. 61  ThZ 2 (1946) 71–74; OTS 8 (1950) 153. 62  Vgl. die Liste Supplementum (1958) 119f. 63  ThZ 2 (1946) 469f. 64  Kleine Lichter (1945) 25–27; OTS 8 (1950) 146f. 65  Vgl. die Widmungen in Greßmanns „Anfängen Israels“ (1922) und Köhlers „Formgeschichtlichem Problem des Neuen Testaments“ (1927).

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Busen nehme (Ruth 4,16), vollziehe sie einen Rechtsakt der Adoption, wodurch die Zentralfigur des Büchleins nicht Ruth, sondern eher Noomi wäre66, nur sehr teilweise durchgedrungen, und anderen ist es nicht besser ergangen, aber manche gehören zum eisernen Bestand des Examenswissens, so der Botenspruch67, die hebräische Rechtsgemeinde68 und doch wohl auch die Theophanie als genuiner Ort der Formel „Fürchte dich nicht!“69 Seite an Seite mit Greßmann stand Köhler auch als liberaler Theologe. Greßmann löste ihn ab im zunächst binnenzürcherischen Streit mit Emil Brunner (1889–1966), der beiden die Sündenfallgeschichte zu „dogmatisch“ verstand70. Karl Barth hätte damals seinen Spruch über den Holzpflock, mit dem man ebenso gut diskutieren könnte, wie auf Greßmann auch auf Köhler münzen können. Köhlers Anhängerschaft, wäre ihr dieses Urteil bekanntgeworden, hätte sich dadurch kaum irritieren lassen. Die Einfachheit und Lebensnähe seiner Aussagen, die Sicherheit und Unbefangenheit seines Auftretens sicherten ihm volle Kirchen, Hör- und Vortragssäle, machten ihn zum begehrten Gesprächspartner und Seelsorger. Geradezu populär war er als „Hugo Ratmich“. Mit diesem Namen unterschrieb er Betrachtungen, die jahrelang in den Sonntagsnummern der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. Sie handelten von Lebensfragen verschiedenster Art: „Weisheit“, „Höflichkeit“, „Frömmigkeit“, „Der Lehrer“, „Genommenes Leben“, „Not der Phantasie“, „Briefe“, „Scheidungen“, „Sommer“. Köhler nannte diese kleinen Aufsätze „ein Stück Aufbau“, „auch ein Stück Lebensdeutung“ für Zeitgenossen, die „nach einem Sinn und Wert ihres Lebens suchen“, für „heimliche Kinder Gottes“, die im Verborgenen „halb voll Angst, halb voll Sehnsucht nach ihm suchen“71. Er veröffentlichte auch ein Seelsorge-Buch, zunächst unter dem Titel „Nöte und Pflege des inneren Lebens. Ein Versuch in Seelsorge“ 72, später als „Wahres Leben“ 73. Das Buch gründet sich, wie das Vorwort betont, „ausschließlich auf eigene Erfahrung“. So liegt sein Hauptwert sicherlich in der Fülle der Beispiele, die es bringt und aufs lebendigste vergegenwärtigt. Aber es bringt sie in einer klaren Ordnung und auf dem Hintergrund eines sicheren Wissens von seelischer Gesundheit. Aus heutiger Perspektive mag das Buch geradezu als vorwissenschaftlich erscheinen. Aber das erleichtert dem Laien die Lektüre, und immerhin fehlt ein Kapitel über Seelsorge und Psychotherapie nicht. Es bespricht 66  ZAW 29 (1909) 312–14. Vgl. schon den Aufsatz des Studenten TThT 1904, 458–72 (mir nicht zugänglich) und später SThZ 37 (1920) 3–14. 67  Deuterojesaja (Jesaja 40–55) stilkritisch untersucht (1923) 102–09. 68  Zürcher Rektoratsrede von 1931, abgedruckt in: Der hebräische Mensch (1953) 143–71. 69  SThZ 36 (1919) 33–39 – übrigens an Greßmann anknüpfend. 70  KBRS 41 (1926) 105f.; ChW 40 (1926) 842–46, beide male mit Fortsetzung durch verschiedene Autoren. S.o. 567f. und den dort genannten Aufsatz von K. Schmid. 71  Auswahlausgabe: Hugo Ratmich, Von Weg und Ziel. Eine Handreichung für heimliche Kinder Gottes. Mit einem Geleitwort von Prof. D. Dr. Ludwig Köhler (1938). Zitate 7f. 72  Zürich 1945. 73  5. Aufl. Witten 1964.

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die damals maßgebliche Literatur, nennt Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse „ein anstrengendes, aber nach Form und Inhalt wirklich klassisches Werk, das bleiben wird, wenn das meiste dieses Schrifttums von der Zeit verweht sein wird“, empfiehlt, von C.G. Jung alles zu lesen, und rät überhaupt zu umfassender Lektüre, „solange der Seelsorger sich nicht von einem Buche gefangen nehmen läßt, sondern seinen kritischen Geist gegenüber allem, was von der einfachen, allerdings beschränkten Einsicht abführen will, wahrt“74. Welches Gewicht die Praktische Theologie für Köhler hatte, bewies er, indem er seine Vorlesungstätigkeit mit einem Kolleg über das Pfarramt abschloss. Fast alle Studenten (inzwischen weit mehr als zehn!) saßen zu seinen Füßen; nur einige fehlten, denen das Ganze zu anekdotisch und zu publikumswirksam aufgezogen war. Ich selbst habe Köhler nur einmal erlebt, bei zwei aufeinanderfolgenden Vorträgen im Sommersemester 1951 in Tübingen. Der erste handelte vom hebräischen Lexikon, der zweite von Psalm 82. An den zweiten schloss sich eine überaus lebhafte Diskussion mit Albrecht Alt an, der, was etwas heißen will, Köhler an wissenschaftlichem und pädagogischem Temperament mindestens ebenbürtig war, den ersten beendete Köhler mit den Worten des Paulus: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“ Er sagte das sehr ernst und sehr natürlich. Man glaubte es ihm.

74  Ebd. 198, 5184.

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Seine Erscheinung fiel schon von weitem auf. Er ging leicht gebeugt und mit gelassenem Schritt, meist eine Fahne von Zigarrenrauch hinter sich herziehend. Die großen dunklen Augen in dem kräftig geschnittenen, im Alter immer mehr verwitterten Gesicht, das gut das eines Bauern hätte sein können, musterten Menschen und Dinge intensiv und genau. Im Gespräch und noch mehr im Vortrag gestikulierte er wie ein Südländer; seine mimischen und stimmlichen Mittel schienen unbegrenzt. Ich fand mich einmal durch einen arabischen Zauberer im Hafen von Alexandria an ihn erinnert, was kaum nur an der Ähnlichkeit im äußeren Gebaren lag: Alts Vortragsweise – auch der Leser, der den persönlichen Eindruck nicht gehabt hat, kann das gelegentlich nachempfinden – hatte mit guter Zauberei eine dramatische Virtuosität gemeinsam, die den Hörer – und Zuschauer! – kaum merken ließ, dass hier die Ergebnisse einer ungewöhnlich entsagungsvollen Arbeit dargeboten wurden. Sein amerikanischer Antipode William Foxwell Albright (1891–1971) hat Alts Wesen mit dem deutschen Wort „Hingabe“ bezeichnet; es ist kein Zufall, dass das Wort auch in den deutschen Nachrufen begegnet1. Ein Kollege aus einer anderen Fakultät sagte von ihm nach längerem Zusammensein nicht ganz ohne Neid: „Der hat sein Thema gefunden.“ Ja, das hatte er, und er gab sich diesem Thema hin, begeistert und asketisch, unter Verzicht auf Ablenkung und Erholung, auf literarische und musikalische Neigungen. „Ich bleibe bei der Biene Maja“, sagte er, und anstelle des früher betriebenen Orgelspiels beschränkte er sich auf regelmäßiges Hören, vor allem der großen Bachschen Oratorien in der Leipziger Thomaskirche – auch dies gewiss mit Hingabe, denn was er tat, tat er ganz. Man hat es wohl mit Recht auf seine fränkische Herkunft zurückgeführt, dass und wie seinem starken Temperament Verschlossenheit und Beherrschtheit die Waage hielten und dass man keineswegs immer wusste, was in ihm vorging2. Es konnte ihm auch Vergnügen machen, seine Zuhörer für einen Augen1  W.F. Albright, JBL 75 (1956) 169; H. Bardtke, WZ(L).GS 5 (1955/56) 3.315; M. Noth, WO II,4 (1957) 306. 2  H. Bardtke, ThLZ 81 (1956) 515.

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blick mit hintergründiger Schläue zum Besten zu haben. Aber ein falsches Spiel trieb er nicht, vielmehr war er in den kleinen und großen Dingen von unbedingter Lauterkeit und Wahrhaftigkeit. Neben der Hingabe nennt Albright als zweites Charakteristikum: Integrität. In vielen Jahren der Freundschaft habe er Alt in allem, was er tat und schrieb, nie anders als gerecht und fair erlebt3. Man kann sich nicht vorstellen, dass er durch irgend etwas korrumpierbar gewesen wäre. Für seine Person war er anspruchslos, Eitelkeit lag ihm fern, auf unbillige Zumutungen reagierte er mit undurchdringlicher Miene. So konnte es auch an seiner politischen Stellung nie Zweifel geben. Das Dritte Reich durchlebte er von Anfang an mit schwerer Sorge und einem Zorn, der sich auch auf dem Katheder in sarkastischen Bemerkungen entlud4. 1934 verwahrte er sich in zwei Veröffentlichungen unmissverständlich gegen antisemitische Benutzung des Alten Testaments5, und 1939 wies er in offenem Gegensatz zu der unter deutschchristlichen Theologen beliebten These, Jesus sei kein Jude gewesen, den ganz überwiegend jüdischen Charakter der galiläischen Bevölkerung nach6. Das erregte einiges Aufsehen und trug ihm Einladungen zu einer ganzen Serie von Vorträgen über dieses Thema ein. 1943 nahm ein pflichtbewusster Volksgenosse „das“, wie sich Alt ausdrückte, „zur Zeit vorgeschriebene Ärgernis“ daran, dass Alt ein „unmäßiges Lob auf das Judentum“ geäußert habe, und denunzierte ihn beim Reichspropagandaministerium; zum Glück verlief die Sache im Sande7. In den schweren letzten Kriegswochen sprach er von den damals Jungen mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sie und mit dem Wunsch, „daß sie in diese Zukunft etwas von den Lehren mitnehmen, die den älteren Generationen – durchaus nicht unverdient – jetzt erteilt werden und wohl auch noch eine gute Weile weiter erteilt werden müssen“8. Es steht zu allem Gesagten nicht im Widerspruch, dass Alt in ungewöhnlichem Ausmaß auf andere Menschen einging. Er riet und half, wo er konnte, erteilte bereitwillig und pünktlich Auskünfte, stellte Kollegen und Studenten selbstlos die Bücher seiner eigenen Bibliothek zur Verfügung. Vor allem ist hier des einzigartigen Lehrers zu gedenken, der sich vom Forscher nicht trennen lässt. 3  Albright 170. 4  Ein Beispiel aus dieser Zeit in H. v. Campenhausen, Theologenspieß und -spaß (1973) 78. 5  Der falsche und der wahre Gott des Alten Testaments (AELKZ 67, 1934, 270–75); A. Alt/J. Begrich/G. v. Rad, Führung zum Christentum durch das Alte Testament (1934) 7–17.18–28. 6  PJ 35, 64–82 (= Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel [im folgenden: KS] II, 4 1977, 407–23). Alt reagierte damit sofort auf E. Hirsch, Das Wesen des Christentums, Verlag Deutsche Christen Weimar (1939) 158–65. Vgl. auch die Polemik gegen W. Grundmann in der Fortsetzung der Artikelreihe (PJ 36, 1940, 781), die Alt beim Wiederabdruck in den Kleinen Schriften (a.a.O. 423) weggelassen hat. 7  Brief an G. v. Rad, 27.4.1943. Alt endet seinen Bericht: „Nun kann man nur gespannt sein, was das Ministerium aus der Sache macht. Wundern Sie sich also nicht, wenn unser Briefwechsel vielleicht demnächst auf kürzere oder längere Zeit Unterbrechung erleidet und mein Reden und Schreiben sonst am Ende auch.“ 8  Brief an G. v. Rad, 14.3.1945.

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Seine Hingabe war in beiden Eigenschaften gleich groß. Gewiss und notwendig ging die Forschung voran, aber sie setzte sich alsbald in die Lehre um, weithin auch dort, wo sie entlegene Gebiete betraf. Alt bildete seine Assistenten so aus, dass er mit ihnen nicht nur über ihre, sondern auch über seine Arbeit sprach. Für interessierte Studenten – und viele waren plötzlich interessiert – veranstaltete er regelmäßig Übungen in der Leipziger biblisch-archäologischen Sammlung. Er liebte es auch, „publice“ zweistündige Spezialvorlesungen über Gegenstände zu halten, die im normalen Studienbetrieb nicht vorkommen: israelitisches Recht, israelitische Geschichtsschreibung, Geschichte Syriens und Palästinas im 2. Jahrtausend v.Chr., Kanaan und Israel, Entstehung des Judentums und manches andere. Nicht dass er darüber den normalen Lehrbetrieb vernachlässigt hätte! Mit seinem „großen Charisma der Lehre“9 diente er allen Studenten, oft bis an den Rand seiner Kräfte. Regelmäßig hielt er zwei vierstündige Hauptvorlesungen, und in den Zeiten, wo er in Leipzig der einzige Alttestamentler war und vom hebräischen Unterricht bis zum Oberseminar alles selbst machen musste, war die Summe von 20 und mehr Wochenstunden keine Seltenheit; einmal brachte er es auf 29. Aber er empfand das nicht nur als einen lästigen Zwang. Noch in seinen letzten Lebensjahren füllte er freiwillig, wenngleich natürlich auf dringende Bitten und Einladungen hin, einen großen Teil seiner Leipziger akademischen Ferien damit aus, dass er in Tübingen ein volles Semesterprogramm absolvierte (1951, 1952, 1953, 1955), ja zweimal außerdem noch, während der Woche mit der Bahn hin und her fahrend, in Göttingen (1953) und Heidelberg (1955). Das dankbare Interesse der Studenten belohnte ihn für diese Mühen. Als er in den selben Jahren mit einem Lehrauftrag in der Leipziger philosophischen Fakultät nicht ohne eine anfängliche Skepsis gegenüber dem Hörerkreis Geschichte des alten Orients las, erlebte er, „daß in einem Hörsaal gleichzeitig getrampelt, geklatscht und auf die Tische geklopft wurde“10. Wie gesagt, Eitelkeit lag ihm fern, aber er freute sich über den Beifall als Anerkennung seiner Hingabe an die Gegenstände, über die er vortrug und die ihm über alles gingen. Nach dem Geheimnis seiner Darstellungskraft gefragt, antwortete er einmal: „Sie müssen sich die Sache, über die Sie sprechen wollen, so klar wie nur irgend möglich machen. Und wenn Sie das erreicht haben, sprechen Sie ganz von selbst einfach und fesselnd.“11 Wie man weiß, erreicht das nicht jeder, weil nicht jeder es kann oder die Geduld hat, mit der Mitteilung zu warten, bis er es erreicht hat. Alt konnte es und hatte die Geduld. Er vertiefte sich in die Gegenstände, bis sie ihm gänzlich transparent geworden waren, und so, wie sie sich ihm dann darstellten, stellte er sie wiederum dar. Dabei konnten sie eine Präsenz gewinnen, wie sie in unseren Hörsälen, auch im Vortrag der 9  Bardtke (Anm. 1) 316. 10  Brief an G. v. Rad, 18.1.1953. 11  Bardtke (Anm. 2) 515.

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hervorragendsten Forscher, sehr selten ist; ich wüsste aus neuerer Zeit neben Alt als von ihm und untereinander sehr verschiedene Ausnahmen in seinem Fach nur Bernhard Duhm und Gerhard v. Rad zu nennen. Mit dem „ganz von selbst“ jener Antwort, mag es auch das Wichtigste sein, ist sicher nicht alles gesagt. Zwar steht zu vermuten, dass Alt sich über die moderne Hochschuldidaktik lustig gemacht hätte, aber er bedachte doch sehr wohl, wie er es seinen Hörern und Lesern, wie er zu sagen pflegte, „leicht machen“ könnte. Im Seminar gab er den praktischen Ratschlag: „Wenn Sie einmal ein Buch schreiben, müssen Sie sich vorstellen, Ihre Leser seien völlig dumm, aber sie dürfen das unter keinen Umständen merken.“ Er fing in der Vorlesung immer wieder mit den Grundtatsachen an, ließ es sich auch nicht verdrießen, bei der Erwähnung von Ugarit jedesmal hinzuzufügen, es liege an der nordsyrischen Küste genau östlich der Ostspitze von Zypern, ja sogar, und dies auch in seinen gedruckten Schriften, statt von der Septuaginta (oder gar „LXX“) von der alten griechischen Übersetzung des Alten Testaments zu sprechen. Nicht nur im Sprachunterricht, sondern auch im Seminar exerzierte er, sobald er in dieser Hinsicht Schwächen bemerkte, sprachliche Elementaria wie den Unterschied von Verbal- und Nominalsatz; und wehe dem, der sich mit Schwa und Dagesch und Meteg nicht auskannte oder das Verbum ‫ בוא‬mit dem blassen „kommen“ statt mit dem stärker räumlich gedachten „hineingehen“ übersetzte! Die Fragen, die Alt stellte, waren oft geradezu beleidigend einfach; er schätzte es gar nicht, wenn man sie mit halb verstandenen höheren Weisheiten beantwortete, gar mit solchen, die eine verfrühte Beschäftigung mit systematischer Theologie verrieten. Auf diese Weise wurde in einer Stunde oder auch einem Semester mitunter nur wenig Stoff „geschafft“ und so gut wie überhaupt nicht diskutiert, aber die festen Grundbegriffe, die man mitbekam, wogen diese Mängel bei weitem auf12. Seinen Vortrag baute Alt gern, und bis zu einem gewissen Grade zweifellos bewusst, wie ein Drama auf; Züge davon lassen sich auch in seinen Schriften beobachten13. Da gab es die Exposition, da entstanden Probleme, Spannungen, Konflikte, die sich immer weiter verwickelten und zuspitzten und nach allerlei retardierenden Momenten schließlich einer Lösung zugeführt wurden. Alts schauspielerisches Talent tat ein übriges, die Hörer in den Bann zu schlagen. Aber er war weit davon entfernt, sie mit alledem unredlich zu beeinflussen. Er wollte überzeugen, nicht überreden, ging immer wieder von den gegebenen Tat12  Vgl.auch die hübsche Schilderung von Alts Vorlesung und Seminar bei M.A. Beek, Wegwijzers en Wegbereiders (1975) 41. Dass Alt im Seminar, wie Beek es darstellt, seine in statu nascendi befindlichen Thesen durchexerzierte, kam öfters vor; vgl. als wohl letztes Beispiel das bei R. Smend, Die Mitte des Alten Testaments (2002) 164f. Berichtete mit A. Alt, ThLZ 81 (1956) 524f. 13  Wiederum aus dem Seminar: er gab sich entsetzt, wenn er durch Befragen feststellte, dass noch keiner der Teilnehmer ein Drama geschrieben hatte, und empfahl allen dringend, das bald zu tun; man könne viel dabei lernen.

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beständen aus, prüfte die Erkenntnismittel, erwog Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, wies nach der vorgeschlagenen Lösung auf offen bleibende Fragen und weitere Aufgaben hin. Dabei appellierte er häufig an das Mitdenken der Hörer: „Ich bitte Sie...“, „Stellen Sie sich vor...“, „Versetzen Sie sich einmal in die Lage des NN“, „Können Sie so etwas glauben? Ich kann es nicht.“ Am Ende der Kollegstunde forderte er die Studenten gern auf, sich die Sache – „was hindert Sie daran?“ – etwa auf einem schönen Nachmittagsspaziergang noch einmal gut zu überlegen, auch unter dem Gesichtspunkt, wie es wohl am nächsten Tag weitergehen würde. Hier mag ein kurzes Wort über Alts Stil seinen Platz finden. Man hört manchmal, er lese sich schwer, weil die Sätze lang und kompliziert seien. Das ist nicht ganz falsch. Da Alt aber auch kurze Sätze schreiben konnte und sein Umgang mit der Sprache weder schludrig noch stümperhaft war – er machte übrigens hübsche Gelegenheitsgedichte –, darf man voraussetzen, dass er darum besorgt und dazu fähig war, stets bis ins einzelne hinein den jeweils angemessenen Ausdruck zu finden. Und so spiegelt sich denn die Vielseitigkeit, die die Probleme in seinen Augen hatten, auch in seinen Sätzen. Liest man sie so genau, wie sie es verlangen, und möglichst wiederholt, dann gewinnen sie, darin den langen Sätzen eines Thomas Mann oder eines Karl Barth nicht unvergleichbar, ein Leben, das nicht mehr auf den Vortrag des Autors angewiesen ist, so gern und so leicht der ehemalige Hörer die verklungene Stimme heraushören mag. Und so sehr Alts wissenschaftliche Erwägungen weithin eine etwas abstrakte Form haben und haben müssen (gelegentlich mit einer doch ein wenig störenden Häufung der Substantive auf -ung), so sehr wurde nicht nur der Hörer, sondern wird auch noch der Leser immer wieder durch die konkreten, bildhaften, plastischen Ausdrücke entschädigt, die Alts Wesen so sehr entsprachen14. Ich gebe einige Beispiele: den alten Autoren kam etwas ins Schreibrohr bzw. floss daraus15; in den Fußnoten E. Robinsons (des Begründers der modernen Palästinaforschung, 1794–1863) „sind die Irrtümer vieler Generationen für immer begraben“16; dagegen sind die Fußnoten von R. Kittels Geschichte des Volkes Israel „Keller, in die man immer wieder hinabsteigen kann, um etwas Gutes heraufzuholen“17; umgekehrt: Goliaths Rüstung „besteht noch fast ganz aus Bronze; nur seine eiserne Lanzenspitze [und hier richtete sich Alt im Kolleg auf und streckte seinen Zeigefinger aus, so hoch er konnte] ragt schon in die eben jetzt beginnende Eisenzeit hinein“18; „nur wie ein Schleier verdeckt […] die jahwistische Tendenz […] die zugrunde liegende

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14  Man lese etwa den Aufsatz über die Geschichte von Beth-Sean 1500–1000 v.Chr. (KS I, 1968, 246–55) mit seinem Schlussabsatz über die spätere Geschichte des Ortes. 15  KS I, 3033.349; II, 342. 16  JBL 58 (1939) 374. 17  So zu Beginn des eigenen Kollegs über die Geschichte des Volkes Israel. 18  KS II, 101.

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ältere Schicht, aus der der Gott der Väter als eine Größe für sich heraufragt“19; die Grenzbeschreibungen sind „der Aufzug, alles übrige nur der Einschlag in dem literarischen Gewebe“ (der zweiten Hälfte des Buches Josua)20; das Reich Davids und Salomos war „ein Bauwerk auf vielerlei Grundlagen und aus sehr ungleichem Material“21; die Eroberer „setzten sich in ein Nest, das andere gebaut hatten“22; Israel blieb „zunächst sozusagen vor den Toren der Städte wohnen“23; gegen den großen Umschwung in der Geschichte Jerusalems haben sich die Jebusiter „mit Händen und Füßen gesträubt“, die Israeliten haben dafür „nicht einen Finger gerührt“24; das assyrische Provinzialsystem auf dem Boden des Reiches Israel hätte 733 „etwa die Form einer langzinkigen Gabel gehabt mit Galiläa als Griff, dem Ostjordanland und der Küstenebene als Zinken und dem damals noch nicht annektierten Samaria als leerem Raum dazwischen“25; der Prophet Hosea bereitete den Boden, „in den der Verfasser des Deuteronomiums das Reis seiner Forderung der Liebe Israels zu Jahwe pflanzen konnte“26. Ein letztes Beispiel mag auf den nächsten Gegenstand einstimmen: vom Westjordanland gesehen wirke der ostjordanische Horizont, als sei er „mit zittriger Hand von einem Engel Gottes an den Himmel gezeichnet“27. Obwohl ein tief frommer Mann, war Alt mehr Historiker als Theologe, und so bearbeitete er das Alte Testament vorwiegend mit dem Ziel, ein Bild des damaligen Israel zu gewinnen. Und dieses Volk interessierte ihn als ein sehr besonderes Volk unter seinen orientalischen Nachbarn, von denen die Wissenschaft heute so viel mehr weiß als noch vor wenigen Generationen. Alt hat sich an der Mehrung dieses Wissens lebhaft beteiligt. Vor allem aber hat er, natürlich nicht ohne Zusammenhang damit, die Kenntnis der biblischen Landschaft, im weitesten Sinne verstanden, für sein Ziel eingesetzt. Hier lag seine eigentliche Mission als Gelehrter, dies war sein Thema par excellence. Es wird erzählt, er habe schon als Kind im Garten des väterlichen Pfarrhauses im mittelfränkischen Stübach28 ein Modell des Landes Palästina 19  KS I, 23. 20  KS I, 193. 21  KS II, 61. 22  PJ 21 (1925) 44. 23  KS I, 125. 24  KS III, 253. 25  KS II, 201. 26  KS 11, 272f. 27  Mitteilung von H. H. Schmid (aus einem von M. Noth gehaltenen Lehrkurs). 28  Sein Vater, Friedrich Alt, starb 1898, seine Mutter Caroline, geb. Alt, an der er besonders hing, 1929. Seine Vorfahren, bis ins 17. Jahrhundert zu verfolgen, waren fast nur Pfarrer und Lehrer. Vgl. Th. Köberlin, Das Pfarrhaus im Leben eines Dorfes am Beispiel Stübachs, in: Streiflichter aus der Heimatgeschichte, hg. vom Geschichts- und Heimatverein Neustadt an der Aisch (1987) 39–79, mit zahlreichen Abbildungen, darunter Albrecht Alt sieben Jahre alt in einem Buch lesend, gezeichnet von seinem Onkel Theodor Alt, einem bekannten Maler aus dem Umkreis W. Leibls (Abb. 37).

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gebaut29. Und jedenfalls ist das erste uns im Detail greifbare Ereignis seiner Biographie – er besuchte 1894–98 das Progymnasium in Neustadt a.A., 1898– 1902 das Gymnasium in Ansbach und studierte 1902–06 Theologie in Erlangen, ein Semester auch in Leipzig – ein Aufenthalt in Palästina. Er nahm vom Januar bis Mai 1908 als Stipendiat der bayrischen Kirche, deren Predigtamtskandidat er war, am Lehrkursus des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes zu Jerusalem teil. Sein ausführlicher Bericht darüber ist erhalten30. Er zeigt, dass der Verfasser die Reise gut vorbereitet angetreten hatte und dass er in Jerusalem auf den Ausritten von dort und auf der abschließenden Rundreise mit schier unbegrenzter Aufnahmefähigkeit bei der Sache war und lernte, was sich nur irgend lernen ließ – nicht zuletzt „Arabisch und die im ganzen Orient so wichtige Tugend der Geduld“31. Von da an hatte er neben seiner akademischen Karriere in Deutschland immer sozusagen einen Fuß im heiligen Land. 1909 wurde er in Greifswald zum Lizentiaten promoviert, im gleichen Jahr habilitierte er sich dort, 1912 wurde er zum Extraordinarius ernannt. Aber „viel lebendiger“ als diese Ernennung wirkte auf ihn nach eigenem Geständnis32, dass er gleichzeitig für den ganzen Winter 1912/13 zum Mitarbeiter am Jerusalemer Institut bestellt wurde. Im ersten Weltkrieg gelang es ihm, seit 1914 ordentlicher Professor in Basel, alsbald wiederum nach Palästina zu kommen, in den deutschen Heeresdienst auf der türkischen Seite, zunächst als Sanitäter, dann um die Zeit der Eroberung Jerusalems durch die Engländer Ende 1917 als Soldat und endlich als Spezialist für die Schreibung arabischer Namen bei einer Vermessungsabteilung in Nazareth33. Aber noch während des Krieges musste er nach Basel zurückkehren, wo man ihn denn doch nicht länger entbehren mochte. Noch weniger, nämlich ein einziges Semester, wurde er auf der Professur in Halle gesehen, die er im Sommer 1921 antrat. Schon im Winter dieses Jahres war er wieder in Jerusalem, diesmal in der doppelten Eigenschaft als Leiter des Instituts und als Propst an der deutschen Erlöserkirche. Erst zum Sommersemester 1923 kehrte er zurück, nicht nach Halle, sondern nach Leipzig, dem er dann 33 Jahre lang die Treue hielt. In das erste Leipziger Jahrzehnt fallen die Glanzpunkte seiner palästinischen Tätigkeit: die Lehrkurse des Jerusalemer Instituts, die er von 1924 bis 1931 in den akademischen Sommerferien hielt und über die er im Palästinajahrbuch ebenso exakt wie lebendig zu berichten pflegte; in ihrer durch Alts Person geprägten einzigartigen Verbindung von Forschung und Lehre34 genossen sie weit über jene Jahre hinaus einen geradezu legendären 29  Man beachte, dass er von G. Dalman zu berichten wusste, zu dessen Lebenswerk hätten „die letzten Wurzeln offenbar schon in den Träumen seiner Kindheit“ gelegen (PJ 37, 1941, 8). 30  ZDPV 72 (1956) 9–30. 31  Ebd. 12. 32  Brief an meinen Vater R. Smend, 8.9.1912. 33  Vgl. PJ 14 (1918) 5f. 34  Vgl. dazu PJ 22 (1926) 5–7.

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Ruf. Doch die Zeitläufte machten ihnen ein Ende, und auch Alt selbst hat nach 1935 den Boden Palästinas nicht mehr betreten35. Möglichkeiten, es nach dem zweiten Weltkrieg wieder zu tun, zerschlugen sich, und er hat sie wohl auch nur mit halbem Herzen betrieben. Aber als er 1953 seine „Kleinen Schriften“ herausgab, widmete er sie dem Jerusalemer Institut, „mit dem mich Neigung und Fügung seit nunmehr einem halben Jahrhundert verbunden gehalten hat und dem ich für die Gestaltung meiner Forschungsarbeit unendlich viel verdanke“. Und sein 70. Geburtstag im gleichen Jahr hatte zwei Höhepunkte. „Der eine war ein Fackelzug, den mir meine Studenten am Abend vor meiner Wohnung darbrachten, der erste in Leipzig seit mehr als zwanzig Jahren und insofern ein fast unglaubliches Ereignis, das ich wahrhaftig nicht erwartet hatte […]. Der andere Höhepunkt lag überhaupt nicht hier in Leipzig, sondern auf dem Ölberg bei Jerusalem und bestand darin, daß dort gerade am Nachmittag meines Geburtstages eine Feier zur Wiedereröffnung des deutschen evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes stattfand, an dem ich früher so viel gearbeitet habe und um dessen Zukunft ich in den letzten Jahren, ja eigentlich schon seit 1934 oft sehr in Sorgen war. Fragen Sie mich nicht, was mich mehr gefreut hat; ich könnte es Ihnen doch nicht sagen.“36 Man darf annehmen, dass es ihm nicht gänzlich unrecht war, die rapide Veränderung nicht mehr mit eigenen Augen sehen zu müssen, die spätestens seit der Gründung des Staates Israel das heilige Land in mancher Hinsicht unvermeidlich und unwiderruflich zu einem anderen machte als dem, das er so gut gekannt und so sehr geliebt hatte37. Wenn Martin Buber von Alt sagte, er wisse kaum jemanden, der so wie er die „territoriale Anschauung“ dieses Landes besessen habe38, dann meinte er damit etwas, das weit über alles topographischarchäologische Spezialistentum hinausgeht, eine schwer in Worte zu fassende intime Vertrautheit mit der Landschaft als der Bedingung und dem Schauplatz menschlichen Lebens und menschlicher Geschichte. Das Land redete zu Alt. Und Alt war, ein seltener Glücksfall, in der Lage, diese Rede weiterzugeben. Wer sie in einem seiner vielen Hörsäle durch ihn vernommen hatte, vergaß sie nicht 35  Stattdessen machte er sich nun in Leipzig ganz heimisch, indem er 1938 die aus Pommern stammende Kunsthistorikerin Dr. Hildegard Lange, bis dahin Lektorin im Verlag Hinrichs, heiratete. 36  Brief an den Verf., 16.1.1954. – Den Studenten, die ihm den Fackelzug gebracht hatten, zeigte er nach einigen Tagen die Briefe von drei Juden aus Jerusalem mit dem Bemerken, unter den schriftlichen Gratulationen hätten sie ihn als Bekundungen eines alles andere als selbstverständlichen Willens zur Wiederanknüpfung und Versöhnung am tiefsten bewegt. 37  Schon nach dem ersten Weltkrieg beklagte er seine „Europäisierung und Amerikanisierung“ (ZDPV 52, 1929, 23; PJ 37, 1941, 12, vgl. auch PJ 21, 1925, 35; 22, 1926, 67.69f.; 27,1931, 49), so sehr er etwa die Vorteile zu schätzen wusste, die seiner Arbeit die „Automobile“ gegenüber dem von ihm immer sehr genossenen Reiterleben boten (PJ 28, 1932, 7; 30, 1934, 12; Reiterleben: ZDPV 72, 1956, 14.16 u.ö.) 38  S.o. 601.

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wieder, und so auch nicht der junge Student, dem er auf einem Spaziergang in der Nähe von Tübingen angesichts der Schwäbischen Alb mit dem Bergkegel der Achalm im Vordergrund unversehens mit ein paar Worten und Handbewegungen den Tabor und das dahinter liegende Galiläa vor Augen zauberte. Nicht als ob er das Spezialistentum verachtet hätte! Von seinem zweiten Aufenthalt in Jerusalem schrieb er: „ich liebe die Palästinaforschung, dies merkwürdige und immer jugendlich unvollkommene Gebilde aus geographischen, historischen und archäologischen Beobachtungen; ja manchmal erscheint es mir sogar in seiner Art reicher als das in aller Monumentalität doch auch etwas monotone Bild des ägyptischen Altertums. Denn Palästina und seine Geschichte ist eben doch fast unvergleichlich reich an äußeren Gegensätzen und inneren Spannungen; dem Wechselspiel der Kräfte nachzugehen ist da immer wieder anziehend, so oft man auch unliebsam an die Grenzen des wissenschaftlich Erreichbaren erinnert wird.“39 Handelte es sich auch um den „Boden der biblischen Wirklichkeit“ und hatte daher in der Jerusalemer Institutsarbeit die alttestamentliche Wissenschaft „von jeher ein begreifliches Übergewicht“40, so war es doch Alts Programm, „die Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in ihrem vollen Umfang zu pflegen und die so nahe liegende Bevorzugung bestimmter Perioden auf Kosten anderer grundsätzlich zu vermeiden“41. Schon bei seinem ersten Besuch 1908 wurde ihm anschaulich, „daß die spätrömisch-byzantinische Zeit für Palästina die Periode höchster kultureller Entfaltung gewesen ist“42; den römischen Meilensteinen widmete er sich mit nicht geringerer Leidenschaft43 als dem berühmten Feldzug Thutmosis’ III., dessen Weg nach Megiddo er gern zu Pferde nachvollzog44. Die Institutsarbeit konnte er auch im übrigen gerade darum so vielseitig gestalten, weil auf eigene Ausgrabungen verzichtet wurde, so dass die archäologische Tätigkeit sich auf die Oberflächenforschung anhand der Keramik beschränkte45. Alt wäre nicht Alt gewesen, wenn er von der Freiheit, die Hand, Auge und Kopf damit gewannen, nicht den intensivsten Gebrauch gemacht hätte. Alt pflegte zu sagen: „Wissenschaft wird in Zeitschriften gemacht. Bücher sind schon veraltet, wenn sie schließlich erscheinen.“ Oder auch: „Heute liest niemand große Bücher – μέγα βιβλίον μέγα ϰαϰόν!“46 Monographien, wenn sie denn schon sein müssten, voran Dissertationen, sollten kurz sein; was man 39  Brief an R. Smend, 2.1.1913. Auf der gleichen Linie anderthalb Jahrzehnte später die ausführliche Darstellung von „Stand und Aufgabe der Palästinaforschung“, ZDPV 52 (1929) 3–23. 40  PJ 30 (1934) 6f. 41  PJ 29 (1933) 7. 42  ZDPV 72 (1956) 20. 43  Vgl. bes. PJ 27 (1931) 13–19. 44  Vgl. PJ 28 (1932) 35f. 45  Dazu Alts grundsätzliche Ausführungen PJ 23 (1927) 5–7; 25 (1929) 5–9; ein Beispiel PJ 29 (1933) 14f. 46  Albright (Anm. 1) 170.

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nicht auf hundert Seiten sagen könne, lasse sich überhaupt nicht sagen47. So sind ganz folgerichtig einige Bücher nicht zustande gekommen, die man von ihm erhofft hatte: ein Kommentar zu den Königsbüchern, eine Kulturgeschichte Syriens und Palästinas (im Handbuch der Altertumswissenschaft – nur ein kleiner Torso liegt vor) und auch eine Geschichte des Volkes Israel. Gesamtdarstellungen reizten ihn offenbar nicht. Dafür geht die Zahl der kleineren Arbeiten in die Hunderte48. Es ist nicht ganz leicht, sich in dieser Fülle zu orientieren. Manches hat Alt an ziemlich versteckten Stellen veröffentlicht – wer es suche, werde es schon finden, antwortete er gleichmütig denen, die sich darüber beklagten. Der Neudruck in den „Kleinen Schriften zur Geschichte des Volkes Israel“ – für Alt eine „eigentümliche Sache, fast ein Abschied vom Leben“49 – machte das Wichtigste (wieder) zugänglich, schloss aber leider durch die im Titel angedeutete Beschränkung allerlei aus, was bleibende Bedeutung hat und auch für das Bild des Forschers Alt nicht gleichgültig ist. Ich kann hier nur eine ganz grobe Übersicht über die Themen geben. Seine Dissertation von 1909, die unter dem Titel „Israel und Ägypten“ „die politischen Beziehungen der Könige von Israel und Juda zu den Pharaonen“ behandelte, hat Alt später verleugnet. Das Buch war 104 Seiten lang und entsprach auch sonst nicht dem Standard seiner späteren Arbeiten. Immerhin: eins der großen Themen war angeschlagen. Über ägyptische Beziehungen zu Israel und Palästina hat er sein Leben lang gehandelt, mehr als über entsprechende Beziehungen von Syrien und Mesopotamien her. In ein zweites großes Thema gehört der ungefähr gleichzeitig entstandene Aufsatz über Mizpa in Benjamin50. Man könnte versucht sein, die Wege und die Irrwege der palästinischen Topographie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts und des Altschen Beitrags dazu von diesem Einzelbeispiel aus zu beleuchten. Es hat Alt selbst immer wieder beschäftigt, und er ist schließlich aufgrund von Ausgrabungsergebnissen unverhofft zu seiner Anfangsthese zurückgekehrt51. Aber das ist ja nur ein Einzelbeispiel. Nimmt man alle Untersuchungen Alts zur historischen Geographie und Topographie des antiken Palästina zusammen, dann hat man die nach Umfang und Gewicht doch wohl bedeutendste individuelle Leistung auf diesem Gebiet aus jenen Jahrzehnten und vielleicht darüber hinaus vor sich – dies auch unter dem Gesichtspunkt, dass Alt die hier gewonnenen Einsichten auf oft überraschende Weise für die Lösung anderer Probleme fruchtbar machte. Das zuletzt Gesagte gilt auch und gerade für Alts fundamentale Thesen über die Struktur des alten Israel und ihre Entstehung. Als er im Herbst 1912 nach 47  Vgl. S. Herrmann in: Tendenzen der Theologie, hg. von H.J. Schultz (21967) 225 (= A. Alt, Zur Geschichte des Volkes Israel, hg.v. S. Herrmann, 21979, XI). 48  Bibliographien: BHTh 16 (1953) 211–23; WZ(L).GS 3 (1953/54) 173–78; ThLZ 81 (1956) 573f. 49  Brief an G. v. Rad, 18.1.1953. 50  PJ 6 (1910) 46–62. 51  ZDPV 69 (1953) 1–27.

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Jerusalem aufbrach, überwog das Glücksgefühl, aber er sah auch Nachteile: „Das Schlimmste dabei ist – natürlich nur für mich; die anderen können sich darüber freuen –, dass ich mit meinem unglückseligen ‚Königtum‘ nun wieder nicht in die Öffentlichkeit kommen kann, trotzdem die Arbeit daran schon weit vorgerückt ist.“52 An die Öffentlichkeit kam er damit erst viel später, 1930 mit der „Staatenbildung der Israeliten in Palästina“53. Das war indessen kein Unglück, denn der Arbeit kam nun nicht nur eine viel stärkere Ausreifung54 im allgemeinen zugute, sondern auch mancherlei inzwischen betriebene Einzelforschung vor allem eben historisch-geographischer Art. Den für alles Weitere unerlässlichen Ausgangspunkt bildete in dieser Frage die Lokalisierung eines ganz unbedeutenden Ortes namens Socho. Er kommt in dem Verzeichnis von Israels „Gauen“ unter Salomo (1. Kön 4,7–19) vor und wurde von der Wissenschaft einhellig im Bereich des Stammes Juda gesucht. Alt wies dagegen in seinem Beitrag zur Festschrift für Rudolf Kittel 191355 die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit seiner Lage im samarischen Gebiet nach. Das hatte, da die Liste im übrigen nachweislich kein judäisches Territorium umfasst, die Konsequenz, dass Israel dort nur das Nordreich bezeichnet, mit anderen Worten, dass „in dem Aufbau des davidisch-salomonischen Staatswesens […] das Reich Juda und das Reich Israel getrennte Glieder von Anfang an gewesen und bis zum Ende geblieben“ sind56. Aber die Liste spiegelt noch einen zweiten, gewichtigeren Dualismus wider, nämlich den zwischen (israelitischen) Stämmen und (von Hause aus kanaanäischen) Städten, die in ihr säuberlich nach Gauen getrennt gehalten werden. Alt nennt es am Schluss seines Aufsatzes „eine Aufgabe für sich, seine Geschichte zurückzuverfolgen von den Zeiten, da die Stämme und Städte in friedlichem Verein den königlichen Hofhalt Salomos bestreiten mussten, bis in jene dunklen Jahrhunderte, da sie den großen Kampf um ihr Dasein miteinander zu führen begannen“57. Für den heutigen Leser ist es kein Kunststück, hier „Landnahme“ und „Staatenbildung“ mit Händen zu greifen. Alt ließ sich auf dem Wege dorthin Zeit; es gab ja genug für ihn zu tun. In den bewegten Jahren in und nach dem ersten Weltkrieg war eine umfangreichere literarische Produktion unmöglich. Aus dieser Zeit ist vor allem die Ausgabe der griechischen Inschriften der Palaestina Tertia westlich der ʿAraba zu nennen, 1921 in den Wissenschaftlichen Veröffentlichungen des deutsch-türkischen Denkmalschutz-Kommandos erschienen, eins der Ergebnisse seiner ebenfalls lebenslangen editorischen und interpretatorischen 52  Brief an R. Smend, 8.9.1912. 53  KS II, 1–65. 54  Dies übrigens ein von Alt gern gebrauchter und für ihn bezeichnender Ausdruck. 55  Dort 3–19 (= KS II, 76–89). 56  Ebd. 19 (= 89; dort, im späteren Wiederabdruck also, ist der Begriff des „Staatswesens“ in Präzisierung der These stillschweigend durch den umfassenderen des „Herrschaftssystems“ ersetzt). 57 Ebd.

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Beschäftigung mit Inschriften der verschiedensten Art und Herkunft, die sich in zahlreichen Veröffentlichungen von der Miszelle bis zum großen Aufsatz niedergeschlagen hat. Spätestens um die Mitte der zwanziger Jahre dürfte Alt sein Bild von der Geschichte des alten Israel einigermaßen fertig vor Augen gehabt haben. Man wird das damit beginnende Jahrzehnt, das ja auch die Zeit der großen Lehrkurse in Jerusalem gewesen ist, den Höhepunkt seines Forscherlebens nennen dürfen. 1925 hielt er in Jerusalem einen Doppelvortrag über das Reich Israel, 1926 einen weiteren über das Reich Juda58, und gleichzeitig begann neben Dutzenden anderer Veröffentlichungen die klassische Reihe der grundlegenden Entwürfe zu erscheinen: 1925 Die Landnahme der Israeliten in Palästina59, Judas Gaue unter Josia60, Jerusalems Aufstieg61; 1927 Das System der Stammesgrenzen im Buche Josua62; 1929 Der Gott der Väter63, Das System der assyrischen Provinzen auf dem Boden des Reiches Israel64; 1930 Die Staatenbildung der Israeliten in Palästina65; 1934 Die Ursprünge des israelitischen Rechts66, Die Rolle Samarias bei der Entstehung des Judentums67. Diese Schriften sind für alle, die sich wissenschaftlich mit der Geschichte des alten Israel beschäftigen, nach wie vor eine unabdingbare Pflichtlektüre – übrigens auch für solche, die Alts Ergebnisse ablehnen. Natürlich hat Alt danach noch viel, darunter Wichtiges, zum Alten Testament geschrieben. Aber eigentlich Bahnbrechendes bildet dabei die Ausnahme, und das meiste ist bereits in den Schriften jenes einen Jahrzehnts angelegt oder geht auf noch ältere Überlegungen zurück. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg hat er seine produktive Kraft, angeregt vor allem durch die Publikationen der Texte aus Ugarit, Alalach und Karatepe, noch mehr als vorher an Außerisraelitisches gewendet. Der Umgang mit neuem Material reizte ihn mehr als das Wiederkäuen alter Probleme. Der Historiker Alt war zunächst und immer wieder Exeget. Er suchte Texte zu verstehen, ihnen „den Grund ihres Daseins abzugewinnen“68. Einige seiner am meisten beachteten Arbeiten zum Alten Testament sind mehr oder weniger strenge Analysen von Prophetentexten, denen er thematische Unter58  Vgl. PJ 22 (1926) 9; 23 (1927) 9. 59  KS I, 89–125. 60  KS II, 276–88. 61  KS III, 243–57. 62  KS I, 193–202. 63  KS I, 1–78. 64  KS II, 188–205. 65  KS II, 1–65. 66  KS I, 278–332. 67  KS II, 316–37. 68  KS II, 189.

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titel gegeben hat69. Dass ihn Außerbiblisches schon wegen seiner Neuheit besonders anzog, wurde eben gesagt. Es waren Höhepunkte in seinen Vorlesungen, wenn er große Dokumente wie die Kriegsberichte Thutmosis’ III. oder die Lebensgeschichte des Sinuhe nach allen Regeln der Kunst behandelte oder richtiger: zum Reden brachte70. Aber hier wie anderwärts und auch im Alten Testament interessierte ihn nicht nur das sogleich Auffällige und Eindrucksvolle. Er hatte vielmehr eine in den Augen mancher fast perverse Vorliebe für allerlei unscheinbare Nebenbemerkungen, für Aufzählungen, Listen und dergleichen, auch für Bruchstücke davon im dürftigsten Erhaltungszustand. Je spröder und trockener das Material war, um so hingebungsvoller bemühte er sich, den Saft historischer Erkenntnis herauszupressen. Dafür braucht man Phantasie, und die hatte er. Er spekulierte und fabulierte mit Lust und einem gelegentlich fast beängstigenden Wagemut. Immerhin: schon in dem oben zitierten Bekenntnis zur Palästinawissenschaft aus dem Jahre 1913 ist von den „engen Grenzen des wissenschaftlich Erreichbaren“ die Rede, und Alt fügte dort hinzu, sein Jerusalemer Chef Dalman sei „ganz der Rechte, um einem das zum Bewußtsein zu bringen, dieser konsequente Empiriker, vor dessen strenger Nüchternheit die schönsten Hypothesen in Nichts zerfließen“71. Es gibt bei Alt immer wieder einmal Stellen, wo sich kritischen Lesern der Stoßseufzer auf die Lippen drängt: hätte er doch hier einen Dalman gehabt! Aber niemand wird im Ernst bestreiten, dass die „engen Grenzen des wissenschaftlich Erreichbaren“ sich in der Regel nicht ohne Hypothesen erweitern lassen, und ebenso wenig, dass Alt über die Grade der Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Sicherheit, wie sie sich ihm jeweils darstellten, nach bestem Wissen und Gewissen Rechenschaft abzulegen pflegte. Er gab nie leichtsinnig etwas heraus72 und fand seine Gedankengänge bei erneuter Überprüfung meist bestätigt; zu Revisionen sah er sich fast nur aufgrund neuen Materials gezwungen. Bereitwillig ließ er sich dagegen das Zugeständnis ablocken, um der Deutlichkeit willen diesen oder jenen Sachverhalt „überzeichnet“ zu haben, so gesprächsweise im Blick auf die Verschiedenheit der Reiche Israel und Juda oder brieflich im Blick auf die Ursprünge des israelitischen Rechts: auf eine von Gerhard v. Rad offenbar schriftlich geäußerte Kritik an Alts Trennung zwischen dem Dekalog und den sog. Einzugsthoroth antwortete Alt, indem er diese Trennung (als eine nach Situation und Form, nicht nach den Inhalten) 69  KS II, 163–87.206–25; III, 373–81. Einblicke in seine exegetische Arbeit geben auch die Miszellen über die Geschichte von Elisas Berufung (ZAW 32, 1912, 123–25) und die Rahmenerzählung des Buches Hiob (ZAW 55, 1937, 265–68), beide leider nicht in den „Kleinen Schriften“. 70  Aus seinen gedruckten Bearbeitungen dieser Texte ragen hervor die Aufsätze PJ 10 (1914) 53–99; 37 (1941) 19–49. 71  Brief an R. Smend, 2.1.1913. 72  Alt ist verkannt, wenn es von ihm heißt: „Ein genialischer und temperamentvoller Mensch wirft bestechende Hypothesen auf das Papier, als wäre es nichts“ (B.J. Diebner, DBAT 17, 1983, 3). Ich habe keinen sorgfältigeren Menschen gekannt als Alt.

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verteidigte und einige für seine Arbeits- und Darstellungsweise aufschlussreiche Sätze hinzufügte: „Aber das bringt mir ja wieder meine Schuld zum Bewußtsein, daß ich es gewagt habe, von den Ursprüngen des israelitischen Rechts zu handeln, ohne sogleich die levitische Thora in ihrer vollen Breite hinzuzunehmen. Ich sage mir allerdings immer noch zum Trost, daß ich, wenn ich so verfahren wäre, den Dualismus zwischen kanaanäischem und israelitischem Recht nicht so deutlich hätte herausarbeiten können, wie es mir in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Situation geboten erschien; er wäre dann sicher wieder für den Leser in der herkömmlichen Weise verdeckt worden, nicht nur durch die Masse, sondern noch mehr durch die Kompliziertheit vieler Thoroth in den uns vorliegenden Ausprägungen. Aber das ändert eben doch nichts daran, daß man niemals nur Teile behandeln sollte, [sondern] immer gleich das Ganze, und schweigen, wenn und solange man das Ganze nicht bieten kann. Es ist mein Fehler (aber einer, in den ich immer noch ein wenig verliebt bin), daß ich in solchen Fällen auf Arbeitsteilung hoffe und bloße Ansatzpunkte zu Papier bringe, wo ich mir die volle Ausführung in diesem Leben nicht mehr zutraue. Ob ich Ihnen in dieser Hinsicht Besserung für die Zukunft versprechen kann, ist mir nicht sicher; verbrauchen Sie mich lieber, wie ich bin.“73 In den Grenzen, die er sich mit dieser Mischung aus Bescheidenheit und Selbstbewusstsein setzte, tat er, was er nur irgend konnte. Und er konnte etwas, ja er wurde darin nach kompetentem Urteil auf seinem Gebiet von keinem Zeitgenossen übertroffen74. Er war durch lebenslanges Studium75 in den einschlägigen Zweigen der semitischen, ägyptischen, griechischen, lateinischen und byzantinischen Philologie, Epigraphik und Literaturwissenschaft kaum weniger zu Hause als in der natürlichen und historischen Geographie Palästinas unter Einschluss der Archäologie. Auf diesen Feldern hielt er sich auch unter erschwerten Umständen, soweit es irgend ging, über alles Neue auf dem Laufenden, während er auf die lückenlose Kenntnis der Veröffentlichungen etwa zu den Psalmen oder zur alttestamentlichen Theologie ohne sichtbares Bedauern verzichtete. Nicht zu vergessen seine Vertrautheit mit dem palästinischen Arabisch: er soll es gesprochen haben wie ein Einheimischer, und man darf vermuten, dass ihn die Unterhaltungen mit arabischen Bauern und Beduinen mindestens so sehr anregten wie die mit deutschen Professoren. 73  Brief an G. v. Rad, 19.11.1934. Vgl. KS I, 3282, aber auch 332. 74  Vgl. Albright (Anm. 1) 169 sowie M. Noth, ZDPV 72 (1956) 4f. 75  In seinem zum ersten theologischen Examen (1906) eingereichten Lebenslauf (Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, OK.M P 559) berichtet Alt, er habe sich gleich zu Anfang des Studiums der „hebräischen Admissionsprüfung“ unterzogen, was auf Erlernen dieser Sprache bereits im Gymnasium schließen lässt; während des Erlanger Studiums habe er, „zugleich früheren philologischen Neigungen folgend“, zunächst bei Georg Jacob Arabisch zu lernen begonnen „und dann allmählich auch das Aramäische (besonders das Syrische), das Assyrisch-Babylonische und das Altägyptische in den Bereich“ seiner „Studien“ genommen – offenbar wiederum privatim. Im vierten Semester, in Leipzig, zog ihn „der Assyriolog Dr. [Heinrich] Zimmern an“ (ebd.).

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Er sah seine Aufgabe ja nicht darin, das in den europäischen Bibliotheken versammelte Kaleidoskop der alttestamentlichen Wissenschaft ein weiteres Mal etwas anders zu schütteln, sondern wollte sich im Land der Bibel neue Fragen stellen lassen. So war seine Devise immer wieder: weniger Buchstudium, mehr Anschauung76! Doch hier ist Missverständnissen vorzubeugen. Alt wusste den Wert der Bücher zu schätzen und benutzte sie, wie der Kenner merkt, oft viel intensiver, als er ausdrücklich sagte. Nie vergesse ich den Zorn, mit dem er noch nach Jahren vom Besuch bei einem emeritierten Fachkollegen77 erzählte: da hätten Tücher vor den Regalen gehangen, die verbergen sollten, dass keine Bücher mehr in den Fächern standen. Der Mann hatte seine Bibliothek verkauft – das tut ein Professor nicht! Und es wäre ja auch völlig falsch, im Namen Alts die Frontstellung eines geographisch-archäologischen Zugangs zur Bibel gegen einen literarkritisch-überlieferungsgeschichtlichen symbolisiert zu sehen. Wie man weiß, war er zuweilen eher dem umgekehrten Missverständnis ausgesetzt. In Wahrheit plädierte er dafür – und handelte gemäß diesem Plädoyer –, jede der „völlig verschiedenen Betrachtungs- und Arbeitsweisen“ so sauber wie möglich durchzuführen, keine von ihnen vorschnell in die andere hineingreifen zu lassen oder gar zu verabsolutieren, und dann sorgfältig zu untersuchen, was die eine und was die andere zum Bild der Vorgänge und Zustände beitragen kann78. Am berühmtesten wurde das Beispiel der Ausgrabungen von Ai und Jericho, die mit den unkritisch gelesenen Eroberungs- und Zerstörungserzählungen des Buches Josua nicht oder nur mittels abenteuerlicher Hilfsannahmen in Einklang zu bringen waren. Alt erneuerte die schon von H. Greßmann aufgestellte These vom ätiologischen Charakter jener Erzählungen und folgerte, historischen Quellenwert besäßen sie nur für das, was sie erklären wollten, also das spätere Zerstörtsein der beiden Städte, nicht aber für die Vorgänge der israelitischen Landnahme, die vielmehr weder hier noch in den Ausgrabungsergebnissen so ohne weiteres greifbar seien79. Man konnte gegen Alt (und dann noch mehr gegen seinen Schüler Noth) den Vorwurf hören, er ignoriere die Ergebnisse der Archäologie. Schon der flüchtigste Blick in seine (und Noths) Schriften zeigt, dass dieser Vorwurf lächerlich ist. Er (und ebenso Noth) kannte sich dort hervorragend aus und versprach sich auch von künftigen Ausgrabungen viel. Aber er (wie Noth) warnte davor, der Archäologie im Ensemble der Wissen76  So schon 1908 (ZDPV 72, 1956, 11) und 1913: „schön ist die Art, wie man sich hier zu Lande die Beobachtungen sammelt: nicht am grünen Tisch, sondern draußen in der Landschaft“ (an R. Smend, 2.1.1913). Er konnte, wie bezeugt ist, auch Araber stundenlang mit arabischen Geschichten unterhalten, kannte sich in Dialektunterschieden aus und wusste, als ihm in seinen letzten Jahren Farbfotos aus dem Heiligen Land vorgelegt wurden, aufgrund der Kleidung der Araberinnen die Schauplätze zu lokalisieren. 77  Es handelte sich um E. Sellin (1867–1946). 78  Vgl. ZAW 45 (1927) 61. Weitere grundsätzliche Formulierungen PJ 28 (1932) 13f.; KS I, 256 u.ö. 79  KS I, 176–92.

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schaften prinzipiell eine größere als die ihr zukommende Rolle anzuweisen. Die Überschätzung der Archäologie erschien ihm nicht weniger bedenklich als die Überschätzung der Philologie. Das „Hauptergebnis“ der zusammenfassenden, von der Archäologie aus die Geistes- und Religionsgeschichte darstellenden Werke des einflussreichsten und optimistischsten unter den palästinischen Archäologen, W.F. Albright, war in seinen Augen, „daß wir durch den großen archäologischen Eifer der letzten Jahrzehnte in Palästina und den Nachbarländern doch eigentlich betrüblich wenig Neues über die inneren und innersten Bereiche der Geschichte gelernt haben. Aber“, so fügte er hinzu, „war das denn auch anders zu erwarten?“80 Alt stand nicht im Verdacht, fremden Göttern zu opfern. Aber sein Denken und Forschen galt einem Gegenstand, der für ihn zugleich eine hohe, nie ohne ein gewisses Pathos berufene Instanz war. Das war die Geschichte. „Die Geschichte redet […] eine sehr deutliche Sprache; sie erweist […], und sie macht offenkundig […].“81 „Die Geschichte weiß es anders.“82 „Die Geschichte hat […] entschieden.“83 Die Geschichte sucht „Altes und Neues nebeneinander festzuhalten, auch wo sie im Grunde nicht auszugleichen sind“84. „Denn die Geschichte pflegt in solchen Dingen höchst sparsam zu verfahren; sie knüpft das Neue, das da werden soll, so eng wie möglich an das im nächsten Umkreis vorhandene Alte an und lässt dieses nicht eher absterben, als bis ihm alles entnommen ist, was zur Gestaltung des Neuen verwendet werden kann.“85 Es gibt das „Pendel der Geschichte“86, das „Forum der Geschichte“87, das „Urteil der Geschichte“88, den „Prozeß der geschichtlichen Auslese“89. Amos verhält sich nicht „geschichtswidrig“90, die Fiktion von Davids Designation durch Jahwe besitzt trotz allem „historische Notwendigkeit und Bedeutung“91. Diese Zitate belegen mehr, als dass Alt ein „passionierter Historiker“ war92. G. v. Rad, der mit vielen gelehrten und gebildeten Menschen Umgang hatte, pflegte zu sagen, er habe niemanden gekannt, der „von Geschichte so viel gewußt“ habe wie Alt. Damit meinte er über alle fachliche Beschlagenheit hinaus das Ergebnis eines unablässigen, wachen, denkenden, verstehenden Umgangs mit 80  Brief an G. v. Rad, 31.8.1948. 81  KS II, 65. 82  KS III, 243. 83  KS II, 33. 84  ZAW 55 (1937) 268. 85  KS II, 12f. 86  KS II, 349; III, 327. 87  KS II, 244. 88  KS III, 244. 89  KS II, 37. 90  KS II, 269. 91  KS II, 39. 92  W. Zimmerli in seiner in diesem Zusammenhang sehr lesenswerten Besprechung von Alts Kleinen Schriften I/II (GGA 209, 1955, 79–93) 80.

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der Tradition und den Phänomenen. Zweifellos hatten sich darin auch die Erfahrungen der selbsterlebten Geschichte niedergeschlagen. Mit Äußerungen in dieser Richtung hielt Alt sich zurück. Aber wenn er von dem sprach, was „die Erfahrungen der Geschichte“ einen biblischen Autor gelehrt haben93, dann lag der Gedanke nicht fern, dass er selbst und seine Hörer auch derartige Erfahrungen hatten, darunter solche, die sich mit denen der alten Israeliten durchaus vergleichen ließen. Zweimal, nämlich nach den beiden Weltkriegen, hat er den Vergleich ausdrücklich nahegelegt, ohne ihn allerdings durchzuführen: 1919 in den Einleitungsbemerkungen zu dem Aufsatz, der einen Passus des Buches Hosea unter der Überschrift „Ein Krieg und seine Folgen in prophetischer Beleuchtung“ erklärte, und im August 1945 in der damals wohl in Leipzig vorgetragenen bewegenden Skizze über die Deutung der Weltgeschichte im Alten Testament94. Alts Grunderfahrung war, soviel wir wissen, das Erlebnis des Landes Palästina. Unter dem vielen, was er dort an Geschichte erfuhr, dürfte das Phänomen der Kontinuität obenan gestanden haben. Natürlich wusste er wie Jacob Burckhardt95, dass Geschichte Wandlung ist, und das Schlagwort von der Unbeweglichkeit des Orients bewährte sich ihm keineswegs überall96. Aber es gibt auch die „Dauer im Wechsel“; Wandlung und Bewegung vollziehen sich zwar nicht immer an konstanten, aber doch an zumindest variablen oder mobilen Größen, die man über längere Zeiträume hinweg beobachten kann. Die fundamentale Konstante ist, mit einigen schmerzlichen Einschränkungen, die Landschaft selbst97. Vorwiegend im Zusammenhang mit ihr gibt es Lebensgewohnheiten und Bräuche der Menschen, die sich durch die Zeiten erhalten haben könnten, so dass die Versuchung groß ist, von heute Beobachtetem auf Analoges im Altertum zurückzuschließen. In diesem Sinne hat Alt den sog. Weidewechsel zwischen der Wüste oder Steppe und dem Kulturland als Vorstufe der israelitischen Landnahme postuliert98. Vor allem muss hier das genannt werden, was er die „territorialgeschichtliche Betrachtungsweise“ nannte. Ihre wichtigste Voraussetzung war die Einsicht, dass „die einmal geschaffenen territorialen Ordnungen in aller Welt sehr zäh an ihrem Boden zu haften pflegen und in der Regel auch bei scheinbar tiefgreifenden Umgestaltungen sozusagen unter der Decke noch fortbestehen“99. Diese Einsicht erlaubte ihm immer wieder, „scheinbar ganz isolierte Nachrichten über eine Landschaft oder über einzelne Orte in ihr, auch wenn sie zeitlich weit von93  KS II, 264. 94  KS II, 164; ZThK 56 (1959) 129–37 = Zur Geschichte des Volkes Israel (21979) 440–48. 95  Weltgeschichtliche Betrachtungen, vorletzter Absatz der Einleitung (Werke, Krit. Gesamtausgabe X, 2000, 370, vgl. 346). 96  Vgl. PJ 24 (1928) 61f. 97  Vgl. ebd. 62. 98  KS I, 140ff. Verwandtes KS I, 1452.1513.152.2151. 99  KS II, 440, vgl. auch die einprägsamen Formulierungen KS II, 243f.

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einander getrennt sind, in durchlaufende Zusammenhänge einzureihen und damit wichtige Linien des historischen Gesamtverlaufs zu ermitteln“100. Im Licht der Kontinuitäten gewannen dabei auch ihre Durchbrechungen, der Wechsel in der Dauer, die geschichtlichen Ereignisse ein schärferes Profil. So, um aus vielen Beispielen das bekannteste herauszugreifen, die israelitische Landnahme. Alts Abhandlung von 1925101 geht in drei Schritten vor. Zunächst werden anhand von ägyptischen und keilschriftlichen Quellen die Verhältnisse in Palästina vor der Landnahme rekonstruiert, dann anhand der Gaulisten aus den Staaten Israel und Juda und des „negativen Besitzverzeichnisses“ von Ri 1 die territorialen Verhältnisse nach der Landnahme, woraufhin der mit Abstand kürzeste dritte Teil, der die Landnahme selbst betrifft, nur noch die Verbindungslinien zu ziehen braucht. Dieses Verfahren ist mitsamt seinem Ergebnis um so wertvoller, als, wie schon gesagt, die geläufigen Landnahmetexte, nämlich die Eroberungs- und Zerstörungserzählungen am Anfang des Buches Josua, als Quellen für die fraglichen Vorgänge ausfallen. Im Gegensatz zu ihnen ergibt die territorialgeschichtliche Untersuchung den, zumindest in den ersten Stadien, friedlichen Charakter der Landnahme: die Israeliten besetzten nicht die von den kanaanäischen Stadtstaaten beherrschten Ebenen, sondern die Gebirge; beide Volkstümer lebten fortan in einem nie wirklich aufgehobenen, allerdings sehr wechselvollen Nebeneinander. Die territorialgeschichtliche Betrachtungsweise, wie Alt sie übte, beschränkte sich nicht auf das, was man auf der Landkarte sehen kann. Vielmehr stellen etwa ermittelte historische Verschiebungen „den historischen Betrachter vor die Möglichkeit und vor die Aufgabe, aus den äußerlich sichtbar werdenden Grenzveränderungen rückschließend die zu ihnen treibenden inneren Kräfte und Rechte zu ermitteln, die in der Überlieferung begreiflicherweise [noch] viel weniger unmittelbar in die Erscheinung treten“102. Alt stellte sich dieser vielseitigen Aufgabe – natürlich auch dort, wo der Ausgangspunkt nicht der territorialgeschichtliche war. Die rechtlichen Aspekte interessierten ihn immer, und er beklagte es, wenn sie vernachlässigt wurden103. Der unter Theologen seltene sichere und sachgemäße Gebrauch der einschlägigen Terminologie, den man überall in seinen Schriften findet, zeigt, dass er in der antiken und mittelalterlichen Rechtsgeschichte gut belesen war – nicht umsonst machte ihn außer den philosophischen Fakultäten in Leipzig und Tübingen auch die juristische Fakultät in Frankfurt zu ihrem Ehrendoktor. Seine damit natürlich in erster Linie gewürdigte Arbeit über die Ursprünge des israelitischen Rechts war, indem sie dieses Recht auf die beiden nach Form, Inhalt und Herkunft gänzlich verschiedenen Gattungen des (genuin israelitischen) apodiktischen und des (von Hause aus kanaanäischen) kasuistischen Rechts zurückführte, neben der 100  KS II, 363. 101  KS I, 89–125. 102  KS II, 346. 103  Vgl. ThLZ 77 (1952) 556f.

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Kontinuität auf die schon mehrfach berührte zweite Grundgegebenheit hinausgekommen, die in Alts Geschichtsdenken eine ebenso große Rolle spielte, auf den Dualismus. Den Konflikt, wie er ihn zwischen diesen beiden Rechtsgattungen zu sehen meinte, nannte er „typisch für die Geschichte Israels überhaupt, deren Spannung auf lange Jahrhunderte hinaus zu einem wesentlichen Teil eben daher kommt, daß hier ein junges, gerade erst erwachsendes Volkstum auf eine alte, ihm fremde Kultur stößt und zur Auseinandersetzung mit ihr gezwungen wird“104. Unter dem Gesichtspunkt der beiden Grundgegebenheiten der Kontinuität und des Dualismus hat Alt auch die zentrale Institution, das Königtum, behandelt. Seine vielleicht wichtigste Arbeit überhaupt, „Die Staatenbildung der Israeliten in Palästina“, im Untertitel des Erstdrucks als „verfassungsgeschichtliche Studien“ nicht weit vom Bereich des Juristischen angesiedelt105, brachte die Fülle der in der Überlieferung ausdrücklich genannten oder beschriebenen und der indirekt erschließbaren gleichzeitigen und ungleichzeitigen Faktoren in ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht. Durch dieses Verfahren – wie bei der Landnahme überwiegend „nicht Reproduktion der Quellen, sondern selbständige Rekonstruktion der sachlichen Zusammenhänge“106 – gewann der israelitische Doppelstaat in seiner Entstehungsphase für den modernen Betrachter eine fast unheimliche Durchsichtigkeit. Alt legte Wert darauf, dass neben den strukturellen Momenten das individuelle eine wichtige Rolle spielte, namentlich in der Reichsbildung durch das „politische Genie Davids“107, das die von Alt analysierte politische Konstellation in einer Reihe offenbar genau kalkulierter Schritte zur Bildung eines in der israelitischen, aber auch der ganzen antiken Geschichte der Region einzig dastehenden Großreiches ausnutzte – es ist schwer vorstellbar, dass Alt hier nicht bewusst oder unbewusst das Werk Bismarcks vor Augen gestanden haben sollte. Die weitere Geschichte des Königtums verstand er in der Kontinuität der grundlegenden Dualismen von Israel und Juda einerseits, Israel und Kanaan andererseits, worauf er in konsequenter, aber auch ein wenig spielerischer Anwendung der Verfahren von Rückschluss und Analogie noch am Ende seines Lebens die kühnsten Thesen baute108.

104  KS I, 331. 105  Diesen Untertitel, bei dem er das Wort Verfassung „im weitesten Sinne“ verstanden wissen wollte (KS II, 11), ließ er im Neudruck in den Kleinen Schriften ebenso fort wie den Untertitel „Territorialgeschichtliche Studien“ bei der Landnahmeschrift. 106  KS II, 36. 107  Ebd. 66. 108  1954 Der Stadtstaat Samaria (KS III, 258–302), 1956 Archäologische Fragen der Baugeschichte von Jerusalem und Samaria in der israelitischen Königszeit (ebd. 303–25). Sogar die beiden Haufen, zu denen Jehu nach 2 Kön 10,7 die Köpfe der omridischen Prinzen aufschichten ließ, sollen „vielleicht den Dualismus des Herrschaftssystems widerspiegeln“ (2892).

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Von ähnlicher Kühnheit war die These vom „Gott der Väter“109, mit der er weit hinter das Königtum zurückgriff. Dem religiösen Thema gebührte nach dem Urteil gerade des Historikers Alt vor dem politischen insofern die Priorität, als, wenn „überhaupt ein Rückschluß von dem späteren Schicksal des israelitischen Volkstums auf seine ersten Anfänge gewagt werden darf“, es nur der sein kann, „daß der Zusammenschluß der Stämme in der Verehrung Jahwes das Ereignis war, auf dem sich alles Weitere aufbaute“110. Auch für dieses grundlegende Ereignis stellte Alt die Frage nach der Kontinuität zu seiner Vergangenheit, genauer nach dem, woran damals angeknüpft werden konnte, noch genauer nach der „Disposition der Massen“, die „es ermöglichte, daß diese Neusetzung, wenn auch vielleicht sofort mit Abschwächungen, zum tragenden Fundament des Gemeinbewußtseins werden konnte“111. Die Antwort fand er in dem Überlieferungselement vom „Gott der Väter“ in der Genesis, für das er in der gewagtesten aller seiner Analogien ein ziemlich umfangreiches Vergleichsmaterial aus den viel jüngeren Inschriften der Nabatäer und der Palmyrener beibrachte. Die „Disposition“, das Verhalten und das Ergehen der „Massen“ interessierte ihn auch sonst, wenngleich er den Begriff nicht viel benutzte112. In diesen Zusammenhang gehören die Studien zur israelitischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und ihren Störungen, die er noch kurz vor seinem Tode herausgab113. Auch hier handelt es sich um das, was Alt immer betrieben hatte: Texten oder Verhältnissen oder Vorstellungen den „Grund ihres Daseins“ abzugewinnen, wobei dieser Grund stets der historische war. Aber war das nicht etwas einseitig, wurden damit nicht auch Dinge „historisiert“, die das eigentlich nicht vertrugen, kam nicht, zuletzt oder zuerst, die Religion, der Glaube Israels zu kurz? Gewiss ist einzuräumen: die religionsgeschichtlichen Arbeiten – außer dem „Gott der Väter“ wären etwa die „Gedanken über das Königtum Jahwes“114, ebenfalls eine Frage nach dem historischen „Grund des Daseins“, zu nennen – sind in Alts Werk bei weitem in der Minderzahl. Es kommt hinzu, dass er bei vielen Vorgängen von der Staatenbildung über die Aktionen Elias115 und Josias116 bis zur makkabäischen Erhebung117 die politischen und rechtlichen Motive gegenüber den religiösen ungewohnt kräftig akzentuierte. Trotzdem müsste schon das eben aus dem „Gott der Väter“ Zitierte genügen, um das Recht jener Fragen zu relativieren. 109  KS I, 1–78. 110  Ebd. 1. 111  Ebd. 23. 112  Vgl. noch KS II, 56. 113  KS III, 348–72.373–81. 114  KS I, 345–57. 115  KS II, 135–49; III, 276f. 116  KS II, 256f. 117  KS II, 402f. mit 4031.

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Von „Israel und Ägypten“118 bis in die letzten Entwürfe hinein ist Alt nicht müde geworden, in einer uns etwas fremd gewordenen, seiner Neigung zu Dualismen um so mehr entsprechenden Ausdrucksweise von der „inneren“ Geschichte in ihrer großen Bedeutung für die äußere und ihr gegenüber zu sprechen. Ich erinnere an seinen Hosea-Aufsatz, der stellenweise den politischen Aspekt überbetonen mag119, auf der anderen Seite aber seinen Höhepunkt in einer scharfen Gegenüberstellung von religiöser und politischer Geschichtsschreibung findet: „nicht falsche und richtige Politik, sondern Politik und Religion stehen widereinander. Wie armselig erscheinen die politischen Mittelchen der Kleinstaaten, wie armselig selbst die Großmächte vor solcher Anschauung!“120 Was Herkunft und Charakter „solcher Anschauung“ angeht, so sprach Alt meist davon, dass sie einem Propheten „aufgegeben“ gewesen sei121; er rührte damit an das Geheimnis der Offenbarung und deutete seine Stellung dazu an, ohne doch in seinem Historikerberuf über diese Andeutung hinauszugehen122. Worauf es ihm ankam, das war die geschichtliche Verankerung und Abzielung gerade auch der prophetischen Botschaft – dies auch gegen eine eschatologische Interpretation, die er für abwegig hielt. Noch ein letztes Wort in diesem Zusammenhang, wiederum in Abwehr eines Missverständnisses. Ich sprach von der fast unheimlichen Durchsichtigkeit, die die Periode der Staatenbildung bei Alt gewinnt. Für eine solche Durchsichtigkeit ließen sich noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele nennen, von kleinen Einzelheiten bis zu den großzügigen, weit über Israel hinausgreifenden Überblicken123. Sind Alts Konstruktionen nicht oft zu schön, um wahr zu sein? Ist die Geschichte wirklich ein derart erfassbares Kräftespiel von Kontinuitäten, Dualismen und Rhythmen, von Druck und Gegendruck, von bewahrtem und gestörtem Gleichgewicht der Kräfte? Alt würde auf solche Fragen wohl zunächst mit der Bitte antworten, im Einzelfall widerlegt zu werden; er selbst sah die Dinge ja immerhin so klar und durchsichtig vor sich, wie er sie darstellte. Er würde ferner geltend machen, dass er etwa gerade bei dem ältesten Reich Israel nicht nur auf seine „logisch richtige“ Stellung im Gang der Geschichte hingewiesen hat, sondern auch auf die „Irrationalität, die ihm so wenig fehlen kann wie irgendeinem anderen Gebilde der Geschichte“124. Und zu seinen Dualismen gehörte auch der von Natur und Geschichte. Bei seinen territorialgeschichtlichen Studien ergab sich ihm immer wieder, dass – um seine früheste ein118  Vgl. dort die Schlusssätze 102. 119  Vgl. W. Rudolph, Hosea (1966) 120 zu Hos 5,1f. 120  KS II, 182. 121  KS III, 300.348; ähnliche Wendungen passim in den Aufsätzen über Prophetentexte. 122  Einmal begegnet die Wendung vom „metahistorischen Untergrund und Urheber“ aller Geschichte (ZThK 56, 1959, 136, vgl. auch 137 = Zur Geschichte des Volkes Israel [Anm. 47] 447.448). Im Kolleg und Seminar zitierte Alt gern Hebr 1,1. 123  KS III, 1–19.20–48; vgl. auch DLZ 76 (1955) 610f. 124  KS II, 16.

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schlägige Äußerung zu zitieren – die politische Geographie grundsätzlich „von dem Gang der geschichtlichen Ereignisse mindestens ebenso stark bestimmt sein wird wie von dem Zwang der natürlichen Verhältnisse“125. In einer seiner schärfsten Polemiken nannte er es beklagenswert und primitiv, „mit ein paar Zirkelschlägen auf der Landkarte“ Territorialgeschichte zu betreiben126. Das Hauptbeispiel für den Antagonismus von Natur und Geschichte war für ihn der Aufstieg Jerusalems, den die Geschichte geradezu „der Natur abgetrotzt“ habe127. Die Geschichte – das war in diesem Fall ein einziger Mann: David128. Natürlich verstand Alt diesen Mann ganz überwiegend aus seinem Verhältnis zu den überindividuellen Gegebenheiten, die er vorfand und auf die er einwirkte. Aber diese Möglichkeit des Verstehens hatte Alt immerhin, und sie kam auch dem Verstehen des Individuums zugute. Über die Grenzen, in denen das nur möglich war, hatte Alt keine Illusionen. Den Satz, den Otto Hintze an den Schluss seiner Abhandlung über Staatenbildung und Verfassungsentwicklung stellte, hätte er leicht an die gleiche Stelle seiner eigenen Schrift über die israelitische Staatenbildung übernehmen können: „Diese morphologischen Betrachtungen hatten überhaupt nur die äußersten Umrisse im Auge, innerhalb deren sich, jeder Formel spottend, das bunte und vielgestaltige Leben der historischen Wirklichkeit entfaltet.“129 Dass Alt für „das bunte und vielgestaltige Leben der historischen Wirklichkeit“ Sinn besaß und Sinn zu wecken verstand, wie nur ganz wenige es können, bezeugt jeder, der ihn gekannt hat. Als W. F. Albright 1934 Alt seine Bewunderung für „Die Ursprünge des israelitischen Rechts“ ausgesprochen hatte, bedankte sich Alt mit dem lakonischen Satz: „Aber Wellhausen bleibt Wellhausen!“130 Damit war nicht nur in Bescheidenheit ein Rangunterschied bezeichnet, sondern noch mehr eine bleibende Grundlage der alttestamentlichen Wissenschaft, auf die sich auch Alt mit vollem Bewusstsein stellte. Er wusste, wie Wellhausens Bücher, nicht zuletzt die über das alte Arabien, einzuschätzen waren, und kannte den Genuss, den ihre Lektüre bereitet. „Wie herrlich muß das sein“, schrieb er an den mit der Priesterschrift beschäftigten v. Rad, „so Wochen lang über Holzinger, Bäntsch usw. sitzen und dann, wenn ihre Schülerhaftigkeit einem peinlich zu werden beginnt, zu Wellhausen flüchten zu dürfen!“131 Die Grundeinsichten Wellhausens, voran die vom „tiefen Bruch“ zwischen dem vorexilischen Israel

125  KS II, 83. 126  KS II, 195 (gegen A. Jirku); vgl. auch PJ 28 (1932) 23. 127  KS III, 247. 128  Ebd. 253. 129  O. Hintze, Staatenbildung und Verfassungsentwicklung (1902; in: Staat und Verfassung. Ges. Abhandlungen zur allg. Verfassungsgeschichte, 31970, 34–51) 51. 130  Albright (Anm. 1) 171. Vgl. auch KS II, 250. 131 31.3.1932.

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und dem Judentum132, bejahte er und fand sie in seiner eigenen Arbeit immer wieder bestätigt. Er begann diese seine Arbeit mit großem Respekt vor „der Generation, die nun eben abgeschlossen hinter unserer alttestamentlichen Wissenschaft liegt und der wir Jüngeren noch nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen haben“, und im „Bewußtsein der Pflicht, die wissenschaftliche Art unserer Väter im vollen Ernst ihrer methodischen Forderungen wie in ihren bleibenden Ergebnissen auch im jungen Geschlecht lebendig zu erhalten. Es regt sich allerlei im heutigen Zunftkreis“, so fügte er im Blick auf die Gegenwart kurz vor dem ersten Weltkrieg hinzu, „was einem diese Pflicht als besonders dringlich erscheinen läßt.“133 Aber eben: die Generation Wellhausens war abgeschlossen, ihr Werk getan. Im bisherigen Stil weiter Literarkritik zu treiben hielt er für verfehlt – schon weil es eben nicht mehr der Stil Wellhausens war und sein konnte. Eißfeldts Teilung des Jahwisten in zwei parallele Fäden134, aber auch seines eigenen Schülers v. Rad entsprechende Operation an der Priesterschrift135 war in seinen Augen abwegig, und von Hölschers großer Arbeit an den Pentateuchquellen meinte er, sie komme „um ein Menschenalter zu spät“136. Was lässt sich über seine eigene wissenschaftliche Herkunft sagen? Es fällt auf, dass der Examenskandidat in seinem Lebenslauf von 1906137 als einzigen Lehrer im Alten Testament den ehemaligen Erlanger Privatdozenten Justus Köberle (1871–1908) nennt, einen für seine späteren und wohl auch schon damaligen Interessen ganz unergiebigen Mann, dem er aber für sein Studium in den ersten Semestern erklärtermaßen „die meiste Anregung“ verdankte. Der Ordinarius Wilhelm Lotz (1853–1928) scheint auf den Studenten keinerlei Eindruck gemacht zu haben; immerhin dürfte auf ihn das Thema der Preisarbeit über die Entwicklung des Begriffs Thora im Alten Testament zurückgehen, mit der Alt den Preis der Hofmann-Thomasius-Stiftung gewann. Merkwürdigerweise hat er in Leipzig von Rudolf Kittel nicht nennenswert Notiz genommen, dem er später durchaus nahetrat und dessen dortiger Nachfolger er aus gutem Grund gewesen ist; er übernahm von ihm ja auch (gemeinsam mit O. Eißfeldt) die Herausgabe der Biblia Hebraica. In den gemeinsamen Leipziger Jahren von 1923 bis 1929 bestand zwischen beiden ein wissenschaftlicher Austausch, bei dem mehr Alt als Kittel der Gebende gewesen zu sein scheint138. Indem die Leipziger Fakultät Alt zu Kittels Nachfolger machte, wollte sie die eher konservative Tradition dieses wichtigen Lehrstuhls fortgesetzt sehen. Betrachtet 132  KS III, 121. 133  Brief an R. Smend, 8.1.1914. 134  O. Eißfeldt, Hexateuch-Synopse (1922). 135  G. v. Rad, Die Priesterschrift im Hexateuch (1934). 136  Brief an G. v. Rad, 23.1.1947 (zu G. Hölscher, Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung, 1941/42; ders., Geschichtsschreibung in Israel, 1952). 137  S.o. Anm. 75; danach auch das Folgende. 138  Vgl. R. Kittel, Geschichte des Volkes Israel III/2 (1929) V.619.723.

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man Alts Herkunft und Grundhaltung, aber auch seine fachlichen Freundschaften, voran die mit Otto Procksch, dann wird man sagen können, dass diese Erwartung sich erfüllt hat. Aber solche Schemata treffen ja zum Glück nie ganz zu, und so hatte Alt unter seinen älteren Kollegen und Freunden auch einen von ganz besonderem Schlage, nämlich Bernhard Duhm in Basel. Hier begegnete er einer Natur, die womöglich noch elementarer war als seine eigene. Von Duhms Umgang mit den Propheten hat er sich kräftig anregen lassen. Man findet die Spuren davon nicht nur in seiner Art, prophetische Texte zu behandeln, sondern auch in seiner Hochschätzung der „originalen“ vorexilischen Propheten auf Kosten ihrer späteren Nachfolger und Ergänzer. Wenn Alt bei Gelegenheit Ezechiel einen „Modepropheten“ nannte, dann war das ganz in Duhms (und Wellhausens) Sinn139. Schließlich muss in diesem Zusammenhang Gustaf Dalman (1855–1941) genannt werden, sein Vorgänger als führender Kopf der deutschen Palästinawissenschaft. Seit dem Jerusalemer Lehrkursus von 1908 bestanden zwischen ihnen vielerlei persönliche und sachliche Berührungspunkte, aber in beiden Hinsichten wird man von wirklicher Nähe noch weniger sprechen können als beim Verhältnis zwischen Alt und Kittel. Es gab sicher gegenseitigen Respekt, aber auch, neben mancherlei einzelnen Differenzen, die in gelegentlichen Anmerkungen ausgetragen wurden140, grundsätzliche Vorbehalte auf beiden Seiten. Dalman hielt nichts von der Oberflächenforschung, wie Alt und Albright sie betrieben141, und Alt fand bei Dalman nicht nur die Archäologie, sondern auch die Geschichte überhaupt, insbesondere die Territorialgeschichte vernachlässigt142. Obwohl Alt, der einzigartige Lehrer, also seinerseits keinen wirklichen Lehrer hatte und sich überhaupt lieber durch eigene Beobachtungen und neu veröffentlichtes „Rohmaterial“, wie er es nannte, anregen ließ, stand er doch keineswegs außerhalb des Ganges der normalen Wissenschaftsgeschichte. In seine Studentenzeit fiel der Babel-Bibel-Streit; er stieß ihn ab und bestimmte ihn, sich statt auf die Keilschrift zunächst auf die Hieroglyphen zu werfen, die ihm auch ästhetisch besser gefielen. Gegen mancherlei mythologisierende Tendenzen in der alttestamentlichen Exegese damals und später war er immun143. Sein Ziel war meist die Geschichte, aber auf die „Bereinigung des literarischen Vorgeländes für das historische Arbeitsfeld“144 legte er großen Wert, und dabei 139  Vgl. sein Diktum auf dem Göttinger Alttestamentlertag 1935, bei R. Smend, Bibel und Wissenschaft (2004) 275f. 140  Ein Beispiel: PJ 21 (1925) 305. 141  Vgl. seine Autobiographie (RWGS 4, 1928) 21f.; dagegen sehr kurz Alt in seinem Nachruf PJ 37 (1941) 151. 142  Ebd. 12f.16: „So mußte seinem Bild der Vergangenheit die geschichtliche Spannung fehlen und daher auch in seinen Darstellungen das Historisch-Dynamische hinter dem Naturhaft-Statischen zurücktreten.“ Zur Territorialgeschichte vgl. den ziemlich boshaften Hinweis KS II, 4404. 143  Vgl. schon ZAW 32 (1912) 123–25. 144  KS I, 181.

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kamen ihm wie den meisten Angehörigen seiner Generation die Anregungen Hermann Gunkels zustatten. Er interessierte sich weniger für die großen durchlaufenden Quellenschriften als für die Einzelstoffe und deren Vorgeschichte145, hoffte allerdings, die dabei gewonnenen Ergebnisse würden „letztlich auch der literarkritischen Arbeit zugute kommen“146. Sein wichtigster eigener Beitrag zu der von Gunkel inaugurierten Gattungsforschung war deren Anwendung auf die Rechtsliteratur. Auch an ihrer Auswertung für die Geschichte des Kultus beteiligte er sich, teilweise im – nicht kritiklosen – Anschluss an Gunkels großen Schüler Sigmund Mowinckel, teilweise mit eigenen Vorschlägen147. Alt gehörte nicht zu den Theologen, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, das jeweils Letzte oder Vorletzte, das in einer der Nachbarfakultäten erarbeitet worden ist, auf die ihnen obliegenden Gegenstände anzuwenden. Aber er arbeitete, ohne, etwa durch allerlei anspruchsvolle Zitate, viel Aufhebens davon zu machen, bewusst und umsichtig in der Gemeinschaft der universitas literarum. Sein rechtshistorisches Interesse wurde schon erwähnt. Seine territorialgeschichtlichen Studien sah er selbst in Korrespondenz zu verwandten Tendenzen der historisch-geographischen Forschung überhaupt, deren Methode und Terminologie ihm wohlvertraut war. Besonders gut kannte er sich in der späteren Antike und dem frühen Mittelalter aus, wo die Probleme denen seines eigenen Faches ähnlicher sind als im Spätmittelalter und der Neuzeit; geradezu ein Faible hatte er für die süddeutsche Limesforschung. Den Begriff der Landnahme übertrug er von den Germanen auf die Israeliten, die „Staatenbildung“, aber auch die „Disposition der Massen“ dürfte er von Otto Hintze übernommen haben, dessen Lektüre auch sonst bei ihm Spuren hinterlassen hat148. Von ähnlicher Art waren die Anregungen, die er sich durch Max Weber geben ließ. Sie betrafen den Weidewechsel als Vorstufe der Landnahme149, das charismatische Führertum der vorstaatlichen Zeit150 und andere Lebensbedingungen und Strukturelemente der israelitischen Gesellschaft. Natürlich übernahm Alt nichts ungeprüft und dachte nicht daran, sich in Abhängigkeiten zu begeben. Die Gedankengänge der Historiker, Verfassungsrechtler und Soziologen waren ihm vielmehr „ein sehr wichtiges heuristisches 145  Vgl. etwa KS I, 194f. 146  KS II, 2762. 147  Vgl. KS I, 78–88.328–31.347. 148  Vgl. schon die Überschrift der oben Anm. 129 genannten Abhandlung und dort 37f. mit KS I, 2; ferner etwa KS III, 462. 149  M. Weber, Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie III. Das antike Judentum (1921) 44–49 (Gesamtausgabe I,21,1, 293–300). Dazu Alt zunächst noch eher fragend PJ 21 (1925) 28, später (1939) ausführlich KS I, 141–47. 150  Weber a.a.O. 22–25.47f.92.106f. (264–67.297f.360.380f.); ders., Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriß der Sozialökonomik III, 1922) 753–78 (Gesamtausgabe I,22,4, 460–535) u.ö.; Alt, KS II, 17–21; dazu A. Malamat, Charismatische Führung im Buch der Richter (in: W. Schluchter [Hg.], Max Webers Studie über das antike Judentum, 1981, 110–33); E. Otto, Max Webers Studien des Antiken Judentums (2002) 276f. u.ö.

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Mittel“, wenn sie „bei dem Stand der Überlieferung an vielen und gerade an den entscheidenden Stellen auch nicht zur vollen Erfassung der geschichtlichen Zusammenhänge“ führten151. Die eigene Aufgabe ließ er sich also nicht abnehmen. Und schon gar nicht befasste er sich mit Theorien, die in seinen Augen für die Erfassung und Deutung der geschichtlichen Sachverhalte nichts einbrachten. Als ich ihn einmal dreist nach seiner Meinung zu W.F. Albrights „From the Stone Age to Christianity“152 und speziell der darin enthaltenen Geschichtsphilosophie fragte, antwortete er mit Nachdruck, diese theoretischen Partien habe er bei der Lektüre „mehr oder weniger überschlagen“, genau wie er es auch mit dem ersten Halbband von Eduard Meyers Geschichte des Altertums gemacht habe. Alt war nicht Geschichtsphilosoph, sondern Historiker und legte Wert auf den Unterschied zwischen beiden153. Als Historiker interessierte ihn allerdings das sehr viel umfangreichere übrige Werk Ed. Meyers brennend, und zwar vor allem darum, weil hier zum ersten und wohl auch letzten Mal das alte Israel einigermaßen fachmännisch in den Rahmen einer umfassenden und ausführlichen Gesamtdarstellung des alten Orients, ja dem Plan nach der ganzen Antike gestellt wurde. Er hat sich mit Meyer an vielen Stellen auseinandergesetzt und es mit einem gewissen Vergnügen notiert, als Meyer auf seine alten Tage eine seiner eigenen Kombinationen halb anerkennend, halb skeptisch als „weitgreifend“ bezeichnete154. Alts Werk ist nicht schnell zur Wirkung gekommen. Er wurde nicht durch eine brillante Dissertation oder Habilitationsschrift bekannt, und was in „Israels Gauen unter Salomo“ steckte, wusste höchstens er selber. Er publizierte die entscheidenden Arbeiten erst in verhältnismäßig späten Jahren, einige von den wichtigsten an versteckten Stellen und über Gegenstände, die damals nicht jedem als zentral erschienen sein dürften. Als er 1953 auf mannigfache Bitten hin die „Kleinen Schriften“ herausbrachte, tat er es auch, um das darin Zusammengestellte „vielleicht zu besserer Wirkung zu bringen“155. Er begleitete die Bände allerdings mit dem Stoßseufzer: „Wenn nur C.H. Beck damit nicht Bankrott macht!“156 Der beispiellose Erfolg der Sammlung warf solche Befürchtungen über den Haufen. Von den ersten beiden Bänden gab es ziemlich bald vier, vom 1959 hinzugekommenen dritten zwei Auflagen – und das trotz hoher Preise. Bei Studenten in Ost und West waren die einbändigen Auswahlausgaben sehr verbreitet, die Rudolf Meyer und Siegfried Herrmann besorgt hatten. Trotz der 151  Brief an R. Smend, 28.1.1912, zu Gedanken Lorenz Steins. 152  21946; dt. 1949 unter dem Titel Monotheismus und geschichtliches Werden. 153  Einem von ihm geschätzten Fachkollegen, der sich auf systematisch-theologische Aussagen einließ, hielt er vor, „es könne ihm wohl gehen wie einem Historiker, der sich in Geschichtsphilosophie versucht und der damit nur den Widerspruch der Philosophen hervorruft“ (CuW 1, 1925, 51). 154  KS I, 1681. 155  KS I, VIII. 156  Brief an G. v. Rad, 18.1.1953.

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langen Sätze gibt es auch Übersetzungen. Bis in seine letzten Lebensjahre hinein außerhalb Leipzigs eher so etwas wie ein Geheimtipp unter Kennern, war Alt seitdem ein vielgelesener, ein weltberühmter Gelehrter. Dem „Pfadfinder“, „der sich in den am wenigsten besuchten Dschungel der Überlieferung hineingewagt“ hatte „und fast nie leer zurückgekehrt war“157, folgte unversehens eine nach Personenzahl und Geräuschentwicklung starke Karawane, die auf seinen Pfaden kräftig trampelte, sie großzügig verbreiterte und den Dschungel bald gut zu kennen glaubte. Wirklich unversehens? Im Rückblick lässt sich das kaum behaupten. Alts Forschungsergebnisse schienen vielmehr aufs beste zu Tendenzen zu passen, die um die Jahrhundertmitte nicht nur in der alttestamentlichen Wissenschaft, aber in ihr besonders wirkungsvoll dominierten. Man glaubte eine lange Durststrecke beendet, die mit Wellhausens Prolegomena begonnen hatte. Der Gott der Väter, das apodiktische Recht, der ständige Gegensatz Israels gegen Kanaan – um nur diese drei Dinge zu nennen: hatte man in der Kenntnis des ältesten Israel nicht auf einmal wieder festen Boden unter den Füßen? Und war das alles nicht für den Theologen bis hin zur Predigt herrlich verwendbar? So hat Alt auch über die Grenzen seines Faches hinaus, wenngleich durchaus indirekt und unbeabsichtigt, einen Einfluss gehabt, der von Wilhelm Vischers „Christuszeugnis des Alten Testaments“158 bis hin zu der 1961 proklamierten Theologie der „Offenbarung als Geschichte“159 reichte und in einigen Ausläufern immer noch nicht ganz verebbt ist. Innerhalb des Faches war sein Prestige schließlich so groß, dass ihm auch so schwach begründete Thesen wie die über das Diebstahlsverbot im Dekalog160 oder die Heimat des Deuteronomiums161 in weiten Kreisen ohne weiteres abgenommen wurden. Dem entsprach der panegyrische Ton in einigen der Nachrufe162. Alts Wirkung ist nicht zu trennen von der seiner Schüler. Aus ihrem Kreis ist mehrfach Widerspruch gegen den vor allem in Amerika beliebten Begriff der Alt-Schule laut geworden163, sicherlich insofern mit Recht, als Alt nichts daran gelegen war, eine solche Schule zu gründen und deren Haupt zu sein, und als er denen, die um ihn waren, in generöser Weise Freiheit gewährte. Trotzdem konnte und wollte er natürlich nicht verhindern, dass sie von ihm Anstoß und Anleitung zu fruchtbarer eigener Arbeit empfingen164. Er war ein 157  S. Mowinckel, ThLZ 80 (1955) 204. 158  Vgl. Vischers vornehme Erklärung im 2. Band (21946) 19f.3. Alt lehnte Vischers Unternehmen kategorisch ab. S.u. 786f. 159  KuD.B 1. 160  KS I, 333–40. 161  KS II, 250–75. 162  Vgl. S. Morenz, ZÄS 81 (1956) I–III und die ständige Rede von „unserem Meister“ bei Bardtke (Anm. 2). 163  Vgl. bes. M. Noth, Aufsätze zur biblischen Landes- und Altertumskunde I (1971) 341. 164  „Alts Größe war, daß er anregte, aber nicht Gefolgschaft forderte.“ (L. Rost brieflich an den Verf., 21.11.1969).

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Lehrer, wie wenige Schüler ihn haben, und er hatte Schüler, wie wenige Lehrer sie haben. Martin Noth, Gerhard v. Rad, Karl Elliger, Rudolf Meyer und Siegfried Herrmann waren seine Assistenten, in seinen Umkreis gehörten Friedrich Baumgärtel, Leonhard Rost, Kurt Galling und Alfred Jepsen, zu schweigen von den Leipziger Kollegen Joachim Begrich, Hans Bardtke und Siegfried Morenz. Einige der hoffnungsvollsten Jüngeren – genannt seien Ehrhard Junge und Werner Müller – nahm der Krieg hinweg. Zwei sehr spezifische Schüler Alts – man konnte sie schon an ihrer Mimik und Gestik als solche erkennen –, Siegfried Herrmann (1926–99) und Herbert Donner (1930–2016), waren bis tief in die neunziger Jahre hinein erfolgreich in Forschung und Lehre tätig, jeder von ihnen übrigens wie in der Generation vor ihnen Martin Noth Autor einer Gesamtdarstellung der Geschichte des alten Israel – was der Lehrer nicht hatte sein wollen. Es wäre reizvoll, etwa anhand dieser drei Gesamtdarstellungen im Vergleich mit ihren älteren Vorgängerinnen vorzuführen, was die Schüler vom Lehrer gelernt haben, und natürlich auch, worin sie ihm gegenüber selbständig geworden oder hinter ihm zurückgeblieben sind. Doch das kann hier ebenso wenig die Aufgabe sein wie eine Übersicht über die bekanntgewordenen Stellungnahmen Alts zu den Arbeiten der Schüler. Nur zwei seien in aller Kürze herausgegriffen, nämlich sein Einverständnis mit zentralen Thesen der beiden bedeutendsten unter ihnen: mit Noths These vom Bund der zwölf Stämme Israels in vorstaatlicher, womöglich aber auch noch in staatlicher Zeit („Amphiktyonie“)165 und mit v. Rads These von der Entstehung des Hexateuchs aus alten formelhaften Bekenntnissen („Credo“), die vom Jahwisten zu einem großen, theologisch geprägten Erzählungswerk ausgearbeitet wurden166. Mit der Nennung dieser beiden Thesen ist in das Wespennest der heutigen Diskussion hineingegriffen, in der der Name Alts, sozusagen des Großvaters dieser Thesen, ebenso wie die Namen ihrer unmittelbaren Väter, manchmal nur noch mit einem überlegenen Naserümpfen genannt wird. Kein Zweifel: die Epoche der alttestamentlichen Wissenschaft, in der Alt, Noth und v. Rad dominierten, ist abgeschlossen, wie 1914 die Epoche Wellhausens abgeschlossen war. Hatte sich Alt gegen Ende seines Lebens vornehmlich mit Konservativeren, besonders in Amerika und in Israel, auseinanderzusetzen167, so kommt die seitherige Kritik immer mehr von der anderen Seite, sozusagen von links. Die Hauptfrage ist heute: hat Alt nicht doch den schriftlichen Quellen immer noch (oder wieder) zu viel zugetraut? Tragen sie die kühnen Konstruktionen, die er mit seinen Rückschlüssen und Vergleichen auf ihnen errichtet hat? Das Gleichgewicht solcher Gebilde kann ja schon durch die geringfügigsten Verschiebungen aufs äußerste gefährdet werden, und solche Verschiebungen 165  M. Noth, Das System der zwölf Stämme Israels (1930). 166  G. v. Rad, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs (1938; Ges. Studien zum AT I, 41971, 9–86). 167  Vgl. zuletzt ThLZ 81 (1956) 521–28 (gegen Y. Kaufmann).

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ergeben sich dem, der diffizile Stoffe wie diese als nächster oder übernächster bearbeitet, sehr schnell. Sie lassen sich gerade im Falle Alts, der nicht nur das Material, sondern meist auch die Gesichtspunkte zu seiner Deutung ebenso übersichtlich wie überlegen zusammengestellt hat, oft ziemlich leicht herbeiführen, ohne dass seine Pionierarbeit auch nur zu einem Bruchteil wiederholt werden müsste. So ist, wer Alt bestreitet, immer wieder in der angenehmen Lage, auch in umgekehrter Richtung mit Alts Kälbern pflügen zu können. Einige auch der zentralen Thesen, voran die vom Gott der Väter168 und die vom apodiktischen Recht169, haben mittlerweile schweren Schaden genommen, und bei weiteren steht das zu erwarten. Der interessanteste Fall ist die israelitische „Landnahme“. Hier hat sich die Forschung, nicht zuletzt aufgrund neuen Materials, in etwas anderer Richtung weiterbewegt, aber sie hat von niemandem so viel gelernt wie von Alt – ich hörte Professor Israel Finkelstein, einen der wichtigsten Wortführer von heute, über seinen Vorgänger sagen: „He is my god.“ Die Diskussion ist noch keineswegs abgeschlossen, ja sie hat, um es auf Altsche Weise in den Kategorien des Dramas auszudrücken, kaum schon ihre Peripetie erreicht. Wie immer sie ausgehen mag: man wird an ihrem Ende über die älteste Geschichte Israels – die Möglichkeit sensationeller Funde einmal nicht gerechnet – mit einiger Sicherheit weniger sagen können als das, was Alt gesagt hat. Ob es richtiger sein wird, mag sich dann wieder eine Generation später zeigen. Mit größerer Hingabe und Umsicht gearbeitet und schöner zu lesen wird es, das steht zu befürchten, nicht sein. Schon aus diesem Grunde darf trotz allem in Gelassenheit gesagt werden: „Aber Alt bleibt Alt!“170

168  Vgl. vor allem M. Köckert, Vätergott und Väterverheißungen. Eine Auseinandersetzung mit Albrecht Alt und seinen Erben (1988). 169  Vgl. immer noch den Bericht von W. Schottroff, VF 22 (1977) 3–29. 170  Den letzten Satz variierte 1986 der damalige israelische Religionsminister Dr. Josef Burg (1909–99), ein früherer Leipziger Student, zu: „Alt bleibt jung“ (brieflich an den Verf., 24.9.1986).

Sigmund Mowinckel 1884–1965

Es gibt Gelehrte, die schon zu ihren Lebzeiten, ja sogar schon bevor sie alt sind, als Klassiker gelten, gleichgültig ob man ihre Meinungen überall teilt oder nicht. Zu ihnen gehört Sigmund Mowinckel. Schon früh hieß er „der große Mowinckel“, sein Prestige reichte weit über das heimatliche Oslo und Skandinavien hinaus, in der Ferne nahm er geradezu die Züge einer mythischen Gestalt an. Die Porträtfotos lassen ahnen, dass von seiner Person ein Zauber ausgegangen ist. Sie zeigen einen sehr souveränen und sehr natürlichen Menschen, der es nicht nötig hat, sich selbst zu inszenieren. Sein einfaches Grab am Rande des Friedhofes neben dem Vigeland-Park hebt ihn, sicherlich seinem Willen gemäß, nicht unter seinen Mitbürgern heraus. Auf seinem Exlibris steht „Carpe diem“, dahinter sieht man den gestirnten Himmel, darunter die Erde und ein Stundenglas. Nach Horazens Maxime ist er zeitlebens verfahren. Statt sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, blieb er bis ans Ende – er starb 1965, knapp 81 Jahre alt – auf der Höhe der Diskussion und unentwegt produktiv. Seine kritische Aufmerksamkeit galt auch im hohen Alter dem Neuen und den Neuen. Als Sohn eines Pfarrers 1884 im nordnorwegischen Kjerringøy geboren, besuchte er das Gymnasium in Bergen, studierte in Oslo (damals Kristiania) Theologie, widmete sich nach dem Staatsexamen (1908) weiteren Studien, teilweise im Ausland, holte 1915 das praktisch-theologische Examen nach, wurde 1916 in Oslo promoviert und habilitiert, erhielt dort 1917 eine Dozentur, 1922 eine außerordentliche Professur und 1933 als Nachfolger von Simon Michelet (1883–1943) den Lehrstuhl für Altes Testament. Auch als ihn Rufe nach Marburg und Basel erreichten, bewahrte er Oslo die Treue. Er war Ehrendoktor in Gießen, Lund, Straßburg, Amsterdam und St. Andrews, Mitglied mehrerer Akademien und Ehrenmitglied der Society of Biblical Literature und der Society for Old Testament Study. 1949 verlieh ihm die British Academy die Burkitt Medal for Biblical Studies. Er war zweimal verheiratet und hatte zwei Töchter. Nicht von ungefähr ist gesagt worden, ein Buch über Mowinckel müsse ein Buch über die alttestamentliche Wissenschaft im ganzen für die Periode von

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1910 bis 1965 sein1. In Mowinckels immensem Oeuvre2 spiegelt sich nahezu alles, was damals geschah, sein Interesse hatte keine Grenzen, er war in jedem der vier Teile des hebräischen Bibelkanons völlig zu Hause, bezog überall Stellung – und das nicht im Stil wahlloser Vielgeschäftigkeit oder eines langweiligen „multa non multum“, sondern mit urkräftigem eigenem Temperament, starken Akzenten, unverwechselbarer Handschrift. Mowinckel ist immer Mowinckel, bei allem Eingehen auf die Forschungslage doch niemals nur Spiegel oder Echo, bei aller Dankbarkeit gegen die Lehrer doch niemals der Verfechter von Schulmeinungen, bei allen Wiederholungen und allem Eigensinn doch niemals der Gefangene älterer eigener Ansichten, sondern stets in neuer lebendiger Begegnung mit dem Stoff. Er muss – übrigens auch deutsch – leicht und schnell geschrieben haben und liest sich leicht und schnell; Langeweile gibt es dabei nicht. Mowinckel sah sich in der Kontinuität der Geschichte seiner Wissenschaft. Deren beide von ihm unmittelbar vorausgesetzte Etappen trugen die Namen zweier deutscher Gelehrter, Julius Wellhausen und Hermann Gunkel. Wellhausen, 1844 geboren, war in biblischer Korrektheit genau 40 Jahre älter als Mowinckel, Gunkel, 1862 geboren, 22 Jahre. Die Etappen folgten also sehr schnell aufeinander, und bei aller Kritik baute doch Gunkel auf Wellhausen auf und Mowinckel auf beiden, vor allem natürlich auf Gunkel, seinem eigenen Lehrer. Wie Wellhausens Arbeit oft als Abschluss gesehen wurde, so diejenige Gunkels als Anfang, und in der Tat hat sie in der alttestamentlichen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts nachgewirkt wie kaum etwas sonst. Daran hatte Mowinckel einen wesentlichen und, wie wir gleich sehen werden, sehr selbständigen Anteil. Zunächst aber ist der Anteil zu unterstreichen, den er an der Literarkritik in der Nachfolge Wellhausens gehabt hat. Er war in der literarkritischen Schule „tief verwurzelt“3, schrieb einen der verständnisvollsten Nachrufe auf Wellhausen4 und hatte in Gustav Hölscher einen der prononciertesten Literarkritiker zum Freund5. Er selbst betrieb Quellenstudien nach allen Regeln philologischer Kunst. Sie werden sozusagen eingeschlossen von dem Früh- und Spätwerk über die Bücher Esra und Nehemia, 1916 in zwei Bänden norwegisch6, 1  M. Sæbø, SJOT 2 (1988) 23. Die erste und wohl endgültige Biographie trägt diesem Sachverhalt schon in ihrem Titel Rechnung: S. Hjelde, Sigmund Mowinckel und seine Zeit (2006). 2  Bibliographie (von D. Kvale und D. Rian): SJOT 2, 95–168 (dort auch die Literatur über ihn); Hjelde (Anm. 1) 323–46. 3  Sæbø, SJOT 2, 27. 4 KiKul 25 (1918) 277–88. Vgl. auch Ezra den skriftlærde (1916) V; Erwägungen zur Pentateuch Quellenfrage (1964) 6. 5  Sehr lehrreich schon die frühe kritische Würdigung seiner Arbeit durch Hölscher: NTT 24 (1923) 73–138. 6  Statholderen Nehemia; Ezra den skriftlærde (Studier til den jødiske menighets historie og litteratur I/II).

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1964/65 in drei Bänden deutsch7, beide Male in der Grundauffassung gleich und angesichts der literarischen und historischen Schlüsselstellung der hier analysierten Texte ein guter Ausgangs- und Endpunkt für die Arbeit an der übrigen Erzählungs- und Gesetzesliteratur. Soweit diese Arbeit den Pentateuch betraf, zog Mowinckel ein Jahr vor seinem Tod die Summe in den „Erwägungen zur Pentateuch Quellenfrage“, die man ohne Bedenken eine Apologie der klassischen Pentateuchkritik nennen kann8. Als Wellhausens „dauernde Großtat“ bezeichnet Mowinckel dort9 „die unwiderlegbare relative Chronologie der anzunehmenden Quellen, bzw. der von diesen vertretenen geschichtlichen Milieuen, die in den Symbolen J–E–D–P ausgedrückt werden“. Von zwei früheren eigenen Hypothesen nimmt er Abstand: er findet den Elohisten nicht mehr in der Urgeschichte10 und die beiden älteren Pentateuchquellen, anders als früher auf Hölschers Spuren, nicht mehr in den Büchern Richter bis Könige11. Hinsichtlich dieser Bücher kam er, ebenfalls 196412, in die Nähe von Martin Noths Hypothese eines „deuteronomistischen Geschichtswerks“, auf die er längst vorbereitet war. Zunächst als Literarkritiker hat er sich aber auch in die Propheten eingearbeitet. Seine erste selbständige Schrift, „Zur Komposition des Buches Jeremia“ (1914), zerlegt dieses Buch, die Anschauung Bernhard Duhms variierend, in vier schriftliche Quellen, die gesammelt und redigiert wurden und Interpolationen erfuhren, ganz wie es bei vergleichbaren Objekten der hergebrachten Philologie der Fall ist. Dies alles – und es ließe sich leicht vermehren – ist aber nur die eine Seite der Sache. Der Literarkritiker Mowinckel ist nicht der ganze Mowinckel, ja nicht einmal der halbe. Man darf nicht übersehen, dass er in der Priesterschrift von der nachexilischen schriftlichen Fixierung die ältere Tradition abhob13; dass er den Elohisten als einen „Jahvista variatus“ – variiert in überwiegend mündlicher Tradition – verstand14; dass er ähnlich im „Sonderstoff“ der Chronik den Niederschlag einer weitergehenden mündlichen Tradition erblickte15; dass er die Nehemia-Denkschrift der Gattung der altorientalischen Königsinschriften zuordnete16; dass er bei Jeremia und den anderen Propheten 7  Die nachchronische Redaktion des Buches. Die Listen; Die Nehemia-Denkschrift; Die Ezrageschichte und das Gesetz Moses (Studien zu dem Buche Ezra-Nehemia I–III). 8  Vgl. ThLZ 93 (1968) 654f. 9  Erwägungen 5. 10  Erwägungen 60 gegen The two sources of the predeuteronomic primeval history (JE) in Gen. 1–11 (1937) 2. 11  Erwägungen 48.51 gegen Det Gamle Testamente. Oversat av S. Michelet, S. Mowinckel og N. Messel, II (1935) 78f.142ff.301ff. 12  Tetrateuch – Pentateuch – Hexateuch; vgl. ASTI 2 (1963) 4–26. 13  Zuletzt Die Ezrageschichte und das Gesetz Moses 160f. 14  Zuerst ZAW 48 (1930) 270f., zuletzt Erwägungen zur Pentateuch Quellenfrage 112–16. 15  ThLZ 85 (1960) 4f. 16  Statholderen Nehemia 124–59; Die Nehemia-Denkschrift 92–104; vgl. Eucharisterion für Gunkel (1923) I, 278–322.

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die Vorgängigkeit der meist kurzen mündlichen Orakel betonte17; dass er die sehr scharfe Analyse des Buches Ezechiel durch Hölscher guthieß, aber mit dem Zusatz, „daß Hölschers literarische Kritik manchmal zu minutiös ist und überhaupt an dem Fehler leidet, daß er mehr mit literarischen Vorlagen als mit mündlicher Tradition rechnet“18; man habe vielmehr anzunehmen, „daß Kreise von Ezekieljüngern […] die Worte des Meisters überliefert, gesammelt, erweitert, den neuen Verhältnissen angepaßt, sie so zu sagen als Ausgangspunkte und ‚Texte‘ ihrer Verkündigung benutzt haben, und daß das Buch in diesen Kreisen entstanden ist.“19. Eine vernünftige Prophetenexegese muss also viel-, wenigstens zweiseitig sein – das ist auch die Quintessenz von Mowinckels programmatischem Buch „Prophecy and Tradition“ (1946), in dem dazu aufgerufen wird, die Worte der Propheten herauszufinden „by all the means in our power both those of form history, tradition history and literary criticism“20. Mowinckel hat die ihm selbst und seinen Zeitgenossen gestellte Aufgabe vor allem auf der ersten der beiden Seiten gesehen, also bei form history, tradition history, Gattungsgeschichte. Hier galt es ganz anders als in der Literarkritik ein Neues zu pflügen. Einmal, in einer schwachen Stunde, nannte er gewisse Arbeiten ausgerechnet von Albrecht Alt und Martin Noth „die letzten Ausläufer der rein literarkritischen Diktatur in unserer Wissenschaft“21. Diese „Diktatur“ wollte er brechen helfen. Und hierin war er natürlich der Schüler Hermann Gunkels. Es handelte sich schon darin um ein ungewöhnliches Lehrer-Schüler-Verhältnis, dass der Schüler nur kurze Zeit am Ort des Lehrers lebte22. Mowinckel, nach seinem Staatsexamen hauptsächlich mit alttestamentlichen Studien (zur Prophetie) beschäftigt, hielt sich von Herbst 1911 bis Frühjahr 1913 mit einem Reisestipendium in Marburg auf, um bei dem philologisch tüchtigen, in seinen panbabylonischen Kombinationen ziemlich verrückten Assyriologen Peter Jensen (1861–1936) zu studieren. Er tat das mit dem Ergebnis, dass man als Alttestamentler eigentlich mit Übersetzungen auskomme und dass die Bedeutung der Assyriologie für die alttestamentliche Religionsgeschichte wesentlich darin bestehe, „dass sie Parallelen zu den Psalmen und ihrem literarischen Studium gewähren, sowie darin, dass sie einen gewissen erforderlichen ernüchternden Einfluss auf die Exegese und die Auffassung der a.t. Religion ausüben“ könne23. Von dieser Linie ist er später nicht wesentlich abgewichen. Er hat für sein „Thronbesteigungsfest“ und manches andere die altorientalischen Parallelen kräftig ausgenutzt, aber auch immer wieder dazu gemahnt, nach beiden Seiten 17  Zur Komposition des Buches Jeremia 3f.67. 18  Die nachchronische Redaktion des Buches. Die Listen (1964) 102. 19  Die Ezrageschichte und das Gesetz Moses (1965) 1583. 20 Ebd. 21  Zur Frage nach dokumentarischen Quellen in Josua 13–19 (1946) 35. 22  Vgl. zum Folgenden auch S. Hjelde, ZAW 109 (1997) 589–611. 23  Bei Hjelde (Anm. 1) 53.

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die Proportionen zu wahren. Als W. F. Albright (1891–1971) mit der Auswertung der Texte von Ugarit um die Mitte der dreißiger Jahre eine neue Epoche der Psalmenforschung begonnen sah, korrigierte Mowinckel: die eigentliche Zäsur liege früher und sei durch zweierlei charakterisiert: die Gattungsgeschichte mit ihrer logischen Fortsetzung, der „kultfunktionalen“ Interpretation der Psalmen und die systematische Einbeziehung der israelitischen Psalmendichtung in ihren altorientalischen Gesamtzusammenhang; für beides nannte er den Namen Gunkel24. Gunkel lebte zu Mowinckels deutscher Studienzeit in Gießen, also keine Bahnstunde von Marburg entfernt. Mowinckel war an ihn durch seinen Lehrer Michelet gewiesen, auf dessen Anregung soeben (1911) die theologische Fakultät von Kristiania (Oslo) Gunkel zu ihrem Ehrendoktor gemacht hatte. Während des kurzen Sommersemesters 1912 wohnte Mowinckel ganz in Gießen, um Gunkel nahe zu sein. Danach, im September, schrieb er ihm aus Norwegen den ersten von 24 Briefen, die sich in Gunkels Nachlass erhalten haben und die uns einen unmittelbaren Einblick in eine der erregendsten Kontroversen unserer Wissenschaftsgeschichte geben25. Nach einem Jahr, im August 1913, bedankte sich Mowinckel in seiner Jeremia-Abhandlung für Gunkels „geistvollen und anregenden mündlichen Unterricht“, ohne den „dieser Aufsatz sicher nie geschrieben worden“ wäre26. Es steht aber fest, dass Gunkel, der, wie Mowinckel etwas spitz bemerkt, „seine eigene Stimme gerne hörte“ und „stundenweise erzählen und privat dozieren“ konnte27, seinen neuen Jünger vor allem über die Psalmen belehrte, die er damals zu kommentieren begann28. Er tat das unter der Devise: weniger Kritik und Sprachwissenschaft, mehr Religion und Dichtung29. Gunkels Belehrung allein brachte Mowinckel aber noch nicht zu seiner so folgenreichen Beschäftigung mit den Psalmen. Dazu bedurfte es eines weiteren Anstoßes, und diesen bildete eine Reihe von Vorträgen, die 1916 der Kopenhagener Philologe und Religionshistoriker Vilhelm Grønbech (1873– 1948) vor norwegischen Pastoren über Sakrament und Mystik in den primitiven Religionen hielt30. Grønbech, der Autor des vierbändigen Buches „Vor Folkært i Oldtiden“ (1909–12), das später unter dem Titel „Kultur und Religion der Germanen“ (1937–39) auch in Deutschland weiten Kreisen bekannt wurde, hat unter den Alttestamentlern nicht nur auf Mowinckel, sondern auch auf seinen Kopenhagener Kollegen Johannes Pedersen (1883–1977) eingewirkt, von dessen 24  VT 5 (1955) 13–33. 25  Vgl. R. Smend, Bibel und Wissenschaft (2004) 159–73. 26  Zur Komposition des Buches Jeremia 67. 27  Bei Hjelde (Anm. 1) 54. 28  Im Vorwort zu seinem Kommentar (1926, VI) teilt Gunkel mit, dass er diesen „vor etwa 15 Jahren“ übernommen habe. 1904 waren seine grundlegenden „Ausgewählten Psalmen“ erschienen. 29  Ebd. V. 30  Vgl., auch zum Folgenden, Mowinckel, Psalmenstudien II (1921) XIf.

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ebenfalls vierbändigem „Israel“-Werk die ersten beiden Bände erschienen, als von Mowinckels Psalmenstudien der erste Band gedruckt, der zweite der norwegischen Akademie vorgelegt war. Mowinckel konnte Pedersen gerade noch in einem Korrekturzusatz zum ersten Band das Kompliment machen, er habe „die israelitische Volkspsyche zum ersten Male richtig verstanden und dargestellt“31, und in den zweiten Band nachträglich einiges von dem bei Pedersen Gelernten einarbeiten. Diesen zweiten Band hatte er zunächst allein Gunkel widmen wollen32; jetzt setzte er vor dessen Namen noch die Namen Grønbech und Pedersen. Damit bezeichnete er, Gunkel fast brüskierend, die dritte und offenkundig nicht unwichtigste Komponente seiner wissenschaftsgeschichtlichen Aszendenz: die in Skandinavien gewachsenen Einsichten in das Wesen der Religion, genauer in den engen Zusammenhang von Kult und Mythos33. Im Vorwort zum ersten Band der Psalmenstudien bemerkte Mowinckel, es sei „schon seit einiger Zeit“ sein „Bestreben gewesen, für die israelitischjüdische Religionsgeschichte von diesem [d. h. Grønbechs] Werke Nutzen zu ziehen“, und fuhr fort: „Da habe ich bei den Psalmen eingesetzt, weil Gunkel eine besondere Liebe zu diesen Dichtungen in mir erweckt hat.“34 Bilden die beiden großen Werke über Esra-Nehemia gewissermaßen eine äußere Klammer um Mowinckels Lebenswerk, so diejenigen über die Psalmen die innere: die genialisch-stürmischen „Psalmenstudien“, 1921–24 in den Abhandlungen der Osloer Akademie erschienen, und das im Vergleich damit akademischabgeklärte Alterswerk „Offersang og sangoffer“ von 1951, zu internationaler Wirkung gelangt durch die englische Übersetzung „The Psalms in Israel’s Worship“ (1962). Dazu kommt eine große Reihe kleinerer Arbeiten, in denen Mowinckel – wie zusammenfassend in Offersang og sangoffer – Einzelheiten aus den Psalmenstudien wiederholt, expliziert, verteidigt, weiterführt, ergänzt, aber auch modifiziert und revoziert hat. Das Hauptwerk, der Klassiker des Klassikers Mowinckel, bleiben aber die Psalmenstudien. Jeder Theologiestudent sollte im Examen die Titel der sechs Bände sagen können (übrigens: Mowinckel war ein gefürchteter Examinator35): Äwän und die individuellen Klagepsalmen (I), Das Thronbesteigungsfest Jahwäs und der Ursprung der Eschatologie (II), Kultprophetie und prophetische Psalmen (III), Die technischen Termini in den Psalmenüberschriften (IV), Segen und Fluch in Israels Kult und Psalmendichtung (V), Die Psalmdichter (VI). Und der Student wüsste natürlich erst recht die Grundthese des Ganzen und könnte sie an dem berühmtesten Beispiel erläutern: die Psalmen und der Kult gehören zusammen, 31  Psalmenstudien I (1921) VI1. 32  Vgl. seinen Brief an Gunkel vom 27.10.1921 (wie auch die im Folgenden angeführten Briefe in der Universitätsbibliothek Halle). 33  Unter den vielen Darstellungen hebe ich hervor B. Otzen, KuD 35 (1989) 23–33. 34  A.a.O. VI. 35  J.B. Hygen, SJOT 2 (1988) 4. Vgl. aber Hjelde (Anm. 1) 150.

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und im Zentrum des Kultes steht ein „Thronbesteigungsfest Jahwäs“, das für eine Reihe wichtiger Psalmen der „Sitz im Leben“ gewesen ist. Mit der Grundthese und dem Hauptbeispiel und vielen anderen Beispielen wendet sich der Gunkelschüler selbstbewusst und leidenschaftlich gegen seinen Lehrer. Auf der ersten Seite des ersten Bandes (in der „Vorbemerkung“) heißt es: „Meine Auffassung der Psalmen steht, wie man leicht sieht, auf dem Boden der Arbeiten Gunkels. Wie der Leser aber ersehen wird, halte ich es für notwendig, das Neue bei Gunkel von seiner Gebundenheit an den älteren [sic] Ansichten zu befreien. Man muß über Gunkel hinausgehen, […] man muß Gunkel gegen Gunkel ausspielen.“ Und auf der letzten Seite des letzten Bandes steht (im „Nachwort“): „Ich bin der Zuversicht, daß ich mit diesen Arbeiten eine sichere Grundlage für die künftige Psalmenexegese gelegt habe, mögen sich auch viele Einzelheiten als Irrtümer erweisen. Es wird die Aufgabe der Exegese sein, solche Irrtümer aufzuzeigen und zu korrigieren und auf der hier gelegten Grundlage weiter zu bauen. Ein Weitertrotteln auf den bisherigen Pfaden mag zwar einigen erbaulich vorkommen, ist aber dem historischen Verständnis der israelitischen Religion nicht förderlich.“ Was sind die „älteren Ansichten“, von denen es Gunkel zu befreien gilt? Zuoberst steht das Grundsätzliche, dass Gunkel „nach der Weise der alten Propheten und der liberalen protestantischen Theologen die Kultreligion viel zu niedrig einschätzt“. Mit Mowinckels berühmtem Bonmot: „seit Amos und Wellhausen ist es Theologensitte, auf die Kultreligion zu schimpfen.“ Dieser Sitte oder richtiger „ungeschichtlichen Unart“ folgt leider auch die „religionsgeschichtliche Schule“ um 1900, zu deren Begründern Gunkel gehört. Sie verdient darum diesen Namen nicht, sondern müsste „richtiger die mythologische oder die mythenvergleichende Schule heißen“36. Weiter wird verkannt, was Kult eigentlich ist: das schöpferische Drama, in dem sich als heilige Wirklichkeit die grundlegenden Heilsereignisse wiederholen, die der Mythos beschreibt37. Kult in diesem Sinn stand im Zentrum der altisraelitischen Religion, und wiederum das Zentrum des dortigen Kultus war eben das Fest der Thronbesteigung Jahwes, das einen Bestandteil des jährlichen Herbst-Neujahrsund Laubhüttenfestes bildete. An ihm, so Mowinckel im zweiten Band an andere Forscher (Greßmann, Volz, Zimmern) anknüpfend, ergriff Jahwe jedes mal aufs neue die Herrschaft, besiegte die feindlichen Mächte und stellte das Leben wieder her. In einer Reihe von Psalmen (47; 93; 96; 97; 99) steht der Huldigungsruf des Volkes „Jahwe ist König geworden!“ Gunkel nannte diese Psalmen „Lieder von Jahwes Thronbesteigung“ und verstand sie eschatologisch: sie kündigen einen zukünftigen Vorgang und Zustand an und setzen damit die prophetische Eschatologie, genauer den Exilspropheten Deuterojesaja (Jes 36  Psalmenstudien I, 16f.; VI, 24. 37  Von Mowinckel und anderen im Anschluss an Grønbech und Pedersen oft ausgeführt, vgl. etwa Psalmenstudien I, 19–35.

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52,7–10) voraus38. Dem widerspricht Mowinckel mit Vehemenz: diese Psalmen und noch eine Anzahl weitere beschreiben etwas bereits Erlebtes, und zwar auf dem längst vorexilischen, „mindestens in die älteste Königszeit“ zurückreichenden39 Thronbesteigungsfest Erlebtes. Allerdings ist das Erlebnis nachträglich eschatologisiert worden: es gab Enttäuschungen, die „ursprüngliche Lebensfrische des Kultes“ erstarrte40, das Erlebte wurde Hoffnung und Erwartung – und dies in einer bis in die Einzelheiten gehenden Entsprechung, so dass wir in der späteren Eschatologie noch einigermaßen den Inhalt und die „Stimmung“ des alten Festes vor uns haben41, des Festes, das man kennenlernen muss, wenn man wissen will, „was altisraelitische, ‚vorprophetische‘ Religion in ihrer besten und doch volkstümlichsten Gestalt gewesen ist“42. Hier ging es nicht „nur“ um Prinzipielles, sondern um Exegese, und hier vollends ließ sich Gunkel nicht überzeugen. Er gestand Mowinckel zwar als „bleibendes Verdienst“ zu, jenes Fest erschlossen und „dadurch unsere Augen aufs neue auf die Verbindung von Psalmen und Gottesdienst (die uns ja freilich auch schon vorher nicht unbekannt war) gelenkt“ zu haben43, aber er fand, dass Mowinckel „bei der Zusammenstellung der zu diesem Fest gehörigen Psalmen nicht streng genug verfahren“ sei; er habe „Helena in jedem Weibe“ gesehen und „viele Psalmen hinzugenommen, die zu ganz anderen Festen gehörten“44. Und gar die Meinung, „daß aus dem Thronbesteigungsfest, von dem wir in Wirklichkeit so wenig wissen und dessen Bedeutung niemals sehr groß gewesen sein kann, die gesamte Eschatologie herrühre“, hieße „ganze Zentnerlasten an einem Zwirnsfaden aufhängen“45. Mowinckel hat diese Abweisung nie hingenommen und ebenso wenig das Urteil des Exegeten Gunkel, die Psalmendichtung als solche und ihre Gattungen seien zwar kultischen Ursprungs, aber bei den meisten uns erhaltenen Psalmen hand le es sich um abgeleitete, nicht mehr kultische, sondern private Erzeugnisse46. Demgegenüber verfocht Mowinckel den Grundsatz: „wenn die Psalmen sich als Kultpsalmen befriedigend erklären lassen, so liegt einfach kein Grund vor, irgend eine andere Erklärung heranzuziehen, geschweige denn ihr den Vorzug zu geben.“47 Das ist faktisch ein „in dubio pro cultu“, und in der Tat läuft Mowinckels Durchsicht aller Psalmen nach ihren Gattungen darauf hinaus, dass es mit winzigen drei Ausnahmen (Ps. 1; 112; 127) keinen Psalm gibt, „der nicht für kultische Zwecke, d. h. zum Vortragen im Tempel, gedichtet worden 38  H. Gunkel–J. Begrich, Einleitung in die Psalmen (1933) 94–100. 39  Psalmenstudien II, 203. (Vgl. aber ZAW 48, 1930, 2673). 40  Ebd. 319. 41  Ebd. 226, insgesamt 211–325. 42  Ebd. 324. 43  Einleitung in die Psalmen 105. 44  Ebd. 104. 45  Ebd. 116. 46  Vgl. RGG1 IV (1913) 1941. 47  Psalmenstudien VI, 27.

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wäre, wenigstens sein könnte“48. Die Rigorosität des Verfahrens zeigt, wie viel für Mowinckel auf dem Spiel stand, und nicht weniger zeigt das die Schärfe der Polemik gegen Gunkel, in der immer ein Stückchen Hoffnung liegt, der verehrte Lehrer möchte sich doch noch für die Einsichten des Schülers gewinnen lassen. Der zweite Band der Psalmenstudien sollte eigentlich Gunkel mit dem Nietzsche-Zitat gewidmet werden, es sei eine Beleidigung des Lehrers, wenn der Schüler bei dessen Standpunkten stehenbleibe49, und in einem der letzten Briefe50 variiert Mowinckel einen Spruch aus den Proverbien (13,24): „Wer seinen Vater liebt, züchtigt ihn bei Zeiten.“ Dieses Schüler-Lehrer-Verhältnis lässt immer wieder an Karl Marxens Anspruch denken, er habe Hegels Philosophie „vom Kopf auf die Beine gestellt“51. In Mowinckels Augen waren die Gunkelschen Gattungen, ebenso wie übrigens die Kategorien der Religionsgeschichtlichen Schule, in Gefahr, lebensferne Abstraktionen zu bleiben, wenn sie nicht entschlossen mit der religiösen Wirklichkeit in Beziehung gesetzt wurden – der Wirklichkeit, wie Grønbech und Pedersen sie beschrieben. Noch mehr: die Möglichkeit drohte verschenkt zu werden, das durch die Forschung des 19. Jahrhunderts einigermaßen dezimierte ältere Israel ganz neu kennenzulernen. Eine berühmte, natürlich vergröbernde Formel der Literarkritik hieß: das Gesetz ist jünger als die Propheten, und die Psalmen sind jünger als beide52. Sollte sich nachweisen lassen, dass umgekehrt die Psalmen im wesentlichen den beiden anderen Größen vorangegangen sind, dann wäre ihr Quellenwert gar nicht zu überschätzen. Mowinckel hat diesen Nachweis unternommen und auf seinem Grund zentrale Texte und, noch wichtiger, zentrale Erscheinungen des alten Israel mit dem Kult in engste Verbindung gebracht, unter den Texten den Dekalog53, unter den Erscheinungen die Prophetie (Psalmenstudien III) und das Königtum – die auffälligste Retraktation gegenüber den Psalmenstudien (Bd. I) war seine spätere Beziehung vieler individueller Klagepsalmen auf den König im Anschluss an Harris Birkeland (1904–61)54, den einzigen unmittelbaren akademischen Schüler, den er hatte55. Indirekte Schüler hatte er seit den zwanziger Jahren überall, darunter viele, die nicht einmal wussten, wie sehr sie, ja dass sie überhaupt seine Schüler waren. Der Kult wurde zu einer Art Generalschlüssel für die Probleme der alttestamentlichen Wissenschaft, konkurrenziert allenfalls von der Geschichte – wofür Mowinckel durchaus Sinn hatte, denn trotz „Helena in jedem Weibe“ 48  Ebd. 36. Vgl. The Psalms in Israel’s Worship I, 34. 49  Brief vom 27.10.1921. Vgl. Nietzsche, Krit. Gesamtausgabe VI/1, 101. 50 26.5.1928. 51  K. Marx und F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Kap. IV (Werke 21, 293). 52  Vgl. Ed. Reuß, Die Geschichte der Heiligen Schriften Alten Testaments (21890) VII. 53  Le Décalogue (1927). 54 Vgl. Offersang og sangoffer I, 225–45, aber auch 50–61; Birkeland, Die Feinde des Individuums in der israelitischen Psalmenliteratur (1933). 55  Vgl. Hjelde (Anm. 1) 151–56.

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machte ihn die Hauptsache nicht blind gegen die Nebensachen. Es war eine große Zeit der Hypothesen. Riten, Feste, Ämter und andere Institutionen wurden postuliert, um Texten und Tatbeständen der Überlieferung ihren „Sitz im Leben“ zu geben, bis hinauf zu Israel selbst als vorstaatlicher und nebenstaatlicher kultischer Bund der zwölf Stämme56. Mowinckel hat das weithin gutgeheißen, zumal wenn es von Gelehrten kam, die er hoch achtete wie Albrecht Alt und Martin Noth. Aber er kannte kein Ansehen der Person und ließ sich längst nicht auf alles ein, schon gar nicht auf mehr oder weniger beliebige Verschiebungen innerhalb der Gunkelschen Gattungen und ihres jeweiligen Sitzes im Leben. Distanz wahrte er auch gegenüber der Myth and Ritual School in ihren verschiedenen englischen und skandinavischen, zumal Uppsalienser Ausprägungen, die sich nicht ohne Grund auf ihn bezog57. Er rief dagegen zur Nüchternheit, so wie ihn einst Gunkel, letzten Endes doch mit Erfolg, zur Nüchternheit gerufen hatte; das Hauptdokument dieses Rufes ist seine große Geschichte der messianischen Erwartung, „Han som kommer“ (1951), englisch „He that Cometh“ (1956). Und Nüchternheit bewies er selber in seinem Schwanengesang, der fragmentarischen Geschichte Israels, 1967 als „Israels opphav og eldste historie“ erschienen, einem in den kritischen Fragen, nicht zuletzt denen der Datierung der Quellen, ganz unbefangenen, oft geradezu modern anmutenden Buch58. Aber es ist unmöglich, einen Geist wie Mowinckel auf „rechts“ oder „links“, „konservativ“ oder kritisch festzulegen. „In a few cases his later work may appear more radical than his earlier position; but in others, Mowinckel openly avows that he has taken up a more conservative position than he once held, stating that ‚such is often the way of science‘.“59 So viel zeigen gerade die letzten Arbeiten dieses Autors: seine Kraft, seine Lebendigkeit, seine Leidenschaft war bis zu seinem Ende nicht erlahmt. Zu ihr hat mit Sicherheit, das sei zum Schluss wenigstens angedeutet, ein starkes religiös-theologisches Element gehört. Den Pfarrerssohn bestimmte nach eigener Aussage60 zum Studium der Theologie „in erster Linie ein theoretisches Interesse, das Bedürfnis, zu wissen, wie [sic] es mit dem auf sich habe, wovon die Religion erzählte, und was wirklich sei an dem, was über die Religion gesagt wurde“. Einen Einfluss seiner lutherischen Herkunft auf seine Hochschätzung des alttestamentlichen Kultus hat er später abgestritten61. Nach dem Studium erlebte er eine Glaubenskrise, über die er Gunkel hinterher sehr 56  S.u. 833–35. 57  Kompetent dazu H. Ringgren, SJOT 2 (1988) 36–41; Übersicht in größerem Zusammenhang: D.A. Knight, Rediscovering the Traditions of Israel. The Development of the TraditioHistorical Research of the Old Testament, with Special Consideration of Scandinavian Contributions (1973). 58  Vgl. H. Barstad, SJOT 2 (1988) 90f. 59  D. R. Ap-Thomas, SBL 85 (1966) 317. 60  Bei Hjelde (Anm. 1) 34. 61  Vgl. D. Rian in: Text and Theology. Studies in Honour of Professor dr. theol. Magne Sæbø, ed. by A. Tångberg (1964) 229f.

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offen berichtete62. Er absolvierte zwar 1915 das praktisch-theologische Examen, ließ sich aber erst ein Vierteljahrhundert später, 1940, zum Pfarrer ordinieren, nachdem er durch Frank Buchmans Oxford Group noch einmal so etwas wie eine Bekehrung erlebt hatte. 1918 rühmte er Wellhausen den Sinn für das Religiöse in der Religion nach63. Ohne diesen Sinn ist auch sein eigenes Lebenswerk undenkbar, angefangen bei der Einfühlung in Formen von Religion, die für uns längst vergangen sind, wie etwa der Zauber, der im ersten Band der Psalmenstudien den Schlüssel zum Verständnis der individuellen Klagepsalmen liefert: „Der Primitivologe, nicht weniger als der Religionshistoriker muß ein Gläubiger werden.“64 Aber weit darüber hinaus ist Mowinckel ein bewusster und entschiedener Theologe gewesen und immer mehr geworden, wenngleich, mit einem skandinavischen Vergleich, eher ein Grundtvig-Theologe als ein Kierkegaard-Theologe, also nicht spekulativ und dialektisch, sondern nah am Leben, an Kult und Mythos65. Der „Entmythologisierung“ gestand er nur auf dem Gebiet der Seelsorge ein gewisses Recht zu66, und wenn sich in die Exegese so etwas wie „subtle German philosophy“ einschlich, fand er das „rather unscriptural“67. In einer Vorlesungsreihe für Nichttheologen betrachtete er 1938 mit Entschiedenheit „The Old Testament as Word of God“68. Religion hatte für ihn „ihren Grund darin, daß die Gottheit selbst Verbindung zum Menschen gesucht und aufgenommen hat“69. „Gottes Selbstoffenbarung ist eine Offenbarungsgeschichte“, in allen Religionen als „allgemeine Offenbarung“ – man kann aus Mowinckel auch eine „natürliche Theologie destillieren70 –, „doch die Linien fließen zusammen und führen über die Religion Israels zu einem Ziel, zu dem Christentum – der ‚speziellen Offenbarungsgeschichte‘“71. Im Alten Testament und in der Bibel Offenbarung und Wort Gottes zu sehen befähigt uns aber nur eins: der Glaube an Christus als den Sohn Gottes72. Unsere wichtigste Aufgabe bei der Auslegung des Alten Testaments ist immer die, zu suchen, „was Christum treibet“73. Es mag sein, dass Mowinckel dahingehende Bemerkungen in sein auf die breiteste Wirkung zielendes Werk, die in

62  Im Brief vom 23.3.1921 (vgl. Smend, Anm. 25, 83f.). Distanzierung vom Begriff „Krise“ bei Hjelde (Anm. 22) 591f. 63  KiKul 25, 279. 64  Psalmenstudien I, 60. 65  Vgl. Otzen (Anm. 33) 25f. 66  Religion und Kultus (1953) 135. 67  The Psalms in Israel’s Worship I, 24157. 68  So der Titel der 1959 erschienenen englischen Übersetzung von „Det Gamle Testament som Guds ord“. 69  Religion und Kultus 132. 70  So J. Barr, StTh 42 (1988) 21–38. 71  Religion und Kultus 135. 72  The Old Testament as Word of God 65. 73  Ebd. 133–44.

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35jähriger Arbeit entstandene kommentierte norwegische Bibelübersetzung74, oder auch in „Han son kommer“ öfters etwas unorganisch eingefügt hat75; aber ein Verzicht auf diese Seite der Sache war ihm undenkbar. Er konnte der Exegese, genauer der für ihn entscheidenden Ermittlung des Sitzes im Leben, geradezu eine praktisch-theologische Funktion geben: wir müssen die wirklichen Situationen des Psalmisten herausfinden, weil wir „nur dann fragen können was er – und Gott durch ihn – uns in unserer Situation zu sagen hat“76. Mit ähnlicher Absicht untersuchte er in schwerer Zeit (1941) „Die Erkenntnis Gottes bei den alttestamentlichen Profeten“: „Die Profeten können uns sagen, wie ein Mensch dazu kommen kann, den wirklichen Gott als wirklich kennen zu lernen.“77 Er schloss sehr unwissenschaftlich: „Worauf es ankommt ist, dass wir, wenn der Beruf kommt, bereit sind und wie Jesaja antworten: ‚Hier bin ich, Herr, sende mich!‘“78 Sigmund Mowinckels Beruf war nicht der des Propheten, sondern der des Alttestamentlers und christlichen Theologen. Als solcher hat er ein unzweideutiges „Hier bin ich“ gesprochen, und vielleicht hätte er am Ende, nein schon lange vor dem Ende mit dem Apostel hinzufügen dürfen: περισσότερον αὐτῶν πάντων ἐϰοπίασα – ich habe mehr gearbeitet als sie alle.

74  Det Gamle Testamente. Oversat av S. Michelet, S. Mowinckel og N. Massel. I–V (1929– 63). 75  So N.A. Dahl, SJOT 2 (1988) 20. 76  The Psalms in Israel’s Worship I, 24. 77  Ebd. 58. 78  Ebd. 64.

Otto Eißfeldt 1887–1973

Auf dem fünften Kongress der International Organization for the Study of the Old Testament, 1965 in Genf, hielt der 78jährige Otto Eißfeldt den einleitenden Vortrag über „Sechs Jahrzehnte alttestamentlicher Wissenschaft“1. Das war exakt der Zeitraum, über den er autobiographisch berichten konnte: 1905 hatte er in Göttingen mit dem Studium der Theologie begonnen und war dabei gleich an das Alte Testament geraten, das ihn zeitlebens festhalten sollte. Er sah seine Arbeit mehr als andere in der Kontinuität der Wissenschaft und ihrem internationalen Zusammenhang. So widmete er die Neubearbeitungen seines Hauptwerkes „Den Repräsentanten dreier Generationen britischer Alttestamentler“, nämlich Theodore H. Robinson (1881–1964), Harold H. Rowley (1890–1969) und Aubrey R. Johnson (1901–85)2. Die Generationenreihe hätte er aus eigener Erfahrung nach vorn und hinten verlängern können, denn er war noch Wellhausens Hörer gewesen, und in der letzten Phase seines Wirkens unterhielt er zu manchem der damals ganz jungen Alttestamentler die freundlichsten Beziehungen. Dass er in Göttingen zu studieren anfing, lag buchstäblich nahe. Er war in Northeim geboren, einer zwanzig Kilometer von Göttingen entfernten Kleinstadt, in der sein Vater als Rechtsanwalt arbeitete. Die Heimat der Familie Eißfeldt liegt auf halbem Wege von Northeim oder auch Göttingen nach Halle im östlichen Harz, wo es noch heute eine „Eisfelder Talmühle“ gibt und wo die Eißfeldts Handwerker, Landwirte, Schulzen und Amtleute, aber dann auch studierte Juristen waren3. Otto Eißfeldts Vater hieß auch schon Otto; der Name war in den Kerngebieten des im 10. Jahrhundert regierenden ottonischen 1  VT.S XV (1966) 1–13. 2  Einleitung in das Alte Testament (19562; 19643); Robinson war schon die erste Auflage (1934) gewidmet, gemeinsam mit A. Bertholet und E. v. Dobschütz. 3  Vgl. G. Wallis, Mein Freund hatte einen Weinberg (1994) 255. Aus Wallis’ Gedenkrede (dort 255–67) auch im Folgenden einiges Biographische, ebenso aus Eißfeldts Genfer Vortrag von 1965, ohne dass jeweils Einzelnachweise gegeben würden. Eine präzise Darstellung und Würdigung bietet H.-J. Zobel, TRE IX, 482–86, mancherlei findet sich in G. Wallis (Hg.), OttoEißfeldt-Ehrung 1987 (1988). Die Kleinen Schriften I–VI (1962–79) werden im Folgenden als I–VI zitiert.

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Kaiserhauses über die Jahrhunderte hinweg beliebt geblieben. Otto Eißfeldt der Jüngere, am 1. September 1887 als ältestes von fünf Kindern geboren, hing an seiner Herkunft. Man meint die praktische Nüchternheit, die zu den Berufen seiner Vorfahren gehörte, bei ihm wiederzuerkennen, auch die Fähigkeit des Juristen, vernünftige Kompromisse zu erzielen, ohne allzu tief ins Grundsätzliche zu gehen; Streitlust und rhetorischer Glanz allerdings, wie sie als typische Eigenschaften von Advokaten gelten, lagen ihm fern. Das Gymnasium besuchte er nacheinander in Northeim, Dortmund und Duisburg. Aufnahmebereit und fleißig, wie er war, erwarb er sich die umfassende humanistische, insbesondere sprachliche und literarische Bildung, wie die Schulen sie damals bieten konnten. Über alle Ortswechsel hinweg behielt er den etwas „drögen“ Dialekt des südlichen Niedersachsen. Ihn aufzufrischen bekam er Gelegenheit, indem er zwei Semester (Sommer 1905 und Winter 1905/6) und dann noch einmal eins (Winter 1907/8) in Göttingen studierte. Dazwischen (Sommer 1906 – Sommer 1907) schob er drei Berliner Semester ein. Wie umfassend er sein Studium anlegte, zeigt ein Blick auf die Veranstaltungen, die er in den ersten beiden Semestern besuchte4. Er hörte Theologische Enzyklopädie bei Althaus, Psalmen und Einleitung in das Alte Testament bei Smend, Alttestamentliche Handschriftenkunde bei Rahlfs, Synoptiker, Römerbrief und Johannesoffenbarung bei Bousset, Galater- und 1. Petrusbrief bei Heitmüller, Kirchengeschichte I und II bei Tschackert, Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts bei Bonwetsch, Geschichte des Katholizismus im 19. Jahrhundert sowie „Der religiöse Determinismus in der Geschichte des Christentums“ bei v. Walter. In beiden Semestern nahm er an kirchen- und dogmenhistorischen Übungen teil, zuerst bei Tschackert, dann bei Bonwetsch, und in beiden Semestern überschritt er die Grenze zur philosophischen Fakultät: er hörte Vorlesungen über deutsche Ortsnamen bei Edward Schröder, über die Baukunst der Renaissance in Italien bei Robert Vischer, über wissenschaftliche Weltansicht bei Julius Baumann und, last not least, über die semitischen Sprachen und Völker bei Julius Wellhausen. Auf Wellhausens Vorlesung wies ihn Smend hin, an den ihn der gelehrte Dortmunder Pfarrer Friedrich Schnapp empfohlen hatte und dem er, obwohl ihm seine „Einleitung in das Alte Testament“ nach eigener Erinnerung „noch viel zu hoch“ war5, unter den Göttinger Lehrern auf die Dauer das meiste verdankte. Mit einem zweiten Rat hatte Smend weniger Glück. Er empfahl Eißfeldt, der den Studienort wechseln wollte, vor allem um Duhms willen Basel und riet ihm vehement von Berlin ab, wo Baudissin und vollends Gunkel nicht nach seinem Geschmack waren. Aber eben für Gunkel schwärmte Heitmüller,

4  Nach dem Abgangszeugnis im Göttinger Universitätsarchiv (dort 1906 Nr. 985). 5  VT.S XV, 2.

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und dieser erreichte es, dass Eißfeldt Berlin wählte, wo er fast ununterbrochen anderthalb Jahrzehnte bleiben sollte. Er wohnte im Johanneum unweit der Spree, das damals unter dem Ephorat des Praktischen Theologen Paul Kleinert (1837–1920) stand, eines vielseitigen und anregenden Mannes, der, noch Schüler von Heinrich Ewald und Franz Delitzsch, auch seinerseits in der alttestamentlichen Wissenschaft Spuren hinterlassen hat. Kleinert holte Eißfeldt, kaum war dieser zum Abschluss des Studiums noch einmal nach Göttingen gegangen, ins Amt des Inspektors („Seniors“) des Johanneums wieder nach Berlin. Als Inhaber dieses Amtes bestand Eißfeldt 1908 in Hannover das erste, 1912 in Berlin das zweite theologische Examen, nach dem er zum Frühprediger an der Jerusalems- und Neuen Kirche gewählt wurde und das Johanneum aufgab. Natürlich nutzte er, vor allem zu Anfang, die Möglichkeiten aus, die das akademische Berlin in der theologischen und der philosophischen Fakultät, von Harnack und Wilamowitz abwärts, ihm bot. Als seine beiden wichtigsten Berliner Lehrer nannte er stets Gunkel und Baudissin (1847–1926), den einen für 1906/7, den anderen für die Inspektorsjahre seit 1908, in denen er seine Studien endgültig auf das Alte Testament und dessen Umwelt konzentrierte. Für das Studium der Umwelt bot Berlin mit seinen Museen und seiner philosophischen Fakultät, der Adolf Erman und Eduard Meyer angehörten, ideale Voraussetzungen. Während Eißfeldt im Ägyptischen bei Erman nicht über die Anfangsgründe hinauskam, las er bei Friedrich Delitzsch (1850–1922), der ihn übrigens auch in den Koran einführte, semesterlang assyrische Texte und verzeichnete neben den sachlichen Kenntnissen als besonderen Gewinn die Fähigkeit, „Texte, über die es noch keine Kommentar-Tradition gibt, ganz aus sich selbst heraus zu verstehen, was die Hörer vielfach zu besserem Verständnis mancher mit Kommentar-Überlieferung überlasteter Abschnitte des Alten Testaments geführt hat“6. Nach Gunkels Fortgang 1907 übernahm Hugo Greßmann dessen Extraordinariat und später auch seine Rolle für Eißfeldt: die eines vielfältigen Anregers, vor allem die Umwelt des Alten Testaments betreffend, bei bleibender Distanz in der Einschätzung der Literarkritik. Die wichtigste unter den Freundschaften, die in jenen Jahren entstanden, war die mit Enno Littmann (1875–1958), der während des Weltkrieges als Orient-Experte eine Gastrolle im Berliner Generalstab spielte; bei keinem dürfte Eißfeldt über das Morgenland mehr gelernt haben als bei ihm; 1958 hielt er ihm die Gedenkrede7. Seine literarische Produktion begann er als 23jähriger mit einem Vorschlag, die Rätsel in Richter 14 erotisch zu verstehen8. 1913 folgte die Berliner theologische Dissertation über den Maschal im Alten Testament9, ein ihm 6  VT.S XV, 6. 7  Erschienen als Heft 5 der Tübinger Universitätsreden. 8  ZAW 30 (1910) 132–35. 9  BZAW 24.

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nach seiner eigenen Angabe10 durch Gunkels Gattungsforschung und Kleinerts Interesse an der Weisheit nahegelegtes Thema. 1916 erwarb er in Göttingen auch den philosophischen Doktorgrad mit Littmann als Referenten. Diesmal hatte das Thema sozusagen noch Wellhausen gestellt, mit dem Satz in den „Prolegomena“: „Das Verhältnis von ‫מעשר‬, ‫ראשית‬, ‫בכורים‬, ‫יד‬ ‫תרומת‬ zu einander bedürfte einer genauen Untersuchung, mit sorgsamer Unterscheidung der verschiedenen Quellen und Zeiten, bis zur Mischna herunter“11. Eißfeldt untersuchte also „Erstlinge und Zehnten im Alten Testament“, wobei er sich „bis zu einem gewissen Grade Baudissins ‚Geschichte des alttestamentlichen Priesterthumes‘ von 1889 zum Vorbild nahm“12. Nach den eigenen „Erstlingen“ floss der Strom seiner Produktion kontinuierlich und gewann allmählich eine kaum noch überschaubare Breite. Man hat 55 selbständige Veröffentlichungen gezählt, dazu 282 Aufsätze, 107 Lexikonartikel, 863 Rezensionen, 31 Nachrufe und Würdigungen, 116 Nennungen als Herausgeber – und in dieser Aufzählung ist noch nicht alles berücksichtigt13. Hinter der immensen Menge von Gedrucktem stand kein wilder Geltungstrieb, sondern das Bedürfnis nach regelmäßiger Bewältigung und Mitteilung eines mit unablässigem Fleiß verarbeiteten Stoffes. Vieles, nicht nur in den Rezensionen, ist nicht ins letzte durchdrungen und ausgeformt, bleibt zu großen Teilen klassifizierende Bibliographie, Zitatenkette oder einfach Wiedergabe von Inhaltsverzeichnissen, oft eingeschachtelt in Sätze, die nicht für Hörer, sondern nur für Leser gedacht sind. Aber auch für Leser ist es nicht immer leicht, den langen Atem dieses Autors zu haben. Dieser Autor hat sichtlich keine Schwierigkeiten mit dem Ausdruck gehabt, alles scheint ihm leicht und schnell aus der Feder geflossen zu sein, ohne dass es darum jemals unbedacht und unsorgfältig wirkte – dafür war Eißfeldt viel zu gewissenhaft. Weil in der Masse dieser Produktion das wirklich Wichtige in der Gefahr steht unterzugehen, war es eine sinnvolle, wenngleich keineswegs unproblematische Aufgabe, sechs Bände „Kleine Schriften“ (1962–79) und aus diesen noch einmal einen einzigen, für den Gebrauch in der DDR bestimmten Band „Kleine Schriften zum Alten Testament“ (1971) herauszudestillieren. Im Nachwort der großen Sammlung bescheinigen die Herausgeber ihrem Lehrer einen „geraden Weg“ und fügen hinzu: „Die Sicherheit seines Urteils in allen anstehenden Fragen hat nie getrogen; sie war um so überzeugender, als sie ohne jede Spur von Eigensinnigkeit und Rechthaberei war, sich vielmehr mit weitherziger Toleranz paarte. Seine Kritik war stets positiv und aufbauend, niemals negativ und zerstörend. Er gab nie vor, die Lösung eines Problems zur Hand zu haben, aber er hat Fragen gestellt, sie mit Intensität zu beantworten versucht, und er 10  VT.S XV, 6. 11  J. Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels (61905) 1522. 12  VT.S XV, 7. 13  VI, VIII, vgl. V, 2221.

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war niemals gezwungen, seine Ergebnisse zurückzunehmen.“14 Nun, wenn er auch nicht geradezu gezwungen war, hätten sich doch da und dort stärkere Modifikationen, vielleicht auch ein Abstandnehmen und Neueinsetzen infolge von geäußerter Kritik und gewandelten Fragestellungen erwarten lassen, wo stattdessen doch nicht ganz „jede Spur von Eigensinnigkeit“ fehlt. Hatte Eißfeldt für ein Problem eine Lösung, dann neigte er fortan, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht zur Revision, allenfalls zur Variation. Das Hauptbeispiel dafür ist das magnum opus der Berliner Jahre, 1922 zum Abschied von dort „den Stätten meines Lernens und Lebens in Berlin und allen dort gewonnenen Förderern und Freunden als Zeichen des Dankes dargebracht“15. Der Ursprung dieses Werkes lag in Göttingen, bei Eißfeldts erstem Lehrer Smend. Er hatte sich in den Jahren, seit Eißfeldt in Göttingen studierte, der mühevollen Aufgabe einer neuen Analyse der Erzählung des Hexateuchs unterzogen und war zu einem Ergebnis gekommen, das Eißfeldt später „die neueste Urkundenhypothese“ nannte: eine fast vollständige Aufteilung des gesamten Stoffes auf vier Quellenschriften, J1, J2, E und P16. Dem Erfolg seines Buches hatte Smend, dem man „Eigensinnigkeit und Rechthaberei“ weniger leicht absprechen kann als Eißfeldt, selbst im Wege gestanden, indem er die Vertreter anderer Meinungen schroff zurechtwies oder überhaupt nicht beachtete und indem er es nicht verstand, die meist sehr komplizierten Tatbestände fasslich und übersichtlich darzustellen. So gewann er nur wenige Anhänger, darunter den jungen Eißfeldt, den er tief beeindruckte: „Gleicht die unmittelbar vor ihm gegebene Lösung der Hexateuchfrage einem durch allerlei Anbauten und Überbauten bis zur Unübersehbarkeit entstellten Grundbau, so mutet Smends Buch wie ein in seiner Gliederung klar erkennbarer gotischer Dom an, von strengen Formen und von herber Schönheit.“17 Dies allgemein „klar erkennbar“ zu machen, ist das Ziel, das sich Eißfeldts 1922 erschienene „Hexateuch-Synopse“ setzt, ein Abdruck jener Quellenschriften in vier Kolumnen nebeneinander. Als ich Eißfeldt einmal berichtete, ich hätte das Buch meines Großvaters erst anhand seiner Synopse verstanden, sagte er lachend, er sei meinem Großvater immer sehr dankbar dafür gewesen, dass er so schwer lesbar geschrieben habe, denn dadurch habe er selbst die Chance bekommen, die These von den zwei Jahwisten noch einmal und nun wirkungsvoller zu vertreten. Die Hexateuch-Synopse ist noch bis in unsere Tage hinein mehrfach nachgedruckt worden (zuletzt 1987), nicht um der ihr zugrundeliegenden Smend-Eißfeldtschen Spezialthese willen, sondern weil sie auf eine bisher unübertroffene Weise die literarische Zusammengesetztheit des Hexateuchs veranschaulicht und noch immer ein nützliches Hilfsmittel zur ersten 14  VI, VI. 15  Hexateuch-Synopse V, vgl. die vorangestellte Widmung. 16  R. Smend, Die Erzählung des Hexateuch auf ihre Quellen untersucht (1912). 17  Hexateuch-Synopse 4.

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Orientierung über einzelne Stellen und Texte ist. Albrecht Alt pflegte im Kolleg mit ihr einen etwas billigen Spott zu treiben, indem er sie bei Gen. 18, 6 aufschlug, wo Eißfeldt die beiden unverbunden nebeneinanderstehenden Wörter „Mehl“ und „Feinmehl“ auf seine beiden Jahwisten verteilt, und man wird wohl annehmen dürfen, dass Eißfeldt in Wellhausens Augen zu den Vertretern der „mechanischen Mosaikhypothese“ gehört hätte, die er „verrückt“ nannte18. In der Tat hat Eißfeldts Verfahren etwas Mechanisches. In „vorläufiger Vernachlässigung der anderen Argumente“ ist seine Vorüberlegung: „Lassen sich im Hexateuch […] etwa fünfzig Stellen aufzeigen, an denen vierfache Elemente auftauchen; gelingt es, diese fünfzigmal vier Punkte zu vier Punktreihen zu ordnen, oder vielmehr, [hier erschrickt Eißfeldt selbst ein wenig vor der Gefahr und dem Verdacht des „Mechanischen“:] nötigt eindringende Beobachtung des Tatbestandes zu dieser Ordnung; und wird dabei der ganze Stoff des Hexateuch so gut wie restlos aufgebraucht: so darf die Annahme eines vierfachen Erzählungs-Fadens als erwiesen betrachtet werden.“ Das Vorhaben gelingt aufs beste, die „in die zweite Linie gestellten Argumente brauchen nur gelegentlich herangezogen zu werden, um das auf dem Hauptwege gefundene Ergebnis zu bestätigen“19. Dieses Ergebnis soll kein Selbstzweck sein, sondern dem Ziel dienen, „[d]ie Schichten des Hexateuch als vornehmste Quelle für den Aufriß einer israelitisch-jüdischen Kulturgeschichte“ zu nutzen und dabei über Wellhausen hinauszukommen, wie Eißfeldt 1919, noch vor der Hexateuch-Synopse, programmatisch ausführte20. Auf dieser Linie lag es, wenn er in der Synopse den Smendschen J1 in L = „Laienquelle“ umbenannte, womit er außer der Eigenständigkeit dieser Quelle den Gegensatz der Frühzeit zum „Klerikalismus“ der jüngsten Quelle, der Priesterschrift, ausdrücken wollte – was ein eher vergröberter Wellhausen war. In eine Landschaft, die fortschreitend von der Stoff- und Gattungsforschung Gunkelscher Provenienz geprägt wurde, drohte dergleichen immer weniger zu passen. Um so wichtiger war es, dass Eißfeldt sich dem, was um ihn herum geschah, nicht verschloss. Und es geschah wirklich in seiner nächsten Nähe. Denn 1922 wurde er nach Halle berufen, wo Gunkel auf dem anderen alttestamentlichen Lehrstuhl saß. Beide kannten sich ja seit Eißfeldts Berliner Studentenzeit, und es war vor anderen auf Gunkel gemünzt und wohl auch ein wenig an ihn adressiert, wenn Eißfeldt eben 1922 im Vorwort der HexateuchSynopse von sich selber schrieb: „indem er hier in Berlin in eine Betrachtungsweise des Alten Testaments eingeführt wurde, die von der in Göttingen vertretenen in vieler Hinsicht abwich, gewann er der Forschungsart und den Forschungsergebnissen seiner ersten Lehrer gegenüber eine gewisse Selbständigkeit und damit die Fähigkeit zu eigener Arbeit“. In Halle stand er mit 18  Vgl. J. Wellhausen, Briefe (2013) 78. 19  Hexateuch-Synopse 6, Durchführung ebd. 6–84. 20  I, 33–43.

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Gunkel und seit 1927 mit dessen Schüler und Nachfolger Hans Schmidt (1877– 1953) auf gutem Fuß. Gunkel, wie Eißfeldt des Gesprächs fähig und bedürftig, tauschte sich mit ihm ständig aus über die zweite Auflage der „Religion in Geschichte und Gegenwart“, die er damals herausgab, und über seinen seit langem in Arbeit befindlichen Psalmenkommentar. Eißfeldt blieb nicht bei allgemeinen Respektsbezeugungen, sondern ließ sich ein Stück weit auch seinerseits auf Gunkelsche Themen und Fragestellungen ein, wofür hier einige Aufsatztitel stehen mögen: „Die Bedeutung der Märchenforschung für die Religionswissenschaft, besonders für die Wissenschaft vom Alten Testament“ (1918)21, „Stammessage und Novelle in den Geschichten von Jakob und seinen Söhnen“ (1923)22, „Die kleinste literarische Einheit in den Erzählungsbüchern des Alten Testaments“ (1927)23. Hatte Smend das Verhältnis der literarischen Werke zu einer (von ihm nicht geleugneten) „älteren schriftlichen und zur mündlichen Überlieferung“ außerhalb seiner Untersuchung gelassen24, so hielt es Eißfeldt wenigstens der Absicht nach anders. Aber ein Grundton von Skepsis blieb und verstärkte sich eher. 1918 schrieb er fast beschwichtigend, seine kritischen Bemerkungen zu Gunkels Märchenbuch „sollten nicht im geringsten Buch und Methode herabsetzen“, sondern „womöglich dazu helfen, daß die von ihm eingeschlagene Methode ohne Irrungen und Wirrungen das Verständnis des Alten Testaments fördere“25. Noch etwas offener ist das Resümee von 1927, nach dem hinsichtlich der kleinsten literarischen Einheiten in den alttestamentlichen Erzählungsbüchern „die letzten Jahre nicht nur Fortschritte der Erkenntnis zu verzeichnen haben, sondern auch Rückschritte“26. In Wahrheit seien die meisten Erzählungen, „wie sie uns vorliegen, von vornherein als Teile größerer Zusammenhänge konzipiert“, und „kleinste selbständige literarische Einheit“ sei dann nicht die Einzelerzählung, „sondern der jeweilige größere Zusammenhang, dessen Ausdehnung durch Untersuchung des Horizontes der einzelnen Erzählungen festgestellt werden“ müsse, Analogie seien weniger Grimms Märchen oder 1001 Nacht, sondern (natürlich mit Vorbehalt) „zusammenhängende Darstellungen der Geschichte eines Volkes oder auch historische Romane“. Nachdem „in den letzten 30 Jahren“, also seit Gunkels „Genesis“, „das von den Früheren erarbeitete Verständnis der größeren Zusammenhänge […] vielfach abhanden gekommen“ ist, wird es „Zeit, höchste Zeit, daß hier ein Wandel eintritt“27. Bis zu diesem Wandel brauchte es allerdings noch mindestens 30 weitere Jahre der

21  I, 23–32. 22  I, 84–104. 23  I, 143–49. 24  Smend (Anm. 16) 347. 25  I, 32. 26  I, 143. 27  I, 148f.

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„Irrungen und Wirrungen“, und dann trat er auch nicht ganz so ein, wie Eißfeldt sich ihn vorgestellt hatte. Wie kein zweiter zum ehrlichen Makler geboren, hat Eißfeldt 1934 in seiner „Einleitung in das Alte Testament“ die beiden großen Forschungsrichtungen unter einen Hut oder wenigstens zwischen zwei Buchdeckel zu bringen versucht. Er bestimmte als „Aufgabe der Einleitungswissenschaft […] die Darstellung der Entstehungsgeschichte des AT von seinen ersten Anfängen bis zu seinem völligen Abschluß“28 und löste diese Aufgabe in drei Schritten. Zunächst besprach er in Gunkels Sinn auf weit mehr als 100 Seiten übersichtlich und lehrreich die „kleinsten Redeformen und ihren Sitz im Leben“. Auf diese „vorliterarische Stufe“ ließ er, kaum ein Viertel so lang, die „literarische Vorgeschichte der Bücher des Alten Testaments“ folgen, wobei eigentlich nur ein etwas künstlich vorausgenommener Ableger des mit rund 450 Seiten bei weitem ausführlichsten dritten Teils, der „Analyse der Bücher des Alten Testaments“, zustande kam. Am Schluss stehen mit reichlich 100 Seiten die Geschichte des Kanons (mit einer Besprechung der Apokryphen und Pseudepigraphen) und die des Textes. Eißfeldts „Einleitung“ ist vielleicht sogar über den deutschsprachigen Bereich hinaus das klassische Buch dieser Disziplin im 20. Jahrhundert gewesen, obwohl sie sich wegen ihrer etwas umständlichen Ausführlichkeit nicht besonders gut als Nachschlagewerk eignet und eben darum auch kein eigentliches Studentenbuch werden konnte. Das erreichten andere, die sich Eißfeldts Arbeit in mehr oder weniger großem Umfang ad usum Delphini zunutze machten. Unter den vielen Anerkennungen, die Eißfeldt im Lauf seines Lebens widerfuhren, erfreute ihn besonders die Widmung, die der berühmte Amerikaner William F. Albright (1891–1971) seinem Buch „Yahweh and the Gods of Canaan“ (1968) voransetzte: „In Honour of the Eightieth Birthday 1 September 1967 of Otto Eißfeldt Whose Scholarly Exploration Has Made This Volume Possible“. Im Vorwort nannte Albright den Jubilar „my old friend […] whose indomitable spirit and acuteness in exploring terra incognita have so often opened new paths for me“. Das ging beileibe nicht auf Hexateuch und Literarkritik, sondern auf das durch Albrights Buchtitel bezeichnete Gebiet: die israelitische Religion im Verhältnis zu ihren Nachbarreligionen, besonders der kanaanäischen. Hier brachte es Eißfeldt zu seiner eigentlichen Meisterschaft. „Israels Religion ist synkretistische Religion“, heißt, 1914 geschrieben, der erste Satz im ersten Band der „Kleinen Schriften“, in unausgesprochener Anknüpfung an Gunkels berühmten Satz: „Das Christentum ist eine synkretistische Religion.“29 Bei aller Anregung, die er ihm gab, war aber nicht Gunkel der Lehrer Eißfeldts auf diesem Gebiet, sondern der Graf Baudissin. Eißfeldt trat ihm erst nach seinem Ersten Theologischen Examen näher, empfing dann aber „starke Anregungen“: 28  Einleitung in das Alte Testament (1934) 6. 29  H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (1903) 95.

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„Von ihm habe ich gelernt, was behutsame Exegese ist, nämlich unabläßliche, von vorschnellen Textänderungen absehende Bemühung um das Verständnis des überlieferten Textes, und weiter bin ich durch ihn erst so recht in die Erforschung der kanaanäisch-phönizischen Religion und der Religionen der semitischen Völker überhaupt eingeführt worden, und zwar sowohl um ihrer selbst willen als auch im Hinblick auf ihr positives oder negatives Verhältnis zur israelitischen Religion“30. Eißfeldts ausführlicher Nekrolog auf Baudissin31 lässt einiges von Wahlverwandtschaft zwischen diesen beiden frommen, vornehmen und gelehrten Männern ahnen. Das wichtigste Denkmal dieser Beziehung ist indessen nicht der Nekrolog, sondern sind die vier umfangreichen Bände „Kyrios als Gottesname im Judentum und seine Stelle in der Religionsgeschichte“, das Monumentalwerk Baudissins, dessen Vollendung und Herausgabe Eißfeldt dem Lehrer 1924, zwei Jahre vor dessen Tod, versprochen hatte. Er unterzog sich der entsagungsvollen Aufgabe und legte 1929 das Ganze vor. Bei aller Mühe brachte diese Arbeit ihm und der Wissenschaft einen größeren Nutzen, als man damals wissen konnte. Denn im gleichen Jahr 1929 begann die Ausgrabung des antiken Ugarit auf dem Ras esch-schamra an der phönikisch-syrischen Küste und damit die Entdeckung einer Vielzahl von Texten, die die Kenntnis der Kultur und Religion jenes Bereichs in vorisraelitischer Zeit auf eine ganz neue Grundlage gestellt haben. In dem, was man bis dahin davon wusste, war Eißfeldt durch seine Arbeit an Baudissins „Kyrios“ so bewandert wie kaum ein zweiter. Das prädestinierte ihn, bei der Auswertung der neuen Funde alsbald eine führende Rolle zu spielen. Hinzu kam, dass er in dem Hallenser Semitisten Hans Bauer (1878–1937) den Mann am Ort hatte, dem schon 1930 der entscheidende Schritt zur Entzifferung der alphabetischen Keilschrift von Ugarit gelang. Eißfeldt beteiligte sich von da an nicht nur an der in internationaler Zusammenarbeit schnell aufblühenden Ugaritologie im engeren Sinn, sondern setzte kompetent wie niemand sonst die dort gewonnenen Erkenntnisse in Beziehung zu dem, was man schon aus anderen Quellen wusste. Die wichtigste unter ihnen war und blieb das Alte Testament, so wie er selbst Alttestamentler war und blieb – aber als einer der nicht allzu vielen in seinem Jahrhundert, die auch auf Nachbargebieten mehr als nur Sporadisches oder Dilettantisches geleistet haben und damit außerhalb ihrer angestammten Zunft ernstgenommen werden konnten. Hier ist nicht Raum, diese Arbeit auch nur im Überblick darzustellen32. Ich muss mich damit begnügen, einige Aufsätze und Monographien in der Reihenfolge ihres Erscheinens aufzuzählen, ohne sie danach zu ordnen, ob jeweils das Schwergewicht beim Alten Testament oder bei Ugarit oder bei Quellen aus der griechisch-römischen Antike oder solchen aus dem alten Orient liegt. Die Titel, 30  VT.S XV, 6f. 31  I, 115–42. 32  Vgl. dazu R. Hillmann in: Otto-Eißfeldt-Ehrung (Anm. 3) 67–98; A. Meinhold in: 500 Jahre Theologie in Wittenberg und Halle, hg.v. A. Sames (2003) 149–58.

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dem Kenner geläufig, können auch dem Laien ein gewisses Bild geben33: Der Gott Bethel (1930)34, Baal Zaphon, Zeus Kasios und der Durchzug der Israeliten durchs Meer (1932), Der Gott des Tabor und seine Verbreitung (1934)35, Die Wanderung palästinisch-syrischer Götter nach Ost und West im zweiten vorchristlichen Jahrtausend (1934)36, Molk als Opferbegriff im Punischen und Hebräischen und das Ende des Gottes Moloch (1935), Philister und Phönizier (1936), Ras Schamra und Sanchunjaton (1937), Ba‘alšamēm und Jahwe (1939)37, Tempel und Kulte syrischer Städte in hellenistisch-römischer Zeit (1941), El im ugaritischen Pantheon (1951), Sanchunjaton von Berut und Ilumilku von Ugarit (1952), Taautos und Sanchunjaton (1952), Der Gott Karmel (1953), El und Jahwe (1956)38, Phönikische und griechische Kosmogonie (1960)39, Der kanaanäische El als Geber der den israelitischen Erzvätern geltenden Nachkommenschaftsund Landbesitzverheißungen (1968)40, Adonis und Adonaj (1970). Die Liste ist bei weitem nicht vollständig, und sie betrifft nur eins von Eißfeldts Arbeitsgebieten. Das imponiert um so mehr, als die Zeiten alles andere als ruhig waren. Das Jahr 1929 hatte für Eißfeldt nicht nur als Kyrios- und Ugarit-Jahr Bedeutung, sondern auch durch zwei miteinander zusammenhängende akademische Entscheidungen. Zunächst lehnte er einen ihn sehr verlockenden Ruf nach Gießen ab. „Je länger ich“, schrieb er dem dortigen Dekan, „die Dinge mit mir herumgetragen habe, um so klarer ist mirs geworden, daß ich nach Gießen gehen möchte, aber in Halle bleiben muß.“41 Gleich danach trat er in Halle das Amt des Rektors an, das in jenen Jahren besonders verantwortungsvoll war und das er mit Geschick und Charakter verwaltete. Auf das zweijährige Rektorat seines Nachfolgers, des Wirtschaftswissenschaftlers Gustav Aubin (1881–1938), fiel schon der Schatten des Dritten Reiches. Angesichts des studentischen Terrors gegen den neuberufenen Praktischen Theologen Günther Dehn (1882–1970) bewies Aubin Zivilcourage und bezahlte dafür mit dem Verlust seines Lehrstuhls. Eißfeldt, der ihm als Prorektor zur Seite stand, blieb die Probe weitgehend erspart. Wie sich sein Verhalten in der Sicht Dehns darstellte, zeigt der Umstand, dass Dehn sich beim Dank für eine Grußadresse der Halleschen Fakultät im Jahr 1967 ausdrücklich dafür bedankte, dass „auch der ‚Herr Kollege Eißfeldt‘ die Grußadresse mit unterschrieben“ habe – was im übrigen gar nicht der Fall gewesen zu sein scheint42. 33  Bedauerlicherweise fehlen einige der wichtigsten unter diesen Arbeiten in den Kleinen Schriften, weil selbständig erschienene Schriften nicht in sie aufgenommen wurden. 34  I, 206–33. 35  II, 29–54. 36  II, 55–60. 37  II, 171–98. 38  III, 386–97. 39  III, 501–12. 40  V, 50–62. 41  Bei Wallis (Anm. 3) 260. 42  F. Stengel, ZKG 114 (2003) 385f.

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An Eißfeldts politischer Gesinnung konnte kein Zweifel sein. Er war 1923 der Deutschnationalen Volkspartei beigetreten, hatte sie aber 1928 wie viele seiner Standesgenossen wieder verlassen, als Alfred Hugenberg, der Führer ihres schroff antirepublikanischen Flügels, den Vorsitz übernahm. In der braunen Zeit hielt er sich abseits. Aber er engagierte sich in der Kirche. 1936 berief ihn der Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union zum nebenamtlichen Konsistorialrat im Magdeburger Konsistorium. Als solcher verbrachte er einen Tag jeder Woche in Magdeburg. Im besonderen war er „theologischer Dezernent“ für die Kirchenkreise Mühlhausen, Bleicherode und das Eichsfeld. 1949 wechselte er in die Zuständigkeit für das Erste Theologische Examen. Erst gleichzeitig mit seiner Emeritierung als Professor im Jahr 1957 entließ ihn die Kirche aus dem Amt des Konsistorialrats. Eine derartige Mitarbeit in der Kirche war ihm wie vielen anderen liberalen Theologen selbstverständlich, und zweifellos wurde sie geschätzt und brachte Nutzen. Man hat nicht den Eindruck, dass ihm das Verhältnis von Theologie und Kirche oder auch das von Glauben und Bibelkritik jemals ernstliche Kopfschmerzen bereitet hätte, zu schweigen von den wahrhaft fundamentalen Fragen, die die ihm gleichaltrigen Begründer der Dialektischen Theologie bewegten. Dabei war ihm immer bewusst, dass die meisten seiner Studenten Pfarrer werden wollten, und er trug dem Rechnung, soweit es in seinen Möglichkeiten stand. Über die theologische Dimension seiner Aufgabe hat er sich hin und wieder geäußert, zuerst 1926 unter der durchaus programmatischen Überschrift: „Israelitischjüdische Religionsgeschichte und alttestamentliche Theologie“43. Er sah einen Fehler der Dialektischen Theologie darin, dass dort „die beiden verschiedenen Betrachtungsweisen, die von außen her (die historische) und die von innen (vom Glauben) her, nicht reinlich auseinandergehalten“ würden44. Die erste verlange eine historische, die zweite eine systematische Darstellung, „wobei systematisch nicht in dem Sinne einer alles aus einem Prinzip methodisch entwickelnden Behandlung zu verstehen ist, sondern eher als eine loci-artige Aneinanderreihung der Aussagen“. Historisch kann sie nicht vorgehen, weil der Glaube „es nicht mit Vergangenem zu tun“ hat, „sondern mit GegenwärtigZeitlosem; und die Offenbarung ist über die Kategorie der Zeit erhaben“45. Nach dem, was aufmerksame Hörer aus Eißfeldts Vorlesungen festgehalten haben46, ist er in der Praxis (zum Glück) nicht so alternativ verfahren, wie man nach der Theorie meinen könnte. Seine einschlägige Vorlesung hieß „Alttestamentliche Theologie“, zeitweise mit dem eingeklammerten Zusatz „Israelitisch-jüdische Religionsgeschichte“. In ihr sprach ein Religionshistoriker von hohen Graden, 43  I, 105–14. 44 1061. 45 113. 46  Vgl. H.-J. Zobel, Altes Testament – Literatursammlung und Heilige Schrift (1993) 266– 91. Er verwendet dort auch eine Nachschrift von K.-M. Beyse.

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der das Interesse angehender Theologen zu befriedigen suchte, der aber auch seinerseits offenkundig nicht ohne theologisches Temperament war. Seine grundsätzlichen Äußerungen späterer Jahre variieren die These von 1926; es muss hier genügen, den wiederum programmatischen Titel einer kleinen Sammlung von Vorträgen aus dem Jahre 1947 zu nennen: „Geschichtliches und Übergeschichtliches im Alten Testament“. Eben fiel das Wort Temperament. Ich gestehe, dass ich bei der ersten Begegnung mit Eißfeldt, im Sommer 1954, aufs höchste überrascht war. Nach seinen Schriften hatte ich einen behäbigen, umständlichen, etwas langweiligen Mann erwartet. Aber er war lebendig und beweglich, lief beim Reden hin und her, unterbrach sich selbst häufig durch Zwischenfragen und kam schnell von einem Thema zum anderen. Er war ein passionierter Anekdotenerzähler; man konnte mit ihm viel Vergnügen haben und manchmal lachte er buchstäblich Tränen. Seine unprätentiöse und unkomplizierte, dabei grundgütige Art überwand mit Leichtigkeit Distanzen, wobei er allerdings auch einmal über das Ziel hinausschießen konnte: nach zehn Jahren der Bekanntschaft schrieb er mir, ich solle ihn fortan nicht mehr als „hochverehrten Herrn Professor“ und überhaupt nicht als „Herrn“ anreden, sondern mit „Lieber Eißfeldt“ – das ging mir dann gegenüber einer Respektsperson wie ihm nur schwer über die Lippen und in die Feder. Dass er eine Respektsperson war, hatte ihm 1945 die schwerste Last seines akademischen Lebens aufgelegt. Nach der Eroberung Halles durch die Amerikaner im April wurde er zum Dekan der theologischen Fakultät, Ende Juni, kurz vor der Übernahme der Besatzungsmacht durch die Sowjetunion, zum Rektor der Universität gewählt. Am 12. Juli trat er dieses Amt an und hielt sogar eine Rektoratsrede über „Prophetie und Politik“. Es war eine Zeit, in der sich manche auf eine würdige Wiederherstellung der Universität Hoffnungen machten, die sich je länger desto mehr als Illusionen erwiesen. Als der Pragmatiker, der er war, wird Eißfeldt die Lage einigermaßen realistisch eingeschätzt und unermüdlich versucht haben, das Bestmögliche zu erreichen. Es besteht kein Zweifel, dass der Respekt, der Eißfeldt in das Amt des Rektors gebracht hatte, in diesen Jahren auf allen Seiten nicht kleiner, sondern noch größer geworden ist. Die Besatzungsmacht und später die DDR waren klug genug, ihn für sich in Anspruch zu nehmen und ihn mit einem „Vaterländischen Verdienstorden“ und einem „Banner der Arbeit“ zu dekorieren, obwohl sie ihn hinter vorgehaltener Hand „stockkonservativ“ und einen „alten Reaktionär“ nannten47. Eißfeldt trug die Last drei volle Jahre. Er warf sie ab, als 1948 „Übergangsbestimmungen für die Verwaltung der Martin-Luther-Universität“ oktroyiert wurden, die „der demokratischen Mitverantwortung neuartige Dimensionen“ erschlossen, und er war klug genug, sich danach unter 47  Vgl. F. Stengel in; H.-J. Rupinger, Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1502–2002 (2002) 5308.

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noch verschärften Bedingungen auch nicht, wie 1930–32, als Prorektor verpflichten zu lassen48. Während des Rektorats führte er seine Lehrtätigkeit in staunenswertem Umfang weiter49. Und danach strömte alsbald der – ja schon vorher durch die Begleiterscheinungen des Krieges gehemmte – Fluss seiner Produktion wieder in gewohnter Breite. Zu den bisher bearbeiteten Stoffen war unverhofft ein ganz neuer gekommen: wie in die Zeit von Eißfeldts erstem Rektorat die Entdeckung von Ugarit fiel, so in die Zeit des zweiten die der Qumran-Texte. Er erfasste deren Bedeutung sofort, berichtete seit 1949 laufend in mehreren Organen über ihre Erschließung, zu der er auch eigenständige Beiträge lieferte, und machte die Varianten der beiden Jesajarollen und des Habakukkommentars leicht nutzbar, indem er sie 1951 als dritten Apparat unter den Text der Bücher Jesaja und Habakuk in Kittels Biblia Hebraica einrückte. Der Biblia Hebraica hatte seine Arbeit schon vorher jahrelang gegolten: nach Rudolf Kittels Tod (1929) hatte die Württembergische Bibelanstalt ihn und Albrecht Alt mit der dritten Auflage betraut, und beide teilten sich so in die Aufgabe, dass Alt den Pentateuch und die Prophetae priores, Eißfeldt die Prophetae posteriores und die Hagiographen übernahm. Das Gesamtwerk war 1937 abgeschlossen und blieb in Gebrauch, bis 1968–77 die Biblia Hebraica Stuttgartensia erschienen, bei denen Karl Elliger (1901–77) und Wilhelm Rudolph an Alts und Eißfeldts Stelle traten; diesmal beteiligte sich Eißfeldt durch die Bearbeitung der Genesis (1969). Er war auch sonst ein idealer Herausgeber, und zwar ein solcher, der die eigentliche Arbeit nicht auf andere abwälzte, sondern selbst besorgte. Man konnte ihm in den fünfziger Jahren kaum irgendwo begegnen, ohne dass er einen Stapel Korrekturen der ZAW mit sich führte. Dabei war er hier nicht einmal der eigentliche Herausgeber, sondern hatte 1948 „nur“ seinen Namen für das Titelblatt hergegeben, wo er vor dem Johannes Hempels stand, des Herausgebers seit 1927, der sich und die Zeitschrift durch seine Haltung im Dritten Reich einigermaßen kompromittiert hatte; Eißfeldts Beteiligung machte manchem Kollegen im In- und Ausland die Mitarbeit wieder möglich. Sein Name als Herausgeber ist vor allem mit dem „Handbuch zum Alten Testament“ verbunden, „Eißfeldts Handbuch“, das sich wie sein Vorgänger im Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Martis „Kurzer Hand-Commentar zum Alten Testament“, und wie Lietzmanns „Handbuch zum Neuen Testament“ von anderen Kommentaren durch gehaltvolle Kürze und schnelles Erscheinen unterscheiden sollte. Mindestens das zweite verhinderten die Zeitläufte. Von Eißfeldts übrigen Herausgeberschaften sei nur auf seine Mitwirkung bei der „Orientalistischen Literaturzeitung“ (seit 1953) hingewiesen. Er war dort seit langem auch einer der fleißigsten Rezensenten, so wie überhaupt die Zahl seiner 48  Vgl. E. Poppe – H. Schwabe in: Otto-Eißfeldt-Ehrung 61f. 49  Vgl. VI, VIII.

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Rezensionen besonders in der Nachkriegszeit schwindelerregende Höhen erreichte. Ein Motiv dabei war die Nötigung, auf solche Weise Literatur in das vom Westen abgeschnittene Ostdeutschland zu schaffen. Aber der Nötigung kam Eißfeldts große Begabung entgegen, schnell aufzufassen und kaum weniger schnell zu schreiben – und das nicht nur mit der Schreibmaschine, sondern sehr oft auch in seiner ruhigen und harmonischen Handschrift. In seinen letzten Jahrzehnten glich er immer mehr dem „Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt“. Von beidem hatte er viel zu bieten, en detail, aber doch auch en gros. Denn außer zahlreichen (um nicht zu sagen: zahllosen) Aufsätzen zu Einzelfragen lieferte er auch kurz hintereinander einige Synthesen größeren Stils: 1964 „Kanaanäisch-ugaritische Religion“ im Handbuch der Orientalistik50, 1965 „The Exodus and the Wanderings“ und „The Hebrew Kingdom“ in der erneuerten Cambridge Ancient History51 und 1967 „Syrien und Palästina vom Ausgang des 11. bis zum Ausgang des 6. Jahrhunderts v.Chr.“ in der Fischer Weltgeschichte52. Diese Überblicke wurden nicht nur darum weniger beachtet, als sie es verdienten, weil sie in Handbüchern ein etwas beengtes und verstecktes Dasein führen, sondern mehr noch weil das Publikum, wenigstens das deutsche, noch unter dem Bann der Synthesen stand, die die beiden großen Schüler Albrecht Alts, Martin Noth und Gerhard v. Rad, geschaffen hatten. Eißfeldt begegnete ihnen mit nüchterner Skepsis und wiederholte damit die Haltung, die er Gunkel gegenüber eingenommen hatte – kein Wunder, da sie ihre Argumente ja zu einem guten Teil aus der Formgeschichte bezogen. Um die Jahrhundertmitte und noch darüber hinaus, als in den Augen mancher die alttestamentliche Wissenschaft erst mit Gunkel begann, konnte Eißfeldt als arg rückständig erscheinen. Heute, wiederum im Selbstgefühl einer neuen Zeit, werden da nicht mehr so große Unterschiede gemacht. Wenn man Eißfeldt noch läse, würde man ihn wohl ebenso wie seine Antipoden am ehesten mit dem Etikett „konservativ“ versehen. Übrigens, bei aller Problematik solcher Etiketten im allgemeinen und in diesem Fall, nicht ganz zu Unrecht: Eißfeldt jagte nicht nach Unechtheiten, sondern freute sich, wenn er in alten Zeiten Boden unter die Füße bekam oder zu bekommen glaubte, mochte es sich um die Historizität des bei Euseb von Caesarea bzw. Philo von Byblos zitierten Sanchunjaton von Beirut handeln oder um die Möglichkeit, einzelnen Psalmen einen Platz in der Geschichte anzuweisen, ja bei zweien von ihnen (18 und 51) sogar die Angabe der Überschrift über ihre Situation in Davids Leben für historisch zuverlässig zu halten53. Im Buch Jeremia erkannte er den stilistischen Unterschied der „deuteronomistischen“ Prosatexte zu den Dichtungen des Propheten durchaus an, fand aber, ihm sei „zu große Bedeutung beigelegt, wenn daraus ohne weiteres auch 50  I, 8, I, 76–91. 51  II, XXVIb.XXXIV. 52  IV, 135–219. 53  Zu letzterem vgl. V,192f.

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Verschiedenheit der Verfasser gefolgert“ werde; man werde „die beanstandeten Stücke also doch Jeremia lassen und am ehesten aus der Urrolle herleiten müssen“54. Die Grundlage von Esr 7,11–9,5 schrieb er „tatsächlich Esra selbst“ zu55. In der hier zutage tretenden Grundhaltung war er mehr „Berliner“ als „Göttinger“, und so stellte er sich auch ausdrücklich auf die Seite seines Berliner Lehrers Baudissin in dessen Widerstand gegen die Konsequenzen der GrafWellhausenschen Pentateuch-Hypothese, der ihn „z.B. im Pentateuch und in den Psalmen mehr vorexilisches Gut“ finden ließ „als andere. Die Folgezeit“, so Eißfeldt 1926, „hat ihm [Baudissin] hier recht gegeben, nicht den anderen, und heute würden seine Einwendungen und Bedenken gegen übereilt aus jener Theorie gezogene Folgerungen mehr Beachtung und mehr Zustimmung finden, als sie damals [zur Zeit von Baudissins ‚Einleitung in das Alte Testament‘, 1901] gefunden haben.“56 Auf Baudissins Spuren ging er immer wieder, so auch in seinen späten Arbeiten zum Gottesnamen Adonaj, abgeschlossen durch den zusammenfassenden Artikel Adon im ersten Band des „Theologischen Wörterbuchs zum Alten Testament“, der in seinem letzten Lebensjahr erschien57. Nach ihm ist das aj am Ende von Adonaj nicht als Personalsuffix („meine Herren“ bzw. „mein Herr“), sondern vom Ugaritischen her als verstärkende Nominalendung („der Allherr“) zu verstehen und das Wort in diesem Sinn bereits im 10. Jahrhundert v.Chr. gebraucht (Ex 15,17); seine Verwendung bei der Aussprache des Namens Jahwe geht (gegen eine der Hauptthesen Baudissins) nicht auf das Kyrios der Septuaginta zurück. Leider hat ihn die Fülle der kleineren Arbeiten gehindert, rechtzeitig das Buch in Angriff zu nehmen, das sein Lebenswerk krönen sollte: den Genesiskommentar in seinem „Handbuch“. Er hätte dort am klassischen Gegenstand noch einmal die Ergebnisse seiner literarischen und religionsgeschichtlichen Arbeit bewähren und weiterführen können. Als die Kräfte nachließen, erwog er, zum Ersatz sein Kollegmanuskript über die Genesis drucken zu lassen, doch musste er auch diesen Plan aufgeben. So ist der einzige Kommentar, den wir von ihm, einem, wie man meinen möchte, geborenen Kommentator, besitzen, die Übersetzung und Erläuterung der Königsbücher in Bertholets Neuausgabe von Kautzschs „Heiliger Schrift des Alten Testaments“ (1922). Von dem, was er sonst noch vorhatte, nenne ich einen etwas kuriosen, auch von ihm nicht ganz ernst gemeinten Plan. Er meinte, es sei sinnvoll, einmal diejenigen Forschungsergebnisse zusammenzustellen, die in der Wissenschaft auf völligen Konsens rechnen könnten, also die Verbindung des Deuteronomiums mit der Reform des Josia, die Zuschreibung von Jes 40–55 an einen Propheten im babylonischen Exil, Umfang und Alter der Priesterschrift 54  Einleitung in das Alte Testament (31964) 475. 55  Ebd. 738. 56  So im Nachruf auf Baudissin I, 119 (Hervorhebung von Eißfeldt). 57  Die erste Lieferung mit diesem Artikel wurde allerdings schon 1970 ausgegeben.

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und ähnliches mehr. Von diesen sicheren Punkten hätte die Forschung immer wieder auszugehen, sie werde dann nie den festen Grund verlieren. Welch hübscher Gedanke und wie beneidenswert der, der ihn hatte! Vielleicht liegt hier das Geheimnis nicht nur seiner gelehrten Arbeit, sondern seines Lebens überhaupt. Es gab für ihn einige Konstanten, die unverrückbar feststanden, und das befähigte ihn zu dem vielen, was er geleistet hat und gewesen ist. Am Ende seines Lebens musste Otto Eißfeldt erleiden, was für jemanden wie ihn fast das Schlimmste war: die Unfähigkeit zur Arbeit. Aber er blieb teilnehmend und liebenswürdig, wie er es immer gewesen war58. Der Tod erlöste ihn am 23. April 1973, in der Frühe des Ostermontags. Auf dem St. Laurentius-Friedhof liegt er begraben.

58  Vgl. R. Sellheims Bericht: Otto-Eißfeldt-Ehrung (Anm. 3) 117.

Walter Baumgartner 1887–1970

Als 1931 die Yale University einen Nachfolger für den demnächst ausscheidenden C.C. Torrey (1863–1956) suchte und den schon damals einflussreichen W.F. Albright (1898–1971) um seine Meinung bat, wies dieser auf Walter Baumgartner hin, der seit zwei Jahren als Nachfolger Bernhard Duhms in Basel lehrtte. Albright schrieb: „Baumgartner has published some exceedingly able, really brilliant monographs on biblical and Semitic philological subjects. If Baumgartner came to America, we should lose all anxiety with regard to the maintenance of high philological standards in American Biblical Scholarship.“ Nach weiteren zwei Jahren stieß Albright Baumgartner selbst, was eigentlich ganz überflüssig war, zur Beschäftigung mit dem Ugaritischen an: „With your exceptional linguistic training, in both lexicography and morphology, covering the three most useful languages, Accadian, Hebrew, and Aramaic, you are evidently the man for it. Besides, you are the man to study comparative implications of the documents.“1 Baumgartner war nicht nur ein Gelehrter von Graden, sondern auch ein bemerkenswerter Lehrer. Er „las“ in einem der kleineren Hörsäle des Basler Kollegienhauses. Schon bevor er eintrat, war der Hall seiner Schritte vom Korridor her zu hören: er trug jahraus jahrein beschlagene Stiefel, so wie sein ganzer Habitus eher an einen Bergbauern als an einen Professor denken ließ. Eingetreten, verschanzte er sich schnell auf dem Stuhl hinter dem niedrigen Pult, um nach der Anrede „Meine Herren und Damen!“ ohne Umschweif mit seinem Vortrag zu beginnen. Diesem zu folgen, strengte an, weniger wegen Baumgartners ungeglättet schweizerischer Aussprache, an die sich die meisten Deutschen und sogar manche Amerikaner bald gewöhnten, als wegen der Fülle des Materials, das er in atemberaubendem Tempo vorführte, ohne den Hörern eine Ruhepause zu gönnen. Vom Mitschreiben taten die Finger weh, aber am Ende hatte man blau auf weiß ein exzellentes Lehrbuch in der Hand2. 1  Beides zitiert nach M.S. Smith, Untold Stories. The Bible and Ugaritic Studies in the Twentieth Century (2001) 62. 2  Einen guten Eindruck gibt die Nachschrift, die ein ungarischer Hörer des Sommersemesters 1950 später ausgearbeitet und veröffentlicht hat: W. Baumgartner, Geschichte der israelitischen Religion. Basler Vorträge notiert von Dezsö Karrasszon (Debrecen 2004).

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Als Baumgartner einmal Geschichte des Volkes Israel las, lieh er sich bei einem Hörer dessen Nachschrift von Albrecht Alts gleichnamiger Vorlesung aus, las sie in einem Zuge durch und gab sie mit der verwunderten Frage zurück: „Hat er tatsächlich nicht mehr gesagt?“ Nein, Alt hatte materiell nicht mehr gesagt. Er hatte sich auf Grundlegendes und Charakteristisches konzentriert, nicht viel Literatur genannt, aber entscheidende Fragen ausgiebig in ihrem Für und Wider erörtert und hatte vor allem in epischer Breite erzählt, wobei sein schauspielerisches Temperament es zu dramatischen und pathetischen Höhepunkten kommen ließ, die unvergesslich blieben. Ganz anders Baumgartner, bei dem man weniger unterhalten wurde, aber mehr erfuhr. Dabei war auch sein Vortrag keineswegs unlebendig. Fehlte ihm die Rhetorik, so doch nicht die Emphase. Während er sein – übrigens mehr aus Stichworten als aus Sätzen bestehendes – Manuskript vortrug, war seine eher kleine Gestalt ständig in Bewegung, er rutschte unruhig auf dem Stuhl umher, blickte über das Pult hinweg oder an ihm vorbei ins Publikum und war immer auf dem Sprung, Hebräisches oder Nichthebräisches in seiner markanten Handschrift an die Tafel zu schreiben. Anstrengend war auch die Teilnahme an seinen Seminaren und Übungen. Zu Beginn der ersten Sitzung des Danielseminars teilte er unversehens Papierbögen aus, auf denen man in kürzester Zeit zwölf Fragen beantworten musste, z.B. nach den Namen der drei Freunde Daniels vor und nach der Umbenennung, nach den im Buch vorkommenden Königen und ihrer Regierungszeit oder nach dem Inhalt der Gesichte in den Kapiteln 2 und 7. In der zweiten Sitzung, nach der Lektüre der Antworten, erklärte Baumgartner diese für so fehler- und lückenhaft, dass er niemanden guten Gewissens ins Seminar aufnehmen könne; schlechten Gewissens tue er es aber doch, allerdings nur auf Probe und unter der Voraussetzung fleißigster Mitarbeit. Jeder Teilnehmer hatte eine Arbeit zu schreiben, und zwar über das Thema einer der Sitzungen, meist ein Kapitel aus Daniel. Die Arbeiten waren vor der betreffenden Sitzung einzureichen und dienten dann nach der Übersetzung des Textes, reihum durch alle Teilnehmer, als Grundlage einer ziemlich rigorosen Examinierung des jeweiligen Verfassers, der sein gerade erworbenes Spezialwissen vorführen, aber auch kräftig auf die Mängel seines Opus hingewiesen werden konnte. Das Plenum tat gut daran, sich nicht in Sicherheit zu wiegen: wenn der „Spezialist“ stockte, wurde unversehens Herr X oder „Fräulein“ Y zur Einhilfe aufgefordert. Ich kann mich aus drei Semestern nicht daran erinnern, dass einmal jemand coram publico ein Lob erhielt. Betrug die Teilnehmerzahl in den Seminaren zwischen zehn und zwanzig, so ging sie in den einstündigen, meist mehrsemestrigen Übungen über nichtbiblische Texte und andere semitische Sprachen selten über ein halbes Dutzend hinaus; oft lag sie darunter, und es kam vor, dass man dem Professor zu zweit oder sogar allein gegenübersaß, wodurch jede Chance der Nichtentdeckung mangelnder Präparation ausgeschlossen war. In diesen Übungen womöglich

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noch mehr als im Seminar setzte Baumgartner voraus, dass man wirklich arbeitete. In der ersten Syrischstunde stellte er die Aufgabe, bis zur zweiten die Brockelmannsche Grammatik so weit zu studieren, dass mit der Lektüre des ersten Stücks der Chrestomathie, der Leidensgeschichte nach Markus, begonnen werden konnte. „Wusste man [dann] bei der Interpretation in irgend einem Punkte der Grammatik nicht Bescheid, so wunderte er sich sehr; unbarmherzig hakte er ein bei jeder Unsicherheit im Lesen unvokalisierter Texte. Die Hilfen, die er gab, bestanden vorzugsweise in negativen Winken.“ Aber er spornte auch an „durch die Ansprüche, die er stellte, da sie dem, was er selber an Zeit und Mühe aufwandte, durchaus entsprachen. Sein Unterricht […] hatte etwas Erfrischendes, da er mit Leib und Seele dabei war; und die […] Stunden […] verliefen auch im heißen Sommer im Umsehen.“ Diese Sätze, die Wellhausen über seinen Lehrer Ewald schrieb3, gelten auch für Baumgartner, und ich denke, mancher alte Basler Student könnte auch auf ihn und auf sich die Fortsetzung beziehen: „Er wußte Leben in jugendlichen Geistern zu erwecken, die sich ihm hingaben.“ Baumgartner öffnete sich anderen nicht schnell und sprach, uneitel wie er war, nur selten über seine eigene Person. Immerhin zeigt ein ausführliches Curriculum vitae des 18jährigen4, dass ihm, wenigstens damals, intensive Selbstbetrachtung nicht fernlag. Später und öffentlich gab er Rechenschaft über seinen Weg am liebsten indirekt, indem er von den Lehrern berichtete, die ihn geprägt hatten und denen er die Treue hielt. Im Sommer 1959 gestaltete er einen zweistündigen Vortrag „Aus der Geschichte der modernen alttestamentlichen Forschung“ in der Universität Jerusalem als eine Reihe von Einzelportraits, beginnend mit Jakob Hausheer, endend mit Hermann Gunkel, dazwischen Ludwig Köhler, Bernhard Duhm, Karl Marti, Alfred Bertholet und Karl Budde – das waren die, die er in seiner Werdezeit erlebt hatte5. Er freute sich besonders, zu seiner Zeichnung Duhms die Zustimmung Martin Bubers zu finden. Noch schärfer als in diesem Vortrag akzentuierte er in den Widmungen seiner beiden großen Alterswerke, des biblisch-aramäischen und des hebräischen Lexikons: das eine widmete er dem Andenken seines Vaters, das andere dem seiner wichtigsten Lehrer, Hausheer und Gunkel. Die erste Widmung (1953) lautet: in memoriam patris mei qui ipse multarum linguarum peritus linguarum studii amorem inseruit animae meae. Die Vielsprachigkeit war Andreas Baumgartner (1844–1936) nicht an der Wiege gesungen. Er hat seine Jugend in Erinnerungen geschildert, die lange nach seinem Tod noch einmal unter dem Titel „Vom Hüterbub zum Professor“ 3  Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (1901) 64f. 4  Im Folgenden mehrfach ohne Seitenzahl zitiert. Ich danke Herrn Johannes Baumgartner herzlich dafür, dass ich dieses Heft und andere Dokumente einsehen durfte. 5  Das Manuskript scheint sich nicht erhalten zu haben. Baumgartner las es mir 1960 in seinem Studierzimmer noch einmal vor, wobei ich mir Notizen machte.

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aufgelegt wurden6. Der Sohn eines „Senntenbauern“ aus altem Ratsgeschlecht in Schwändi ob Schwanden im Kanton Glarus lebte als Junge viele Sommer bei harter Arbeit auf der Alp, ging dann zeitweise in eine Fabrik, konnte aber als erster aus seinem Dorf die Sekundarschule in Schwanden besuchen, brachte es nach einem Studium an der E.T.H. in Zürich und 8jährigem Lernen und Lehren in St. Andrews, Sunderland und Paris zum Lehrer für Englisch und Französisch 1874 an der Töchterschule in Winterthur und 1888, ein Jahr nach der Geburt seines zweiten Sohnes Walter, an der Kantonsschule in Zürich mit einem Lehrauftrag für Sprachkurse an der E.T.H. für fremdsprachige Studenten. Er verfocht die „direkte Lehrmethode“, nach der im Unterricht von vornherein nur in der zu erlernenden Sprache gesprochen wurde. Anhand seiner zahlreichen, in vielen Auflagen erschienenen Lehrbücher hat mehr als eine Generation in der Schweiz, aber hier und da auch in Deutschland Englisch und Französisch gelernt7. Die Lehrmethode, die er bei seinem Sohn Walter anwandte, arbeitete mit einem finanziellen Anreiz8. Er gab ihm schon in zartem Alter englischen Unterricht und zahlte ihm dabei für jede Minute einen Rappen; später erhöhte er den Preis. Das war etwas kostspielig, aber das Geld blieb ja in der Familie: der Sohn, der „unnötiges Tramfahren und Kaufen von Schleckwaren“ verabscheute, brachte das Meiste auf die Sparkasse und kaufte vom Rest Bücher. Vom Vater lernte er nämlich nicht nur die Sprachen, sondern auch die Bücher zu lieben, so sehr, dass er sich selbst einen „Bücherwurm“ nannte. Auf Indianer- und Räubergeschichten folgte bald Historisches: der Zehnjährige kannte Wilhelm Oechslis Schweizergeschichte streckenweise auswendig, danach kamen die zehn Bände von Spamers Weltgeschichte, in der es ihm Schlachten und Morde mehr antaten als die Diplomatie. Mehrere Male las er in Übersetzung Xenophons Anabasis und Kyropädie und Cäsars Bellum Gallicum und Bellum Civile durch. In Begeisterung versetzte ihn „Der wahre Winkelried“ von Carl Bürkli. Er erfuhr daraus, dass Winkelried keine historische Persönlichkeit war, und unternahm es nun seinerseits, in freiwilligen Schulaufsätzen weitere Helden der Schweizergeschichte unbarmherzig in das Reich von Sage und Legende zu versetzen – zur Entrüstung von Mutter und Großmutter, aber zum Vergnügen des Winkelried-Autors Bürkli, den er kennenlernen durfte und der ihm prophezeite, er würde noch der Nachfolger von Professor Oechsli werden. Als Gymnasiast entwickelte er ein leidenschaftliches Interesse an Napoleon, über den er 70 Bücher gelesen zu haben behauptete und 15 besaß. Sein Geschichtslehrer war Otto Markwart (1861–1919), der Schüler und spätere Biograph Jacob Burckhardts. Er beeindruckte ihn durch seine Darstellungskraft, konnte ihn aber für die ihm durch Burckhardt nahegebrachte klassische Kunst nicht 6  Zusammen mit J. Zimmermann, Geschichten aus den Glarner Bergen (Glarus 1982). 7  Vgl. die Würdigungen in der NZZ 1936, Nrn. 410 und 422. 8  Das Folgende nach dem Curriculum vitae von 1906.

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erwärmen: dem jungen Baumgartner sagte eine Radierung von Ludwig Richter oder die Schwarzwaldlandschaft eines Anonymus mehr „als alle Werke Michelangelos“, so wie er Gotthelf und Rosegger lieber las als Goethe und Schiller und wie er bekannte, die „höhere Musik“ sei für ihn verloren. „In allem bin ich sozusagen Naturmensch.“ Und in der Tat: in die Natur zog es ihn kaum weniger als zu den Büchern. Er wanderte, Eichendorffs „Taugenichts“ im Sinn, aber auch entschieden gesundheitsbewusst, allein, mit dem Vater und dem vier Jahre älteren Bruder oder mit einem vertrauten Freund in die Zürcher Umgebung, in das heimatliche Glarnerland, den Jura und den Schwarzwald. Eine konsequente Tageseinteilung und der Verzicht auf Konzerte, Theater und Geselligkeit halfen ihm, seinen Pflichten und Neigungen intensiv nachzugehen: er stand früh auf, im Sommer um fünf Uhr, im Winter um sechs, lief morgens, vor- und nachmittags nach der Schule auf den Zürichberg oder an den See, füllte die Zwischenzeiten mit Schulaufgaben, widmete sich nach dem „Nachtessen“ der Lektüre und ging bald nach neun ins Bett. Auch die Ferien benutzte er nicht zum Faulenzen. Es fällt nicht schwer, in diesem Jüngling den späteren Walter Baumgartner zu erkennen. Aber die Frage war noch offen, welchen Inhalt das Gefäß bekommen würde. Die Interessen des Schülers wiesen eindeutig auf die Geschichte, und so war es denn dieses Fach, genauer die Alte Geschichte, in dem der 1906 an der Universität Zürich Immatrikulierte zwei Jahre später das propädeutische Examen für das höhere Lehramt ablegte – mit besten Zensuren übrigens, wie schon vorher die Reifeprüfung am Gymnasium. Aber mochte er die Geschichte, unter anderem zu Füßen des Professors Oechsli, noch so eifrig studiert haben, das Propädeutikum war doch ein Abschied von ihr. Schon in seinem ersten Semester hatte er neben den Historikern zwei Gräzisten und Indogermanisten gehört, Adolf Kaegi und Eduard Schwyzer, und einen Semitisten und Alttestamentler, Jakob Hausheer. Deren Fächer verdrängten nach dem Propädeutikum die Geschichte fast ganz, so dass die Diplomprüfung 1912 in klassischer Philologie erfolgte und das Doktorexamen im gleichen Jahr darüber hinaus in hebräischer Sprache und Literatur sowie allgemeiner Religionsgeschichte; es fand in der philosophischen Fakultät statt, aber die Dissertation betraf ein Thema aus dem Alten Testament. Der leitende Geist auf dem Weg dorthin war Hausheer (1865–1945). Ihn haben unzählige Menschen aller Schichten gelesen, ohne jemals seinen Namen zu erfahren; denn er war ungenannt für den alttestamentlichen Teil der Zürcher Bibel von 1931 hauptverantwortlich. Publiziert hat er sonst außer seiner Hallenser arabistischen Dissertation nur ein paar Rezensionen. In Halle war er durch Kautzsch zum Anhänger Wellhausens geworden, von dessen Position sich die seine durch eine konservativere Literarkritik und die Einbettung der israelitischen Religion in die allgemeine Religionsgeschichte unterschied. Er lehrte Arabisch, Aramäisch, Syrisch, Äthiopisch und Neupersisch, und man darf sich vorstellen, dass er dabei ähnlich verfuhr wie später sein Lieblings-

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schüler Baumgartner. Dieser beschrieb ihn nach seinem Tod (1943) als einen „feinen, bescheidenen und gütigen Menschen“ und rühmte ihm einen weiten Blick, umfassende Kenntnisse und ein gutes und unbestechliches Urteil nach9. Für 1908/09 stellte die Zürcher theologische Fakultät eine Preisaufgabe über „Zeit und Ursachen der Entstehung des Messiasglaubens im Volke Israel“. Walter Baumgartner gewann den ersten Preis mit einer Arbeit, die für eine Dissertation zu umfangreich war – das hat es einmal gegeben! –, und wurde daher mit zwei herausgelösten Kapiteln über die Frage der Heilseschatologie bei Amos und Hosea promoviert. Im Vorwort heißt es: „Diese Abhandlung erhebt nicht den Anspruch, irgendwelche neue und überraschende Aufstellungen zu bieten. Es handelt sich [viel]mehr nur um eine Nachprüfung und kritische Sichtung der bisherigen Untersuchungen, um Zusammenfassung und Vertiefung gewonnener Ergebnisse.“10 Diese Charakteristik gilt cum grano salis für Baumgartners gesamtes Lebenswerk, auf das man aber darum unter gar keinen Umständen geringschätzig herabsehen darf. Ludwig Köhler hat seinen Berner Kollegen Marti in einem Nachruf den „großen Richter der Zunft“ genannt, „unabhängig, gelassen, sachkundig […] und gerecht. Dazu hilfsbereit.“11 In dieser Rolle ist Baumgartner der Nachfolger Martis gewesen, wobei er sich allerdings, wie hoffentlich auch Marti, das pathetische Wort vom „großen Richter“ energisch verbeten hätte. Nicht nur in solchen Stilfragen unterschied er sich von Ludwig Köhler, der gleichwohl in jenen Zürcher Jahren sein Freund wurde und der ihn damals in die hebräische Lexikographie und die Septuagintaforschung einführte. Dem frischgebackenen Doktor dürfte als Berufsziel schon seit längerem die alttestamentliche Wissenschaft vor Augen gestanden haben. Aber er hatte, abgesehen von einigen Übungen bei Paul Wilhelm Schmiedel (1851–1935), Köhlers Lehrer und Hausheers neutestamentlichem Partner in der Zürcher Bibel, nicht Theologie studiert und betrachtete es außerdem als empfindliche Lücke, dass man bei Hausheer nicht Akkadisch lernen konnte, zumal er selber als Gymnasiast durch den Babel-Bibel-Streit auf das Alte Testament aufmerksam geworden war. Auch fand er wohl, dass ihm nach Hausheer noch andere, produktivere alttestamentliche Lehrer guttun würden. So bezog er im Herbst 1912 die Universität Marburg. Dort lehrte das „Assyrische“ der WellhausenNachfolger Peter Jensen (1861–1936), ein kraftvoller und gradliniger Ostfriese, der, so Baumgartner, zugleich in unbeabsichtigter Selbstcharakteristik, „nicht ‚Pädagoge‘ im üblichen Sinne“ war, „es auch garnicht sein“ wollte. „Er verlangte viel von den Schülern und ging rasch vorwärts, mochten auch manche abspringen. […] Wer aushielt, […] lernte in dieser strengen Schule nicht nur 9  NZZ 1943, 761. – Über Hausheer sehr informativ P. Schwagmeier, KUSATU 12.13 (2011) 41–144. 10  Kennen Amos und Hosea eine Heilseschatologie? Diss. phil. I Zürich 1913, 5. 11  NZZ 1925, 645; s.o. 485..

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die Treue im Kleinen, sondern auch den Blick für die Weite.“12 Leider verlangte er von seinen Schülern auch, dass sie ihm seine bis ins Skurrile überspannten Spekulationen über „Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur“ abnahmen. Das führte zum Bruch mit fast allen, darunter Walter Baumgartner, an dessen bleibender Dankbarkeit es aber nichts änderte. Er ist auch selbst als Assyriologe tätig geworden – 1925 erschienen seine „Untersuchungen zu den akkadischen Bauausdrücken“ – und hat nebenher einen der maßgebenden Assyriologen des Jahrhunderts, den Marburger Kollegensohn Wolfram von Soden (1908–96), schon als Gymnasiasten in die Semitistik, zunächst ins Hebräische, eingeführt. Auf die Theologie verwendete er nicht ganz so viel Mühe. Aber er nahm wahr, was sich ihm bot, und das war nicht wenig. Er belegte bei Heitmüller Leben Jesu, Römerbrief und Neutestamentliche Theologie, bei Jülicher und Böhmer Kirchen- und Dogmengeschichte, bei Wilhelm Herrmann Dogmatik (I und II) und Ethik und zu guter Letzt (1916) bei Bornhäuser Liturgik und Homiletik. Am meisten ließ er sich natürlich auf Budde ein. Ihn hat er als Menschen und Gelehrten hoch geschätzt – noch für die lexikalische Arbeit seiner letzten Jahre nutzte er intensiv seine Kommentare –, und mit ihm trat er in eine nahe persönliche Beziehung, die dank Buddes Generosität die Probe bestand, der sie das für Baumgartner wichtigste Ereignis jener Jahre aussetzte: sein Anschluss an Hermann Gunkel. Er war nach Marburg von vornherein mit der Absicht gegangen, dort bei Jensen und Budde und im benachbarten Gießen bei Gunkel zu studieren. Bei Jensen ist das Motiv klar, die Assyriologie, aber was führte ihn gerade zu diesen beiden Alttestamentlern? Was Budde angeht, vermute ich, dass er nach Hausheer noch einen Repräsentanten der abtretenden, aber von ihm niemals unterschätzten Wellhausen-Generation kennenlernen wollte. Er hätte das ebenso gut tun können, indem er nach Basel zu Duhm gegangen wäre, aber dort fehlte die Kombination mit der Assyriologie und einer so exzellenten theologischen Fakultät, wie es die in Marburg war. Zum Ersatz glückte es ihm während eines militärischen Grenzdienstes im Berner Jura im Spätherbst 1914, den Bataillonskommandanten zu überreden, dass er ihn ein paarmal nach Basel fahren ließ, um an Duhms Seminar teilzunehmen und ihn sogar in seiner völlig verräucherten Studierstube am St. Johanns-Rheinweg zu besuchen, wo Duhm allerdings zu seiner Enttäuschung überhaupt nichts Tiefsinniges sagte; hinterher machte er sich Vorwürfe, den großen Mann nicht mutiger befragt zu haben. Noch mehr ärgerte es ihn zeitlebens, dass er im Sommer 1913 nicht gelegentlich von Gießen nach Göttingen hinübergefahren war, um Wellhausen in seiner letzten Vorlesung (über das Buch Hiob) anzuhören. Von Wellhausen sagte er mit ungewohnter Feierlichkeit: „Er schreitet wie ein Riese über die Höhen“, und wenn er etwas an ihm kritisierte, fügte er gleich hinzu: „Sint ut sunt aut non sint.“ 12  AfO 11 (1936) 282.

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Aber die Zukunft scheint er schon in seiner letzten Zürcher Zeit bei Gunkel gesehen zu haben, und so schrieb er, kaum in Marburg angekommen, nach Gießen mit der Bitte um Aufnahme ins Seminar und einen Gesprächstermin. „Ich bildete mir ein“, hat er später erzählt, „das müßte ihm Freude machen. Aber erst nach einigen Tagen kam eine ganz knappe Karte: Teilnahme am Proseminar wolle er mir gern gestatten, fürchte indessen, ich würde von diesen kurzen Stunden nicht viel haben; Sprechstunde sei dann und dann. Punkt zwei Uhr stand ich den betreffenden Nachmittag vor der Türe, wurde aber vom Dienstmädchen abgewiesen: Herr Professor halte noch Mittagsschlaf, ich solle um drei Uhr kommen. Punkt drei Uhr stand ich wieder vor der Türe und hielt dem Dienstmädchen, das noch immer nicht recht wollte, meine Uhr vor die Nase. So wurde ich schließlich eingelassen.“ Der Empfang war „nicht besonders freundlich: Wenn man bei ihm etwas lernen wolle, müsse man schon etwas mehr Zeit dransetzen; ihn bloß halb verstehen sei schlimmer als gar nicht; was denn die erste Frage sei bei einem Psalm – worauf ich natürlich eine verkehrte Antwort gab13. Da wir ständig von Studenten, die sich zum Seminar anmeldeten, unterbrochen wurden, meinte er schließlich: wenn ich Wert darauf legte, könnte ich ja nach der Sprechstunde nochmals kommen. Damit war ich entlassen. Auf der Straße überlegte ich einen Augenblick, ob ich nicht mit dem nächsten Zug nach Marburg zurückfahren solle, entschloss mich dann aber, doch nochmals einen Versuch zu machen. Punkt vier Uhr stand ich wieder vor der Türe, und jetzt war der Empfang ganz anders. Zwei volle Stunden lang entwickelte er mir sein ganzes wissenschaftliches Programm: Das Alte Testament als Teil des Alten Orients, Israel darin ein kleines und junges Volk; Aufbau einer wirklichen israelitischen Literaturgeschichte; Reform der Exegese vom Impressionismus her; bessere Fühlung mit den nichttheologischen Wissenschaften usw. Als ich nach Marburg zurückfuhr, wusste ich: ich hatte den Lehrer, den ich suchte, gefunden. – Viel später verriet mir Gunkel, dass er mir absichtlich einen solchen Empfang bereitet hatte; er wollte diesen jungen Schweizer ganz haben, oder gar nicht! Worauf ich ihm sagte, das hätte er bei mir gar nicht nötig gehabt, ich sei ohnehin für ihn reif gewesen! Tatsächlich hatte ich bei […] Hausheer […] eine gute Schulung in dieser Richtung empfangen. […] Des Neuen blieb natürlich trotzdem mehr als genug, vor allem im Bereich der Literaturgeschichte. – So fuhr ich in jenem Winter jeden Samstag in aller Morgenfrühe mit einem Landsmann, der auch nach dieser Seite interessiert war, nach Gießen zum Proseminar.“ Nach dessen Beendigung „begleiteten wir ihn nach Hause und hatten nach kurzer Pause noch ein zweistündiges Privatissimum in seinem Studierzimmer, über Psalmengattungen, Prophetentexte, hebräische Metrik usw. Für die beiden folgenden Semester musste ich ganz nach Gießen übersiedeln und möglichst in seiner Nähe wohnen. Jeden Morgen holte ich ihn 13  „Nach der Zeit“ statt „nach der Gattung“, vgl. NZZ 1932, Nr. 489/99; Zum Alten Testament und seiner Umwelt (1959) 372.

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zur Vorlesung ab. Auch nachmittags waren wir öfter zusammen, auf einem Spaziergang oder in einem Café. Und da erzählte er mir. Er erzählte gern und brauchte jemand, der ihm mehr oder weniger interessiert zuhörte.“14 Die neue Schülerschaft trug schnell Früchte, zuerst 1914 in dem umfangreichen Aufsatz über die literarischen Gattungen in der Weisheit des Jesus Sirach, der völlig gunkelisch die kleinen Einheiten abgrenzt, ihre Gattungen, die weisheitlichen und die „anderen“, bestimmt und von da aus im Vergleich mit dem kanonischen Spruchbuch Ort und Eigenart des Sirach beleuchtet15. Auf der gleichen Linie liegt das Buch über die Klagegedichte des Jeremia, mit dem Baumgartner in Marburg 1915 als Theologe promoviert wurde und sich 1916 habilitierte16. Die Verwandtschaft der gemeinten Texte im Buch Jeremia (11,18–20.21–23; 15,15–21; 17,12–18; 18,18–23; 20,10–13) mit den individuellen Klageliedern im Psalter hatte Wellhausen aus Abhängigkeit auf seiten der letzteren erklärt: „Die Psalmen wären ohne Jeremias nicht gedichtet“17 – die Psalmen überhaupt! Demgegenüber postulierte Gunkel ein erheblich höheres Alter der Psalmen oder doch ihrer Gattungen, so dass „auch Jeremias in den Formen dieser Lieder gedichtet hat: erfunden aber hat Jeremias diese Gattung nicht; denn Gattungen erfindet kein Einzelner“18. Indem Baumgartner diese sehr prinzipielle Feststellung Gunkels in detaillierter Exegese untermauerte, lieferte er eins der schönsten Beispiele für die Umformung der alttestamentlichen Wissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Art seiner Exegese, nicht zuletzt im Kolleg, ließ fortan immer die Schule Gunkels erkennen. Aber wie es bei einem wirklich guten Schüler zu sein pflegt: er hatte auch seinerseits dem Lehrer etwas zu bieten. 1926 bedankte sich Gunkel in seinem Psalmenkommentar bei Baumgartner für „eine wahrhaft ungeheure Arbeit“, die er nicht nur durch die Kontrolle der Zitate und dergleichen, sondern vor allem durch die Lieferung eines „reichen Stoff[s] von allerlei Parallelen“ geleistet habe19. Ein ähnlicher Dank, nämlich der für seine „reichen Hinweise auf ethnologische und folkloristische Literatur“, stand einige Jahre später in einem mindestens ebenso bedeutenden Buch, Rudolf Bultmanns Geschichte der synoptischen Tradition20. Baumgartner war ein Mann der Parallelen. Er sammelte sie laufend in einem großen, unübersichtlichen Bereich, in dem er sich, da es zu seiner Studentenzeit das Fach der Volkskunde in Zürich noch nicht gab, als Autodidakt heimisch gemacht hatte. Seine besondere Liebe galt den Märchen: Grimms Märchen waren ihm in jeder Einzelheit gegen14  Congress Volume Bonn 1962 (1963) 1–3. 15  ZAW 34 (1914) 161–98. 16  BZAW 32 (1917). 17  Israelitische und jüdische Geschichte (71914) 141. 18  Die orientalischen Literaturen (Die Kulturen der Gegenwart, hg.v. P. Hinneberg, I/7, 1906) 89. 19  S. XIV. Vgl. auch die Vorbemerkung zu „Das Märchen im Alten Testament“ (1917). 20  Im Vorwort zur 2. Aufl. (1931) unter Rückgriff auf das Vorwort zur 1. Aufl. (1921).

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wärtig, in einem seiner Regale standen voller Lesezeichen alle Bände von Eugen Diederichs’ „Märchen der Weltliteratur“; aus ihnen las er gern vor, wenn Studenten eingeladen waren. Aber die Liebe machte ihn nicht blind. In einer Zeit oft willkürlichen Konstruierens aus wirklichen oder vermeintlichen Parallelen innerhalb und außerhalb der Bibel behielt er seine Nüchternheit, auch hier auf der Linie Gunkels, der einen anderen – und wohl den bedeutendsten – seiner Schüler, den Norweger Sigmund Mowinckel, mit der Feststellung zurechtwies, er sehe Helena in jedem Weibe21. In dieser Gefahr befand sich Baumgartner nicht. Natürlich beschränkte er sich nicht auf die Konstatierung von Parallelen, aber was die realen Zusammenhänge angeht, verfuhr er in sorgfältiger Abwägung der Möglichkeiten, die ihm dank seiner unübertrefflichen Kenntnis sowohl der Texte als auch der wissenschaftlichen Literatur auf den verschiedenen in Betracht kommenden Gebieten auch in ihrer Begrenztheit klarer vor Augen standen als den Meisten. Einige Titel mögen die Vielfalt seiner „Komparatistik“ andeuten: Das Alte Testament im Lichte der altorientalischen Forschung22, Bibel und Volkskunde23, Israelitische und altorientalische Weisheit24, Eine ägyptische Quelle für die Sprüche Salomos25, Israelitischgriechische Sagenbeziehungen26, Neues keilschriftliches Material zum Buche Daniel?27, Ugaritische Probleme und ihre Tragweite für das Alte Testament28, Qumran und das Neue Testament29, Griechenland in den Boghazköi-Texten?30, Herodots babylonische und assyrische Nachrichten31, Indische Zahlwörter in hethitischen Texten32, Westliche Beziehungen der Frühkulturen Indiens33, Horaz und die ägyptische Weisheitsdichtung34. Eine Reihe dieser Arbeiten sind in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen, die seit 1915 in fünfeinhalb Jahrzehnten nicht viel weniger als 400 Beiträge aus Baumgartners Feder brachte. Er schrieb regelmäßig über Themen aus seinen Interessengebieten: neue Funde und neue Bücher, aktuelle oder grundsätzlich interessante Einzelprobleme verschiedenster Art, aus gegebenem Anlass auch immer wieder Personen aus Vergangenheit und Gegenwart – alles in einem unprätentiösen Plauderton, der die Lektüre leicht und angenehm macht. Die Ar21  Einleitung in die Psalmen (1933) 104. 22  Schweizerische pädagogische Zeitschrift 28 (1918) 161–81. 23  Zum AT und seiner Umwelt 358–70. 24  SGV 166 (1933). 25  NZZ 1925, 485. 26  Zum AT und seiner Umwelt 147–78 (zuerst SAVK 41 [1944] 1–29). 27  ZAW 44 (1926) 38–56. 28  ThZ 3 (1947) 81–100. 29  NZZ 1968, 715. 30  NZZ 1924, 559. 31  Zum AT und seiner Umwelt 282–331 (zuerst Symbolae Hrozny´ III [1950] 69–106). 32  NZZ 1919, 1228. 33  NZZ 1961, 1799. 34  NZZ 1939, 555.

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tikel fanden viel Echo, und die Redaktion der NZZ ließ Baumgartner von Zeit zu Zeit – zuletzt wenige Wochen vor seinem Tod durch Werner Weber – wissen, wie sehr sie seine Mitarbeit schätzte, wozu er hinter vorgehaltener Hand bemerkte, es sei ihm leicht, dort bei der Stange zu bleiben, da die „Basler Nachrichten“ nur halb so viel Honorar zahlten. Regelmäßige Berichterstattung, in der Form der Rezension oder anders, war ihm ein elementares Bedürfnis, nicht, oder nicht zuerst, um des „Richtens“ willen, sondern weil er dadurch selbst auf dem Laufenden blieb und er gern auch andere auf dem Laufenden hielt. So ließ er es auch nicht bei der Neuen Zürcher Zeitung bewenden, sondern rezensierte, alles zusammengenommen, ebenso oft in der Christlichen Welt, der Deutschen, der Theologischen und der Orientalistischen Literaturzeitung und weiteren Organen. Viel gerühmt sind seine gründlichen Literaturberichte in der Theologischen Rundschau, in deren Neuer Folge er vier Jahrzehnte lang für das Alte Testament verantwortlich war: Der Kampf um das Deuteronomium35, Wellhausen und der heutige Stand der alttestamentlichen Wissenschaft36, Die israelitische Weisheitsliteratur37, Alttestamentliche Einleitung und Literaturgeschichte38, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung39, Ras Schamra und das Alte Testament40, Der palästinische Handschriftenfund (Qumran)41. Eine bunte Palette! Baumgartner erzählte gern von Marburg und Gießen. Er passte gut nach Hessen, ins Land der Brüder Grimm, mochte die Menschen und unternahm ausgedehnte Wanderngen bis ins Sauerland. 1922 heiratete er die Germanistikstudentin Mia Schirp aus Hagen in Westfalen, die ihn aufs glücklichste ergänzte, ja beschützte und auch eine gute Schweizerin wurde. Den drei Söhnen war er ein vorbildlicher, vollkommen liberaler Vater. Gunkel ging 1920 nach Halle, blieb aber von dort aus in ständigem Kontakt, besuchte auch gern die junge Familie. Von weiteren Freundschaften zeugen Artikel Baumgartners über Martin Rade (1857–1940) und Rudolf Otto (1869–1937)42, der ihm wichtigste unter den Jüngeren war und blieb Bultmann (1884–1976), dem er nicht nur, wie schon erwähnt, für die Geschichte der synoptischen Tradition zuarbeitete, sondern später auch in der Mandäerfrage beisprang, die für Bultmanns Theologie eine Schlüsselposition hatte43; 1915 lasen beide gemeinsam die Damaskusschrift44. Trotz alledem war er in Deutschland auf die Dauer nicht glücklich. Schon früh versuchte ihn kein Geringerer als Gunkel, of35  ThR NF 1 (1929) 7–25. 36  2 (1930) 287–307. 37  5 (1933) 259–88. 38  8 (1936) 179–222. 39  11 (1939) 59–83.125–44.201–28. 40  12 (1940) 163–88; 13 (1941) 1–20.85–102.157–83. 41  17 (1949) 329–46; 19 (1951) 97–154. – Vgl. auch die Literaturberichte über Alttestamentliche Religion 1917–27 und 1928–33: ARW 26 (1928) 52–114; 31 (1935) 279–332. 42  NZZ 1927, 560; 1937, 628; 1940, 601. 43  Zum AT und seiner Umwelt 332–57 (zuerst HUCA 23,1 [1950/51] 41–71). 44  ThR 22 (1954) 2.

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fenbar vergeblich, von den Gefahren der Demokratie zu überzeugen45, und 1920 musste er in der NZZ46 seinen Landsleuten darlegen, dass mindestens drei Viertel der deutschen Studenten „mehr oder weniger reaktionär gesinnt“ seien; vor allem schilderte er ihren Antisemitismus als „ungerecht und widerlich“. Bekanntlich wurde das in den nächsten Jahren nicht besser. Dazu kam, dass seine äußere Stellung zu wünschen ließ. Zwar wurde er 1915 in Marburg Lektor für Hebräisch, was mit sich brachte, dass er Budde bei den Neuauflagen des klassischen Schulbuchs von Hollenberg zur Hand ging und dessen Herausgabe nach Buddes Tod ganz übernahm, so dass es von der 16. bis zur 26. Auflage als Hollenberg–Budde–Baumgartner erschien. Aber üppig bezahlt wurde er als Lektor nicht, und das verbesserte sich nur wenig durch die Ernennung zum Extraordinarius (1920). 1926 schrieb er an Gunkel, wenn sich dieser Zustand nicht ändere, werde er sich in der Schweiz um die nächste freiwerdende Gymnasiallehrerstelle für Latein und Griechisch bewerben. „Ich habe jetzt lang genug gewartet.“47 Die halbe Erlösung brachte 1928 ein Ruf auf das (zwischendurch von Hans Schmidt besetzte) Ordinariat Gunkels in Gießen, die ganze 1929 ein weiterer nach Basel, gegen den ein gleichzeitig ergangener nach Marburg (in die Nachfolge Gustav Hölschers) nicht aufkommen konnte. Zur Übersiedlung dichtete Gunkel (auf die Melodie von „Zu Straßburg auf der Schanz“): Ein Professor in Gießen war, Patriotisch ganz und gar. Zwei Rufe hat er bekommen Und nichts dafür genommen. Nach Basel wollt er zurück, Das war sein ganzes Glück!48

Einen einzigen Nachteil hatte Basel: es war nicht Zürich. Baumgartner genoss jeden Aufenthalt in der Heimatstadt, regelmäßig aus Anlass der Konkordatsexamina, auf die er große Sorgfalt verwendete. Aber in Basel lebte er sich allmählich so sehr ein, dass er 1947 einen Ruf nach Zürich in die Nachfolge Ludwig Köhlers ablehnte – dies auch aus Dankbarkeit dafür, dass die Basler ihn in die Schweiz zurückgeholt hatten; immerhin hatte er von da an einen Lehrauftrag für orientalische Sprachen in Zürich. Der Jura bot ihm und den Söhnen reichlich Ersatz für die Umgebungen Marburgs und Gießens, und ganz in der Nähe, auf St. Margarethen, pachtete er nach dem Vorbild seines Vaters einen Schrebergarten, in dem er vom Frühling bis zum Herbst fast täglich nach dem Mittagessen las und nach den Anweisungen seiner Frau ein wenig gärt45  Daran erinnert ihn Baumgartner in einem Brief vom 19.12.1924 (Univ.-Bibl. Halle, Nachlass Gunkel). 46  Nr. 600; vgl. auch den Artikel über das Hakenkreuz im gleichen Jahrgang Nr. 1430. 47  Brief vom 22.4.1926. 48  Brief an Baumgartner vom 24.7.1929.

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nerte. Die Lektüre dort und zuhause war beileibe nicht nur fachwissenschaftlich. Baumgartner las Kulturhistorisches, Indianergeschichten und anderes aus Amerika, Kriegsberichte, massenhaft englische Kriminalromane, anspruchsvollere Zeitschriften in mehreren Sprachen; man konnte ihn auch oft in der „Lesegesellschaft“ am Münsterplatz antreffen, wo er, wie in der Universitätsbibliothek, immer den Bleistift in der Hand hatte, um sich in Kurzschrift Notizen zu machen. Eine seiner Spezialitäten war die Literatur über T.E. Lawrence („of Arabia“), der ihn ähnlich anzog wie in der Gymnasialzeit Napoleon und von dem er wiederholt in der NZZ handelte. Auch Studenten, um die er sich im Stillen oft sehr kümmerte, gab er Leseratschläge. Ein solcher Ratschlag für die Sommerferien 1955, der mir zufällig vorliegt, nennt außer der Bibel, zwei hebräischen Grammatiken und mehreren Lehrbüchern Albright, Von der Steinzeit zum Christentum, Huizinga, Herbst des Mittelalters, Doughty, Die Offenbarung Arabiens („dies der blödsinnige Titel von Travels in Arabia Deserta, englisch archaisch und nicht ganz leicht“) sowie Lawrence, Die Sieben Säulen der Weisheit und schließt mit dem Satz: „Ich denke das genügt vorläufig und wünsche vergnügte Ferien.“ Als ich Baumgartner einmal fragte, was es in Basel Neues gebe, schleifte er mich in die Falknerstraße und zeigte mir den auf der Rückseite von Helbing und Lichtenhahn (oder schon Jäggi?) neu eröffneten Taschenbuchladen: hier könne man schwelgen! Es entsprach seinen Interessen, dass er in Basel am engsten mit einem Volkskundler und einem Semitisten verbunden war, Karl Meuli (1891–1968) und Rudolf Tschudi (1884–1960); sie trafen sich alle 14 Tage zu dritt und hatten viel zu besprechen. Seinen Lehrstuhl verdankte er dem schrecklichen Ende Bernhard Duhms am Spalentor und der Weigerung Sigmund Mowinckels, den zuerst an ihn ergangenen Ruf anzunehmen. Im Blick auf die imposante Reihe seiner Vorgänger dachte er nach eigenem Bekunden manchmal: ἔσχατον δὲ πάντων ὡστερεὶ ἔκτρωμα καὶ ἐγώ. Aber er füllte sein Amt sogleich voll aus und wurde, wieder frei nach Paulus, zu einem der στῦλοι der Fakultät. Das oft nicht einfache Verhältnis zum engsten Fachkollegen gestaltete sich glänzend: er und Walther Eichrodt (1890–1978), der Philologe und der Theologe, der Liberale und der „Positive“, behandelten das Alte Testament in Stil und Sache so verschieden, dass sie sich kaum je ins Gehege kamen und den Studenten eine wirkliche Alternative boten. Persönlich vertrugen sie sich gut, und es gab auch einen Punkt, in dem sie sich immer einig waren, nämlich die jahrelange Verhinderung der von den Kollegen Barth und Thurneysen gewünschten Ehrenpromotion Wilhelm Vischers. Dieser Punkt belastete natürlich zunächst auch Baumgartners Beziehung zu Karl Barth, die aber am Ende fast zur Freundschaft wurde, und das nicht nur aufgrund der Entdeckung gemeinsamer Hobbies weitab von der Theologie, sondern vor allem durch ein großenteils in Briefen49 geführtes Sach49  Abgedruckt in: Zur Theologie Karl Barths, ZThK.B 6, 240–71. Vgl. auch R. Smend, Bibel, Theologie, Universität (1997) 194–208.

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gespräch, in dem sie sich nichts schenkten und auch keine Einigung erzielten, das sie aber unzweifelhaft einander näherbrachte. Die Quintessenz dieses Gesprächs enthält eine Äußerung Barths in einer Lehrveranstaltung, nachdem ein Student wohl im Namen einer Gruppe von Kommilitonen, ohne Baumgartner namentlich zu nennen, gefragt hatte, was denn die Theologie davon habe, wenn Ugaritisch und dergleichen getrieben werde. Barth erwiderte, er könne sich da, schon weil er von Ugaritisch nichts verstehe, nur ganz am Rande äußern, wolle auch den Namen des Kollegen nicht nennen, den der Fragesteller offenbar im Auge habe, aber nach kurzem Innehalten fuhr er fort: „Aber ich sage ihn doch, es ist Professor Baumgartner, der seinen Bereich in vorbildlicher Weise verteidigt hat und den ich im Lauf der Zeit liebgewonnen habe.“50 Der „Bereich“ des Exegeten Baumgartner war nach dessen eigener Definition51 „das im Text selber Liegende“; von einer „‚Glaubensexegese‘, die über den Wortlaut und den Horizont der Erzählung [gemeint ist in der Regel die ursprüngliche Einzelerzählung!] hinausgeht“, sagte er mit Schärfe nicht nur gegen Wilhelm Vischer, sondern bei Gelegenheit auch gegen den geschätzten Kollegen Eichrodt, dass sie „den festen Boden unter den Füßen verliert und damit den Namen ‚Exegese‘ verwirkt“52. Allenfalls einer gewissen „theologischen Vertiefung im Sinne von v. Rad und Bultmann“ gestand er53 ein Recht zu, ohne sich für seine Person nennenswert auf dieses Feld zu begeben. „Nach seiner wissenschaftlichen Herkunft“ war er „Philologe, das ist er geblieben, und gerade so hat er der Theologie sein Bestes gegeben“54. Gerade so hat ihm auch die Barthsche Liebeserklärung gegolten, zu der sich später der Satz gesellte: „Du sollst wissen, daß ich deine Arbeit respektiere, auch wo ich mich anders orientieren muß.“55 Auch hier gilt: sint ut sunt...! Vielleicht hätte sich Barths Respekt schnell verringert, wenn Baumgartner plötzlich jenen „festen Boden“ verlassen und Ausflüge in die eigentliche Theologie unternommen hätte. Es war wohl weise, dass er das nicht tat und sich im Ganzen darauf beschränkte, nach dem Vorbild jenes Winkelried-Bürkli auf Unhistorisches, Widersprüchliches und „Zeitgebundenes“ in der Bibel hinzuweisen, in der Hoffnung, damit den Systematikern ein wenig das Konzept zu verrücken. So machte es ihm im Kolleg Vergnügen, die Erklärung von Jes 7,9 mit der Feststellung zu schließen: „Ahas hat nicht geglaubt und ist doch geblieben.“ Dass befreundete Alttestamentler, die er in der Redeweise der alten Liberalen als „dogmatisch gebunden“ bezeichnete, wie Walther Zimmerli in Zürich oder Johann Jakob Stamm in Bern, ganz passable exegetische Arbeit leisteten, war ihm immer etwas verwunderlich, und 50  So nach dem Bericht von R. Hanhart, der den Vorgang gegen Ende der vierziger Jahre miterlebt hat. 51  Zum AT und seiner Umwelt 204. 52 Ebd. 53 Ebd. 54  J.J. Stamm, ThLZ 82 (1957) 875. 55  ZThK.B 6, 267.

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ebenso schüttelte er den Kopf, wenn Studenten es außer bei ihm ausgerechnet beim Kollegen Barth am lohnendsten fanden. Aber übel nahm er nichts, so wie er überhaupt mit den vielen Theologen um ihn herum – auch sein Bruder war Theologe, ein Pfarrer mit philologischen Neigungen, und Emil Brunner nannte er seinen Freund – auf gutem Fuß stand. Er war ein frommer und kirchlicher Mann, lange Jahre Mitglied im Basler Kirchenrat, und hatte großes Interesse an religiösen Phänomenen, bei deren Interpretation er aber von den Kategorien der systematischen Theologie möglichst absah. In der Allgemeinen Religionsgeschichte, einer seiner schönsten und anschaulichsten Vorlesungen, die auch seine ethnologischen und folkloristischen Kenntnisse voll zum Zuge brachte, wies er in den Grundsatzfragen immer wieder auf van der Leeuws „Phänomenologie“ hin. Von dem, was der Philologe der Theologie gab, ist einiges – bei weitem nicht alles – Wichtige zu seinem 70. Geburtstag in dem Band „Zum Alten Testament und seiner Umwelt“ gesammelt worden56. Leider kam ein Opus magnum, auf dem große Hoffnungen ruhten und für das schon viel Arbeit geleistet war, die Erklärung des Buches Daniel im „Göttinger Handkommentar“, wo sie sich Duhms Jesaja und Gunkels Genesis und Psalmen angereiht hätte, nicht zustande; der Vertrag, am 24. August 1923 unterschrieben und mit 30 Stempelmarken über zusammen 15000 Mark jener Inflationszeit beklebt, richtiger verklebt, ruht als Curiosum im Archiv des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, das die Berliner Staatsbibliothek beherbergt. Immerhin besorgte Baumgartner in Kittels Biblia Hebraica und ihrer Nachfolgerin den Daniel, schrieb eine populäre Einführung in das Buch und publizierte eine Reihe von Einzelstudien, die zusammen mit dem Literaturbericht von 1939 der Danielforschung immer noch unentbehrlich sind. Von ihnen bewährte sich die detaillierte Abhandlung über das Aramäische im Buche Daniel von 192757, mochte sich auch ihre Hauptthese nachträglich durch neue Einsichten in das „Reichsaramäische“ modifizieren58, unverhofft als Grundlage eines anderen Werkes, das die Nichtexistenz des Danielkommentars einigermaßen verschmerzen lässt: des aramäischen Lexikons zum Alten Testament. Schon in den zwanziger Jahren59 fragte ihn, wohl auf den Rat Gunkels hin60, der Leipziger Assyriologe Heinrich Zimmern, der letzte noch lebende Mitarbeiter an Frants Buhls Neubearbeitung von Wilhelm Gesenius’ Hebräischem und aramäischem Handwörterbuch über das Alte Testament, ob er bereit sei, 56  Dort 1–26 eine Bibliographie bis 1959. Eine gute Übersicht über das gesamte Oeuvre gibt Stamm a.a.O. 875–79. 57  ZAW 45, 81–133. 58  Vgl. F. Rosenthal, Die aramaistische Forschung (1964) 24–71; Baumgartner, ThR 11, 69. 59  Nach Stamm (ThZ 45 [1989] 278) gelegentlich eines Orientalistenkongresses in München 1921 oder 1922. Dort hat aber erst 1924 der Deutsche Orientalistentag stattgefunden; an ihn darf man wohl denken. Zum Folgenden s.o. 643–45. 60  Vgl. Baumgartners Artikel über Zimmern NZZ 1964, 861.

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nach Buhl dieses große Werk in die Hand zu nehmen. Baumgartner überlegte nur kurz und verwies dann auf Ludwig Köhler, der schon lange insgeheim an einem hebräischen Lexikon arbeitete. „Damals lag mir das nicht“, hat er mir einmal gesagt. Es ist eine etwas schmerzliche Spekulation, wie es gegangen wäre, wenn er das Angebot angenommen hätte: der hebräische Teil wäre mit Sicherheit besser geworden, als er nun, jedenfalls im ersten Anlauf, wurde, und das Werk hätte den Namen Gesenius behalten, den Köhler laut Baumgartner „aus purer Eitelkeit strich“61; dann aber wäre es nicht nach dem Zweiten Weltkrieg zu dem unglücklichen Nebeneinander zweier in ihrer Konzeption und leider auch in ihrem schleppenden Erscheinen ähnlicher Lexika gekommen, des Köhler–Baumgartner–Stamm und des Gesenius–Meyer–Donner. Die erste Fassung des erstgenannten erschien 1953, und in ihr stammte der hebräische Teil von Köhler, der nach allgemeinem Urteil besser gelungene aramäische von Baumgartner. Baumgartner führte den Unterschied zwischen seiner und Köhlers Arbeit nach außen hin nur darauf zurück, dass sich ihm die Aufgabe „in manchem etwas anders stellte“62. Weil die aramäischen Texte im Vergleich zu den hebräischen nur einen kleinen Teil des Alten Testaments ausmachen, „sind auch die Möglichkeiten, die der Lexikograph dort hat, dem Auftreten der einzelnen Wörter in bestimmten Zusammenhängen und Wortverbindungen und den Unterschieden in der Bedeutung nachzugehen, hier soviel geringer […]. Ist der ba. Wortschatz soviel weniger aus sich selber heraus zu erklären – was ja auch dort seine Grenzen hat – so gilt es hier um so mehr, diesem Mangel durch Beiziehung anderer Quellen zu begegnen.“63 Daher unternimmt es Baumgartner, „den ba. Wortschatz ganz in den Zusammenhang des allgemein aramäischen hineinzustellen und von da aus zu erklären“64, was in einer „durchgängigen Bestandesaufnahme“ geschieht, die auch darüber hinaus ihren Wert hat: „schärft sie doch die Augen für die Vielgestalt der Formenbildung, die Neigung zu bestimmten Entwicklungen sowie Verbreitung und Zähigkeit mancher Wörter und Formen“65. Mag mancher das gemessen an der unmittelbaren Aufgabe eines Lexikons für einen Luxus halten, dem halbwegs Kundigen ist der aramäische Teil des Köhler–Baumgartner über das Nachschlagen hinaus eine immer interessante, oft geradezu spannende Lektüre. Die erste Auflage des Köhler–Baumgartner verkaufte sich schnell. Die zweite musste Baumgartner allein besorgen, da Köhler 1956 nach längerer Krankheit starb. Sie konnte nur in einem unveränderten Nachdruck bestehen, dem ein Supplementband mit zunächst 83 Seiten Nachträgen, Zusätzen und Berichtigungen beigegeben wurde. Während des Drucks stellte sich die 61  1928 hatte Köhler noch vor, das Lexikon unter dem Namen Gesenius erscheinen zu lassen; vgl. OLZ 31 (1928) 483. 62 XXXIII. 63 XVII. 64 XXV. 65 XXVI.

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Notwendigkeit von „Additamenta novissima“ und dann noch einmal von „Correctiones nuperrime repertae“ heraus, die unter diesen Überschriften, 19 Seiten lang, den Supplementband komplettierten. Baumgartner empfand natürlich das Missliche und auch etwas Komische dieses Verfahrens und die Notwendigkeit, in einer dritten Auflage den hebräischen Teil, dessen Mängel ihm ebenso klar waren wie den Benutzern und Rezensenten, gründlich zu erneuern. Der Entschluss, diese riesige Arbeit selbst auf sich zu nehmen, fiel ihm merkwürdig leicht, wenn man bedenkt, dass er beim Erscheinen der zweiten Auflage, 1958, bereits siebzig Jahre alt war. Vielleicht dachte er daran, dass sein Vater „in völliger geistiger Frische“66 fast das 93. Lebensjahr erreicht hatte und dass ihm, dem gerade durch die Emeritierung von allen anderen Pflichten Entlasteten, bei seiner gesunden Lebensweise eine ähnliche Zeit gegeben sein könnte. Und jedenfalls reizte ihn nach den guten Erfahrungen mit dem aramäischen Wörterbuch die Aufgabe, der er sich Jahrzehnte früher zugunsten Köhlers verweigert hatte. Ich sehe ihn noch mit einem für ihn charakteristischen, kaum sichtbaren Lächeln sagen: „Für ein Lexikon braucht man nicht originell zu sein, das kommt mir entgegen.“ Bevor er endgültig ans Werk ging, nahm er noch einmal sein „Richteramt“ wahr, indem er in der ausführlichsten Rezension, die er je geschrieben hat, eine 1956 erschienene alttestamentliche Forschungsgeschichte vernichtend kritisierte, wobei er nach dem Urteil mancher Kollegen innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachbereichs immer noch zu milde verfuhr67. Daneben her ging im Wintersemester 1958/59 seine letzte Vorlesung, noch einmal die Allgemeine Religionsgeschichte. Aber dies und anderes68 stand schon im Schatten der unmittelbaren Vorbereitung auf das Hauptgeschäft, einer im Frühjahr 1958 begonnenen lectio continua der gesamten Biblia Hebraica unter Heranziehung der jeweils ergiebigsten Kommentare und natürlich des Köhlerschen Lexikons, um dessen Kontrolle zum Zweck seiner Erneuerung es ja ging. Die meiste Zeit nahmen die Psalmen und die Proverbien in Anspruch: drei und zwei Monate, März–Juni und Juni–August 1959. Neben dem letzten Vers der Chronik steht unterstrichen in Baumgartners Handexemplar: 10.XII.1959 1030! Zum Jahresende schrieb er mir: „Seitdem nun allerhand gelesen, aber auch schon – so zum jux – e. paar artikel d. Mskrs probiert, was offiziell mit d. 1.I.60 beginnen soll. Vorläufig macht es mir noch spass; aber ich schrieb schon Brill, ich wüsste nicht, wielange diese Freude anhalten wird.“69 Sie hielt wohl an, aber die Mühe auch, 66  NZZ 1936, 410. – Seine Mutter, Bertha Aline Baumgartner-Teucher (1862–1941), brachte es auf 78 Jahre, sein Bruder, der Pfarrer Dr. phil. Hans Baumgartner (1883–1962), auf fast 79. 67  ThR 25 (1959) 93–110 (über H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart). Die Arbeit an dieser Rezension kam ihm bei der Vorbereitung des Jerusalemer Vortrags 1959 zustatten. 68  Vor allem gegen Ende des Jahres die Überarbeitung des Daniel in der Biblia Hebraica. 69  Die Probe ist für seinen lakonischen Briefstil charakteristisch, Er benutzte viele Abkürzungen und schrieb nach alter Philologensitte die Substantive gern mit kleinen Anfangs-

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und oft war sie sehr groß. Der beträchtliche Teil des Lexikons, den Baumgartner selbst vollenden konnte – weit mehr als die Hälfte des Ganzen –, ist in einem heute selten gewordenen Ausmaß sein alleiniges Werk gewesen. Doch ebenso gilt, dass er in seinem und Köhlers Schüler Benedikt Hartmann (1922–2008) einen unentbehrlichen Mitarbeiter hatte, der „das Arabische betreute, einen Teil der Reinschrift besorgte, Korrektur mitlas und mit dem [er] alle sachlichen und praktischen Fragen besprechen konnte“70. Nach ihm müssen zwei israelische Kollegen genannt werden, Eduard Yechezkel Kutscher (1909–71), „der all seine Kenntnis des Mittelhebräischen und Aramäischen zur Verfügung stellte“71, und Isac Leo Seeligmann, der, selber ein wandelndes Lexikon und von immer wieder verblüffender Assoziations- und Kommunikationsfähigkeit, schriftlich und vor allem mündlich vieles im Einzelnen nicht mehr Verifizierbare beitrug und der in jenen Jahren zum vertrauten Freund wurde. Die erste Lieferung des neuen Lexikons begrüßte der Starkritiker unserer Wissenschaft, James Barr (1924–2006), damals selbst mit der Vorbereitung eines hebräisch-aramäischen Lexikons befasst, mit den Worten: „This third edition of a work now fifteen years old is not a mere correction and supplementation of the first, but is a thoroughly reworked dictionary; it represents a quite enormous improvement and moves the work from the second rank of Hebrew lexicography distinctly into the first (a position which had already been attained, within the first edition, by Professor Baumgartner’s Aramaic section).“72 Nicht nur in der Qualität, sondern auch in der Sache handelte es sich insofern um eine Angleichung an den aramäischen Teil der ersten Auflage, als Baumgartner in den hebräischen eine Unmenge von meist neuem Material, biblischem und besonders nichtbiblischem, hereinnahm. Eine Übersicht gab er 1967 in der Einleitung zur ersten Lieferung, einige Beispiele hatte er schon zehn Jahre früher in der Eißfeldt-Festschrift von 1957 vorgeführt73; auch für Außenstehende instruktiv berichtete J.J. Stamm bald nach dem Erscheinen74. Natürlich blieb viel zu kritisieren, und Barr fing in der ihm eigenen Eleganz gleich damit an. Ihn verwunderte an Baumgartners Eingehen auf die zahllosen damals kursierenden Identifikationsvorschläge anhand arabischen, akkadischen und ugaritischen Materials, „that a scholar of his Swiss caution and of his earnestness in minute precision is not more critical in his reception of them“75. Zu einem guten Teil war daran eine gewisse Eile schuld, zu der sich Baumgartner im Blick auf sein Alter gezwungen sah; aber es lag bei aller Nüchternheit doch auch in seiner faktenhungrigen Natur, neues Material so buchstaben. 70  Einleitung zur 3. Auflage, XVIII. 71 Ebd. 72  JSSt 13 (1968) 260. 73  Von Ugarit nach Qumran (BZAW 77) 25–31. 74  KBRS 124 (1968) 210–13. 75  JSSt 13, 261.

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weit wie möglich auszuwerten oder doch wenigstens mitzuteilen. Mit Recht beklagte Barr76, dass schon die erste Lieferung neun Seiten „Nachträge und Berichtigungen“ enthielt, in denen sich jene Eile andeutete; allerdings hatte auch früher schon dem äußerst gewissenhaften Gelehrten in Baumgartner der sprichwörtliche zerstreute Professor hin und wieder kleine Streiche gespielt. Aber dieser und aller weiteren Kritik ungeachtet machte das Lexikon seinen Weg, nach Baumgartners Tod unter B. Hartmanns Oberleitung und mit J.J. Stamm (1910–93) als einem Hauptautor, dessen Stil sich von dem Baumgartners durch erheblich größere Ausführlichkeit und häufigen Verzicht auf Entscheidungen unterschied. In der handlichen englischen Version, die 1994–2000 unter der Oberleitung von M.E.J. Richardson erschien, und in der 2013 von W. Dietrich und S. Arnet herausgegebenen „Konzisen und aktualisierten Ausgabe des Hebräischen und Aramäischen Lexikons zum Alten Testament“ sind viele Mängel der Vorlage behoben. In seinem letzten Jahrzehnt lebte Baumgartner dem Lexikon. Aber es hätte seinem Naturell widersprochen, nur ihm zu leben. So hörte er auch während der härtesten Arbeit nicht auf, zu seiner Erholung in der NZZ zu schreiben – noch im Monat seines Todes erschien ein lebendig-kritischer Artikel über T.E. Lawrence. Sieht man davon ab, ließ sich Baumgartner nur zweimal für nennenswerte literarische Arbeiten gewinnen, nämlich für zwei Würdigungen längst Verstorbener. Die eine, auf dem 4. Internationalen Alttestamentlerkongress in Bonn 1962 vorgetragen, galt seinem Lehrer Gunkel77, die zweite, 1967, seinem Vorgänger Duhm zur Einleitung einer Neuauflage von dessen Jesaiakommentar. Bessere Portraits besitzen wir von beiden nicht. Als am 24. November 1967 im Restaurant im Basler Zoologischen Garten Baumgartners 80. Geburtstag gefeiert wurde, brachte der Direktor des Verlages Brill drei gewichtige Objekte mit: die fertige erste Lieferung des Lexikons, die Festschrift „Hebräische Wortforschung“ und eine große Flasche Genever. Der Jubilar, von Jugend auf abstinent, würdigte die Flasche nur eines kurzen Blicks, wog das Lexikon ein wenig in den Händen und vertiefte sich dann so sehr in die Festschrift, dass die Umsitzenden, fröhlich auf sein Wohl trinkend, damit rechneten, er werde gleich nach dem Bleistift greifen und irgendwo das erste Fragezeichen an den Rand setzen. Es war für ihn ein glücklicher Tag. Gut ein Jahr später, bei der Trauerfeier für Karl Barth im Münster, hörte er die Reden der theologischen Prominenz an, als wäre er in einer anderen Welt. Im Hinausgehen sagte er sehr ernst: „Jetzt ist der erste von uns gestorben.“ Sein eigener Tod, wiederum gut ein Jahr später, am 31. Januar 1970, kam nach kurzer Krankheit ohne Schmerzen. In der vorletzten Nacht träumte er, er habe sein Lexikon abgegeben.

76  Ebd. 267. 77  Congress Volume Bonn 1962 (1963) 1–18.

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Walter Baumgartner genoss überall hohe Achtung. Er war Ehrendoktor von Tübingen und Paris, korrespondierendes Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenmitglied der Society for Old Testament Study. Als die Studenten ihm am Beginn der nächsten Vorlesungsstunde zur Ehrung aus den Niederlanden gratulierten, erklärte er trocken: „Ich wußte gar nicht, dass sich eine Königin für mich interessiert“, um sogleich fortzufahren: „Wir standen bei Kapitel 3 Vers 6…“78. Mehr als die äußere Anerkennung scheint mir zu sagen, was Isac Leo Seeligmann unter dem Eindruck der Todesnachricht aus Jerusalem schrieb: „Auch im täglichen gespannten und bewegten Leben hier empfinde ich eine Leere. Baumgartners Gelehrsamkeit, Bescheidenheit und die fast schüchterne Treue seiner Freundschaft fehlen mir sehr.“ Heute, in einer Zeit der „Selbstprofilierungen“, der Inflation von flotten Thesen und großen Worten auch in unserer Wissenschaft, ist es ein Trost, diesen Mann gekannt zu haben.

78  Berichtet von R. Hanhart.

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„Sein Lebensweg war der des Gelehrten alten Stils. Er redete nicht überall mit, sondern vollendete seine Werke.“ Was kaum ganz ohne Neid ein Fachgenosse über Julius Wellhausen schrieb1, gilt ebenso von Wilhelm Rudolph, der kein halbes Jahrhundert jünger war als Wellhausen und bei ihm noch hätte Kolleg hören können. Niemand, der Rudolph erlebt hat, wird die unverwechselbare Art vergessen, in der dieser Mann den „alten Stil“ noch einmal unter uns verkörperte. „Seine Werke“, das waren vor allem seine Kommentare. Wenn man im Alten Testament 39 Bücher zählt, dann hat er zu 20 davon ausführliche wissenschaftliche Erklärungen veröffentlicht. Dabei beschränkte sich seine Arbeit keineswegs auf die kommentierten Bücher. Von den übrigen habe er sich, so stellte er im Rückblick fest2, zu den allermeisten „über einzelne Kapitel oder Verse exegetisch geäußert“. Nur drei seien „verschont geblieben“, nämlich Leviticus, Ezechiel und die Proverbien. Die Gründe: Leviticus war die Domäne seines Freundes Karl Elliger; zu Ezechiel hatte ein anderer Freund, Walther Zimmerli, den Kommentar geschrieben, den er unter allen nicht von ihm selbst verfassten Kommentaren der Gegenwart am höchsten schätzte; die Proverbien schließlich nannte er den „Tummelplatz derjenigen Kollegen, die meinen, die alttestamentliche Weisheit sei bisher in der alttestamentlichen Wissenschaft zu kurz gekommen“ – da ließ er sie gern sich tummeln, während er in aller Ruhe tat, was er für seine Sache hielt. So wird es von früh auf gewesen sein. Er wirkte auf den Fernerstehenden ganz wie ein Schwabe von der behaglichschalkhaften Art, aber er legte Wert darauf, zu drei Vierteln aus Franken zu stammen, wo man großzügiger sei, weniger eng als in Schwaben. Sein Geburtsort Weikersheim an der Tauber liegt in einer Gegend, die mehr als einen bedeutenden Alttestamentler hervorgebracht hat. In Weikersheim hatte schon Johann Gottfried Eichhorn die Schule besucht, Gerhard v. Rad fühlte sich im 1  L. Perlitt in: Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert, hg.v. H.J. Schultz (1966) 33. 2 Ansprache am 90. Geburtstag. An handschriftlichem Material, das mir die Familie freundlich zur Verfügung stellte, sind im Folgenden außerdem benutzt und ggf. (ohne nähere Angaben) zitiert ein Heft mit Schulaufsätzen von 1905–07, ein Lebenslauf von 1952, das Manuskript des Beitrags zu einer Jubiläumsschrift der Tübinger Studentenverbindung Nicaria von 1983, ferner Zeugnisse u. dgl.

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Hohenlohischen zu Hause, Joseph Ziegler, der Herausgeber der Septuaginta zu Jeremia und den Zwölf Propheten, begrüßte den Kommentator dieser Bücher in der Verbundenheit durch die Geburt im Taubertal. Wilhelm Rudolphs Herkunft und erste Kindheit waren freilich in keiner Weise „alttestamentlerverdächtig“, wenn man es nicht symbolisch nennen will, dass ihm die Matzen der in Weikersheim zahlreich lebenden Juden gut schmeckten – aber zu solcher Symbolik hätte er wie zu allen Überinterpretationen nur milde gelächelt. Sein Vater war ein „kleiner“ Beamter im Steuer-, später im Zolldienst, den der Sohn oft auf Besuchen und Streifen begleiten durfte. Auf die ersten sieben Lebensjahre in Weikersheim, 1891–98, folgten fünf im schwäbischen Sindelfingen und 1903 die Übersiedlung nach Heilbronn, nicht weit von den großelterlichen Weinbergen in Weinsberg, in denen der Enkel mitzuhelfen gewohnt war. Als der Vater schließlich 1908 nach Tübingen versetzt wurde, war der Sohn längst nicht mehr Kind im Hause, sondern Seminarist in Blaubeuren. In der Schule hatte es keine Probleme gegeben, außer dem einer unvorschriftsmäßig hohen Geschwindigkeit. Der noch Fünfjährige kam in Weikersheim in die Volksschule, der Achtjährige wechselte aus der Sindelfinger Volksschule in die dortige Realschule mit Latein, der Elfjährige ins benachbarte Böblingen auf das Reallyzeum mit Latein und Griechisch. Beim Eintritt ins Heilbronner Gymnasium konnte er für seine Klasse zu viel, so dass er gleich in die nächsthöhere aufgenommen wurde. Aus kuriosem Grund folgte bald wieder eine Rückversetzung: begabte Unbemittelte konnten sich in Württemberg durch ein zentrales Examen in Stuttgart für das theologische Seminar qualifizieren, wo der Staat ihnen Unterkunft und Studium bezahlte. Für dieses Examen war ein Mindestalter vorgeschrieben, das Wilhelm Rudolph, obwohl schulisch weit genug, noch nicht besaß. So wiederholte er die 5. Klasse und hatte ein angenehmes Jahr: „während meine Kameraden […] bis spät in die Nacht zu ochsen hatten, lag ich an den schönen Sommernachmittagen des Jahres 1905 am und im Neckar. Mit ausgeruhten Nerven ging ich ins Examen und nachher ins Seminar.“ Er hatte das Examen übrigens als bester von 73 Bewerbern bestanden. Die Seminarzeit umfasste je zwei Jahre Maulbronn und Blaubeuren. Kurz nach seinem Einzug in Maulbronn erschien Hermann Hesses „Unterm Rad“, wo Wilhelm Rudolph die Verhältnisse, nüchtern wie er war, „reichlich übertrieben“ geschildert fand. Für ihn selbst gewann die Maulbronner Zeit bleibende Bedeutung, indem er bei Eberhard Nestle (1851–1913) das Neue Testament las und Hebräisch lernte. Bei keinem Schüler dürften die Bemerkungen, die dieser schlechte Pädagoge, aber wirkliche Gelehrte zum Text und den Sprachen der Bibel zu machen hatte, auf fruchtbareren Boden gefallen sein, und so blieb sein Name im Haus Nestle lebendig: nach Nestles Tod erhielt er dessen hebräische Bibel zum Geschenk, und 1961 gratulierte ihm Erwin Nestle zum 70. Geburtstag „in der Erinnerung daran, daß Sie meinen Vater im Hebräischen nie durch einen Fehler betrübt haben“. Der Eifer hatte aber auch Grenzen. 1906 erschien

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erstmals das griechisch-lateinische Neue Testament, und Nestle beteiligte die Schüler an der Korrektur, wobei er jeden gefundenen Druckfehler mit einer Geldprämie belohnte. Hier machte Wilhelm Rudolph bald nicht mehr mit, wie er auch später nie gern Korrekturen las. Es war ihm einfach zu langweilig. Früh imstande, das ihm Gemäße zu erkennen und Interessantes von Unerheblichem, Lohnendes von bloß Zeitraubendem zu unterscheiden, strengte er sich ungern an, wo nichts heraussprang und es auf ihn nicht ankam. Solche Ökonomie der Kräfte betrieb er in Vollendung auf der letzten seiner Schulstationen, in Blaubeuren. Hören wir ihn selbst: „Dadurch, daß ich lange Wochen eine Stunde vor der vorgeschriebenen Zeit aufstand, gelang es mir, privatim fast das ganze Alte Testament auf Hebräisch durchzulesen. Die Gefahr, dadurch den Kameraden als Streber zu erscheinen, wurde dadurch gebannt, daß ich in Fächern, die mich nicht interessierten, nur das Notwendigste tat (Chemie, Physik) oder ganz streikte (z.B. römische ‚Altertumskunde‘). Meine zweite Leidenschaft neben dem Hebräischen waren die mathematischen Fächer; die elegante Lösung einer Aufgabe in Trigonometrie oder Stereometrie war ein Genuß, dem nur das Erlernen hebräischer Vokabeln oder ein Bad in der Blau oder Donau oder ein Albausflug gleichkamen. Bei der schließlich nicht mehr zu umgehenden Vorarbeit auf die Reifeprüfung, bei der ich mir die hebräische Bibel und die Mathematikbücher wegschloß, um nicht in Versuchung zu geraten, nur das Angenehme zu tun, entdeckte ich eine starke Neigung zur Geschichte (für Geographie hatte ich immer eine Schwäche wie auch für Kursbücher).“ Die Reifeprüfung bestand er 1909 in Stuttgart unter 60 Teilnehmern natürlich wieder als erster. Er schwankte, ob er Mathematik oder Orientalia studieren sollte. Als er hörte, Mathematiker gäbe es schon genug, wählte er Orientalia in der naheliegenden Verbindung mit Theologie. Er studierte neun Semester, acht in Tübingen und eins in Halle, wo ihn Loofs und, kurz vor seinem Tod, Kähler beeindruckten. In Tübingen scheint er von den Theologen nicht allzu viel Notiz genommen zu haben. Das ihm wichtigste Fach, das Alte Testament, betrieb er als Autodidakt, weil bei dem Ordinarius Grill nichts zu holen war. So hörte er bei Christian Friedrich Seybold (1859–1921) viele Semester Arabisch und Syrisch und bedauerte, dass für Akkadisch niemand da war. Im übrigen sah er, solange noch kein Examen drohte, wie er durchkam. Als Stiftler musste er zunächst regelmäßig Zwischenprüfungen ablegen. So war nach dem dritten Semester je eine Klausur in Religionsphilosophie und Religionsgeschichte zu schreiben. Nach Verlesung des religionsphilosophischen Themas „Der Feuerbachsche Illusionismus. Darstellung und Beurteilung“ ergriff er das mitgebrachte Briefpapier der Studentenverbindung Nicaria, deren Schriftführer er gerade war, und erledigte bis 5 Minuten vor Schluss Korrespondenz; dann nahm er den Prüfungsbogen und schrieb: „A. Darstellung. Feuerbach behauptet, daß die Religion eine Illusion sei. B. Beurteilung. Das ist natürlich nicht richtig.“ Zu seinem Glück hieß am nächsten Tag das religionsgeschichtliche Thema: „Entstehung des Islam.“ Hier

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wusste er mehr, als er in zwei Stunden zu Papier bringen konnte. Im übrigen genoss er das Leben, wie man es eben als Tübinger Student genießen kann. Noch nach 50 und 60 Jahren war er – ganz anders als bei gelehrten oder gar theologischen Gegenständen! – kaum zu bremsen, wenn er davon zu erzählen anfing, und besonders, wenn er auf die für alte Tübinger obligaten „Gogen“Witze kam. Die „erste theologische Dienstprüfung“ im März 1914 – es examinierten Bertholet, Schlatter, Haering und Wurster – ergab das Resultat „IIa (unten)“ und ein königliches Stipendium von 500 Mark für eine 5–6monatige wissenschaftliche Reise nach Palästina in das Deutsche Evangelische Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes, auszuführen innerhalb von vier Jahren, also 1914–18. Die Ereignisse dieser vier Jahre brachten es mit sich, dass die Reise erst 1928 angetreten werden konnte, und mit einem nicht mehr königlichen Stipendium. Ein kleiner Lungenschaden bewahrte Rudolph vor dem Einsatz als Soldat. Stattdessen verbrachte er, Ende Juli 1914 ordiniert, die nächsten fünf Jahre an acht verschiedenen Orten in intensivem Pfarrdienst. Im Revolutionsjahr 1918 schrieb er in der Festung Ulm „neben der Seelsorge in einer Gemeinde von 5000 Seelen, neben der großen Grippeepidemie, die zeitenweise tägliche Beerdigungen erforderte, und neben 22 Wochenstunden Religionsunterricht“ die Hausarbeit zum zweiten Examen über „Die Abhängigkeit des Qorans von Judentum und Christentum“. 1919 examiniert und zum Stiftsrepetenten in Tübingen ernannt, baute er die Arbeit zur Dissertation aus, um mit ihr 1920 zum Dr. phil. promoviert zu werden. Sie hat seitdem an Aktualität nicht verloren und ist heute so lesenswert wie damals. In sorgfältigem Durchgang durch das Material und seine Bearbeitungen kommt sie zu dem Ergebnis, dass Judentum und Christentum einen außerordentlich weitgehenden Einfluss auf Muhammed ausgeübt haben und dass vom Christentum der entscheidende Anstoß zu seinem Auftreten ausgegangen ist; sie weist aber die These zurück, der Islam lasse sich als eine christliche Sekte verstehen. Auf dem Titelblatt der Druckfassung, 1922 bei Kohlhammer, erscheint der Autor bereits als „a.o. Professor der Theologie an der Universität Tübingen“. Das liest sich nachträglich leicht, war aber durchaus keine Selbstverständlichkeit und zudem nur einer von mehreren Wegen, die Rudolph hätte gehen können. Der erste wäre natürlich die Fortsetzung der nur unterbrochen scheinenden kirchlichen Tätigkeit gewesen. In der Tat bewarb sich Rudolph um ein Pfarramt und bekam es auch. Dass er es nicht antrat, lag an mehreren akademischen Angeboten. Zunächst wurde er aufgefordert, sich ausgerechnet für Sanskrit zu habilitieren. Im Rigorosum in Religionsgeschichte als Nebenfach von dem Indologen Richard Garbe (1857–1927) geprüft, empfand er es als „beschämend“, dass er kein Sanskrit verstand, und lernte es in den nächsten drei Semestern mit solchem Erfolg, dass Garbe ihm „eine sehr günstige Prognose“ stellte. Sodann erhielt er den Auftrag, im Sommersemester 1921 nach dem Tod Seybolds und vor dem Eintritt Littmanns das orientalistische Ordinariat zu vertreten, und, wäh-

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rend er dies tat, unversehens den weiteren, im nächsten Semester nach Hans Schmidts Weggang die Stelle des Extraordinarius für Altes Testament wahrzunehmen. Zum Sommer 1922 berief ihn die Regierung, gegen das Votum des Senats dem Vorschlag der Fakultät und kirchlicher Fürsprache folgend, endgültig auf diese Professur. Das war ein Wagnis, weil Rudolph, nicht habilitiert und natürlich schon gar kein „Bewerber“, noch keine Zeile zum Alten Testament veröffentlicht hatte, aber auch wieder kein Wagnis, weil er als Repetent Lehrerfahrung in den exegetischen Fächern besaß und an seiner Begabung und Gelehrsamkeit kein Zweifel sein konnte. Er nahm die Lehrtätigkeit sogleich in ihrem vollen Umfang auf, las im Wintersemester 1921/22 Einleitung in das Alte Testament und dann im Wechsel mit dem Ordinarius Paul Volz (1871–1941) alle großen alttestamentlichen Kollegs. Dazu kam für den Extraordinarius der Hebräischkurs, an dem in jener Glanzzeit Tübingens – es war die Fakultät von Schlatter und Heim – regelmäßig mehr als hundert Studenten teilnahmen. Rudolph gab von jeder Stunde auf die andere schriftliche Arbeiten auf, die er pünktlich korrigierte. Außer im Hebraicum prüfte er im theologischen Examen. Begreiflicherweise hat er in jenen Jahren nur wenig publizieren können. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass sich ihm damals das Bild vom Alten Testament und vom alten Israel geformt hat, das wir später in seinen Werken finden. So dürften auch die Kolleghefte der zwanziger Jahre, natürlich mit Nachträgen und Modifikationen, bis in die Münsteraner Zeit die stabile Grundlage seiner Lehrtätigkeit gewesen sein. Die Zäsur in der Entwicklung des Alttestamentlers Rudolph lag vorher. Nach eigenem Zeugnis war er als Student ein „waschechter Wellhausianer“; Sellin sei ihm „ein zu bekämpfender Reaktionär“ gewesen, sein Exemplar von dessen Einleitung in das Alte Testament habe von entrüsteten Randbemerkungen gestrotzt. Dazu mag beigetragen haben, dass die Alttestamentler, die er in seiner Studentenzeit mehr oder weniger flüchtig zu Gesicht bekam, in den Umkreis Wellhausens gehörten: Cornill, Steuernagel und Hölscher in Halle, Bertholet im letzten Tübinger Jahr; mit Verehrung sprach er auch von Heinrich Holzinger (1863–1944), dem als Ulmer Dekan und erstem Münsterpfarrer er 1918 beigegeben war. In seiner zweiten Tübinger Periode, von 1919 an, änderte sich das Bild, zu einem Teil vielleicht durch den freundschaftlichen Umgang mit Volz und erklärtermaßen durch den literarischen Einfluss von Baentsch, Sellin und vor allem Rudolf Kittel, den er, und sei es auch nur in Ermangelung eines anderen, seinen Lehrer zu nennen pflegte. Es war kein Zufall, dass seine ersten Kommentare in der Sellinschen Reihe erschienen und dass er später nach Johannes Herrmann deren maßgeblicher Herausgeber wurde. Wie die übrigen Mitarbeiter dieses Werkes war er nicht so dumm, die Grundeinsichten Wellhausens geringzuschätzen, sondern riet ausdrücklich „jedem Studenten“, die „Prolegomena zur Geschichte Israels“ wenigstens teilweise durchzulesen3. 3  In: Einführung in das Studium der Evangelischen Theologie, hg.v. H. Frick 2(1948) 14.

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Aber seiner Natur und Arbeitsweise lag der Wellhausensche Radikalismus nur in Grenzen, und so suchte er, wie es vor ihm Kittel, aber doch auch Gunkel und ihre jeweiligen Gesinnungsgenossen getan hatten, auf seine eigene Weise von Wellhausen ausgehend behutsam zu konservativeren Lösungen zurückzufinden. Um zwei markante Beispiele zu nennen: er führte bis an sein Lebensende die Grundlage des Dekalogs auf Mose und die Schlussverse des Amosbuchs auf den Propheten Amos zurück – was für Wellhausen beides undenkbar war. 1928 also endlich Palästina – ein Erlebnis nicht nur wegen des Landes, sondern auch wegen des täglichen Zusammenseins mit Albrecht Alt, dessen Assistent er in diesem Vierteljahr sein durfte. Das Programm des zwölfköpfigen Lehrkurses nennt an erster Stelle „Topographie und Archäologie Jerusalems, ambulando, wöchentlich zweimal drei Stunden, Alt und Rudolph“, und weiter unten „Palästinische Bemerkungen zu Sprüchen der Propheten, wöchentlich eine Stunde, Rudolph“4. Nebenbei nahm Alt förderlich Anteil an Rudolphs Vorbereitung auf seinen Vortrag über „Sanherib in Palästina“ und steuerte dazu später ein leise korrigierendes „Nachwort über die territorialgeschichtliche Bedeutung von Sanheribs Eingriff in Palästina“ bei5. Rudolph staunte, wie Alt jede freie Stunde für den „Gott der Väter“ ausnutzte, der bis zum Semesterbeginn fertig werden musste. Die Grundrichtung von Alts Arbeiten behagte ihm zeitlebens sehr, wenngleich er gegen seine kühneren Thesen oft skeptisch blieb. Wie sehr Alt auch ihn schätzte, zeigte sich, als Rudolph im nächsten Winter unversehens das Angebot erhielt, an Alts Stelle Direktor des Jerusalemer Instituts zu werden. Nach längerem Zögern sagte er ab, aus Rücksicht auf die Gesundheit seiner Frau – er hatte 1922 die Lehrerin Uta Supper geheiratet –, aber auch, weil er sich die Altsche Vielseitigkeit nicht zutraute und die landeskundlichen Fragen für ihn bei allem Interesse doch nicht im Zentrum standen. Die württembergische Regierung honorierte die Absage mit einem persönlichen Ordinariat, das er aber nur kurz innehatte, weil er zum Sommersemester 1930 nach Gießen berufen wurde und diesen Ruf ohne viel Zögern annahm. Ihn lockte die kleinere Fakultät, die mehr Zeit zu literarischer Arbeit lassen würde. Tübingen verlieh ihm nach dem Abschied den theologischen Ehrendoktor, Volz versprach ihn später als seinen Nachfolger zurückzuholen; das wurde unmöglich, weil Rudolph nicht der NSDAP angehörte. Aber er strebte durchaus nicht nach Tübingen zurück und fühlte sich weder in Gießen noch später in Münster als Schwabe im Exil. Er war an beiden Orten gern, gewann dort Freundschaften und genoss das Familienleben: noch in Tübingen wurde die Tochter, in Gießen der Sohn geboren. Auch die schriftstellerische Arbeit kam, wie erhofft, zu ihrem Recht. Zunächst in unmittelbarer Fortsetzung von in Tübingen Begonnenem. Es war ja nicht so, dass er dort lite-

4  PJB 25 (1929) 9f. 5  Ebd. 59–80, vgl. Alt, Kleine Schriften II, 242–49.

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rarisch ganz stumm gewesen wäre6. Die Rezensionen jener Jahre, unter denen die von Weisers Amosbuch7 durch einen gewichtigen Aufsatz ergänzt wurde8, zeugen von sicherer und umfassender Beherrschung des Stoffs und der Methode. Eigene Entwürfe galten, den späteren Festschrift-Titel „Verbannung und Heimkehr“ im voraus bestätigend, der exilisch-nachexilischen Prophetie: in Tübingen zwei Studien zum deuterojesajanischen Gottesknecht9, in den Gießener Anfangsjahren, den Kommentator ankündigend, kritisch-historische Auslegungen des Obadja10 und der sog. Jesaja-Apokalypse11. Folgenreich wurde das „Hebräische Wörterbuch zu Jeremia“, 1927 in Baumgärtels „Einzelwörterbüchern“ erschienen: es trug Rudolph den Auftrag Kittels ein, in der neuen Biblia Hebraica den Jeremia zu bearbeiten. Das Heft kam, durch einen Aufsatz „Zum Text des Jeremia“ in der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 1930 vorbereitet12, 1931 als eins der ersten und besten des ganzen Werkes heraus und zog nicht nur die Verpflichtung für den Jeremia-Kommentar in Eißfeldts Handbuch nach sich, sondern auch die Ausgabe des Buches Numeri in der Biblia Hebraica (erschienen 1935) und eine Reihe weiterer Aufsätze zum Text einzelner Bücher (Numeri 1934, Klagelieder 1938, Richter 1947, Könige 1951, Esther 195413), sowie schließlich, nicht zu vergessen, nach dem Zweiten Weltkrieg, die von Rudolph und Elliger gemeinsam aus den Händen von Alt und Eißfeldt übernommene Gesamtherausgabe der Biblia Hebraica Stuttgartensia. Die Theologische Fakultät Gießen hat sich im Dritten Reich mit allem anderen als mit Ruhm bedeckt. Im Sommersemester 1933 veranstalteten die fünf Ordinarien einen „Lehrgang“ über das Thema „Volk, Staat, Kirche“. Man kann nur einen der Vorträge ganz ohne Beklemmung lesen, den von Wilhelm Rudolph über „Volk und Staat im Alten Testament“14. Hier wird ohne das geringste Zugeständnis an die neuen Machthaber, ja mit einer Reihe von Wendungen, die Mut und innere Freiheit beweisen, der Tatbestand dargestellt, wie er ist. Der Schlusssatz lautet: „Wenn Abraham die göttliche Zusage bekommt: ,durch dich sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden‘ (1.Mose 12,3), so bleiben wir auf biblischem Boden, wenn wir glauben, daß der Weg Abrahams, nämlich der Glaube an Gott und der Gehorsam gegen 6  Bibliographie von R. Hentschke in: Verbannung und Heimkehr. Wilhelm Rudolph zum 70. Geburtstag, hg.v. A. Kuschke (1961) 309–12. 7  ThLZ 55 (1930) 389f. 8  Gott und Mensch bei Amos, in: Imago Dei. Gustav Krüger zum 70. Geburtstag (1932) 19–31. 9  ZAW 43 (1925) 90–114; 46 (1928) 156–66 10  ZAW 49 (1931) 222–31. 11  Jesaja 24–27 (BWANT 62, 1933). 12  ZAW 48, 272–86. 13  ZAW 52, 113–20; 56, 101–22; Festschrift O. Eißfeldt zum 60. Geburtstag (1947) 199–212; ZAW 63, 201–15.; VT 4, 89f. 14  H. Bornkamm u.a., Volk, Staat, Kirche. Ein Lehrgang der Theologischen Fakultät Gießen (1933) 21–33.

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sein Gebot, auch heute noch ein Volk zum Heil führt, während das Vertrauen auf die eigene Kraft und die damit verbundene Auflehnung gegen Gott Gottes Zorn und Strafe herausfordert, wie die Geschichte vom Turmbau zu Babel lehrt (1. Mose 11).“15 Als im Herbst 1933 die Zeitungen meldeten, ein Regierungspräsident habe die Streichung der Geschichte von Isaaks Opferung aus dem Lehrplan des Religionsunterrichts angeordnet, weil „die in ihr vertretene Gottesanschauung undeutsch“ sei, stellte Rudolph im nächsten theologischen Examen für die schriftliche Arbeit das Thema: „Durch Darlegung des Inhalts und der Bedeutung von 1. Mose 22 soll die Frage geklärt werden, ob dieses Kapitel dem deutschen Geist widerspricht.“ Er erlebte die Freude, dass kein Kandidat die Frage bejahte16. In welcher Weise er in jenen Jahren das Alte Testament verteidigte, geht aus einem im Sommer 1945 gehaltenen Vortrag hervor, der den Titel trägt: „Was steht nun wirklich im Alten Testament?“ und mit reichem Material drei Thesen illustriert: „I. manches von dem, was die nationalsozialistische Propaganda über das Alte Testament behauptet hat, gibt nicht einmal die Tatsachen richtig wieder, II. vieles von dem, was man über das Alte Testament sagte, ist an sich richtig, wurde aber willkürlich herausgegriffen oder in ein falsches Licht gerückt, III. das meiste, was im Alten Testament steht, wurde unterschlagen, weil es dem Schauerbild, das man von diesem Buch zu zeichnen beliebte, allzusehr widersprochen hätte.“17 Als alles vorüber war, konnte Rudolph in gewohnter Sachlichkeit berichten: „ich bin wegen meiner pflichtmäßigen Äußerungen über Altes Testament, Judentum und Rassenfrage trotz des Gegensatzes zum nationalsozialistischen Dogma nie von einem meiner Hörer denunziert worden.“ Man beachte: die „Pflicht“, nach der er handelte, war ihm durch seine Wissenschaft und deren Gegenstand, durch nichts sonst auferlegt. Gegenüber dem Nationalsozialismus immun, mochte er sich auf der anderen Seite doch nicht der Bekennenden Kirche anschließen; sie war, wie er selbst sagte, für seine „dem Maßvollen zugeneigte Art zu radikal“. Hier sei ein Wort über sein Verhältnis zum Judentum angefügt. Gewiss schon unter dem Eindruck seiner Kindheit, wo die Eltern mit den Weikersheimer Juden auf gutem Fuße standen, war er von allem Antisemitismus frei. Das setzte ihn instand, sich über jüdische, auch deutsch-jüdische Phänomene, sprachlicher oder anderer Art18, nicht nur kundig, sondern auch erstaunlich unbefangen zu äußern. Er sah sich hier weder 1933 noch 1945 zum Umdenken genötigt. So böse die Zeitläufte waren, erfüllten sie ihm doch den Wunsch nach Muße zur eigenen Arbeit auf ungeahnte Weise. 1933 hatte die Gießener Fakultät 15  Ebd. 33. 16  Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 16 (1946/47) 114f. 17  Ebd. 112–28, Zitat 113. 18  Vgl. den Aufsatz „Moses Mendelssohn und seine jiddischen Briefe“, Hessische Blätter für Volkskunde 41 (1950) 78–99. Am 16.2.1963 hielt er im Westdeutschen Rundfunk einen Vortrag über hebräische und jiddische Wörter im Deutschen, der ein starkes Hörerecho hervorrief.

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knapp 50 Studenten, danach stieg die Zahl auf etwa 100, doch seit 1935 sank sie allmählich über ein knappes Dutzend vor Kriegsbeginn bis zum Nullpunkt, der 1943 erreicht wurde – entsprechend der mangelnden Attraktivität des Lehrkörpers und dem sukzessiven Verschwinden seiner Mitglieder durch Tod, Fortgang und Kriegsdienst19. Mit Wilhelm Rudolph blieb der Respektabelste übrig und zugleich der, der mit der durch den weitgehenden Ausfall der Lehrveranstaltungen freigewordenen Zeit das Meiste und Beste anfangen konnte. Sein erster Gegenstand war der Pentateuch – auch er noch von Tübingen her. Dort hatte er sich mit Volz in der Auffassung getroffen, dass der Elohist der neueren Urkundenhypothese eine fragwürdige Größe sei, und daraus war die 1933 veröffentlichte Gemeinschaftsarbeit entstanden: „Der Elohist als Erzähler, ein Irrweg der Pentateuchkritik? An der Genesis erläutert“. Rudolph hatte dort nur die Josephsgeschichte behandelt, und sie besonnener als Volz das Vorangehende. Während Volz als einzige durchlaufende Quelle den Jahwisten anerkannte, hielt Rudolph an Wellhausens Kernthese, der Unterscheidung einer älteren „jehowistischen“ und einer jüngeren „priesterschriftlichen“ Quelle fest. Aber innerhalb der älteren wandte er nicht nochmals die Urkundenhypothese an, sondern eine Ergänzungshypothese: dort liegen nicht zwei mehr oder weniger parallele Erzählungen zugrunde, sondern nur eine einzige, die des Jahwisten; diese ist im Laufe der Zeit durch verschiedenartiges Material ergänzt worden. Rudolph hatte nicht die Dreistigkeit, von einem untersuchten Einzelstück aus sogleich ein Urteil über den ganzen Pentateuch zu fällen. Er nannte 1933 das Gewonnene „eine brauchbare Arbeitshypothese“, „mit der man an die Untersuchung der übrigen Bücher des Pentateuchs herangehen“ könne20. Mit dieser sehr gründlichen weiteren Untersuchung war er 1937 fertig, sie erschien 1938 unter dem Titel „Der ,Elohist‘ von Exodus bis Josua“. Ich gebe das Resultat in seinen eigenen Worten: „Überblicken wir alle […] Zutaten zum jahwistischen Werk in ihrer Mannigfaltigkeit, so sehen wir hinein in eine lebendige Weiterarbeit an dem überkommenen Stoff. Teilweise stehen dabei recht menschliche Machtansprüche und Rivalitäten im Hintergrund, meist aber handelt es sich um Verdeutlichung und Vertiefung des Gegebenen, damit seine Wirkung auf die jeweiligen Zeitgenossen und seine Erbaulichkeit wachse. Niemals aber lassen sich diese Weiterbildungen auf einen Generalnenner bringen, so daß man an eine einheitliche Leistung denken könnte. Der Jahwist ist der große Baumeister, der seine Steine von da und dort nimmt und mit ihnen einen Bau von großer Geschlossenheit und Durchsichtigkeit aufrichtet, das andere sind Anbauten und Ausbesserungen, wie sie die Handwerker einer Bauhütte im Lauf der Jahrhunderte an dem herrlichen Bauwerk vornehmen, das ihrer Obhut anvertraut ist. Auch unter ihnen sind tüchtige Köpfe, aber an den alten Meister, der den 19  Vgl. M. Greschat in: Theologie im Kontext der Geschichte der Alma Mater Ludoviciana, hg.v. B. Jendorff u.a. (1982) 139–66. 20  A.a.O. 179.

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kühnen Bau entwarf, reichen sie nicht heran, und das Urteil über sie richtet sich darnach, ob ihre Nacharbeit dem Geist des Meisters und seines Baus entsprach. Beide aber, der Schöpfer des Baus und seine Erhalter, stehen in Gottes Dienst.“21 Rudolphs These ist jahrzehntelang fast unisono abgelehnt worden. Er selbst nahm alles, was gegen sie eingewendet wurde, nur als Bestätigung ihrer Richtigkeit und war der festen Überzeugung, dass sie „noch eine Zukunft“ habe. Heute sieht es so aus, als sollte er damit Recht behalten. Ein Jahr nach der Analyse des Pentateuchs (oder richtiger Hexateuchs), 1939, lieferte er gleich eine Dublette: die beiden ersten Kommentare, zu Ruth und den Klageliedern. Er war bei der Hauptaufgabe seines wissenschaftlichen Lebens angelangt. Von jetzt an schrieb er Kommentare. Was hat ihn zu dieser ebenso anspruchs- wie mühevollen Tätigkeit in so ungewöhnlichem Ausmaß befähigt? Zunächst die Art seiner Lebensführung. Er arbeitete bewundernswert fleißig und regelmäßig, ging darin aber nicht auf und also womöglich unter. Ihm fehlte die asketische Leidenschaft Albrecht Alts, jede freie Stunde für die Wissenschaft auszunutzen. Er wanderte und reiste und betrieb seine Liebhabereien. Die Abende hielt er ganz von Arbeit frei. Dann las er Klassisches und Belletristisches, ging ins Theater, wo er auch Operetten nicht verschmähte, oder ins Kino; bei den Tübinger Studenten stand er in dem Ruf, stets die neuesten Stummfilme zu kennen. Mit leicht amüsiertem Befremden pflegte er die Klagen der Kollegen, aber auch von Assistenten und Studenten anzuhören, sie seien mit ihrer Arbeit überlastet. Im Krampf und der Hektik des Universitätslebens wirkte er entspannt und gelassen. Er war ein freier Mann und gewährte auch den anderen Freiheit, wobei ein leises Bedürfnis nach der Distanz im Spiel gewesen sein könnte, die seine Arbeit erforderte. Diskussionen lagen ihm nicht; seine Erfahrung war, dass dabei nichts herauskam. Sein Werk entstand nicht im Palaver, sondern am Schreibtisch. Dort allerdings setzte er sich durchaus mit den anderen auseinander. Man konnte sicher sein, dass er Briefe und literarische Zusendungen umgehend beantwortete und dabei mit seinem Urteil nicht hinter dem Berge hielt. Übrigens wäre die Annahme falsch, die Mußestunden hätten für seine Arbeit keine Bedeutung gehabt außer der, sich von ihr zu erholen und für sie Kräfte zu sammeln. Die Probleme, an denen er gerade saß, begleiteten ihn im Untergrund immer, und er schilderte mit Witz, wie ihm plötzlich auf einem Spaziergang oder im Theater die Erleuchtung über ein Dispositionsproblem oder ein bisher unverständliches hebräisches Wort gekommen war. Er nannte das Eingebung, ja Gottesgabe und war dankbar dafür. An seinen Schulaufsätzen hatten die Lehrer gelegentlich eine gewisse Trockenheit bemängelt, und ähnliches stand später auch in Rezensionen zu lesen – dabei ist verkannt, dass die Arbeit für ihn selbst ein spannendes Abenteuer war. Die Trockenheit war Sachlichkeit. Und sie schloss, wie doch wohl schon die bisher gegebenen Proben gezeigt haben, Schönheit, ja Anmut des Stils nicht aus. 21  Ebd. 262f.

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Zur Sachlichkeit dieses Kommentators gehörte, dass bei ihm alles auf einer sehr breiten Basis stand. Er hatte einen langen Atem, und es vergingen jedesmal viele Jahre, in denen er das riesige Material sammelte und sichtete und seine eigenen exegetischen Entscheidungen hin und her überlegte, bis er mit seiner zierlich-klaren Schrift das Manuskript niederschrieb. Frei von dem Ehrgeiz, möglichst schnell auf dem Markt der theologischen Meinungen zu erscheinen, gab er nichts aus der Hand, was nicht völlig ausgereift war. Er bemühte sich, alles Erwägenswerte auch wirklich zu erwägen, nicht einseitig zu sein, nicht Lieblingsideen zum Opfer zu fallen. Eine intelligente Münsteraner Dissertation charakterisierte er mit den Worten: „Der Verfasser hat einen Vogel, und den füttert er.“ Das wollte er selbst vermeiden. Es gibt Kommentare, darunter sehr bedeutende, die von Anfang bis Ende eine These oder mehrere Thesen durchführen. Von dieser Art sind Rudolphs Kommentare nicht. Die ihm wichtigste exegetische Maxime hatte er schon in seiner Dissertation ausgesprochen, indem er in ihrem Schlusssatz einen englischen Arabisten zitierte: „we must be careful not to put more into words than the author intended“, wozu er die lakonische Anmerkung machte, jener Engländer habe das „freilich selbst nicht überall eingehalten“22. Natürlich wusste er, dass es auch ihm längst nicht überall gelang; aber an den Versuch möglichst weitgehenden Gelingens wandte er die gesammelte Kraft seines Lebens. Was ihn vor manchem theologischen Kommentator besonders befähigte, war sein Verhältnis zum Text im engeren Sinn und zur Sprache. Auf diesen Gebieten brauchte der einstige Schüler Eberhard Nestles nicht aus zweiter Hand zu nehmen. Von seinen Textstudien war schon die Rede. Hier Nüsse zu knacken, forderte ihn heraus und machte ihm Vergnügen. Er arbeitete nicht nur mit den alten Übersetzungen, sondern versuchte sich auch mit Erfolg in der freien Konjektur – in einem Ausmaß, wie es in der jüngsten Vergangenheit sonst kaum jemand getan hat. Das durfte er, weil er nicht nur Einfälle hatte, sondern auch vorsichtig war, und weil er Hebräisch konnte. Es ist mehr als eine Trivialität, wenn man sagt, dass sich ihm, der von der Orientalistik zur Theologie gekommen war, die Texte von der Sprache her erschlossen. Sprache und Sprachen waren sein Hauptinteresse, sein genuines Betätigungsfeld. Er lernte Sprachen leicht, gern und viel. Es war unter seiner Würde, sich einen für seine Arbeit einschlägigen spanischen, schwedischen oder russischen Aufsatz von jemand anderem übersetzen zu lassen. Auch mit der eigenen Sprache und ihren Dialekten, bis hin zum Jiddischen, beschäftigte er sich auf mancherlei Weise, im Ernst und im Scherz. Er war immer für Schüttelverse empfänglich, und ich habe bei ihm gelernt, das Wort Blockschokolade zu konjugieren. Es konnte ihn entrüsten, wie er die deutsche Sprache auch bei Kollegen heruntergekommen sah. Wenn diese Leute, so fand er, die Bibel zu übersetzen hätten, würde deren erster Satz nicht lauten: „Am Anfang schuf Gott Himmel und 22  Die Abhängigkeit des Qorans von Judentum und Christentum (1922) 91.

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Erde“, sondern: „Die kreative Initiative Gottes wurde dadurch evident, daß er die Erschaffung des Himmels und der Erde bewerkstelligte.“ Kein Wunder, dass er in seinen Kommentaren auf die Übersetzung die größte Sorgfalt verwandte. Sein Ziel als Schriftsteller war Einfachheit und Lesbarkeit. Dieses Ziel hatte seinen Wert in sich, aber das allein wäre Rudolph zu wenig gewesen. Er schrieb auch darum nicht esoterisch, weil er sich als Benutzer seiner Kommentare nicht nur Fachgelehrte vorstellte, sondern auch, ja noch mehr Pfarrer und solche, die es werden wollten. Zwar wusste er nur zu gut, dass die Zeit vorbei ist, „als unsere Pfarrer auch noch im Amt in ihrer hebräischen Bibel lasen“23, aber darum resignierte er nicht, sondern tat, was er konnte, um gerade diesen Adressatenkreis zu erreichen. Als Professor dachte er immer daran, dass er „künftige Pfarrer und Religionslehrer und nicht künftige Privatdozenten zu unterrichten hatte“24. Bezeichnend das Argument, mit dem er bei den Studenten für gründliche Lektüre der Bibel warb: „Es darf nicht vorkommen, daß sich ein Pfarrer in Bibelkenntnis von seinen Gemeindegliedern übertreffen läßt.“25 Nicht zuletzt unter diesem Blickwinkel legte er in seinen Kommentaren auf die Herausarbeitung des theologischen Gehalts großes Gewicht. Bei keinem Buch fehlt ein zusammenfassender Abschnitt über dieses Thema, wobei der Kommentator als christlicher Theologe deutlich Stellung bezieht, ja und nein sagt, Wilhelm Vischer zur Rechten, Emanuel Hirsch zur Linken oder, bei enger gezogenem Kreis, Walther Eichrodt zur Rechten, Franz Hesse zur Linken. Auch hier war er ein Mann der Mitte. Hin und wieder hielt er Vorträge über Grundinhalte des Alten Testaments, handfest und mit klarem Gegenwartsbezug26. Von der Teilnahme an großen Debatten wie der über v. Rads Konzeption der alttestamentlichen Theologie fühlte er sich dispensiert. Die hermeneutischen Grundsatzprobleme machten ihm keine große Beschwer, obwohl sie ihm nicht ungeläufig waren. Sein besonderer Abscheu galt Zauberformeln wie der von der „pneumatischen Exegese“, durch die er das saubere philologische Handwerk an die zweite Stelle gesetzt fand. Wo er sich, kundig und lehrreich, über die Wirkungsgeschichte des Alten Testaments äußerte, stand das Kulturgeschichtliche im Vordergrund27. Dass nach 1939 vorerst kein neuer Kommentar erscheinen konnte, lag nicht am Autor. Die Erklärung des Jeremia war 1941 druckfertig und blieb einstweilen liegen28; es dürfte eine besondere Leistung des Verlegers, Siebeck in 23  Micha – Nahum – Habakuk – Zephanja (KAT XII I/3) 153. 24  Einführung in das Studium der evangelischen Theologie 221. 25  Ebd. 11. 26  Was haben uns die Propheten des Alten Testaments heute zu sagen? Festschrift Th. Wurm (1948) 39–50; Das Menschenbild des Alten Testaments, Festschrift H. Schreiner (1953) 238–51. 27  Vgl. besonders Der Beitrag des Alten Testaments zur abendländischen Kultur, Festschrift O. Dibelius (1950) 17–38. 28  Vgl. ZAW 60 (1944) 85.

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Tübingen, gewesen sein, dass das Buch „schon“ 1947 erschien. Das Manuskript zum Hohen Lied ging 1942 an Sellin ab und wurde in dessen Berliner Wohnung bei einem Bombenangriff vernichtet; die rekonstruierte Fassung konnte erst zwanzig Jahre später bei Mohn in Gütersloh herauskommen, der Sellins Reihe von Deichert in Leipzig übernommen hatte29. Auch die letzten Kriegsjahre sahen den Kommentator unermüdlich tätig. „Als“, so hat er später berichtet, „am 11. Dezember 1944 meine Wohnung von Bomben demoliert wurde, hatte ich im Luftschutzkeller, ehe er zusammengedrückt wurde, die eine Hand auf der Spitzhacke, die andere auf meinem Manuskript des Kommentars zu Esra und Nehemia. Und als ich in meinem Notquartier an der Erklärung von Nehemia 10 schrieb, sangen in den Räumen neben und über mir amerikanische Soldaten, die sich für eine Nacht in dem kleinen Hause einquartiert hatten.“ Der unter solchen Umständen entstandene Kommentar erschien 1949, wie der zu Jeremia in Eißfeldts Handbuch. Das gleiche Jahr brachte den letzten Ortswechsel, von Gießen nach Münster. Er beendete einen langen Schwebezustand: 1946 waren die geisteswissenschaftlichen Fächer der Gießener Universität fürs erste aufgehoben und damit Rudolph als allein noch vorhandener Theologe amtlich heimatlos geworden. Er erhielt einen Lehrauftrag in Marburg, den er unter Beibehaltung der Gießener Wohnung sechs Semester lang versah. Anfang 1948 war er ein Vierteljahr gleichzeitig mit Walther Zimmerli Gastprofessor an der Kirchlichen Hochschule Berlin – nach eigenem Bekunden eine der schönsten Zeiten seines Lebens. Ähnlich gern sprach er später von seinen regelmäßigen Aufenthalten in Rom seit 1954, wo er im päpstlichen Bibelinstitut arbeitete, die Stadt genoss und mit dem nachmaligen Kardinal Bea (1881–1968) freundschaftlich verkehrte. Was Berlin angeht, so lehnte er 1948 einen endgültigen Ruf dorthin ab, ebenso Rufe nach Jena, Greifswald und Kiel. Dagegen fiel ihm 1949 die Entscheidung für Münster leicht. Der Umzug konnte allerdings erst zwei Jahre später vonstatten gehen; eher fand sich in der zerstörten Stadt keine Wohnung. Nach anderthalb akademisch etwas absonderlichen Jahrzehnten führte Rudolph also wieder ein normales Professorenleben. Dass dessen formelle Beendigung durch die Emeritierung 1959 in sein Rektoratsjahr fiel, machte diese Zäsur tiefer, als sie sonst gewesen wäre. Er war gewiss ein guter, aber kein sehr auffälliger Rektor und freute sich, da nunmehr „entpflichtet“, nicht mehr Prorektor werden zu müssen. Als einzige Lehrveranstaltung behielt er noch lange die „Übungen im Alten Testament für Religionspädagogen“ bei, die bei den Studenten und, nicht zu vergessen, den Studentinnen sehr beliebt waren. Bei gemeinsamer Lektüre des deutschen Textes teilte er hier, ohne den großen Gelehrten hervorzukehren, aufs lebendigste aus der Fülle mit, die ihm zu Gebote stand. Um sich auf dem Laufenden zu halten, besuchte er von Zeit zu Zeit die Sitzungen seiner Fakultät, die damals am Freitagabend stattfanden 29  Vgl. Das Buch Ruth – Das Hohe Lied – Die Klagelieder (KAT XVII/1–3, 1962) 9.

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und in denen es auch schon vor der Einführung der Gruppenuniversität mitunter ziemlich lebhaft herging. Er betrachtete aufmerksam jeden Redner, tat seinerseits den Mund nie auf und gab seine Gedanken mit keiner Miene zu erkennen. Wenn er genug hatte, erhob er sich leise und schritt in die Nacht hinaus. Der einzige Kommentar, der während seiner Zeit als aktiver Münsteraner Ordinarius erschien, war (1955) der zu den Chronikbüchern, die Fortsetzung des Esra-Nehemia-Bandes in Eißfeldts Handbuch. Danach kam mehr als ein Jahrzehnt Pause30 – eine Pause voll konzentrierter Arbeit. Rudolph verzettelte sich noch weniger als früher und lebte auf sein großes Alterswerk hin, den Kommentar zu den zwölf Kleinen Propheten, der von 1966 bis 1976 in vier kräftigen Bänden als Glanzstück der erneuerten Sellinschen Reihe herauskam. Es war nicht ganz ohne Dramatik, dass zur selben Zeit ein anderer, Hans Walter Wolff in Wuppertal, dann Mainz, dann Heidelberg mit großer theologischer Leidenschaft und wahrlich nicht geringer Leistungsfähigkeit an einem gleich dimensionierten Parallelwerk arbeitete. Er ging mit dem ersten Band, Hosea (1961), weit vor Rudolph (1966) durchs Ziel. Dies auch noch mit dem zweiten, aber nur dadurch, dass er ihn halbierte: Joel und Amos erschienen bei Wolff 1969, Obadja und Jona erst 1977, nachdem der Rudolphsche Kommentar zu diesen vier Propheten längst, nämlich seit 1971 auf dem Tisch lag. Bei Rudolph folgten die letzten beiden Bände 1975 (Micha – Nahum – Habakuk – Zephanja) und 1976 (Haggai – Sacharja – Maleachi), wogegen der erheblich jüngere Wolff zwar Rudolph überlebte, aber das Rennen aufgeben und sich auf Micha (1982) und Haggai (1986) beschränken musste. Immerhin dürfen wir uns glücklich schätzen, bei der Mehrzahl der zwölf Propheten die beiden Kommentare nebeneinander benutzen zu können. Sie kommentieren sich ja auch gegenseitig: bei Hosea, Joel und Amos hatte Rudolph Wolff vor Augen, bei den übrigen Wolff Rudolph. Wiederholt nahm Rudolph die Auseinandersetzung in eigenen Aufsätzen vorweg. So gleich bei Hosea, wo Wolff den göttlichen Befehl an den Propheten, eine hurerische Frau zu nehmen, mit der Annahme entschärfen wollte, damals seien alle jungen Israelitinnen einem kanaanäischen Sexualritus unterworfen gewesen, Hoseas Frau habe also keine Ausnahme gebildet31. Rudolph zerzauste diese Annahme unter der Überschrift „Präparierte Jungfrauen?“32, um dann seinerseits jenen Befehl auf andere, literarkritische Weise zu entschärfen33. Das Beispiel ist insofern nicht typisch, als Rudolph in der Literarkritik im ganzen konservativer verfuhr als Wolff – so etwa in einer wiederum dem Kommentar vorweggenommenen Auseinander30  Von dem in der vorigen Anmerkung genannten Band kann hier abgesehen werden, da er nicht neu ausgearbeitet war. 31  H.W. Wolff, Hosea (BK XVI/1, 1961) 13–18. 32  ZAW 75 (1963) 65–73, vgl. Hosea (KAT XIII/1, 1966) 42f. 33  Hosea 46–49.

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setzung mit Wolffs „Amos“, die eine von Wolff dem Propheten abgesprochene Perikope als authentisch zu erweisen unternahm34. Wir können nicht weiter in die Einzelheiten gehen, denn das würde die Entfaltung mehrerer Kapitel alttestamentlicher Einleitungswissenschaft bedeuten. Stattdessen nehmen wir einen vorhin fallengelassenen Faden wieder auf und versuchen in Kürze zu erfassen, was jenseits von Begabung, Fleiß und Können die Eigenart von Rudolphs Exegese gewesen ist und was also sein Vermächtnis und auch seine Frage an uns, die nächste oder schon übernächste Generation sein mag. Das treffendste Wort dafür, wenn es ein einziges sein soll, scheint mir „Natürlichkeit“ zu sein. Wie seiner Person so lag seiner Arbeit alles Verkrampfte, Gestelzte, Übersteigerte fern. Er war ein Freund der einfachen Lösungen – nicht unbedingt derer, die man schnell und mühelos findet, sondern der klaren, übersichtlichen, evidenten. Was uns Wissenschaftlern oft so schwerfällt: er verachtete das Naheliegende nicht. Insbesondere ging er davon aus, dass die biblischen Autoren sich ihren Hörern und Lesern verständlich machen und sich also klar und einfach ausdrücken wollten. Von geheimnisvollen Anspielungen und Beziehungen in den Texten, die herauszubringen erst Professoren des 20. Jahrhunderts beschieden sein sollte, hielt er nichts. Er las möglichst viel in den Zeilen selbst, nicht zwischen und nicht hinter ihnen. Schon in seiner Dissertation35 und später ungezählte Male in den Kommentaren warnte er vor leichtfertigem Umgang mit dem argumentum e silentio. Auch auf den statistischen Sprachbeweis gab er angesichts der Begrenztheit des alttestamentlichen Textbestandes nicht viel. Als reine Luftschlösser (und nicht einmal schöne) erschienen ihm von vornherein die Hypothesengebäude von Bundeskultus und beamteten Propheten, die in den fünfziger und sechziger Jahren viele beeindruckten. Er verstand einen Propheten wie Jeremia, besonders anhand seiner Konfessionen, im freien Anschluss an die großen Exegeten des 19. Jahrhunderts als Persönlichkeit und gab sich dabei gewiss Blößen, die man ihm ankreiden kann und natürlich auch angekreidet hat. Aber er war gegen die Gefahren biographischer Schlüsse und eines gar ins Sentimentale gehenden Psychologisierens durchaus nicht blind36, und seine Warnungen vor gattungsgeschichtlichem Schematismus, die die Anmerkungen der 3. Auflage des Jeremiakommentars durchziehen, können mittlerweile auf breiteste Zustimmung rechnen. Zur Natürlichkeit gehörte bei ihm auch, dass er sich mit Spätdatierungen und Unechtheitserklärungen nicht übereilte. Unter uns gewinnt eine Haltung an Boden, die, von der Endgestalt der biblischen Bücher bzw. deren Entstehung in späten Zeiten ausgehend, grundsätzlich den Verteidigern von Alter und Authentizität die Beweislast zuschiebt. Rudolph dachte eher umgekehrt. Wenn ein Buch mit dem Namen Jeremia oder dem 34  Amos 4,6–13, in: Wort – Gebot – Glaube. Walther Eichrodt zum 80. Geburtstag (1970) 27–38. 35  A.a.O. (s. Anm. 22) 67f. 36  Vgl. etwa Hosea (1966) 24f.87.

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Namen Joel überschrieben ist, aber auch wenn der Dekalog in der mosaischen Geschichte steht, dann hielt er es für geboten, die damit erhobenen Ansprüche ernstzunehmen und nur bei wirklicher Notwendigkeit kleinere oder größere Abstriche vorzunehmen. Seine Grundhaltung war zweifellos konservativ. Man sollte sich aber hüten, ihn damit abzustempeln. Er war alles andere als unkritisch und entschied nicht nach Prinzipien, sondern nach Beobachtungen und Argumenten, die er übrigens auch bei solchen Kollegen mit Sorgfalt zur Kenntnis nahm und gegebenenfalls unumwunden anerkannte, deren Hauptthesen er ablehnte. Solches Sammeln und Prüfen war ihm Lebenselement. Er setzte es auch noch fort, nachdem er 1975 sein literarisches Werk mit dem Klappentext zum Haggai-Sacharja-Maleachi-Band beendet und dazu den Vers gemacht hatte: „Was man erst in Etappen kleckst, gibt komprimiert der Klappentext.“

Danach war ihm noch ein reichliches Jahrzehnt geschenkt. In die Mitte dieser Zeit fiel 1981 als tiefster Einschnitt der Tod seiner Frau. Er selbst war von gesundheitlichen Störungen nicht frei, konnte aber bis ins Jahr seines 95. Geburtstages in erstaunlicher Frische seinen alten Neigungen leben, zuvörderst dem Alten Testament. Er ließ nur noch ganz wenig drucken, verfolgte aber aufmerksam, was zu den von ihm kommentierten Büchern erschien, und trug das Wesentliche in seine Handexemplare ein. Den nunmehr durchweg jüngeren Fachgenossen begegnete er mit wohlwollendem Interesse, bei näherer Berührung oft mit großer Güte. Meinungsverschiedenheiten wischte er nicht beiseite, aber seine Kritik wollte nie persönlich verletzen, auch wo er sie in die meist genau treffenden, oft liebenswürdig entwaffnenden Sentenzen fasste, die seine Leser seit jeher ergötzt haben. Vor allem in drei Richtungen machte er im letzten Jahrzehnt aus seiner Abneigung kein Hehl. Seine Reserve gegen allzu viel Beschäftigung mit der Weisheit ist eingangs schon angeklungen. Skeptisch war er auch im Blick auf das Deuteronomium und die deuteronomistische Geschichtsschreibung; deren Rolle fand er in der gegenwärtigen Wissenschaft weit überschätzt. Am meisten gegen den Strich ging ihm aber der aufwendige formale Perfektionismus, mit dem er die zeitweise geschlossenste und erfolgreichste Exegetenschule innerhalb Deutschlands unter dem Stichwort einer neuen „Literaturtheorie und Methodologie“ die Texte analysieren sah. „Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus“, zitierte er dazu und fragte: „Wie bringt man den Schmetterling mit den abgestaubten Flügeln wieder zum Fliegen?“37 Wenn es ein Fegefeuer gebe, solle man, so schlug er vor, dessen Insassen die methodologischen und tabellarischen Wälzer dieser und verwandter Richtung zur Dauerlektüre geben. 37  ThLZ 102 (1977) 497.

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Ihn selbst bestärkten solche Eindrücke darin, mit Entschiedenheit bei dem zu bleiben, was er heiter seine „veraltete“ Methode nannte. Ende 1984 schrieb er mir: „Ich bin für jeden Tag dankbar, bin aber auch für die letzte große Reise gerüstet.“ Mit sich war er im reinen, auch was die Wissenschaft anging. Noch zu Anfang des Jahres 1987 las er in seinen eigenen Kommentaren und staunte, was er da geschrieben hatte. Frei von Selbstüberschätzung pflegte er doch gelassen zu sagen: Qui vivra verra. Wir schließen uns an, indem wir berühmte Worte eines alten Münsteraners variieren: Wilhelm Rudolphs Bücher haben Zeit, zu warten. Das Alte Testament wartet ja auch.

Johannes Hempel 1891–1964

Zwei so verschiedene Leute wie Emanuel Hirsch und Otto Dibelius waren sich einig: Hempel sei der bedeutendste deutsche Alttestamentler (Hirsch 19361), der einzige deutsche Alttestamentler, von dem gesagt werden könne, dass er „als Gelehrter einen internationalen Ruf genießt“ (Dibelius 19472). Hempel hatte eine ungeheure Arbeitsleistung daran gewendet, einen solchen – wertlosen – Nimbus zu erringen; was vor und besonders nach 1945 gegen ihn vorgebracht wurde, tat er erregt als „böswilligen Klatsch“ ab3. Man wäre froh, wenn er damit im Recht gewesen wäre. Er wurde am 30. Juli 1891 im Pfarrhaus von Bärenstein im östlichen Erzgebirge geboren4. Die Volksschule besuchte er in Kreischa und Dippoldiswalde, den nächsten Wirkungsorten seines Vaters. Im Alter sprach er gern von seiner ländlichen Kindheit, „in der noch nicht die Saatmaschine den Säemann verdrängt hatte“5. Sein Gymnasium war das traditionsreiche Dresdner Kreuzgymnasium, in dem ein junger bildungshungriger Geist wie er voll auf seine Kosten kommen konnte. Das Studium, 1910–14 in Leipzig, legte er breit an: Theologie, Geschichte, Orientalistik. Sein wichtigster Lehrer war der Alttestamentler Rudolf Kittel. Ihm bewahrte er zeitlebens die Pietät, auf sein Andenken ließ er nichts kommen. Nach Kittels Tod legte er sich mit Walter Baumgartner an, der Kittels 1  An Prof. Eugen Mattiat im Reichs- und Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 30.7.1936; variiert an den Präsidenten des Landeskirchenamts in Hannover 18.7.1936: „der erste deutsche Alttestamentler“ (beides im Universitätsarchiv Göttingen, Theol PA 0114). 2  Zitiert bei Cornelia Weber, Altes Testament und völkische Frage. Der biblische Volksbegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft der nationalsozialistischen Zeit, dargestellt am Beispiel von Johannes Hempel (2000) 162454. Im Folgenden gebe ich bei ungedruckten Quellen, die Frau Weber zitiert, der Einfachheit halber auch dort nur die Seitenzahlen ihres Buches, wo ich diese Quellen im Original kenne. 3  Weber 163. 4  Für das Biographische verweise ich ein für allemal auf C. Weber. Weniger detailliert, aber aus größerer Nähe der Nachruf von W. Zimmerli JAWG 1965, 62–73, den ich nach dem Abdruck ZAW 78 (1966) I–XI zitiere. Bibliographie: ThLZ 76 (1951) 501–06; 87 (1962) 395–98. 5  Unterwegs (1961) 11.

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Psalmenkommentar kritisch besprochen hatte6, eine seiner „Chroniken“ in der ZAW datierte er auf Kittels 20. Todestag7, in seinem letzten Satz als Herausgeber glaubte er Kittels Ehre gegen H. M. Orlinsky verteidigen zu sollen8. Nicht nur in der wissenschaftlichen Grundhaltung erinnerte der Schüler an den Lehrer, sondern auch in menschlichen Eigenschaften: seinem schnellen Verstand, seinem eisernen Fleiß, seinem herrischen Auftreten, seinem energischen Wirkungswillen, seinem starken und streitbaren Gefühl für Gerechtigkeit, nicht zuletzt die eigene. Aber auch von anderen ließ er sich anregen und fördern und nannte sie seine Lehrer. Die theologische Dissertation ist neben Kittel Nathan Söderblom (1866–1931) gewidmet, 1912–14 Religionshistoriker in Leipzig, dann Erzbischof von Uppsala, und drittens „den Manen Karl Lamprechts“, des 1915 verstorbenen Historikers, der Wilhelm Wundts „Völkerpsychologie“ auf die Geschichte anwandte; nicht nur ihn, sondern auch den weit älteren Wundt (1832–1920) hatte Hempel noch in Leipzig hören können. Unmittelbar wichtiger wurden für ihn die Orientalisten Heinrich Zimmern (1862–1931) und Gotthelf Bergsträßer (1886–1933). Neben dem Studium betätigte er sich in einer Abendschule für Arbeiter9. Schon früh arbeitete er nicht nur auf die beiden theologischen Examina hin – er bestand sie 1915 und 1919 –, sondern auch auf zwei Promotionen. Obwohl er sich die Dissertationsthemen von Kittel und Söderblom geben ließ, wurde keiner der beiden formell sein „Doktorvater“. Die alttestamentliche Dissertation („Die Schichten des Deuteronomiums“) sollte einen Dr. phil. erbringen, und so reichte Hempel sie in der philosophischen Fakultät ein, wo sie von Zimmern und dessen Kollegen August Fischer begutachtet wurde; das mündliche Examen fand im Juni 1914 statt, das Buch erschien folgerichtig nicht in Kittels „Beiträgen zur Wissenschaft vom Alten Testament“, sondern in Lamprechts „Beiträgen zur Kultur- und Universalgeschichte“. Die theologische Dissertation, „Untersuchungen zur Überlieferung von Apollonius von Tyana“, laut Vorwort „sachlich im Frühjahr 1914 abgeschlossen“, aber zu Beginn von Hempels Kriegsdienst noch ohne „die letzte stilistische Feilung“, konnte wegen Söderbloms Fortgang nicht mehr in der Leipziger Fakultät untergebracht werden. Hempel legte sie 1920 in Halle vor, Ernst von Dobschütz referierte in der dortigen Fakultät. Beide Arbeiten verfolgen das gleiche Ziel: in literarischen Dokumenten älteres Material nachzuweisen. Hempels Lehrer Kittel hatte 1912 das unter König Josia aufgefundene deuteronomische Gesetzbuch vermutungsweise einem priesterlichen Jesajaschüler zur Zeit von Josias Vorvorgänger Hiskia oder von dessen Sohn Manasse zugeschrieben und darüber hinaus eine Vorstufe in 6  Vgl. ThZ 55 (1999) 352f. 7  ZAW 62 (1950) 272. 8  ZAW 71 (1959) 259. 9  Vgl. Meine Zeit stehet in deinen Händen (1933) 5.

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Gestalt der ursprünglichen Satzung des salomonischen Tempels angenommen10, das aber nicht im einzelnen durchgeführt, sondern den Studenten Hempel aufgefordert, den „Versuch“ weiterzuverfolgen11. Hempel entledigte sich dieser Aufgabe mit einer für damalige Verhältnisse umfangreichen Untersuchung (im Druck 288 Seiten), die Kittels Vermutungen bestätigte und ergänzte: „Das Josiabuch war keine originale Schöpfung. Sein Verfasser hat die alte jerusalemische Tempelregel im Interesse der Kultuszentralisation überarbeitet, durch einige soziale Bestimmungen erweitert und mit einer Einleitung […] versehen. Dies geschah in den letzten Jahren Hisqias, oder den ersten Manasses […]. Später hat der Verfasser selbst noch eine zweite alte Quelle, durch die speziell die Greuel Manasses getroffen wurden, eingearbeitet.“12 Sehr anders ist der Gegenstand der theologischen Dissertation. Über den neupythagoreischen Wanderprediger Apollonius von Tyana aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert gibt es eine um 200 verfasste Biographie, deren Autor Philostrat sich zur Stützung ihrer Glaubwürdigkeit auf die ältere Schrift eines gewissen Damis beruft. Vielleicht veranlasst durch Ed. Schwartz’ These, diese Berufung sei „eine reine Fiction“13, untersuchte Hempel die gesamte Überlieferung über Apollonius mit dem Ergebnis der Echtheit wenigstens eines Kerns der Damis-Schrift sowie weiterer Dokumente, worauf es ihm möglich war, den Apollonius als einen „edlen Menschen“ zu zeichnen, „einen Gottsucher, der seine Seele rein halten wollte für der Götter Offenbarungen, aber doch auch befangen blieb in allerhand Aberglauben und Zauberwesen“14. Während das Manuskript in der Schublade ruhte, erschien eine Abhandlung Ed. Meyers, betitelt „Apollonios von Tyana und die Biographie des Philostratos“, die das Schwartzsche Verdikt auf eine breite und feste Grundlage stellte15 und Hempel nach Kriegsende zur Herstellung einer überarbeiteten Fassung zwang, die dann die Hallenser Dissertation wurde. Von Meyer hatte er sich nicht überzeugen lassen16, aber, was schwerer wiegt, umgekehrt ließ sich auch Meyer von ihm nicht überzeugen: er erklärte die „Rettung“ des Apollonius für rundweg misslungen17. Auch Kittel-Hempels altjerusalemische Tempelregel konnte nicht nennenswert von sich reden machen, so viel auch seither über Quellen und Vorformen des Deuteronomiums vermutet worden ist. 10  Geschichte des Volkes Israel 2I (1912) 268–71. 11  Vgl. Die Alttestamentliche Wissenschaft in ihren wichtigsten Ergebnissen (41921) 991. 12  Die Schichten des Deuteronomiums (1914) 268. – Das Buch entspricht seinem Titel, indem es auch die späteren Bearbeitungen des Josiabuches untersucht. 13  Fünf Vorträge über den Griechischen Roman (1896) 126. 14  Untersuchungen zur Überlieferung von Apollonius von Tyana (1920) 85. 15  Hermes 52 (1917) 371–424. 16  Vgl. etwa a.a.O. 311. 17 Kleine Schriften II (1924) 1411: „Irgendwelche Überzeugungskraft haben diese Erörterungen nicht; vielmehr würden sie sich sofort als unhaltbar erweisen, wenn man ernsthaft den Versuch machte, das, was als echt übrig bleiben soll, aus Philostratos herauszuschälen und die Schrift des Damis wirklich zu rekonstruieren.“

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Gleichwohl zeigen die Arbeiten eindrucksvoll die Stoffbeherrschung und das Können ihres Verfassers auf zwei verschiedenen Gebieten; er sprach später sogar von zwei „Methoden“, der literarkritischen und der religionsgeschichtlichen18. Die Karriere allerdings, die er damit eingeleitet hatte, schob der Erste Weltkrieg um mehrere Jahre hinaus. Schon die Korrektur der „Schichten des Deuteronomiums“ musste, wie das Vorwort im Herbst 1914 meldet, „in ständiger – bisher zu meinem großen Kummer vergeblicher – Erwartung der Einberufung gelesen werden.“ Der Kummer brauchte nicht lange anzuhalten. Anfang 1915 wurde Hempel Soldat. Ihm gefiel „der – sehr stramme – Dienst ausgezeichnet“, er war „dankbar, endlich auch beim Heer zu sein“19, wurde im Westen eingesetzt und geriet im September 1915 für Jahre in französische Gefangenschaft. Dort diente er seinen Mitgefangenen als Lehrer und Seelsorger, eine Tätigkeit, die er 1919, zum Militärgeistlichen ordiniert, im Dresdner Lazarett fortsetzte. Einen soldatischen Zug behielt er zeitlebens bei. Er sprach oft und ohne Beschönigung vom Grauen des Krieges, fand aber auch zu Sätzen wie diesem über die Kämpfer von Langemarck: „Da sprang der Funke über, der da zündete, da loderte die Flamme hoch empor, und wir, denen solche Stunde nicht geschenkt ward, wir schauen auf zu diesem Fanal und beginnen etwas zu ahnen von der Schöpfermacht des Gottesgeistes über Menschen.“20 Und auch auf der Kanzel hielt er es für richtig, auf die Schuld der Gegner und ihre Lüge von der deutschen Schuld hinzuweisen21. Bereits 1920 gelang der endgültige Einstieg in die Wissenschaft. Zwar war Kittels Assistentenstelle gerade mit Friedrich Baumgärtel (1888–1981) besetzt, dem bald Gottfried Quell (1896–1976) folgte, aber die entsprechende Stelle in Halle stand offen, und auf ihr konnte Hempel kurz nacheinander nicht nur promoviert werden, sondern sich auch habilitieren. Der alttestamentliche Ordinarius war seit kurzem Hermann Gunkel, an seine Seite trat bald Otto Eißfeldt. Mit beiden, besonders mit Eißfeldt, scheint er gut ausgekommen zu sein, obwohl sie als ausgesprochene Liberale dem Kittelschüler sachlich eher fernstanden. Eine Assistentenpflicht war die Bibliographie Gunkels im „Eucharisterion“ zu dessen 60. Geburtstag. Die Habilitationsschrift, „Altisraels Gebetsleben, 1. Teil: Gebet und Zauber“, blieb ungedruckt, aber ein bald danach vor sächsischen Pfarrern gehaltener Vortrag „Aus dem Gebetsleben des Alten Testaments“, 1922 unter dem Titel „Gebet und Frömmigkeit im Alten Testament“ zusammen mit der Antrittsvorlesung „Die Bedeutung des Exils für die israelitische Frömmigkeit“ veröffentlicht, weist auf, wie „im Gebet der israelitische Fromme den Zauber überwindet und wie die literarischen 18  Gott und Mensch im Alten Testament (1926) V. 19  Weber 93. 20  MPTh 28 (1932) 358. Im Zweiten Weltkrieg war es ihm ein „Glück“, auf dem „heiligen Boden von Langemarck“ zu stehen (Die Aufgabe von Theologie und Kirche von der Front her gesehen, 1941, 13). 21  Ebd. 356f.

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Gattungen der Kultgebete, deren vorisraelitische Herkunft mir feststeht und in deren Abgrenzung ich wesentlich Gunkel folge, von ihm mit einem ganz eigenartigen Leben erfüllt werden“22. Das dürfte die Quintessenz der Habilitationsschrift gewesen sein. Die Literarkritik (in der Gunkelschen Abwandlung) und die Religionsgeschichte kommen dabei voll zur Geltung, aber ein drittes Element tritt beide überbietend hinzu: die Frömmigkeitsgeschichte. Die beiden Vorträge wollen ausdrücklich „einer frömmigkeitsgeschichtlichen Untersuchung des Alten Testaments vorarbeiten“23, und einige Jahre später spricht Hempel von der „Arbeit, die ich die frömmigkeitsgeschichtliche zu nennen gewohnt bin“24, so, dass man den Eindruck hat, sie sei von vornherein seine eigentliche Intention gewesen. Frömmigkeit und Frömmigkeitsgeschichte haben in der evangelischen Theologie und Kirchengeschichtsschreibung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur eine Nebenrolle spielen können; die als Frömmigkeitsgeschichte konzipierte „Geschichte des Christentums“ von Johannes von Walter (1932– 38) gehört leider zu den vergessenen Büchern25. Unter den Alttestamentlern widmete man sich besonders in der Schule Rudolf Kittels diesem Thema; neben Hempel sind wiederum Baumgärtel und Quell zu nennen26. Man berief sich dabei auf Kittels Forderung in seiner berühmten Rede über die Zukunft der alttestamentlichen Wissenschaft von 1921, bei der Erforschung der alttestamentlichen Religion „das Leben selbst in ihr und das Geheimnis ihres eigenartigen Wirkens“ zu beobachten27. Seine eigene Vorstellung von der Frömmigkeitsgeschichte und damit sein Arbeitsprogramm umschrieb Hempel so: „Sie ist als Weiterführung, aber nicht als Ablösung älterer Methoden, der literarkritischen und der religionsgeschichtlichen, gedacht, die sie vielmehr beide voraussetzt, insofern sie weder ohne die saubere Scheidung der Ströme der Überlieferung noch ohne die Handhabung des Vergleichs verwandter Erscheinungen bestehen kann. Sie will die inneren Schwingungen aufweisen, die bei den einzelnen Kultakten, Glaubensvorstellungen und Hoffnungsbildern die Seele des alten Israeliten durchzitterten. Sie will so historische Arbeit leisten, und kommt doch immer wieder an die Grenze, wo die systematische Frage nach der Werthöhe und der religiösen Reinheit des geschilderten Erlebens sich geltend macht und Berücksichtigung bis in den Stil und die Darstellungsart 22 Vorwort. 23 Ebd. 24  OLZ 29 (1926) 774. 25  Vgl. U. Köpf, RGG 4III, 305f. 26  Vgl. F. Baumgärtel, Die Eigenart der alttestamentlichen Frömmigkeit (1932); G. Quell, Das kultische Problem der Psalmen. Versuch einer Deutung des religiösen Erlebens in der Psalmendichtung Israels (1926). 27  ZAW 39 (1921) 96. Vgl. Baumgärtel a.a.O. 5; dort auch der Hinweis auf J. Köberle, P. Kleinert und E. Sellin als Vorläufer. R. C. Dentan, Preface to Old Testament Theology (21963) 30.111 vergleicht die Rolle des „Gefühls“ bei W. M. L. de Wette. Aber der Kontext ist sehr verschieden.

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hinein verlangt. Stossen wir hier auf echte Lebenskräfte, die von Gott stammen und zu Gott führen, auch uns zu Gott führen, dann verbietet sich ein räsonnierender Ton von selbst, und die Arbeit muss, stellenweise wenigstens, den Charakter des Zeugnisses tragen.“ Es folgen zwei Bestimmungen des Verhältnisses zur zeitgenössischen systematischen Theologie, eine positive und eine negative. Die positive: „Der aufmerksame Leser wird von selbst die Fäden sehen, die von meiner Arbeit zu neueren systematischen und religionspsychologischen Forschungen hinüberlaufen, vor allem die unausgesprochen vollzogene Auseinandersetzung mit Wobbermin [„religionspsychologischer Zirkel“] und Koepp [„Strukturerhellung“].“ Die negative: „Auch das wird, hoffe ich, eindrücklich heraustreten, wie die neueste Überspitzung des altcalvinischen finitum non capax infiniti wider die Schrift Alten Testamentes streitet. Diesen Menschen begegnete Gott in der Geschichte und in der Schöpfung; ihnen war die Geschichte das an sie ergehende ‚Wort‘.“28 Die damit fixierte Frontstellung gegen die Dialektische Theologie, namentlich gegen Karl Barth, blieb bestehen und wurde durch die Zeitereignisse noch schärfer und gereizter. Keine Dogmatik, schrieb Hempel 1961 und meinte die „Kirchliche Dogmatik“, könne „die von der Religionsgeschichtlichen Schule aufgezeigten Gegebenheiten aus der Welt schaffen“; wenn er in diesem Zusammenhang29 den Begriff der Frömmigkeitsgeschichte neben dem der Religionsgeschichte mit dem „Interesse terminologischer Klarheit bei der Strukturanalyse der subjektiven Seite der ‚Religion‘“ motivierte, griff er auf die ihm bleibend wichtigen Anregungen aus der systematischen Theologie der zwanziger Jahre zurück. Nach Hempels Tod hat sein Schüler Walther Zimmerli die „Antithetik von Erlebnis und Glaube“ als den „Standort“ und zugleich die Schwachstelle der Theologie des Lehrers bezeichnet30. Das oben wiedergegebene Programm steht im Vorwort des Buches „Gott und Mensch im Alten Testament. Studien zur Geschichte der Frömmigkeit“, das 1926 in Kittels „Beiträgen“ erschien. Dieses Buch bündelte Hempels bis dahin geleistet Arbeit und lieferte das Fachwerk für die künftig zu leistende. Es ist zugleich Religionsgeschichte Israels (mit ständigem Blick auf die Nachbarreligionen) und Theologie des Alten Testaments (unter Einbeziehung der Ethik) mit der Grundthese, dass „in dem Glauben an den Bund des sich in seiner Macht manifestierenden und fordernden Gottes mit dem Volke eine Doppelheit der Empfindung notwendig mitgesetzt [ist], die man vielleicht am besten auf die Formel Abstandsgefühl: Verbundenheitsgefühl bringen kann; es wird unsere Aufgabe sein, im einzelnen zu zeigen, wie diese beiden Gefühle die gesamte israelitische Frömmigkeit durchziehen, nicht als einander ausschliessende Gegensätze, sondern als polare Elemente des gleichen Gefühls28  Gott und Mensch (1926) Vf. (die Zufügungen in den eckigen Klammern von mir, R.S.). 29 RGG 3V, 993. 30  ZAW 78, VI.

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lebens, dem sie gerade in ihrem In- und Nebeneinander die charakteristische Prägung geben, und wie ein Teil der Geschichte der Frömmigkeit des Volkes in dem Ringen um ihren inneren Zusammenhang besteht.“31 Eine leichte Lektüre sind die 224 Seiten nicht, obwohl der Verfasser laut Vorwort auch an eine nichttheologische Leserschaft gedacht und für sie nicht nur alle hebräischen und griechischen Termini übersetzt, sondern auch die zentralen Texte in, wie ein Rezensent urteilt32, „– meist – geschmackvoller deutscher Übersetzung geboten“ hat, metrisch gegliedert und rhythmisiert, teils an Luther angelehnt, teils in eigenen etwas künstlich-markanten Wendungen. Überhaupt tendiert Hempels Sprache leicht zum Gewollten, Bombastischen, Überladenen, entsprechend der ständigen Gefahr einer inhaltlichen Überfrachtung – der Rezensent von eben hatte den Eindruck, „als ob das Ganze ruhig um etwa ein Drittel kürzer und damit dann gerade eindrucksvoller hätte gestaltet werden können“33. Hempel ist immer um einen strengen Gedankengang bemüht, aber er presst oft so viel in ihn hinein, dass es Anstrengung kostet, ihm zu folgen. Er scheint die Sorge zu haben, der Leser könne meinen, er habe irgend etwas nicht bedacht, und so demonstriert er fortwährend in Anmerkungen und Nachträgen, dass er alles kennt und weiß, auch das Entlegenste und vor allem das Neueste und Allerneueste; wenn er einmal etwas nicht sofort nach Erscheinen berücksichtigt hat, muss das an einem buchhändlerischen Versehen liegen34. Außerdem pflegt er mitzuteilen, er könnte auch noch den und den Gesichtspunkt behandeln, tue es aber diesmal nicht, habe es schon da und da getan oder werde es demnächst in anderem Zusammenhang tun. Das alles mag imponieren; der Wirkung von Hempels Schriften hat es kaum weniger geschadet als der geringe Kurswert der Frömmigkeitsgeschichte in der theologischen Diskussion der nächsten Jahrzehnte. Als das Buch erschien, hatte Hempel gerade seine erste ordentliche Professur angetreten, in Greifswald als Nachfolger von Otto Procksch. Es fällt auf, dass dort offenbar weder Procksch noch auch Kittel, der 1924 mit dem Versuch einer Berufung Hempels nach Leipzig einen Fehlschlag erlitten hatte35, von vornherein für ihn eingetreten waren36. Er hat im Rückblick „die Jahre in Greifswald als die menschlich glücklichste Zeit in seinem Leben“ bezeichnet37. In ihren Anfang fällt die Teilnahme an einem der legendären Altschen Lehrkurse des Deutschen evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem; das Vorwort von „Gott und Mensch“ ist datiert: „Auf der 31  A.a.O. 3. 32  J. Meinhold, ThLZ 61 (1936) 354 (zur 2. Auflage). Zimmerli spricht von einer „manchmal wohl etwas gewagten Übertragung der Prophetenworte“ (a.a.O. X). 33  Meinhold, ThLZ 52 (1927) 516. 34  Gott und Mensch 1403. 35  Vgl. ThZ 55 (1999) 350f. 36  Vgl. Weber 9768. 37  Ebd. 9766.

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Fahrt ins Heilige Land, am 5. August 1926“. Den obligaten öffentlichen Vortrag im Muristanhospiz hielt Hempel am 23. August über „Westliche Kultureinflüsse auf das älteste Palästina“38 – eine willkommene Gelegenheit für den gelernten Historiker und Lamprecht-Schüler, sein vielseitiges Können zu zeigen, namentlich in der Auswertung der Archäologie. Eine Freundschaft zwischen Alt und Hempel resultierte aus dem zweimonatigen Zusammensein nicht. Ich höre noch Alt gegen Anfang der fünfziger Jahre sagen: „Der Kollege Hempel muss nach wie vor immer vornedran sein“, und einige Jahre später Hempel: „Alt war nicht imstande, ein Buch zu schreiben, es reichte nur zu Aufsätzen.“ In Auftreten und Arbeitsweise waren beide sehr verschieden, obwohl sie beide die konservativ-lutherische Leipziger Tradition ihrer Wissenschaft repräsentierten und obwohl man auch bei Alts Arbeiten von „Strukturanalyse“ sprechen kann, allerdings fast ganz ohne die religionspsychologisch-dogmatische Ausrichtung. Insgesamt kam Alt gerade dadurch, dass er seine Thematik enger begrenzte als Hempel, zu einem genaueren Bild des alten Israel. Eine nähere Beziehung bestand zunächst zwischen Hempel und Alts nächstem Schüler Noth. Ihm ermöglichte Hempel die Promotion und die Habilitation in Greifswald, von ihm (und von K. Galling, den er von Greßmann „geerbt“ hatte) ließ er sich bei der Zeitschriftenschau der ZAW helfen, ihn nannte er noch 1934 seinen „Kollegen und Freund“39. Die Zeitläufte änderten das bis dahin, dass Hempel das Verfahren Noths mit der ältesten Geschichte Israels als „Nihilismus“ bezeichnete. Der Druckfehlerteufel machte daraus einen „Nihilimismus“40, worauf Noth, der im Unterschied zu Hempel Humor besaß, sich nachdenklich gab: „Ob das etwas noch Schlimmeres ist?“41 Mit der Nennung der ZAW wurde der folgenreichste Vorgang aus Hempels Greifswalder Zeit berührt: die Übernahme der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft. Am 7. April 1927 starb, gerade 50 Jahre alt, deren Herausgeber Hugo Greßmann auf einer Vortragsreise in Chicago. Schon der Jahrgang 1927 trug den Namen des 36jährigen Hempel auf dem Titel. Greßmann habe ihn, eröffnete er der Leserschaft, „für den Fall seines Todes […] zum Herausgeber bestimmt“42. Zum Hintergrund dürfte gehören, dass Hempel nicht lange vorher dem Greßmannschen Programm für die ZAW öffentlich eine weitgehende Zustimmung erteilt hatte, verbunden mit der Anregung, dass künftig „auch den Grenzfragen zwischen alttestamentlicher und systematischer Theologie das Blatt geöffnet sei“43. Greßmann, von dem Karl Barth mutmaßte, er habe „über die Frage: Was ist Theologie? noch keine fünf Minuten nach38  PJB 23 (1927) 52–92. 39  Die althebräische Literatur (1934) 203. Mit „Moth“ muss Noth gemeint sein. 40  ZAW 70 (1958) 169. 41 Congress Volume Oxford 1959 (1960) 2631 (Aufsätze zur Biblischen Landes- und Altertumskunde, 1971, I, 352). 42  ZAW 45 (1927) XXIII. 43  ThLZ 50 (1925) 102–05, Zitat 105.

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zudenken für nötig gehalten“44, hatte die Anregung sicherlich mit Wohlwollen aufgenommen, aber unversehens kam es an Hempel selbst, sie mit fraglos größerer Kompetenz zu verwirklichen. Wie er von der Funktion des Herausgebers der ZAW dachte, gab er zu erkennen, indem er Greßmann nachträglich den „Führer“ der Zeitschrift nannte45. Seine eigene Führerschaft sollte 32 Jahre dauern, länger als die jedes anderen Herausgebers, und sollte, wie er im Rückblick sagte, „gute und sehr böse Tage“ umfassen46 – wobei sein Urteil darüber, was gut und was böse war, hätte er es genauer ausgeführt, schwerlich auf allgemeine Zustimmung gestoßen wäre. Unstreitig hat seine rastlose Arbeit über mehr als ein Jahrzehnt den wissenschaftlichen Rang der ZAW gefestigt, ihren Informationswert gesteigert. Letzterem kam zugute, was sich auf die Dauer zugleich als stärkste Belastung herausstellte: Hempel drückte der Zeitschrift einen persönlicheren Stempel auf als alle seine Vorgänger und Nachfolger. Das trat natürlich am sichtbarsten in den redaktionellen Partien zutage. Hier hatte schon Greßmann regelmäßige „Bemerkungen“ bzw. „Mitteilungen des Herausgebers“ eingeführt, die Neuerscheinungen präsentierten, auf Funde und anderes Aktuelle aufmerksam machten und aus denen sich bald unter den Titeln „Wichtige Zeitschriften-Aufsätze“ und „Neue Bücher“ selbständige Rubriken ausgliederten, deren Aufgabe es war, „kurz zu charakterisieren und leise zu beurteilen“47. Hempel baute diese Ansätze zu einem System aus, in dem die „Chronik des Herausgebers“ den zentralen Platz einnahm. Man wurde so über alles und jedes ausgiebig auf den neuesten Stand gebracht und erfuhr zugleich, ob man wollte oder nicht, wie Hempel über die Dinge dachte und wie er sie (nicht nur „leise“!) beurteilte. Er sparte dabei ebensowenig wie mit Lesefrüchten der verschiedensten Art mit Hinweisen auf eigene Äußerungen, frühere und auch künftige. Nicht selten und kaum ungern führte er kleinere und größere Fehden, gegebenenfalls mit der Ankündigung, er werde „auch ferner dareinschlagen“48.Übrigens hatte man es auch im Aufsatzteil mehr als in anderen Zeitschriften mit dem Herausgeber selbst zu tun; Hempel stand immer in der Versuchung, dem, was er aus fremden Federn brachte, seine eigene Meinung hinzuzufügen. Und mag es auch zutreffen, dass er „immer wieder lieber auf einen eigenen Aufsatz verzichtet“ als „einem Anfänger die Möglichkeit beschnitten hätte, einen immerhin diskussionsfähigen Artikel […] herauszubringen“49 – zuerst und zuletzt hatte doch immer 44  Brief an M. Rade 7.11.1926, in: Karl Barth – Martin Rade, Ein Briefwechsel, hg. v. Chr. Schwöbel (1981) 218. S.o. 568. 45  ZAW 45, XXII. 46  ZAW 71 (1959) 278, wohl in Anknüpfung daran, dass sein Vorvorgänger K. Marti bei seinem Rücktritt von „guten und schlimmen Tagen“ gesprochen hatte (ZAW 41, 1923, V). 47  ZAW 44 (1926) 2981. 48  ZAW 52 (1934) 239. 49  ZAW 71 (1959) 278.

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er selber das Wort. Es gibt in der Wissenschaft nicht viele, die so oft „ich“ schreiben wie Hempel. In seiner „Führerschaft“ in der ZAW sah er offenkundig auch den Auftrag, bei möglichst vielen Gelegenheiten als eine Art Doyen der deutschen Alttestamentler das Wort zu nehmen. Man lese nur nach, wie er in den Adressen zu den 80. Geburtstagen von Duhm, Guthe, Budde und Dalman die Register zog!50 Sehr schnell bekam er Gelegenheit, über Deutschland hinauszugreifen. Es war etwas Neues gewesen, daß nach der großen Zäsur des Ersten Weltkriegs 1926 Hugo Greßmann zum winter meeting der Society for Old Testament Study nach London eingeladen und dort „als Vertreter der deutschen atl. Wissenschaft ebenso ehrenvoll wie herzlich begrüßt und daß der Wunsch nach guten Beziehungen zwischen den Gelehrten hüben und drüben von der SOTS ausgesprochen wurde und lebhaften Beifall fand“51. Nach Greßmanns Tod erklärte der Sekretär der SOTS, Theodore H. Robinson (1881–1964), dass „Germany could have found no better representative“. Er pries „the simple beauty of his character and the atmosphere of goodwill which radiated from his charming personality“ und schloss mit dem Satz: „To know him was to love him – and not a few of us knew him.“52 Derartige Gefühle weckte Hempel nicht; aber seine Fähigkeiten verschafften ihm einen Respekt, der sogar sein Verhalten nach 1933 und 1945 überdauerte. 1927 brauchte er nur auf dem von Greßmann gebahnten Weg weiterzugehen. Das erste Heft des Jahrgangs, „Dem Alttestamentlertage in Oxford gewidmet“ und mit Aufsätzen von Robinson, Oesterley, Welch, Mowinckel, Alt, Baumgartner und Stummer, war noch von Greßmann zusammengestellt und wurde von Hempel mit „Bemerkungen des Herausgebers“ abgeschlossen, in denen er ankündigte, er werde gemeinsam mit anderen an der international ausgerichteten Septembertagung der SOTS in Oxford teilnehmen53. Schon ein Jahr später konnte er berichten, dass die Society ihn zum Ehrenmitglied gewählt hatte54. Zu dieser Ehrung gesellte sich 1932 nach einer Vortragsreise in den Vereinigten Staaten und Kanada die entsprechende durch die Society of Biblical Literature and Exegesis55. Dazwischen lag eine Reihe von Vortragsreisen in die skandinavischen Länder, mit deren Wissenschaft sich Hempel nicht nur durch seinen Lehrer Söderblom verbunden fühlte. Den Höhepunkt seiner internationalen Aktivitäten bildete der Kongress, den er 1935 nach dem Vorbild von Oxford 1927 in Göttingen organisierte56. Es traf sich, dass in der feierlichen Eröffnungsveranstaltung den Versammelten seine soeben vom Ministerium bestätigte Wahl 50  ZAW 45 (1927) 161f.; 47 (1929) 81f.; 48 (1930) 81f.; 53 (1935) 1f. 51  ZAW 44 (1926) 76. 52  ZAW 45 (1927) V. S.o. 568. 53  ZAW 45 (1927) 160. 54  ZAW 46 (1928) 66. 55  JBL 52 (1933) iii. 56  Vgl. seinen Bericht ZAW 53 (1935) 293–310, aber auch R. Smend, VT 50 (2000) 3f.

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zum ordentlichen Mitglied der Göttinger Gesellschaft (heute Akademie) der Wissenschaften mitgeteilt werden konnte57. Dieser Kongress war zugleich der Höhepunkt seiner Göttinger Wirksamkeit. 1928 hatte er hier die Nachfolge des aus sehr anderem Holz geschnitzten Basler Liberalen Alfred Bertholet angetreten, mit dem ihm die doppelte Kompetenz auf den Gebieten des Alten Testaments und der allgemeinen Religionsgeschichte gemeinsam war. In Greifswald trat F. Baumgärtel an seine Stelle; hier lag die Gemeinsamkeit in der Frömmigkeitsgeschichte. Sprach Hempel später von seiner Greifswalder Zeit als der menschlich glücklichsten, so im Blick auf Göttingen von den „fruchtbarsten Schaffensjahren“58. Es entstanden, durchweg hervorgegangen aus Vorlesungen und Vorträgen vor sehr verschiedenem Publikum im In- und Ausland, drei Bücher und zahlreiche Aufsätze über eine ungewöhnlich große Vielfalt von Themen. Das erste Buch war „Altes Testament und Geschichte“ (1930, Vorwort 1929), wie „Gott und Mensch“ eine „Strukturanalyse“ mit den Stichworten Anthropozentrismus, werdender Theozentrismus, der nahe und der ferne Gott, die israelitische Psyche (voluntativer Charakter, rationalistische Komponente, impressionistischer Charakter, die Frömmigkeit wiederum als Abstands- und Verbundenheitsgefühl). 1930–34 folgte in Lieferungen „Die althebräische Literatur und ihr hellenistisch-jüdisches Nachleben“ in O. Walzels Handbuch der Literaturwissenschaft, im Stoff O. Eißfeldts ebenfalls 1934 erschienener Einleitung in das Alte Testament entsprechend, aber von ihr nach Hempels Absicht durch einen Zug „vom Buch zum Leben“ unterschieden59 – ein Motto, das er von Kittel hatte60. Wie bei Eißfeldt (und dessen Nachfolgern) werden zunächst ausführlich die „Formen“ vorgestellt, der Eißfeldtschen „Analyse der Bücher des Alten Testaments“ entspricht unter der Überschrift „Der Gang der Geschichte“ der Versuch, die Ergebnisse dieser Analyse in ihrer Hempelschen (von der Eißfeldtschen bei Licht betrachtet nicht sehr verschiedenen) Variante in einen „Geschichtsablauf“61 zu bringen. Unter den wenigen Versuchen, dem Schema der „Einleitung“ in Richtung auf eine Literaturgeschichte zu entgehen und sich damit der Vollstreckung von „Herders Testament“ zu nähern62, verdient dieser durchaus Respekt; an den Erfolg von Eißfeldts konventionellerem Lehrbuch, mochte es auch noch so trocken geschrieben sein, ist er trotzdem nicht herangekommen. Das dritte Göttinger Buch, als Seitenstück zu „Gott und Mensch“63 konzipiert, war „Das 57  Vgl. O. Eißfeldt, ThBl 14 (1935) 234. 58  Brief an den Dekan der theol. Fakultät vom 7.10.1961 (Universitätsarchiv Göttingen Theol PA 0114). 59  ZAW 52 (1934) 79, vgl. 50 (1932) 211–15. 60  ZAW 39 (1921) 94. 61  Die althebräische Literatur 5. 62  Vgl. H. Gunkel in: Die Kultur der Gegenwart, hg. v. P. Hinneberg I,7 (1906) 99. 63  Bzw. der 2. Auflage davon (1936).

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Ethos des Alten Testaments“ (193864). Den Inhalt dieser erneuten Strukturanalyse deuten die Kapitelüberschriften an: Die Volkssitte und ihre Lehrmeister, Kollektivismus und Individualismus, Die Gemeinschaft als ethisches Subjekt, Die religiöse Entscheidung und der „indirekte Weg“ der Lebenssicherung, Die Abgrenzung als religiöses und ethisches Prinzip. Nimmt man zu diesen drei Büchern die Aufsätze aus jenen Jahren hinzu, an ihrer Spitze das wertvolle Quartett in der Zeitschrift für systematische Theologie über Hiob (1929), den irrenden Glauben (1930), Gott, Mensch und Tier (1931) und Sünde und Offenbarung (1933)65, und bedenkt man, dass daneben der Cantus firmus der ZAW unvermindert weiterging, dann hat man eine höchst respektable Leistung vor sich. Aber damit ist noch nicht der ganze Hempel jener Jahre im Blick. Nicht nur als Kuriosität zitiere ich eine Situationsschilderung, die sein praktischtheologischer Kollege Birnbaum (1893–1987) damals von ihm gegeben hat: „Der sonderbare, fast arabisch aussehende Mann war ein rechtes Original im Göttinger Straßenbild: unterm linken Arm eine pralle Büchertasche, am rechten hing der Stock, die Hand voller Bücher, die halbabgebrannte Zigarette im Mund; begegnete man ihm, so begann er eine erregte große Manipulation, um zum ‚Deutschen Gruß‘ zu kommen: die Bücher aus der rechten Hand noch mit zur Tasche unter dem linken Arm, ebenso den Stock, dann die Zigarette zwischen die Finger der linken Hand, dann konnte er endlich den Arm zum Gruß erheben. Langsamer wanderte alles wieder rückwärts an seinen Platz.“66 Birnbaum und der „deutsche Gruß“, also „Heil Hitler!“: damit sind Tatbestände berührt, die man gern übersehen würde, aber leider nicht übersehen kann. Von den beiden heimlichen systematisch-theologischen Gesprächspartnern aus „Gott und Mensch“ fand er den einen, Koepp (1885–1965), in Greifswald vor, den anderen, Wobbermin (1869–1943), in Göttingen (und dann wieder in Berlin). Beide überragte nicht dem Körper, aber dem Geist nach bei weitem Emanuel Hirsch (1888–1972) in Göttingen, und ihm trat er näher als ihnen. Alle drei stießen früh zu den „Deutschen Christen“, und es kam nicht von ungefähr, dass er es ihnen gleichtat. Aber ganz so leicht wie mancher andere machte er es sich damit nicht, und es war wohl auch kein Zufall, dass er nie in die NSDAP eintrat. Nur daraus, dass er „immer vornedran sein musste“, und also aus Ehrgeiz und Machtstreben lässt sich sein Verhalten im Dritten Reich, an dessen Folgen er schwer hat tragen müssen, nicht erklären. Zu Anfang der dreißiger Jahre betätigte er sich im „Christlich-Sozialen Volksdienst“, einer kleinen Partei, der er nach eigener Angabe noch in der Reichtagswahl vom März 1933 die Stimme gab67. Damals hatte aber schon längst die 64  Das Erscheinungsdatum ändert nichts daran, dass es noch der Göttinger Zeit angehört; vgl. das Vorwort. 65  Wieder abgedruckt in Apoxysmata (1961). 66  W. Birnbaum, Zeuge meiner Zeit (1973) 217. 67  Weber 127f.

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NSDAP sein Interesse auf sich gezogen. Im Frühjahr 1932 besuchte er mehr als ein Dutzend ihrer Veranstaltungen an verschiedenen Orten und kam zu dem Urteil, dass diese Bewegung „in ihrem starken Siegeszuge das schärfste Gericht über die Kirche“ in sich schließe; ihr gelinge etwas, „was die Kirche hätte leisten sollen, aber nicht geleistet hat, die Durchsetzung des sozialen Gedankens in breiten besitzbürgerlichen und grundbesitzenden Schichten“. Hier liege aber zugleich „eine große Zukunftsmöglichkeit für die Kirche“. „Der hohe Schwung der sozialen Bewegung“ werde nur dann „Bestand haben können, wenn er sich auf die letzten Wurzeln in der christlichen Bruderliebe“ besinne, und diesen „Dienst der Läuterung und Stärkung der sozialen Gesinnung und Forderung“ könne „der nationalsozialistischen Bewegung wie unserem Volke überhaupt nur die Kirche leisten, indem sie das Bild Jesu als die letztlich zur sozialen Gesinnung und zur sozialen Hilfstat verpflichtende Kraft lebendig“ gestalte. Bewahre die Kirche „durch ihr Zeugnis von Gott und ihre lebendige Gestaltung des Bildes Jesu Deutschland vor einem Sichdurchsetzen des Heidentums in seiner gegenwärtig stärksten Partei“, dann werde sie „zugleich zur Retterin der ungeheuren deutschen Kulturwerte, die mit dem Christentum in Deutschland versinken und die Welt verarmen lassen würden“. Ausdrücklich wendet sich Hempel gegen eine Identifizierung der Kirche mit der NSDAP: „jede Festlegung auf eine Partei“ würde „ihr die Ausrichtung des Evangeliums an den Angehörigen anderer politischer Gruppen“ erschweren. Und ebenso ausdrücklich variiert er das zum „S“ der Partei Gesagte im Blick auf das „N“: „Nur der ‚Nationalismus‘ wird eine Zukunft haben, der sein Volkstum nimmt als eine Schöpfergabe Gottes, die als solche unter dem Willen Gottes steht, und es wäre das Ende eines deutschen Nationalismus, wenn er sich in eine Vergötzung des ‚deutschen Wesens‘ als einer naturhaften Größe hinein verlieren wollte.“68 Schon vorher hatte der Alttestamentler die „Geschichte der alttestamentlichen Religion überhaupt die Geschichte der Kritik am israelitischjüdischen Volkstum“ genannt und sie als „ernsteste Warnung“ verstanden, „das deutsche Nationalbewußtsein freizuhalten von den innerlich ‚jüdischen‘ Zügen, als hätte unser Volk als naturhafte Größe Anspruch darauf, von Gott in seiner Geschichte mehr gesegnet zu werden, als andere Völker!“69 Aus der Parole „Fort mit dem Alten Testament!“ machte Hempel einen Vortragstitel, aber so, dass er das Ausrufezeichen durch ein Fragezeichen ersetzte und die Frage mit einem klaren Nein beantwortete70. Manches in den wie immer gehaltvollen Ausführungen ist problematisch oder mindestens missverständlich, so der Satz, das Alte Testament sei ein „unterchristliches Buch“ – die „Werthöhen“Einschätzung des Frömmigkeitsgeschichtlers! –, aber das Ergebnis war damals nach Form und Inhalt keine Selbstverständlichkeit: „Wir danken unserm Gott, 68  L. Klotz (Hg.), Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen I (1932) 46.49.51f. 69  Altes Testament und völkische Frage (1931) 13f. 70  Als Broschüre erschienen 1932.

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daß wir mehr haben als nur das Alte Testament. Aber wir danken ihm, daß wir das Alte Testament auch haben!“71 Eine von Hempels Vorlesungen hieß „Das Alte Testament in der christlichen Kirche“. Für sie trieb er eine „ziemlich ausgedehnte Lutherlektüre“72, für sie untersuchte er das ihm in dieser Frage zentral wichtige Verhältnis des synoptischen Jesus zum Alten Testament73, und auf ihrer Basis führte er ein freundschaftliches Streitgespräch mit E. Hirsch, der in seiner Schrift „Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums“ (1936) die beiden Testamente in einen scharfen Gegensatz gestellt hatte. Von Hempels ausführlichem und redlichem Versuch, „die Analogie des Glaubens in seiner inneren Struktur und letzten Bewegungsrichtung aufzudecken“ und damit jenen Gegensatz zu mildern, zeigte sich Hirsch „gänzlich unerschüttert“74. Leider gab es zwischen beiden Herren keinen Streit darüber, wie man sich in der durch Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 hergestellten Situation zu verhalten habe. Sein Bewusstsein, in einer neuen und guten Ära zu leben, brachte Hempel auf mancherlei Weise zum Ausdruck, bis dahin, dass er die obligaten Nachträge zur Geschichte der althebräischen Literatur „am Tag der nationalen Arbeit 1934“ abschloss75; einem misstrauischen Leser fällt es danach schwer, die Datierung des Vorworts zur Neubearbeitung von „Gott und Mensch“ auf den 30. Januar 1936 für einen Zufall zu halten. Den Monat, der in Etappen eine weitere Machtergreifung brachte, die der Deutschen Christen, begann er am 2. Juli 1933 im Göttinger akademischen Gottesdienst nach dem Gesang von „Gott ist gegenwärtig“ und (stehend) „Ein feste Burg“ mit einer fulminanten Predigt, in der er angesichts dessen, dass die „kommende Woche […] das innere und das äußere Schicksal unserer evangelischen Kirche auf lange Jahre hinaus entscheiden“ werde, der Hoffnung Ausdruck gab, dass „das Werk der Einigung, das jetzt nach dem Willen des Präsidenten76 und dem Willen das Kanzlers und Führers in Angriff genommen wird, zu einem guten Ende hinausgeführt“ werde77. Eine dritte für Hempel relevante Machtergreifung fand in der Theologischen Fakultät statt: Hirsch wurde nach dem „Führerprinzip“ ihr Dekan und ernannte Hempel zu seinem Stellvertreter, der er bis zu seinem Fortgang aus Göttingen blieb. Sie duzten sich und beendeten auch inoffizielle Mitteilungen an den anderen mit „Heil Hitler!“78 Hempel war für Hirsch gerade bei heiklen Aktionen eine zuverlässige Stütze, so beim Oktroi des bereits erwähnten Birnbaum, den 71  A.a.O. 26. 72  ZAW 54 (1936) 301. Vgl. Das reformatorische Evangelium und das Alte Testament (LuJ 14, 1932, 1–32, auch Apoxysmata 230–57). 73  ZAW 56 (1938) 1–34. 74  E. Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, neu hg. v. H. M. Müller (1986) 126, vgl. 133–40. 75  S. 197. 76 Hindenburg. 77  Meine Zeit stehet in deinen Händen (1933) 3. 78  Beispiel: Hirsch am 6.9.1937 (Universitätsarchiv Theol PA 0114)

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auch in ihren Augen für das Amt eines Theologieprofessors nichts qualifizierte außer der Tatsache, dass er Deutscher Christ war. Hempels wichtigste Sonderleistung für die Fakultät war der Aufbau des Sprachenkonvikts (heute GerhardUhlhorn-Konvikt), in dem die Studenten neben dem Sprachunterricht „im Rahmen einer christlichen Hausordnung und einer straffen geistigen und körperlichen Erziehung zur Wehrhaftigkeit und Staatsbejahung Wohnung und Unterhalt gegen billiges Entgelt erhalten“ sollten79; 1935 berichtete er als Ephorus mit Genugtuung von einer „straffen nationalsozialistischen Erziehung unseres theologischen Nachwuchses“80. Der erste Inspektor des Stifts wurde 1932 der gerade promovierte Walther Zimmerli, der außer seinen vielseitigen wissenschaftlichen Interessen eine große Begabung für die Seelsorge besaß. Aber die Politisierung der Studentenschaft und Hempels hartes Regiment ließen ihn schon bald resignieren; im Sommer 1933 kündigte er und trat ein schweizerisches Pfarramt an. Als Hempel 1936 einen Ruf nach Berlin bekam, übrigens wieder in die Nachfolge Bertholets, setzte Hirsch alle Hebel in Bewegung, ihn zu halten. Was Hempel den Abschied nicht leicht machte, deutet die Sammelwidmung des „Ethos“ an seine „Göttinger Arbeits- und Wanderfreunde“ an oder auch die Widmung des Jesus-Aufsatzes an den Germanisten Edward Schröder (1858–1942) „in herzlicher Dankbarkeit“81 oder der Hinweis auf Anregungen des Gräzisten Max Pohlenz (1872–1962) im „Mittwochsabend“-Kränzchen82. „Interdisziplinäres“ Arbeiten und Diskutieren gewohnt, fühlte er sich auch in der Akademie der Wissenschaften ganz am Platz; er trug dort nicht nur über eine hebräische Pentateuch-Handschrift vor83, sondern auch über Fragen wie die Mehrdeutigkeit der Geschichte als Problem der prophetischen Theologie84 und politische Absicht und politische Wirkung im biblischen Schrifttum85. Aber die Berliner ließen nicht locker, und die Aussicht auf den seit 1935 einzigen Lehrstuhl seines Fachs in der Reichshauptstadt musste gerade ihn verlocken. So verließ er Göttingen zum Wintersemester 1937/38. Wie schon in Greifswald trat F. Baumgärtel an seine Stelle, allerdings nur bis 1941; länger, ließ er unter der Hand wissen, habe er es mit Hirsch nicht ausgehalten. Hempel stand in Berlin eine noch kürzere Wirksamkeit bevor, wenn man einrechnet, dass er im Januar 1940 als Militärpfarrer eingezogen wurde. 1938 gelangen ihm noch einmal zwei Auslandsreisen, nach Brüssel zum internationalen Orientalistenkongress und nach Oxford zur Jubiläumstagung der Society for Old Testament Study, in deren Festband das Ehrenmitglied mit 79  Weber 118. 80  Ebd. 119. 81  ZAW 56 (1938) 1. 82  Gott und Mensch 2324. 83  NGWG.PH NF III, 1 (1937) 227–37. 84  Ebd. V, 1 (1936) 1–44. 85  NGWG Jahresbericht 1937/38, 42–59.

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zwei Aufsätzen figurieren durfte86. Der Berliner Dekan buchte diese Reisen als Erfolge „in Bezug auf kulturpolitische Auslandspropaganda“87. In der Fakultät war Hempel das einst von H. L. Strack (1848–1922) gegründete Institutum Judaicum unterstellt, dessen Arbeit zwar ruhte, für dessen künftige Nutzung er aber auf Ersuchen des Universitätskurators einen Plan entwarf. Er erklärte es für die Aufgabe des Instituts, „die religiöse Komponente des Judentums mit den Methoden protestantischer Religionsforschung zu untersuchen, den Wesensunterschied christlicher und jüdischer Religion herauszustellen und ihn den Theologiestudenten einzuprägen“. Begründung: „Die vielfach unter den älteren Theologen noch zu beobachtende Unsicherheit in der Anwendung rassischen Denkens auf religiösem Gebiete und in seiner Auswirkung im kirchlichen Handeln darf sich bei der jüngeren Generation nicht wiederholen.“88 Hempel ließ sich auch zur Mitarbeit in dem berüchtigten „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ heranziehen. Was das Alte Testament angeht, senkte er sein Niveau nicht so tief wie die Jenaer DC-Professoren, die dort das Sagen hatten und die ihrem Kollegen Gerhard v. Rad seit Jahren das Leben so schwer machten. Aber was er auf einer Tagung des Instituts in Eisenach im März 1941, aus Frankreich angereist, einer zahlreichen Hörerschaft über „Die Aufgabe von Theologie und Kirche von der Front her gesehen“ vortrug, liest sich beklemmend genug89. Der Redner sagt in der Substanz dasselbe wie 1932/33, aber er spitzt es nun auf „die Grundfrage dieses Krieges“ zu, die er in der „Auseinandersetzung mit England“ sieht, genauer in der „Niederwerfung Englands“, die in „die Verantwortung unseres Volkes und unserer Kirche“ falle, die „die Verantwortung für die Geistigkeit des Abendlandes überhaupt“ sei. Für die Theologie bedeute das, „daß nun endgültig ein Trugbild zu Ende geht, das schon vor dem letzten Kriege, vor allem aber im [Weimarer] Zwischenreich, eine Last für uns gewesen ist, das Trugbild des tieferen Wahrheitsgehaltes des anglo-amerikanischen Christentums gegenüber der deutschen Ausprägung des christlichen Glaubens“90. In der Auseinandersetzung mit der englischen (und in ihrem Gefolge der nordamerikanischen) Religiosität vollziehe sich zugleich „die elementare Auseinandersetzung mit jüdischer Verfälschung christlichen Glaubens, die das überweltliche Heilsgut aufs engste verbindet mit der Weltherrschaft hier in der Zeit“91. Mit den Deutschen nimmt der Redner ihre „germanisch-nordischen Brüder“ zusammen. „Wir haben christlichen Glauben niemals anders als in nationaler und rassischer Differenzierung“, und so entspricht es der „Schöpfungswirklichkeit Gottes“, „daß die nordisch-germa86  Record and Revelation, ed. by H. W. Robinson (1938) 28–73. 87  Weber 142. 88  Weber 145. 89  Erschienen im Sitzungsbericht des Instituts und als Sonderdruck, nach dem ich zitiere. 90  Ebd. 3f. 91  Ebd. 5.

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nische Ausprägung der einen uns gegebenen Heilswirklichkeit für uns die einzig legitime und einzig vollziehbare ist!“92 Anderthalb Jahre später konnte Hempel es nicht unterlassen, in der „Chronik“ der ZAW Ausführungen mitzuteilen, die 1939 wegen seiner Einberufung nicht vollendet worden waren. Sie beginnen: „Der politische Existenzkampf zwingt die deutsche Wissenschaft, wie auch unsre Freunde, Mitarbeiter und Leser in den neutralen Ländern verstehen werden, zur Prüfung ihres Daseinsrechtes in der Schicksalsstunde der Nation, und die Theologie ist einer solchen Rechtfertigung vor sich selbst, vor dem Gewissen der Theologen, nicht enthoben. Im Rahmen der Theologie aber ist heute in besonderem Maße die ATliche Forschung, die sich gefragt sieht und sich selbst fragt, in welcher Vollmacht sie ihre Arbeit unter dem Dröhnen der Kanonen weitertreibt.“93 Was den „Existenzkampf“ betrifft, so wird eine Seite weiter „der Gegensatz zwischen dem Dritten Reiche und dem Judentum als ein Kampf auf Leben und Tod“ bezeichnet, wobei nicht der leiseste Zweifel bestehen kann, auf welcher Seite der Schreibende steht. Hat er sich nicht vorgestellt, wie das auf die allermeisten der „Freunde, Mitarbeiter und Leser in den neutralen Ländern“ wirken musste, und hat das Ehrenmitglied der Society for Old Testament Study und der Society of Biblical Literature and Exegesis nicht bedacht, dass immer noch das eine oder andere Exemplar der ZAW in britische oder amerikanische Hände gelangen könnte? Auf seine wortreichen Ausführungen über jene „Vollmacht“ sei hier verzichtet und nur der Schluss der „Chronik“ mitgeteilt: „Möchte die Stunde nicht fern sein, in der der deutsche Sieg auch der wissenschaftlichen Arbeit wieder neue Entfaltungsmöglichkeiten gibt. Auch dafür fahre ich heute Nacht wieder zu meiner Truppe (FPN 10673).“94 Seine Truppe: das konnte im Lauf des Krieges eine Vielzahl von Fronten bedeuten. 1944 berichtete Hempel in einer Rezension, das betreffende Buch sei mit ihm „vom Westwall nach Frankreich und Flandern, nach Norwegen und in den Osten gewandert“, die Rezension schließe er „nun endlich nach längerem Lazarettaufenthalt abermals im Westen ab“95. Privat und öffentlich beschwor er nicht selten Situationen auf den Kriegsschauplätzen, so in Eisenach: „Wenn man auf einer Beobachtungsstelle bei Calais am Scherenfernrohr steht und einen deutschen Flugzeugangriff auf einen englischen Hafen verfolgt, oder wenn man sich nachts in einer Flakstellung aufhält, die bereit ist, einen englischen Bombenangriff abzuwehren …“96 In markigem Landserton begann er in Eisenach: er werde keinen ausgearbeiteten Vortrag halten, denn: „Für derartige Dinge hat man, Gott sei Dank, an der Front keine Zeit.“ Aber der Vortrag erlaubt keinen Zweifel daran, dass Hempel seinen Beruf als Seelsorger der Sol92  Ebd. 7. 93  ZAW 59 (1942/43) 211. 94  ZAW 59, 215, geschrieben am 21. Oktober 1942. FPN bedeutet Feldpostnummer. 95  ThLZ 69 (1944) 158. 96  A.a.O. 3.

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daten in oft schrecklichen Situationen mit großer Hingabe erfüllte, und wohl auch daran, dass er bei aller Identifikation mit diesem Krieg nicht einfach die billig-pathetischen „Kriegspredigten“ hielt, die 1914–18 fast die Regel waren97. 1945 wurde er in Holland gefangengenommen, die Zeit bis März 1947 verbrachte er zunächst im Gefangenenlager und dann, seit einer Erkrankung in Russland geschwächt, im Lazarett. Das Berliner Haus war durch Bomben zerstört und aller dortige Besitz verloren, der Rückkehr an die Universität stand Hempels Haltung im Dritten Reich als unüberwindliches Hindernis entgegen; die kirchlichen Bedenken, vertreten durch Bischof Dibelius, dürften den Ausschlag gegeben haben. Ein privater Fühler nach Göttingen, wo Hempels früherer Lehrstuhl nach Baumgärtels Fortgang an die Forstliche Fakultät übergegangen war, hatte das gleiche Ergebnis98. So hielt Hempel sich und seine Familie zunächst mit Übersetzungen und Vorträgen notdürftig über Wasser, bemühte sich, auf die Dauer erfolgreich, um die formelle „Entnazifizierung“ und erreichte im Frühjahr 1947 die Aufnahme in den Dienst der Braunschweigischen Landeskirche. Bis 1949 war er Pfarrverweser im dortigen Gebhardshagen, von 1949 bis 1957 Pfarrer in Salzgitter-Lebenstedt, dies allerdings aufgrund des Urteils der kirchlichen Spruchkammer nur unter einigen Bedingungen, darunter der, dass er keine Pension beziehen würde. Über seine Tätigkeit in der großen und schwierigen Industriegemeinde ist von allen Seiten mit Hochachtung gesprochen worden. In die theologischen Gedanken, die ihn dabei bewegten, hat er 1952 in dem Aufsatz „Das Alte Testament im Religionsunterricht“ einen Einblick gegeben99. Es war für Hempel selbstverständlich, dass die ZAW nach dem Krieg in seiner Hand bleiben musste, und er konnte darauf bauen, dass der Verlag de Gruyter ein Interesse daran hatte, seine erprobten Fähigkeiten weiter zu nutzen; in diesem Sinne verständigte man sich im Laufe des Jahres 1946. Aber am 2. Januar 1947 musste Hempel an den Verlag schreiben: „Wie ich höre, hat Prof. Bentzen– Kopenhagen gegen die ‚Chronik‘ 1942/3 Sturm gelaufen und einige Leute verrückt gemacht. Ich werde nach eingehender Korrespondenz für das erste Heft eine Erklärung loslassen, die die Gemüter, hoffe ich, beruhigen wird.“100 Das Ergebnis der „eingehenden Korrespondenz“ – von der fast nichts erhalten ist – war zunächst Hempels Weigerung, „ohne die konkreten Vorwürfe gegen seine Person zu kennen, von der Herausgeberschaft zurückzutreten“101 – als ob der Hinweis auf jene „Chronik“ kein konkreter Vorwurf gewesen wäre und als ob es nicht über alles Einzelne hinaus eine Gesamthaltung gewesen wäre, durch die 97  Vgl. den Hinweis auf „gar manche Sünden der Kriegspredigt“ ZAW 54 (1936) 302, bei dem allerdings eher an die gegnerische Seite gedacht sein dürfte (s. ZAW 59, 211f.). 98  Ob es mit den bei Weber 167486 erwähnten „Anfragen“, sogar „Rufen“ aus Heidelberg und Münster etwas auf sich hat, kann ich nicht beurteilen. 99  Der Weg zur Seele IV, 257–64, auch Apoxysmata 319–28. 100  Weber 186. 101  So im September 1948 an Paul Kahle (Weber 187).

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er sich und die Zeitschrift diskreditiert hatte. Das zu begreifen und die einzig mögliche Konsequenz zu ziehen, die in seinem Rücktritt gelegen hätte, war der sonst so kluge Mann völlig außerstande. Nur zögernd fand er sich damit ab, dass ihm wenigstens auf dem Titelblatt in dem unbescholtenen Otto Eißfeldt ein Mitherausgeber und dazu noch ein dreizehnköpfiges Gremium beigesellt wurde, in dem Ausländer die große Mehrheit bildeten. Beirren ließ er sich dadurch nicht; er „führte“ die Zeitschrift weiter, wie er es von Anfang an getan hatte. Die „Chronik“ des ersten Nachkriegsbandes, abgeschlossen am 8. Mai (!) 1948, beginnt mit einem Gedenken an drei am Ende des Krieges gefallene Mitarbeiter, und dann wird die Erklärung „losgelassen“, die „die Gemüter beruhigen“ soll: „[…] Ich hätte jene, mir damals um der Zukunft der ZAW willen notwendig erscheinenden Sätze [in der Chronik 1942/3] nicht geschrieben, wenn ich gewußt hätte, was bereits geschehen war, und bis zu welchen Dingen sich der Antisemitismus mit der Verschärfung der Kriegslage steigern würde. Es war an sich falsch, in der ZAW als einer internationalen Zeitschrift zu einer Frage der deutschen Politik irgendwie das Wort zu nehmen. Wenn man aber damals das jüdische Problem überhaupt anrührte, wäre eine Warnung vor den Auswüchsen des Antisemitismus erforderlich gewesen, der sich durch seine Konsequenzen als Geisteshaltung abendländischer und erst recht christlicher Menschen unmöglich gemacht hat. Ich hoffe, durch dieses offene Wort des Bedauerns und der Zurücknahme die Bahn wieder freigemacht zu haben für die übernationale und überkonfessionelle Zusammenarbeit an der ZAW.“102 Diese Sätze waren kaum dazu angetan, alle Gemüter zu beruhigen. Sie bewogen vielmehr Alt, v. Rad und Noth, nicht mehr in der ZAW zu publizieren103, und sie trugen entscheidend dazu bei, dass in den Niederlanden die internationale Zeitschrift Vetus Testamentum ins Leben gerufen wurde. Ihr Herausgeber war P. A. H. de Boer (1910–89), bei dem Hempel noch vor wenigen Jahren „eine der […] deutschen Sprache (und zum Teil der deutschen Forschung) gegenüber weniger abweisende Haltung“ angemahnt hatte – unter Hinweis darauf, dass die Zukunft auch der holländischen alttestamentlichen Wissenschaft „von dem Sieg der deutschen Waffen über den Bolschewismus“ abhänge104. Das deutschsprachige Mitglied im Editorial Board von Vetus Testamentum wurde Noth, das erste Heft eröffnete 1951 ein Artikel von Alt. Trotz allem bleibt bewundernswert, mit welcher Energie Hempel auch während der Pfarrerzeit dafür arbeitete, in der Wissenschaft nach wie vor „vornedran“ zu sein. Schon im zweiten Nachkriegsband der ZAW verwendete er 22 Seiten der „Chronik“ und ganze Partien der Zeitschriftenschau auf die „palästinischen Handschriftenfunde“, wobei er sich in detaillierteste Dis102  ZAW 61 (1945/48) 231f. Vgl. dazu F. Crüsemann, WuD 20 (1989) 101f. 103  Einzig seine seit zwei Jahrzehnten regelmäßig gelieferten begrenzten Beiträge zur Zeitschriftenschau ließ Noth weiterlaufen. 104  ZAW 60 (1944) 1521.

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kussionen einließ105. Die Qumrantexte benutzte er auch, um in der Göttinger Akademie wieder Fuß zu fassen106. Schon am ersten Kongress der International Organization of Old Testament Scholars (später: for the Study of the Old Testament), 1953 in Kopenhagen, der Stadt Aage Bentzens, nahm er teil, ergriff in den Diskussionen das Wort und schrieb hinterher einen gewohnt anspruchsvollen Bericht107; dass ihm ausländische, namentlich jüdische Teilnehmer den Handschlag verweigerten, schien ihn nicht zu beirren. Die deutsche theologische Bühne betrat er noch einmal: er unterrichtete den Berliner Theologentag 1956 in einem 75minütigen materialreichen Hauptvortrag über „Altes Testament und Religionsgeschichte“; dessen letzte Worte waren: „Dixi et salvavi animam meam.“108 Literarisch blieb er ständig präsent durch seine laufenden Berichte und Stellungnahmen in der ZAW, aber er suchte auch durch den großen Aufsatz „Glaube, Mythos und Geschichte im Alten Testament“109 in die Debatte einzugreifen, die damals im Anschluss an R. Bultmanns Entmythologisierungsaufsatz die Gemüter bewegte. In all diesen Jahren war Hempel darauf aus, wieder an eine Universität zu kommen. Dafür erwies sich als günstig, dass in Göttingen seit 1950 sein Schüler Zimmerli saß, der ihm die Treue hielt, obwohl der Lehrer ihm das theologisch, politisch und auch menschlich alles andere als leicht machte. Die Göttinger Fakultät war in den fünfziger Jahren noch stark vom Erbe der Bekennenden Kirche geprägt, und niemand in ihr, auch Zimmerli nicht, freute sich darauf, in Hempel jemanden am Tisch sitzen zu haben, der mit diesem Erbe nicht das Geringste im Sinn hatte. Aber Hempel drängte und hatte es der ebenso beharrlichen wie selbstlosen Fürsprache Zimmerlis zuzuschreiben, dass er, 1955 zum Honorarprofessor und 1958 zum emeritierten Ordinarius ernannt, sein Zelt noch einmal in Göttingen aufschlagen konnte. Er musste ohne seine Frau kommen, die 1956 gestorben war; sie hatte ihn seit der Heirat (1922) bei seinen Arbeiten durch Lesen der Korrekturen, Anfertigung der Register und anderes unterstützt und hatte auch eigene Aktivitäten entfaltet, zum Schluss als Landessozialrichterin in Celle und als Ratsherrin; von sechs Kindern überlebten ihn zwei. Seit einer schweren Erkrankung im Jahr 1958 wurde er nie mehr ganz gesund; 1960 musste er deswegen die ZAW an G. Fohrer (1915–2002) weitergeben, 1963 die bis dahin gern geübte eingeschränkte Vorlesungstätigkeit einstellen. 1959 schwächte er seine ohnehin schwierige Stellung in der Fakultät durch den schon juristisch aussichtslosen Versuch, auch für seinen 1945 pensionierten Freund Hirsch die Stellung eines Emeritus mit vollen Rechten zu erreichen; 105  ZAW 62 (1950) 246–68.284–90. 106  NAWG.PH 1949, 411–38; später ausführlich fortgesetzt; ebd. 1961, 281–374. 107  ZAW 65 (1953) 294–96. 108  ThLZ 81 (1956) 259–80. 109  ZAW 65 (1953) 109–67, im folgenden Jahr separat.

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diesen Versuch hatte 1952 und 1954 schon beider Gesinnungsgenosse Birnbaum unternommen110. Zu seinem 70. Geburtstag stellte Hempel sich eine Festschrift aus eigenen Aufsätzen zusammen und gab ihr den Titel „Apoxysmata. Vorarbeiten zu einer Religionsgeschichte und Theologie des Alten Testaments“. Mit dem griechischen Wort demonstrierte er wieder einmal seine Bildung; selbst Fachleute mussten nachschlagen, dass es „Späne“ bedeutet. Aus dem Untertitel lässt sich sowohl Hoffnung als auch Resignation herauslesen. Wie auch immer: Hempel hat die Synthese, die ihm offenbar über „Gott und Mensch“ und „Ethos“ hinaus vorschwebte, nicht zustande gebracht, obwohl er das Material in einer Vollständigkeit zur Hand hatte wie kein zweiter. Aber vielleicht war es neben der Forderung des Tages, wie er sie verstand, gerade dieser Umstand, der ihn hinderte, aus unzähligen vorliegenden Teilen – die „Apoxysmata“ sind ja nur eine sehr kleine Auswahl – ein Ganzes zu machen. Der Doppeltitel „Religionsgeschichte und Theologie“111 scheint anzudeuten, dass Hempel vorhatte, über das Programm der Frömmigkeitsgeschichte von 1926 in doppelter Beziehung hinauszugehen: durch Ausdehnung auf diejenigen religiösen Phänomene, die nicht durch den Begriff der Frömmigkeit gedeckt sind, und durch die Einbeziehung der Wahrheitsfrage, die über „die systematische Frage nach der Werthöhe und der religiösen Reinheit des geschichtlichen Erlebens“ hinaus „ihren Maßstab an nichts anderem finden kann als an der Wirklichkeit Jesu und des NT“112. Als Hempel das schrieb, hatte er gerade im ersten Band der v. Radschen „Theologie“ lesen müssen, diese Disziplin habe sich, indem sie sich „als einen Zweig der Religionswissenschaft verstand“ und „ihre Aufgabe in der Erstellung einer Frömmigkeitsgeschichte […] sah, […] gegen die Schrift selbst gewandt“113. Das verletzte ihn114 und war vielleicht ein Beweggrund für die Ausweitung des eigenen Programms; er konnte noch erleben, dass v. Rad seine Formulierung präzisierte und ein wenig abmilderte115. Dass die „Religionsgeschichte und Theologie des Alten Testaments“ ungeschrieben blieb, ist umso mehr zu bedauern, als ihre „Vorarbeiten“ in den entsprechenden Werken anderer Autoren längst nicht so sehr ausgewertet worden sind, wie sie es verdienten; am meisten findet sich immer noch bei W. Zimmerli, der Hempels Schwächen, aber auch seine Stärken kannte. Bis zu seinem Tod am 9. Dezember 1964 blieb Hempel tätig. Er suchte junge Leute zu fördern, legte sich noch einmal mit einem Kollegen 110  Vgl. R. P. Ericksen, Theologians under Hitler (1985) 192f. 111  „... des Alten Testaments“ kann sich dabei eigentlich nur auf „Theologie“ beziehen, denn eine „Alttestamentliche Religionsgeschichte“ (R. Smend 1893) war längst ein Anachronismus. 112  BiOr 15 (1958) 208, vgl. Gott und Mensch 1V. 113  G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I1 (1957) 120. 114  BiOr 15, 212. 115  Theologie I 4 (1962) 127.

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an116,vollendete eine Serie von Aufsätzen über Begriffe des Symbols und der Repräsentanz117 und schrieb zuletzt noch ein Buch: Geschichten und Geschichte im Alten Testament bis zur persischen Zeit (1964), eine gänzliche Neubearbeitung von „Altes Testament und Geschichte“ (1930). Im Vorwort bat er den Leser, „bei seiner Lektüre die Anfechtungen des Glaubens und des Gewissens mitzuhören, mit denen ein Mann, der den Entscheidungen seiner Zeit als Forscher, als Seelsorger und als Soldat standzuhalten hatte, ringen mußte und muß, der sich bemüht, nicht zu resignieren: ‚Und Gott hat es gelitten, wer weiß was er gewollt!‘“ Um dieselbe Zeit schrieb er in einem Rundbrief aus dem Krankenhaus an Angehörige und Freunde über die Jahre nach 1933: „Ich muß bekennen, daß ich zu einer Zeit, als die Schleier gefallen waren, nicht die innere Entschlußkraft gefunden habe, mich von dem, was ich nun als Irrtum erkennen muß und damals hätte erkennen können, zu lösen. Das bleibt eine Schuld, die ich vor Euch einmal nüchtern und klar bekennen muß, ohne nun über den Zeitpunkt zu urteilen, an dem Gutgläubigkeit in schuldhafte Leichtgläubigkeit umschlug.“118 Der Unbeteiligte hat diese Worte, nachdem sie einmal öffentlich geworden sind, zu respektieren.

116  Mit J. Ziegler über die Septuaginta-Vorlage im Deuteronomium (ZAW 73, 1961, 87– 96). In dieser Frage nahm Hempel seit seiner Ausgabe des Deuteronomiums in Kittels Biblia Hebraica (1935) eine besondere Zuständigkeit für sich in Anspruch. 1960/61 dürfte das größere Recht auf Seiten Zieglers gelegen haben. 117  Der Symbolismus von Reich, Haus und Stadt in der biblischen Sprache (WZ[G].GS 5, 1955/56, 123–30, Das Bild in Bibel und Gottesdienst (1957), Heilung als Symbol und Wirklichkeit im biblischen Schrifttum (NAWG.PH 1958, 237–314), Die Lichtsymbolik im Alten Testament (StGen 13, 1960, 352–68). 118  Zimmerli, ZAW 78 (1966) IX.

Wilhelm Vischer 1895–1988

Es gibt Autoren, deren Name unlöslich mit dem Titel eines ihrer Bücher und der dadurch bezeichneten Sache verbunden ist. Zu ihnen gehört Wilhelm Vischer, dessen „Christuszeugnis des Alten Testaments“ in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts „das alttestamentliche Buch unserer Tage“ genannt werden konnte1. Über den Autor allerdings musste am Ende des Jahrhunderts einer seiner Schüler die Feststellung treffen: „Die heutigen jungen Theologen kennen ihn kaum mehr – so wenig wie seinen theologischen und persönlichen Freund Karl Barth.“2 Bei Vischer wirkte ein gewisses Außenseitertum mit, das er auch selbst empfand und in dem er sich ganz gut eingerichtet hatte. Als der eben zitierte Schüler ihn freudig darauf ansprach, dass auch G. v. Rad sich an der Festschrift zu seinem 65. Geburtstag beteiligen wolle, erwiderte er: „Ach weißt du, meine Kollegen, die Alttestamentler, halten mich im Grunde für einen Hofnarren.“3 Eine andere und richtigere Assoziation hatte Karl Barth. „Wir kennen dich“, schrieb er dem Freund, „als einen freien, kindlichen Troubadour des lieben Gottes“ – woran er einiges Speziellere anschloss, beginnend: „aber doch auch als einen authentischen Erben und Pfleger altbürgerlich baslerischer Stadt- und Familientradition“4. In der Tat: Vischer war, viel mehr als Barth, zunächst ein in der Wolle gefärbter Basler. Geboren war er nicht in Basel, sondern in Davos, wo sein Vater, der liberale Neutestamentler Eberhard Vischer (1865–1946, seinerseits ein gebürtiger Göttinger!), als Pfarrer wirkte, bevor er sich in Basel habilitierte, um wenig später den Lehrstuhl Franz Overbecks einzunehmen. Ihm waren bereits sein Großvater, der Gräzist Wilhelm Vischer I (1808–1874), und sein Vater, der Historiker Wilhelm Vischer II (1833–1886), als Basler Professoren vorangegangen; der Großvater hatte 1869 als Universitätskurator die Berufung 1  R. Abramowski, ThR 9 (1937) 91. 2  H.O. Kühner, ThZ 55 (1999) 369. 3  H.O. Kühner bei St. Felber, Wilhelm Vischer als Ausleger der Heiligen Schrift (1999) 111446. – Auf Felbers Buch (im Folgenden: Felber), das auch eine zuverlässige Biographie enthält, sei hier ein für allemal verwiesen. 4  K. Barth, Offene Briefe 1945–1968 (1984) 359.

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Nietzsches durchgesetzt5. Unser Alttestamentler hieß wohl nirgends „Wilhelm III“; wie in seinem Fach war er auch in der Basler Universität eher ein Außenseiter. Aber er stand, ohne davon viel Wesens zu machen, mit völliger Selbstverständlichkeit in der Kontinuität seiner familiären Tradition. Seine Mutter Valérie Vischer-Koechlin, ebenfalls aus bester Basler Familie, gehörte zu den Verehrern des jüngeren Blumhardt. Sie wirkte darauf hin, dass der Sohn anderthalb Jahre seiner frühen Schulzeit in Blumhardts Kinderheim im schwäbischen Jebenhausen verbrachte. Wenn in seinem späteren Leben und Denken auf dem Hintergrund einer natürlichen Frömmigkeit und als deren Ausdrucksformen Elemente von Sozialismus und Eschatologie eine bestimmende Rolle spielten, dann wurde dafür hier der Grund gelegt. Über die Folgezeit hat er berichtet: „In der Schule hatte ich eine ständige Angst und stieg nur mühsam von einer Klasse in die höhere. Umso wohler war es mir im Freien bei Spiel und Kampf. […] Erst in den oberen Klassen des humanistischen Gymnasiums bekam ich Lust, aus Büchern zu lernen, besonders die griechische Sprache, ihre klassische Literatur und auch das Neue Testament. Noch anregender als die Schule war die Pädagogia6, wo wir unter Freunden unsere begeisternden Entdeckungen auf vielen Gebieten des Lebens, der Wissenschaft, der Dichtung und der Kunst austauschten. Oft fuhren wir mit meinem Weidling7 auf dem damals noch ungestauten Rhein. Mit Lust spielte ich Flöte. Noch lieber sang und singe ich bis zum heutigen Tag.“8 Was die Musik angeht, genüge hier im übrigen der Hinweis, dass er seinem ältesten Sohn den Namen Wolfgang Amadeus gab. In jungen Jahren hatte er eine zeitlang „aus der akademischen Tradition [seiner] Familie ausbrechen und als Schriftsetzer für eine gerechtere Ordnung unter Menschen kämpfen wollen“, doch dann ließ er sich vom Vater zum Studium der Theologie bestimmen9. Er betrieb es seit Sommer 1913 zwei Semester in Lausanne, vier in Basel, drei in Marburg und dann noch eins in Basel. Gleich zu Anfang hatte er vielfältig Glück mit dem Alten Testament: noch vor Studienbeginn lernte er Hebräisch im Gymnasium bei Bernhard Duhm, in Lausanne arbeitete er anhand von Gunkels Kommentar die Genesis durch, im Sommersemester 1914 ließ er sich von Albrecht Alt während dessen leider nur kurzer Basler Gastrolle mehrfach einladen und über das Land Palästina belehren. Ähnliches widerfuhr ihm in der Marburger Zeit durch Hermann Gunkel, der ihn und einen Kreis von Mitstudenten in einem Gießener Café mit der alttestamentlichen Gattungsforschung vertraut machte. Sein wichtigster 5  Vgl. A. Staehelin, Professoren der Universität aus fünf Jahrhunderten (1960) 140f.182f.298f. 6  Verbindung der Basler Gymnasiasten. 7  Noch heute gebräuchliches Rheinboot. 8  So der selbstverfasste Lebenslauf, der nach Basler Sitte bei der Trauerfeier verlesen wurde und in dem Gedenkheft „Zur Erinnerung an Wilhelm Eduard Vischer-Stähelin“ abgedruckt ist, S. 3f. 9  Gedenkheft (Anm. 8) 4.

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Lehrer in Marburg war der liberale Neutestamentler Wilhelm Heitmüller (1869–1926); in eine nähere persönliche Beziehung trat er zu dem Privatdozenten Rudolf Bultmann (1884–1976). Auch die Marburger Philosophen, voran der Neukantianer Paul Natorp (1854–1924), scheinen ihn beeindruckt zu haben. Er hatte Horizont und ein weites Herz, und so nannte er diese Namen noch nach Jahrzehnten in Verehrung und Dankbarkeit, obwohl ihre Träger in seinem spezifischen theologischen Denken kaum Spuren hinterlassen hatten – auch Heitmüller nicht, der ihm im Einverständnis mit Vater Vischer eine Promotion im Neuen Testament vorschlug. Mehr als die Probleme der Wissenschaft brannten ihm die der Kriegs- und Nachkriegszeit auf den Nägeln: „Mit großer Erwartung verfolgte ich eng verbunden mit Fritz Lieb die russische Revolution.“10 Nach kurzen Vikariaten in Rupperswil und am Zürcher Großmünster versah er von 1918 bis 1928 das Pfarramt in Tenniken im Kanton Baselland, an seiner Seite Maria geb. Staehelin (1897–1975), eine der „beiden wilden Schwestern“ des seinerseits „ganz sanften“ Kirchenhistorikers Ernst Staehelin11 (1889–1980). Die andere, Ruth, wurde 1923 die Frau seines eben erwähnten Freundes Lieb (1892–1970), der, klar auf die „wilde“ Seite gehörig, ein halbes Jahrhundert hindurch nicht nur sein Schwager, sondern auch sein engster Gesprächspartner und Gesinnungsgenosse war. Beide gehörten seit den frühen zwanziger Jahren zu den Mitstreitern Karl Barths. Als Vischer 1921 Barth im nahen Safenwil besuchte, empfand dieser ihn sogleich als „eine gute Gestalt, wo das Rütteln an allem, was etwa noch niet- und nagelfest sein könnte, […] besonders lockend und lohnend ist“12. Durch mehrfache Bezugnahmen Barths auf den Prediger Salomo als den „alttestamentlichen Gesellschaftsphilosophen“ in seiner Tambacher Rede von 191913 ließ Vischer sich zu seiner ersten selbständigen Schrift anregen, einer durch originelle Zwischenüberschriften gegliederten und durch Nachwort und Anmerkungen kommentierten Übersetzung dieses biblischen Buches14. Den eigentlichen „Antrieb zu der Arbeit am Alten Testament“15 erhielt er auf anderer Ebene, nämlich durch die Teilnahme am Lehrkurs des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaften des Heiligen Landes in Jerusalem 1924 unter Leitung Albrecht Alts, den er seit vergangenen Basler Tagen als seinen „verehrten Lehrer“ betrachtete16. Mitreisende waren die Alt10  Gedenkheft 5. 11  K. Barth – Ch. v. Kirschbaum, Briefwechsel I (2008) 166. 12  K. Barth – Ed. Thurneysen, Briefwechsel I (1973) 493. 13  Der Christ in der Gesellschaft (1920) 42 (Das Wort Gottes und die Theologie, 1925, 62, in der Gesamtausgabe: Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, 590) u.ö. 14  Der Prediger Salomo. Übersetzt mit einem Nachwort und Anmerkungen (1926); vgl. ebd. 7030. 15  Das Christuszeugnis des Alten Testaments II (1942) 20 Anm. 16 Ebd.

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testamentler A. Bentzen (Kopenhagen, 1894–1953), W. Eichrodt (Basel, 1890– 1978), O. Eißfeldt (Halle) und der frisch examinierte Niederländer Th.C. Vriezen (1899–1981), mit denen allen die Beziehung bestehen blieb. Zu Ehren Vriezens zog er Jahrzehnte später die Briefe wieder ans Licht, die er in den ersten Jerusalemer Tagen nach Hause geschrieben hatte17; sie zeigen ihn als aufmerksamen Beobachter und talentierten Erzähler. Das Erlebnis des Landes und Alts „meisterhafte Handhabung der [‚territorialgeschichtlichen‘] Methode“18 ließen ihn „die biblische Geschichte sozusagen mit Händen greifen“ und trieben ihn „neu an, das Alte Testament zu erforschen“19. Das tat er dann allerdings sehr anders als Alt, und er kam bald damit heraus. Am 17. Mai 1927 – sicherlich wusste er nicht, dass es Julius Wellhausens Geburtstag war – sprach er vor der Zürcher „Theologenschaft“ über „Das alte Testament als Gottes Wort“. Der für alles Weitere programmatische Vortrag erschien in „Zwischen den Zeiten“, der Zeitschrift der damals florierenden „dialektischen Theologie“20, und bereits seiner Überschrift ist eine Anmerkung beigegeben, die außer allgemein auf Barths „Römerbrief“ auf drei Artikel in dieser Zeitschrift hinweist, einen von Thurneysen, einen von Barth und einen von Lieb (über Hamann). Im Anschluss an Barth geht Vischer von dem „Axiom“ der christlichen Theologie als „Schrifttheologie“ im Unterschied zur „sog. Religionswissenschaft“ aus, dass Christus das Wort Gottes ist. Im Blick auf das Alte Testament stellt er gleich eingangs die Weichen, indem er das paulinische τέλος νόμου Χριστός (Röm 10,4) zitiert, dort umstandslos unter τέλος „Ziel (Ende und Sinn)“ und unter νόμος das Alte Testament versteht und dann konstatiert: „Damit ist alles gesagt.“ Das stimmt, stimmt aber auch nicht; jedenfalls sieht sich Vischer nach diesen axiomatischen Feststellungen vor der Aufgabe, „darüber nachzudenken, was damit gesagt ist“21. Diesem Nachdenken widmete er seinen Vortrag und widmete er bis zu seinem Lebensende unzählige weitere mündliche und schriftliche Voten verschiedenster Art und Länge. Schon aus der damaligen Hörerschaft dürften viele nicht nur durch seine Gedanken als solche, sondern auch durch die Art, wie er sie äußerte, tief berührt gewesen sein. Dem Liebhaber des Gesprächs und der Literatur stand das Wort zu Gebote, und er machte Gebrauch davon. Vischer habe, rühmte ein Rezensent ihm nach, „weder die Unart mancher Barthianer, sich im Lateindeutsch zu bewegen, noch die andere, einen verschraubten und für den gewöhnlichen Sterblichen unverständlichen Jargon zu sprechen. Er ist ein Meister der Übersetzung und Formulierung.“22 Übrigens nicht nur der prosaischen; einige seiner Psalmen-Nachdichtungen fanden Eingang ins 17  Studia Biblica et Semitica, Th.C. Vriezen Dedicata (1966) 350–55. 18  Christuszeugnis II, 20 Anm. 19  Gedenkheft 5. 20  5 (1927) 379–95. 21  A.a.O. 379f. 22  H.W. Hertzberg, ThLZ 61 (1936) 438.

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Gesangbuch. Ich habe ihn ein einziges Mal öffentlich reden hören, in den fünfziger Jahren vor einem vorwiegend theologischen Publikum in Amsterdam über „das Christuszeugnis der salomonischen Schriften“; da sprach er ganz ohne Manuskript und sowohl konzentriert als auch leicht und eingängig. Wie immer man zu seinen Thesen stand – es war ein Genuss, ihm zuzuhören. Der Zürcher Vortrag von 1927 fährt damit fort, dass Christus nicht nur vom Neuen, sondern auch vom Alten Testament bezeugt wird, so „daß wer Christus hören will, Moses hören soll, so daß wer Moses nicht hören will, auch Christus nicht voll hört, und nur wer Christus hört, wirklich vernimmt was Mose von Gott zu sagen aufgetragen ist. Daß in diesem Sinne das Alte Testament Gottes Wort und Christus sein Telos sei, behauptet nicht nur Paulus, sondern das gesamte neue Testament einfach durch das Bekenntnis: Jesus ist der Christus, d.h. der Messias. Der Messias ist das Ziel des alten Testaments. Er ist, der da kommen soll. Und alles, was das alte Testament sagt, ist nur wahr, wenn er kommt. Er ist der Schlußstein, ohne den der ganze Bogen in sich zusammenbricht. Lebendiges Judentum wird darum immer bekennen: das Ziel von Gesetz und Propheten ist der Messias. Aber das Besondere und Entscheidende des Christentums ist das Bekenntnis: Jesus ist der Messias.“ Als Christen können wird das Alte Testament nur von dieser Voraussetzung her lesen, nur dann handelt es sich, wie Vischer mehrfach hervorhebt, um „sachliches“ oder, wie er auch sagt, „sachlich-christliches“ Lesen23. Die naheliegende Frage, ob „sich historischkritische Forschung und sachlich-christliches Lesen des alten Testaments vereinigen“ lassen, beantwortet er mit dem Barth-Zitat: „Keine Erkenntnis der Bibel als Gottes Wort ohne konkretes Wissen um ihren historischen Charakter, um die Möglichkeit, sie historisch zu betrachten, d.h. aber: um die Nicht-Selbstverständlichkeit jener Erkenntnis.“24 Bereits hier nimmt Vischer zwei grundsätzliche Abgrenzungen vor, die eine gegen „alle Versuche, mit kritischem oder erbaulichem Maßstabe nur einem Auszug aus dem alten Testamente kanonische Bedeutung beizumessen. Denn eine Prüfung dieser Versuche ergibt, daß dem Teil der Bibel, den man vom Kanon ausschließt, ein Teil der Wirklichkeit dieser Welt entspricht, den man von der Erlösung durch Christus ausschließt. Diesem Verfahren entgegen ist nichts abzulassen von der Forderung, das ganze alte Testament als Gottes Wort zu verstehen, nicht nur das Geistliche, sondern auch das Weltliche seines Inhalts, Lehre und Geschichte, Priester und Könige, Propheten und Spruchweise, Psalmen und Liebeslieder, Hiob und den Prediger, Ruth und Esther. Jedes Glied, das man der Raupe wegschneidet, fehlt dem Schmetterling. […] Sage mir, was du am alten Testamente streichst, und ich sage dir, was der Defekt deiner christlichen Erkenntnis ist.“ Die zweite Abgrenzung betrifft die „allegorische oder symbolische Bedeutung“: „So wenig 23  ZZ 8, 379–82 (Hervorhebungen von Vischer). 24  Ebd. 382f.; vgl. Barth, ZZ 3 (1925) 226 (Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, 1990, 517); Hervorhebungen von Barth und Vischer.

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das Leben und Sterben Jesu Christi Symbol oder Allegorie ist, so wenig ist die Geschichte Israels Symbol und Allegorie. […] Weil die Allegorese blind macht für das Ärgernis, es aber nicht überwindet, darum ist sie als Methode abzulehnen.“25 Als Vischer den nächsten uns vorliegenden prinzipiellen Vortrag hielt, im Mai 1930 in Münster26, brauchte er nicht aus der fernen Schweiz anzureisen, sondern nur aus dem nahen Bethel bei Bielefeld, wo er seit gut einem Jahr als Dozent für Altes Testament wirkte. Dort war an der 1905 vom älteren Bodelschwingh als Gegengewicht gegen die Universitätstheologie gegründeten Theologischen Schule durch den Weggang von Th. Oestreicher (1876–1948) die Stelle des Alttestamentlers freigeworden, und das Auge des jüngeren Bodelschwingh (1877–1946) war, wohl aufgrund des Kohelet-Hefts und des Zürcher Vortrags, auf Vischer gefallen. Bodelschwingh fuhr sogar selbst nach Tenniken und gewann dort einen günstigen Eindruck von Vischers pastoraler Tätigkeit – nicht gleichgültig, weil die Theologische Schule ein fester Bestandteil der „Bethelgemeinde“ war und jedem Dozenten die Seelsorge in einem der Studentenhäuser oblag27. Anfang Juli 1928 machte Vischer einen Gegenbesuch, um sich den Bethelern vorzustellen. Auf der Hinreise besuchte er in Münster Karl Barth. Dieser hatte ihn vor kurzem Ed. Thurneysen gegenüber „unsere Hoffnung auf dem Gebiet des Alten Testaments“28 genannt und hatte ihm selbst geschrieben: „[…] wie steht es […] mit Ihren Gedanken über Promotion und Habilitation für altes Testament? Sie sollten das doch ja nicht unters Eis gehen lassen so lange es noch Zeit ist. Ich sehe gerade an meinem Kollegen Herrmann wie schwer es auch bei vorhandenem gutem Willen sein muss, als Theologe Alttestamentler und als Alttestamentler Theologe zu sein. Sie kennen die beiderseitigen Anliegen gut genug, um das in verheissungsvoller Weise wagen zu dürfen und faktisch wagen Sie es ja längst, aber Sie sollten es auch als akademischer Lehrer tun.“29 Bei Vischers Besuch in Münster äußerte sich Barth, offenbar unter Hinzuziehung des besagten (Johannes) Herrmann (1880–1960), ähnlich, denn Vischer schrieb ihm nach seine Rückkehr: „Bodelschwingh fragte unter anderm, was Sie mir geraten hätten, und war dann sichtlich erfreut durch die Antwort, Sie hätten mir zugeraten. Er hat mir eine lange Audienz gewährt und mir von allen, mit denen ich dort zusammengekommen bin, den stärksten, einen wirklich bedeutenden Eindruck gemacht. […] Auf die (von Herrmann mir mitgegebene) Frage sagte er deutlich, die theol. Schule solle keine Fakultät sein und in keiner Weise mit den Fakultäten konkurrieren sondern den Studenten helfen, die Bibel nicht nur historisch-phil. (das gewiss auch!) sondern als 25  ZZ 5, 386f. 26  Das Alte Testament und die Verkündigung, ThBl 10 (1931) 1–12. 27  Vgl. Felber 38f. 28  Barth – Thurneysen, Briefwechsel II (1974) 564. 29  Brief vom 29.2.1928 (Karl Barth Archiv; dort der gesamte Briefwechsel Barth – Vischer).

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Gottes Wort zu lesen. Dass ich aus der Praxis komme und die ‚Wissenschaft‘ lediglich als Vorbereitung zur Predigt getrieben habe, hielt er für eine Empfehlung. […] ich habe das Gefühl, nicht schlecht […] für die Aufgabe zu passen. Es ist mir wie dem Ross, das die Trommete klingen hört und: Hui! ruft, und nachdem es den Streit von ferne gewittert hat, nicht gern wieder an den alten Ackerkarren gekoppelt werden will.“30 In Bethel hatte man ähnliche Gefühle, und so konnte Vischer mit seiner Familie im Herbst 1928 umziehen, um sich während des Winters einzugewöhnen und im Frühjahr seine Lehrtätigkeit aufzunehmen. Dem Umzug ging in Basel ein schreckliches Ereignis voran, das indirekt auch Vischer betraf: der Unfalltod des trotz seiner 80 Jahre immer noch im Amt befindlichen Bernhard Duhm am 1. September 1928. Beim Begräbnis stand Vischer neben Ed. Thurneysen (1888–1974), der vor kurzem zu ihm gesagt hatte: „jetzt soll Duhm noch fünf Jahre lesen, dann holen wir dich aus Bethel zurück.“31 Fünf Jahre später war Vischer tatsächlich wieder in der Schweiz, aber unter Umständen, die sich 1928 nicht vorhersehen ließen, und keineswegs als Nachfolger Duhms. Doch, so überraschend es klingt, auch diese Möglichkeit zeichnete sich einmal am Horizont ab, nämlich sogleich 1928/29 bei den Beratungen über Duhms Nachfolge32. Die von der Fakultät eingesetzte „Expertenkommission“ einigte sich zunächst auf den alten Basler Alfred Bertholet, dessen Eignung in jeder Hinsicht außer Frage stand; aber der Regierungsrat ließ sich nicht auf ihn ein, vermutlich weil er, gerade von Göttingen nach Berlin gewechselt, zu viel Geld gekostet hätte. Dann wurde Vischer in Erwägung gezogen, von seiner Berufung aber abgesehen, weil, wie der offizielle Bericht festhält, „der Genannte auf Anfrage hatte mitteilen lassen, dass er unter allen Umständen eine Berufung ablehnen werde“. Daraufhin schlug die Kommission einstimmig Sigmund Mowinckel und nach dessen Ablehnung Walter Baumgartner vor, der sogleich annahm und Basel durch vier Jahrzehnte erhalten blieb. Erstaunt den Nachgeborenen und Nichtbasler das Auftauchen des weder promovierten noch habilitierten Vischer zwischen den drei anderen, längst umfassend ausgewiesenen Alttestamentlern, so wächst dieses Erstaunen noch bei Kenntnisnahme eines Berichts, den Vischer selbst viel später, 1947, Karl Barth gegeben hat, als dieser in der Basler Fakultät Vischers Promotion zum Dr.theol. h.c. beantragen wollte. Vischer übermittelte Barth einen (offenbar heute nicht mehr vorhandenen) Brief, den ihm seinerzeit der Präsident jener Expertenkommission, ein Jurist namens Gerwig, geschrieben hatte, und bemerkte dazu: „Gerwigs Brief erhielt ich, als ich gerade in Bethel angefangen hatte. Ich antwortete, dass ich auf längere Sicht in Bethel bleiben werde, und empfahl Mowinckel. Als 30  Brief an Barth 25.6.1928; zum letzten Satz vgl. Hiob 39,25. 31  Barth – Thurneysen, Briefwechsel II, 611. 32  Das Folgende nach Erziehungsakten Y 9 (Theol. Fak., Professur für AT 1827–1930) im Staatsarchiv Basel.

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dieser dann absagte und die Frage noch einmal an mich herantrat, empfahl ich Baumgartner.“33 In diesen Zusammenhang gehört, dass Vischer sich, noch bevor ihn die Anfrage aus Bethel erreichte, im Sinne der Barthschen Mahnung aus dem Februar 1928 an die Abfassung einer akademischen Qualifikationsschrift machte. Das Ergebnis haben wir in dem schmalen Band vor uns, der 1929 unter dem Titel „Jahwe der Gott Kains“ im Chr. Kaiser Verlag erschien, aber den Rang einer Dissertation nicht erhielt, weil der wahrscheinlich vorgesehene Promotor Duhm vorzeitig starb und der verbliebene Basler Alttestamentler, der Extraordinarius Eichrodt, die Sache nicht übernehmen mochte: „Herr Vischer, ich kann nicht dazu stehen, was Sie da haben.“34 Ob Duhm wohl anders gedacht hat oder hätte? Vischer geht von der besonders durch K. Budde vertretenen Hypothese aus, Jahwe sei ursprünglich der Stammgott der Keniter gewesen, relativiert sie aber, indem er „die Sage von Kain und Abel, statt sie historisierend und rationalisierend umzudenken, mit den Augen J.J. Bachofens liest“35. Mit besonderem Beifall zitiert er Bachofens Satz: „Die mythische Überlieferung erscheint als der getreue Ausdruck des Lebensgesetzes jener Zeiten, in welchen die geschichtliche Entwicklung der alten Welt ihre Grundlagen hat, als die Manifestation der ursprünglichen Denkweise, als unmittelbare historische Offenbarung, folglich als wahre, durch hohe Zuverlässigkeit ausgezeichnete Geschichtsquelle“36 – wozu Vischer noch ergänzt, „daß die Grenzen zwischen Mythus und Sage, sowie zwischen Sage und historischem Bericht, fließend ist“37. Von Bachofen inspiriert38, entdeckt er in der jahwistischen Urgeschichte und besonders in der Kain-Abel-Sage „Ablagerungen der mutterrechtlichen Kulturperiode“, wodurch neben Debora, die „Mutter in Israel“, Eva zu stehen kommt, die „Mutter alles Lebendigen“39. Zu Vischers kühnen Thesen gehört auch die, dass das christliche Kreuzeszeichen „wahrscheinlich nicht im Kreuze Christi seinen Ursprung“ hat, „sondern im kainitischen Jahwezeichen, so gewiß es durch die Kreuzigung Christi mit neuem Sinn erfüllt oder, richtiger gesagt, in seinem tiefsten Sinn erneuert wurde“40. Man versteht, dass ein nüchterner Rezensent – es war der junge Martin Noth – von „zweifellos originellen und 33  Brief vom 3.3.1947. 34  So Vischers eigener Bericht bei Felber 42f.; Felbers Vermutungen über den nicht mehr unmittelbar belegbaren Vorgang dürften zutreffen. 35  Ebd. 2. 36  Ebd., wohl zitiert (wie oft bei Vischer ohne genaueren Nachweis) nach J.J. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, mit einer Einleitung von A. Baeumler hg.v. M. Schroeter (1926) 7. 37  Jahwe, der Gott Kains 2. 38 Vermutlich standen ihm auch verwandte Gedanken vor Augen, die sein Großvater Wilhelm Vischer (II) in seiner Rektoratsrede von 1879 geäußert hatte (Ueber die Grenzen des historischen Wissens, PrJ 46, 1880, 56–69, bes. 62f.67f.). 39  Ebd. 64–75, Zitat 75. 40  Ebd. 49.

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zum Nachdenken reizenden Ausführungen“ sprach, muss ihm aber auch darin zustimmen, dass er schon das Grunderfordernis einer solchen Arbeit, „eine präzise stoffliche Analyse von Gen. 4“, vermisste41. Den historisch-kritischen Ausgangspunkt, für die Fortsetzung eigentlich unentbehrlich, gab Vischer bald auf: „Damals glaubte ich noch an den Jahwe, den Gott Kains“, hat er später geäußert42. Nach den nun einmal geltenden Maßstäben konnte die Basler Fakultät ihn mit diesem Spezimen nicht gut zum Lizentiaten promovieren. Aber wie die Vorgänge um die Duhm-Nachfolge zeigen, genoss er in ihr durchaus Respekt und Sympathie, und das bekundete sich darin, dass ihm auf Antrag des Neutestamentlers Goetz der ungewöhnliche Grad eines Lizentiaten ehrenhalber auf den Weg nach Bethel mitgegeben wurde. In der Promotionsurkunde kommt „Jahwe der Gott Kains“ nicht vor, aber – auch das hatte Goetz schon vorgesehen – Vischer bedankte sich, indem er die gedruckte Schrift der Fakultät „und ihrem verstorbenen Ordinarius für das Alte Testament Prof. D. Bernhard Duhm in Dankbarkeit und Ehrerbietung“ widmete43. Vischers Gefühl, nicht schlecht für die Betheler Aufgabe zu passen, erwies sich als richtig. Nach der Aussage eines Studenten, der damit nicht allein stand, war er in seinen dortigen Jahren „mit Abstand der beliebteste Dozent, den es gab“44. Den Grundstock seiner Lehrveranstaltungen bildete in jedem Semester der sechsstündige Hebräischkurs, dazu kamen Bibelkunde und Vorlesungen und Seminare über Bücher aus allen Teilen des Alten Testaments, gelegentlich auch Übungen zur Textkritik, zur palästinischen Landeskunde, zur alttestamentlichen Psychologie45. Weder in die Forschung noch in die Lehre war Vischer eingearbeitet, und ein Wochenprogramm von bis zu 16 Stunden ließ kaum Zeit, da viel nachzuholen. So „klammerte“ er sich nach eigener Aussage an die Bibeltexte und „machte eine Entdeckung nach der anderen“46. Für viele Studenten dürfte das attraktiv gewesen sein, und weil sie in der Regel auch an einer Universitätsfakultät zu studieren hatten, bekamen sie ja Gelegenheit, sich dort das notwendige wissenschaftliche Handwerkszeug anzueignen. Niemand, der Vischers Hebräischkurs absolviert hatte, vergaß, wie sehr bei ihm von vornherein die Theologie auch das Elementar-Sprachliche durchdrang; noch in seinen letzten Lebensjahren arbeitete er mit Liebe und pädagogischem Geschick eine „Initiation à la langue Israëlite“ aus, der er das (vermeintliche) Lutherwort voranstellte: „nil aliud esse theologiam quam grammaticam in Spiritus sancti verbis occupatam“47. 41  ChW 5 (1929) 387. 42  Felber 42. 43  Belege: Univ. Archiv VIII 8,4. 44  H. Bödeker bei Felber 46. 45  Zusammenstellung bei Felber 52162. 46  Felber 52. 47  Das hektographierte Manuskript von 1985 wurde mir freundlicherweise von Herrn Dr. W.A. Vischer in Basel zugänglich gemacht. – Das „Lutherwort“, von Vischer mit einem „Cité

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Vischers besonderes Charisma konnte sich in Bethel auf vielerlei Weise entfalten, so nach einem begeisterten Bericht in einem Kreis arbeitsloser Männer, zu dem „auch noch andere Menschen von außerhalb Bethels“ stießen, „die alles andere als arm und arbeitslos waren: Sie fühlten sich angezogen, weil sie ebenfalls mit der üblichen Kirchenpredigt nicht zurechtkamen.“ „Ob es um die Schöpfungsgeschichte, das Leben Jesu, die Lutherzeit, den Dreißigjährigen Krieg ging, immer war alles funkelnd neu und von hinreißend anschaulicher Sprachgewalt. Hier wurden nicht mühsam auf modern frisierte Puppen aus einem frommen Wachsfigurenkabinett vorgeführt, sondern man hatte den unmittelbaren Eindruck, einem Entdeckungsreisenden zuzuhören, der seine neuesten und noch nirgends zu lesenden Forschungsergebnisse vorlegt. Älteste Nachrichten der Bibel waren geladen mit der Hochspannung der Ewigkeit. Sie zündeten wie ein Blitz in das Heute ein, erhellten und trafen das Herz und das Gewissen der Zuhörer und zwar gerade in ihrer besonderen Situation und handgreiflichen Not.“48 Außerhalb Bethels war natürlich vor allem die Beziehung zu Karl Barth wichtig, der auch nach seinem Wechsel von Münster nach Bonn (1930) in Reichweite blieb. Am 17. Januar 1931 gab Barth dem Freund Gelegenheit, in seiner Bonner Sozietät über „Die Einheit des Alten und des Neuen Testaments“ zu sprechen und mit einigen Kollegen, voran Gustav Hölscher, zu streiten49. Hölscher sprach hinterher von Vischers „intellektueller Unsauberkeit“, worauf Vischer seine Position in aller wünschenswerten Deutlichkeit so umschrieb: „Will man einen Text geschichtlich erfassen, dann muss man historischkritisch in das Denken des Verfassers eingehen. Dazu ist H. offenbar nicht mehr imstande, weil er zu doktrinär gebunden ist durch gewisse Dogmen der Intelligenz des 19. Jahrhunderts. Ich bestreite nicht, dass meine Exegese dogmatisch gebunden ist; aber ich behaupte, dass er es nicht minder ist, und dass der Unterschied zwischen uns nur der ist, dass meine Dogmatik mir sagt, ich müsse die Geschichten dort, wo und so wie sie da stehen, stehen lassen, während seine Dogmatik verlangt, dass man den Texten erst Kopf und Schwanz abschneide, bevor man sie interpretiert. […] Das ist mir überhaupt das Rätselhafte an H.s Wissenschaft, dass er meint, irgend eine Begebenheit oder ein Dokument einer Begebenheit erfassen und bestimmen zu können ohne ein bestimmtes Bewusstsein um Ursprung und Ziel aller Geschichte. Das ist ein böser Selbstbetrug; denn H. und alle seinesgleichen haben natürlich eine Meinung über Anfang und Ende, die massgebend ist für ihr Bestimmen der geschichtlichen Ereignisse; nur ist es nicht die Meinung der Bibel. Darum müssen sie alle par Johann Albrecht Bengel“ versehen, scheint von Bengel selbst zu stammen, vgl. M. Seils in: Ch. Markschies/M. Trowitzsch (Hgg.), Luther – zwischen den Zeiten (1999) 16728. 48  M. Stoevesandt/Fr. v. Bodelschwingh, Julia von Bodelschwingh. Lebenseinsatz einer ungewöhnlichen Frau (1977) 91, zitiert nach H. Bödeker in: Kirchliche Hochschule Bethel 1905–1980, hg.v. G. Ruhbach (1980) 91; auch bei Felber 47. 49  Vgl. Barth–Thurneysen, Briefwechsel III (2000) 875.

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biblischen Berichte umdeuten, und schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen, wenn man sie nimmt wie sie dastehen.“50 Die Betheler Zeit fand ein jähes Ende. Für das Sommersemester 1933 kündigte Vischer ganz normal an: Hebräisch 6 Std., Ausgewählte Psalmen 4 Std., Daniel 1 Std., Alttestamentliches Seminar: Sacharja 2 Std. Doch in ihrem Bericht über das Semester musste die Hochschulleitung feststellen: „Der alttestamentliche Unterricht konnte nicht durchgeführt werden, da lic. Vischer am 20. Mai beurlaubt werden mußte.“ Den Hebräischkurs übernahm ein Anderer. Die Vorgänge hatten sich blitzschnell abgespielt51. Zu Semesterbeginn bestellte der Kreisleiter der NSDAP, ein Betheler Arzt, die nationalsozialistisch Gesinnten unter den Studenten – knapp zehn Prozent der Gesamtzahl gehörten der SA an – insgeheim zu sich und befahl ihnen: „In diesem Semester fällt Lic. Vischer! Wie ihr das macht, ist eure Sache.“ Die somit Verpflichteten boykottierten zunächst Vischers Andachten und Vorlesungen, dann schrieb ihr Anführer, der gerade erst nach Bethel gekommen war und Vischer noch nicht kannte, einen Brief an die Hochschulleitung, in dem es hieß: „Als Nationalsozialisten erscheint uns Herr Lic. Vischer als Ausländer gar nicht in der Lage, die nationalsozialistische Revolution Deutschlands zu begreifen, wie dies ja aus seinen Andachten und Bemerkungen vor und nach dem 30. Januar [Hitlers „Machtergreifung“] offenkundig ist. Seine Auslegung des Alten Testaments, ferner seine Beeinflussung der Studentenschaft in offenen Abenden, Bibelstunden und Andachten zeigen eine derartige Verquickung des Evangeliums mit jüdisch-bolschewistischen Ideen, die uns von einem Hochschullehrer in der heutigen Zeit grundsätzlich untragbar erscheinen.“ Von der studentischen Mehrheit energisch zur Rede gestellt, führten die Ankläger in einem Flugblatt am 18. Mai eine Reihe aus dem Zusammenhang gerissener Äußerungen Vischers auf, die dieser noch am selben Abend in einer „Vollversammlung“ in würdiger und schlüssiger Widerlegung der Vorwürfe interpretierte52; sie gipfelten darin, dass er Hitler einen „Balkanesen“ genannt habe. Die nationalsozialistische Gruppe antwortete auf seine Verteidigung nicht, sondern verließ geschlossen den Saal, und am nächsten Tag forderte der Kreisleiter die Hochschulleitung auf, „den Dozenten Herrn Lic. Vischer unverzüglich bis zur Erledigung eines offiziellen Verfahrens von seinen Vorlesungen zu suspendieren“; bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung werde Vischer in „sofortige Schutzhaft“ genommen werden53. Vischer konnte daraufhin seine offiziellen Funktionen nicht mehr wahrnehmen; nach genau einem Jahr, am 19. Mai 1934, gab er sein Amt als Lehrer und Prediger endgültig auf54. 50  Vischer an Barth 19.3.1931; auch bei Felber 207299. 51  Das Folgende nach Bödeker (wie Anm. 48) 89–97. Materialreich G. Michaelis, Der Fall Vischer (1994). 52  Breiter ausgeführt in seinem Memorandum an F. v. Bodelschwingh vom 21. Mai, in: Bethel 30 (1985) 70–78. 53  Michaelis a.a.O. 40. 54  Ebd. 59f.

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Untätig, gar unbeteiligt war er in diesem Jahr nicht gewesen. Persönlich und sachlich stand er zwischen seinen beiden Mentoren, Karl Barth und Friedrich v. Bodelschwingh, der gerade damals, vom 27. Mai bis zum 24. Juni 1933, das unmögliche Amt eines „Reichsbischofs“ wahrzunehmen versuchte. „In der Erkenntnis, welche Stärkung das christliche Zeugnis erführe, wenn diese beiden Männer sich in der Wahrheit zusammenfänden, versuchte ich, sie einander anzunähern. Es war unmöglich. Bodelschwingh lehnte ein gemeinsames Vorgehen mit Barth ab, indem er sich auf das Wort im Jakobusbrief berief: ‚Des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist.‘ Und Barth wollte nichts von einer Verbrüderung mit Bethel wissen aus Mißtrauen gegen den ‚Kult des Kalbes‘, das Jerobeam in Bethel aufgerichtet hat.“55 Einen gewissen Einfluss auf den Gang der großen Auseinandersetzung jener Monate nahm Vischer, indem er, sekundiert von Fritz Lieb, am 13. Juni Barth in einem langen Gespräch dazu bewog, die „Theologische Existenz heute“ zu schreiben, die Schrift, an der sich fortan die Geister schieden56. Auf einen Satz eben aus der „Theologischen Existenz heute“ verwies er die „Leute um Bodelschwingh“ , als sie wenig später von ihm für ihr „Betheler Bekenntnis“57 „Sätze über die Stellung der Kirche zu den Juden“ erbaten. Barths (Doppel-) Satz lautete: „Die Gemeinschaft der zur Kirche Gehörigen wird nicht durch das Blut und also auch nicht durch die Rasse, sondern durch den heiligen Geist und durch die Taufe bestimmt. Wenn die deutsche evangelische Kirche die Judenchristen ausschließen oder als Christen zweiter Klasse behandeln würde, würde sie aufgehört haben, christliche Kirche zu sein.“58 Vischers Auftraggeber „wollten es jedoch ausführlicher“, und so machte er Barths Satz zu einer (der achten) von zehn Thesen eines Artikels „Die Kirche und die Juden“59. Den fünf Thesen, die von den Juden innerhalb der Kirche handeln, stellte er fünf über die Juden außerhalb der Kirche voran; bei diesen nahm er einen „heiligen Rest“ wahr, „der weder durch Emanzipation noch durch Assimilation in einer anderen Nation aufgehen, noch durch zionistische oder ähnliche Bestrebungen eine Nation unter den Nationen werden, noch durch pharaonische Maßnahmen ausgerottet werden kann“; diesem „heiligen Rest“ sprach er, eine Barthsche Wendung aufgreifend60, den „character indelebilis des auserwählten Volkes“ zu (These 5). 55  Vischer in: Bethel 30 (Anm. 52) 79. 56  Vgl. Ch. v. Kirschbaum in: K. Barth, Briefe des Jahres 1933 (2004) 256f. 57 Dessen endgültiger Text: K.D. Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933 (1934) 105–31. 58  Theologische Existenz heute! (1933) 24f., in der Neuausgabe von H. Stoevesandt (1984) 59f. (Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, 2013, 327). 59  Vgl. Vischer, Bethel 30, 81–85. Dazu Felber 77–89; E. Busch, Unter dem Boden des einen Bundes (1996) 50–61; ders. in: Gott wahr nehmen, Festschrift Ch. Link (2003) 47–50; ders., Barth – ein Porträt in Dialogen (2015) 245–54; A. Pangritz, EvTh 72 (2012) 194–213. 60  Pangritz a.a.O. 201f. Vgl. Barth, Der Römerbrief (1919) 319 (Neuausg. 1985, 429).

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Er war auf das Thema gut vorbereitet, zuletzt durch einen Vortrag vom 30. April 1933 über die Frage, ob das Alte Testament „für die Christen in der Gegenwart noch richtunggebende Bedeutung“ habe, dessen Leitsätze er sogleich mit anschließenden Überlegungen „Zur Judenfrage“ veröffentlicht hatte61. Von dem Ausgangspunkt her, dass „Israel das von Gott auserwählte Volk“ und dass „die Judenfrage eine Gottesfrage, die brennendste Frage der Politik Gottes“ sei62, war er dort, bedenkt man die Situation, zu einigermaßen provozierenden Feststellungen gekommen, darunter: „Wenn die geistige Berührung mit Semitenstämmlingen zersetzend wirkt auf Deutsche, wie können dann die Bücher des NT. noch die Heilige Schrift der Deutschen Christen sein? Dann müssen sie zusammen mit der übrigen jüdischen Literatur bei dem geplanten [und am 10. Mai erfolgten] Berliner Autodafé verbrannt werden. Damit würde allerdings die deutsche Kirche selbst ihre Christlichkeit verbrennen.“63 Die in der Sache ähnlich radikalen zehn Thesen, die Vischer im August 1933 vorlegte, fanden postwendend Barths volle Zustimmung64, sie wurden aber in der Betheler redaktionellen Überarbeitung, an der neben Georg Merz (1892–1959) und Hermann Sasse (1895–1976) auch Dietrich Bonhoeffer (1906–45) beteiligt war, so stark abgeschwächt, dass Vischer sich von dem Unternehmen zurückzog. Dies tat, obwohl nicht ganz aus den gleichen Motiven, auch Bonhoeffer, mit dem sich Vischer im übrigen „glänzend verstand“65. Was die „Judenfrage“ angeht, war für beide „mit dem kirchlichen Arierparagraphen der status confessionis eingetreten“66, aber damit verbanden sich durchaus verschiedene theologische Perspektiven: „Dem erwählungstheologischen Ansatz Vischers, der primär an der ‚Politik Gottes‘ mit Israel interessiert war, stand bei Bonhoeffer die ‚lutherische Weise‘ einer scharfen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gegenüber.“67 Abseits von alledem fällt in das Jahr 1933 eine der anziehendsten kleineren Veröffentlichungen aus Vischers Feder, „Der Prediger Salomo im Spiegel des Michel de Montaigne“, eine Auswahl von übersetzten Montaigne-Texten, solchen, die unmittelbar auf die Bibel hinweisen, und vor allem solchen, die sich zu einzelnen Sprüchen des Predigers indirekt in Verbindung setzen lassen. Vischer, seit längerem an Kohelet interessiert und durch Pascals Pensées auf Montaignes Essais aufmerksam geworden, schrieb die Arbeit nach seiner Suspendierung in den Sommermonaten des Jahres 1933, das auch Montaignes 400. Geburtsjahr war, „um sich selber mit der Auslegung biblischer Weisheit gegen die Hitler-Barbarei zu stärken“, „gleichsam als eine Art Vermächtnis“ 61  MPTh 29 (1933) 185–90. 62  Ebd. 187.189. 63  Ebd. 190. 64  Vgl. Vischer, Bethel (Anm. 52) 84f. 65  Vgl. Felber 79296. 66  Felber 81. 67  So mit einiger Zuspitzung Pangritz a.a.O. 213.

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vor seinem Fortgang aus Bethel und aus Deutschland – so resümierte 1981 der Pfullinger Verleger Günther Neske (1913–97), der in Bethel Vischers Hörer gewesen war und nach fast fünf Jahrzehnten eine bibliophile Ausgabe veranstaltete68. Der Hauptinhalt jener Zwangspause von 1933/34 ist damit aber noch nicht genannt. Vischer selbst hat in seinem „Lebenslauf“ lapidar berichtet: „Als die Nationalsozialisten im Mai [sic!] 1933 die Macht ergriffen, ‚suspendierten‘ sie mich in meinem Amt und verboten mir jedes Reden in ihrem Reich. Da schrieb ich das erste Buch mit dem Titel ‚Das Christuszeugnis des Alten Testaments‘.“69 Er befolgte damit den Rat Karl Barths, „ein Buch von mindestens 500 Seiten zu schreiben, um der wissenschaftlichen Welt [sein] Dasein zu melden“70. Im Sommer 1934 konnte Barth schon spezieller darauf dringen, dass Vischers „Pentateuchkommentar auf alle Fälle bald unter Dach“ komme71. Das geschah: noch 1934 erschien das Buch, allerdings nicht in dem eher zu Barth als zu Vischer passenden Umfang von 500, aber immerhin mit 318 Seiten, und auch nicht eigentlich als Kommentar, sondern als lockerer bibelkundlich-essayistisch-homiletischer Durchgang durch den Pentateuch, schön und erbaulich zu lesen, aber die exegetischen Probleme nur sporadisch berührend und noch sporadischer erörternd. Um bei Barth zu bleiben: den Vergleich mit dessen unermüdlichen Befragungen und Durchdringungen der Texte vom „Römerbrief“ bis zu den kleingedruckten Exegesen in der Kirchlichen Dogmatik, so viel man auch gegen sie einwenden mag, halten Vischers gefälligere Darbietungen nicht von ferne aus. Eingehender mit ihnen beschäftigt, hat Barth das auch selbst schmerzlich empfunden. Im Blick auf seine eigene Auslegung der Schöpfungsgeschichte (KD III/1) gestand er den Studenten: „Ich habe mich so sehr auf einen reichen Ertrag aus dem Werk Vischers gefreut und sah mich dann doch genötigt, zu Gunkel zurückzukehren.“72 Bald darauf erschien Vischers zweiter Band („Die früheren Propheten“, diesmal 570 Seiten), und Barth hoffte wieder: „[…] hoffentlich macht Vischer […] seine Sache nicht so genialisch, dass seine Bemühung gerade um das, was dasteht, nicht wieder so verdunkelt wird, wie es in seinem ersten Bande weithin der Fall gewesen ist.“73 Aber nach einigen Jahren musste er Vischer schreiben: „Ist dein Band III schon im Schuss? Mach nicht dein vornehmes Gesicht (mit dem du aussehen kannst wie vielleicht 68  Der Prediger Salomo im Spiegel des Michel de Montaigne. Ein Brevier von Wilhelm Vischer; Zitat S. 9. Erste Veröffentlichung: JThSB 4 (1933) 27–124. – Für die romanistische Fachwissenschaft gingen Vischers Vergleiche allerdings „weit über das Zulässige hinaus, abgesehen davon, daß die Verwandtschaften meist auf dem gemeinsamen Dritten, der hellenistischen Lebensphilosophie, beruhen“ (H. Friedrich, Montaigne, 21967, 35547). 69  Gedenkheft 6. 70  Vgl. Vischers Brief an Barth vom 11.1.1929. 71  Brief Barths an Vischer 29.7.1934. 72  Mitteilung R. Hanharts, der in den vierziger Jahren bei Barth studierte. 73  An W. Baumgartner 12.7.1941, bei R. Smend, Karl Barth und Walter Baumgartner. Ein Briefwechsel (ZThK.B6, 1986, 240–71) 251.

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einer deiner Vorfahren als Zunftmeister oder Rat zur Zeit des ‚1699er Wesens‘) wenn ich dir zuseufze, wie sehr ich hoffe, dass er die Verheißung von I etwas konkreter erfüllen möchte als II. Ich muss mich ja in der Dogmatik so viel mit alttestamentlichen Fragen herumschlagen und fauste dann wohl manchmal vor mich hin wegen der Tatsache, dass man bei dir wohl tiefste Anregung, aber nicht die präzise Information bekommt, nach der eine Seele, deren Hebräischkunde längst in die Welt der Schatten gegangen ist (ihr selbst gewissermassen dorthin vorangegangen ist!) verlangen muss. Wenn es in meiner Dogmatik zu alttestamentlichen Irrgängen kommen sollte […] so mach dir klar, dass du eine große Mitverantwortlichkeit daran trägst, indem ich da wie Goethes berühmtes Maultier im Nebel meinen Weg suchen muss, weil du mich nicht genügend kräftig am Zügel geführt hast.“74 Viel fruchtete diese liebenswürdige admonitio nicht. Die Bände III (über die „späteren Propheten“) und IV (über die „Schriften“) blieben, obwohl Vischer manches aus ihrem Bereich da und dort mündlich oder schriftlich vortrug, ungeschrieben, wodurch Barth wahrscheinlich eine dritte und vierte Enttäuschung erspart wurde. Grundsätzlich und nach außen hin ließ sich Barth „bei Vischer gerne […] behaften“75, aber im kleineren Kreis „behaftet“, bleib ihm manchmal nur noch zu sagen: „Das ist stark.“76 1955 resümierte er nach der Lektüre einer exegetischen Einzelstudie aus Vischers Feder: „Einiges hat mir mehr, Anderes weniger eingeleuchtet.“ Aber er habe „schon vor Jahrzehnten das Dogma verkündigt: Helmi hat recht, auch wenn er nicht recht hat, und dabei bleibe ich.“77 Immerhin! Natürlich drang Barth mit diesem etwas ambivalenten „Dogma“ nicht durch, aber das „Christuszeugnis“ fand schnell eine weite Verbreitung; der erste Band erschien bis Kriegsende in sechs Auflagen (61943, 71946). „Hin und her im Lande“ wurde „auf theologischen Freizeiten, Lehrgängen und Rüsttagen über Wilhelm Vischers Buch […] gesprochen“78, eine Formel wie „Das Alte Testament sagt, was der Christus ist, das Neue wer er ist“79 machte die Runde, und in Aufsätzen und Broschüren entwickelte sich eine lebhafte Diskussion, bei der es nicht ohne Missverständnisse und Verletzungen abging, die aber das Problem der Geltung des Alten Testaments in der christlichen Kirche eindringlich ins Bewusstsein hob80. Das tat gleichzeitig mit geringerer Breitenwirkung, aber mindestens ebenso großer gedanklicher Kraft, nicht von der Christologie, sondern von den Zwei Reichen und Gesetz und Evangelium 74  Barth an Vischer 29.2.1948. 75  An Baumgartner 12.7.1941 (s.o. Anm. 73) 76  Ein Beispiel: R. Smend, Zwischen Mose und Karl Barth (2009) 330. 77  Brief an Vischer 18.3.1955; vgl. Offene Briefe 1945–1968 (1984) 358. 78 V. Herntrich, Theologische Auslegung des Alten Testaments? Zum Gespräch mit Wilhelm Vischer (1936, 21938) 3. 79  Christuszeugnis I, 7 (übernommen aus MPTh 29, 1933, 185). 80  Eine einfühlsame Darstellung aus der Perspektive Vischers, aber nicht unkritisch gegen ihn, bei Felber 250–92 und passim. Vgl. auch B. Schroven, Theologie des Alten Testaments zwischen Anpassung und Widerspruch (1995) 194–227.

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her, auch Emanuel Hirschs Schrift „Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums“ (1936), und es ist sehr zu bedauern, dass es aus menschlichen, politischen und kirchenpolitischen Gründen zu keinem unmittelbaren Gespräch zwischen beiden Positionen kommen konnte. Die akademischtheologische Mehrheitsmeinung in Sachen Vischer war damals mit den Worten eines jüngeren Diskussionsteilnehmers: „Die Behauptung der Gegenwart Christi in gewissen vom Alten Testament erzählten Ereignissen geht nicht vom Alten Testament selber aus, sondern hat das Dogma von der Präexistenz Christi zur Voraussetzung. Nimmt man dieses Dogma als Ausgangspunkt, so wird es einem halbwegs phantasievollen Menschen nicht gerade schwerfallen, Christus im Alten Testament nachzuweisen.“81 Man hat in diesem Zusammenhang gern von Allegorie gesprochen82, aber dem ist James Barr im Sinne Vischers vehement entgegengetreten83. Um ein Paradebeispiel zu nennen: der Mann, mit dem Jakob am Jabbok gerungen hat (Gen 32), ist für Vischer wie für Luther „unser Herr Jesus Christus gewesen“. „So unerhört die Deutung klingt, so sachlich zwingend ist sie.“84 Das meinte er schon 1927 mit dem gebotenen „sachlich-christlichen Lesen“85, und von ihm her drehte er, was die Allegorie betrifft, den Spieß einfach um: „überall, wo nicht christologisch exegesiert wird, ist Allegorese“86. Es wirkt überraschend, wenn sich dann bei Vischer doch immer wieder Hinweise auf Ergebnisse historisch-kritischer Forschung finden. Das ist besonders im zweiten Band des „Christuszeugnisses“ der Fall, der einen merkwürdigen Zwitter aus Nacherzählung der „früheren Propheten“ und Darstellung der israelitischen Geschichte von Josua bis zum Exil darstellt. Vischer hat hier vieles wörtlich von Albrecht Alt übernommen, dankbar und mit dem honorigen Wunsch, Alt solle damit nicht „belastet“ werden87. Trotzdem schmerzte ihn zeitlebens und wurde ihm nie recht verständlich, dass Alt sein Unternehmen strikt ablehnte; zweifellos in Alts Sinn hatte Martin Noth jene Hinweise sogleich als „Fremdkörper“ bezeichnet88. 81  E. Würthwein, DTh 3 (1936) 269. 82 Vgl. besonders H. Graf Reventlow in: Textgemäß. Festschrift E. Würthwein (1972): „abenteuerliche allegorische Methodik“ (111), „Paradebeispiel mißglückter allegorischer Methodik“ (115), „Blütenlese allegorischer Interpretation“ (117). 83  Wilhelm Vischer and Allegory in: Understanding Poets and Prophets. Festschrift G.W. Anderson (1993) 38–60 (Bible and Interpretation II, 2013, 578–96). 84  Christuszeugnis I, 189. 85  S.o. bei Anm. 23. 86  Schluss einer Predigtmeditation von 1960, zit. bei Felber 206. 87  Ebd. 20 Anm. 88  ZDPV 66 (1943) 106. – Eine unmittelbare Reaktion Alts auf das „Christuszeugnis“ ist mir nicht bekannt. Die Briefe Alts, die mir Vischer 1986 übergab, enden am 21.6.1932 mit der Bezugnahme auf einen Besuch Vischers in Leipzig: „Die Sorgen, die ich Ihnen aussprach, haben Sie hoffentlich nicht mißverstanden. Sie beziehen sich ja nicht auf das, was Sie wollen, sondern auf die Frage, ob die heranwachsende junge Generation in ihrer besonderen geistigen Lage und ob vor allem der breite untere Durchschnitt das, was Sie lehren, nach allen Seiten hin richtig auffassen und sich dadurch zu gleich energischer Vertiefung in den historischen

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Darüber hinaus bedauerte Noth, dass Vischer „ganz auf den naheliegenden Versuch“ verzichtete, „diesen Teil des Alten Testaments als eine Einheit zu begreifen, vielmehr von Einzelheit zu Einzelheit fortgeschritten“ werde89 – hier spricht (1943!) der Entdecker des „deuteronomistischen Geschichtswerks“. Schon in einer Kritik des ersten Bandes des „Christuszeugnisses“ hatte Gerhard v. Rad, Alts zweiter Meisterschüler, auf einen „Grundstock geschichtlicher, literargeschichtlicher und religionsgeschichtlicher Ergebnisse“ hingewiesen, „die schlechthin verpflichtend“ seien, an deren Stelle er aber bei Vischer nur einen „eklektischen Biblizismus“ wahrnahm, „gefangen und bestimmt von der kirchlichen Tradition“90. Andere fanden in den kommenden Jahren in der Nachfolge G. Hölschers („intellektuelle Unsauberkeit“) schärfere Worte, darunter namhafte Ausländer: „objectively dishonest“91, „very muddled theology“92. Vischer befand sich, als die Diskussion über sein Buch einsetzte, nicht mehr in Deutschland. 1934/35 kam eine Berufung an die neue Elberfelder Kirchliche Hochschule nicht zustande, und Hoffnungen auf einen Lehrstuhl in Zürich (Nachfolge J. Hausheer) oder Basel (Nachfolge Eichrodt, falls dieser nach Zürich berufen würde) erwiesen sich als Illusion93. So ging er für anderthalb Jahre als Pfarrer nach Lugano, um allerdings bei der ersten Gelegenheit von dort nach Basel zu wechseln, wo die Möglichkeit akademischer Lehre winkte. Das Jahrzehnt seiner Tätigkeit in der St. Jakobsgemeinde ist bei ungezählten Baslern in bester Erinnerung geblieben. Seine etwas abseits gelegene Kirche (St. Jakob) war stets überfüllt, denn er predigte im Unterschied zu seinem eher hausbacken-trockenen Freund Ed. Thurneysen, dem Münsterpfarrer, interessant und originell94. Für die angestrebte Lehrtätigkeit an der Universität bedurfte es der Habilitation. Zwar äußerten die Alttestamentler Baumgartner und Eichrodt „starke Bedenken gegen die Auslegungsweise des Bewerbers“, sie verzichteten aber darauf, sich „direkt gegen eine Zulassung desselben auszusprechen“, und so wurden die von ihm „vorgelegten Veröffentlichungen von 1926–1935 an

Bestand wie in den systematischen Gehalt des Schriftwortes führen lassen wird. Es soll mich herzlich freuen, wenn sich diese Sorgen als unbegründet erweisen; aber aussprechen wollte ich sie Ihnen einmal, und sei es auch nur, damit Sie selbst bei Ihrer Arbeit die Augen offen halten.“ Das sind, stellt man Alts unerschütterliche Höflichkeit in Rechnung, deutliche Worte. 89  Ebd. 107. 90  ThBl 14 (1935) 249–52. 91  S. Mowinckel, The Old Testament as Word of God (1938) 1101. 92  N.W. Porteous in: The Old Testament and Modern Study, ed. H.H. Rowley (1951) 338, verschärft von Barr a.a.O. 53. 93  Briefe Vischers an Barth 27.7.1945, an Ed. Thurneysen (im Basler Briefwechsel Barth– Vischer) 21.5.1935. Die Zürcher holten W. Zimmerli und fuhren gut mit ihm. 94  Eine Folge von Nachschriften aus dem Kirchenjahr 1942/43 ist erschienen: W. Vischer, Psalmen ausgelegt für die Gemeinde (o.J., 1944). Der Band enthält auch einige Vischersche Nachdichtungen auf die Hugenotten-Melodien.

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Stelle einer Habilitationsschrift angenommen“95; heute würde man von einer „kumulativen“ Habilitation sprechen. Als Gegenstand seiner öffentlichen Antrittsvorlesung wählte der neue Privatdozent das Buch Esther, dessen Zugehörigkeit zum Kanon und also zu Gottes Wort er schon in seinem Programm von 1927 ausdrücklich festgestellt hatte. Er konnte sich hier nicht einmal auf seine beiden wichtigsten Gewährsleute berufen: Luther war diesem Buch „feind“96, und Barths Kirchliche Dogmatik lässt es als einzige biblische Schrift völlig unerwähnt. Die Abneigung findet sich nicht nur bei christlichen, sondern auch bei jüdischen Denkern: 1938, ein Jahr nach Vischers Vorlesung97, veröffentlichte Schalom Ben-Chorin (1913–1999) in Jerusalem unter dem Titel „Kritik des Esther-Buches“ eine „theologische Streitschrift“, in der er ein „neues Synedrion“ forderte, das das Buch Esther aus dem Kanon ausscheiden sollte, weil es einen „penetrant unethischen Charakter“ habe98. Zu Vischers gewagtem Unternehmen, im Brückenschlag zwischen Hamans Galgen und Jesu Kreuz99 auch hier „Christuszeugnis“ zu finden, bemerkte Ben-Chorin nur nachtragsweise, es möge „als dogmatischspekulative Konstruktion von Interesse sein“, tangiere aber „die jüdische Konfrontation mit dem Esther-Buch nicht“100. Für Vischer „bietet das Estherbuch als Teil der kirchlichen Bibel ein heilsnotwendiges Christuszeugnis dar“; es sagt nämlich aus: „der nach Gottesratschluß durch die Juden gemeinsam mit den Heiden gekreuzigte Christus Jesus ist Gottes Lösung der Judenfrage als der Frage, die er mit der Auserwählung Israels gestellt hat und nur er selbst beantworten kann“101, nämlich in einem endzeitlichen Geschehen: Gott „will die Erlösung der Welt, die er mit dem Aussondern Israels angefangen hat, mit den Juden auch vollenden. Darum bewahrt er von Israel nach dem Fleisch einen ‚heiligen Rest‘, der weder durch Emanzipation noch durch Assimilation in den Völkern aufgehen, noch in einem Ghetto eingekapselt, noch durch zionistische oder ähnliche Bestrebungen eine Nation unter den Nationen, noch durch pharaonische oder hamanische Maßnahmen [geschrieben 1937!] ausgerottet werden kann. Darum ist die Judenfrage eine offene Wunde am Leibe der Menschheit und für Gottes Herz, die sich erst dann ganz schließt, wenn die Juden in völliger Umkehr glauben und bekennen, daß Gott Jesus, den sie den Heiden zur Kreuzigung übergeben haben, zum Christus und Herrn gemacht hat.“102 Vischer knüpfte 95  Protokoll der Fakultätssitzung am 24.6.1936, Univ. Archiv O2b S. 219. 96  WA Tischreden III, 302, 12f. 97  Sie wurde am 27.1.1937 gehalten und erschien alsbald als Heft 48 der „Theologischen Existenz heute“. H. Bergmanns Vorwort zu Ben-Chorins Schrift ist auf den 25.3.1937 datiert. 98  Ebd. 5.12.14. 99  Vischer 20. Vgl. E. Haenchens Kritik unter dieser Überschrift in: Die Bibel und wir (1968) 50–72 in Erneuerung von DTh 4 (1937) 345–51. 100  Ben-Chorin 16. 101  Vischer, Esther 23f. 102  Ebd. 26.

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damit an seine Betheler Erwägungen zur „Judenfrage“ an, und er tat das in den Basler Jahren in steigendem Maße nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. 1936 wurde er Mitglied des Komitees, 1937 Präsident des caritativ und judenmissionarisch tätigen Basler „Vereins der Freunde Israels“, ein Amt, das er 1938 niederlegte, weil die Basler Mission unter deutschem Druck erfolgreich dagegen Einspruch erhob, dass Karl Barth an der Jahresfeier des Vereins die Predigt hielt. Seit dem Herbst 1938 leitete er die „Subkommission zur Hilfe für nichtarische Christen“ des unter Barths Mitwirkung gegründeten „Schweizerischen Hilfswerks für die Bekennende Kirche in Deutschland“. Das von ihm verfasste Memorandum „Das Heil kommt von den Juden“ hat der Arbeit dieser Gremien die Richtung gewiesen103. Aber wie der Satz aus Joh. 4,22 verschiedenen Interpretationen unterliegt (grob schematisiert: kommt oder kam das Heil von den Juden?), so erfuhren auch Vischers Thesen viel Widerspruch, besonders gewichtig sogleich von Ben-Chorin, der „nicht schweigen“ konnte „zu den Worten des Wohlmeinenden, die ihn in ihrem Unverständnis härter“ trafen „als das Wutgeschrei der Feinde“104. Der Grundaussage Vischers hielt er entgegen, „was die Synagoge exegetisch und empirisch in den neunzehn Jahrhunderten jüdisch-christlichen Religionsgesprächs einzuwenden hatte. Exegetisch: daß die von der Kirche zitierten Stellen des Alten Testaments von uns nicht im Sinne der christologischen Interpretation verstanden werden können; empirisch: daß die Welt nicht erlöst ist und die Tage des Messias noch verziehen. […] Jude sein heißt – unter dem Gesichtspunkt der Christusfrage gesehen – um Gottes Willen in der Negation des Evangeliums verharren.“105 Auch innerchristlich, ja innerschweizerisch-reformiert ging es kontrovers zu, selbst unter solchen, die sich im Grunde gar nicht so fern standen und auch in der Flüchtlingsarbeit jenes Hilfswerks an einem Strang zogen: 1942 führte Vischer an der Seite Barths und Thurneysens aufgrund von Joh 4,22, Röm 9–11 und der ersten Barmer These einen heftigen Streit gegen die Zürcher E. Brunner und W. Zimmerli für die bleibende Erwählung auch des nichtchristlichen Israel106. Jahrzehnte später sah er sich aus ganz anderer Richtung dem Vorwurf einer „ausdrücklichen Bestreitung des jüdischen Anspruchs auf das Alte Testament“ ausgesetzt; er sei „außerstande, sich mit den Juden im Gebrauch des Alten Testaments solidarisch zu erklären“, müsse seinen „eigenen neugewonnenen Zugang zum Alten Testament polemisch gegenüber dem Judentum abgrenzen“, ja nach ihm behielten sich die Christen vor, „den Juden den Gebrauch ihrer Bibel zu verbieten oder zu gestatten“107. Vischer reagierte scharf: „Non! L’unité de deux Testaments exclut une lecture de la Bible 103  Vgl. Busch a.a.O. 317–26, Felber 112–17. 104  Neue Wege. Blätter für religiöse Arbeit 1939, 509. 105  Ebd. 1940, 29. 106  Vgl. E. Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes (1996) 375–99. 107  R. Rendtorff in: Auschwitz – Krise der christlichen Theologie, hg.v. R. Rendtorff u. E. Stegemann (1980) 105f.

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en polémique contre les Juifs. L’unité demande impérativement une lecture commune. Elle stipule ‘la solidarité’ des Chrétiens avec les Juifs dans la lecture de la Bible et, par cette lecture commune, elle leur atteste et les fait vivre leur solidarité existentielle.“108 Nicht mehr brauchte er zu erleben, dass ihm, weil er das Ausstehen der Parusie mit der Verweigerung des Glaubens an Jesus Christus durch die Juden in Beziehung setzte, eine „christliche Variation des Antisemitismus“ zur Last gelegt wurde109. Wenige Tage nach seiner Antrittsvorlesung, am 4. Februar 1937, konnte Vischer noch einmal zu einer großen deutschen Hörerschaft sprechen, nämlich zu 450 Theologiestudenten, die ihn trotz des über ihn verhängten „Reichsredeverbots“ nach Tübingen eingeladen hatten. Er sprach über das Christuszeugnis des Alten Testaments und schloss mit einer kurzen Zusammenfassung seiner Lehre: „Jesus Christus ist der Sinn der alttestamentlichen Schriften. Nicht ein Sinn, den wir erst hineinzulegen hätten, sondern der primäre Sinn.“ In der Diskussion, die bis 1 Uhr nachts dauerte, war er den harten Angriffen des ihm seit Jahren theologisch und politisch konträren Praktischen Theologen Fezer ausgesetzt; trotzdem sahen ihn viele der Studenten als Sieger. Drei Dutzend von ihnen folgten seiner Einladung zu einem Gegenbesuch nach Basel; ihr Aufenthalt in der „Freiheit“ noch im Februar, der in mehreren Begegnungen mit Karl Barth seine Höhepunkte hatte, blieben ihnen unvergesslich, obwohl er für sie nicht ohne disziplinarische Folgen war110. Vischers akademisches Publikum bestand im nächsten Jahrzehnt im wesentlichen aus den Basler Studenten, soweit sie für ihn Sinn hatten. Er las durchweg Exegetica111, gewiss auf der Linie des „Christuszeugnisses“. Sein Stand neben den Ordinarien Baumgartner und Eichrodt, bald auch dem – ihm theologisch näheren – Privatdozenten J.J. Stamm (1911–93) dürfte nicht ganz leicht gewesen sein, wogegen der Rückhalt, den die Vaterstadt und das Pfarramt boten, nur teilweise aufkam. So verwundert es nicht, dass er sich, als ihm 1946 durch Vermittlung O. Cullmanns (1902–99) der alttestamentliche Lehrstuhl an der Faculté de Théologie Protestante in Montpellier112 angeboten wurde, nicht lange bitten ließ. Die Basler verliehen ihm zum Abschied auf Antrag Barths bei zwei Enthaltungen – vermutlich Baumgartner und Eichrodt – und zwei Nichtbeteiligungen – Vischers Schwäger Lieb und Staehelin – den Dr.theol. h.c.113 Im Rückblick hat Vischer gesagt, mit 108  FV 81 (1982) 78 (dort vorangehend eine französische Übersetzung des Rendtorff-Aufsatzes). 109  E.W. Stegemann, KuI 7 (1992) 37; ausdrücklich hingewiesen sei auf Stegemanns Aufsatz „Vom Unverständnis eines Wohlmeinenden. Der reformierte Theologe Wilhelm Vischer und sein Verhältnis zum Judentum während der Zeit des Nationalsozialismus“, in: Antisemitismus in der Schweiz 1848–1960 (1998) 501–19. 110  Eingehende Darstellung: M. Wischnath, Eine theologische Baselfahrt im Jahre 1937 (Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte 8, 1997, 130–212). 111  Verzeichnis bei Felber 110445. 112  Vgl. H. Schmoll, RGG4 V, 1481f. 113  Univ. Arch. Basel O2c.

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dem Gang nach Montpellier habe er die Gelegenheit ergriffen, „noch einmal neu in der Bibel zu forschen“114. Dagegen lästerte Freund Barth, Vischer „ruhe sich offenbar nunmehr im sonnigen Süden aus“115. Natürlich bewirkte die geographische Ferne eine noch größere Distanz zu den alttestamentlichen Fachkollegen, aber die ihm 1960 gewidmete Festschrift116 zeigte, dass er nicht überall vergessen war. Seinerseits nahm er eher sporadisch und unverbindlich zur Kenntnis, was „draußen“ geschrieben wurde – z.B. eine Eintagsfliege wie die damals im Trend liegende Hypothese eines „königlichen Zionsfestes“, die er nicht weiter nachprüfte, aber als Aufhänger für eine in seiner Art gearbeitete Auslegung von Jes 6,1–9,6 benutzte117. Ich habe Vischer noch persönlich kennenlernen dürfen. Die Mitwirkung an der Festschrift zu W. Zimmerlis 70. Geburtstag lehnte er höflich, aber auch etwas unwirsch mit der Erklärung ab, er wolle „lieber verzichten, als den Band mit etwas zu belasten, das ebenso gut ungedruckt bliebe“118. Anders reagierte er einige Jahre später auf die Leipziger Gedenkrede zum 100. Geburtstag A. Alts119, die ich ihm, ermutigt durch unseren gemeinsamen Freund Christoph Barth (1917–86), zugeschickt hatte, und daraus entwickelte sich eine freundliche Beziehung, die bis in sein Todesjahr andauerte und nur einmal einer ernstlichen Belastung ausgesetzt war, als nämlich Vischer in einem ihm zugesandten und sogar gewidmeten Buch zu seiner Betrübnis den Satz lesen musste: das Alte Testament „ist als solches nicht Christuszeugnis und soll von uns nicht dazu gemacht werden; die Auslegung Luthers oder, auf anderer Ebene, die W. Vischers ist unwiederholbar, so schön sie bleibt und so viel man aus ihr lernen kann“120. Er hatte die Größe, mich um Verständnis für seine (mir ja nicht unbekannten) Gegengründe zu bitten und daran unverändert „herzliche“ Grüße anzuschließen121. Als das „wesentliche Ergebnis“ seiner Lektüre jenes Buches, auf seine Position angewendet, bezeichnete er „die Möglichkeit, dass Sie meine Bibelarbeit auch in die ‚nachkritische Schriftauslegung‘ aufnehmen könnten, wenn auch anders als diejenige Karl Barths“122. 114  Lebenslauf 6. 115 Felber 139 (Bericht Cullmanns). Ein andernmal nannte Barth den Freund einen „genialen Faulpelz“ (K. Barth und W. Niesel, Briefwechsel 1924–1968, hg.v. M. Freudenberg u. H.-G. Ulrichs, 2015, 278). 116  maqqēl shâqēdh. Hommage à Wilhelm Vischer, hg.v. D. Lys, seinem Nachfolger in Montpellier. 117  Die Immanuel-Botschaft im Rahmen des königlichen Zionsfestes (1955) im Anschluss an verschiedene Arbeiten von H.-J. Kraus; hierauf beziehen sich die oben bei Anm. 77 angeführten skeptischen Bemerkungen K. Barths, in dessen „Theologischen Studien“ die Arbeit erschien. 118  Brief an den Verf., 7.12.1973. 119  ZThK 81 (1984) 286–321, s.o. 648–77. 120  R. Smend, Die Mitte des Alten Testaments (1986) 84 (2002, 74). 121  Brieflich 31.10.1986. 122  Im selben Brief; zur „nachkritischen Schriftauslegung“ vgl. R. Smend, Die Mitte des Alten Testaments (1986) 212–32; Bibel und Wissenschaft (2004) 230–50.

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Den Höhepunkt unserer Beziehung bildete ein Treffen in Basel, wo er alljährlich die Weihnachts- und Neujahrszeit verbrachte. Ich holte ihn am Morgen des verabredeten Tages, des 2. Januar 1986, bei seiner Schwägerin Ruth Lieb ab und durfte ihn dann auf einem langen Weg durch seine Vaterstadt begleiten, der bis zum späten Nachmittag dauerte und von einem stilvollen Mittagessen im „Schützenhaus“ unterbrochen wurde, bei dem er sich als ein bezaubernder Gastgeber erwies. Er war trotz seiner neunzig Jahre gut zu Fuß, zeigte mir Orte, an denen ich früher achtlos vorübergegangen war, und ließ vor mir das Basel seiner Jugend, ja des ganzen 19. Jahrhunderts erstehen, wobei er immer wieder auf dessen große Gestalten hinwies, voran Bachofen und Burckhardt, in deren Schriften er ganz zu Hause war. Das ergab mancherlei Gesprächsgegenstände, angefangen bei familiären: mein Vater war Patensohn von Vischers Großvater gewesen, Vischers Vater hatte bei meinem Großvater in Basel gehört und war auf seinen Rat nach Gießen gegangen, wo er die entscheidende Prägung durch Harnack erfuhr. Am längsten verweilten wir auf der Münsterpfalz mit dem immer noch überwältigenden Blick auf das Rheinknie; Vischer forderte mich auf, mir die Situation ohne die neueren Rheinbrücken – die in den 1870er Jahren erbaute Wettsteinbrücke sei „der Sündenfall“ gewesen – und ohne die modernen Industrieanlagen im Norden vorzustellen. Der Blick nach Norden ergab zwanglos den nächsten Gesprächsgegenstand, nämlich Bernhard Duhm, dessen Haus am linken Ufer noch nicht abgerissen war. Mir ist besonders Vischers Aussage in Erinnerung geblieben, was ihn an Duhm geradezu fasziniert habe, sei die Verbindung von Sinn für das Irrationale einerseits, scharfer und nüchterner Intelligenz andererseits gewesen. Aus Vischers Schriften wusste ich, dass er mit Duhms Lehrer und Freund Wellhausen mehr anzufangen wusste als der eine oder andere Zunftgenosse123, aber ich war doch überrascht von seiner Eröffnung, unter allen wissenschaftlichen Bibelkommentaren seien Wellhausens Erklärungen der Evangelien diejenigen, in denen er am liebsten lese; gerade ihr oft kritisierter lakonischer Stil ziehe ihn an. Lange verweilten wir natürlich bei Albrecht Alt; Vischer konnte mir von dem Alt der zwanziger, ich ihm von dem der fünfziger Jahre erzählen. Viel mehr als ich hatte er, wie sich von selbst versteht, über Karl Barth zu sagen, Ernstes und Heiteres. Interessant war mir, dass er sich entschieden von Barths Berufung auf Franz Overbecks Christentumskritik distanzierte, offenbar immer noch ein wenig verletzt durch Barths bösen Ausfall gegen seinen Vater Eberhard Vischer im Vorwort zur zweiten Auflage des „Römerbriefs“. Gern erinnerte er sich der Jahre, in denen Barth in Basel sein Gemeindeglied war. Sie hätten damals oft zu zweit abends im Wirtshaus gesessen und bei einem Glas Wein die Ereignisse des Tages beredet. Von ihren gemeinsamen Ausritten sprach er voller Mitleid mit 123  Ein entlegenes Beispiel: „[…] j’ai commencé, profitant de la science des bons spécialistes, accusés par Rendtorff, comme Julius Wellhausen et surtout mon maître Albrecht Alt […]“ (FV 81, 1982, 75).

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Barths Pferd, dem wegen der mangelhaften Künste seines Reiters manchmal nichts anderes übrig geblieben sei, als ihm jeden Gehorsam zu verweigern. Besonders dringend wurde Vischer, als er – ich hatte das schon erwartet124 – auf den alttestamentlichen Gottesnamen zu sprechen kam. Er erklärte die Ersetzung des Tetragramms durch „Jahwe“ für philologisch falsch und theologisch skandalös; der Name habe „Jahwo“ gelautet, was auch viel schöner klinge – zum Beweis rief er ihn laut in die winterliche Luft. Nicht weniger lag ihm der gegenwärtige Weltzustand am Herzen: im gerade abgelaufenen Jahr war in der Sowjetunion der Stern Gorbatschows aufgegangen; daran knüpfte er die größten Erwartungen, von deren Erfüllung er noch einiges zu erleben hoffte. Hinterher schrieb er über diesen Basler Januartag: „Mir war es, als kennten wir einander schon lang und hätten manches gemeinsam erlebt.“125 Ich hatte einen völlig lauteren, durch und durch kultivierten Mann kennengelernt, der auf eine wohltuend unkomplizierte und uneitle, vielleicht ein wenig naive Weise mit sich im Reinen und seiner Sache gewiss war126. Vischer starb am 27. November 1988 in Montpellier, seine Urne wurde in Basel im Grab seines Vaters, des liberalen Neutestamentlers, beigesetzt. Bei der „Abdankung“ sagte Thomas Willi als Vertreter der „Stiftung für Kirche und Judentum“: „Wilhelm Vischers Bedeutung liegt darin, dass er neue Spuren eröffnet hat. Nicht das Vorgehen und die Ergebnisse sichern seiner Arbeit ihren Platz, sondern der Ansatz und die Frage, mit der er an das Alte Testament herangegangen ist.“127 Es gibt wohl nur noch wenige, die seine Frage so beantworten, wie er es getan hat. Aber die Aufgabe, das Alte Testament von Christus her und auf Christus hin zu lesen, ist nicht erledigt, und so bleibt auch G. v. Rads Satz in Geltung: „die Mahnrufe von W. Vischer, die weithin wirksam geworden sind, sollen nicht vergessen werden.“128

124  Vgl. ThZ 16 (1960) 259–67. 125  Brief vom 17.1.1986. 126  In Richtung Naivität geht auch Ch. v. Kirschbaums Beobachtung im Kirchenkampf, dass Vischer „überhaupt nicht politisch denken“ könne (K. Barth, Briefe des Jahres 1933, 2004, 253). Nur nebenbei sei im Anschluss daran noch Vischers Forderung notiert, das Alte Testament „im besten Sinne naiv“ zu lesen (Christuszeugnis I, 36). 127  Gedenkheft 16. 128  G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments II (1960) 6.

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Selten, vielleicht nie hat das Alte Testament hierzulande in der akademischen Theologie, aber auch darüber hinaus so viele Freunde gehabt wie um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Von unverdächtiger Seite ist der alttestamentlichen Wissenschaft für die damalige Zeit „im Konzert der theologischen Disziplinen […] eine Führungsrolle“ zugeschrieben worden1. Das war ein Kairos. Kein Kairos kommt von ungefähr und jeder braucht Menschen, die ihn nutzen. Damals war niemand besser gerüstet als Gerhard v. Rad und hat niemand weiter und tiefer gewirkt. Seine Hörsäle in Göttingen und Heidelberg waren Wallfahrtsorte, einige seiner Bücher Bestseller auf ihrem Gebiet. Von seinem gesprochenen und geschriebenen Wort ging ein Zauber aus, der viele Menschen berührte. Ein kundiger Brite hat beinahe warnend gesagt: „So brilliant and persuasive is the writing, that one can be pardoned if at times one’s critical faculty is lulled to sleep.“2 Das kam bei v. Rad, anders als bei seinem Lehrer Albrecht Alt, nicht von besonderer Raffinesse des Gedankengangs. Die Betrachtung lag ihm mehr als die methodische Erörterung, seine Äußerungen hatten viel Tastendes und Fragendes, ihre Eindringlichkeit beruhte zu einem guten Teil auf dem Fehlen aller Aufdringlichkeit. Er war nicht der landläufige deutsche Professor, war auch in seiner eigenen Zunft eher eine Ausnahmeerscheinung. Was die historisch-kritische Arbeit angeht, ordnete er sich auf weite Strecken ohne weiteres dem bewunderten Lehrer, aber auch dessen erstem Meisterschüler Martin Noth unter; zu einem guten Teil sah er seine eigene Aufgabe darin, beider Forschungsergebnisse als der Theologe zu durchdenken, der er mehr war als beide. Auch ihm gelangen glänzende exegetische Beobachtungen, aber manche seiner Thesen und gerade solche, mit denen er Schule machte, waren kaum auf handfeste Argumente gestützt und gelten heute bestenfalls noch als fruchtbare Missverständnisse. Es bezeichnet nicht nur die Weite seines Horizonts, sondern war auch folgenreich für seinen Umgang mit der geistigen Welt und also für seine Hermeneutik im weitesten Sinn, dass er von Jugend an mit Goethes Werken lebte 1  G. Ebeling, Studium der Theologie (1975) 26f. 2  N.W. Porteous in Probleme biblischer Theologie. Gerhard v.  Rad zum 70. Geburtstag, hg.v. H.W. Wolff (1971; im Folgenden: FS 1971) 418.

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und sie bis in entlegenste Winkel kannte. So durchdrang das Ästhetische überall das Handwerkliche, und nicht zufällig waren es Worte Hölderlins, mit denen er die Eigenart seines Lebenswerks am prägnantesten umschrieb und wohl auch dessen Summe zog: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott.3

Seine Wirkung könnte ihren eigentlichen Grund darin gehabt haben, dass ihm das Bewusstsein der geheimnisvollen Nähe des Gegenstandes und der Gegenstände seiner Arbeit anzumerken war. Es prägte und trug ihn, machte ihn aber auch auf eine eigentümliche Weise unruhig. Mit hoher Sensibilität begabt (und belastet), hielt er sich immer und überall offen für Wahrnehmungen und Erfahrungen, auch wo sie einander widersprachen oder zu widersprechen schienen. Er war niemals fertig, auch am Ende eines in vieler Hinsicht reichen und erfüllten Lebens nicht. Dieses Leben dauerte genau die siebzig Jahre des von ihm oft bedachten, aber nicht geliebten 90. Psalms. Er wurde am 21. Oktober 1901 in Nürnberg geboren und starb am 31. Oktober 1971 in Heidelberg. Die Ortsnamen deuten es an: Süddeutschland war seine Heimat und sein Lebensraum. Er hatte ein höchst reflektiertes und doch auf süddeutsche Art unmittelbares Verhältnis zu allen Seiten des Lebens. „Nur seine Sensibilität war fähig, auch die Derbheiten des fränkischen Humors auszukosten und sich bei fränkischer Kost zu Hause zu fühlen.“4 Die mittleren Jahrzehnte in Leipzig, Jena und gar dem kühl-nüchternen Göttingen änderten an dieser Verwurzelung nichts, sondern machten sie nur noch fester und bewusster. Es schmerzte, dass sich in der Jenaer Zeit eine Berufung nach Erlangen, in der Göttinger Zeit eine weitere nach Tübingen zerschlug. v. Rad war fränkischer Herkunft, aber seine Mutter, Tochter eines genialisch-skurrilen Tübinger Philosophieprofessors mit dem beziehungsreichen Namen Spitta, brachte ein starkes schwäbisches Element hinzu. Der Vater, Psychiater in Nürnberg, stammte aus dem Augsburger Patriziat. Diesem Umstand verdanke er selbst, notierte später der Sohn, „einen Sinn für das Überlieferte und für das Bewahren“5. Er hat diesen Sinn auch in seine Wissenschaft hineingenommen. Als dort nicht ganz ohne seinen Einfluss die Begriffe Überlieferung und Überlieferungen, Tradition und Traditionen 3  Anfang von „Patmos. Dem Landgrafen von Homburg.“ v. Rad schrieb die Worte einem jungen Kollegen in ein Exemplar seiner Theologie des Alten Testaments. 4  W. Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit (1976) 214. 5  Die ausführlichsten Selbstaussagen enthalten die Antrittsrede in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Jahresheft 1955/56) und der Beitrag in W.E. Böhms Buch „Forscher und Gelehrte“ (1966), beide hier zitiert nach G. v. Rad, Gottes Wirken in Israel. Vorträge zum Alten Testament, hg.v. O.H. Steck (1974). Obiges Zitat dort 317f. Vgl. ferner H.W. Wolffs Bericht „Gespräch mit Gerhard von Rad“ (FS 1971, 648–58). Viel auch über das engere Thema hinaus enthält M. Hauger, Gerhard von Rads frühe Predigten (2013).

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eine solche Inflation erlebten, dass ein Kollege im Scherz vorschlug, man solle ihren Gebrauch für eine gewisse Zeit unter Strafandrohung verbieten, brauchte er selbst sich nur zu einem Teil getroffen zu fühlen. Denn ihm war elementar bewusst, was Kontinuität über Generationen bedeutet, und dieses Bewusstsein ist ihm über dem technischen Gebrauch der Begriffe in der Wissenschaft niemals verlorengegangen, sondern schwang auch dort stets mit. Allerdings hatte er eine Neigung, Überlieferung auch dort zu finden, wo keine ist, und verhältnismäßig junge Texte, Vorstellungen oder Institutionen für alt zu halten, wobei ihm scheinbar Jacob Burckhardt zu Hilfe kam: „Der Geist war schon früh komplett!“6 Bei allem Traditionsbewusstsein kannte er, übrigens auch als Professor, keinen Standesdünkel, hierin wie sonst gleichgestimmt mit seiner Frau, einer Nürnbergerin von ähnlicher Herkunft wie er. Auch eine Festlegung auf politisch „rechte“ Positionen brachte der familiäre Hintergrund bei aller konservativen Grundhaltung nicht mit sich, wofür hier nur an die späte Freundschaft mit Gustav Heinemann erinnert sei, die zwar keineswegs im Politischen begründet war, aber ein weitgehendes Verständnis auf diesem Felde einschloss. Die Zentralfigur seiner jungen Jahre war die Mutter, eine temperamentvolle und lebenskluge, sowohl literarisch als auch musikalisch ausdrucksfähige Frau. Außer von ihr sprach er gern von seinem Paten Hermann Abert (1871– 1927), dem Mozartbiographen, einem Vetter der Mutter. Auch ihn selbst kann man sich ohne Musik nicht vorstellen – die Geige spielend und im gesammelten Hören. Er scheint ein nachdenkliches, etwas verträumtes Kind gewesen zu sein. Schon früh ergötzte er seine Umgebung mit originellen Formulierungen und immer mehr mit der Gabe, Dinge, Menschen und Vorgänge durch Namen, Vergleiche und Zitate zu charakterisieren – eine Gabe, die ihm später nicht verlorenging. In der Schule hatte er es schwer, vor allem Rechnen und Mathematik waren ihm zuwider. Als es gar nicht mehr weitergehen wollte, wurde der Dreizehnjährige nach Coburg ins Schülerheim geschickt, um dort bis zum Abitur das Gymnasium Casimirianum zu besuchen. Zunächst scheint das nicht viel genützt zu haben, doch in den letzten beiden Jahren fing er Feuer, durch einen neuen Rektor und Deutschlehrer, der der Mutter prophezeite: „Mit dem werden Sie noch was erleben!“ Dieser Mann dürfte seine Schüler über Klassik und Romantik hinaus auch in die damalige Gegenwartsliteratur eingeführt haben. Jedenfalls lässt die Art, in der Gerhard v. Rad nach Jahrzehnten deren Situation um 1900-1914 mit wenigen Strichen anhand von Hofmannsthals Chandos-Brief (1901) skizziert hat7, vermuten, dass ihm diese Dinge noch einigermaßen zeitgenössisch vertraut gewesen sind. Auch als Theologe hatte er die deutsche Literatur kaum weniger zur Hand als die Bibel. 6  Weltgeschichtliche Betrachtungen, Kap. 6, im Abschnitt über „das Urteil nach der Kultur“ (JBW 10, 2000, 530, vgl. 144). Vgl. v. Rads Vorwort zu seinem Genesiskommentar. 7  Predigt-Meditationen (1973) 10f.

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Der Weg in die Theologie war ihm nicht von außen vorgezeichnet. Mit nur geringer Abschwächung gilt von ihm selbst, was er im Blick auf den ihm seit Kindertagen wohlbekannten Dietrich Bonhoeffer festgestellt hat: dass „es eine große Seltenheit war, wenn sich ein junger Mann aus dieser akademischen Oberschicht zum Studium der Theologie entschloß“8. Er wollte eigentlich Medizin studieren, aber der Vater traute ihm nicht zu, dass er den Anforderungen dieses Berufes gewachsen wäre; ein fernes Ideal ist er auch dem Theologen geblieben. Im kirchlichen Nürnberg zogen damals die beiden freisinnigen Prediger Rittelmeyer (1872–1938) und Geyer (1862–1929) viel Aufmerksamkeit auf sich. Den religiös empfänglichen Gerhard v. Rad hat Rittelmeyers Konfirmandenunterricht tief beeindruckt, von Geyer wurde er 1928 in St. Sebald getraut. Auch von den ganz anderen Ufern aus, die er später gewann, hat er beiden seine Verehrung bewahrt9. Dass er sich – nach kurzer Erwägung der klassischen Philologie – zur Theologie entschloss, ist Wilhelm Stählin (1883– 1975) gutzuschreiben, einem vielgewandten Mann mit weiten Interessen, voran religionspsychologischen und liturgischen, der Jugendbewegung verbunden, später maßgebend in Berneuchener Bewegung und Michaelsbruderschaft, 1926 Professor der Praktischen Theologie in Münster, 1945 Bischof in Oldenburg. Er war seit 1916 Pfarrer an St. Lorenz in Nürnberg und predigte dort ebenso glänzend wie jene beiden Freisinnigen. Der junge v.  Rad trat ihm in einem „Mittwochskreis“ nahe, wo als Neuerscheinung Karl Barths „Römerbrief“ von 1919 studiert wurde10. Er hat sich später mit Nachdruck einen Angehörigen der „Römerbriefgeneration“ genannt und lächelnd der Arabeske gedacht, dass ihm die Bekanntschaft mit Barths Buch ausgerechnet durch Stählin vermittelt worden war, der, nicht dafür disponiert, irgendwo nur zweiter Mann zu sein, in seinen ersten Münsteraner Jahren unter Barths gleichzeitiger Anwesenheit schwer leiden musste. v. Rads Beziehung zu Stählin blieb bestehen, wenngleich nicht problemlos, da spätestens seit 1933 theologisch, kirchlich und politisch die Unterschiede den Gemeinsamkeiten die Waage hielten. Wichtiger wurde auf die Dauer, dass er in jenem Mittwochskreis den etwas jüngeren Wolfgang Trillhaas (1903–95) zum Freund gewann. Er studierte von 1921 bis 1925, zuerst und zuletzt je zwei Semester in Erlangen, dazwischen vier in Tübingen. Nur zwei Professoren scheinen ihn wirklich angesprochen zu haben, als Exeget, und zwar des Neuen Testaments, ausgerechnet der Reformierte E.F. Karl Müller (1863–1935)11, als Systematiker Karl Heim (1874–1958), dessen Frage nach dem Verhältnis von Glauben und 8  In: Begegnungen mit Dietrich Bonhoeffer, hg.v. W.-D. Zimmermann (1964) 140. 9  Vgl. ThBl 18 (1939) 128–31 (in der Bibliographie fehlend; zu ihr sei bei dieser Gelegenheit auch die charakteristische Betrachtung über Ri 12,5–7 auf S. 194f. der von H. Vogel 1962 unter dem Titel „Männer der Evangelischen Kirche in Deutschland“ herausgegebenen Festgabe für Kurt Scharf nachgetragen). 10  Vgl. W. Stählin, Via Vitae (1968) 184; Trillhaas (Anm. 4) 58f. 11  Vgl. Trillhaas a.a.O. 82f.

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Wirklichkeit auch ihn bleibend beschäftigt hat, aber auf so andere Weise, dass ein tiefergehender Einfluss kaum wahrscheinlich ist. Im Rückblick12 kommt nicht einmal Schlatter vor, zu schweigen von den Alttestamentlern, Lotz in Erlangen, Volz und Rudolph in Tübingen. Ein fachlich für den künftigen Alttestamentler bald wichtiger Mann, Otto Procksch, kam erst 1925 nach Erlangen, ebenso Paul Althaus. Man kann in v. Rads späterer Theologie Elemente aus dem Erlangen des 19. Jahrhunderts finden, besonders von Hofmann und Delitzsch her, aber es ist fraglich, ob sie ihm im Hörsaal vermittelt wurden. Unzweifelhaft hat alte fränkische Frömmigkeit und Kirchlichkeit zeitlebens einen Teil seines Wesens gebildet13. Den Dienst in seiner Heimatkirche als Vikar und Pfarrverweser an mehreren Orten unterbrach allerdings schon bald die Arbeit an der alttestamentlichen Dissertation; 1928 bestand er nicht nur das 2. theologische Examen, sondern auch die Lizentiatenprüfung. Die Wendung zum Alten Testament hatte einen aktuellen Anlass, nämlich die Notwendigkeit einer fundierten Auseinandersetzung mit der antisemitischen Agitation des 1921 gegründeten „Bundes für Deutsche Kirche“14. Bei dem für 1927/28 bewilligten einjährigen Studienurlaub war von vornherein nicht nur an die Promotion, sondern auch an die Möglichkeit einer späteren Habilitation gedacht. Dafür, dass der hiermit eingeschlagene, noch längere Zeit von Zweifeln begleitete Weg nicht in ein kirchen- und weltfernes Theoretisieren führte, sorgte nur zu bald der verhängnisvolle Machtgewinn, der den Gedanken jenes „Bundes“ schon nach wenigen Jahren zuteil wurde. Das Thema der Dissertation ließ der Vikar sich von Otto Procksch geben, dem gerade aus Greifswald nach Erlangen gekommenen Alttestamentler, der auf respektable Weise moderne historische Forschung mit heilsgeschichtlicher Theologie erlangischer Herkunft verband, eine weitere Wirkung allerdings eher indirekt erzielte, indem er seinem Leipziger Freund aus Greifswalder Zeiten, Albrecht Alt, „alle seine verheißungsvollen Schüler zuschickte, weil sie dort mehr würden lernen können“15, aber auch dadurch, dass Walther Eichrodt den Aufriss seiner weitverbreiteten Theologie des Alten Testaments – zweifellos das Bedeutendste an diesem Buch – aus Prockschs Vorlesungen übernahm16. Mit dem Thema, das Procksch vorschlug, „Das Gottesvolk im Deuteronomium“, tat er einen guten Griff. In den zwanziger Jahren war ein „Kampf um das Deuteronomium“17 geführt worden, bei dem es vor allem um die berühmte, für die neuere Pentateuchkritik grundlegende These W.M.L. de Wettes vom Zusammenhang zwischen dem deuteronomischen Gesetz und der Reform des 12  Bei Wolff, FS 1971, 649. 13  Vgl. M. Seitz, MPTh (WPKG) 61 (1972) 2. 14  Wolff a.a.O. 649; vgl. K. Meier, Der evangelische Kirchenkampf I (1976) 70f.; K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich I (1977) 148f. 15  Trillhaas a.a.O. 85. 16  Vgl. W. Eichrodt, Theologie des Alten Testaments I6 (1959) 719. 17  So der Titel des Resümees von W. Baumgartner, ThR NF 1 (1929) 7–25.

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Königs Josia ging. Demgegenüber unternahm es v. Rad, das Deuteronomium „aus sich heraus zu erklären“18 und „in seiner originalen Ganzheit ohne Rückund Seitenblick auf irgendwelche Zusammenhänge theologisch einheitlich zu deuten“19. Dabei ging er von der Form aus: der Stilisierung als Rede des Mose an das ganze Volk einerseits, den charakteristischen Phrasen und Worten andererseits20. Das Ergebnis war der „Volk-Gottes-Gedanke“ als „die Quintessenz und Größe“ des Deuteronomiums21. Es tat der Deuteronomiumforschung gut, auf diese Weise zur Theologie zurückgerufen zu werden. Das Buch zeigt auf jeder Seite den beharrlichen theologischen Verstehenswillen seines Verfassers, der dabei strikt im Rahmen seines Themas bleibt und nur im Vorübergehen ausdrücklich auf Berührungspunkte zur systematischen Theologie hinweist22. Immerhin erwägt er die mögliche Bedeutung seines Gegenstandes für die israelitische Religionsgeschichte bzw. die alttestamentliche Theologie im ganzen: „Es wäre verlockend von dieser Wahrnehmung der einheitlichen Verschmelzung verschiedener Theologumena durch einen vielumspannenden Generalnenner [sc. den des Gottesvolkes und seines Verhältnisses zu Jahwe] den Blick einmal über den Rahmen des Dt.’s hinaus zu erheben. In konsequenter Gefolgschaft de Wettes hat man das Dt. den archimedischen Punkt der ganzen Pentateuchkritik genannt. Wäre es vielleicht möglich, diesen Satz sowohl seiner Beschränkung auf das Gebiet der Literarkritik, wie auch allein auf den Pentateuch zu entheben? Das heißt: wäre nicht vielleicht das Dt. überhaupt als ein in der Mitte der israelitischen Religionsgeschichte liegender Brennpunkt anzusehen, der die einzelnen Strahlen nahezu aller Theologumena in sich in einem nie vorher und nie nachher wieder erreichten Gleichgewicht ineinander verbindet, nachdem sie vorher oft als reichlich heterogene Elemente nebeneinander herliefen? Dann streben sie freilich nach einem flüchtigen, kaum geschichtlich fixierbaren Augenblick der Sammlung auseinander, um, ohne sich je wieder zu solcher Einheit zu verbinden, gesondert auszureifen. Indessen, dieses Problem übersteigt weit die Fragestellung unserer Arbeit.“23 Das Problem blieb im Blickfeld des Verfassers. Es gibt Leser, denen unter seinen Variationen des Deuteronomium-Themas die erste die liebste ist, eben wegen jenes Verstehens „aus sich heraus“; später kamen Hypothesen hinein, die von sehr anderer Art als diejenige de Wettes waren und das historische und theologische Verstehen nur scheinbar förderten. Von ähnlichem Charakter ist das zweite Buch, die Habilitationsschrift über das Geschichtsbild des chronistischen Werkes, nur ein Jahr nach der Dissertation veröffentlicht und „Herrn Geheimrat Professor D. Dr. Otto Procksch 18  Das Gottesvolk im Deuteronomium (1929) 2. 19  Ebd. 73. 20  Ebd. 2f. 21  Ebd. 99. 22  Ebd. 26. 23  Ebd. 58.

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in bleibender Dankbarkeit“ gewidmet. Grund zur Dankbarkeit bot gewiss auch der Umstand, dass Procksch, ein Mann von großer Noblesse, damit einverstanden war, etwas anderes zu bekommen, als was er erwartet hatte. Ihm hatte die Entdeckung von Liturgien in der Chronik vorgeschwebt – dergleichen war damals noch nicht große Mode! –, und die angebotene Alternative „Die Geschichtsanschauung des Chronisten“ hatte der Habilitand, weil sie ihm zu subjektiv formuliert war, in „Das Geschichtsbild des chronistischen Werkes“ geändert24. Die Arbeit ist, wie fast alle Chronikforschung, faktisch weithin eine Auseinandersetzung mit Wellhausen. Dessen Bild von der Chronik als einem Midrasch, der wie Efeu „den abgestorbenen Stamm mit fremdartigem Leben“ umgrünt25, erscheint v. Rad als unglücklich, wenn man sehe, „wie die Chronik um jeden Preis den Anschluss an die Verheißungen der Vorzeit sucht, wie sie in neuen theologischen Kombinationen den alten Glaubensbesitz verarbeitet“. Vor allem solle man „diesem Werke gegenüber von subjektiven Werturteilen Abstand nehmen“, die „weithin nicht mehr als das Ressentiment einer modernen Weltanschauung“ gewesen seien. „Ein begründetes theologisches Urteil – für die Kirche gewiss ein ernsthaftes Anliegen – kann erst versucht werden, wenn wir Einblick haben in die innersten Gedanken und Tendenzen dieses Werkes, und dann käme man vielleicht auch zu einer Kritik ihres eigentlichen Inhaltes, denn nur an dem, was sie [die Chronik] sagen wollte, an den theologischen Gedanken, von denen sie sich leiten ließ, kann gemessen werden, was sie gesagt hat und ob es ihr gelungen ist, diesen ihr zugänglichen Gedanken einen adäquaten Ausdruck zu verschaffen.“26 Diese These oder Antithese nimmt im Grunde bereits vorweg, was ein reichliches Vierteljahrhundert später das eigentliche Anliegen der „Theologie des Alten Testaments“ sein wird – dies übrigens auch darin, dass v. Rad sich selbst zunächst die „bescheidenere Aufgabe“ einer Vorarbeit stellt: er möchte „einen Schritt auf einem noch wenig begangenen Weg tun und feststellen, was die Grundgedanken waren, die den Chronisten bewegten und denen er in seinem Werke Ausdruck gab“27. Dies Prinzipielle ist ebenso wichtig wie die sachlichen Resultate der Analyse, unter denen der gegen Wellhausen und seine Nachfolger geführte Nachweis des Einflusses weniger der Priesterschrift als des ganzen Pentateuchs und besonders des Deuteronomiums auf die Chronik herausragt28. Die Habilitation erfolgte nicht mehr in Erlangen, wo v.  Rad noch 1929/30 nach dem Weggang von L. Rost (1896–1979) nach Berlin als Repetent im Hebräischen tätig war, sondern bereits in Leipzig. Als einer jener „verheißungsvollen Schüler“, die Procksch dorthin zu schicken pflegte, hielt er sich seit dem Frühjahr 1928 mehrfach in Leipzig auf, und nachdem zum Sommer 1930 der 24  Wolff, FS 1971, 649f. 25  J. Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels 6(1905) 223. 26  Das Geschichtsbild des chronistischen Werkes (1929) 132f. 27  Ebd. 133. 28  Ebd. 38–80 und passim.

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dortige Assistent und Privatdozent Martin Noth als ordentlicher Professor nach Königsberg berufen war, bot ihm Alt die freiwerdende Stelle an. Er akzeptierte, weil ihn Alt und Leipzig mehr lockte als Procksch und Erlangen (und als ein in Aussicht stehendes bayrisches Pfarramt). Schon im Blick auf Alt hat er seine Entscheidung nicht zu bereuen gehabt: „Daß dieser Gelehrte und Lehrer ohnegleichen mich vier Jahre neben sich als seinen Assistenten und Privatdozenten geduldet und unablässig gefördert hat, daß ich ihm wissenschaftlich und menschlich bis zu seinem Tod verbunden bleiben durfte, das rechne ich zu den glücklichsten Fügungen meines Lebens.“29 Es ist wichtig, zu diesem dankbaren Bekenntnis die nicht nur bescheidene, sondern auch zutreffende Umschreibung dessen hinzuzunehmen, wie er „ein Schüler Albrecht Alts habe sein dürfen“: „nicht in dem engeren Sinne, als dürfte ich mich als einen Fortsetzer seines besonderen Lebenswerkes bezeichnen, aber doch so, daß ich vieles von diesem unvergleichlich anregenden Geist habe in mich aufnehmen dürfen“30. Die beiden Männer waren trotz der Gemeinsamkeit fränkischer Herkunft von grundverschiedener Art und Begabung. Ihr Verhältnis blieb bei aller herzlichen Vertrautheit nie ohne eine gewisse formelle Distanz, wie sie für die alte akademische Kultur charakteristisch und wohl unentbehrlich war; während die briefliche Anrede auf Alts Seite von „Sehr geehrter Herr Kandidat“ über „Sehr verehrter Herr Licentiat“31 zu „Lieber Herr Kollege“ aufstieg, redete v. Rad den Lehrer zeitlebens mit seinem Titel an und leistete sich in späteren Jahren allenfalls, das „Sehr verehrter Herr Professor“ mit „Sehr verehrter, lieber Herr Professor“ oder gar „Lieber Herr Professor“ abzuwechseln. Was ihn an Alt sachlich anzog, ja faszinierte, dürfte dessen Überlegenheit auf Gebieten gewesen sein, auf denen er selbst sich unsicher fühlte: die souveräne Beherrschung des Stoffes und der Methode in den philologischen, landeskundlichen und historischen Hilfs- und Nachbardisziplinen, vor allem aber auf dem Gebiet der altisraelitischen Geschichte selbst. Alt war ein Historiker von elementarer Begabung und mitreißender Leidenschaft. „Die Geschichte“ war ihm Forschungsgegenstand, aber auch handelnde Macht, ja Instanz. In diesem Sinne ist v.  Rad nicht Historiker gewesen. Trotzdem hatte er die Geschichte als Thema des Alten Testaments für sich schon entdeckt, als er Alt nahetrat. Die Habilitationsschrift beginnt mit den Sätzen: „Das gespannte Hören auf den Gang der Geschichte, das Vermögen, in ihr das Walten Gottes zu sehen und darnach Schlüsse zu ziehen, ist eine der wichtigsten Besonderheiten der israelitischen Religion. Die Frage, die damit gegeben ist, daß Mensch und Volk und Menschheit sich in unaufhaltsam rinnende Zeit gestellt vorfinden, hat man in Israel als eine grundsätzliche religiöse Frage erkannt. Es ist ein wechselvoller, nicht einliniger Weg von der Zeit, da man begann, die Mythen 29  Gottes Wirken in Israel (Anm. 5) 318. 30 Ebd. 31  Wolff, FS 1971, 6501 ist hiernach zu korrigieren.

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zu historisieren, bis zum Ende der alttestamentlich-kanonischen Geschichtsschreibung: der Chronik. Wechselvoll fast bis zur gegenseitigen Ausschließlichkeit in den einzelnen Ausprägungen, aber einheitlich in der Überzeugung, daß nur auf dem Boden der realen Geschichte Jahwe vernommen und sein Wille erfüllt werden kann.“32 Für den, der den Fortgang kennt, lesen sich diese Sätze fast wie ein Arbeitsprogramm, auch wenn sie schwerlich als solches gemeint waren und manches sich später schon terminologisch sehr anders ausnahm. Den „Boden der realen Geschichte“ machte in den Leipziger Jahren der Professor dem Assistenten so gut vertraut, wie er es vermochte. Höhepunkte in dieser Hinsicht waren zwei Aufenthalte im Heiligen Land, in den Spätsommern 1930 und 1932. Beim zweiten Mal trug v. Rad in Jerusalem eine kleine Abhandlung über die Philisterkämpfe des Reiches Israel und besonders die Lage des Ortes Gibbethon vor – dem Thema nach eine Rarität in seinem Oeuvre, in Anlage und Durchführung deutlich die Handschrift Alts verratend33. Mehr hatte er aus Eigenem zu geben. Es war ja nicht so, dass er nur von dem „unvergleichlich anregenden Geist“ des Lehrers lebte. Sein Hauptinteresse blieb – und wurde immer noch mehr – das biblisch-theologische, wie es sich ja schon in zwei gewichtigen Monographien dokumentiert hatte. Er fügte ihnen in Leipzig eine dritte hinzu: „Die Priesterschrift im Hexateuch. Literarisch untersucht und theologisch gewertet“, erschienen 1934. Die literarkritische These des ersten Teils, eine Spaltung der priesterschriftlichen Erzählung in zwei parallele Quellen, haben ihm nur wenige, voran O. Eißfeldt34, geglaubt; Alt verwendete einige Mühe darauf, sie ihm noch vor der Veröffentlichung auszureden. Er selbst hat später nicht auf ihr bestanden und eingeräumt, sie habe seinen „Ruhm wahrlich nicht begründet“35. Dass die literarischen Verhältnisse innerhalb der Priesterschrift komplizierter sind, als es lange schien, hatte er immerhin ins Bewusstsein gerufen. Ungleich stärker bewährte sich sein Charisma bei der theologischen Interpretation, die auch hier das „Geschichtsbild“36 nachzuzeichnen und es als einen in Abweichung vom Deuteronomium geradezu esoterischen „dogmatischen Entwurf“37 zu erklären suchte, in dessen Sprache „sich die Essenz eines priesterlichen Wissens von vielen Generationen konzentriert“ habe38; Standort ist der „abrahamitische Kreis“, um den herum der „noachitische“ und ganz außen der „Weltkreis“ gezogen sind – mit letzterem beginnt in Gen 1 die Erzählung39. Die Arbeit war der Leipziger Doppelpflicht des Assistenten, der den Hebräischkurs, und des Privatdozenten, der Vor32  Das Geschichtsbild des chronistischen Werkes 1. 33  PJB 29 (1933) 30–42, vgl. 7 und PJB 27 (1931) 9. 34  Einleitung in das Alte Testament (1934) 233f.; weggelassen 2(1956). 35  Wolff (Anm. 5) 651. 36  Die Priesterschrift im Hexateuch 166f. 37  Ebd. 187f. 38  Ebd. 167. 39  Ebd. 167–71.

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lesung und Proseminar zu halten hatte, abgerungen. Auch robusteren Naturen, als v.  Rad war, gelingt dergleichen längst nicht immer. Um so erstaunlicher, dass noch ein ziemlich bunter Strauß gehaltvoller Veröffentlichungen hinzukam: 1930 eine Miszelle über die ἄνϑρωποι εὐδοϰίας der Weihnachtsgeschichte auf alttestamentlichem Hintergrund40, 1931 der traditions- und theologiegeschichtliche Aufsatz über Zelt und Lade41, 1933 außer „Gibbethon“ die „biblische“, vom Deuteronomium zum Hebräerbrief führende „Begriffsuntersuchung“ „Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes“42, dazu die Skizze über die falschen Propheten43 und, nicht zu vergessen, zwei wichtige Beiträge zu Kittels Theologischem Wörterbuch zum Neuen Testament, die alttestamentlichen Teile der Artikel ἄγγελος und βασιλεύς44, 1934 im Rückgriff auf die Habilitationsschrift und zugleich als Angeld auf Späteres die Studie über die levitische Predigt in den Büchern der Chronik45. Es war angemessen, dass ein derart ausgewiesener Autor trotz seiner Jugend bald einen ordentlichen Lehrstuhl erhielt. So wurde Gerhard v. Rad 1934 nach Jena berufen – unter normalen Umständen der Eintritt in eine nunmehr problemlose, vielleicht große Laufbahn. Aber die Umstände waren nicht normal. Der junge Professor befand sich am neuen Ort in sehr unliebsamer Weise „auf dem Boden der realen Geschichte“. Die Thüringer evangelische Kirche war eine Hochburg der Deutschen Christen, und in deren Hand kam nach und nach auch die Jenaer theologische Fakultät. v. Rad hatte unter den Kollegen nur den Praktischen Theologen Macholz zum Gesinnungsgenossen; der durch sein Kompendium berühmte Kirchenhistoriker Heussi, eine liebenswürdige, aber unpolitische Figur, hielt sich in den Kämpfen abseits. Nicht nur bei den Professoren, sondern auch bei den Studenten hatten die Nationalsozialisten die Mehrheit. Was das für den Alttestamentler hieß, beleuchtet eine Resolution aus dem Wintersemester 1939/40: „Unser Volk steht in diesen Tagen im Entscheidungskampf gegen den Ewigen Juden. Auf allen Gebieten des deutschen Lebens vollzieht sich die restlose Trennung vom jüdischen Ungeist. An den Universitäten, den Hochburgen des deutschen Geistes, ist kein Platz mehr für jüdische Parasiten. Aber immer noch verlangen theologische Fakultäten Prüfungskenntnisse der Sprache Kanaans. Uns deutschbewußten Studenten der Theologie an der Universität Jena ist einziger Maßstab unserer Arbeit das Volk. Wir sind nicht gewillt, wider Neigung und Instinkt wertvolle Kraft an das Hebräische zu vergeuden. Das Studium der hebräischen Sprache möge allein Männern der wissenschaftlichen Laufbahn vorbehalten bleiben. Hierin sind wir uns einig mit 40  ZNW 29 (1930) 111–15. 41  Gesammelte Studien zum Alten Testament (I) 4(1971) 109–29. 42  Ebd. 101–08. 43  Gesammelte Studien zum Alten Testament II (1973) 212–23. 44  ThWNT I, 75–79.563–69. 45  Gesammelte Studien (I) 248–61.

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unseren Dozenten. Wir bitten, uns durch entsprechende Maßnahmen und Anordnungen den Weg frei zu machen.“ Diese Studenten hatten nicht nur „ihre“ Dozenten und natürlich Partei und Staat hinter sich, sondern auch den Landeskirchenrat, der bereits im November 1938, nach der „Kristallnacht“, der Fakultät mitgeteilt hatte, „daß die Thüringer evangelische Kirche auf hebräische Sprachkenntnisse keinen Wert lege“46. Es war ganz spezifisch das Erbe der „Deutschkirchler“ der zwanziger Jahre, das im braunen Thüringen weiterlebte, jener Gruppierung also, die den Vikar v. Rad auf das Alte Testament gestoßen hatte47. Ob dieser Gegensatz in seinen frühen Veröffentlichungen eine nennenswerte Rolle spielt, ob also etwa das Bild des deuteronomischen Gottesvolkes in der Dissertation auf diesem Hintergrund gezeichnet ist48, lässt sich kaum sicher sagen. Jetzt aber war er faktisch immer da, auch wo am Alten Testament so gearbeitet wurde, „als wäre nichts geschehen“. Es konnte an der Haltung der Leipziger Alttestamentler Alt, Begrich und v.  Rad keinen Zweifel geben, als sie im Februar 1934 drei Vorträge über „Führung zum Christentum durch das Alte Testament“ hielten, nachdem vorher an gleicher Stelle der „Weg der Germanen“ behandelt worden war49, und ebenso unmissverständlich war es, als v. Rad 1935 auf dem von Joh. Hempel organisierten Göttinger Alttestamentlerkongress die These vertrat, „daß innerhalb des genuinen Jahweglaubens der Schöpfungsglaube zu keiner Selbständigkeit und Aktualität kam“50. Den wichtigsten Ort, die Auseinandersetzung zu führen und „sich zum Alten Testament zu bekennen“51, bot im kommenden Jahrzehnt die Bekennende Kirche. Auch wenn v. Rad ihr erst 1939 formell beitrat, war er doch von Anfang an in ihrem Rahmen tätig. Er predigte im illegalen Kirchsaal der Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft in Jena52 und sprach jahraus jahrein, landauf landab in „zahllosen Vorträgen vor Studenten, in Pfarrkonventen, in illegalen Fortbildungskursen und kirchlichen Gemeindeversammlungen (oft mit anschließender Diskussion)“53. Einige der Vorträge wurden damals, einige später gedruckt, so 1934 „Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“, 1937 „Das Alte Testament – Gottes Wort für die Deutschen!“ und 46 E. Stegmann, Der Kirchenkampf in der Thüringer Evangelischen Kirche 1933–1945 (1984) 105f.; zum Folgenden ausführlich B.M. Levinson/D. Dance in: Recht und Ethik im Alten Testament, hg.v. B.M. Levinson u. E. Otto (2004) 83–110; S. Böhm in: Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?!, hg.v. U. Becker u. J. van Oorschot (2005) 203–40. 47  Vgl. Meier (Anm. 14) 73f. 48  Vgl. K. Koch in: Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert, hg.v. H.J. Schultz (1966) 484. Mehr Hand und Fuß haben die Beobachtungen, die Levinson/Dance (Anm. 46) zu ihrem Thema „The Metamorphosis of Law into Gospel: Gerhard von Rad’s Attempt to Reclaim the Old Testament for the Church“ beibringen. 49  Die Vorträge erschienen 1934 unter diesem Titel. 50  Gesammelte Studien (I) 136–47, Zitat 146. 51  G. v. Rad, Gottes Wirken in Israel 323. 52  Stegmann a.a.O. 105. 53  Gottes Wirken in Israel 323.

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„Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments“, 1938 „Fragen der Schriftauslegung im Alten Testament“, „Alttestamentliche Glaubensaussagen vom Leben und vom Tod“, 1939 „Die Wahrheit der Geschichte vom Sündenfall“ und „Warum unterrichtet die Kirche im Alten Testament?“, 1940 „Mose“54; postum erschienen „Das Wort Gottes und die Geschichte im Alten Testament“ und „Die Wege Gottes in der Weltgeschichte nach dem Zeugnis der Propheten“55; anderes ging in Vorträge und Aufsätze der Jahre nach 1945 ein. Die Titel sprechen für sich. Was man ihnen nicht immer ansieht, ist das Bemühen, das Alte Testament selber zu Wort kommen zu lassen; partienweise sind die Vorträge Bibelstunden im besten Sinne des Wortes gewesen. Dem Vortragenden „schien es […] oft, als ob die zeitraubenden Reisen, die im Krieg noch mühseliger wurden“, ihn „störend von der“ ihm „eigentlich aufgetragenen wissenschaftlichen Arbeit abhielten“56. Aber einerseits erhielt die wissenschaftliche Arbeit dadurch so etwas wie eine Feuerprobe, die sie gewiss reifer und glaubwürdiger machte, und andererseits kann man durchaus nicht sagen, dass sie unterdessen geruht hätte. Ja, v. Rad verteidigte damals die schulmäßige historisch-kritische Exegese in einer Frontstellung, die gerade auf Seiten der Bekennenden Kirche Befremden erregte. Er wandte sich nämlich nicht nur gegen den bedeutendsten Kopf der Deutschen Christen, Emanuel Hirsch (1888– 1972), der das Alte Testament gänzlich dem Begriff des Gesetzes subsumieren wollte57, sondern umgekehrt auch gegen Karl Barths Freund Wilhelm Vischer, dessen „Christuszeugnis des Alten Testaments“ ihm vorkam wie der „Abbruch einer Wissenschaft, die mitten in den mannigfaltigsten Verpflichtungen historischer und theologischer Art“ stehe; die alttestamentliche Wissenschaft arbeite „heute mit einem Grundstock geschichtlicher, literargeschichtlicher und religionsgeschichtlicher Ergebnisse, die schlechthin verpflichtend“ seien, „und hinter die zurück sie nach menschlichem Ermessen nie mehr gehen“ werde. Für Vischer galt es zu lesen, „was da steht“. Das kommentierte v. Rad: „Nun, es steht da ein Text, der seine Gestalt dem Zusammenschluß von sehr verschiedenen Quellen verdankt. Stellen wir einmal die Frage ganz scharf: Wann dürfte eine theologische Auslegung des Alten Testaments die Tatsache einer derart auffallenden Komplexität des Textes unberücksichtigt lassen? Doch offenbar nur dann, wenn dieser redaktionelle Zusammenschluß der Quellen nicht nur literargeschichtlich einen Abschluß bedeutet, sondern auch theologisch ein Glaubenszeugnis enthält, das die Aktualität der Glaubenszeugnisse in ihrer Sonderung überbietet. Diesen Beweis hätte Vischer unbedingt führen müssen, wenn er bei einer solchen literarischen Vereinerleiung sich das Vertrauen gewissenhafter Leser erhalten wollte. Solange wir aber in der unförmigen Jetztgestalt des Pentateuch nicht das letztaktuelle Zeugnis zu sehen 54  Vgl. FS 1971, 665.669f. 55  Gottes Wirken in Israel 191–212.213–29. 56  Ebd. 323. 57  E. Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums, 1936.

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vermögen, sondern entstellende Redaktorenarbeit, solange muß der Theologe das höchste Interesse daran haben, das theologische Profil der Einzelquellen möglichst genau zu übersehen.“58 Vischer, damals gerade aus seiner Dozentur in Bethel vertrieben, hat dieser Angriff, hinter dem er vielleicht auch den gemeinsamen Lehrer Alt vermutete, verletzt; die von Ernst Wolf, also im Sinne Barths redigierte „Evangelische Theologie“ verweigerte den Abdruck59. Heute, nach achtzig Jahren, weiß die alttestamentliche Wissenschaft über die Redaktionen mehr als damals und findet auch der Kanon bei ihr ein gesteigertes Interesse, so dass Vischer, käme er mutatis mutandis neu zu Wort, vermutlich auf mehr Widerhall in ihren Reihen rechnen könnte. Gerade dann aber sollten auch v. Rads Bedenken wieder bedacht werden, um so mehr, als es ihm, da er Vischers Grundanliegen besser verstand als mancher andere, nicht leicht fiel, sie in solcher Schärfe zu äußern. Er exemplifizierte damals gegen Vischer am Pentateuch oder – darin deutet sich der Dissens schon an – am Hexateuch. Das hatte nicht nur den Grund, dass Vischers erster Band dem „Gesetz“ galt, sondern auch den anderen, dass v. Rad seinerseits auf diesem Felde tätig war. So sehr die „Forderung des Tages“ ihn gerade damals in Atem hielt, er vergaß doch nicht das Hauptgeschäft, das mit der Trilogie über Deuteronomium, Chronik und Priesterschrift begonnen hatte. Es verband sich eine Zeitlang mit einem attraktiven, wenngleich von vornherein etwas utopischen literarischen Projekt: dem Verleger Günther Ruprecht (1898– 2001) gelang es, v. Rad dafür zu gewinnen, in seinem „Neuen Göttinger Bibelwerk“, dem „Alten Testament Deutsch“, den Hexateuch zu übersetzen und zu erklären, also die Bücher von Genesis bis Josua, merkwürdigerweise mit Ausnahme des Deuteronomiums. Der Vertrag, 1937 nach ausgiebigen Beratungen unterschrieben, wurde in der Weise erfüllt, dass 1949, 1952 und 1953 in drei Teilbänden die Genesis, das „erste Buch Mose“, erschien und 1953, also gleich nach Vollendung des dritten Teilbandes, ein neuer Vertrag geschlossen wurde – über das seinerzeit ausgenommene „fünfte Buch Mose“, das Deuteronomium; damit dauerte es dann bis 1964. Der Rest des Hexateuchs lag inzwischen in anderen Händen. Den Gedanken, mit denen v.  Rad an das Unternehmen herangetreten war, entsprach das nicht. Er wollte sich die Disposition nicht vom Kanon vorgeben lassen, sondern von der wirklichen sachlichen Gliederung oder von den großen Quellenschriften, also Jahwist, Elohist und Priesterschrift, die alle auf die Erzählung der Landnahme hinausliefen, also auf das Buch Josua60. Aber das erwies sich als im einzelnen nicht leicht durchführbar, auch nicht in der ihm von Alt vorgeschlagenen Modifikation, Geschichte und Gesetz voneinander getrennt zu behandeln, und so blieb es bei den kanonischen Büchern und auch innerhalb der Genesis nahezu bei der gewohnten Reihenfolge. An den 58  ThBl 14 (1935) 249–54, vgl. 15 (1936) 30–34. 59  Vgl. den Zusatz a.a.O. 254. 60  Dazu ThBl 14, 250.

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Anfang der Erklärung der Genesis stellte v. Rad allerdings programmatische Ausführungen über „die Genesis im Hexateuch“, die die Quintessenz seiner damals, 1949, schon eine Weile zurückliegenden Arbeit an diesem Gegenstand enthielten. Sein Nachdenken über das Ganze des Hexateuchs hatte nämlich 1938 zu einer vierten Monographie geführt, die unter dem Titel „Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs“ den gleich in ihren ersten Sätzen konstatierten Stillstand der theologischen Erforschung des Hexateuchs überwinden sollte und, wie immer man zu ihren Thesen stehen mag, auch überwunden hat. v.  Rad selbst war stets der Meinung, dass ihm hier seine größte Entdeckung gelungen sei, und darin bestätigte ihn die Zustimmung Alts und Noths. Den Einstieg bildete die Tatsache, dass es einige Texte gibt, die den Hauptinhalt des Hexateuchs in äußerster Kürze bekenntnismäßig oder paränetisch zusammenfassen (Dtn 6,21–24; 26,5–9; Jos 24,2–13). v. Rad sprach vom „kleinen geschichtlichen Credo“, das seinen „Sitz im Leben“ im frühen israelitischen Kultus gehabt habe und aus dem dann in immer weiterer Auffüllung und Zerdehnung schließlich der Hexateuch entstanden sei. Als Heimat des auf die Landnahme führenden Hauptteils der alten Tradition postulierte er das Heiligtum in Gilgal, wo er dem Wochenfest als Legende gedient habe, während die in den „Credo“-Formulierungen nicht enthaltene Sinaitradition ein in Sichern gefeiertes Bundeserneuerungsfest widerspiegele, das auch noch den Aufriss des Deuteronomiums bestimme. Den tiefsten Einschnitt in die Geschichte des Stoffes bedeutete die Literaturwerdung und damit die Preisgabe der Verwurzelung in kultisch-sakralen Institutionen – dies das Werk des Jahwisten, der die Sinaitradition ein-, die Vätergeschichte aus- und die Urgeschichte vorgebaut habe, um das Ganze nunmehr als „eine Geschichte göttlicher Führungen und Fügungen“61 neu zu erzählen. Damit gewann eine der wichtigsten Größen der klassischen Pentateuchkritik auch in dieser Konzeption, ja gerade in ihr entscheidende Bedeutung. v. Rad schloss sich, wo er konnte, an seine Vorgänger an, tat das aber in dem schon ein paar Jahre früher bekundeten Bestreben, „doch auch ständig aus der heutigen Erkenntnis von den Grenzen der ,Literarkritik` heraus zu handeln und jene sichere, im Grunde peinlich problemarme Einstellung den Texten gegenüber zu vermeiden“62. Das Buch von 1938 schien dem Hexateuch eine verblüffende Tiefendimension zu geben. Nur im Wissen um sie sei er, das war auch die Gegenposition zu W. Vischer, recht zu verstehen. „Denn keines der Stadien in dem unendlich langen Werdegang dieses Werkes ist wirklich überholt; etwas hat sich von jeder Phase erhalten und ist als bleibendes Anliegen bis in die Letztgestalt des Hexateuchs durchgegeben worden.“63 61  Gesammelte Studien (I) 78. 62  Die Priesterschrift im Hexateuch III. 63  Gesammelte Studien (I) 85.

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Nach dieser einstweiligen Klärung des Hexateuchproblems war v. Rad noch längst nicht mit der Geschichtsschreibung fertig. Hatte er sich zunächst mit ihren späten Stadien beschäftigt, so war er im „formgeschichtlichen Problem des Hexateuchs“ in die Anfänge vorgestoßen. Dabei hatte er auch schon, nicht als erster übrigens, vom Jahwisten aus einen kurzen Blick auf die Geschichte von der Thronfolge Davids (2 Sam 7; 9–20; 1 Kön 1f.) geworfen, jenes Hauptwerk der Erzählungskunst in der frühen Königszeit, dessen Autor in der einflussreichsten Monographie über den Gegenstand ein „Angehöriger des Hofes“ genannt worden war, „der mit einiger Zurückhaltung dem kultischen Leben gegenübersteht und das Wirken Gottes im gewöhnlichen Ablauf der Geschichte erkennt“. Dieses Urteil stammte von dem Altschüler Rost64, der Altschüler v. Rad baute es in Fortführung seiner Hexateuchstudien weiter aus. Dabei hob er die „eigentümlich säkulare Darstellungsweise dieser Geschichtsschreibung“ hervor und stellte sie in die Ära Salomos hinein, die „eine Epoche der Aufklärung, des jähen Abbruchs der alten patriarchalischen Lebensordnungen“ gewesen sei. Man spüre in diesem ersten Geschichtswerk den „kühlen Hauch einer modern freien und durchaus unkultischen Geistigkeit auf Schritt und Tritt“. Trotzdem sei sein Verfasser „kein Aufklärer im gewöhnlichen Sinn des Wortes“, vielmehr verstehe auch er die Geschichte als von Gott gewirkt, nur „verborgen in der ganzen Profanität, schlechthin alle Lebensbereiche durchwaltend“65. Für die theologische Seite der Sache stützte sich v. Rad auf die drei (heute fast allgemein als Zusätze betrachteten) Stellen 2 Sam 11,27; 12,24; 17,14, die er (mit Alt) in Ed. Meyers eindrucksvoller Würdigung des Geschichtswerkes zu kurz gekommen fand66. Meyer (1855–1930) war bei dieser Arbeit nicht sein einziger stiller Gesprächspartner in der Altertumswissenschaft; am meisten ließ er sich von Ed. Schwartz’ (1858–1940) Vorträgen zur griechischen Geschichtsanschauung und Geschichtsschreibung anregen, aber auch von O. Regenbogens (1891–1966) Thukydidesstudien67. So ist es kein Zufall, dass er gerade mit dem „Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel“ über die Fakultätsgrenzen hinaus gewirkt hat – wofür die Publikation in einem nichttheologischen Organ, dem „Archiv für Kulturgeschichte“68, gewiss von Vorteil war, so sehr Alt und v. Rad auch bedauerten, dass die „Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament“, der Erscheinungsort von „Deuteronomium“, „Chronik“, „Priesterschrift“ und „Hexateuch“, nicht mehr offenstanden. Das lag an Politik und Krieg, unter deren Folgen es natürlich zu den harmloseren gehörte – auch für Gerhard v. Rad. Die Verhältnisse in der Fakultät änderten sich nicht grundsätzlich, aber der Krieg ließ die Studentenzahlen so drastisch zusammenschrumpfen, dass die alttestamentliche Vorlesung mehr64  Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids (1926) 139. 65  Gesammelte Studien (I) 186–88. 66  Ebd. 180–86, vgl. A. Alt, Kleine Schriften II (1953) 351. 67  Vgl. a.a.O. 149.153 und passim. 68  32 (1944) 1–42.

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fach vor einem einzigen Zuhörer oder zweien gehalten werden musste oder überhaupt nicht zustande kam. Der Dozent war dann „sehr niedergeschlagen“69, gewann aber auch Zeit für die Arbeit; damals wurde der größte Teil der Genesisauslegung zu Papier gebracht. So bedrückend die Isolation in der Fakultät war, es gab doch manche Beziehung, die sie aufwog: zu der Dichterin Ricarda Huch (1864–1947), die in Jena lebte70, zu Gesinnungsgenossen am Ort und außerhalb, Theologen und Nichttheologen, unter denen wenigstens der auf Vortragsreise im Haus v. Rad absteigende Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) genannt sei. Sehr wichtig war die Nähe Leipzigs, wo Albrecht Alt trotz eines übergroßen eigenen Arbeitsprogramms und zunehmender Betroffenheit der Stadt durch die Luftangriffe immer zu Rat und Hilfe bereitstand. Auch Jena wurde gegen Kriegsende schrecklich zerstört. Es war mitsamt dem benachbarten Weimar für jemanden, der sich in der deutschen Klassik und Romantik heimisch wusste, eine immer aufs neue anregende Umgebung gewesen. Dazu kam, dass die Landschaft längs der Saale an Süddeutschland erinnerte und Franken nicht fern war. Dem Militärdienst entging Gerhard v. Rad wegen eines Herzleidens bis zum Spätsommer 1944. Dann wurde er eingezogen und, längst ein passionierter Autofahrer, zum Fahren großer Lastwagen ausgebildet, das ihm „wie das Bändigen von Sauriern” vorkam. Während er in einer Kaserne nahe Jena Dienst tat, war seine Familie ins Haus der Schwiegermutter am Chiemsee evakuiert. Im Februar 1945 schrieb er dorthin: „Es wird sich ja wohl alles auflösen, was früher unsere Lebensgrundlage – wenigstens die äußere – war. […] Ich zieh mich ganz auf die sehr schlichte Ergebung zurück, wie sie etwa in dem Gerhardtlied ,Ich hab in Gottes Herz und Sinn mein Herz und Sinn ergeben...‘ ausgesprochen ist. Das bleibt ja unverrückbar bestehen. Freilich will ich nicht sagen, daß mich nicht doch immer wieder eine große Verzweiflung packt. So kann ich z.B. gar nicht aussprechen, wie mich Nürnberg schmerzt...“ Im April kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Juni entlassen wurde. Über diese schlimme Zeit hat er nach vielen Jahren einen Bericht niedergeschrieben, der aus seinem Nachlass veröffentlicht worden ist71. Er enthält im Anschluss an eine Schilderung, wie es beim Essensempfang zuging, die Sätze: „Ich habe dabei oft an jene Bilder alter Maler denken müssen, vom Sturz der Verdammten, an jene stürzenden Menschenleiber, an jene verzerrten Gesichter und verkrampften Arme und Hände, die aneinander Halt suchen und die doch, weil keiner einen Stand hat, sich nur gegenseitig weiter in die Tiefe ziehen. Hier tat sich die Dimension wirklicher Gottverlassenheit auf, und wir waren alle schon deutlich auf dem Weg, an dessen Ende jene apokalyptische Vision der Bibel und jener alten Maler steht. Es gehörte für mich zu den 69  Ricarda Huch, Briefe an die Freunde (1986) 365. 70  G. v. Rad hat Erinnerungen an sie niedergeschrieben: Radio Bremen Hausbuch 1964, 16–18. 71  Erinnerungen aus der Kriegsgefangenschaft Frühjahr 1945 (1976). Das obige Briefzitat dort 8.

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wichtigsten Erlebnissen der Lagerzeit, diese äußersten und letzten Möglichkeiten auf dem Weg des Menschen, von denen die Bibel zwar offen redet, die wir Theologen aber doch immer etwas umgangen haben, so als nackte Wirklichkeit bestätigt zu sehen.“72 Viel später hat Gerhard v. Rad einmal vom Leben eines deutschen Hochschullehrers geschrieben, es verlaufe „normalerweise still und ohne äußere Sensationen“, und das auch auf sich selbst bezogen73. Aber es gibt doch Generationen, die als solche zu Grenzerfahrungen genötigt werden, die anderen Generationen erspart bleiben, und zu einer solchen Generation hat er gehört. Übrigens kam es im Lager noch dazu, dass er Mitgefangenen die Genesis auslegen konnte, „bewaffnet mit einem winzigen Bleistift und einem Pappdeckel, auf den er seine Notizen schrieb“, „neben den mit Blechbüchsen ausgehobenen Löchern auf den ausgeworfenen Erdhügeln“74. Ort des Neubeginns war Göttingen, dessen Universität als erste wieder ihre Tore öffnete. Noch heute bezeugen die, die es miterlebt haben, dass die Nachkriegssemester dort eine sehr besondere Zeit gewesen sind. Die gemeinsame Erfahrung des Davongekommenseins band Lehrende und Lernende auf unvergessliche Weise zusammen. Was den aus dem Krieg heimgekehrten Studenten an Schulwissen fehlte, wurde durch Reife und eine ebenso begierige wie kritische Aufnahmebereitschaft mehr als wettgemacht. Für die Professoren, sofern sie etwas zu bieten hatten, war es eine Lust, zu dieser Generation zu sprechen. Und in Göttingen hatten damals viele Professoren etwas zu bieten. Die Fakultäten waren weithin glänzend besetzt, nicht zum wenigsten die theologische, in die namhafte Gelehrte aus den Reihen der Bekennenden Kirche eintraten. Keiner von ihnen hat auf die Studenten einen tieferen Eindruck gemacht als Gerhard v. Rad. Was ihm in den Jenaer Jahren an Möglichkeiten der Mitteilung versagt blieb, bot sich nun überreich. Er begann sein Tagewerk sommers um 7, winters um 8 Uhr mit der Vorlesung, um danach lesen und schreiben zu können. Auch für ihn war viel nachzuholen, nicht zuletzt an Kenntnis der ausländischen Literatur, die allmählich nach Deutschland gelangte. Außer der vierstündigen Vorlesung hielt er meist noch eine zweistündige über Themen wie Hiob oder „Amt und Verkündigung der alttestamentlichen Propheten“. Dazu kam das intensive Miteinander mit den Studenten im Seminar und in den oft mehrtägigen Veranstaltungen der Studentengemeinde, die damals sehr vielen Studenten und wohl allen Theologen Heimat war75. v. Rad, ohnehin nie ganz gesund und wie die meisten durch die Entbehrungen jener Jahre geschwächt, wurde bis an die Grenze seiner Kraft beansprucht. Er setzte alle Hebel in Bewegung, dass die zweite alttestamentliche Professur, die im Dritten Reich erloschen war, wieder eingerichtet wurde, und träumte davon, A. Alt für sie zu 72  Ebd. 32. 73  Gottes Wirken in Israel 322. 74  W. Fürst in: Erinnerungen 44. 75  Vgl. D. Andersen, Fragmente der Versöhnung (1984) 30.

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gewinnen. Aber Alt, mit dem es immerhin zu offiziellen Verhandlungen kam, gab der Verlockung nicht nach; er wusste sich verpflichtet, in Leipzig auf dem Posten zu bleiben. Es war v.  Rad stets gegenwärtig, dass er sich in Göttingen am Ort Julius Wellhausens befand. Wenn er auf dem Wege zur Vorlesung an dem Haus vorbeikam, vor dem ein Steinpfeiler noch verwaschen den großen Namen erkennen ließ, war er oft versucht, „das Hütlein zu lüpfen“, sagte aber auch zu Begleitern: „Das ist lange her.“ Sein Verhältnis zu Wellhausen war ambivalent. Er kannte seine Werke gut, und es gab darin Partien, die er schon zu seinem eigenen Vergnügen immer wieder vornahm, so die Schilderung des Marktes von Ukâtz in den „Resten arabischen Heidentums“76 oder die kurze Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft am Schluss von Bleeks „Einleitung“77. Als er in der mündlichen Doktorprüfung eines seiner später bekanntesten Schüler feststellen musste, dass dieser die „Prolegomena zur Geschichte Israels“ nicht gelesen hatte, erschrak er heftig. Wie Gunkel, Alt oder Mowinckel trieb er seine Arbeit nicht, um Wellhausens fundamentale Einsichten außer Kurs zu bringen, sondern um sie von anderen Gesichtspunkten her zu ergänzen, wobei sich natürlich auch mancherlei Korrekturen ergaben. Nach seiner Vorstellung sollten „fortgesetzt literarkritische und formgeschichtliche Erwägungen Hand in Hand“ gehen, denn: „Diese beiden Kriterien ergänzen sich aufs glücklichste“. Dabei übersah er durchaus nicht, dass die gattungs-, form-und überlieferungsgeschichtliche Arbeit von vornherein heikler und hypothetischer ist als die überkommene Literarkritik, dass sie also außer ihrem besonderen Reiz auch ihre besonderen Gefahren hat: „Zugegeben, diese jüngere Schwester der Pentateuchkritik ist methodisch schwerer zu reglementieren; ihre Ergebnisse behalten manchmal etwas im letzten Unbeweisbares. Sie haben ihre Evidenz auch nur für den, der über ein gewisses geschichtliches Vorstellungsvermögen verfügt. Es dürfte freilich nicht dahin kommen, daß sie jeder Phantasie Tür und Tor öffnet und den Eindruck erweckt, daß man mit ihrer Hilfe jedem jungen Text ein beliebig hohes Alter beilegen kann.“78 v. Rad hat das nicht nur grundsätzlich gewusst, sondern suchte es auch im einzelnen zu beherzigen. In seiner Nachfolge konnte es aber dahin kommen, dass man ihn seiner Intention zuwider ohne Wellhausen las, und dann legte sich auch im Blick auf die Formgeschichte die Frage nahe, die im Blick auf die typologische Exegese gestellt worden ist: „Was geschieht aber, wenn dieses fragile Instrument aus von Rads Künstlerhänden in derbere Finger gerät?“79 Seine eigentliche Differenz zu Wellhausen fixierte v. Rad, indem er dessen Satz, im alten Israel sei „das göttliche Recht nicht bei der Institution“ gewesen, 76  2(1897) 88–91. 77  6(1893) 596–627. 78  VF 1947/48 (1949/50) 174f. 79  Ph. Vielhauer, Oikodome (1979) 226.

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„sondern bei dem Creator Spiritus, bei den Individuen“80, in einer gelegentlichen Notiz „schon theologisch unmöglich“ nannte. Hier stand der Lutheraner, das Glied der Bekennenden Kirche gegen den Individualisten des 19. Jahrhunderts, dem die Kirche fremd geworden war. „Schon theologisch unmöglich“ – also nicht nur theologisch; v. Rads Opposition war auch wissenschaftlich-exegetisch begründet. Er hielt das altorientalische „Ich“ keineswegs für leicht greifbar, schon gar nicht in den Psalmen und verwandten Dichtungen: in ihnen klingt manches „unheimlich modern, und doch ist der Interpret verloren, wenn er sich von seinen modernen Fragestellungen leiten läßt. Wenn ein altorientalischer Dichter, ein Psalmist, also ein für uns unvorstellbar tief in blutmäßige, soziale und kultische Ordnungen eingebundener Mensch ,Ich‘ sagt, so ist sehr zu bezweifeln, daß er dasselbe meint wie ein moderner Dichter.“81 v. Rads Vorliebe für die Institution und besonders die kultische als „Sitz“ der Texte „im Leben“ bedeutete also auch im Lichte seiner eigenen Theologie durchaus nicht, dass er ihnen damit unmittelbarere Zugänglichkeit und leichteres Verständnis sichern wollte. Im Gegenteil: es kam ihm viel darauf an, dass sie ihre Fremdheit nicht verlieren durften. Kultische Phänomene als solche oder als Hintergrund von biblischen Begriffen, Redewendungen und Überlieferungen waren, sieht man von der Genesisauslegung ab, in den Göttinger Jahren das vorherrschende Arbeitsthema. Einige Titel mögen es andeuten: „Das judäische Königsritual“ (1947)82, „‚Gerechtigkeit‘ und ‚Leben‘ in der Kultsprache der Psalmen“ (1950)83, „Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit“ (1951)84 und vor allem die „DeuteronomiumStudien“ (1947)85, die die These vertreten, das Deuteronomium stehe „in der Tradition der altisraelitischen Jahwe-Amphiktyonie“ und wolle „diese alte kultische Institution in seiner vorgerückten Zeit noch einmal restaurieren und als die für Israel verbindliche Form seiner Existenz vor Jahwe dartun“86. Den Abschnitt „Das Deuteronomium und der Heilige Krieg“87 baute v.  Rad 1949 in einem Vortrag vor der Society for Old Testament Study weiter aus, und 1951 erschien „Der Heilige Krieg im alten Israel“, eine seiner wirkungsvollsten Monographien. Auch hier bot die Jahwe-Amphiktyonie den Schlüssel zum Verständnis: die „Heiligen Kriege“ sind sakrale Veranstaltungen gewesen, ihre Trägerin jene Institution, die, 1930 von M. Noth scharfsinnig, aber durchaus hypothetisch erschlossen, in den Nachkriegsjahren eine Reihe von Exegeten fast wie ein Rausch erfasste. Das von ihnen immer weiter ausgeführte Bild 80  Prolegomena zur Geschichte Israels 6(1905) 410. 81  Gottes Wirken in Israel 269. 82  Gesammelte Studien (I) 205–13. 83  Ebd. 225–47. 84  Ebd. 130–35. 85  Gesammelte Studien II, 109–53. 86  Ebd. 129f. (im Erstdruck 27f.). 87  Ebd. 132–43 (30–41).

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des ältesten Israel stand in scharfem Kontrast zu dem, das einst Wellhausen gezeichnet hatte: nicht bestimmt von den freien Individuen, sondern, Martin Buber lieferte das Stichwort88, von einer „primitiven Pansakralität“, die in kultisch-institutionelle Form gefasst war. Der Umzug nach Heidelberg, 1949, brachte v. Rad an einen Ort und in eine Fakultät und Universität, die ihm gemäß waren. Von seinem Studierzimmer in Handschuhsheim konnte er den Speyerer Dom sehen, die Bergstraße lag vor der Tür, Franken und Bayern waren nicht weit. Die Göttinger theologische Fakultät war interessant gewesen, aber alles andere als ein harmonisches Ensemble. In Heidelberg verstand man sich nicht nur menschlich gut, sondern arbeitete auch zusammen, und das auf hohem Niveau. Aus der Reihe der befreundeten Kollegen muss wenigstens der Kirchenhistoriker Hans Freiherr v. Campenhausen (1903–89) herausgehoben werden, von dem, wie v. Rad gern erzählte, einige besonders wichtige Sätze in der „Theologie des Alten Testaments“ stammten – nur dass sie beide nicht mehr sagen konnten, welche. Die Fakultät zog viele Studenten aus dem In- und Ausland an, von denen nicht wenige um des Alten Testaments willen kamen; gleich 1949/50 wechselte eine stattliche Anzahl aus Göttingen herüber. v. Rad fand sich bald nicht nur in der Fakultät, sondern auch in der Universität und der Akademie der Wissenschaften ganz zu Hause. Die stilvolle und weltoffene Geistigkeit des alten Heidelberg sagte ihm zu, und er hat sie selbst auf seine Weise repräsentiert. Für den Umgang mit der abendländischen Tradition war ihm der Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900–2002) wichtig, neben dem aber Karl Löwith (1897–1973) nicht vergessen sei. Dazu kamen die Schriften des einstigen Heidelbergers Ernst Robert Curtius oder von klassischen Philologen wie Walter F. Otto, Karl Reinhardt, Werner Jaeger, Bruno Snell, Wolfgang Schadewaldt. Mit dem Reinhardt-Schüler Uvo Hölscher (1914–96) stand er auf besserem Fuß als mit dessen Vater Gustav Hölscher, seinem eigenen Amtsvorgänger. Die Heidelberger Atmosphäre hat v. Rad nicht darin beirrt, sondern vielmehr bestärkt, Gegenstand und Stil seines Forschens und Lehrens beizubehalten. Er arbeitete hart, wie er es immer getan hatte. Dabei schob sich schnell in den Vordergrund, was sein Hauptwerk werden sollte: die Theologie des Alten Testaments. Alles Bisherige war, bewusst oder nicht, Vorbereitung hierauf gewesen. Schon in der Dissertation und der Habilitationsschrift ist, wie wir sahen, die spätere Gesamtaufgabe unverkennbar im Blick, und umgekehrt liest sich der erste Band der „Theologie“ (1957) streckenweise wie ein Kompendium der älteren Arbeiten des Verfassers. Nicht nur die meisten Einzelheiten waren lange erwogen, sondern auch das Gesamtkonzept. Die erste Bilanz zog 1943 ein Aufsatz über „Grundprobleme einer biblischen Theologie des Alten 88  Vgl. G. v. Rad, Der Heilige Krieg im alten Israel (1951) 29.

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Testaments“89. v. Rad ging dort von der in den zwanziger Jahren vollzogenen Rückwendung von den „Religionsgeschichten“ des 19. Jahrhunderts zur „Theologie“ aus, erklärte sich aber nicht einverstanden mit der systematischen Darstellungsweise in den Werken von Eichrodt (1933–39) und Köhler (1936). Diese missachte nämlich „das theologische Urdatum des A. T.“: das „enge Korrespondenzverhältnis“, in dem die alttestamentlichen Glaubensaussagen mit der Geschichte ständen. „Das A.T. ist das Buch einer Geschichte; will sagen, einer Geschichte Gottes mit Menschen, und es hat diese Eigenschaft in einer so ausschließlichen, alle seine Inhalte bestimmenden Weise, daß eine Darstellung seines Zeugnisgehaltes daran nicht vorbeigehen kann.“ Mit einem Erlanger Begriff des 19. Jahrhunderts, der eine ehrwürdige Vorgeschichte hatte, handelte es sich um „Heilsgeschichte“, und v. Rad zögerte nicht, was ihm vorschwebte, eine „heilsgeschichtliche Theologie des Alten Testaments“ zu nennen: „Eine heilsgeschichtliche Theologie des A.T. wird die Aufgabe haben, dieses Korrespondenzverhältnis von Wort Gottes und Geschichte in seinen verschiedenen Formen darzustellen; denn das ist nach der Auffassung des A.T. die Heilsgeschichte: ein Geschichtslauf, der von Gottes Wort in Bewegung gesetzt und durch immer neues Gotteswort gestaltet und seinem Ziele zugeführt wird.“90 Es komme darauf an, „das Zeugnis des A.T. gerade in seiner Besonderheit und in seiner ihm allein eigenen Begrifflichkeit zu erarbeiten“, wobei wir „uns ganz seiner eigenen Schwere und seiner spezifischen Kontur überlassen“ und es „noch viel intensiver lesen“ müssten, „bis uns eine Zusammenschau geschenkt wird, die nicht durch gewalttätige theologische Verkürzungen erkauft ist“91. Gefahren in dieser Richtung verzeichnete durchaus schon die Zwischenbilanz von 1943: zwar ist „das ganze A.T. ein Zeugnis von Gottes fortgesetztem Geschichtshandeln“. Aber es gibt „Bücher, die daran nicht teilhaben“, nämlich Hiob und Kohelet, die „in einem geschichtslosen Raum stehen“; sie sind „gerade von da her“, vom heilsgeschichtlichen Zeugnis des Alten Testaments im ganzen, „zu interpretieren“92. Angesichts der oft uneindeutigen, untereinander spannungsvollen, auch „durch das Humanum des Zeugen“ getrübten Kerygmata, wird nach „altem Erlanger Rezept“ der „Blick auf das ,Schriftganze‘“ als „klärend“ empfohlen. Wichtig die Abgrenzung gegen eine einseitig „frömmigkeitsgeschichtliche“ Theologie des Alten Testaments: sie muss an „Zeugniskreisen“ um „Heilsgüter“ wie das Land oder den König vorübergehen93. Einen breiten Raum nimmt das Verhältnis zum Neuen Testament ein. Indem die neutestamentlichen Zeugen „ausnahmslos die Erscheinung Jesu Christi in den Zusammenhang der atl. Heilsgeschichte einordnen“, „bestätigen“ sie „die Zusammengehörigkeit der Testamente“, so dass es „theologisch keineswegs in 89  ThLZ 68 (1943) 225–34. 90  Ebd. 227f. 91  Ebd. 234. 92  Ebd. 228. 93  Ebd. 228f.

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unser Belieben gestellt“ ist, „Jesus Christus aus diesem Zusammenhang–und wenn er uns noch problematischer geworden wäre! – herauszulösen“. Mittel, den Zusammenhang zu erfassen und darzustellen, sind die Typologie und, für v. Rad auch inneralttestamentlich von fundamentaler Bedeutung, das Schema Verheißung – Erfüllung94. Bevor die ausgeführte „Theologie“ erschien, gab es Gespräche über die Bestandteile dieses Programms, mit einzelnen Kollegen in Göttingen und den meisten in Heidelberg, vor allem aber im Kreis der Mitarbeiter des Neukirchener „Biblischen Kommentars“, auf deren erster Zusammenkunft 1952 v.  Rad selbst über „Typologische Auslegung des Alten Testaments“ referierte und Walther Zimmerli, mit Hans Walter Wolff der ihm theologisch Nächste unter den Fachgenossen, über „Verheißung und Erfüllung“95. Die theologische Welt war also nicht unvorbereitet und erwartete mit einiger Spannung das Werk, das in zwei Bänden 1957 und 1960 erschien und sogleich Bewunderung, aber auch heftige Kritik auslöste. Der erste Band ist überschrieben „Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels“, der zweite „Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels“. Beiden steht ein biblisches Motto voran, dem ersten Ps 111,4 „Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder“, dem zweiten Jes 43,18f. „Gedenket nicht an das Alte und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, Ich will ein Neues machen“ – beides übrigens in der Übersetzung Luthers. Den gemeinsamen Nenner bildet nicht nur, dass es sich in beiden Bänden um die Theologie von Überlieferungen handelt. Vielmehr ist auch beide Male, wie schon das Wort aus Deuterojesaja zeigt, die Geschichte in ihrer für v. Rad entscheidenden Dimension Gegenstand dieser Überlieferungen. Bereits im Programm von 1943 hieß es: „Das Kerygma der Propheten ist noch geschichtsbezogener [als das der Bücher Genesis bis Könige], weil zu der Rückbeziehung auf göttliche Fakta in der Vergangenheit der Hinweis auf ein künftiges Geschichtshandeln Gottes hinzutritt.“96 Aber das „Hinzutreten“ könnte missverständlich sein. Deuterojesaja befiehlt ja: „Gedenket nicht an das Alte und achtet nicht auf das Vorige!“ Die Verkündigung der Propheten lässt sich, so v. Rad 1957, „den Glaubensvorstellungen Israels nicht organisch anhängen“, „ihre Überzeugung von dem Abbruch des Bisherigen stellt sie […] grundsätzlich außerhalb der Heilsgeschichte, wie sie von Israel bisher verstanden wurde“. „Deshalb muß in einer Theologie des AT“ – und das ist geradezu der „sicherste Prüfstein“ für deren Anlage – „von ihr gesondert die Rede sein“97. Diese Sonderung hat manche Leser überrascht, da gerade v. Rad auf die stoffliche Traditionsgebundenheit der Prophetie großen Wert legte und sie auch schon im ersten Band oft zur Sprache gebracht hatte. Es 94  A.a.O. 231–33, vgl. 228f. 95  EvTh 12 (1952/53) 17–33.34–59. 96  ThLZ 68 (1943) 227. 97  Theologie I, 133f.

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war aber gewiss gut, wenn auf diese Weise deutlich wurde, dass die – exegetisch überdies ziemlich fragwürdige – Traditionsgebundenheit nicht das Wichtigste an der Prophetie gewesen ist. Die Disposition des Stoffes war nie v. Rads Stärke. In der „Theologie“ zeigt das nicht nur die problematische Einordnung der Prophetie, sondern noch auffälliger der Aufriss des ersten Bandes. Er umfasst zwei „Hauptteile“, von denen erst der zweite, bei weitem ausführlichere, mit „methodischen Vorerwägungen“ über den Gegenstand einer Theologie des Alten Testaments und das anzuwendende Verfahren beginnt, während der erste, auf solche Weise geradezu prinzipiell vom Thema des Ganzen abgetrennt, den „Abriß einer Geschichte des Jahweglaubens und der sakralen Institutionen in Israel“ bietet, also eine – übrigens sehr lehrreich zu lesende – neu pointierte Variation des „religionsgeschichtlichen“ Themas, das im 19. Jahrhundert die „Theologie“ ersetzt hatte. v.  Rad erwog später, diese 100 Seiten herauszunehmen und gesondert zu veröffentlichen, konnte sich aber zu diesem Schritt, der seine Konzeption hätte klarer hervortreten lassen, nicht entschließen. Der zweite Hauptteil trägt die Überschrift des ganzen Bandes: „Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels“. Im Anschluss an die „methodischen Vorerwägungen“ entsprechen zwei Kapitel dieser Überschrift: ein ausführliches über die „Theologie des Hexateuch“ und ein erheblich knapperes, das unter dem Stichwort „Die Gesalbten Israels“ das Königtum und die Theologie des deuteronomistischen und des chronistischen Geschichtswerks behandelt. Aber dann kommt, wieder ausführlicher, ein besonders schönes Schlusskapitel „Israel vor Jahwe (Die Antwort Israels)“. Hier geht es darum, wie die Taten Jahwes „auf Israel gewirkt haben“ und „wie Israel nun seinerseits diese Existenz in der Unmittelbarkeit und Nähe zu Jahwe bejaht und verstanden hat, welche Anstalten es getroffen hat, sich vor sich selbst und vor Jahwe in dieser Nähe Jahwes zu rechtfertigen oder zu schämen“; es sei auch „zu hoffen, daß hier die Grundzüge einer theologischen Anthropologie deutlich“ würden98. Unversehens schimmert der systematische Aufriss einer alttestamentlichen Theologie durch, wie v. Rad ihn vermeiden wollte und dann in der Durchführung dieses Kapitels auch insofern einigermaßen vermieden hat, als er es an den „Schriften“ des dritten Kanonteils orientierte: Psalmen, Hiob, Sprüche, Kohelet. „Theologie der geschichtlichen Überlieferungen“ ist das nicht mehr, von einigen wenigen Partien abgesehen auch nicht in dem Sinn, in dem das Programm von 1943 forderte, daß „die Bücher, die daran [am ‚Zeugnis von Gottes fortgesetztem Geschichtshandeln‘] nicht teilhaben“, „gerade von da her zu interpretieren“ seien; dafür ist dieses Kapitel in sich theologisch zu reich und zu dicht. Schon das bisher Referierte dürfte gezeigt haben, dass diese „Theologie des Alten Testaments“ Stoff zur Diskussion bot. Es gab denn auch kaum jemanden, der sich nicht irgendwo zu Wort meldete, um sein Ja oder Nein oder beides 98  Ebd. 352f.

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bekanntzugeben. Die gewichtigsten Fragen stellten im deutschen Sprachgebiet Christoph Barth (1917–86), Friedrich Baumgärtel (1888–1981), Hans Conzelmann (1915–89), Walther Eichrodt (1890–1978), Johannes Hempel, Franz Hesse (1917–2013) und Walther Zimmerli99. Sie kreisten einmal um das Problem der Geschichte. v.  Rad hatte von zwei „Bildern der Geschichte Israels“ gesprochen, „dem der modern-kritischen Wissenschaft und dem, das der Glaube Israels erstellt hat“100, und hatte das zweite zum Gegenstand seiner Darstellung gemacht. Bezog sich dann aber nicht die Theologie auf eine Fiktion statt auf reale Geschichte? Eine andere Frage betraf v. Rads Verzicht auf eine „Mitte“ des Alten Testaments. Hat nicht Theologie die Aufgabe, auch und gerade das Disparate so weit wie möglich im Zusammenhang zu sehen und zu denken? Und hatte v. Rad das nicht selbst in höherem Maße getan, als es seinem Programm entsprach und ihm bewusst war? Mit besonderer Schärfe wurde seine Sicht des Verhältnisses zwischen dem Alten und dem Neuen Testament debattiert, wie er sie, weit über den Entwurf von 1943 hinausgehend und, betrachtet man die späteren Debatten um eine „biblische Theologie“, besonders zukunftweisend unter den Stichworten „Die Vergegenwärtigung des Alten Testaments im Neuen“, „Das alttestamentliche Verständnis von der Welt und vom Menschen und der Christusglaube“ und „Das alttestamentliche Heilsgeschehen im Licht der neutestamentlichen Erfüllung“ am Schluss des zweiten Bandes entwickelt hatte. Waren hier nicht, so fragten die hoffnungsvoll angeredeten Neutestamentler zurück, die fundamentalen Unterschiede eingeebnet, war hier die Geltung des Alten Testaments nicht aufgrund einer geistesgeschichtlichen Kontinuität statt aufgrund von Wort und Glauben behauptet worden? Überhaupt: fehlte nicht dieser „Theologie“ die Bestimmung des Gültigen, des Normativen, die doch eine unerlässliche Aufgabe aller Theologie sein sollte? War sie nicht eher eine bloße Traditionsgeschichte? Ein kluger Leser, der Distanz zur Theologie wahrte, I.L. Seeligmann in Jerusalem, prägte später das Bonmot, er halte v. Rads „Theologie“ für ein gutes Buch, weil sie keine „Theologie“ sei, und er halte Zimmerlis „Theologie“ für ein gutes Buch, obwohl sie eine „Theologie“ sei. v. Rad las, was ihm von alledem vor Augen kam, mit großer Aufmerksamkeit und nahm sich manches zu Herzen. Auf die wichtigeren Fragen und Einwände antwortete er wiederholt in grundsätzlichen Ausführungen zum Problem einer alttestamentlichen Theologie101. Eine Rezension, die F. Baumgärtels, nahm er aus, weil sie ihn verletzt hatte; gleichwohl bleibt gerade sie lesenswert, weil sie zwar nicht von den Stärken, wohl aber von den Schwächen der v. Radschen Position 99  Barth: EvTh 23 (1963) 342–72; Baumgärtel: ThLZ 86 (1961) 801–16.895–908; Conzelmann: EvTh 24 (1964) 113–25; Eichrodt: Theologie des Alten Testaments II/III 4(1961) VII–XIII; Hempel: BiOr 15 (1958) 206f.; Hesse: ZThK 57 (1960) 17–26; Zimmerli: VT 13 (1963) 100–11. 100  Theologie I, 113f. 101  Theologie II (1960) 5–13; Theologie I 4(1962) 10–13; ThLZ 88 (1963) 401–16; EvTh 24 (1964) 388–94; Theologie II 4(1965) 437–47.

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ein scharfes, überscharfes Bild gibt. v. Rad war kein geschickter Debatter und unterlag leicht im Austausch harter Argumente, auch wenn er ein tieferes Recht auf seiner Seite wissen durfte. Er hielt nicht starr an einmal Behauptetem fest, sondern erweichte öfters Äußerungen, die ihm zu apodiktisch vorkamen102, und hatte die Größe, etwa seinen Typologie-Aufsatz „töricht“ zu nennen103 – privatim und ohne die Attitüde jemandes, der sich in scheinbarer Selbstkritik nachträglich so etwas wie einen geistigen Weg attestiert, während er doch nur die Fahne in den jeweiligen Wind gehängt hat. Die Fahne in den Wind zu hängen lag v. Rad ganz fern. Es war immer die gleiche Sache, in deren Dienst er sich wusste, und er versah diesen Dienst bei allem Achten auf Neues doch in einer erstaunlich gleichbleibenden Art. So sah er sich auch im Streit um seine „Theologie“ nicht zu wesentlichen Revisionen veranlasst. Um so bezeichnender war, dass er seine eigentliche Schlussbilanz mit der Überschrift versah: „Offene Fragen im Umkreis einer Theologie des Alten Testaments“104. Es enttäuschte ihn am meisten, wenn er bei seinen Gesprächspartnern zu sehen meinte, dass sie nicht offen waren, sondern fertig und alles schon wussten – und dass ihnen am Alten Testament weniger lag als ihm. „Das Gespräch hat“, so notierte er, „nur Sinn, wenn nicht summarische dogmatische Urteile ausgetauscht werden, sondern wenn die spezifischen Inhalte des AT zur Diskussion kommen.“105 Auf dieser Linie wurde er nicht müde, das Alte Testament, wie er es verstand, zum Reden zu bringen, im Einzelnen nicht weniger als im Ganzen und so, dass er das Ganze im Einzelnen und von ihm her zu fassen suchte: „Es gibt keine Gesamtinterpretation des Alten Testaments, die heute nicht ihr Recht fortwährend an einer ihr genau entsprechenden Einzelinterpretation beweisen müßte. Sonst ist sie belangloses Gerede […]. Mit allgemein biblisch-theologischen Formeln oder Parolen ist heute weniger denn je etwas auszurichten.“ In diesem Zusammenhang nannte er „charakteristisch für unsere Problemlage […] die große Nähe von Exegese und ‚Einleitung‘ einerseits und Theologie des Alten Testaments andererseits“106. Diese doppelte Nähe – „Einleitung“ war seine Lieblingsvorlesung107 – spürt man der „Theologie“ überall ab. Die entscheidende Definition dürfte sein: „Die legitimste Form theologischen Redens vom Alten Testament ist […] die Nacherzählung.“108 v.  Rad hat diesem Satz später den Hinweis hinzugefügt, das sei „jedenfalls die nächste Folgerung“ gewesen, „die Israel aus dem ihm widerfahrenden Geschichtshandeln zog: Die göttlichen Taten mußten erzählt werden! Jeder 102  Vgl. Theologie I 4124 mit 1117 zur „Zeugniswelt“ als Gegenstand einer Theologie des Alten Testaments. 103  FS 1971, 656. 104  ThLZ 88, 401–16 (= Gesammelte Studien II, 289–312). 105  EvTh 24 (1964) 166. 106  Theologie II (1960) 12. 107  FS 1971, 654. 108  Theologie I 1126.

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Generation sind sie von den Vätern erzählt worden (Ps 44,2; 78,3; Dt 6,7; 29,22f.), und deshalb mußten sie in immer neuer Aktualisierung weitererzählt werden (Ps 96,3; Jes 43,21). So wird sich also auch eine Theologie des Alten Testaments im rechten Nachsprechen dieser Geschichtszeugnisse zu üben haben, wenn sie die Inhalte des Alten Testaments sachgemäß erheben will. Auch der Verfasser der Apostelgeschichte läßt Stephanus und Paulus die Geschichte des Gottesvolkes erzählen (Apg 7,2ff.; 13,17ff.).“109 Die Nachfolge, in der wir damit stehen, schließt nicht aus, dass es sich heute um eine „kritische Nacherzählung“ handelt; sie ist ja Arbeit des „literarkritisch und historisch geschulten Exegeten“110. Mindestens ebenso wichtig ist für v. Rad aber etwas anderes: die Nacherzählung soll nicht vorschnell den Zusammenhang zerstören, in dem die Dinge für die biblischen Erzähler stehen. Das gilt für die Abfolge der Ereignisse, die die „Theologie“ also nicht nach unseren literargeschichtlichen oder geschichtlichen Einsichten umstellen soll111, es gilt aber auch, ja noch wichtiger für das Wirklichkeitsverständnis, das damals so anders gewesen ist als heute. Die „kerygmatische“ Geschichte von damals hat der „kritischen“ Geschichte von heute voraus, dass sie von Gottes Wirken zu reden vermag. Darum gibt der Theologe v. Rad ihr den Vorzug und vertraut sich ihr an – ohne damit, sonst wäre er ja nicht der Schüler A. Alts, ihre heutige Nachfahrin außer Kurs bringen zu wollen112. Eine systematische Lösung des Problems hat er nicht versucht, sondern, „von einer letzten Verbundenheit, ja Einheit beider Aspekte überzeugt“, dazu aufgerufen, die Spannung zwischen ihnen auszuhalten113. Weiter ging er nicht, und auch als unter kräftiger Berufung auf seinen Namen ein Kreis jüngerer Heidelberger den ehrgeizigen Versuch unternahm, mit Hilfe des Geschichtsbegriffs die ganze Theologie in die Hand zu bekommen, wahrte er bei aller Wertschätzung W. Pannenbergs, des führenden Kopfes bei diesem Unternehmen, vorsichtig Distanz. Er stand der Dialektischen Theologie zu nahe und dachte, was wichtiger ist, zu sehr von der Bibel her, um sich zu beteiligen, wenn „das Wort“ durch „die Geschichte“ neutralisiert zu werden drohte. Was die „Sachkritik“ innerhalb des Alten Testaments angeht, blieb er bei der Zurückhaltung, die er schon in der Habilitationsschrift geübt hatte114. Er distanzierte sich von den gängigen Werturteilen nach ästhetischem oder auch religionsgeschichtlichem Maßstab und warnte vor übereilter theologischer Parteinahme. Es war eine Ausnahme, wenn er etwa bei Hiob und Kohelet Geschichts- und Gemeindelosigkeit konstatierte, in deren Folge der Glaube 109  Theologie I 4134f. 110  Theologie II (1960) 12; vgl. Gottes Wirken in Israel 53. 111  Theologie I (1957) 126. 112  Vgl. besonders Theologie II 1(1960) 8–11, 4(1965) 442–46. 113  Theologie II 4443f. 114  S.o. Anm. 26.

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habe zerbrechen müssen115. In der gegenwärtigen „Übergangssituation“, in der die Mittel „zu viel profilierteren Darstellungen, d.h. dann auch zu präziseren Wertungen und Abwertungen“ noch nicht bereitstünden, betrachtete er es gegenüber dem „Meistern und Dreinreden“, das er um sich herum geübt sah, als seine eigene Aufgabe, „zunächst einmal jedem Autor, jedem Werk seine Sache so objektiv wie möglich abzunehmen“116. Anders gesagt: er verstand sich als das, was er war, als Exeget. In der Kirchenkampfzeit hatte er sich ausdrücklich Karl Barths „letzten Rat“ an seine Bonner Studenten beim Abschied 1935 zu eigen gemacht: „Exegese, Exegese und noch einmal Exegese!“117, und hatte dem hinzugefügt: „Aber nun ohne Generalrezept, ohne Universalschlüssel, sondern allein in dem Wagnis einer in den Glauben des jeweiligen Zeugnisses eintretenden Deutung! […] Wenn wir uns […] nicht getrauten, das eine Ohr dicht auf den Text zu legen und das andere auch einmal zuzuhalten, wäre das nicht Kleinglaube?“118 Und ist eine solche Exegese nicht Theologie? Gewiss hatte v. Rad gute Gründe, wenn er nachträglich fand, er habe seine „Theologie“ „ganz phänomenologisch geschrieben“, sie sei „noch keine ausreichende Theologie des Alten Testaments“119. Aber ebenso gewiss war auch der Systematiker im Recht, der ihm erklärte, er habe seine Arbeit „immer als nicht rein phänomenologisch verstanden, sondern auch als in dem Sinne gemeint, uns das Alte Testament in seiner auch theologischen Bedeutung für uns zu interpretieren“120. In früheren Generationen galt es fast als Regel, dass „Theologien des Alten Testaments“ erst nach dem Tod ihrer Verfasser erschienen. v.  Rad hat den Abschluss seiner „Summe“ um mehr als ein Jahrzehnt überlebt und sich in dieser Zeit keineswegs auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Ehrungen wurden ihm in Fülle zuteil, gipfelnd in der Mitgliedschaft im Orden Pour le mérite für Wissenschaft und Künste, dem als letzter protestantischer Theologe Adolf v. Harnack (1851–1930) angehört hatte und wo Romano Guardini (1885–1968) sein Vorgänger und Karl Rahner (1903–70) sein Nachfolger war. Bis zur Emeritierung (1966) ging der akademische Betrieb im vollen Umfang weiter, dann folgten noch einige Seminare. Für das, was in seiner Wissenschaft geschah, behielt v.  Rad das lebendigste Interesse. Er äußerte seinerseits mündlich oder brieflich Gedanken, die den Leser seiner „Theologie“ sehr überraschen konnten. Ein „causa finita“ kannte er nicht. Den Nachrückenden begegnete er ohne allen Hochmut. Er hörte ihnen genau zu, wenn sie ihm eigene Beobachtungen an 115  ThLZ 68 (1943) 228. 116  Theologie II 111; 4446; Gesammelte Studien II, 296–98; vgl. ThLZ 68, 230, auch v. Rads Brief an R. Hermann in R. Hermann, Gesammelte und nachgelassene Werke III (1971) 300f. 117  K. Barth, Das Evangelium in der Gegenwart (1935) 17. 118  ThBl 15 (1936) 33 (beachtlich auch das hier Ausgelassene, dessen Erörterung hier zu weit führen würde). 119  Wolff, FS 1971, 657. 120  Hermann (Anm.116) 302.

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biblischen Texten mitteilen konnten, während ihn die Erörterung von Prinzipien, Strukturen und Methoden zunehmend langweilte. Mit Sorge verfolgte er eine Tendenz am eigenen Ort, in der Vorlesung mehr den großen Überblick als die Begegnung mit dem Einzeltext zu vermitteln. Die literarische Produktion wurde ihm im Lauf der Jahre nicht leichter. Mühevolle Pflicht waren die Neubearbeitungen der „Theologie“ und, im letzten Lebensjahr, des Genesiskommentars, und zunächst drohte dahinter die noch mühevollere Pflicht, neue Kommentare zu liefern: zum Deuteronomium im „Alten Testament Deutsch“, zu Jeremia im Neukirchener Kommentar. Er schrieb etwas lustlos – es gab da für ihn nichts mehr zu entdecken – das „Deuteronomium“ nieder und entschloss sich dann, den Jeremia-Vertrag zurückzugeben, wie er es in Neukirchen schon früher mit Verträgen über Jesaja und die Sprüche Salomos getan hatte. Die gewonnene Freiheit nutzte er zur Beschäftigung mit einem scheinbar ganz neuen Bereich, nämlich mit der Weisheit. Dem offenbarungsfremden Gegenstück zur Geschichte also! Folgte er hier der Mode, die sich damals in der Tat besonders der Weisheit zuwandte? Ein Zusammenhang bestand gewiss insofern, als auf breiter Front eine gewisse Übersättigung mit „Geschichte“ eingetreten war. v.  Rad selbst sprach 1964 nicht ohne Selbstkritik von der „Gefahr, die theologischen Probleme zu einseitig im Bereich des Geschichtstheologischen zu sehen“121. Aber von manchen Vertretern der Mode unterschied ihn, dass er nun nicht ins Gegenteil verfiel und nachgerade überall einen weisheitlichen Hintergrund witterte. Von Hause aus hatte er auch ein geringeres Bedürfnis nach natürlicher Theologie als andere. In vernünftigen Grenzen war ihm die Weisheit längst interessant gewesen. Er hatte die Gottesrede in Hiob 38 mit dem Onomastikon des Amenope und die Josephsgeschichte mit der älteren israelitischen Weisheitslehre in Beziehung gebracht und dabei für diese postuliert, „daß man sie nicht nur in einigen Sentenzensammlungen greifen kann, sondern daß sie von Anfang an als ein sehr viel umfassenderes geistiges Phänomen auf den Plan getreten ist“122. Dieses Phänomen hatte er im ersten Band der Theologie, etwas künstlich in die „Antwort Israels“ eingegliedert, nach drei Perioden als „ältere Weisheit“, „Erfahrungsweisheit“ und „theologische Weisheit“ sehr gehaltvoll dargestellt123. In den sechziger Jahren machte er sich daran, es aus dieser Zwangsjacke zu befreien und als eine Größe ganz eigener Art und eigenen Rechts neu zum Leuchten zu bringen. Das erste Dokument dafür ist der Aufsatz über Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses (1964)124, das letzte die Monographie „Weisheit in Israel“ (1970), ein Buch, in dem anhand der Texte eine ganze Welt durchschritten wird, um „das Abenteuer der Freisetzung der Vernunft“ anschaulich zu machen, das 121  Gesammelte Studien (I) 311. 122  Ebd. 262–71; 272–80 (Zitat 279). 123  Theologie I1, 415–51, 2430–67. 124  Gesammelte Studien (I) 311–31.

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Israel bei aller Internationalität gerade in dieser Sache „auf eine ganz eigene Weise bestehen“ musste. Das Vorwort bittet den Leser, „sich den Spannungen, in denen sich die Lehren der Weisen bewegen, auszusetzen und viel Bereitschaft zur Kontemplation mitzubringen. Res loquuntur.“ Man hat gelegentlich gemeint, v. Rad sei mit der Wendung von der Geschichte zur Weisheit sich selbst untreu geworden. Kaum mit Recht. Er gab ja nicht preis, was er zur Geschichte gesagt hatte, und im tiefsten Grund ging es auf beiden Seiten um das gleiche Problem: das Verhältnis des Glaubens zur Erfahrung der Wirklichkeit, die eben im Geschichtlichen nicht aufgeht. Diese Dualität war ihm schon 1935 bewusst gewesen, als er „das theologische Problem des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens“ bedachte125, und 1941 hatte er einen Vortrag über „das Wort Gottes und die Geschichte im Alten Testament“ damit geschlossen, nun müsse „eine zweite Darstellung folgen: ,Das Wort Gottes und die Natur‘“126. Wie auf dem Gebiet der Geschichte so hat er auch hier weder das heutige gegen das damalige noch das damalige gegen das heutige Wirklichkeitsverständnis ausgespielt, sondern auf eine Spannung aufmerksam gemacht, die es zunächst einmal auszuhalten gelte. Er beschied sich damit, Anregungen gegeben zu haben127. In seinen letzten Lebenstagen notierte er sich einen Satz von Gerhard Ebeling: „Das Kriterium der Theologie ist die Predigt“128 und fügte hinzu: „Das hat mich begleitet.“ Er war mit Leidenschaft beides: Prediger und Predigthörer. „Unvergeßlich“ nannte der Göttinger Studentenpfarrer der Nachkriegsjahre noch nach Jahrzehnten die Weise, in der v. Rad seine Predigten „kritisch begleitete“129. Für den Prediger stehe hier das Zeugnis der Ricarda Huch aus dem Jahre 1940: „Es berührt mich so wohltuend, einen durch und durch kultivierten Menschen predigen zu hören, der vielleicht in keinem andern Sinn gläubig ist als ich, nämlich in dem, daß er fühlt, die Bibel enthalte das Wort Gottes. Ich habe nie einen Prediger gehört, dessen Worte sich dem Wort Gottes so anschmiegen, daß keine Diskrepanz entsteht.“130 Wer diesen Theologen kennenzulernen und zu wissen wünscht, worum es ihm vor allem anderen ging, der greife nach seinen gedruckten Predigten131. Er wird mehr bekommen als die Erfüllung dieses Wunsches. Wir kehren noch einmal zum Selbstzeugnis des Professors zurück, der Gerhard v. Rad im Hauptberuf war und blieb, auch wenn er sich fragen konnte, „ob man nicht im Alter zwar nicht seinen Christenstand, aber doch die theologische 125  Ebd. 136. 126  Gottes Wirken in Israel 212. 127  Vgl. dazu die über v. Rad hinausgehende, aber ihn lehrreich interpretierende Gedenkrede von W. Pannenberg in: Gerhard v. Rad. Seine Bedeutung für die Theologie (1973) 37–54. 128  G. Ebeling, Vom Gebet (1963) 6. 129  Andersen (Anm. 75) 23. 130  Briefe (Anm. 69) 330. 131  G. v. Rad, Predigten (1972). – Die Arbeit von M. Hauger (s. Anm. 5) verdient auf gleichem Niveau weitergeführt zu werden.

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Arbeit auch einmal wieder auf die Seite legen könne“132. Seine Aufgabe als akademischer Lehrer nannte er, übrigens fast wörtlich gleich wie Karl Barth133: „lesen zu lernen und lesen zu lehren“134. Was war dabei in vierzig Jahren herausgekommen? Er sagte gern: „Mir ist ab und zu etwas aufgefallen.“135 In dieser lakonischen Auskunft steckte Genugtuung, aber mindestens ebenso sehr ein tiefes Wissen um die Begrenztheit des Gewonnenen, die Sorge, man könnte es überschätzen, sich damit begnügen. Wenn etwas für ihn charakteristisch war, dann „die Resignation“, die er „immer beim Beschließen eines Buches empfand“136. Das Letzte, was er schrieb, „Beobachtungen an der Moseerzählung Exodus 1–14“137 für eine Festgabe an H.W. Wolff, schickte er dem zuständigen Herausgeber mit den Sätzen: „Ich muß Sie um den Freundschaftsdienst bitten, mir zu sagen, ob das noch geht oder ob es zuviel der Einfalt ist. […] Mute ich Ihnen zu viel zu? Die Geschichte von dem alten Professor, der seine jungen Freunde bittet, es ihm zu sagen, wenn er aufhören soll, hat viele Varianten. Aber in jeder schneiden die Jungen schlecht ab.“ Im Notfall könne er auch eine Predigt heraussuchen, aber, so schrieb er nachträglich an den Rand, „sehr ungern; habe dafür keine Kühltruhe“. Als der Herausgeber versucht hatte, seine Bedenken zu zerstreuen, antwortete er, schon im Monat seines Todes: „Vielleicht ist es mir selber selten so gegangen, daß ich von meinem Geschreib so gar keinen Abstand finden konnte, sondern immer nur das Geschwärm unbeantworteter Fragen sehe. […] Nun mag die Sache also ihren Lauf nehmen.“138 Für seinen Todestag, das Reformationsfest 1971, stand als Lehrtext im Herrnhuter Losungsbuch: „Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach“ (Hebr 13,7)139.

132  Wolff, FS 1971, 658. 133  Briefe 1961–1968 (21979) 479. 134  Gottes Wirken in Israel 321 (323). 135  Wolff, FS 1971, 657. 136  H.W. Wolff in: Gerhard v. Rad (Anm. 127) 9. 137  EvTh 31 (1971) 579–88 = Gesammelte Studien II, 189–211; vgl. EvTh 31, 704. 138  Briefe an R. S. vom 28.9. und 2.10.1971. 139  Vgl. auch R. Smend, Der Theologe des Alten Testaments: Gerhard von Rad (Bibel und Wissenschaft, 2004, 187–98).

Martin Noth 1902–1968

Unter der Überschrift „Glückliche Universität am Rhein“ berichtete 1958 eine große Tageszeitung ausführlich über die Universität Bonn. Besonders wurde deren Spitze gewürdigt: „Der jetzige Rektor Magnificus ist der evangelische Theologe Martin Noth, eine Zierde seines Faches, als Alt-Testamentler weithin berühmt, geschätzt wegen seiner Verbindlichkeit, bekannt für seinen minutiös genauen Lebenswandel und seine Vorliebe für die Musik.“1 In der Tat: glücklich eine Universität, in der die Leitung durch solche Rektoren zur Normalität gehörte, glücklich aber auch eine wissenschaftliche Disziplin, die einen solchen Mann zum öffentlichen Repräsentanten hatte! Man kann nicht ganz umhin, es symbolisch zu finden, dass Martin Noths Tod in das Frühjahr 1968 fiel. Geboren war er am 3. August 1902 in Dresden als ältestes Kind des Oberstudienrats lic. Gerhard Noth. Von seinen beiden Brüdern wurde der eine Pfarrer und Landesbischof, der andere Ingenieur und Bundesbahndirektor. Beider Wege lagen ihm selbst nicht von vornherein fern; er ging dann aber schnell und konsequent einen dritten, von dem man mit einem gewissen Recht sagen kann, dass er zwischen ihnen lag. Er wurde Theologieprofessor mit Akzent auf den Realien. Nach dem Besuch des Dresdner Kreuzgymnasiums studierte er Theologie in Erlangen, Rostock und Leipzig. In Leipzig nahm er an Rudolf Kittels letztem Seminar teil, woran er sich zeitlebens gern erinnerte. Seinen eigentlichen Lehrer fand er in Kittels Nachfolger Albrecht Alt. 1922/23 bearbeitete er erfolgreich die von Kittel gestellte Preisaufgabe der Leipziger Fakultät über die religionsgeschichtliche Bedeutung der israelitischen Personennamen. Er setzte diese Studien fort; Teile von ihnen dienten 1926 und 1927 in Greifswald als Dissertation und als Habilitationsschrift. Nach zwei Semestern Greifswalder Lehrtätigkeit habilitierte er sich nach Leipzig um, und nach weiteren zwei Semestern wurde er zum Ordinarius in Königsberg ernannt, wo er von 1930 bis zum Ende des zweiten Weltkrieges gewirkt hat und wo er besonders gern gewesen ist. 1945 nahm er einen Ruf nach Bonn an. Dort wurde er 1967 emeritiert. Schon vorher, 1964, war er nach Jerusalem übergesiedelt, um dort die Leitung des von Gustaf Dalman gegründeten und von Albrecht 1  „Die Welt“ 29.3.1958.

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Alt weitergeführten Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes zu übernehmen. Er starb am 30. Mai 1968 auf einer Exkursion in Subeita (Shivta) im Negeb und wurde tags darauf auf dem evangelischen Friedhof in Bethlehem begraben. Neben seinen akademischen Aufgaben im engeren Sinn hatte er mancherlei Tätigkeiten ausgeübt. Besonders lag ihm der Deutsche Verein zur Erforschung Palästinas am Herzen, dessen Zeitschrift er von 1929 bis 1964 herausgab und dessen Vorsitzender er von 1952 bis 1964 war. Er war Mitherausgeber der „Welt des Orients“ (1947–64), der Zeitschrift für Theologie und Kirche (1950–62) und von Vetus Testamentum (1951–59). Unter seiner Leitung begann der „Biblische Kommentar“ zu erscheinen, in dem er selbst die Bearbeitung der Samuel- und Königsbücher übernommen hatte. Er war Mitglied der Königsberger Gelehrten Gesellschaft und der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NordrheinWestfalen (heute Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften); zu beider Schriftenreihen lieferte er wichtige Beiträge. Außerdem gehörte er mehreren wissenschaftlichen Gesellschaften des Auslands als Ehrenmitglied an. 1959 wurde er in Oxford zum Präsidenten der International Organization for the Study of the Old Testament gewählt; 1962 leitete er in dieser Eigenschaft mit heiterer Würde den 4. internationalen Alttestamentlerkongress in Bonn. In der Universität Bonn war er 1947/48 und 1957/58 Rektor und jahrelang Vorsitzender des Studentenwerks. Er erhielt eine Reihe ehrenvoller Rufe und war Ehrendoktor der Theologischen Fakultäten in Greifswald (1930) und Lund (1959) und der juristischen Fakultät in Frankfurt (1964). Nicht als hätte seiner Länge durch dergleichen eine Elle zugesetzt werden müssen. Der „imponierende Riese“, den man auch für einen Gutsbesitzer oder Feldherrn hätte halten können2, brauchte sich auch nicht selbst zu inszenieren. Die Wucht seiner Erscheinung verband sich mit der Behendigkeit seines Ganges und dem Spiel seiner immer wissbegierig und gern ein wenig erstaunt blickenden Augen zu einem Bild von großem Charme. Er hörte lieber zu, als dass er redete, und konnte von beinahe scheuer Zurückhaltung sein. Aber er schuf schon durch seine bloße Anwesenheit Atmosphäre, wie nur wenige es können. Man hat treffend von „einer bestimmten Art von Behaglichkeit“ gesprochen, „die um ihn war und in die er“, namentlich bei gutem Wein und Zigarren, „andere hineinzuziehen vermochte“3. Er hielt auf Formen, war ein Mann alter Schule, ein Herr. Wer sein menschliches Stilgefühl verletzte, tat das nicht ungestraft. Wie die meisten Menschen seines Ranges war er für seine Umgebung nicht immer einfach; aber er gab dem, der sich ein wenig auf ihn verstand, reichlich Grund zu Dankbarkeit, Anhänglichkeit, ja Liebe.

2  O. Bächli, KBRS 128 (1972) 162. 3  K.H. Rengstorf, Mitteilungsblatt 36 der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (1968) 17.

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Vielleicht darf ein früherer Assistent hier von seiner eigenen Erfahrung sprechen. Noth verfuhr mit seinen Assistenten in der denkbar liberalsten Weise und berief sich, darüber zur Rede gestellt, auf Alt, der es einst mit ihm ebenso gemacht habe. Der Assistent hatte die Sprachkurse und das Proseminar zu halten und hin und wieder Korrekturen zu lesen; aber Noth las die Korrekturen auch und fand, wenigstens in dem zur Rede stehenden Fall, meist mehr Druckfehler als der Assistent. Mehr Pflichten gab es für den Assistenten normalerweise nicht. Noth machte seine Arbeiten allein, vom Gang auf die Bibliothek bis zur Herstellung des Manuskripts; dass andere es anders hielten, konnte er nie so recht verstehen. Er gab aber auch dem Assistenten keine Anleitung für dessen Arbeit. Man war wie er im Wasser und hatte zu schwimmen. Er ließ den Jüngeren merken, dass er Zutrauen zu ihm hatte – das war alles; aber hätte er mehr tun können? Von dem, womit er selbst beschäftigt war, sprach er nur selten, erkundigte sich, diskret wie er war, bei dem Jüngeren auch nicht nach dessen Arbeit. Als er freilich einmal zart andeutete, es würde vielleicht allmählich Zeit, sich zu habilitieren, begriff der Assistent, dass Eile geboten war. Noth war nicht in erster Linie Lehrer. So viel er für Rang und Ruf der Bonner Universität und Fakultät bedeutete, sein Hörsaal war doch weit davon entfernt, wie der anderer Zelebritäten so etwas wie ein allgemeiner Treffpunkt zu werden. Noth las nicht gerade gern Kolleg. Pädagogischer Eros war ihm fremd, zu schweigen von dem Bemühen, andere mit besonderen Kunststücken für die eigenen Meinungen zu gewinnen. Aber er führte in seinen Vorlesungen wie in seinen Büchern – er zitierte gern die Maxime Alts, man solle es „den Lesern leicht machen“ – alle Arbeitsgänge vor und wog überaus sorgfältig Argument gegen Argument; auch und gerade der Ungeübte konnte davon großen Nutzen haben. So etwas wie eine Schuldogmatik war hier nicht zu lernen, sondern ein geduldiges Beobachten und Fragen; die Antworten standen nie im Vordergrund, und über ihren, oft geringen, Sicherheitsgrad wurde nie ein Zweifel gelassen. Die heute so gern totgesagte Gemeinschaft zwischen Lehrenden und Lernenden bestand hier darin, dass die Lernenden das Beobachten und Fragen eines erfahrenen Mannes vorgeführt bekamen, um dann, ganz und gar freiwillig, vielleicht auch ihrerseits zu beobachten und zu fragen. Nicht alle haben das verstanden, und von denen, die es verstanden, haben sich nicht alle auf eigene Füße gestellt. Aber manche haben es getan, und nicht nur als Alttestamentler. Man ist in Verlegenheit, wenn man Noth-Schüler aufzählen soll. Aber man trifft immer noch alte Bonner Studenten, die mit Dankbarkeit von ihm sprechen. Noth beherrschte sein Fach in ungewöhnlich großem Ausmaß, auch in Bereichen, die für ihn nicht im Vordergrund standen und über die er weniger publizierte. In der Nötigung, sich auch dort ständig auf dem Laufenden zu halten, sah er für sich den eigentlichen Sinn des Vorlesungsbetriebs. Wo seine Hauptinteressen lagen, war er auch in den angrenzenden Disziplinen außerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft zu Hause. Er war geschulter Semitist und

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Ägyptologe und bewegte sich mühelos in den geschichtlichen Überlieferungen des alten Orients; ihnen insgesamt sollten nach dem ursprünglichen Plan die Bände der „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ gelten. Vor allem muss hier die palästinisch-syrische Landeskunde im weitesten Sinn genannt werden, an die Noth kaum weniger Arbeit gewendet hat als an das Alte Testament. Bei aller Weite des wissenschaftlichen Horizonts wusste er doch, wo seine Grenzen lagen, und vermied es, sie zu überschreiten. Er war keine Figur des geistigen Lebens im allgemeinen und wollte es auch nicht sein. Breite literarische Interessen hatte er nicht; aber die Musik war ihm unentbehrlich, vor allem Mozart. Mit theologischen Äußerungen hielt er sich, von einigen nicht unbeachtlichen Ausnahmen abgesehen, zurück, wobei sowohl die Zurückhaltung als auch die Ausnahmen von theologischer Weisheit zeugten. Er war ein frommer und kirchlicher Mann, woran seine Frau großen Anteil hatte. Nicht wegdenken lässt sich die Königsberger Freundschaft mit H.J. Iwand (1899–1960) und J. Schniewind (1883–1948), die über das Persönliche hinausging. Über seine Haltung in diesen Jahren ist gesagt worden: „Politik und Kirchenpolitik lagen ihm nicht, und es entsprach nicht seinem Wesen, Fronten zu bilden oder sich an ihrer Bildung und Vertretung zu beteiligen. Er hat sich aber jederzeit Kompromissen versagt und nicht daran gedacht, politische oder kirchenpolitische Konzessionen zu machen, und das, wo es sich als nötig erwies, auch unter Beweis gestellt. Für diejenigen, die ihn kannten, konnte nie ein Zweifel daran bestehen, wohin er sich rechnete und wo er stand.“4 Die Begegnung mit Karl Barth nach dem Krieg in Bonn beeindruckte ihn, hatte aber auf sein theologisches Denken einen geringeren Einfluss, als gelegentlich angenommen wird. Barth schätzte Noth als Menschen und Gelehrten hoch, überschätzte freilich den Grad seiner Zustimmung zu den alttestamentlichen Exegesen in der „Kirchlichen Dogmatik“. Noth stand der Theologie des Wortes mit einer leisen, auf die Dauer eher zu- als abnehmenden Reserve gegenüber, wenn er zu sehen meinte, dass bei ihr ein Gegensatz zur Geschichte im Spiel war. So sehr seine eigene Arbeit einer am Wort orientierten Theologie des Alten Testaments zugute kommen konnte und zugute kam, er selbst war doch vor allem anderen – und das, wie namentlich der schöne Essay „Von der Knechtsgestalt des Alten Testaments“5 zeigt, keineswegs ohne sich dabei theologisch etwas zu denken – auf Geschichte aus. In diesem wesentlichsten Punkt sah er seine Aufgabe ganz wie sein Lehrer Alt. Das Verhältnis zwischen diesem Lehrer und diesem Schüler muss beglückend gewesen sein. Der Lehrer, der in seinen mittleren Jahren die Ergebnisse langer und intensiver Studien literarisch zusammenfasste und damit die Erforschung der Geschichte des ältesten Israel auf neue Grundlagen stellte, 4  Rengstorf a.a.O. 15. 5  Gesammelte Studien II, 62–70. Dort 166–205 eine vollständige Bibliographie (nachzutragen: Rezension von W. Richter, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch, VT 15, 1965, 126–28).

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fand in eben dieser Zeit jemanden, der sich an der Weiterarbeit mit gleicher Kraft, im selben Sinn und doch völlig selbständig beteiligen konnte. Der Schüler, schon als Student in ganz ungewöhnlichem Maß mit dem wissenschaftlichen Rüstzeug versehen, brauchte die entscheidenden Grundlagen für sein Lebenswerk nicht mehr zu legen und konnte daher in viel jüngeren Jahren auf seinem eigentlichen Arbeitsfeld in großem Umfang produktiv werden, als es dem Lehrer möglich gewesen war. Es ist verbürgt und lässt sich an der einen oder anderen Einzelheit auch literarisch belegen, dass im Verhältnis der beiden schon früh Alt nicht nur der Gebende war. Aber im ganzen war natürlich sein Einfluss der größere; bis in liebenswürdige Kleinigkeiten des persönlichen Verhaltens hinein konnte man sich bei Noth an Alt erinnert finden. Dabei waren und blieben beide sehr verschieden. Sie verleugneten nicht ihre landschaftliche Herkunft, die des Franken und die des Sachsen. Alt war elementar, fast rustikal, Noth dagegen urban. Alt hatte Noth die urtümliche Imaginations- und Darstellungskraft voraus, die ihn nicht nur zum bahnbrechenden Forscher, sondern auch zum unvergleichlichen Lehrer bedeutender Alttestamentler und, nicht zu vergessen, ganzer Generationen von Studenten machte. Noth arbeitete technischer, versenkte sich nicht so asketisch in die Überlieferung, verschmolz weniger mit seinen Gegenständen, als es bei Alt den Anschein hatte. Seine literarische Fruchtbarkeit war darum von anderer Art als die Alts, ergänzte sie aber aufs glücklichste. Alts Arbeiten waren fast durchweg Kabinettstücke der kleinen Form, ein minutiöses Herauspräparieren meist eng begrenzter, wenngleich oft über sich selbst hinaus wichtiger Gegenstände; Noth, dem weniger als Alt an der letzten Ausreifung und Formung seiner Ergebnisse lag, konnte auch mit notwendig unabgeschlossenen Experimenten großen Stils in die Öffentlichkeit treten. Er ließ sich seine Themen stärker als Alt auch von traditionellen stofflichen Vorgegebenheiten diktieren und schrieb Monographien über umfassendere Bereiche, Lehrbücher und Kommentare. Obwohl er nicht im Unrecht war, wenn er sich dagegen verwahrte, dass es „Schulmeinungen“ einer „AltSchule“ gebe6, bestand zwischen Alt und ihm in den Hauptfragen Übereinstimmung. Einzelne Differenzen pflegte Alt auf dem Hintergrund dieser Übereinstimmung fast mit einer gewissen Lust ans Licht zu heben. So hatte es der „Richter Israels“ nach Alt7 mit dem kasuistischen, nach Noth8 eher mit dem apodiktischen Recht zu tun, oder unter Salomo wurden nach Alt9 auch die Israeliten, nach Noth10 nur die Kanaanäer zum Frondienst herangezogen; die Liste der Festungsbauten des Königs Rehabeam stammte nach Alt11 aus 6  Aufsätze zur biblischen Landes- und Altertumskunde (ABLAK) I (1971) 341. 7  Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I (1953) 300–02. 8  Geschichte Israels 2(1954) 99. 9  Kleine Schriften II (1953) 532.59. 10  Geschichte Israels 193f.; Könige I (1968) 218. 11  Kleine Schriften II, 306–15.

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der Zeit Josias, nach Noth12 aus der Rehabeams. Ein wichtigerer Unterschied deutete sich an, wenn Alt13 die Vermutungen Noths über ein Fortbestehen des Amtes des „Richters Israels“ in staatlicher Zeit ablehnte. Freilich sollte man Alt darum nicht gegen Noths These vom sakralen Bund der zwölf Stämme als der Organisationsform Israels in vorstaatlicher Zeit in Anspruch nehmen. Um ein sicheres Zeugnis anzuführen: Alt empfahl 1952 in Tübingen einem jungen Studenten, der sich in die Geschichte Israels einarbeiten wollte, Noths Buch von 1930 mit den Worten, es sei die wichtigste Veröffentlichung aus neuerer Zeit in diesem Fach, und von dort aus müsse man weiterarbeiten; er selbst hat das ja auch an einzelnen Stellen getan. In jenem Gespräch erklärte er sogar ausdrücklich sein Einverständnis damit, dass Noth die Geschichte Israels 1950 in Konsequenz seines Buches von 1930 erst in Palästina beginnen ließ und die vorangegangenen Ereignisse erst danach als „Traditionen des sakralen Zwölfstämmebundes“ behandelte. In seinen Veröffentlichungen und auch im Kolleg war Alt freilich weniger radikal; dort ging er von der Vermutung aus, dass der Zwölferbund „wenigstens mit seinen Anfängen noch in Israels vorpalästinische Zeit und zu einem Heiligtum außerhalb des Kulturlandes“ gehörte14. Hier und auch sonst (eine Ausnahme wie die bei den Festungen Rehabeams bestätigt die Regel) neigte Alt eher konservativeren Möglichkeiten zu als Noth; übrigens auch unkomplizierteren, so etwa in der überlieferungsgeschichtlichen und literarischen Analyse des sog. deuteronomistischen Geschichtswerkes, in dessen allgemeiner Abgrenzung er Noth recht gab. Im ganzen freilich dachten Alt und Noth gleichermaßen eher einfach, nicht anders als wohl die Mehrzahl der bedeutenden Alttestamentler, worin sich die bei allen Problemen und Differenzierungen fundamentale Einfachheit und Eindeutigkeit des Gegenstandes ihrer Wissenschaft spiegeln mag. Alt und Noth brachten in dieser Richtung die glücklichsten Voraussetzungen mit, nicht nur eine fast kindliche Frömmigkeit lutherischer Tradition, sondern auch eine beneidenswerte Freiheit von den Grundlagenproblemen, an denen andere sich die Zähne ausbeißen. Um so mehr Gewicht hatte es, wenn Alt mit einer gewissen Feierlichkeit von den Gesetzen der Geschichte sprach, die sich ihm in seiner Arbeit ergeben und immer wieder bestätigt hatten, so der Beharrungskraft institutioneller und territorialer Gegebenheiten oder dem Rhythmus von Völkerbewegungen und Herrschaftsansprüchen. Geschichte gewann bei ihm vor allem in grundlegenden Dualismen Gestalt. Er konstruierte – und konstruieren muss ja auch und gerade der Historiker – nach Typen, bei deren scharfer Herausarbeitung neben und in der beharrlichen Analyse der Quellen und der auf souveräner Kenntnis beruhenden Heranziehung von Analogien ein gehöriges Maß Phantasie beteiligt war. Noth 12  Geschichte Israels 217. 13  In Vorlesungen. 14 RGG2 III, 439.

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tat es ihm auch hierin gleich; nicht unbezeichnend aber, dass er den in der Einleitung zur ersten Auflage der „Geschichte Israels“ ohne jede Feierlichkeit – die war ihm fremd – und „etwas ungeschützt“15 verwendeten Ausdruck „intuitive Schau“ in der zweiten Auflage durch „Kombination“ ersetzte16. Noths Debüt war, wenn man es so ausdrücken darf, nicht das eines Anfängers; die Vielseitigkeit und sichere Könnerschaft der ersten Serie von Arbeiten des noch längst nicht Dreißigjährigen würde jedem Älteren Ehre machen. Ob man die Analyse des Buches Daniel von 1926 nimmt, die, Arbeiten von Hölscher und Haller weiterführend, in Dan 2 und 7 zwei von einem einzigen Verfasser aus der Alexanderzeit stammende Visionen rekonstruiert, mit denen die Geschichte des Danielbuches beginnt17, oder die Jerusalemer Institutsarbeit (1927) über das Krongut der israelitischen Könige mit der Interpretation der Ostraka von Samaria als Begleitschreiben zu Lieferungen von Wein und Öl aus dem Krongut an den Hof in Samaria18 oder die Greifswalder Antrittsvorlesung von 1927 über die Historisierung des Mythus, die in einer bis heute immer wieder auflebenden grundsätzlichen Diskussion sehr charakteristisch Stellung bezog19, oder die 1930 veröffentlichte Bearbeitung der fünf syrisch überlieferten apokryphen Psalmen20: nichts davon ist unwichtig, alles hat seinen festen Platz in der Geschichte der Wissenschaft bekommen. Noth war nicht der Mann, der an einmal von ihm erzielten Ergebnissen hing oder die Gegenstände immer wieder nur unter denselben Aspekten betrachten konnte. Man kann sich das vergegenwärtigen, wenn man die Aufsätze liest, mit denen er nach fast dreißig Jahren zum Buch Daniel zurückkehrte21. Es war ihm aber doch eine große Freude, als eines Tages die Hauptthese des Aufsatzes über die fünf syrischen Psalmen ebenso unerwartet wie glänzend bestätigt wurde: er hatte für drei der fünf Psalmen (II–IV) eine hebräische Vorlage angenommen und diese auch zu rekonstruieren versucht; in Qumran fand man diese Vorlage zu drei der Psalmen (I–III; I nimmt eine Sonderstellung ein); auch Noths Retroversion erwies sich großenteils als richtig22. Vor allem muss hier natürlich das magnum opus jener Jahre genannt werden, „Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung“ (1928). Es ist bis heute das unentbehrliche Standard- und Nachschlagewerk auf seinem Gebiet geblieben, obwohl sich das Material inzwischen sehr vermehrt hat. Noth schafft sich die Basis für die Deutung der israelitischen Namen, 15  W. Zimmerli, GGA 207 (1953) 9. 16  Geschichte Israels (1950) 40; 2(1954) 49; vgl. auch die Streichung von „und ‚geschaut‘“ einige Zeilen vorher. 17  Gesammelte Studien II, 11–28. 18  ABLAK I, 159–82. 19  Gesammelte Studien II, 29–47. 20  ZAW 48, 1–23. 21  Gesammelte Studien I 3(1966) 248–73.274–90. 22  Vgl. J.A. Sanders, ZAW 76 (1964) 57–75.

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indem er die semitischen Namen überhaupt auf ihre grammatische Struktur hin untersucht und danach Schichten innerhalb der semitischen Namengebung ermittelt. Für Israel ergibt sich auf diesem Gebiet eine völlige Abhängigkeit von seiner Umwelt. Noth behandelt in zwei Hauptteilen die theophoren Elemente in den israelitischen Personennamen und die israelitischen Personennamen als Äußerungen der Frömmigkeit, wobei er Bekenntnis-, Vertrauens-, Dankund Wunschnamen unterscheidet. Die profanen Namen kommen in einem Anhang hinterdrein. Aus dem Grammatischen sei zweierlei genannt: das verstärkte Rechnen mit prädikativen Elementen in Namen, die aus zwei Nomina zusammengesetzt sind, und die Ablehnung der Ansicht, dass das häufige î zwischen den beiden Namenselementen das Suffix der 1. Person sei23. Leider hat Noth sein erstes Buch später nicht mehr neu bearbeitet. Dabei hat gewiss auch mitgewirkt, dass ihm der Gegenstand etwas ferner gerückt war. Die religionsgeschichtliche Bedeutung der Namen, Thema der Preisaufgabe Kittels von 1922 und, wenngleich mit behutsamer Reduktion älterer Übertreibungen nach dieser Richtung, auch wesentlicher Inhalt des Buches von 1928, interessierte ihn später, wenn er die semitischen Personennamen in den ägyptischen Ächtungstexten oder in Ugarit oder in Mari untersuchte, weniger als ihre Auswertbarkeit für die Rekonstruktion historischer Zusammenhänge. Hierhin gehört vor allem die These vom „protoaramäischen“ Charakter der „westsemitischen“ Elemente im Zweistromland in den ersten Jahrhunderten des 2. Jahrtausends v.Chr., eine These, die er seit 1927 wiederholt gegen Theo Bauer24 und andere verfocht, um sie dann vorübergehend fallenzulassen25 und aufgrund der Personennamen aus Mari in der Alt-Festschrift 195326 vorsichtig, aufgrund von Vermutungen über den aramäischen Charakter nichtakkadischer Worte in der Mari-Sprache überhaupt in der Schrift über die Ursprünge des alten Israel im Lichte neuer Quellen von 196127 entschiedener zu erneuern. In der Verlagerung des Interesses an den Personennamen wird ein wichtiges Stück des wissenschaftlichen Weges von Martin Noth sichtbar. Um es mit den Namen von Personen zu bezeichnen: der Weg aus dem Arbeitsbereich Rudolf Kittels (oder auch Joh. Hempels, bei dem er sich in Greifswald habilitiert hatte) in den präziser abgesteckten Albrecht Alts. Den folgenreichsten Schritt auf diesem Wege tat Noth mit dem Buch über das System der zwölf Stämme Israels von 1930. Die These, erstmals 1928 in der Leipziger Antrittsvorlesung entwickelt, hatte sich ihm nach seinen eigenen Worten28 schon lange vorher bei der Arbeit an den Personennamen aufgedrängt. Er hatte dort die der Priesterschrift angehörenden, nach Stämmen geordneten 23  A.a.O. 33–36. 24  Die Ostkanaanäer (1926). 25  ZDPV 65 (1942) 342. 26  ABLAK II, 213–33. 27  Ebd. 245–72. 28  Im Vorwort. Zur Frage der Vorgängerschaft Alts vgl. R. Smend, ZThK 81 (1984) 320186; Bibel und Wissenschaft (2004) 182.

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Listen von Geschlechtern und Geschlechtshäuptern Num 26,5b–51 und 1,5– 15 in die Richterzeit datiert. Von dort aus war eine neue Untersuchung des israelitischen Zwölfstämmesystems geradezu gefordert. Das Buch von 1930 greift die Aufgabe zunächst rein traditionsgeschichtlich an, mit dem Ergebnis, dass das Zwölfstämmesystem ein selbständiges, in zwei Formen (Gen 49 mit Levi, Num 1 und 26 ohne Levi, dafür mit Ephraim und Manasse statt Joseph) existierendes Überlieferungselement ist, das weder vor noch nach der Richterzeit entstanden sein kann. Seinen „Sitz im Leben“ zu bestimmen, dienen Analogien, einerseits biblisch überlieferte Zwölfer- und Sechsersysteme in Israels unmittelbarer Umgebung, vor allem aber die ebenfalls aus zwölf oder sechs Mitgliedern bestehenden „Amphiktyonien“ im alten Griechenland und verwandte Bünde bei den Etruskern. Von da her liegt es nahe, im alttestamentlichen Zwölfstämmesystem die Mitgliederliste einer altisraelitischen „Amphiktyonie“ zu sehen. Die Existenz einer solchen Institution in der vorstaatlichen Zeit macht das gemeinsame Handeln der Stämme bei der Staatenbildung verständlich; so bestätigt der historische Rückschluss die durch Analyse der Überlieferung und Analogie gewonnene These. Die Amphiktyonie der zwölf Stämme Israels wurde auf dem Landtag von Sichem (Jos 24) gegründet; ihr ging ein Sechserbund der Leastämme voran. Die griechischen Analogien lassen für die israelitische Amphiktyonie ein zentrales Heiligtum vermuten. Das muss zunächst Sichem gewesen sein; andere Erwägungen sprechen für die Lade Jahwes, so dass Noth deren zeitweilige Aufstellung in Sichem und, gemäß ihrem für die letzte vorstaatliche Zeit bezeugten Aufenthalt in Silo, eine Verlegung des zentralen Heiligtums an diesen Ort postuliert. Dies der wesentliche Inhalt des Buches. Es hat eine außerordentliche Wirkung gehabt. Nach dem zweiten Weltkrieg waren die Amphiktyonie, ihre Institutionen und Traditionen jahrelang weithin fast ein Generalschlüssel für alle Probleme des Alten Testaments. Seitdem ist das Pendel nach der andern Seite ausgeschlagen: wer etwas auf sich hält, lässt durchblicken, dass er auch in dieser Hinsicht über die Nachkriegszeit hinaus ist, ja, dass er die altisraelitische Amphiktyonie als ein bloßes Phantasiegebilde betrachtet. Ein wenig scheint es sich um einen Glaubenssatz zu handeln, den man annimmt oder verwirft. Im Sinne Noths ist das nicht. Er wird in seinem Buch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass seine These „sich nicht mit mathematischer Strenge beweisen läßt“, dass es sich in vielem nur um „mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen“ handeln kann29. Dem ist eine unkritische Verwendung der These ebenso unangemessen, wie ein leichthin gesprochenes Nein es Noths folgerichtiger und sorgfältig differenzierender Argumentation ist, deren Widerlegung den Nachweis erfordert, dass sich das Überlieferungselement von den zwölf Stämmen einleuchtender aus der königlichen oder der exilisch-nachexilischen als aus der vorstaatlichen Zeit herleiten lässt30. Noth 29  A.a.O. 59.87. 30  Vgl. Ch. Levin, Fortschreibungen (2003) 111–23.

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selbst hat seine These später an mehreren Stellen ausgebaut und erweitert, so in der Bertholet-Festschrift 195031 hinsichtlich des „Richters Israels“, und eine Reihe von Konsequenzen aus ihr gezogen; von einigen wird nachher noch zu sprechen sein. Tief einschneidende Modifikationen hat er nicht vorgenommen. Es darf aber erwähnt werden, dass er in seinen letzten Jahren manchmal die Möglichkeit erwog, dass von den beiden Stämmesystemen nicht, wie einst angenommen, das mit Levi, sondern das ohne Levi älter sei; seine letzte gedruckte Äußerung zur Sache bezeichnet das Nebeneinander beider Systeme als „zeitlich noch nicht sicher geklärt“32. 1938 erschien Noths wichtigster Kommentar, seine Bearbeitung des Buches Josua in O. Eißfeldts Handbuch zum Alten Testament. Umfassende Vorarbeiten waren vorangegangen. 1936 war Noths Ausgabe des Josua in R. Kittels Biblia Hebraica veröffentlicht worden – nicht sein erster Beitrag zu diesem Werk: er hatte nach Kittels Tod zunächst in dessen Nachfolge den Schluss des ersten Königsbuches und das zweite Königsbuch übernehmen müssen (erschienen 1934). Den Fragen der Überlieferung des Textes galt hier wie sonst seine besondere Aufmerksamkeit; seine zusammenfassende Darstellung dieses Bereichs im vierten Teil der „Welt des Alten Testaments“ genießt auch bei Spezialisten hohes Ansehen. Vor allem anderen aber kam dem Josuakommentar die Arbeit Noths auf dem Feld der Territorialgeschichte Palästinas zugute, zweifellos seinem liebsten Arbeitsfeld überhaupt. Hier war er mehr als irgendwo sonst der Schüler Alts. Beide liebten das Land und hingen an dem Zustand, in dem es sich bis tief in unser Jahrhundert hinein, bis zum umfassenden Einbruch europäischer Zivilisation, befand. Noth nahm schon 1925 als Stipendiat an einem der von Alt geleiteten Lehrkurse des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes teil, in späteren Jahren wiederholt in freier Mitarbeit. Er wuchs damit schnell in die biblische Landes- und Altertumskunde hinein, wie Alt sie betrieb. Fortan bildeten seine Aufsätze neben denen Alts den Grundbestand der Beiträge im Palästinajahrbuch des Jerusalemer Instituts und der Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins. Dabei nahmen Themen, die nicht unmittelbar mit der biblischen Überlieferung zusammenhängen, einen breiten Raum ein; vor allem ist hier die Artikelserie über die Wege der Pharaonenheere in Palästina und Syrien zu nennen33, daneben die Aufsätze zu Fragen aus dem syrischen und phönikischen Bereich34. Gleichwohl galt die Hauptarbeit den biblischen und palästinischen Themen, von den ersten Aufsätzen über judäische Probleme35 bis hin zu den noch nach dem zweiten Weltkrieg fortgeführten „Beiträgen zur 31  Gesammelte Studien II, 71–85. 32 RGG3 VI, 326. 33  ABLAK II, 3–118. 34  Vgl. etwa ebd. 133–210. 35  ABLAK I, 183–96.197–209.

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Geschichte des Ostjordanlandes“36, die sich Alts Artikelserien über den Negeb und Galiläa an die Seite stellten. Sozusagen das organisierende Zentrum dieser Arbeiten war der Josuakommentar. In ihm besitzen wir ein, freilich allzu knappes, Kompendium der Archäologie und Topographie Palästinas in den beiden Jahrzehnten nach dem ersten Weltkrieg, eingetragen in eine Erklärung des in diesen Dingen wichtigsten Buches der Bibel, die ihrerseits das Material auf das sorgfältigste durch die Kombination von Territorial- und Überlieferungsgeschichte filtert, wie sie Alts und nach ihm Noths Meisterschaft war. Für den Kommentar sind in wesentlichsten Punkten grundlegende Arbeiten Alts bestimmend: insgesamt die Landnahme-Schrift von 1925, für die Erzählungsreihe am Anfang des Buches der Josua-Vortrag von 1936, für den zweiten Teil des Buches die Aufsätze über das System der Stammesgrenzen von 1927 und über Judas Gaue unter Josia von 192537. Das bedeutet für den Kommentar zunächst negativ, dass er das Buch Josua, gelinde gesagt, nur sehr viel vorsichtiger und indirekter als Nacherzählung von Geschichte betrachten kann als seine Vorgänger, positiv, dass er mit ätiologischen Sagen aus dem benjaminitischen Bereich, die am Heiligtum von Gilgal überliefert wurden, als Grundstock für den ersten, mit einem „System der Stammesgrenzen“ aus vorstaatlicher Zeit und einer judäischen Ortsliste aus der Zeit Josias als Grundstock für den zweiten Teil des Buches rechnet und darin sowie in der deuteronomistischen Redaktion die festen Punkte für die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte des Buches insgesamt besitzt. Demgegenüber scheidet für Noth als fester Punkt aus, was bisher Arbeitshypothese und Ergebnis der literarkritischen Arbeit am Buch Josua gewesen war, nämlich die Existenz der Pentateuchquellen E (oder J) und P auch in diesem Buch. Er hält es für geboten, zunächst ohne Rücksicht auf den Pentateuch die vordeuteronomistischen Bestandteile von Jos 1–12 (und 24) in das Auge zu fassen. Dabei ergibt sich ihm eine um 900 v.Chr. von einem „Sammler“ aus Einzelsagen gestaltete Erzählungsreihe, die mancherlei Ergänzungen erfahren hat, bei der aber an die Scheidung parallel laufender Quellen nicht zu denken ist und die vor allem zum Pentateuch in keiner greifbaren literarischen Beziehung steht. Damit ist dem „Hexateuch“ der „neueren Urkundenhypothese“ der Abschied gegeben. Der Josuakommentar von 1938 setzt noch keine über das Buch Josua hinausgehende literarkritische Konzeption an die Stelle der abgelehnten; allzu lange hat Noth aber nicht auf sie warten lassen. Vorher brachte allerdings das Jahr 1940 noch zwei Bücher von sehr verschiedener Art: „Die Welt des Alten Testaments“, als „Einführung in die Grenzgebiete der alttestamentlichen Wissenschaft“ in seinen vier Teilen Geographie Palästinas, Archäologie Palästinas, Elemente der altorientalischen Geschichte, Text des Alten Testaments ein unschätzbares Studien- und Nach36  Ebd. 345–543. 37  Alt, Kleine Schriften I, 89–125.176–92.193–202; II, 276–88.

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schlagewerk 38, und „Die Gesetze im Pentateuch“, das für die theologische Interpretation des Alten Testaments unmittelbar wichtigste Buch Noths. Es entstand zu einer Zeit, in der das Alte Testament hart umkämpft war. Noth weist darauf hin, dass „vielfach selbst in der theologischen wissenschaftlichen Literatur“ die „einfachen Gleichungen“ Altes Testament = Gesetz, Neues Testament = Evangelium vertreten würden, und nennt in diesem Zusammenhang den Namen E. Hirsch. Er erklärt diese Gleichungen, jedenfalls soweit es sich um das Alte Testament handelt – für das Neue wünscht er dringend die exegetische Untersuchung eines Neutestamentlers –, schon wegen des begrenzten Anteils der Gesetze sogar am Pentateuch von vornherein für verfehlt und legt den Gegnern die Beweislast auf, hält es aber trotzdem für sinnvoll und notwendig, die Stellung des Gesetzes innerhalb der alttestamentlichen Geschichte „durch die unvoreingenommene Auslegung der Überlieferung“ genau zu fixieren. Es geht ihm insofern „schlicht um einen Beitrag zur Auslegung des Alten Testaments“ – für den, der Damaliges zu lesen versteht, keine belanglose Aussage39. In der Sache ist Noths Arbeit eine Konsequenz aus der These über den Bund der zwölf Stämme Israels, die sie gleichzeitig auch als solche fortführt und erweitert. Sie betrachtet als die den alttestamentlichen Gesetzen, die ja bekanntlich keine Staatsgesetze gewesen sind, vorausgegebene Ordnung die altisraelitische „Amphiktyonie“, und das nicht nur für die vorstaatliche, sondern für die gesamte vorexilische Zeit. Die Staatenbildung hat nämlich den Bund der Stämme nicht aufgehoben; vielmehr hat er als der eigentliche Träger des Namens Israel bis zum Beginn des babylonischen Exils weiter bestanden, seit der Überführung der Lade Jahwes durch David nach Jerusalem – einem Vorgang, dem Noth auch später noch Studien gewidmet hat – mit dem dortigen Heiligtum als Mittelpunkt. Das Alte Testament sieht das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel im Bundesschluss am Sinai begründet. Dieser Bund, institutionalisiert in der Amphiktyonie der zwölf Stämme, ist die eigentliche Voraussetzung der Gesetze im Pentateuch: sie haben die Ordnung, die er herstellt, vor der Auflösung zu bewahren. Das von den Propheten angekündigte Ende des Bundes, vollzogen und bestätigt in der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums 587, nimmt den Gesetzen den Rahmen, der ihnen Sinn und Geltung gegeben hat. Nach einem Zwischenspiel, das die Gesetze in prophetischer Zukunftserwartung weiterleben lässt, kehrt sich in der nachexilischen Zeit der alte Zustand um. „War es ursprünglich das als ‚Bund‘ gekennzeichnete Verhältnis von Gott und Volk gewesen, das den alten sakralen Verband der Stämme konstituiert hatte, und war es das Vorhandensein dieser Institution gewesen, das der Geltung der alten Gesetze die notwendige Voraussetzung geboten hatte, so konstituierte jetzt umgekehrt die Anerkennung und Beachtung des Gesetzes durch die einzelnen die Gemeinde – wer sich dem 38  Letzte Neubearbeitung 1962. 39  Gesammelte Studien I, 9f.14f.

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Halten des Gesetzes unterwarf, schloß sich damit der Gemeinde an –, und das Vorhandensein dieser Gemeinde wiederum schien ein Zeichen dafür zu sein, daß das Bundesverhältnis zwischen Gott und Volk noch bestand.“40 „So blieb von dem Zusammenbruch des Gebäudes der alten Ordnung der Dinge, in dem das Gesetz ein einzelnes Bauglied im Rahmen des Ganzen gebildet hatte, dieses letztere schließlich allein noch aufrecht stehen und wurde seinerseits zum Mittelpunkt und Halt einer auf dem Trümmerfeld errichteten neuen Behausung.“41 Mit der Verabsolutierung des Gesetzes musste, nachdem früher die freie göttliche Initiative für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch konstitutiv gewesen war, das Tun des Menschen, und zwar des Individuums, entscheidende Bedeutung gewinnen; und hier bildete sich immer fester der Gedanke der doppelten Vergeltung aus. Das Gesamtergebnis: die Gleichsetzung des Alten Testaments mit dem Gesetz ist unberechtigt; die Rolle, auf die diese Gleichsetzung sich bezieht, hat das Gesetz erst im letzten Stadium der Entstehung des Alten Testaments gespielt, und zwar in Umkehrung des ursprünglichen Tatbestandes, der für die Auffassung des Alten Testaments insgesamt den Maßstab abzugeben hat. Es bedarf keines Wortes, dass Noth mit dieser Sicht des Gesetzes auf ein lebhaftes Interesse stoßen musste. Das Buch bestätigte auf seine Weise, offenbar ohne dass das die Absicht seines Autors gewesen wäre – oder hat die Äußerung einer solchen Absicht damals notgedrungen unterbleiben müssen? –, die Auffassung Karl Barths von Evangelium und Gesetz, und Barth berief sich gern darauf. In der Nachkriegszeit wurde das Thema lebhaft, gelegentlich mit Schärfe diskutiert, zumal nachdem G. v. Rad es in seiner „Theologie des Alten Testaments“ sowohl auf der alttestamentlichen als auch auf der gesamtbiblischen Ebene variiert hatte. Die wichtigste Korrektur hat seitdem die mittlerweile weithin durchgedrungene Einsicht gebracht, dass auch die Bundestheologie nicht in die israelitische Frühzeit gehört. Noth selbst hat an dieser Diskussion nicht mehr aktiv teilgenommen; es war ohnehin nicht seine Art, sich in derartigen Fragen festzubeißen. Nachdem er den Stein in den Teich geworfen hatte, wandte er sich der Aufgabe zu, auf breiter Basis die literarisch-überlieferungsgeschichtlichen Probleme zu bearbeiten, auf die ihn der Josuakommentar geführt hatte. Das Ergebnis legte er 1943 und 1948 in zwei Bänden „Überlieferungsgeschichtliche Studien“ vor; der zweite Band erschien, da es die Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, in denen der erste ebenso wie „Die Gesetze im Pentateuch“ erschienen war, inzwischen nicht mehr gab, als Einzelveröffentlichung unter dem Titel „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“. Gegenstand des ersten Bandes sind die „sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament“; es handelt sich um das deuteronomistische und das chronistische Werk. O. Eiß40  Ebd. 105f. 41  Ebd. 115.

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feldt, hier und in verwandten Fragen Noths Antipode, hat Noth mit einem etwas schiefen (doch wohl nicht ironisch gemeinten?) Bild den „eigentlichen Vater des deuteronomistischen Geschichtswerkes“ genannt42. Wenige Thesen Noths sind so bekannt wie die vom deuteronomistischen Geschichtswerk – mag sein, dass sich darin eine besondere Evidenz dieser einen These andeutet. Es war lange vor Noth bekannt, dass die Bücher Josua, Richter, Samuel, Könige eine große Anzahl „deuteronomistischer“, also im Stil des Deuteronomiums abgefasster Stücke enthalten. Noth untersucht diese Stücke in ihrem Zusammenhang und im Verhältnis zu den älteren Bestandteilen der genannten Bücher, mit dem Ergebnis, dass sie das Werk eines Mannes sind, der diese Bücher nicht nur bearbeitete und redigierte, sondern geradezu ihr Verfasser genannt werden kann: er gestaltete unter dem Eindruck der Katastrophe von 587 und mit dem Ziel, sie aus der Vergangenheit zu erklären, aus sehr verschiedenen Überlieferungsstoffen einen planvollen, außer durch eine fortlaufende Chronologie an den entscheidenden Stellen durch eigene Betrachtungen oder durch Reden handelnder Personen gegliederten und beleuchteten Geschichtszusammenhang. Am frappantesten ist Noths These über den Anfang dieses Werkes. Einerseits setzt Jos 1 bereits Vorangehendes voraus, andererseits fehlt den Büchern Genesis bis Numeri eine deuteronomistische Redaktion; so liegt der Anfang dazwischen, in der Rede des Mose Dtn 1–3, die nicht, wie sonst angenommen, zu den Einleitungsreden des deuteronomischen Gesetzes im engeren Sinne gehört, sondern durch einen Rückblick auf den Zug der Israeliten durch die Wüste das gesamte deuteronomistische Geschichtswerk eröffnet. Von dieser Einsicht aus ergab sich notwendig neben dem neuen Bild von den Büchern Deuteronomium bis Könige eine Kritik an der herkömmlichen Pentateuchforschung, namentlich was das Ende der von ihr postulierten Quellenschriften und deren Redaktion betrifft. Noth hat diesen zum Teil überaus verwickelten Fragen in den „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ einen Anhang unter der Überschrift „Die ,Priesterschrift` und die Redaktion des Pentateuch“ gewidmet, bevor er sie dann in der „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ noch einmal sozusagen von vorn statt von hinten anging. Der zweite Teil der „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“ gilt dem chronistischen Geschichtswerk (Chronik, Esra, Nehemia). Noth rechnet bei ihm mit nicht geringerer Bestimmtheit als beim deuteronomistischen Werk mit einem einzigen planvoll arbeitenden Autor. Dessen Schrift ist allerdings zunächst durch die Ausscheidung der sehr umfangreichen Erweiterungen aus später Zeit (namentlich Listen verschiedener Art) wiederherzustellen, was nach Noths Urteil bisher „entweder gar nicht ernstlich versucht oder nur unzureichend unternommen oder aber in offenbar irriger Weise durchgeführt worden ist“43. Die zweite literarkritische Aufgabe ist die Ermittlung der Quellen des Chro42  Einleitung in das Alte Testament 3(1964) 323. 43  A.a.O. 111.

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nisten. Hier hält sich Noth stärker zurück als seine unmittelbaren Vorgänger; für den Bereich der Chronik denkt er vom Pentateuch und vom deuteronomistischen Geschichtswerk abgesehen nur an eine Reihe von Nachrichten über Wehrbauten und Kriegführung, die möglicherweise in einem Auszug aus den judäischen Königsannalen gestanden haben. Beim Chronisten liegt erheblich mehr selbstformulierte Zutat zu den Quellen vor als beim Deuteronomisten. Er ist, anders als dieser, viel stärker an der Erzählung und Ausschmückung einzelner Vorgänge interessiert als an der Gestaltung großer Zusammenhänge. Sein Hauptziel ist nicht, wie oft angenommen, die Geltendmachung bestimmter levitischer Ansprüche – die hätte sich der mosaischen Geschichte bedienen müssen, nicht der davidischen –, sondern, angesichts der Gemeinde der Samaritaner auf dem Garizim, der Nachweis, dass der Jerusalemer Tempel der einzige legitime Ort kultischer Jahweverehrung ist. In seinen Soldatenjahren im zweiten Weltkrieg führte Noth überall eine kleine Lutherbibel („Senfkorn“) mit sich und studierte darin, wann immer er Zeit hatte, den Pentateuch. Die durch das gänzliche Entbehren wissenschaftlicher Literatur hervorgerufene Nötigung, „die Fragen und Antworten aus dem Gegenstand selbst zu gewinnen“44, führte ihn dabei nach und nach zu einem ebenso revolutionären wie geschlossenen und imposanten Bild dieses Gegenstandes. Während eines Zwischenaufenthalts in Halle a.d. S. bald nach dem Krieg holte er die Lektüre der wichtigsten neueren Literatur nach, und später in Bonn schrieb er unter schwierigen äußeren Umständen die „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ nieder. „Sie ist von allen Arbeiten Noths wohl die aufregendste.“45 Die Aufgabe stellte sich hier anders als beim deuteronomistischen und beim chronistischen Geschichtswerk. Musste Überlieferungsgeschichte dort hauptsächlich die Arbeit je eines einzelnen unter Benutzung literarischer Quellen verfahrenden Schriftstellers beschreiben, so hatte sie beim Pentateuch, der in viel komplizierterer Weise Sammelwerk ist, einen überaus langwierigen Traditionsprozess vor sich, an dessen Anfang bereits – Noth folgt darin G. v. Rad46 – in Gestalt bekenntnismäßiger Formulierungen keimhaft das Ganze steht. Die Beschreibung des Weges von diesem Anfang bis zum fertigen Pentateuch macht Noth sich zur Aufgabe. Kristallisationskern der gesamten Pentateucherzählung ist die Erzählung von der Herausführung aus Ägypten, zurückgehend auf das Urbekenntnis zu „Jahwe, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat“. Diesem „Thema“ treten vier weitere zur Seite: geradezu als Gesamtthema alles andere umgreifend die Hineinführung in das palästinische Kulturland, ferner die Verheißung an die Erzväter, die Führung in der Wüste und die Offenbarung am Sinai. Der durch diese Themen und die einfache Erzählung ihres Hauptinhaltes gegebene Rahmen wurde reich mit Erzählungs44  Überlieferungsgeschichte des Pentateuch (1948) Vorwort. 45  Zimmerli (Anm. 15) 8. 46  Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs (1938).

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stoffen aufgefüllt, so etwa das Thema „Herausführung aus Ägypten“ mit den Plagen und dem Passah, das Thema „Führung in der Wüste“ mit den Erzählungen von Durst, Hunger, Feinden und dem Murren des Volkes. Die Themen sind unabhängig voneinander entstanden und erst in späteren Stadien der Überlieferungsbildung durch Verklammerungen wie Itinerare, Genealogien, aber auch Erzählungen bis hin zur Josephsgeschichte, miteinander verbunden und aufeinander bezogen worden. Individuelle Überlieferungselemente, unter ihnen vor allem die Individuen selbst, die in mehr als einem Thema auftreten, verdanken das diesem sekundären Vorgang; ursprünglich können sie nur in einem einzigen Thema beheimatet sein. Berühmt und fast berüchtigt geworden ist die Anwendung dieses Grundsatzes auf die Person des Mose, die Noth mit allerlei Vorbehalten, aber im Ergebnis doch bestimmt und unbarmherzig aus den Themen Herausführung aus Ägypten, Führung in der Wüste und Offenbarung am Sinai herauslöst, um sie schließlich als ein Element „erzählerischer Ausgestaltung“ bei der Hineinführung in das Kulturland zu belassen – bei dieser Wahl wird die Vorliebe des Territorialhistorikers für die Lokaltradition (vom, freilich unbekannten, Grab) mitgespielt haben, eine Vorliebe, die Noth merkwürdigerweise angesichts eines weiteren möglichen Themas im Pentateuch, nämlich der von Ed. Meyer und H. Greßmann postulierten Kadeschtradition gänzlich verleugnet. In die Überlieferungsgeschichte gehört, wenngleich nicht in erster Linie, auch das literarische Stadium. Noth geht in den „Prolegomena“ vom literarkritischen Problem aus und kehrt am Ende zu den Pentateuchquellen und der Pentateucherzählung als ganzer zurück. Er gibt detailliert den Bestand der Quellen J, E und P an und begründet sein Verfahren der Quellenscheidung aus dem Charakter der Quellen und der Redaktion. Diese war keine einfache Addition. Die Priesterschrift, von Hause aus Erzählung und erst nachträglich durch viele Gesetze erweitert, mit dem Tod des Mose (nicht mit der Landnahme) endend, ist vom Redaktor zur literarischen Grundlage der gesamten Erzählung des Pentateuch gemacht worden; ebenso war vorher der Jahwist bei der Vereinigung der Quellen J und E die Grundlage; beides bedeutet, dass innerhalb des Bestandes JEP grundsätzlich mit einer durchlaufenden Erzählung der Priesterschrift, innerhalb des Bestandes JE grundsätzlich mit einer durchlaufenden Erzählung des Jahwisten zu rechnen ist. Letzteres erklärt das nur fragmentarische Erhaltensein des Elohisten, dessen Existenz Noth gegen ihre Bestreiter verteidigt. Jahwist und Elohist müssen auf eine gemeinsame, mündliche oder schriftliche, Grundlage (G) zurückgehen, in der bereits die Sinaitradition und die Vätertradition mit den übrigen Themen vereinigt worden sind, während der Vorbau der Urgeschichte auf den Jahwisten zurückzuführen ist. Der Pentateuch ist damit weniger „ruckweise“ entstanden, als es v. Rad angenommen hatte, nach dem diese drei Gegenstände alle erst durch den Jahwisten zu den übrigen hinzugefügt worden wären. Auch die Priesterschrift folgt stärker ihr Überkommenem, als man meist meint. Das schmälert nicht die selbständige Bedeutung der Theologie des Jahwisten wie der der Priesterschrift,

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die letztere wohl nicht eine Ätiologie bestehender Einrichtungen in Jerusalem, sondern eher ein Zukunftsprogramm in Erwartung eines zukünftigen göttlichen Handelns, das die Dinge so wiederherstellen wird, wie die Priesterschrift es als die Ordnung vom Sinai beschreibt. – Die „Überlieferungsgeschichte des Pentateuch“ lässt sich in wenigen Sätzen nicht zureichend referieren. Ihre Originalität, ihre Folgerichtigkeit und ihr Reichtum erschließen sich nur bei sorgfältiger Lektüre und in langem Umgang. Dabei regt sich an sehr vielen Stellen Widerspruch, aber es gibt wohl auch keine Seite, auf der der Leser nichts lernen kann, bis hin zu den schönen Partien, die vom „alltäglichen“ Mutterboden und den Motiven der Erzählung handeln und wo sich auch dem Misstrauischsten zeigt, dass das Ganze nicht ein bloßes Rechenexempel ist47. Eine angemessene Antwort auf Noths Buch hat die damalige Pentateuchforschung nicht gegeben. Das Buch war der zugleich klügste und kühnste unter den seriösen Versuchen, hinter die schriftlichen Gestaltungen der Pentateuchüberlieferungen zurückzugelangen. Klugheit dürfte heute und in der absehbaren Zukunft gebieten, nicht mehr so kühn zu sein. In einem zentralen Punkt sah sich schon Noth zu einer Resignation gezwungen, die damals nicht jedem einleuchtete: die Pentateucherzählung geht von Anfang an von Israel als einer Einheit aus, von der Vorgeschichte der Stämme erfahren wir nur Einzelheiten, keine Zusammenhänge; der Historiograph des alten Israel kann also über die Landnahme oder, um die Verbindung zu Noths alter These herzustellen, die Bildung des Bundes der zwölf Stämme in Palästina kaum zurückgreifen. Dieser Historiograph ist Noth bald geworden. 1950 erschien die „Geschichte Israels“, das Buch, mit dem er weit über die Fachkreise hinaus gewirkt hat. Er brauchte nur wenige, allerdings durch sein erstes Bonner Rektorat unterbrochene, Monate, um es zu Papier zu bringen; es zog in großen Teilen wie selbstverständlich die Summe seines Lebenswerkes. Womöglich ist es nicht ganz im Sinne W.F. Albrights, wenn man sein bekanntes Urteil über Noths Buch als „eine der bedeutendsten Geschichten Israels, die je geschrieben worden sind“48 so präzisiert, dass man J. Wellhausens Israelitische und jüdische Geschichte (1894) und Noths Geschichte Israels als die beiden eigentlichen Klassiker der Disziplin nebeneinanderstellt. Bei aller Verschiedenheit des Stils gleichermaßen mit Schwung und Souveränität geschrieben, stehen sie als vorläufige und dann doch nicht mehr überbotene Synthesen auf den Höhepunkten wissenschaftlicher Arbeit an der altisraelitischen Geschichte, Wellhausen nach der historischen Einordnung der, teilweise erst rekonstruierten, großen Literaturwerke des Alten Testaments, Noth nach der Erschließung weiter Bereiche des alten Orients, am Ende der ersten großen Blütezeit der historischen Landeskunde Palästinas und im Besitz der neueren Hypothesen vor allem über das vorliterarische Stadium der alttestamentlichen Geschichtsüber47 67f.213f.275. 48  Eras. 4 (1951) 493.

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lieferung. Wie Wellhausen in der Geschichte des Volkes Israel seines Lehrers H. Ewald, so hatte Noth im gleichnamigen Werk R. Kittels eine erste umfassende Bearbeitung des Stoffes im Sinn seiner eigenen Intentionen schon vor Augen. Wie Wellhausens Buch gegenüber dem Ewalds ist aber auch das Noths gegenüber dem Kittels das Ergebnis einer einschneidenden Reduktion, und das nicht nur aus praktischen Gründen, wohin man neben dem beabsichtigten Lehrbuchcharakter die (betrachtet man die Einleitung, doch nicht sehr rigoros durchgeführte) Ausscheidung der Vor- und Frühzeit Palästinas rechnen mag. Die Reduktion betrifft bei Noth wie einst bei Wellhausen vor allem das Werden Israels vor der endgültigen Ansiedlung in Palästina. Hatte Wellhausen nach dem Verlust der Priesterschrift als Geschichtsquelle für diese Zeit das mosaische Israel nicht mehr als die große theokratische Anstalt darstellen können, für die man es vor ihm gehalten hatte, so kann bei Noth von einem mosaischen Israel überhaupt nicht mehr die Rede sein. Dafür hat er, was die nächste Periode angeht, festeren Boden unter den Füßen als Wellhausen, indem er nicht nur vom freien Leben der Israeliten reden kann, sondern vom Bund ihrer Stämme, in dem greifbarer als in Wellhausens (und recht betrachtet auch Kittels) Bild von der mosaischen Zeit ein wirkliches Israel vor Augen tritt oder zu treten scheint. Erst hier beginnt denn auch Noth seine Darstellung, mit dem sicheren Ausgangspunkt der Wohnsitze der Stämme, um von dort zur Landnahme und zum Zwölfstämmebund fortzuschreiten und erst dann als dessen Tradition die Befreiung aus Ägypten, die Erzväter und den Bund vom Sinai zu behandeln. In der wichtigsten Einzelheit deutet sich zugleich der Hauptunterschied im Prinzipiellen oder vorsichtiger und richtiger gesagt in der Seh- und Arbeitsweise an. Gegenstand der Geschichte ist für Noth viel stärker als für Wellhausen die Institution, das Beharrende, das Unpersönliche; das Einmalige, Individuelle wird in seiner Beziehung dazu erfasst und interessiert zunächst und überwiegend in dieser Beziehung. Den Weg von Wellhausen zu Noth, in dem sich natürlich ein allgemeinerer Wandel der Geschichtsschreibung spiegelt, unter diesem Gesichtspunkt und anderen genauer zu beschreiben ist hier nicht der Ort; mehr als von Noth müsste dabei von Alt die Rede sein, und zwischen Wellhausen und Alt vor allem von Ed. Meyer, dessen unmittelbarer Einfluss auf Alt und Noth den Wellhausens durchaus überbietet. Am wenigsten Neues gegenüber Wellhausen bringt Noth in der Darstellung der nachexilischen Zeit, die bei ihm in der Benennung stärker mit der vorangehenden verbunden ist: wird bei Wellhausen mit dem Exil die israelitische Geschichte durch die jüdische abgelöst, so hält Noth den Namen Israel (bei dem er übrigens von vornherein, auch gegen Alt, nur ungern von einem „Volk“ spricht) bis in die römische Zeit hinein für angemessen; erst nach den Aufständen gegen die Römer, als durch den Verlust des Heiligtums und des Landes ein gemeinsames geschichtliches Handeln unmöglich geworden ist, ist der Ausdruck Judentum am Platz. Eine Kritik, die Noth die Betonung des Einschnitts zwischen dem älteren Israel und der nachexilischen Kultgemeinde in Jerusalem zum Vorwurf macht, sollte an diesem

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Tatbestand nicht vorbeisehen. Wie bei Wellhausen gilt auch bei Noth gegen Ende ein Abschnitt der Erscheinung Jesu von Nazareth. Doch Noth entgeht den Schwierigkeiten, in die Wellhausen hier einst geraten war und die er durch die Umstellung des Kapitels ans Ende und die Vorbemerkung, er sei nur noch teilweise mit ihm einverstanden, eher bezeichnet als beseitigt hatte. Noth wählt die Überschrift „Die Ablehnung des Christus“; dieser Vorgang gehört in die Geschichte Israels, nicht dagegen „Jesus selbst mit seinem Wort und Werk“, der als der verheißene Messias das verborgene Ziel der Geschichte Israels und ihr „eigentliches Ende“ gewesen ist49. In diesen Schlusspartien, deren Gegenstände Noth von Hause aus ferner lagen als die der ersten Hälfte seines Buches und in denen er mehr erzählt als erörtert, gewinnt seine kunstlose, etwas ungelenke Sprache eine Kraft, die den Vergleich mit Wellhausen nicht zu scheuen braucht. Man wird sagen dürfen, dass nicht zuletzt in der Ungleichartigkeit der Teile Rang und Reiz dieser „Geschichte Israels“ liegen. Das Vorwort von 1950 beginnt mit den Sätzen: „Das vorliegende Buch hat die Absicht, ein Lehrbuch zu sein. Es mußte daher in erster Linie das Tatsachenmaterial zur Geschichte Israels darbieten, so wie es nach dem gegenwärtigen Stande der wissenschaftlichen Erkenntnis vorliegt. Freilich ist es gerade bei dem Gegenstande der Geschichte Israels möglich und nach der Lage der Dinge auch geboten, die Methode historischer Forschung im Laufe der Darstellung deutlich werden zu lassen, zu sachgemäßen historischen Fragestellungen anzuleiten und zugleich auch auf die Begrenztheit unserer historischen Erkenntnis hinzuweisen. Es ist daher mit Bedacht häufig Bezug genommen worden auf die vielen Fragen, die aus der zur Verfügung stehenden Überlieferung nicht mehr beantwortet werden können.“ Aussagen dieser Art begegnen bei Noth oft; sie sind für ihn charakteristisch und geradezu Programm. So viele Antworten auf wissenschaftliche Fragen er auch gegeben hat, diese Antworten galten bei ihm selbst nie absolut, sondern immer nur in der Beziehung auf die Fragen, die sie hervorgerufen hatten. Die Fragen kamen stets zuerst, und im Grunde behielten sie die Priorität auch dann, wenn die Antworten zu ihnen getreten waren. Noth verzichtete lieber auf die Antworten, als dass er Sicherheiten vortäuschte, die es nicht gab. Er fixierte sein Nichtwissen nicht weniger sorgfältig als sein Wissen und reagierte mit ungewohnter Schärfe, als man das „Nihilismus“ nannte50. Seine Arbeitsweise war durchsichtig, diszipliniert, verantwortlich. Die Fragen, die er stellte und die zu stellen er anleitete, sollten vor allem anderen „sachgemäß“ sein, d.h. dem jeweiligen Gegenstand angemessen, durch seine Beobachtung, und zwar seine möglichst umfassende und vollständige Beobachtung, hervorgerufen. Sachgemäßheit war ein Lieblingswort Noths und, wenn man so will, auch seine Methode. Er war nicht der Gefangene einer der Einzelmethoden, wie sie landläufig entwickelt, 49  Geschichte Israels 2(1954) 386. 50  ABLAK I, 352.

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gelernt, geübt und leider auch ideologisiert werden; er beherrschte sie alle virtuos und benutzte sie, wie es jeweils die Gegenstände erforderten. Einer immer einseitiger werdenden Formgeschichte rechnete er unter Berufung auf Gunkels ganz andere Intentionen vor, dass sie auf dem Wege über die „FormelGeschichte“ zu einer „Formel-Ungeschichte“ zu werden drohe51. Er betrieb Literarkritik alten Stils, wo sie am Platze war, und verteidigte sie gegen Versuche, in unangebrachter Konsequenz die Formgeschichte gegen sie auszuspielen; denn Konsequenz hat sich nicht nach einer Methode zu richten, sondern nach den Gegenständen. Schon im „System der zwölf Stämme Israels“ von 1930 ist ein Grundsatz verwirklicht, auf den Noth auch später immer großen Wert gelegt hat: überlieferungsgeschichtliche und geschichtliche Untersuchungen müssen zunächst getrennt voneinander geführt werden; die geschichtlichen dürfen zu den überlieferungsgeschichtlichen erst dann hinzugenommen werden, wenn diese zu einem gewissen Abschluss gelangt sind. In diesem Zusammenhang muss auch vom Verhältnis zwischen den biblischen Aussagen und den Ergebnissen der Archäologie die Rede sein, einem Problem, das Noth in seiner wissenschaftlichen Arbeit immer wieder beschäftigt und zu dem er sich wiederholt grundsätzlich geäußert hat52. Er stritt dagegen, dass beide Größen naiv miteinander in Beziehung gesetzt werden, solange man nicht den oft sehr komplizierten Sachverhalt auf jeder der beiden Seiten sorgfältig mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geprüft hat. Die Beziehung stellt sich dann, wenn sie überhaupt besteht, als fast überall verschieden heraus; mit der Naivität geht auch die Möglichkeit pauschaler Urteile verloren, kritische Methode ist das Unterscheiden der einzelnen Fälle und also auch hier Sachgemäßheit. Diese Prinzipien bewährte Noth in ebenso beständiger wie unprätentiöser Kleinarbeit, auch hier die Fragen wichtiger nehmend als die Antworten und zu Revisionen im einzelnen immer bereit. Hier wie sonst unternahm er wenig, um die von ihm behandelten Gegenstände Außenstehenden interessant und attraktiv zu machen. Sie sollten einfach so exakt wie möglich erkannt und vorgeführt werden. Daran arbeitete er nicht viel anders, als ein Naturwissenschaftler es tut. Er hatte Freude am Auseinanderlegen, Sortieren, Gruppieren, Ordnen – in Übereinstimmung mit seiner sorgfältigen und regelmäßigen Lebensführung. Er hielt Distanz zu Menschen und Dingen, ging in seiner Arbeit nicht auf, wahrte seine Souveränität. Man hatte nie den Eindruck, dass er sich anstrengte. Er arbeitete nicht ununterbrochen, sondern zu ganz bestimmten Stunden, dann aber erstaunlich leicht und schnell. Kein Wunder, dass dabei etwas herauskam! Ein halbes Jahrhundert nach Noths Tod wird jeder der Feststellung Otto Kaisers zustimmen: „War das Feld bis zum Ende der 60er Jahre insgesamt

51  Gesammelte Studien II, 120f. 52  Vgl. besonders ABLAK I, 3–16.17–33.34–51.

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überschaubar, ist es nun vielschichtiger und unübersichtlicher geworden.“53 Aber nach wie vor bedenkenswert ist auch seine Prognose: „Angesichts der Vielzahl nationaler Forschungsbeiträge und des gegenwärtigen, durch seinen Methodenpluralismus und partiellen sachlichen Atomismus gekennzeichneten Stadiums wird es einige Zeit dauern, bis sich der seit den späten 60er Jahren verstärkte, letztlich durch Martin Noths Lebensarbeit in Gang gesetzte redaktionsgeschichtliche Grundzug der Epoche gegenüber den textlinguistischen, weithin gewagten religionssoziologischen und selbst moralistischen Tendenzen als der eigentlich weiterführende abzeichnet, sofern sich ein statt von historischen Ereignissen von technischen Innovationen lebendes Zeitalter nicht einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel zuwendet.“54 Wenn das zutrifft, ist es einer der Gründe, aus denen unsere Wissenschaft gerade Martin Noth nicht vergessen wird55.

53  ThR 53 (1988) 224. 54  Ebd. 223f. 55  Vgl. über ihn auch R. Smend, Der Historiker des alten Israel: Martin Noth (Bibel und Wissenschaft, 2004, 174–86).

Isac Leo Seeligmann 1907–1982

Einem deutschen Theologiestudenten der fünfziger Jahre, auch wenn er vor allem an den biblischen Fächern interessiert war, sagte der Name Seeligmann nichts. So geschah es ohne besondere Erwartungen, als ich 1958 auf Anregung von W. Baumgartner und W. Zimmerli ein Exemplar meiner Erstlingsschrift über W. M. L. de Wette an den mir unbekannten Professor in Jerusalem schickte. Seine Reaktion war überraschend: ein vier Seiten langer Brief in gestochener Handschrift mit einer detaillierten Würdigung, die in ziemlich konkrete Vorschläge für meine künftige Arbeit mündete. Der Brief ließ ahnen, wie gut sich der Schreiber in der Geschichte der Bibelwissenschaft auskannte – besser als irgendeiner der mir damals und später bekannten Zeitgenossen –, aber auch, wie eng bei ihm Forschung und Lehre zusammenhingen und wie sehr sie auf einer ungewöhnlich umfassenden, keine Mühe scheuenden Buchgelehrsamkeit beruhten; er berichtete von einem Jerusalemer Seminar, in dem er de Wettes „Beiträge“ von 1806/07 im Exemplar der Groninger Bibliothek benutzt hatte, und von vergeblicher Suche nach der Dissertation von 1805 in den Bibliotheken von Holland und Schweden, bis sich in Oxford wenigstens ein Nachdruck fand, und bat mich, bei der weiteren Suche, vor allem nach einem antiquarischen Exemplar der „Beiträge“, mitzuhelfen. Ich tat daraufhin, was ich konnte, und erfuhr bald, wie sehr ihn Erfolge auf diesem Gebiet beglückten. Nie wieder habe ich einen Fachgenossen erlebt, der so viel von Büchern verstand und so sehr mit ihnen lebte, ja, wenn sie es wert waren, sie liebte. Dazu gehörte, dass er es zwar begrüßte, wenn von wichtigen alten Werken Neudrucke, „Reprints“, erschienen, diese aber für sich selber doch nur als einen Notbehelf betrachtete, bis es ihm gelungen war, die originalen Ausgaben aufzutreiben. Er war immer auf der Jagd nach bestimmten Büchern und kannte an den wichtigeren Orten die Adressen der Buchhandlungen und Antiquariate so gut wie die der Kollegen. Mit Vergnügen, fast mit Stolz erzählte er den Ausruf Scholems, als ihm ein Jerusalemer Antiquar an seinem 60. Geburtstag ein besonders kostbares Buch schenkte: „Gott, muß der an Ihnen verdient haben!“ Die erste Korrespondenz weckte auf beiden Seiten den Wunsch nach einer persönlichen Begegnung. Sie fand im September 1959 in Seeligmanns Vaterstadt Amsterdam statt, wo er auf der Rückreise vom Oxforder Alttestament-

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lerkongress Station machte. Als ich die Halle seines Hotels betrat, war schon von weitem klar, wer er sein musste: ein knapp mittelgroßer, sehr gut gekleideter Herr mit einem feinen, klugen Gesicht, der mir denn auch gleich schnellen Schritts entgegenkam und mich mit urbaner Höflichkeit begrüßte. Sofort war eine lebhafte Unterhaltung im Gang, die zunächst auf einer einstündigen Grachtenrundfahrt und dann im Hotel weitergeführt wurde. Seeligmann sprach mit einer wunderbar modulationsfähigen Stimme und hörte genau und konzentriert zu; ihm entging nichts, er behielt alles und kam noch nach Jahren auf Einzelheiten zurück. Mit der Rundfahrt wollte er dem vermeintlich Ortsfremden eine Freude machen; er selber hatte für die Herrlichkeiten, an denen wir vorbeikamen, kaum ein Auge, und als ich ihn darauf ansprach, dass wir gerade durch das ehemals jüdische Viertel fuhren, sagte er in sachlichem Ton, das sei für ihn eine abgeschlossene Vergangenheit und er hätte nichts dagegen, wenn alle diese Häuser abgerissen würden. Das Tractandum, das er sich für die Dauer der Fahrt vorgenommen hatte, war meine inzwischen erschienene zweite Schrift, die er sich aus Jerusalem nach England hatte nachschicken lassen und deren Inhalt ihm bis in den Wortlaut hinein völlig präsent war. Aus seiner exakten, manchmal in Frageform gehaltenen Wiedergabe ihres Gedankenganges und natürlich noch mehr aus seinen Einwänden, Ergänzungen und Ratschlägen „fürs nächste Mal“ habe ich in jener Boots-Stunde viel gelernt. Ins Hotel zurückgekehrt, kam er auf sein zweites Tractandum: meine gegenwärtige Arbeit. Ich berichtete über zwei Themen: das Verhältnis von Jahwekrieg und Stämmebund und die Rolle der Ätiologien in der erzählenden Überlieferung. Das erste Thema gefiel ihm überhaupt nicht: ob ich denn gar nicht bedächte, dass wir aus der vorstaatlichen Zeit so gut wie keine zuverlässigen Quellen hätten, so dass eine derartige Arbeit ganz hypothetisch sein müsste? Wenn ich unbedingt etwas Historisches machen wolle, schlüge er mir eine Untersuchung darüber vor, was sich aus dem Buch Jeremia über die Sozialverhältnisse im damaligen Juda ergibt. Viel mehr leuchtete ihm das Ätiologie-Thema ein. Es stellte sich heraus, dass es schon seit geraumer Zeit auch ihn beschäftigte. Wenige Tage vorher hatte er in Oxford Martin Noth einige Beobachtungen dazu mitgeteilt, die diesen, wie ich tags darauf in Bonn feststellen konnte, sehr beeindruckt hatten1. Er ermunterte mich, das Thema im, wie er sagte, „freundschaftlichen Wettstreit“ mit ihm weiter zu bearbeiten, aber das erschien mir je länger desto weniger als sinnvoll, zumal er sich in dem analogen Material aus dem alten Griechenland ganz anders auskannte als ich. So erschien 1961 sein Aufsatz für Y. Kaufmann2 ohne Konkurrenz, während ich mich mit „Jahwekrieg und Stämmebund“ habilitierte, derjenigen unter meinen Arbeiten, die Seeligmann mit der stärksten Reserve aufnahm. In Amsterdam 1  Es handelte sich vor allem um die ätiologische Erweiterung von Genesiserzählungen im Jubiläenbuch. 2  Jetzt in I. L. Seeligmann, Gesammelte Studien zur Hebräischen Bibel, hg.v. E. Blum (2004, im Folgenden GSt) 77–118.

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führte das Ätiologie-Thema zwanglos auf ein drittes Tractandum, für das leider nur noch wenig Zeit blieb, Seeligmanns eigene Arbeit. Er skizzierte den Plan eines Buches, das die israelischen Leser umfassend mit den Methoden und Ergebnissen der Bibelwissenschaft bekanntmachen sollte, eine „Einleitung in das Alte Testament“, wie er sagte, die allerdings in ihrer Anlage von den vorhandenen Werken dieser Gattung stark abweichen würde; als Hauptgegenstände des Buches nannte er Geschichtsschreibung, Prophetie und Recht. Das Treffen endete mit einer dringenden Einladung nach Jerusalem, der ich so bald wie möglich folgte. Die Woche, die ich im April 1960 im Haus Seeligmann in Beth ha-Kerem verbringen durfte, gehörte zu den ausgefülltesten Zeiten meines Lebens. Seeligmann hatte mit viel Telefonieren ein Programm zusammengestellt, von dem mir heute unbegreiflich ist, wie es in der kurzen Zeit ausgeführt werden konnte, zumal in jene Woche Pesach und Ostern fielen. Besonders inhaltreich waren, wie nicht anders zu erwarten, die gemeinsamen Besuche bei Buber, Scholem und Kaufmann. Seeligmann hielt sich im Gespräch bei Buber und Scholem diskret zurück, griff aber bei dem spröderen Kaufmann, als es nicht recht in Gang kam, mit freundlichem Spott über die Tatsache ein, dass in den Regalen um ihn herum erstaunlich wenige Bücher standen, weshalb er ihm bald wieder ein paar Detektivromane bringen werde. Kaufmann ließ sich wider mein Erwarten zunächst beim Thema Wellhausen nicht recht aus der Reserve locken, fing aber sofort Feuer, als A. Alts postumer gegen ihn gerichteter Aufsatz „Utopien“3 zur Sprache kam; da war wieder das Thema der Ätiologie, und Seeligmann konnte mit entspanntem Interesse zuhören. Gegen Ende bezeugte Kaufmann dann auch noch Wellhausen, an dessen Widerlegung er immerhin den Hauptteil seiner Lebensarbeit gewendet hatte, großen Respekt, größeren als Alt. Wir schieden aufs freundlichste, und nach einigen Wochen ging mir die gerade erschienene gekürzte englische Ausgabe von Band I–VII der „Religion of Israel“ als Kaufmanns Geschenk zu. Seeligmann bedauerte, mich nicht auch zu Polotsky und Yadin bringen zu können; der eine war nicht im Lande, der andere wurde wenige Stunden vor dem verabredeten Termin zu einem Neufund in die Wüste Juda gerufen. Aber mit Meir Weiss kam in der Universität ein unvergessliches Gespräch zustande, und David Flusser führte mich stundenlang äußerst unterhaltsam durch die Stadt. In die Zukunft wiesen Einladungen bei den Ehepaaren Malamat, Talmon und Haran, die damals junge Leute waren. Seeligmann selbst war auch abgesehen von jenen drei Besuchen mehrfach mit mir unterwegs: in der Universitätsbibliothek, bei Antiquaren, an einem der Abende in einer Oratoriumsaufführung (nach meiner Erinnerung C. Ph. E. Bachs „Israeliten in der Wüste“). Am Schabbat („Da haben Sie bei uns nur Langeweile“) brachte er mich bei Malamats unter, und für den Abend des Gründonnerstags ermittelte er in Anbetracht meiner in Amsterdam zur Sprache gekommenen calvinistischen Herkunft einen Service in der schottischen 3  ThLZ 81 (1956) 521–28.

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St. Andrew’s Church hart am Hinnomtal, damaligem Niemandsland. Eine unschätzbare Gelegenheit, meine Kenntnis des israelischen Jerusalem und seiner Umgebung zu erweitern, verschaffte er mir, indem er mich an seiner Stelle ein reiches amerikanisches Ehepaar, das wissenschaftliche Führung wünschte, auf einer mehrstündigen Taxi-Rundfahrt mit eingeschalteten Besichtigungen begleiten ließ. Meine naheliegenden Einwände wies er heiter zurück: er sei nur ein Philologe und verstehe von historischer Topographie nicht mehr als ich, und diese Amerikaner, obwohl Juden, seien ganz ahnungslos, sie hätten wahrscheinlich noch nie eine Synagoge von innen gesehen; es werde schon gut gehen. Es ging tatsächlich gut, weil der Chauffeur kundig und beredt war und ich nur hin und wieder etwas aus den Flusserschen Belehrungen vom Vortag einzustreuen brauchte. Aber trotz all dieser Ereignisse war es am schönsten im gastlichen Kreis der Familie Seeligmann, und den Höhepunkt der Woche bildete fraglos der SederAbend. Seine festlichen und fröhlichen Melodien haben mich seitdem begleitet, und ich kann mir den führenden Anteil des Hausvaters an seiner Liturgie nicht schöner gesungen vorstellen als in Seeligmanns herrlichem Bariton. Die verbleibende Zeit wurde im Studierzimmer verbracht, einem großen Raum, dessen Wände bis zur Decke mit Büchern ausgefüllt waren. Über Bücher gingen die meisten Gespräche, und Seeligmann war immer auf dem Sprung, eins von ihnen mit einer langen Leiter aus schwindelnder Höhe herabzuholen. Wenn er sich für eine Weile entfernte, hinterließ er mir mehrere mit Vorschlägen, was ich in ihnen lesen sollte, damit wir uns nach seiner Rückkehr darüber unterhalten könnten, und am späten Abend bot er mir für den Fall, dass ich nicht einschliefe, Detektivromane an, die an Stellen, die er genau wusste, in der zweiten Reihe hinter den gelehrten Büchern standen; bei jedem von ihnen skizzierte er den Plot und gab eine kurze Charakteristik. Wiewohl dieser Literaturgattung nicht abgeneigt, brachte ich dazu dann doch die Kraft nicht mehr auf. Den ersten beiden Begegnungen sind viele weitere gefolgt. Obwohl er lange zögerte, deutschen Boden zu betreten, und so auch 1962 nicht am Bonner Alttestamentlerkongress teilnehmen mochte, meldete er sich im Spätsommer 1961 auf der Rückreise von einem Schweden-Aufenthalt unverhofft in Göttingen an. Er stieg für einige Tage in meinem Elternhaus ab und kam in späteren Jahren mehrfach wieder, auch zusammen mit seiner Frau. Einmal besuchte er mich in Berlin, am häufigsten sahen wir uns in Basel, wo er sich immer wieder für kürzere oder längere Zeit aufhielt. Dazu kamen Begegnungen in Jerusalem, zuletzt im Vorjahr seines Todes, 1981. In den Zwischenzeiten schrieb er Briefe, kurze und lange, oft sehr lange, in denen er sich weit über die wissenschaftlichen Themen hinaus vertrauensvoll öffnete und auch an meinem Ergehen einfühlsam teilnahm4. Mindestens einmal im Jahr, zum Geburtstag, waren die Briefe von 4  Ich bewahre weit über hundert Briefe Seeligmanns auf, etwa ebenso viele befinden sich bei Robert Hanhart, dem ich dafür danke, dass er sie mir zur Einsicht überlassen hat. Diese

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sorgfältig ausgewählten Büchern aus dem Bereich der Bibelwissenschaft Alten und Neuen Testaments, der klassischen Philologie, der Judaistik oder der europäischen Geistesgeschichte begleitet. Nicht nur durch diese Bücher habe ich mich von ihm immer reich beschenkt gefühlt. Zunächst vermied ich es, ihn nach seinem Werdegang und besonders nach seinen Geschicken während der deutschen Okkupation der Niederlande zu fragen, weil ich fürchtete, ihn damit zu verletzen. Das erwies sich als unbegründet; als ich mich eines Tages zu fragen traute, berichtete er gerade über jene Zeit ohne Zurückhaltung, aber auch ohne spürbare Emotion. Seinem Leben hatte ein dominierender und darin gewiss nicht immer einfacher Vater die Richtung gegeben, als dessen einziges Kind er aufwuchs. In Sigmund Seeligmann (1873–1940) verbanden sich Orthodoxie, Weltläufigkeit und kritische Wissenschaft. In Karlsruhe geboren, aber schon in jungen Jahren nach Amsterdam gekommen und ganz zum Holländer geworden, finanziell unabhängig, Besitzer einer großen Bibliothek, führend tätig in vielen Institutionen zur Pflege des Judentums und der jüdischen Wissenschaft, war er die maßgebliche Autorität auf dem Gebiet der Geschichte des Judentums in den Niederlanden. Die Treppe entlang, die zu seinem Studierzimmer hinaufführte, hingen schön gerahmte Bilder von Abraham Berliner, Hermann Cohen, Ignaz Goldziher, Moritz Lazarus und Heymann Steinthal – „bien étonnés de se trouver ensemble“, kommentierte der Sohn. Sie repräsentierten die gelehrte Welt, in der sich der Vater als Gleicher unter Gleichen bewegte. Der Sohn konnte im Elternhaus auch C. D. Ginsburg, Felix Perles und Solomon Schechter erleben, daneben Literaten und Künstler wie den Graphiker Hermann Struck, von dem viele Radierungen an den Wänden hingen. Für Isac Leo Seeligmann (‫)יצחק אריה זליגמן‬, geboren am 10. Januar 1907, der Mutter, Juliette Seeligmann-Veershijm, wohl nicht nur äußerlich ähnlicher als dem Vater, war dies die Welt, und es ist sie bei allem, was er später verlor und gewann, im Grunde immer geblieben. Unter der Anleitung des Vaters fing er sehr früh zu lernen an, und er dürfte aus Bibel und Talmud vieles auswendig gewusst haben, bevor er es lesen konnte; vermutlich kam dieses Training seinem phänomenalen Gedächtnis zugute, das ihn kaum auch nur eine Telefonnummer vergessen ließ, die er einmal benutzt hatte. Seine Schulzeit begann in einer Volksschule mit dem sprechenden Namen „Kennis en Godsvrucht“ und endete mit einem externen Abitur, weil es während seiner Schulzeit in Amsterdam noch kein jüdisches Gymnasium gab. Er besuchte das Amsterdamer Rabbinerseminar, wo er 1931 den Titel eines „Lehrers“ erwarb, und studierte nach dem Abitur gleichzeitig Klassische Philologie an der Universität mit den Abschlüssen des „Kandidaats“- (1929) und des „Doktoraal“-Examens (1938) in den Fächern Alte insgesamt etwa 250 Briefe sind eine Hauptquelle für das Folgende; durch Anführungszeichen gekennzeichnete, aber nicht nachgewiesene Zitate stammen in der Regel aus ihnen. Für biographische Mitteilungen bin ich Frau Margot Seeligmann dankbar.

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Geschichte, Griechisch und Latein. Das Hauptfach war Alte Geschichte, die Magisterarbeit von 1938, „Zur Vorgeschichte des Aufstandes der Makkabäer“ – ein Jahr nach Bickermanns „Gott der Makkabäer“ –, war angeregt von dem Amsterdamer Althistoriker David Cohen (1883–1967), einem auch als Zionist tätigen Mann, den Seeligmann seinen Lehrer nannte. Er ergänzte seine Amsterdamer Studien, indem er regelmäßig nach Leiden fuhr, um bei F. M. Th. Böhl (1882–1976) Akkadisch zu treiben; obwohl – oder vielleicht gerade weil – er selbst sein „zweites Bein“ in der Klassischen Philologie hatte, legte er stets Wert darauf, dass ein Bibelexeget auch in der Assyriologie bewandert sein müsse; in seinen Arbeiten ist die altorientalische Perspektive überall gegenwärtig. Zum Studium kam bald der eigene Unterricht, 1929 am Gymnasium (der „Realschule“), 1935 am Rabbinerseminar, an beiden Orten mit Hingabe betrieben. Aber ob er sich seine Zukunft, wenn nicht im Amt des Rabbiners, dann in diesen Institutionen vorstellte? Wahrscheinlicher ist, dass er, ohne damit im geringsten seine Verwurzelung in der jüdischen Tradition preiszugeben, je länger desto mehr die Universität als den ihm gemäßen Ort empfand. Er war längst völlig in die moderne kritische Wissenschaft eingearbeitet und dachte und urteilte unbeirrbar unabhängig in ihren Kategorien – wohl auch hier auf den Spuren seines Vaters, der ihm einmal ein Buch Paul de Lagardes mit den Worten zu lesen gegeben hatte: „Es ist arg antisemitisch, aber es ist sehr klug.“ Umgekehrt war ihm schon im Rabbinerseminar der „salbungsvolle“ Franz Delitzsch „gründlich zuwider“, obwohl er dort als Apologet des Judentums (unter Nichtbeachtung des Judenmissionars) in hohen Ehren stand und seine Kommentare in vielen Exemplaren („für Kinder und Kindeskinder“) angeschafft wurden. Seeligmanns Favorit unter den Exegeten war in den zwanziger und dreißiger Jahren Hermann Gunkel, dessen gattungsgeschichtlich-soziologische Fragen und Antworten bis über die Jahrhundertmitte hinaus ja überhaupt stärker gewirkt haben als Wellhausens Literarkritik und die auf ihr beruhende, meist mehr oder weniger selbstverständlich vorausgesetzte, Sicht der Geschichte. Er machte sich noch in Jerusalem den Vorwurf, dass er in der Psalmenvorlesung zu wenig von Gunkel loskomme, und wurde ärgerlich, wenn andere den Begriff des „Sitzes im Leben“ in anderem (nämlich „historischem“ statt „soziologischem“) Sinn verwendeten, als Gunkel ihn gemeint hat. Als Hebraisten und Textkritiker stellte er von Anfang an Wellhausen entschieden über Gunkel, und das in vermeintlicher Gunkel-Nachfolge verbreitete Ressentiment gegen die Literarkritik teilte er niemals; von so manchem Text sagte er, es sei ihm schon in seiner Studentenzeit klar geworden, dass er nicht einheitlich sein könne – wie ihm überhaupt Harmonistik in jeder Hinsicht immer ferngelegen hat; er verwischte nicht, sondern differenzierte. In alledem kam ihm der Vergleichsmaßstab aus den klassisch-philologischen Studien zustatten, die er mit kaum geringerer Begeisterung betrieb als die biblischen und die er später durch die Lektüre von Neuerscheinungen und das Gespräch mit seinen gräzistischen Kollegen fortsetzte. „Sie wissen: für mich

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fängt der Mensch eigentlich bei der griechischen Tragödie an!“, schrieb er mir einmal, und Jahre später ergänzte er nach der Lektüre eines neuen Buches über Homer, sie habe ihn „zu einer alten Jugendliebe zurückgeführt, die zeitweilig von der Gewalt der griechischen Tragödie verdrängt war“. Das Jahr, in dem der Krieg begann, brachte ihm das größte Glück: im Januar 1939 heiratete er Margot Darmstädter, die in Frankfurt geboren war und noch 1933 mit ihrer Familie in Amsterdam Zuflucht gefunden hatte. Sie war ihm durch mehr als vier Jahrzehnte in seltener Fülle ‫עזר כנגדו‬, und er wusste und zeigte es. 1939 und 1942 wurden die beiden Töchter geboren, Judith und Mirjam. In eben dieser Zeit brach über das holländische Judentum die Katastrophe herein. 1943 wurde die fünfköpfige Familie – außer dem Ehepaar und den Töchtern Seeligmanns Mutter – aus ihrem Haus geholt und zunächst in das „Transitlager“ Westerbork verbracht. Von dort aus erfolgte ein Jahr später der Abtransport nach Theresienstadt. Vor den Gaskammern in Auschwitz wurde die Familie dadurch bewahrt, dass sie auf einer Liste prominenter Juden stand (der sog. Barneveld-Liste), die für etwaige Austauschzwecke vorerst geschont werden sollten; es war Seeligmann gelungen, vom Transport im Viehwagen eine Karte an seinen Leidener Lehrer Böhl zu schicken, der auf jene Liste Einfluss nehmen konnte. In Theresienstadt war ihm die Aufgabe zugewiesen, für das berüchtigte „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ beschlagnahmte Bücher aus jüdischen Bibliotheken, darunter neben denen der Seminare in Berlin und Breslau auch private wie die seines Vaters, zu katalogisieren. Später sagte er, es sei für ihn noch schlimmer als die „normalen“ Entbehrungen und Demütigungen des Lagerlebens gewesen, Bücher seines Vaters mit dem Hakenkreuz gestempelt zu sehen. Die vorhandenen Kommunikationsmöglichkeiten nutzte er, wie schon in Westerbork, nach Kräften, unter anderem indem er Schüler unterrichtete. Sein wichtigster Gesprächspartner war Leo Baeck, mit dem er auch wissenschaftliche Fragen erörterte. Im Mai 1945 wurden die überlebenden Gefangenen durch die sowjetische Armee befreit. Familie Seeligmann traf nach Umwegen am 1. Juli in Amsterdam ein, wo sie ihr Haus von anderen bewohnt vorfand. Sie musste sieben Monate in einem „Passantenheim“ zubringen, bis eine kleine Wohnung in der Stalinlaan (heute Vrijheidslaan) bezogen werden konnte. Trotz allem war sogar die Zeit in Theresienstadt auch abgesehen von den Gesprächen mit Baeck nicht ganz ohne Wissenschaft geblieben. Seeligmann konnte manches lesen – so nahm er zweimal Joh. Weiß’ „Urchristentum“ durch – und sich vor allem mit der Septuaginta beschäftigen, nachdem es Th. C. Vriezen (1899–1981), einem der Freunde aus den Leidener Studientagen, auf riskantem Weg gelungen war, ihm ein Exemplar der Sweteschen Ausgabe zu verschaffen. „Problemen en perspektieven in het moderne Septuaginta onderzoek“ hatte seine erste größere Veröffentlichung geheißen, die er 1940, schon während der deutschen Okkupation und als Träger des „Judensterns“ an der Benutzung der Universitätsbibliothek gehindert, abschließen und

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publizieren konnte und die von vieljähriger intensiver Beschäftigung mit diesen „Problemen und Perspektiven“ zeugt, für die er aufgrund seines Doppelstudiums geradezu prädestiniert war5. Weit über die Beschreibung des status quo hinaus enthält dieser Aufsatz das Programm für weitere Arbeit, deren Anfang, die Untersuchung der Septuaginta zum Buch Jesaja, Seeligmann im Angesicht der Befreiung im Mai 1945 in Theresienstadt konzipierte. Bevor er an die Ausführung ging, schrieb er im Juli 1945 einen Aufsatz nieder, dessen Gegenstand ihn ebenfalls in diesen Jahren beschäftigt hatte: „Phasen uit de geschiedenis van het Joodsch historisch bewustzijn“6. Auch hier steht, zwischen Bibel und talmudischer Literatur, die Septuaginta als das Dokument des jüdischen Hellenismus im Mittelpunkt. Im gleichen Jahr, in dem die „Phasen“ im Druck erschienen, 1947, legte Seeligmann der Leidener philosophischen Fakultät7 sein Opus magnum als Dissertation vor: „The Septuagint Version of Isaiah. A Discussion of its Problems“8. Das Buch erörtert zunächst in kritischem Anschluss an J. Zieglers „Untersuchungen“ von 1934 und seine Edition von 1939 die unumgänglichen Einleitungsfragen von Überlieferung und Übersetzungstechnik, um sich dann den beiden eigentlichen Themen zuzuwenden: dem historischen Hintergrund der Übersetzung und ihrer Theologie. Hinweise im Text auf die Diasporasituation, auf die Grenzstädte des hellenistischen Ägypten, auf die hellenistische Verwaltungssprache, auf die Feindschaft der griechischen Küstenstädte gegen Palästina und auf die Ambitionen eines Königs, die Weltherrschaft zu erlangen, führen weiter zu der Frage nach Anspielungen auf bestimmte historische Personen und Ereignisse, die eine genauere Datierung erlauben könnten, und hier folgen die oft zitierten Sätze, die den – allerdings zentralen – Einzelfall sogleich ins Allgemeine wenden: „One is especially tempted to assume that the figure of the great king who is in the focus of Isaiah’s prophecy as the mighty one threatening Israel, was transmuted in the translation into a Hellenistic ruler of the translator’s own period. These and similar transpositions are not alien to the spirit of the earliest Jewish exegesis. The early Jewish exegesis is Midrash, and the Midrash aims at attributing to the text contemporaneous application, i.e. to show that the ancient Word also refers to the period of those who later endeavour to interpret it. This attempt of modernization takes on a special form in times of crisis and religious persecution, when it seems that the end of all things is imminent. During the 5  Englische Übersetzung: Textus 14 (1990) 169–232 = I. L. Seeligmann, The Septuagint Version of Isaiah and Cognate Studies, ed. R. Hanhart and H. Spieckermann (2004) 21–80. 6  Englische Übersetzung: Septuagint Version (s. Anm. 5) 81–118. 7  Sein Amsterdamer Lehrer Cohen, damals wegen seines Vorsitzes im „Joodsche Raad“ in der Okkupationszeit eine umstrittene Figur und 1947 sogar zeitweise inhaftiert, kam als Promotor nicht mehr in Betracht. So sprang G. J. Thierry in Leiden ein. 8  MEOL 9 (1948) = Septuagint Version (Anm. 5) 119–294. Eine Übersicht gibt O. Eißfeldt, ThLZ 74 (1949) 475–80.

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persecution by Antiochus Epiphanes, the time when the Apocalyptic literature came into being, contemporaneous events were seen as the implementation of the old prophecies on the Great Reversion; and the assaulter of the Temple of Jerusalem is recognized as the formidable enemy of God and of Zion mentioned in the sacred books, particularly in Isaiah.”9 Von gleichem Gewicht ist die dreifache Feststellung am Ende des Buches, die das Resultat der theologischen Untersuchung in den größeren Zusammenhang stellt: „When, in the course of time, the translations of the Septuagint came into circulation as independent texts side by side with, and in the place of, the Hebrew texts, they became, in their turn, the object of both Hellenistic and Christian exegesis, which often followed up, and further developed, any Hellenistic elements actually present in them. This, however, ought not to make us shut our eyes to the fact that the lexicological, historical and religious interpretations presented, at any rate by the translation of Isaiah, of the Hebrew text, are Jewish both as to form and context. It is, therefore, as ancient testimonies of the Jewish exegesis, that the Books of the Septuagint must be investigated and understood.”10 Ein Kenner hat später zu Seeligmanns Freude gefordert, dieser letzte Satz „sollte eigentlich unterstrichen werden als Leitsatz für alle, die sich um die Erforschung der Septuaginta bemühen“11. Nach nicht weniger kompetentem Urteil hat das Buch „einen Bereich der LXX-Forschung erst eigentlich erschlossen: das Verständnis der LXX als Dokument ihrer eigenen Zeit, in dem die vorgegebenen Zeugnisse des hebräischen Originals von den zeitgeschichtlichen Voraussetzungen der Übersetzer her interpretiert und an den Geschehnissen aktualisiert werden, die den Zeugen dieser Zeit als Analogon der Geschehnisse ihrer Heilstradition erschienen“12. Und eine neue Einführung in die Septuaginta würdigt das Buch als „the most significant attempt to use the Septuagint as evidence of Jewish theology“13. Seeligmann wollte ein gleichartiges Buch über die Septuaginta zu den Proverbien folgen lassen, die er in Theresienstadt neben derjenigen zu Jesaja (und der zu Hiob) wiederholt gelesen hatte, wobei sich ihm ihre „außergewöhnliche Bedeutung für Religions- und Kulturgeschichte“ ergab. Er referierte darüber auf dem Amsterdamer Religionshistorikerkongress 1950, veröffentlichte den Vortrag aber nicht und ließ das Thema liegen, wozu wohl auch beitrug, dass sein Leben in diesem Jahr eine neue Wendung genommen hatte. In den Nachkriegsjahren wirkte er als Bibliothekar an der „Rosenthaliana“, der Judaica- und Hebraica-Abteilung der Amsterdamer Universitätsbibliothek. Dort steht seine Tätigkeit noch nach mehr als einem halben Jahrhundert in guter Erinnerung. Aber sie beanspruchte doch nur einen Teil seiner Interessen 9  A.a.O. 82 (238f.). 10  Ebd. 121 (294). 11  J. W. Wevers, ThR 22 (1954) 182. 12  R. Hanhart, Studien zur Septuaginta und zum hellenistischen Judentum (1999) 95. 13  K. H. Jobes – M. Silva, Invitation to the Septuagint (2000) 102.

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und Fähigkeiten. Es verwundert auch nicht, dass er auf der anderen Seite Angebote eines Rabbinats oder Oberrabbinats ausschlug. Als Ziel standen ihm vielmehr seit der Befreiung „Palästina“ und die Hebräische Universität vor Augen. Dort konzentrierte sich immer mehr die jüdische Wissenschaft, dort winkten die meisten Anregungen und Wirkungsmöglichkeiten. Er nannte es „an important and […] gratifying fact that by the revival of the Jewish people in the young state of Israel new impulses are undoubtedly given to Jewish Bible research“14. Und welcher Ort ließ sich für den frommen Juden mit Jerusalem vergleichen? Was Seeligmann in jenen Jahren am tiefsten bewegte, lassen die Eingangsseiten seiner beiden damals erschienenen Schriften ahnen: die „Phasen uit de geschiedenis“ sind dem Gedächtnis der „Lehrer, Freunde und Schüler“ gewidmet, „die als Juden in den Jahren 1941–1945 starben“, der Dissertation stehen nach der Widmung an das Andenken des Vaters15 zwei Jesajastellen (37,31f.; 62,6f.) über die Entronnenen des Hauses Juda und die Wiederaufrichtung Jerusalems als des „Ruhms auf Erden“ voran. Seeligmann wusste sich als einen Entronnenen, als „aus dem Feuer gerissenen Scheit“ (Am 4,11); der Gedanke daran verließ ihn niemals, die Erinnerung an das entsetzliche Schicksal des größten Teils der europäischen Juden belastete sein ganzes weiteres Leben. Mir sagte er einmal, er frage sich oft, warum gerade er und die Seinen überlebt hätten, aber eine Antwort gebe es natürlich nicht. 1947 war er anlässlich eines Kongresses zum ersten Mal in Jerusalem, und als ihm nicht lange danach von dort zunächst eine halbe Lektorenstelle angeboten wurde, war auch die sichere Aussicht auf Professuren in Amsterdam und Leiden keine ernsthafte Alternative mehr. Im Januar 1950 geschah die Übersiedlung, das halbe Lektorat wurde bald ein ganzes, 1956 folgte die Ernennung zum Professor, später der volle Lehrstuhl. Seeligmann zitierte gern im Blick auf andere, aber auch auf sich selbst: ‫יש‬ ‫ ואדם נאה למקומו‬,‫מקום נאה לאדם‬. In Jerusalem wusste er sich am rechten Ort, um keinen Preis wollte er die Stadt und das Land je wieder verlassen. Er identifizierte sich mit dem Staat Israel und trat jederzeit für ihn ein, freilich erklärtermaßen vorwiegend als „Taube“, nicht als „Falke“. In mancher Hinsicht, schrieb er mir einmal, gehöre er ja ins neunzehnte Jahrhundert – aber er hätte „den Staat Israel nicht gerne versäumt!“ Das hinderte nicht, dass er, mit offenkundigem Recht, auch sagen konnte, er sei „immer ein Holländer geblieben“. Die Sprache innerhalb seiner Familie war das lebendigste Holländisch, das man sich vorstellen kann, und er selbst, obwohl seit frühester Kindheit an Hebräisch gewöhnt, schrieb seine wissenschaftlichen Arbeiten, wenn möglich, mindestens im Entwurf holländisch (oder deutsch) statt neuhebräisch, obwohl es sich, wie er lächelnd einräumte, in Israel eigentlich anders gehörte. Auch in seinem 14  BiOr 9 (1952) 195. 15  Zwei Jahrzehnte vorher hatte der Vater ihm seine Broschüre „Bibliographie en Historie“ gewidmet: „Aan mijn zoon Leo, bij zijn 20ste verjaardag, 25 Tebeth 5687“ (H. Boas, Herlevend bewaard. Aren lezen in joods Amsterdam, 1987, 153).

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äußeren Habitus passte er sich nicht an; ich habe ihn nie anders erlebt als beim ersten Mal in Amsterdam, im feinen dunklen Anzug und mit erlesener Krawatte. Seine Weltläufigkeit und Kommunikationsbereitschaft bekamen auch in Jerusalem viel Gelegenheit, sich zu entfalten. Das galt auch auf dem Gebiet der Wissenschaft. „His approach“, so die Jerusalemer Perspektive, „was philological in the European sense and historical throughout.“16 In seiner Person war dieser „approach” unter den Jerusalemer Kollegen und Studenten eindrucksvoll und wirksam gegenwärtig. Umgekehrt tat er auch einiges dafür, dass der „approach“ der israelischen Wissenschaft anderswo nicht unbekannt blieb. Zu einem Interessenvertreter oder Parteimann wurde er dabei nicht, weder in der einen noch in der anderen Richtung; seine Mission war die eines „ehrlichen Maklers“ von unbedingter Sachlichkeit. Ein schönes Dokument dafür ist die Besprechung von Cassutos Genesiskommentar, die er in seiner ersten Jerusalemer Zeit verfasste17. Cassuto (1883–1951) gehörte zu den älteren Kollegen von Rang und Einfluss, die er 1950 in den biblischen Fächern vorfand; es mag genügen, neben ihm M. H. Segal (1876–1968), N. H. Tur-Sinai (1886–1973) und Y. Kaufmann (1889–1963) zu nennen. Sie waren geeint durch eine sich sehr verschieden ausprägende konservative, zur Apologetik tendierende Grundhaltung. Die Studenten erhielten bei ihnen sichere, überwiegend beruhigende Antworten auf die kritischen Fragen, die sie hatten oder kannten oder auch erst durch diese Lehrer, und dann gleich mit der dazugehörigen Zurechtrückung, mitgeteilt bekamen. Ganz anders war es bei Seeligmann. Er respektierte diese Kollegen hoch und stand mit ihnen auf gutem Fuß, aber seine Antworten mussten ihnen und ihren Studenten weithin, wie er selbst sagte, als „ketzerisch“ erscheinen. Noch wichtiger: er war überhaupt viel mehr ein Mann der Fragen als der Antworten. Es gab für ihn in der Wissenschaft kein „Roma locuta, causa finita“, weder im Großen noch im Kleinen. „Gott wohnt im Detail“, zitierte er den großen Aby Warburg, und gerade weil er das Große im Kleinen und aus viel Kleinem zusammengesetzt sah, verbot er sich und anderen, Einzelheiten gering zu achten, sie nicht so genau und so unbefangen und vorurteilslos wie irgend möglich zu erfassen, warnte er aber auch vor schnellen „Überhöhungen“ des Details und neigte bei exegetischen Arbeiten, die von vornherein mit grundsätzlichem Anspruch auftraten, zum Misstrauen. Aber misstrauisch oder nicht, er nahm alles mit gleicher Aufmerksamkeit zur Kenntnis, mochte es sich um das Werk einer Autorität der Vergangenheit, um eine ungedruckte Dissertation aus dem Nachkriegsdeutschland oder um den Diskussionsbeitrag eines Jerusalemer Seminarteilnehmers handeln; es kam sogar vor, dass er eine seiner Schülerinnen in der Amsterdamer Realschule, die dort vor Jahrzehnten einen bedenkenswerten Übersetzungsvorschlag gemacht hatte, mit Nennung ihres Namens zitierte. Sein historischer 16  A. Rofé, DBiblI (1999) II, 452. 17  BiOr 9 (1952) 195–200.

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Sinn und sein Gerechtigkeitsgefühl verboten ihm, für gelehrte Meinungen, von der großen Konzeption bis zur unscheinbarsten Emendation einer Psalmstelle, nur mehr oder weniger beliebige Vertreter, etwa den letzten, anzuführen; er suchte immer nach ihren Urhebern und machte dabei unerwartete Funde. Überhaupt sollte nichts unter den Tisch fallen, nichts, dessen er habhaft werden konnte, blieb ungeprüft, und seine Gewissenhaftigkeit ließ ihn das Meiste immer wieder prüfen, wobei sich das Ergebnis durchaus ändern konnte; er war nicht im geringsten rechthaberisch oder starrköpfig. Ein Beispiel: in der Frage, ob historisch Esra vor Nehemia oder Nehemia vor Esra gehöre, gestand er gesprächsweise, vorgestern der einen, gestern der anderen Meinung gewesen zu sein und vorauszusehen, dass er morgen vielleicht zu der einen zurückkehren werde; zweifellos würde er auch die heute über diese Frage hinaus gegen die Historizität des Esra vorgebrachten Argumente sorgsam wägen und sich dabei durch den Umstand, dass er einst als Student H. H. Schaeders „Esra der Schreiber“ (1930) mit Begeisterung las, möglichst wenig beeinflussen lassen. Wegen seiner ständigen Revisionsbereitschaft spöttelte Kaufmann: „Er schreibt mit dein Radiergummi“18, und er selbst hätte wie der von ihm – nicht kritiklos! – verehrte Gunkel sagen können: „Für Leute, die eine Autorität haben wollen, bin ich eine unbequeme Autorität, weil ich mich so oft ändere.“ Gunkels Schüler und Seeligmanns Freund Baumgartner, der diesen Ausspruch überliefert hat19, fügte zwar gleich hinzu, was natürlich auch für Seeligmann gilt: „Ganz so schlimm war es mit dem Sichändem ja nicht“, aber davon bleibt der grundlegende Tatbestand unberührt. Wie Gunkel dürfte Seeligmann kein bequemer Lehrer gewesen sein, aber einer, der zu wissenschaftlicher Selbständigkeit mehr Anleitung bot als viele andere. Dazu hat bei ihm zweifellos auch die oft so sehr vernachlässigte Anleitung zum – begründeten! – Nichtwissen gehört; ich habe ihn mehr als einmal den hochgelehrten Faust zitieren hören: „Und sehe, daß wir nichts wissen können!“ Seine Studenten hat die Frage beschäftigt, wie er in seiner Person vorbehaltlose orthodox-rituelle Frömmigkeit und ebenso vorbehaltlose philologischhistorische Kritik an den biblischen Texten vereinigte. Ich entsinne mich keines Gesprächs darüber und finde in Briefen eine einzige Äußerung, anlässlich eines ihm20 geschenkten Buches von F. Overbeck: „Overbeck scheint mir, so weit ich ihn (zu) verstehe(n anfange) ein geradezu klassisches Beispiel für die, mir sehr vertraute!, Spannung zwischen einer historisch-kritischen Einstellung, die ‚zu Gericht sitzen‘, jedenfalls eine Distanz zwischen sich und ihrem Objekt schaffen will, und Glauben (zwar spielen dabei allerlei Praedispositionen mit!).“ Aber im Gegensatz zu Overbeck vermittelte er nicht den Eindruck, dass ihn diese Spannung besonders belastete. Vielleicht darf man es sich mit dem Schüler, der 18  Das stimmte übrigens fast wörtlich, wie auch Seeligmanns Bleistifte immer gespitzt waren. Umgekehrt sagte Seeligmann Kaufmann nach, er schreibe mit der Schere. 19  Congress Volume Bonn 1962 (1963) 12. 20  1969 von R. Hanhart.

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ihm am nächsten stand, so zurechtlegen, dass für ihn, den ungeteilt frommen Juden, der „mit seiner ganzen Seele und seiner ganzen Kraft“ an den mis.wôt, den göttlichen Geboten hing, auch das Streben nach Erkenntnis zu diesen Geboten gehörte21. Er sagte oft: „Was der Mühe wert ist, getan zu werden, ist es wert, gut getan zu werden.“ Wie sehr musste das für ihn gerade auf diesem Gebiet gelten! Es musste ihm auch jeden billigen Ausgleich zwischen den beiden Polen jener Spannung, also alle Apologetik, verbieten. Gewiss las er die ihm von Kind auf vertrauten biblischen Texte in enger Beziehung auf sein eigenes Leben als Glied des jüdischen Volkes; aber auf den Vollzug seiner wissenschaftlichen Arbeit ließ er das (die doch wohl wichtigste „Praedisposition“) möglichst keinen Einfluss gewinnen, und man sollte in dieser Hinsicht bei ihm nicht allzu viel zwischen den Zeilen lesen wollen. Damit stand im Zusammenhang, dass ihm die Disziplin einer „biblischen Theologie“ auch nur des Alten, geschweige des Alten und des Neuen Testaments gründlich suspekt war. Er stellte die kritische Frage, „whether a Christian theological outlook, which a priori tends to approach the Old Testament with conceptions and convictions adopted from elsewhere, forms the best condition for a detached philological-historical exegesis“22. Sich selbst erklärte er dezidiert für einen Philologen, ja einen „Nur-Philologen”, der die Bezeichnung Theologie anwenden würde „für das Verfahren der Wertung o.ä. des modernen Interpreten, aber kaum für das Denken eines alttestamentlichen Menschen oder Autors (da würde er je nachdem ‚religiöser Gedankengehalt, israelitische Denkart, geistesgeschichtlich‘ u.ä. schreiben)“23. So kam er zu dem auch abgesehen von der hübschen Formulierung bedenkenswerten Urteil, Zimmerlis „Theologie“ sei ein gutes Buch, obwohl sie eine „Theologie“ sei, und v. Rads „Theologie“ sei ein gutes Buch, weil sie in Wahrheit keine „Theologie“ sei. Zu meiner Schrift über die „Mitte des Alten Testaments“ äußerte er unbeschadet materieller Zustimmung sein „tiefes Bedauern“ darüber, „daß der bewegliche Satz24, der Wellhausen zum Ausgangspunkt für einen Geschichtsaufriß dient“, bei mir „zum Leitsatz einer Theologie geworden“ sei. In Klammem fügte er hinzu: „Davon, daß Wellhausen eigentlich doch Theologe gewesen sei, hat mich Perlitts Aufsatz25 nicht überzeugt.“ Das war ein klares Lob für Wellhausen! Während eines der Aufenthalte Seeligmanns in Basel erzählte ich Karl Barth von ihm und seiner doppelten Art, mit der Bibel umzugehen. Barth interessierte das sehr und er hätte gern mit ihm darüber diskutiert, auch gern in ihm einen „richtigen Juden“ kennengelernt – er kannte deren nach eigenem Eingeständnis nur wenige –, aber Seeligmann, obwohl er Barths Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus zu 21  Vgl. A. Rofé in: ‫( ןמגילז הירא קחצי רפס‬1982) I, 6. 22  BiOr 9, 195. 23  Dass er darin nicht allzu konsequent verfuhr, zeigt etwa das Schlusskapitel der Dissertation. 24  „Jahwe der Gott Israels, Israel das Volk Jahwes.“ 25  Jetzt in: L. Perlitt, Allein mit dem Wort (1995) 256–62.

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würdigen wusste und in der „Protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert“ „mit großem Genuß, und wäre es nur wegen der ungeheuren Bildung und des feinen Geschmacks,“ gelesen hatte, ließ sich nicht überreden: unser gemeinsamer Besuch würde für den alten Mann nur eine Belästigung sein. Dahinter stand, dass ihm das, was ich als Barths „nachkritische Schriftauslegung“ dargestellt hatte, ganz fremd blieb und er für Barths Israel-Lehre gerade als Jude keinerlei Interesse aufbringen konnte. Stattdessen führte er in Basel „so manch fruchtbares Gespräch“ mit W. Baumgartner, woran dieser im Vorwort zur Neubearbeitung des „KöhlerBaumgartner“ dankbar erinnerte. „Da werde ich Seeligmann fragen“, sagte Baumgartner in seinen letzten Lebensjahren häufig. In der Tat: einen ergiebigeren Gesprächspartner konnte der Lexikograph nicht finden. Seeligmann war eine lebendige Konkordanz, bewegte sich virtuos in den textlichen, semantischen, etymologischen Problemen und kritisierte aus dem Stegreif verständnisvoll, klar und konstruktiv. Sich selbst hielt er zum Lexikographen für völlig ungeeignet: da müsse man ständig Entscheidungen zwischen mehreren Möglichkeiten treffen, und das liege ihm nicht. Obwohl er es aus dem gleichen Grund – leider – weit von sich wies, etwa einen Band der Göttinger Septuaginta-Ausgabe zu übernehmen, war er dem Göttinger Unternehmen und seinem Leiter R. Hanhart ein ebenso wichtiger Gesprächspartner wie dem Baumgartnerschen Lexikon. Als ihn 1979 die Göttinger Akademie der Wissenschaften zum korrespondierenden Mitglied wählte, verstand er das als eine über das Konventionelle hinausgehende Ehrung. Er selbst hatte ja in seiner Dissertation den Maßstab dafür gesetzt, wie sich die Göttinger Ausgabe über das unmittelbar Philologische hinaus für die eigentliche Interpretation nutzen lässt, und so verfolgte er den Fortgang der Arbeit mit gespannter Anteilnahme. Besonders in den von R. Hanhart besorgten Bänden beeindruckten ihn die Gründlichkeit und die strenge Logik der Beweisführung, mochte er auch in Einzelheiten anderer Meinung sein und namentlich die prinzipielle Zurückhaltung gegenüber Konjekturen missbilligen – er selber konnte auch an gewagten Konjekturen seine Freude haben. In der Geschichte des Septuaginta-Unternehmens von Rahlfs über Ziegler zu Hanhart meinte er „aufs Ganze gesehen einen zunehmenden Konservativismus gegenüber der handschriftlichen Überlieferung“ zu beobachten, worin sich „die Entwicklung der philologischen Wissenschaft seit 1908“, dem Gründungsjahr des Unternehmens, spiegele. Die Kritik, die er damit übte, führte er, höflich wie er war, lächelnd auf seinen „bösen Trieb“ zurück, und ihr stand seine Aussage gegenüber, Hanharts Aufsatz „Zur geistesgeschichtlichen Bestimmung des Judentums“ (1967)26 scheine ihm „zum Wertvollsten zu zählen (oder sogar das Wertvollste zu sein), das je über die geistesgeschichtliche Bestimmung der Septuaginta geschrieben worden ist“. 26  Jetzt in: Studien zur Septuaginta und zum hellenistischen Judentum (1999) 151–64.

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Von einem der Besuche Seeligmanns hielt Hanhart die Erinnerung fest: „Ich habe es in Göttingen erlebt, daß im Gespräch eines Juden, der in Theresienstadt war, mit einem alten Göttinger Professor, der in seinen frühesten Jahren Lagarde noch begegnet war, nicht wie ich es erwartete, der Deutsche Lagarde gegen den Juden verteidigen mußte, sondern der Jude Lagarde gegen den Deutschen.“27 Seeligmann zitierte dabei den Ausspruch seines Vaters über Lagarde28, und an ihn dachte er vielleicht auch in dem kaum weniger unerfreulichen Fall des Ex-Göttingers J. Hempel, dem er 1953 in Kopenhagen den Handschlag verweigerte, von dem er aber einige Schriften stets mit Achtung nannte. Unter den älteren Göttingern wurde ihm J. Wellhausen immer interessanter; er machte über die nach und nach auftauchenden Dokumente zu dessen Leben und Werk wertvolle Bemerkungen und bedauerte oft, dass er den Abschluss der Briefsammlung wohl nicht erleben werde. Viel verband ihn menschlich und wissenschaftlich mit W. Zimmerli, obgleich er nicht nur, wie gesagt, dessen „Theologie“ zu theologisch, sondern auch den Ezechielkommentar zu ausführlich fand. Diese Einschränkungen brauchte er bei Zimmerlis Göttinger Vorgänger G. v. Rad nicht zu machen, dessen Leidenschaft für die Texte er teilte und dessen „geistesgeschichtliche“ Fragen und Antworten ihm viel Anregung auch dort boten, wo er ihnen widersprach. Den höchsten Rang unter den zeitgenössischen deutschen, und wohl nicht nur deutschen, Alttestamentlern hatte für ihn A. Alt; man sei sich in Jerusalem einig gewesen, dass ihm nach dem Zweiten Weltkrieg als erstem eine Einladung dorthin gebühre, und habe allgemein bedauert, dass der Besuch nicht zustande kam. Bei M. Noth wusste Seeligmann das Erbe Alts in den besten Händen, obwohl Noth anders als sein Lehrer „nicht mit dem Engel gerungen“ habe. Seit 1964, als Noth die Leitung des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes übernahm, lebten er und Seeligmann in der gleichen Stadt, aber durch eine Grenze getrennt. Nach dem Fall der Grenze infolge des Sechstagekrieges 1967 bahnte sich zwischen ihnen ein regelmäßiger Gedankenaustausch an, von dem sich beide einiges erhofften; diese Hoffnung zerstörte Noths plötzlicher Tod. Nicht als ob Seeligmann über Mangel an Gesprächsmöglichkeiten hätte klagen müssen! Im Gegenteil, in dieser Hinsicht hatten sich, wenngleich Spannungen nicht fehlten, die Erwartungen, mit denen er 1950 gekommen war, aufs reichste erfüllt. Waren zunächst vor allem die „grand old men“ seine Partner, so wurden es im Laufe der Zeit immer mehr die Jüngeren, mit denen eine sich ständig vergrößernde Gemeinschaft in den Voraussetzungen wissenschaftlieher Arbeit bestand. In einer Krisenzeit seines Lebens, im Juni 1969, berichtete er mit „Freude und tiefer Dankbarkeit“ über seine Schüler und erwähnte besonders den Umstand, „dass ich, wenn ich mir den Kopf zerbreche 27  Studien (s. vorige Anm.) 248. Der alte Professor war mein Vater. 28  S.o. 853.

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über Prophetenlegenden, Herrn Rofé oder über 1 Kön 12 Frau Japheth anrufen kann“ – „und es steht schon eine ganze jüngere Generation von Gesprächspartnern bereit!“ Er verkörperte in idealer Weise den Satz, dass Wissenschaft im Gespräch entsteht – wobei das Gespräch kein zeitfüllendes Palaver ist, sondern bei den Beteiligten harte Arbeit in „Einsamkeit und Freiheit“ voraussetzt. Seeligmann begab sich ganz und gar in seine Dialoge hinein und erwartete von den anderen, dass sie das auch taten; das konnte durchaus anstrengend werden, mochte der Ton auch leicht und liebenswürdig sein. Für die Gewissenhaftigkeit, die ihm bei jedem ernsthaften Gespräch selbstverständlich war, hier ein Beispiel außerhalb der gelehrten Sphäre: als ich ihn irgendwann in den sechziger Jahren eher beiläufig nach seiner Meinung über die gegenwärtige politische Lage Israels fragte, erwiderte er, die Antwort könne er nicht einfach aus dem Ärmel schütteln, und am nächsten Tag gab er sie in Gestalt einer äußerst differenziert argumentierenden Privatvorlesung, aus der ich mehr gelernt habe als aus Dutzenden von Zeitungsartikeln. Den wissenschaftlichen Höhepunkt der Jerusalemer Anfangsjahre bildete der Vortrag, den er 1953 auf dem ersten Kongress der „International Organization of Old Testament Scholars“ (später „for the Study of the Old Testament“) in Kopenhagen über „Voraussetzungen der Midraschexegese“ hielt29. Der Midrasch als „die älteste jüdische Exegese“ war schon in der Dissertation über die Jesaja-Septuaginta zur Sprache gekommen, jetzt wurde seine Vor- und Anfangsgeschichte, die noch in die Entstehungsgeschichte der biblischen Schriften hineingehört, planmäßig untersucht. Auch hier soll der Autor das Wort haben: „Es lassen sich, wenn ich richtig sehe, verschiedene Elemente und Kategorien nachweisen, die konstitutiv sind für den ältesten Midrasch und seinen Denkstil, das heisst für den Übergang vom literarischen Wachsen in beginnende Interpretation. Wir erwähnen zuerst die ausserordentliche Geschmeidigkeit von Erzählung und literarischem Motiv in der Bibel, dazu das Spielelement des semitischen bzw. hebräischen Geistes, sodann eine ausgeprägte Neigung sich Gedanken und Vorstellungen, die einer fremden Umgebung oder anderen Zeit entstammen, durch Umgestaltung der eigenen Atmosphäre bzw. Epoche anzupassen und schließlich das Aufkommen eines Kanonbewusstseins: der wandelbare Strom der Überlieferung gerinnt und wird zum heiligen Wort; speziell der Begriff Thorah wird beladen mit einem Inhalt, der Interpretation geradezu herausfordert. Die aufgestellten Kategorien sind verschiedener Wesensart, doch treten sie des öfteren in Kombination auf, sodass scharfe Grenzlinien […] nicht immer gezogen werden können.“30 In dieses zunächst abstrakt anmutende Kategoriensystem – noch einmal in Stichworten: Motivabwandlung, Spielelement, Adaptation, Auslegung – wird eine Fülle von Material eingefügt, die das Ganze höchst anschaulich und lebendig 29  GSt 1–30. 30  Ebd. 2f.

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macht. Seeligmanns Thesen bauen sich hier wie überall aus den „Beispielen“ auf und kehren immer wieder zu ihnen zurück; man beraubt sich des Besten, wenn man sie nur flüchtig zur Kenntnis nimmt und sich nicht von diesem begnadeten Exegeten gründlich und genau den „Gott im Detail“ zeigen lässt. Die „Voraussetzungen der Midraschexegese“ sind ein „Klassiker der alttestamentlichen Forschung“ genannt worden, mit der zutreffenden Begründung, sie hätten nicht nur eine damals „weitestgehend neue Perspektive“ etabliert, sondern „zugleich auch deren bis heute gültigen Anspruch und Maßstab“ formuliert31. Es war noch nicht lange her, dass H.-W. Hertzberg (1895–1965) in seinem Göttinger Kongressvortrag von 1935 von der „Nachgeschichte alttestamentlicher Texte innerhalb des Alten Testaments“ gehandelt32 und sich damit, wie A. Alts Reaktion zeigte33, in einen gewissen Gegensatz zur älteren Forschergeneration begeben hatte. Seeligmann fasste die Sache von der anderen Seite an: was für Hertzberg Nachgeschichte (der „ursprünglichen“ Texte) war, behandelte er als Vorgeschichte (des Midrasch), und er tat es mit der vollen Kompetenz sowohl für die biblische als auch für die rabbinische Literatur. Auch danach bewahrte er dem Midrasch-Problem sein Interesse, und noch nach einem Vierteljahrhundert lieferte er zu dem „klassischen“ Aufsatz eine „notwendige Ergänzung“, die „Anfänge der Midraschexegese in der Chronik“ betreffend34. Er hatte bald empfunden, dass hier 1953 eine Lücke geblieben war, und nachdem in der Zwischenzeit, nicht zuletzt durch die Arbeiten von Sara Japhet, die Erforschung der Chronikbücher große Fortschritte gemacht hatte, nahm er Thomas Willis – ihm sehr verpflichtetes – Buch über „Die Chronik als Auslegung“ (1972) zum Anlass einer neuerlichen Betrachtung, die die Begriffe der Tora und der Aktualisierung heraushebt und den fundamentalen Unterschied erweist, der für den Chronisten zwischen dem – bereits „kanonischen“ – Pentateuch und den Büchern Samuel und Könige besteht. Wie am Midrasch, so ist Seeligmann auch an der Textgeschichte, natürlich mit einem starken Akzent auf der Septuaginta, interessiert geblieben, aber dieses Interesse war schon immer aufs engste mit dem exegetischen und geistesgeschichtlichen verbunden gewesen und wurde ihm später noch mehr untergeordnet; zum führenden Spezialisten für die Textgeschichte selbst sah er neidlos seinen Schüler Emanuel Tov werden. 1946 veröffentlichte er sehr instruktive, auch als Einführung geeignete, „Untersuchungen zur Textgeschichte der hebräischen Bibel“, in denen er „weitere Aufsätze über andere Phänomene der biblischen Textgeschichte“ ankündigte35, aber ein weiterer Aufsatz der gleichen Art erschien erst 1979 in Gestalt der „Indications of Editorial Alteration and 31  S. Schorch / V. v. Bülow, WuD 27 (2003) 147f. 32  Wieder abgedruckt in Hertzberg, Beiträge zur Traditionsgeschichte und Theologie des Alten Testaments (1962) 69–80. 33  Vgl. R. Smend, Bibel und Wissenschaft (2004) 265f. 34  GSt 31–54. 35  Ebd. 421–38. 4211.

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Adaptation in the Massoretic Text and the Septuagint“36. Immerhin zeigte die Abhandlung Δεῖξαι αὐτῷ ϕῶς von 195837, zu welch weitreichenden Überlegungen ihn textkritische Beobachtungen fuhren konnten, und stellte der souveräne Vortrag über „Jerusalem im Denken des hellenistischen Judentums“ (1957) neben anderem eine Materialsammlung zum Einfluss der Septuaginta und insbesondere ihrer Fehlübersetzungen auf alle weiteren Kommentare in Aussicht38. Auf dieser Spur nahm Seeligmann 1966 eine Abhandlung über „die Septuaginta als ältestes Lexikon zum Alten Testament“ in Angriff, die passenderweise in der Festschrift für W. Baumgartner (1967) erscheinen sollte, aber dann leider nicht vollendet wurde. Dabei wirkte mit, dass der Schwerpunkt seiner Arbeit sich entgegen dem vorherrschenden „Trend“ aufs Ganze gesehen immer mehr in die älteren Zeiten zurückverlagerte. Er erlebte es noch, dass von verschiedenen Seiten und aus verschiedenen Motiven die vorrangige Geltung der „Endgestalt“ auch für die Wissenschaft verfochten wurde, aber obwohl er für die Erkenntnis dieser Endgestalt in ihren verschiedenen Formen und Funktionen mehr getan hatte als die Meisten, sah er keinen Anlass, sich daran zu beteiligen. „Mein altmodisches Interesse geht noch immer nach der Vorgeschichte der Stoffe und der (spekulativen) Rekonstruktion von Vorformen aus, eine Art ‚böser Trieb‘“ – so 1976. Sein zentraler literarischer Plan war das Buch, von dem er 1959 in Amsterdam gesprochen hatte und das seitdem in seinen mündlichen und schriftlichen Äußerungen eine Hauptrolle spielte. 1960 trat er ein sabbatical year in Uppsala mit der Absicht an, ein vollständiges Manuskript nach Jerusalem heimzubringen. Drei Monate vor dem Ende des Jahres, im Mai 1961, schrieb er – ich zitiere den Passus ungekürzt, auch um einen Eindruck von Seeligmanns Briefstil zu geben, zu dessen Charakteristika die häufig eingestreuten Lesefrüchte gehörten –: „Die Arbeit an meinem Buch macht einigen Fortschritt, doch ist das Tempo langsam. Ich werde ziemlich alt werden, bevor das Buch fertig ist (sogar Sie!) und habe eigentlich noch anderes vor! Schuld an der enervierenden Trägheit ist sicher meine umständliche und gehemmte Art, aber doch auch die Aufgabe, die Untersuchung – oder doch Nachprüfung – von vielen, vielen Einzelproblemen zu verbinden zu einer problemgeschichtlichen Synthese, die dazu einigermaßen ‚anschaulich‘ sein will und nicht jeder Ursprünglichkeit bar. ‚Of the endless array of books and essays which it is unsafe to neglect, however unprofitable to read, no man can master more than a select and relatively small proportion.‘ Wenn Sie, was ich vermute, den englischen! Humor des Zitats schätzen (es stammt aus D. Page: The Homeric Odyssey 1948 S. 17) so folge hier ein zweites (ib. S. 148) ‚Voluminous are the writings on this topic: what can be, has been said. I have the doubtful comfort of reflecting that it is no longer possible even 36  Ebd. 449–67. 37  Ebd. 401–19. 38  Ebd. 381–99.

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to make a mistake that is truly original‘! Ich will nicht leugnen, daß ich vieles lese, aber bitte, lassen Sie sich nicht in Mauselöcher jagen, und, vor allem, tun Sie es mir nicht nach, denn es ist meine Schwäche. Geschrieben habe ich den größeren Teil des Kapitels über Die Prophetie und ihre Probleme und jetzt ein Stück vom Kapitel über Historiographie (1. Problemstellung: Praehistoriographie und Historiographie; 2. Praehistoriographische Elemente und der Grad ihres historischen Bewußtseins; 3. Die Entstehung einer Historiographie. 4. Geschichte der Historiographie im AT. 5. Züge der ‚biblischen Historiosophie‘ im Vergleich mit der altorientalischen und klassisch griechischen, 6. Funktionen der Historiographie im AT.); das Programm ist ambitiös, aber vielleicht im Ansatz verfehlt, weil die Unterscheidung zwischen Praehistoriographie und Historiographie auf die es sich aufbaut von einem illegitimen modernen Vorurteil ausgehen dürfte (cf. H. Gese ZThK. 55.1958.128, Absatz zwei).“ Die eingeklammerte Inhaltsangabe ist mit Bleistift geschrieben; Seeligmann wollte also auch innerhalb des Briefes noch ändern können! Ein Vierteljahr später, gerade noch in Uppsala, heißt es: „Über die Prophetie habe ich einen mehr oder weniger laufenden (wenn auch noch nicht ins Hebräische übersetzten) Text erstellt; über Historiographie und die mich jetzt quälenden ‚Recht und Gesetz‘ nur Torsi; die Befürchtung, mein Buch werde eine ‚eschatologische Größe‘, deren Schreckbild Sie aufrufen, ist, leider, nicht ganz irreal; sowieso wird all zu viel commonplace darin sein – wenn schon auch noch etwas sonst?“ Ich gäbe einiges darum, wenn ich mit der Frechheit von der „eschatologischen Größe“ im Unrecht geblieben wäre: obwohl er viel Arbeit daran wendete, gelang es Seeligmann in den beiden ihm noch verbliebenen Jahrzehnten nicht, das Buch abzuschließen. Im Oktober 1962 berichtete er: „Die Sitzungen des Seminars über biblische Historiographie sind mir fast ohne Ausnahme eine Freude gewesen: ich habe viel dabei gelernt. Freilich sprengt das Material, das ich nun zum Thema gesammelt habe (etwa zwölf Paragraphen zum historischen Bewusstsein im AT.) den Rahmen eines Kapitels in meinem Einleitungsbuch und es ist nicht ausgeschlossen, daß ich ein eigenes Buch über Historiographie im AT. – englisch oder deutsch – herausbringen werde.“ An dem derart veränderten Plan hat er bis in seine letzten Lebensjahre festgehalten. Im Titel trat bald an die Stelle der Geschichtsschreibung das Geschichtsdenken in seinen Phasen oder Stadien. Die Zahl der Paragraphen wuchs (1977 waren es fünfzehn), einige verselbständigten sich zu Vorträgen und Aufsätzen und fügten sich danach nicht mehr recht in das Ensemble ein, die fertigen Teile wurden ein- oder mehrmals überarbeitet, manchmal auch ganz neu geschrieben, ohne doch damit schon ihre definitive Gestalt zu erreichen. Was Seeligmann seine „umständliche und gehemmte Art“ nannte, war Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein. Er legte bei anderen ungewöhnlich hohe Maßstäbe an, aber sich selbst beurteilte er am schärfsten. So hieß er keine seiner gedruckten Arbeiten nachträglich ohne Einschränkungen gut, und wenn er etwas niederschrieb, war er immer zugleich sein kundigster und – soll man sagen: leider?

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– erfolgreichster Kritiker. Zu den inneren Hemmnissen seiner Produktivität kam ein äußeres. Gegen Ende der sechziger Jahre machte ihm ein Augenleiden, dessen erste Anzeichen lange zurücklagen, fortschreitend zu schaffen. Bezeichnenderweise berichtete er als ein Alarmzeichen, dass der Gebrauch von Mandelkern und Hatch-Redpath schwierig wurde. Eine Operation im Sommer 1969 brachte das Gegenteil der erhofften Besserung. Die Lesefähigkeit war auf ein Minimum reduziert und ließ sich in der Folgezeit auch durch allerlei technische Hilfsmittel nicht wiederherstellen. Seit jener Operation sind alle Briefe Seeligmanns in der Handschrift seiner Frau geschrieben, die ihm von jetzt an auch noch als Sekretärin, Vorleserin und Mitarbeiterin zur Seite stand. Er wusste aber auch die jungen Leute zu rühmen, denen er Manuskripte diktierte und die ihm vorlasen und von denen einige, zuletzt besonders Zippora Talshir, eigene Gedanken und Formulierungen beisteuerten; er blieb dafür immer empfänglich und vergaß den Dank nicht. Der Intensität seines Umgangs mit der Wissenschaft tat diese Situation keinerlei Abbruch, aber die Mühe wuchs gewaltig, und in seine Äußerungen mischten sich öfter als vorher leise Töne der Resignation, gerade auch im Blick auf „das Buch“, das trotz allem nie aus den Augen geriet. Der Göttinger Kongressvortrag 1977 über „Die Auffassung von der Prophetie in der deuteronomistischen und chronistischen Geschichtsschreibung“ bedeutete für ihn „hauptsächlich die erhoffte Rückkehr zu meinem Buch über die Stadien des Geschichtsdenkens im AT, das ich so gerne noch vollenden möchte“, und als er 1981 „unverdrossen an der Abhandlung über Recht und Religion im AT“ arbeitete, ärgerte ihn „eigentlich fortwährend, daß gerade dieser umfangreiche Beitrag sich nicht auf mein zentraleres Thema: Stadien des Geschichtsdenkens im AT bezieht, zu dem ich nicht so bald oder nicht mehr zurückkehren werde“. Offenbar ist die ihm gemäßere „Gattung“ doch der Aufsatz gewesen, und so kann uns die 2004 vorgelegte Sammlung bis zu einem gewissen Grade verschmerzen lassen, dass wir „das Buch“ nicht besitzen. Es handelt sich durchweg um Kabinettstücke, die ihren Wert behalten haben, nachdem ihre wissenschaftsgeschichtlichen Orte und Anlässe vergangen sind. Über diese Orte und Anlässe lässt Seeligmann sich und seine Leser nicht im Unklaren. Um ein Beispiel herauszugreifen: der Aufsatz über „Hebräische Erzählung und biblische Geschichtsschreibung“ – Seeligmann selbst empfand diese Überschrift nachträglich als zu weit – will, angesichts der „in der skandinavischen Phase der traditionsgeschichtlichen Forschung“ nicht seltenen Übertreibung des Gegensatzes dieser Forschungsrichtung gegen die Literarkritik, auf den Spuren Gunkels, Mowinckels und besonders angeregt durch Greßmann „einer kombinierten Anwendung der literarkritischen und formkritischen Methoden dienen und so einen Beitrag liefern zur Bestätigung bzw. gelegentlichen Korrektur von den Resultaten der Kritik“39. Ganz unabhängig von dieser 39  GSt 119–136. 120.

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Frontstellung – oder richtiger: dieser Stellung gegen sinnlos starre Fronten – ist der Aufsatz die beste Anleitung zu quellenkritischem Beobachten, die man sich denken kann, und das nicht zuletzt aufgrund der Beschränkungen, die er sich auferlegt40. Zu ihnen gehört, dass er zur Frage der Existenz durchlaufender Quellen im Pentateuch nur indirekt durch Zitierung von Volz’ Widerspruch gegen Eißfeldt Stellung nimmt41, woraus man aber nicht auf eine Ablehnung des Fundaments der modernen Pentateuchkritik, der „Grafschen Hypothese“ von der Priorität des Deuteronomiums vor der Priesterschrift, schließen darf. Er hatte viel Gefallen an dem von seinem Schüler A. Rofé in einem Seminar formulierten Satz, wenn Kaufmann damit Recht habe, dass P früher sei als D, dann sei auch die bourbonische Restauration früher als die Französische Revolution42. Was Wellhausen betrifft: als ich 1963 zaghaft gemeint hatte, man könne dessen „kühnen Satz von den Propheten, deren Credo in keinem Buche steht und denen mit dem Gesetz die Physiognomie zu verderben eine Barbarei ist43, vielleicht nicht wiederholen, aber...“44, schrieb mir Seeligmann, er sei, glaube er, bereit, diesen Satz „zu wiederholen“ (von ihm unterstrichen), so wie ihm überhaupt „Das Nein des Amos“ in mancher Hinsicht „materiell nicht weit genug“ ging. Mich überraschte das ebenso wie H. W. Wolffs entsprechende Äußerungen45, denn beider (nicht ganz gleich motivierte) „Praedisposition“ hätte in meinen Augen auch auf das Gegenteil fuhren können. Natürlich erwog Seeligmann diese bedeutungsschweren Dinge immer wieder hin und her und mahnte etwa im Blick auf den Pentateuch mit Recht, man müsse auch in Rechnung stellen, dass es „eine Reihe von Gesetzen und Vorstellungen“ gibt, „die in H bzw. P älter sind als in D“; aber den grundlegenden Tatbestand hob das nicht auf. In seinen späteren Jahren trug er viel zur redaktionsgeschichtlichen Arbeit, besonders am Deuteronomistischen Geschichtswerk, bei, ohne aber selbst ein Gesamtbild mit durchgehenden Zuweisungen zu zeichnen oder auch nur anzustreben. Umso wichtiger sind die vielen Anregungen, die die unter erschwerten Bedingungen entstandenen großen Aufsätze „Von der historischen Wirklichkeit zur historiosophischen Konzeption“, „Die Auffassung von der Prophetie in der deuteronomistischen und chronistischen Geschichtsschreibung“ und „Anfange der Midraschexegese in der Chronik“ in dieser (und nicht nur in dieser) Richtung geben, der zweite mit seinem Exkurs über das Buch Jeremia über die Geschichtsschreibung hinausgreifend. Seeligmann griff ja auch abge-

40  Ebd. 136. 41  Ebd. 13642. 42  Vgl. A. Rofé in: Abraham Kuenen (1828–1891). His Major Contributions to the Study of the Old Testament, hg.v. P.B. Dirksen u. A. van der Kooij (1993) 106f. 43  Prolegomena zur Geschichte Israels (61905) 398. 44  EvTheol 23, 408. 45  Amos’ geistige Heimat (1964) 60, vgl. 2f. S.u. 917.

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sehen von der Prophetie darüber hinaus, wovon die Aufsätze zu Dtn 3346 – vom Autor als „wild“ bezeichnet – und Ps 4747, besonders aber die Festschriftbeiträge für Baumgartner48 und Löwenstamm49 Beispiele bieten – die beiden Letztgenannten Zeugnisse dafür, dass ihn das Thema des Rechts, einst als dritter Teil des „Buches“ ins Auge gefasst, über die Jahrzehnte beschäftigt hatte. Auch und gerade hier, wo sich Seeligmann nach eigenem Geständnis sehr wenig als Fachmann fühlte – und umso mehr Fachliteratur las –, gibt es viel Gelegenheit, den „Gott im Detail“ zu finden. Ein Manuskript über Recht und Religion, seit einem Amsterdamer Akademievortrag von 1959 in Arbeit, wurde 1981 zugunsten von Ps 47 zurückgestellt und blieb wie so vieles50 unvollendet. Als Seeligmann 1975 emeritiert wurde, stimmte ihn das melancholisch. Er war mit Leib und Seele Lehrer gewesen, hatte sich auf jede Unterrichtsstunde, ob Vorlesung, Seminar oder Übung, mit großer, ja übergroßer Gewissenhaftigkeit oft bis zur allerletzten Minute vorbereitet und aus dem studentischen Echo viel Ermunterung erfahren. Aber für Arbeit war ja weiter gesorgt, und er nahm dankbar die Hilfen an, die er brauchte und die ihm zuteil wurden. Unvermindert blieb seine Freude an guten Büchern, aber auch die Lust, wenn sein „böser Trieb“ sich regte, weniger gute sehr pointiert zu charakterisieren. Wenn er an sein eigenes Leben dachte, kam ihm oft das Gedicht „Der Wanderer“ mit Schuberts Musik dazu in den Sinn. Musik hatte ihn immer begleitet, sogar beim Lesen und Schreiben hörte er Schuberts und Mozarts Streichquartette. Als er 1969 eine Radiosendung mit Stücken seiner Wahl gestalten konnte, nahm er Didos Schlussaria mit Schlusschor aus Purcells „Dido and Aeneas“, Air à l’italienne aus Telemanns Suite in A-Dur für Flöte und Orchester, das Adagio aus Haydns Cellokonzert in D-Dur, die Romanze aus Mozarts Klavierkonzert in d-moll KV 466 und Beethovens zweite Romanze für Violine und Orchester op. 50. Viel bedeuteten ihm seine Enkel. Von dem jüngsten, 6jährig, berichtete er 1977 hoch erfreut, er habe versucht, den Großvater für das Schachspiel zu interessieren, worauf dieser ihm sagen musste, „daß ich vielleicht von Bibel etwas, von Schach aber nichts verstehe. Da antwortete er, um mich zu trösten: ‚Aber Bibel ist auch wichtiger als Schach.‘“ Im Jahr 1981 fühlte er sich zunehmend unwohl, aber seine Krankheit wurde nicht erkannt und eine Operation im Februar 1982 konnte ihn nicht mehr retten. Es freute ihn, noch die gerade erschienenen Bücher seiner Schüler Y. 46  GSt 349–64. 47  Ebd. 365–79. 48  Ebd. 293–317. 49  Ebd. 319–48. 50  Pläne, die möglicherweise zum Teil schon weit gediehen waren, betrafen den Einfluss des Königtums auf die Geschichtsschreibung, die Rolle des Mythischen, die Genealogien, die Theodizee – alles Themen aus dem Bereich „des Buches“. Eine umfangreiche Abhandlung sollte dem Buch Hiob gelten.

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Zakovitch und A. Hurvitz in die Hand zu bekommen, und noch mehr, dass ihm eine ungewöhnlich reichhaltige dreibändige Festschrift gewidmet wurde, an der vierundsechzig Gelehrte aus vielen Ländern mitgearbeitet hatten. Er starb am 14. Mai und wurde am gleichen Tag beerdigt. Dabei sprach A. Rofé, die Redner bei der akademischen Gedenkfeier im Juni waren J. Dan, M. Weiss, A. Hurvitz und S. Jafet. Der Nachruf, den R. Hanhart für die internationale Septuagintaforschung schrieb, schloss mit der Erinnerung an die „menschliche Güte“ des Verstorbenen, „die der, der ihn kennen durfte, nicht vergessen kann“51.

51  BIOSCS 16 (1983) 1.

Walther Zimmerli 1907–1983

Dass Walther Zimmerli Alttestamentler wurde, kann man einen Zufall nennen. 1930 erreichte den 23jährigen, der damals in Zürich Epileptische betreute und vor dem praktisch-theologischen Examen stand, die Frage, ob er in Göttingen Assistent für Altes Testament werden wolle, und 1935 wurde der 28jährige nicht habilitierte Pfarrer von Aarburg im Kanton Aargau auf einen Lehrstuhl für Altes Testament, Religionsgeschichte und orientalische Sprachen in Zürich berufen. Beides traf ihn völlig überraschend, und vor allem beim zweiten Mal, wo die Entscheidung natürlich noch gewichtiger war als beim ersten, legte er sich mit großem Ernst die Frage vor, ob es sich, wie er in solchen Fällen sagte, um einen Ruf von Gott her oder um eine Versuchung handle. Es war ein Mensch und Christ von fester Prägung und zugleich großer Offenheit, der auf diese Weise zur lebenslangen Beschäftigung mit dem Alten Testament kam. Die Prägung ergab sich zu einem guten Teil aus seiner Herkunft. Er wurde am 20. Januar 1907 in Schiers im Kanton Graubünden geboren, als achtes von elf Kindern, das erste aus der zweiten Ehe seines Vaters, des Direktors der dortigen Evangelischen Lehranstalt. Im Rückblick schrieb er sich eine glückliche, ruhig behütete Jugend zu, die er seiner Mutter verdankte1, obwohl gewiss schon die Größe der Familie für Unruhe sorgte und der Tod des Vaters im Jahre 1918 einen tiefen Schatten warf. Ruhig und behütet: das entspricht dem Charakter der dortigen Landschaft, des vorderen Prättigaus, eines Gebirgstales, das von der größeren Welt des Rheintales fast hermetisch abgeschlossen, geradezu abgeschottet ist. Man kann sich vorstellen, 1  Hier und im folgenden stütze ich mich auf die Lebensläufe, die er 1929 und 1930 der Zürcher Konkordats-Prüfungsbehörde und 1951 der Universität Göttingen einreichte (jetzt im Staatsarchiv des Kantons Zürich bzw. im Göttinger Universitätsarchiv) und auf den von der Familie verfassten Lebenslauf, der bei der Trauerfeier am 8. Dezember 1983 in Oberdiessbach (Kanton Bern) verlesen wurde. An ungedrucktem Material wurden außerdem besonders die Rundbriefe benutzt, die Zimmerli aus Göttingen an die ehemaligen Bewohner des Zürcher Theologenhauses richtete. Sein gedrucktes Werk verzeichnet bis 1976 die Bibliographie in der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag (1977) 559–80 (S. Wüst), für die letzten Jahre J. Motte, Biblische Theologie nach Walther Zimmerli (1995) 208–11. „Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament“ enthalten die beiden Sammlungen „Gottes Offenbarung“ (29169) und „Studien zur alttestamentlichen Theologie und Prophetie“ (1974) (= Ges. Aufs. I und II).

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dass dieser Raum jemandem, der in ihm aufwächst, ein Grundgefühl von Geborgenheit vermittelt, das auch draußen im Rheintal und in noch weiteren Fernen unzerstörbar vorhält. Walther Zimmerli hatte eine Heimat, einen festen geographischen Bezugspunkt, zu dem er immer wieder zurückkehrte und wo er sich im Alter mit einem eigenen Haus etwas fester ansiedelte – nun nicht im Tal, sondern höher am Hang im Angesicht der Horizonte, die er so gern betrachtete. So wichtig diese Herkunft und ihre bleibende Gegenwart für ihn war, als das eigentliche Geheimnis seiner Kraft hätte er sie nicht gelten lassen. Er wusste sich in einer Geborgenheit und einem Gehaltensein, für die sich ihm zwar solche Bilder aufdrängten, die gut in die Berge passten, die er aber jenseits aller hiesigen Höhen und Tiefen begründet sah. In dem unerschütterlichen Glauben, von Gottes Hand gehalten, in ihr geborgen zu sein, hat er sein Leben geführt, aus ihm kam die eigentümliche Festigkeit, die jeder verspürte, der ihm begegnete. Zweifellos blieb in seiner Frömmigkeit der Geist seiner Eltern lebendig: des Vaters Jakob Zimmerli, eines gerechten und leidenschaftlichen Mannes, der als aargauischer Schneiderssohn zunächst Lehrer gewesen war, dann in Basel Theologie studiert hatte und nun nach mehrjähriger Pfarrerstätigkeit seine große Schule immer mit der Frage nach dem Willen Gottes leitete2, und der Mutter Lily Zimmerli geb. Frey, einer Zürcherin mit Sensibilität, Horizont und Humor, durch ihre Mutter, eine Usteri, auch verwandtschaftlich mit der besten Vergangenheit ihrer Vaterstadt – ich nenne die Namen Zwingli und Lavater – verbunden. Die Frömmigkeit dieses Elternhauses war auf eine sehr schweizerische Weise biblisch bestimmt, „bibelunmittelbar“, wie Walther Zimmerli gern sagte. Das Konfessionsproblem spielte keine Rolle, Dogma und Katechismus eine untergeordnete. Diese Herkunft war Walther Zimmerli bis ins Alter anzumerken. Er hat bei allem Sinn für das Gewordene und Gewachsene nie ein ausgeprägtes Konfessionsbewußtsein gehabt, war aber auch in Göttingen ein treues Glied der reformierten Gemeinde und blieb es, obwohl ihn die politische Ausrichtung des deutschen Reformiertentums in seinen letzten Lebensjahren tief irritierte und zeitweise sogar den Austritt erwägen ließ. Das Studium der Bibel hat er von Kindheit an mit Eifer und Ausdauer betrieben. So wird berichtet, er habe stundenlang gesessen und geblättert, ob sich nicht doch ein Ur- oder Erzvater fände, der tausend Jahre alt geworden wäre. Zu seiner Prägung trugen zweifellos die Gemeinschaften bei, in denen er aufwuchs: die große Familie, in der er nach dem Tod des Vaters in plötzlich karg gewordenen Verhältnissen an der Seite der Mutter früh für die jüngeren Geschwister Verantwortung übernahm, und die heimatliche Schule, die Evangelische Lehranstalt. Er lebte von Anfang an nicht abgeschottet, sondern war daran gewöhnt, unter Menschen zu sein, auch vielen Menschen; er scheute 2  Vgl. Geschichte der Evangelischen Lehranstalt Schiers 1837–1937 (1937); darin: Th. Nägeli (und L. Zimmerli-Frey), 1894–1918 Direktor Jakob Zimmerli (187–328).

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die anderen nicht, sondern brauchte sie, und mehr noch brauchten sie ihn. Er war ein Mitmensch, wie man ihn so bald nicht wieder findet. Er mischte sich nicht ein, drängte sich nicht vor, war aber, wo er ernstlich gesucht und benötigt wurde, immer zu finden und entzog sich nicht. In der Unterhaltung seinerseits eher ein wenig spröde, war er doch ein sehr besonderer Gesprächspartner. Er hörte genau zu, und was er antwortete, hatte Substanz und half weiter. Wer ihn nicht sehr gut kannte, konnte gelegentlich den Eindruck haben, er sei allzu offen und vertrauensselig, und gebe leicht auch Leuten Kredit, die ihn nicht verdienten. Das war höchstens halb richtig. Walther Zimmerli beobachtete recht gut und hatte ein nüchternes Urteil. Aber seine Nüchternheit war zugleich human und christlich, und zu ihr gehörte die Einsicht, dass es keinen Menschen ohne Fehler gibt und dass man sich dadurch nicht irritieren lassen sollte. So nahm er jeden, wie er war, orientierte sich mehr an seinen Stärken als an seinen Schwächen, suchte überall zu lernen, was sich lernen ließ, und brach Gespräche von sich aus nicht ab, wenn es irgend zu vermeiden war. Das hieß nicht, dass er nicht nein sagen konnte. Er redete niemandem nach dem Munde und konnte ziemlich hartnäckig bei der Feststellung von Meinungsverschiedenheiten insistieren. Aber es lag ihm nichts daran, immer das letzte Wort zu behalten, die Bildung von Fronten und Parteien bedauerte er, an der Theologensitte, Andersdenkende zu verunglimpfen, beteiligte er sich nicht. Er gehörte zu den seltenen Menschen, die keine Feinde haben. In einer Wandelhalle der Schierser Schule steht an der Wand zu lesen: „Carpe diem.“ Horazens Mahnung wurde in der Weise befolgt, dass es allgemein hieß: „In Schiers lernt man arbeiten.“3 Walther Zimmerli hat seine Tage bis ans Ende unermüdlich genutzt. Die Zucht, in der er seinem Leben Form gab, verhinderte allen Schlendrian, ließ aber auch das starke Temperament, das er vom Vater geerbt hatte, nur selten nach außen durchbrechen. Er war ein guter Schüler, der immer glänzende Zensuren nach Hause brachte, außer in Zeichnen und Turnen – letzteres unbeschadet der Tatsache, dass er zeitlebens sehr leistungsfähig und ein passionierter Bergsteiger war. Sein Interesse galt zunächst der Technik, und für die Mathematik konnte er sich, wie er später sagte, „restlos begeistern“. Aber er bezog, noch auf den Wunsch des Vaters, das Gymnasium und gewann dort „die Freude an den Sprachen, besonders den alten“. Die letzten Gymnasialjahre waren für ihn eine „herrliche Zeit“. Im späteren Rückblick empfand er sie freilich als allzu problemlos. Er sei damals, so schrieb er 1929 bei der Meldung zum theoretisch-theologischen Examen, gänzlich an die Autorität seines verstorbenen Vaters gebunden gewesen, eine „innere Reibung und Auseinandersetzung mit dem Gegebenen“ habe vollkommen gefehlt, die Nöte des Schullebens seien ihm unverständlich gewesen. Auch bei der Wahl des Studienfaches wirkte, neben den alten Sprachen, die Erinnerung an den Vater mit, dessen „Herzenswunsch“ es gewesen war, „daß 3  Vgl. Geschichte (Anm. 2) 224 und das Bild dort vor S. 344.

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einer seiner sieben Söhne Theologe würde“. An sich hätte auch die Technik, genauer die Bautechnik, nahegelegen – oder aber die Musik, die ihm in den ersten Studienjahren nach seinem eigenen Geständnis „vielleicht einen größeren Teil [seines] Lebensinhaltes ausmachte, als die Theologie“; im Klavierspiel vermochte er sich auszudrücken, das Hören von Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms, aber auch Bach bedeutete ihm bis in die letzten Lebenswochen viel. Die erste Hälfte seines theologischen Studiums, vom Sommer 1925 bis zum Winter 1926/27, absolvierte er in Zürich. Der Anfang fiel ihm schwer. „Ich war gewöhnt, den vorgeschriebenen Weg zu gehen und mir über denselben eigentlich keine Gedanken zu machen. Nun kam der Punkt, wo alle unmittelbaren Vorschriften fielen und ich selber sehen sollte, wie ich zu gehen hätte. Ich habe zunächst vollkommen versagt. Ich war fleißig, aber ganz planlos, so daß das Erarbeitete vor mir zerrann.“ Rettung brachte die propädeutische Prüfung nach dem vierten Semester, um die die schweizerischen Theologiestudenten von ihren deutschen Kommilitonen immer beneidet wurden. „Ich sah wieder einen klaren Stoffkreis vor mir und in der Arbeit an diesem Stoffkreis merkte ich, was ich eigentlich hätte treiben sollen.“ Nun ging es wieder wie in der Schule: er bestand jede der sieben Prüfungen mit der besten Note und verließ Zürich fürs erste mit der Gesamtzensur Ia. Seine theologische Existenz hatte er damit allerdings noch nicht gefunden. Nicht einmal bei ihm ging es glatt und problemlos aus einem christlichen Elternhaus über Schule und Konfirmandenunterricht ins Studium und von dort ins Pfarramt (oder auch die Professur) hinein. „Vom Gymnasium“, so berichtete er 1929, „kam ich als braver Idealist, vielleicht besser Moralist. Das ‚ewig Gute‘, neutral gedacht, identisch mit dem Schönen, war das Ziel des Lebens und das ‚strebend sich bemühen‘ der gangbare Weg dazu. Was Christentum war, davon verstand ich im Grunde nichts. Von meinem Konfirmandenunterricht her habe ich nichts mitgenommen. Ich habe eben auch dort ‚gelernt‘, mit Freuden gelernt, aber weil mir alles ganz außer allem Zweifel stand, es nicht innerlich verarbeitet und es darum nicht verstanden. Meine vier ersten Semester in Zürich mögen die Bedeutung haben, dass in ihnen sich die christliche Gedankenwelt – zunächst traditionell übernommen – an stelle der früheren setzte. Ich sage mit Absicht: Gedankenwelt, denn meine Existenz traf es nicht.“ Praktische Arbeit, zwei Monate an Schwererziehbaren in Bethel geleistet, konnte daran nichts ändern. Immerhin verdient notiert zu werden, dass in diesen Zürcher Semestern nebenbei dem späteren Zufall vorgearbeitet wurde: der Lebenslauf verzeichnet Freude am Alten Testament, das „eine reiche Fundgrube von Kostbarkeiten“ sei, und beginnende Lektüre dieses Buches, hebräisch natürlich: „zunächst die Geschichtsbücher, von den Propheten erst Amos; im schrecklichen Textzustand des Hosea kühlte sich vorerst der Drang, weiter in die Propheten einzudringen“. Und obwohl das Testatbuch keinen überdurchschnittlichen Anteil der alttestamentlichen Veranstaltungen ergibt, ziehen sich orientalistische Studien durch alle Semester: Arabisch bei Heß, Aramäisch und

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Syrisch bei Hausheer. So überrascht es nicht gänzlich, dass als Studienort für das erste Semester nach dem Propädeutikum Berlin ins Auge gefasst wurde, und zwar mit der Absicht, dort Greßmann zu hören. Diese Absicht schlug fehl, indem Greßmann kurz vor Beginn des Semesters starb. So musste Walther Zimmerli sich im Alten Testament mit Sellin begnügen. Bei ihm schrieb er seine erste größere Seminararbeit, über das Gebet bei Jeremia. Er machte sie – dies seine eigenen Worte – „mit großer Umständlichkeit, hatte aber große Freude am Stoff’: das bei Hosea abgebrochene Prophetenstudium wurde an einem größeren Gegenstand fortgesetzt. Für die nächste Zukunft folgenreicher war der in Berlin gewonnene Eindruck, „daß eine gewisse systematische Schulung Vorbedingung für jedes Arbeiten ist, daß zudem die exegetische Theologie in der Luft hängt, solange man nicht selber einen theologischen Standpunkt gewonnen hat, von dem aus das historisch Erworbene Sinn und Beleuchtung empfangen kann“. Seine systematischen Bemühungen hatten allerdings in Berlin noch keinen Erfolg. Hans Lietzmann, der Ephorus des Johanneums, in dem er wohnte, riet den Studenten, möglichst schnell zu Titius ins Kolleg zu gehen: „Sie müssen ihn noch sehen, bevor er ganz zugewachsen ist“ – ein Rat, den Walther Zimmerli immer mit großem Vergnügen erzählte und den jede Photographie von Titius schlagend illustriert. Der junge Student befolgte ihn gehorsam, saß die ganze Vorlesung ab, eine Ethik, und resümierte: „Ich verstand gar nichts.“ Da ihm Berlin sonst in dieser Hinsicht ebenso wenig zu bieten schien, fasste er den Plan, nach Münster zu wechseln, um dort Karl Barth zu hören. Als er das in all seiner Unbefangenheit an einem Offenen Abend im Johanneum berichtete, reagierte Lietzmann mit hellem Entsetzen, und Walther Zimmerli ließ sich wiederum von ihm beeinflussen. Man kann darüber spekulieren, welche Wendung Barth seinem Studium gegeben hätte und was es etwa umgekehrt für Barths Stellung zur Exegese und zum Alten Testament hätte bedeuten können, wenn statt oder neben Wilhelm Vischer Walther Zimmerli der Alttestamentler in seiner nächsten Umgebung gewesen wäre. Wie es nun einmal kam, blieb es bei einer Nähe auf Distanz. Die Motive für die Nähe liegen auf der Hand; die Distanz, soweit sie die eigentliche Theologie betraf, konnte Zimmerli andeutend damit bezeichnen, dass Barth ihm manchmal zu „mozartisch“ denke. Nach Münster ging er also nicht. Dass es stattdessen Göttingen wurde, verdankte er einigen Genossen im Johanneum, die noch bei Karl Holl studiert hatten. Sie verwiesen ihn auf Holls bedeutendsten Schüler, Emanuel Hirsch in Göttingen, und schenkten ihm zum Abschied Holls Gesammelte Aufsätze über Luther, ein Buch, das ihm in den nächsten Jahren mehr bedeutete als jede Dogmatik. In Göttingen studierte er also bei Hirsch, wo ihm das homiletische Proseminar den meisten Gewinn brachte, und machte einen neuen Versuch mit der Ethik, diesmal bei Stange und mit Erfolg: „Die Vorlesung zog mich durch ihre methodische Klarheit und das grundsätzliche Anpacken aller Probleme mächtig an. Das Interesse für die prinzipiellen Fragen des Sittlichen wurde

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hier geweckt. Besonders die Erkenntnis des unlöslichen Zusammenhangs von Sittlichkeit und Religion – das Sittliche bleibt meines Erachtens ein unverständliches und nicht deutbares Phänomen ohne Gott – ließ mich diese Vorlesung, in der freilich dieser Zusammenhang für mein Empfinden nicht stark genug zutage trat, leidenschaftlich verfolgen.“ Was die Theologie im allgemeinen angeht, so bahnte sich im zweiten Göttinger Semester, Sommer 1928, eine Klärung an, die Bestand haben sollte. Hören wir wieder den Lebenslauf aus dem folgenden Winter: „Während im Anfang meiner Göttinger Zeit mir hauptsächlich vor Augen gestanden hatte: Exegese ohne Systematik ist unmöglich, trat es jetzt wieder mit verschärfter Deutlichkeit vor mich: Eine Systematik, die nicht den am Bibelwort erwachenden Glauben zur Grundlage hat, bleibt leere Spekulation. Und das Verständnis des Bibelwortes unterliegt der Exegese und Bibelkritik. Denn letztere unbedingt zu bejahen – freilich mit dem Vorbehalt, sie ihrerseits kritisch überprüfen zu dürfen – scheint mir Sache christlicher Wahrhaftigkeit.“ Das Sommersemester 1928 wurde für Walther Zimmerli auch in anderer Beziehung wichtig. Er besuchte die Vorlesung und das Seminar von Herman Nohl, wo er „einen Kreis von sehr lebendigen und reiferen Pädagogikstudenten fand, mit denen ich lebhaft verkehrte, durch die ich auch einen gewissen Einblick in die außertheologische Geistesverfassung unserer Zeit bekam. Die Tatsache deren ablehnender, öfters noch indifferenter Haltung gegenüber dem Christentum machte mir zu schaffen.“ Zu einer Krise kam es nicht, aber immerhin, mit seinen eigenen Worten, zu einer „gewissen Diastase zur Theologie“ und auch zum Gedanken an „eine Flucht in die Pädagogik“. Beides verflog schnell, doch es blieb das – ja schon ererbte – Interesse an der Pädagogik, und es blieb die Beziehung zu Nohl. Der junge Theologe, der vielleicht weder damals noch später je an Gott gezweifelt hat, lernte hier einen Mann aufs höchste respektieren, dem der kirchliche Glaube ganz fern lag und der eine „theonome Begründung der Moral“ strikt ablehnte4. Solche Art Respekt hat den in der Wolle gefärbten Theologen Zimmerli in den folgenden Jahrzehnten immer mehr zu einem exemplarischen Civis academicus werden lassen. Übrigens wäre es beinahe noch zu einer Dissertation bei Nohl gekommen, über die theologisch-pädagogischen Grenzfragen des Patenamtes. Aber dafür überwogen, abgesehen von dem Wunsch, in die Praxis zu gehen, auch und gerade die pädagogische, innerhalb der Wissenschaft denn doch zu sehr die eigentlich theologischen Interessen und unter ihnen das am Alten Testament. Allerdings erscheinen während der Göttinger Studienzeit im Testatbuch zwar Arabisch bei Lidzbarski, Aramäisch bei Rahlfs und Syrisch bei Götze, aber keine einzige Veranstaltung des damaligen Ordinarius für Altes Testament, Johannes Hempel. Das sieht nicht nach der Vorbereitung einer Karriere in diesem Fach aus. Stattdessen sehen wir den Studenten Zimmerli 4  Vgl. H. Nohl, Die sittlichen Grunderfahrungen 2(1947) 150.

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wiederum 1928 mit einem Freund aus dem Theologischen Stift, dem „Stillen Ochsen“, in dessen dortiger Bude zusammensitzen und den Text von Calvins Erstlingsschrift, der Psychopannychia, in der Ausgabe von 1542 mit den späteren Drucken vergleichen. Carl Stange, bei dem er im Wintersemester eine Arbeit über Luthers Abendmahlslehre geschrieben hatte, hatte ihn damit betraut, die Schrift in seinen „Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus“ herauszugeben – ein nicht alltäglicher Auftrag an einen 21jährigen Studenten. Er wurde akkurat ausgeführt; die – 1932 erschienene – Ausgabe bietet vor dem kritisch hergestellten und sparsam, aber sicher und kundig erläuterten Text eine Einleitung, in der die Theologie des jungen Calvin, aber auch die des jungen Zimmerli ganz gut herauskommt. Aus einem letzten Zürcher Semester, Winter 1928/29, meldete er sich zum theoretisch-theologischen Examen, wobei er als vor ihm liegende Aufgaben den Erwerb des „philosophischen Rüstzeugs zur Auseinandersetzung mit dem Geist unserer Zeit“ und ein tieferes Eindringen in das Neue Testament nannte und sich als Vorstufe zum Pfarramt eine pädagogische Tätigkeit „als Hauslehrer oder Lehrer an einem Landerziehungsheim“ wünschte. Er bestand auch dieses Examen mit der Gesamtnote Ia – nur eine 2 im Neuen Testament fiel etwas aus dem Rahmen – und bekam den Wunsch nach Pädagogik so erfüllt, dass er sein praktisches Jahr „in etwas regelwidriger Weise als Wärter in einer Knabenabteilung der schweizerischen Anstalt für Epileptische in Zürich verbrachte“. Außerdem absolvierte er die Rekrutenschule in St. Gallen. Dort fühlte er sich „nicht als Theologe unter Nicht-Theologen, sondern als Mensch unter Menschen“ – eine Erfahrung, für die er dankbar blieb. Im April 1930 erlangte er durch die praktische Prüfung die Wahlfähigkeit als Pfarrer, die er aber noch nicht ausnutzte, weil ihm die eingangs erwähnte Anfrage aus Göttingen eine Frist zu weiterer wissenschaftlicher Arbeit und zu klärenden Gedanken über seine Zukunft gewährte. Der „Mittelbau“ der Göttinger theologischen Fakultät bestand damals aus zwei etatsmäßigen Stellen, der des Assistenten am Seminar und der des Stiftsinspektors, der in jenen Jahren Hans Freiherr von Campenhausen hieß. Die Assistentenstelle war schon seit einiger Zeit mit zwei „Hilfskräften“ besetzt, von denen jede die Hälfte des Geldes bekam. Eine solche Hilfskraft ist Walther Zimmerli von 1930 bis 1933 gewesen. Seine Aufgaben waren die Sorge für die Seminarbibliothek und die Unterstützung des Alttestamentlers, des schon genannten Hempel, eines Mannes von hoher Intelligenz, eisernem Fleiß und brennendem Ehrgeiz, der es jungen Leuten in seiner Umgebung nicht immer leicht machte, ihre innere Freiheit zu bewahren. Walther Zimmerli ist das gelungen. Er hat über Hempel nie ein böses Wort gesagt und ihm noch als altem, leidendem Mann gegen nicht unbegründete Widerstände eine erneute Lehrtätigkeit in Göttingen ermöglicht5. 5  Vgl. im übrigen seinen Nachruf JAWG 1965, 62–73 = ZAW 78 (1966) I–XI.

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Die Dissertation, an die er sich bald setzte, betraf einen Hempel sehr interessierenden Stoff Sie sollte – ich zitiere Hempels eigene Worte6 – „der Behandlung eines umfassenderen religionswissenschaftlichen Themas vorarbeiten, der Frage nach der inneren Beziehung von Tradition und wirklicher Geschichte. Sie sollte zu zeigen versuchen, wie bestimmte geschichtliche Ereignisse eine Tradition ausgestalten und umgestalten; sie sollte aber auch darauf ihr Augenmerk richten, wie eine einmal bestehende Tradition den Gang der Geschichte selbst beeinflußt, indem sie bestimmte Ansprüche wachruft oder -erhält, bestimmte Handlungen unmöglich macht u. dergl. An den wichtigsten Heiligtümern Palästinas sollte das gezeigt werden.“ Was herauskam, war unter dem Titel „Geschichte und Tradition von Beerseba und Bethel“ eine Monographie über diese beiden Heiligtümer und die ihnen zugeordneten Traditionen von den Patriarchen Isaak und Jakob; eine analoge Untersuchung über Hebron und Abraham wurde am Schluss in Aussicht gestellt. Hempel rühmte entschiedene Vorzüge der Arbeit: „eine solide text- und quellenkritische Behandlung der einzelnen Perikopen, ein gesund-nüchternes Urteil über den Grad der Wahrscheinlichkeit der einzelnen Thesen, ein lebendiger Überblick über das Ganze des zu behandelnden Stoffes.“ Aber er fand auch Grenzen: „einmal in dem mangelnden Gestaltungsvermögen, vor allem soweit historische Vorgänge, viel weniger soweit gedankliche Entwicklungen in Frage kommen; sodann in einer konstruktiven Neigung, die sich selbst gegen gewisse Gegebenheiten des Materials abblendet“. Besonders missfiel ihm der Bethel-Teil, dessen Besprechung er mit dem unzweideutigen Satz beschloss: „Zum Historiker ist cand. Z. nach diesem Stück nicht berufen.“ Das Gesamturteil hieß „cum laude“, die mündliche Lizentiatenprüfung am 9. Dezember 1931 ergab „magna cum laude“. Die gedruckte Fassung der Dissertation, 1932 erschienen, beschränkte sich auf „Geschichte und Tradition von Beerseba im Alten Testament“; Bethel wurde ganz gestrichen, das Thema Hebron erst nach Jahrzehnten, nun allerdings in sehr interessanter Weise, aufgegriffen7. Damals, 1931/32, reizte es Zimmerli nicht, den Torso zu vollenden. Ein anderer Gegenstand lag ihm näher – wenn man so will, durchaus auf der Linie dessen, was Hempel aufgrund der Dissertation als seine besondere Begabung bezeichnet hatte, übrigens mit der Frage an den Kollegen Stange, ob dem Kandidaten nicht eher eine Habilitation für systematische Theologie als für Altes Testament anzuraten wäre. Im Rigorosum legte er ihm einige grundsätzliche Verse aus den Sprüchen Salomos (3,11–16) vor, und damit traf er, gewiss beabsichtigt, sein damaliges Hauptinteresse. Es ging um die Struktur der alttestamentlichen Weisheit, unter dem Gesichtspunkt des „Zusammenhangs von Sittlichkeit und Religion“, der ihn seit Stanges Ethikvorlesung beschäftigt und bei dem er in Nohl ein so ein6  Aus dem Gutachten vom 19.10.1931 (in der Promotionsakte im Göttinger Universitätsarchiv). 7  Vgl. JNWSL 6 (1978) 52f.55f.

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drucksvolles Gegenüber hatte. Je mehr er sich in die Weisheitsliteratur vertiefte, um so deutlicher glaubte er dort eine Grundhaltung erkennen zu können, die sich mit dem übrigen Alten Testament schlecht verträgt: Ausgangspunkt ist nicht die Autorität des göttlichen Gebotes, sondern der Mensch, der die Welt auf ihre Möglichkeiten hin mustert und so handelt, dass sein Dasein am besten gesichert wird. Doch diese Haltung muss spätestens mit dem Tod scheitern. Zeuge dafür ist Kohelet, der „Prediger Salomo“, eine Gestalt, die Walther Zimmerli immer wieder angezogen hat. Aus der Krise der Weisheit, die Kohelet feststellt, gäbe es zwei radikale Wege: die Verzweiflung und den Glauben. Kohelet geht einen dritten Weg, den der Resignation. Walther Zimmerli, dessen Weg das nicht war, hat den Kohelet, wenn er ihn als einen Skeptiker oder noch Schlimmeres angegriffen sah, wiederholt als einen in seiner Weise gottesfürchtigen Mann verteidigt8 und hat sich selber, den Horazvers aus Schiers gewissermaßen in eine neue Dimension rückend, in Zeiten persönlicher Sorge die Mahnung Kohelets (2,24–26 u.ö.) vorgehalten, man sollte sich freuen über das, was der Tag an Gutem biete – gerade im Wissen darum, dass Gott dem eine Grenze gesetzt hat. Seine Hauptthese über die Weisheit hat Zimmerli dreißig Jahre später „sehr einseitig“ genannt und durch eine in wichtigen Punkten veränderte Darstellung des Phänomens ersetzt9. Aber gerade in ihrer Einseitigkeit hatten sich seine ursprünglichen Gedanken als fruchtbar für die Arbeit anderer erwiesen, von denen er sich willig korrigieren ließ, ohne ihnen doch in allem beizutreten. Da er entschiedener als die meisten Fachgenossen von einer „Mitte“ des Alten Testaments her dachte, stand für ihn hier mehr auf dem Spiel als für sie und sah er mit schärferen, vielleicht überscharfen Augen. 1932/33 stand allerdings für ihn und seine nähere und weitere Umgebung noch anderes auf dem Spiel als die alttestamentliche Theologie. Er konnte sich dem um so weniger entziehen, als er seit dem April 1932 Inspektor des neugegründeten Theologischen Sprachenkonvikts war, des heutigen UhlhornKonvikts. Dort stand er nicht nur als etwas Älterer den Anfangssemestern in ihren Studienproblemen bei, sondern erlebte auch als Schweizer, was mit der deutschen Jugend und dem ganzen Volk geschah, und suchte es zu begreifen. Im Rückblick hat er später Matthäus 24,38f. zitiert: „Wie sie in den Tagen vor der Sintflut schmausten und tranken, heirateten und verheirateten bis zu dem Tage, wo Noah in die Arche ging, und es nicht merkten, bis die Sintflut kam und alle hinwegraffte“. Ihn brachten die Ereignisse dazu, sich „in steigendem Maße [seiner] schweizerischen Eigenart bewußt [zu] werden“. Als Anfang 1933 die berufliche Frage akut wurde, indem die Fakultät zur Habilitation drängte, glaubte er sicher zu sein, dass ihn sein Weg „ins praktische Pfarramt führe“; auch die Tätigkeit im Sprachenkonvikt „füllte den Seelsorger in ihm nicht aus“. So bewarb er sich um die Pfarrstelle des Städtchens Aarburg im heimatlichen 8  Vgl. zuletzt FS H.-J. Kraus (1983) 103–14. 9  Ges. Aufs. I, 300–15; s. dort auch S. 8.

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Kanton Aargau, wurde dort gewählt, kündigte seine Göttinger Stellen und siedelte im August über. Mit ihm kam seine junge Frau Irmgard geb. v. d. Ropp, die er im Kreise Nohls kennengelernt und im Frühjahr 1933 geheiratet hatte. Aus den Überlegungen über die Weisheit machte er in den letzten Göttinger Wochen eilig einen Aufsatz, der sogleich in der von Hempel herausgegebenen Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft erschien10. Er skizziert auf 27 Seiten die „Fragestellung“ der Weisen und endet auf Seite 28 mit der Inhaltsangabe einer möglichen und wünschbaren Darstellung ihrer Antwort. Der Autor lieferte also schon zum zweiten Mal einen Torso; seine Mitwirkung in der alttestamentlichen Wissenschaft schien damit beendet. Das Pfarramt war für ihn in keiner Weise Notlösung oder Wartestand. Hier lag sein eigentlichster Beruf, von ihm hat er auch in die Professur vieles mitgenommen. Mühe machte ihm der Jugendunterricht, so wie er später lieber Kolleg gelesen als Seminar gehalten hat – und das bei seinem Interesse an der Pädagogik! Vielleicht war er dafür, um eins seiner Lieblingsworte zu gebrauchen, zu „verhalten“. Es lag ihm nicht, seine Hörer – und Leser – durch besondere Kunststücke zu fesseln. Lieber blieb er bei seinem „Gestammel“, wie er es lächelnd und denn doch übertreibend nannte. Glänzenderen Katecheten und Homileten hatte er voraus, dass man immer wusste, was er meinte – er drückte sich nämlich klar und oft sehr prägnant aus –, und dass er gerade in seiner äußeren Anspruchslosigkeit ein unbedingt glaubwürdiger Zeuge für die Sache war, die er vertrat. Und obwohl selbst nicht auf eleganten Stil erpicht und bei aller Liebe etwa zu Jeremias Gotthelf im Grunde kein Büchermensch, hatte er doch ein waches Gefühl für Sprachen und die Sprache11. Als man ihn 1935 – gegen das entschiedene Votum des bisherigen Lehrstuhlinhabers Jakob Hausheer12 – nach Zürich holte, war die Erwartung im Spiel, er werde dort in dem Richtungsdualismus, der die schweizerische Kirche und Theologie noch auf lange Zeit hinaus beherrschte, die „positive“, die „bibelgläubige“ Seite verstärken. Ihm behagten diese Schablonen gar nicht, und er tat, bald auch unter Hinweis auf die Erfahrungen des deutschen Kirchenkampfes, einiges, um sie zu überwinden13. Er war ja wirklich kein Vertreter des theologischen Liberalismus, aber einfach einen „Bibelgläubigen“ konnte man den Verfasser des Weisheitsaufsatzes auch nicht nennen. Mit seinem liberalen Fachkollegen Ludwig Köhler, einem auf Dominanz angelegten Mann, kam er bestens aus, und von seinem Vorgänger Hausheer sprach er immer mit hoher Achtung, wie er überhaupt für aufrichtige Liberale, die in der Wissenschaft etwas leisteten, Sinn hatte – ich nenne Walter Bauer in Göttingen und Walter Baumgartner in Basel. Er wollte sein Handwerk so ausüben, dass 10  51 (1933) 177–204. 11  Vgl. besonders Ges. Aufs. I, 217–33.277–99; II, 73–87. 12  Vgl. P. Schwagmeier, KUSATU 12.13 (2011) 118f.; K. Schmid, Die Theologische Fakultät der Universität Zürich (2015) 98. 13  Vgl. Der Kirchenfreund 83 (1949) 75–77.

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er damit auch vor ihnen bestehen konnte. Aber er ging von vornherein mit viel größeren theologischen Erwartungen an die Texte heran – und sah sich belohnt. Nur zögernd, so hat er später berichtet, sei er aus dem Pfarramt geschieden, doch dann habe sich „die Freude vor allem an der theologischen Erfassung des Alten Testaments in steigendem Maße Bahn“ gebrochen. Diese Freude teilte sich bald seinen Studenten mit, aber auch vielen anderen, denen er sich auch als Universitätsprofessor noch verantwortlich wusste. Er hielt zahllose Vorträge und schrieb Artikel in mancherlei Zeitschriften, namentlich im „Grundriß“, den sein Freund Gottlob Spörri herausgab. Die wissenschaftliche Produktion trat dahinter lange zurück. Zuerst wollte die Ausübung des exegetischen Handwerks vervollkommnet sein, und zu den alttestamentlichen Lehrverpflichtungen kamen ja noch, eher als Last empfunden, die in der Religionsgeschichte und den orientalischen Sprachen. Soweit er konnte, stellte er auch das Nebenfach in den Dienst der Hauptaufgabe, das Alte Testament theologisch zu verstehen; ein schönes Beispiel dafür ist der 1943 veröffentlichte, sehr unbefangen und ganz unapologetisch geführte Vergleich zwischen Mohammed und den alten Propheten, bei dem er zu seiner Überraschung ein großes Maß an Übereinstimmung feststellte, um dann allerdings – wie er später sagte, geradezu enttäuscht – damit schließen zu müssen, dass Mohammed „es im Augenblick, da ihm Macht angeboten wurde, nicht ausgehalten hat, Prophet zu bleiben“14. Das Hauptwerk der Zürcher Zeit ist die Auslegung der Urgeschichte 1. Mose 1–11 im Zürcher Bibelkommentar „Prophezei“, 1943 in zwei Bänden erschienen. Sie kam in Deutschland nach dem Krieg infolge der Konkurrenz der ähnlich ausgerichteten, aber schriftstellerisch attraktiveren Auslegung Gerhard v. Rads, der sie exegetisch und theologisch keineswegs nachstand, nicht so zur Geltung, wie sie es verdiente; in den durch Kürzung und auch sonst verbesserten Neuauflagen (1957, 1966, 1984) bietet sie jedem, der sich für den Anfang der Bibel interessiert, nach wie vor kundige und verlässliche Hilfe. Was in dem Exegeten Zimmerli steckte, zeigte sich ganz richtig erst in zwei Aufsätzen des Jahres 1950, „Zur Sprache Tritojesajas“ (im Verhältnis zu Deuterojesaja) und „Das zweite Gebot“ (mitsamt seinen Erweiterungen und denen des ersten Gebots)15. Da war er schon auf dem Sprung nach Göttingen. Die letzten zehn Jahre in Zürich hatten für ihn noch eine Aufgabe gebracht, die ihm damals wichtiger war als die wissenschaftliche Produktion. „In der Unruhe des Sommers 1940“, so berichtete er am Ende dieses Jahrzehnts, „wo auch in unserem Land der große Schritt Gottes durch die Geschichte recht nahe gehört wurde, brach in Gesprächen mit Studenten die Frage auf, ob nicht ins Theologiestudium irgendwo eine Stelle eingebaut werden sollte, an der das Leben verbindlicher in die Zucht des Wortes genommen werden und etwas davon zur Anschauung gelangen könnte, daß unsere theologische Arbeit 14  Ges. Aufs. II, 284–310. 15  Ges. Aufs. I, 217–33.234–48.

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Sache einer das volle Leben umfassenden Entscheidung ist.“ Das Ergebnis dieser Gespräche war eine Wohngemeinschaft der Familie Zimmerli mit einer größeren Gruppe von Theologiestudenten, zunächst materiell ganz unabgesichert in zwei gemieteten Wohnungen und danach in einem gemieteten, später gekauften Haus, zu dem dann noch weitere Häuser auch für Nichttheologen hinzukamen. Die „Reformierten Studentenhäuser Zürich“ sind seitdem eine feste, unentbehrliche Institution16. Die Rückwirkung auf Zimmerlis Arbeit war nach seinen eigenen Worten, dass sie „wieder in den Zusammenhang einer unmittelbar-persönlichen Erziehungsarbeit“ hineintrat und „persönliche Tiefe“ bekam. „Ich bin kein Theoretiker“, sagte er gelegentlich, und er bewies das in der Kriegs- und Nachkriegszeit auch auf andere Weise und mit kaum weniger großem Einsatz. Er war sehr bewusst Schweizer, stritt aber gegen eine Neutralität, die, wie er fand, nur dem eigenen Vorteil diente und nichts wagte. Während des Dritten Reiches nahm er entschieden zur Judenfrage und zur Euthanasie Stellung und half, wo er konnte; für seine Praxis machte es dabei nichts aus, dass er 1942 gemeinsam mit seinem Zürcher Kollegen Brunner in einen theologischen Streit mit den Baslern Barth, Thurneysen und Vischer um die – für die Basler feststehende – bleibende Erwählung auch des nichtchristlichen Israel geriet17. Nach Kriegsende reiste er erstmals im September 1945 im Auftrag des Roten Kreuzes auf abenteuerliche Weise durch Westdeutschland; er kam auch nach Göttingen und besuchte außer dem Rektor der Universität die väterlichen Freunde Nohl und Bauer, der eine wieder als Professor eingesetzt, der andere durch Krankheit infolge von Unterernährung an der Ausübung seines Dekansamtes gehindert. Seine Eindrücke und die Folgerungen daraus trug er seinen Landsleuten unsentimental und dringend unter dem Titel vor: „Was geht uns die Not in Deutschland an?“ Mit seiner Warnung vor aller Selbstgerechtigkeit zog er sich „eine Flut von Schmähbriefen und Beschimpfungen“ zu, überdies kam es noch einmal zu einer Kontroverse mit Karl Barth, dessen Verurteilung des Verhaltens der deutschen Kirchen vor und zumal nach 1945 er in ihrer Schärfe nicht gutheißen konnte. Aber er ließ sich nicht beirren und suchte – hier hatte er Barth auf seiner Seite – neben allen anderen Hilfeleistungen immer auch den Kontakt mit den deutschen Theologiestudenten, denen er mit der gleichen Solidarität begegnete wie den Bewohnern des Zürcher Theologenhauses. Er hielt Vorlesungen im Kriegsgefangenenlager Montpellier und vor allem, in den Sommersemestern 1947– 50, an der Kirchlichen Hochschule Berlin sowie an der Humboldt-Universität mit vielen Abstechern zu den ostdeutschen Fakultäten. Die Übersiedlung nach Berlin glaubte er seiner Familie damals nicht zumuten zu können, aber für 16 Vgl. Experimente gemeinsamen Lebens. 255 Jahre Reformierte Studentenhäuser in Zürich (1965). Dort 9–16: W. Zimmerli, Die ersten zehn Jahre. 17  S.o. 789.

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die Annahme des Rufes nach Göttingen, den er 1950 erhielt, fiel die Nähe der Grenze ins Gewicht; er konnte sie als Schweizer zuzeiten leichter überqueren als die Deutschen und hat das unermüdlich getan. Seine Söhne haben geradezu gesagt, Göttingen hätte ihn „seit seiner Studentenzeit immer fasziniert“. Er selbst sprach von einer „Klebrigkeit“, die dieser Ort für gewisse Menschen besitze. Jedenfalls blieb er hier, obwohl ihm die Attraktivität von Heidelberg (1956) und Basel (1960) und noch anderen Orten nicht verborgen war. Auch der Umzug in die Schweiz, in früheren Jahren gelegentlich für die Zeit nach der Emeritierung erwogen, kam, als es soweit war, wie selbstverständlich nicht mehr in Betracht. Und als die Reisen, die er in seinen vielen Eigenschaften unternahm, ein Maß an Häufung und Ausdehnung gewannen, das bei einem Professor eigentlich bedenklich ist, war doch immer klar, dass Göttingen sein Ort war und blieb, und hier insbesondere der Schreibtisch in der Herzberger Landstraße. Vor allem um seinetwillen hatte er sich ja aus den ihm in Zürich zugewachsenen Pflichten und Bindungen gelöst und war er, auch als sich Gelegenheiten dazu boten, nicht wieder in sie zurückgekehrt. An diesem Schreibtisch entstand in den ersten beiden Göttinger Jahrzehnten sein Hauptwerk, der zweibändige Kommentar zum Buch des Propheten Ezechiel. Er ist ein Glanzstück des Neukirchner „Biblischen Kommentars“, unter dessen Herausgebern und Mitarbeitern sich Zimmerli zu Hause gefühlt hat. Der Plan einer mit allen Mitteln der Wissenschaft gearbeiteten und zugleich auf die kirchliche Verkündigung zielenden Kommentierung des Alten Testaments musste ihm von vornherein zusagen. Obwohl nicht wie die anderen maßgeblichen Mitglieder jenes Kreises Schüler oder Schülersschüler von Albrecht Alt, stand er ihnen in der Auffassung des Alten Testaments als Zeugnis vom göttlichen Handeln und in der Anwendung der form- und überlieferungsgeschichtlichen Arbeitsweise längst nahe. So beteiligte er sich an dem programmatischen Heft, mit dem der Kreis an die Öffentlichkeit trat, mit einem Aufsatz über „Verheißung und Erfüllung“18 und ging an die Arbeit. Soweit das ohne Schaden für den allgemeinen Lehrplan möglich war, verband er in den folgenden Jahren die Forschung auf diesem Gebiet mit der Lehre, so dass nicht wenige Göttinger Studenten jener Zeit kleine Ezechielspezialisten geworden sein dürften – etwas nicht Alltägliches. Auch predigte er damals mit Vorliebe über Ezechieltexte. Seine Antrittsvorlesung hielt er 1951 über „Das Gotteswort des Ezechiel“19, die Themen der ersten beiden Göttinger Seminare hießen „Die Theologie der Priesterschrift“ und „Das Heiligkeitsgesetz“, dazu kamen sogleich Oberseminare über „Ezechiel und die priesterliche Tradition“ und „Ezechiel und die ältere Prophetie“.

18  EvTh 12 (1952/53) 34–59. 19  Ges. Aufs. I, 133–47.

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Die Grundthese, die sich dabei immer deutlicher herausbildete und die allmählich am ganzen Buch bewährt wurde, ging dahin, dass Ezechiel, von Herkunft ein Priester, seiner prophetischen Verkündigung die Jerusalemer priesterliche Tradition, besonders die des sakralen Rechts, dienstbar macht, sie radikalisiert und zuspitzt auf das Israel seiner Gegenwart, der Zeit der Überwältigung durch die Babylonier. Das Buch Ezechiel ist stereotyper, formelhafter abgefasst als alle anderen Prophetenbücher. Dieser Umstand war von der formgeschichtlichen Forschung merkwürdigerweise erst wenig ausgenutzt worden und bildete nun für Zimmerli den Ansatzpunkt, durch Untersuchung der Formeln in ihrem alttestamentlichen Zusammenhang – von Martin Noth etwas distanziert „Formel-Geschichte“, aber im Falle Zimmerlis noch nicht „Formel-Ungeschichte“ genannt20 – den Ort des Propheten zu bestimmen. Ebenso wie die Vorgeschichte von dessen Verkündigung interessierte ihn ihre Nachgeschichte, die er ihre „Fortschreibung“ durch eine „Schule“ nannte21. Obwohl er sehr vieles, z.B. ganz überwiegend das „Endzeitprogramm“ in den Kapiteln 40–48, in diesem Sinne nicht für authentisch hielt, folgte er doch nicht der scharfen Kritik Gustav Hölschers22 – die ihn aber sehr beeindruckte und anregte –, nahm die Datierungen innerhalb des Buches ernst und setzte die „Fortschreibungen“ in ein großenteils ziemlich nahes Verhältnis zu Wort und Intention des Propheten, dessen Gestalt damit, wie rätselhaft auch immer, doch noch einigermaßen greifbar blieb. Im Sinne Zimmerlis ist der Hinweis wichtig, dass sein Kommentar nicht um der Durchführung dieser und weiterer Thesen willen geschrieben ist. Er will vielmehr in erster Linie das Buch Ezechiel, in der Meinung, dass es das wert ist, so vollständig und gleichmäßig wie möglich und sinnvoll erklären. Die nicht selten ins Umständliche gehende Breite, mit der das, angefangen bei der Textkritik, geschieht, ist nichts für ungeduldige Leser, und ganz durchgearbeitet haben den Kommentar wohl nur wenige. Aber wer wirklich genau wissen will und die dann nötige Mühe nicht scheut, sieht sich auf jeder Seite belohnt. Er bekommt nicht nur das Kaleidoskop der bisherigen Forschung noch einmal neu geschüttelt vorgesetzt – Zimmerli orientierte sich nicht zuerst an der Sekundärliteratur und an „Diskussionslagen“, obwohl er natürlich gerade zu Ezechiel sozusagen alles gelesen hatte –, sondern vor allem Beobachtungen am Text – Zimmerli sagte noch lieber: Wahrnehmungen –, die fast immer auch dann bestehen bleiben, wenn man aus ihnen andere Schlüsse zieht. Aber wer das tut, sehe zu, dass er es mit der gleichen Verantwortlichkeit tut wie dieser Kommentator, der einen längeren Atem und, nicht weniger wichtig, mit und ohne Konkordanz eine genauere und intimere Kenntnis nicht nur des Buches Ezechiel, sondern der ganzen Bibel hatte als die allermeisten von 20  Vgl. M. Noth, Gesammelte Studien zum Alten Testament II (1969) 120. 21  Ezechiel, BK XIII (1969) 106*. 22  Hesekiel, der Dichter und das Buch (1924).

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uns. Als er ein Jahrzehnt nach dem Abschluss seines Kommentars, im Vorwort zu dessen zweiter Auflage, die seither von anderen betriebene Ezechielforschung besprach, sagte er in seiner vornehmen Art, dort seien „Teilaufgaben an die Hand genommen worden, die mehr oder weniger deutlich in der vorliegenden Bearbeitung signalisiert worden waren“23. Er war wie immer lernbereit, musste aber bei seinen Nachfolgern einstweilen die Isolierung einzelner Textgruppen, die Verabsolutierung bestimmter Methoden und die vorschnelle Fixierung auf bestimmte Ergebnisse feststellen. In seinen allerletzten Jahren bemerkte er gelegentlich in einer Art heiterer Resignation, wenn die auch in seiner Göttinger Umgebung immer radikaler betriebene Analyse der biblischen Bücher als Produkte einer langen Bearbeitungsgeschichte einmal richtig das Buch Ezechiel erfasse, würde von seinem Kommentar kein Stein auf dem anderen bleiben. Mag an dieser Prognose etwas sein oder nicht, soviel lässt sich sagen: bei kaum einem anderen großen Buch des Alten Testaments liegt für alle weitere Beschäftigung, sie sei so konservativ oder so kritisch wie sie wolle, ähnlich viel an sorgfältig gesichtetem Material und klug durchdachten Gesichtspunkten bereit wie beim Buch Ezechiel. Was den langen Atem angeht: die erste der Lieferungen des Kommentars, immer zu 80 Seiten, erschien 1955, die achtzehnte und letzte, vom Autor mit der „Empfindung“ herausgegeben, „daß er nun eigentlich so weit wäre, die Arbeit mit einigem Verstand anfangen zu können“24, 1969. Dazu kam in diesen anderthalb – oder, wenn man die Zeit der Vorbereitung mitzählt, richtiger zwei – Jahrzehnten, von den Aufgaben der Lehre im weitesten Sinn abgesehen, eine Fülle von Veröffentlichungen mit und ohne nähere Beziehung auf Ezechiel – in der zweiten Kategorie immerhin der Kommentar zum Prediger Salomo (1962), der zu Zimmerlis schönsten Büchern gehört. Damit bei weitem nicht genug: während er den Kommentar schrieb, war er zweimal Dekan seiner Fakultät (1952/53 und 1960/61) und zwei Jahre Rektor der Georg-August-Universität (1964–66), dazu je ein Jahr Pro- und Conrektor (1963/64 und 1966/67) sowie Vorsitzender der Niedersächsischen Rektorenkonferenz (1966/67). Nicht zuletzt dank des Vertrauens, das seine Person überall genoss, fand 1964 in Göttingen die Dritte Europäische Rektorenkonferenz statt, die ihm die Möglichkeit gab, „weit über Göttingen hinaus sichtbar und deutlich zu machen, dass historisch gewachsene Unterschiede und neue Nöte der Zeit den Blick auf die in Aufgabenstellung und Aufgabenwahrnehmung gemeinsame europäische Universität nicht verstellen dürfen“25. Der festliche Rahmen dieser Konferenz führte einer breiten Öffentlichkeit noch einmal die Universität alten Stils vor Augen. Zimmerli, der von eitlem Pomp nicht das Geringste hielt, bewegte sich sorgfältig und gelassen in den überkommenen Formen akademischer Repräsentanz, die 23  Ezechiel, BK XIII 2(1979) IX. 24  Ezechiel (1969) VII. 25  N. Kamp in: In memoriam Walther Zimmerli (1984) 9.

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wenige Jahre später verhöhnt und zerschlagen wurden. Der Rektor und Altrektor wurde alsbald in mancherlei weiteren Aufgaben gebraucht: von 1964 bis 1969 war er Mitglied im Comité des études supérieures et de recherche beim Straßburger Europarat, von 1965 bis 1975 im Administrative Committee of the International Association of Universities (Welt-Rektorenkonferenz), von 1967 bis 1973 im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Keins dieser Ämter versah er mit der linken Hand, für jedes setzte er, ein Meister der Zeiteinteilung, seine volle Kraft ein. Er achtete die Institutionen, denen er diente, sehr hoch und gab, namentlich in seinen regelmäßigen Berichten als Rektor und später als Akademiepräsident, sorgfältig Rechenschaft über ihren Standort und ihre Aufgaben, wie er sie sah. Trotzdem sei der überspitzte Satz gewagt: auch in diesen Bereichen war das Wichtigste das, was er an einzelnen Menschen tat und wovon meist nur diese selbst wussten. Doch zurück zu seinem Hauptgeschäft auch in diesen übervollen Jahren! Es war schon davon die Rede, dass er bei der Exegese des Buches Ezechiel besonderen Nutzen aus den dort begegnenden Formeln zog. Unter ihnen war ihm die wichtigste das ‫„ אני יהוה‬Ich bin Jahwe“. Er hat diesem Ausdruck und seinen Variationen mehrere Untersuchungen gewidmet26 und dabei die These vertreten, an der er mit leichten Modifikationen festhielt, es handle sich um „eine Aussage der Selbstvorstellung. Ein bisher Ungenannter tritt aus seiner Unbekanntheit heraus, indem er sich in seinem Eigennamen erkennbar und nennbar macht.“27 Der damit umschriebene Vorgang von Offenbarung stand für ihn sachlich am Anfang des ganzen Alten Testaments, durch ihn war die Beziehung zwischen Jahwe und Israel konstituiert – eine Beziehung, in der der gnädige Gott, der nun mit seinem Namen angeredet werden konnte, doch der Freie blieb und der Fordernde, der er von Anfang an war; nicht umsonst steht jene Formel besonders im Heiligkeitsgesetz immer wieder in der Rechtsproklamation. Wie Zimmerli „die radikale Deutung des AT als des ,Gesetzes‘“ im Sinne E. Hirschs ablehnte, so warnte er auf der anderen Seite doch auch vor der „Deutung des in sich verstandenen AT als eines reinen Wortes der Gnade, wie sie als Gefahr in der neuesten Phase at.licher Arbeit am Rande erscheinen könnte“28. Er hatte dabei Martin Noth und noch mehr Gerhard v. Rad im Auge, seinen wichtigsten Gesprächspartner in den Fragen der alttestamentlichen Theologie29. Bund und Gebot gehörten für ihn unlöslich zusammen, er konnte sich eine Sinaiperikope ohne Rechtsproklamation ebensowenig vorstellen wie die vorexilischen Schriftpropheten ohne ein von ihnen vorausgesetztes Gottesrecht – so weit er 26  Zuerst den Aufsatz „Ich bin Jahwe“ in der 1953 A. Alt gewidmeten Festschrift, Ges. Aufs. I, 11–40; vgl. weiter Ges. Aufs. I, 41–119. 27  A.a.O. 11. 28  Ges. Aufs. I, 276. 29  Vgl. die Widmung von Das Gesetz und die Propheten. Zum Verständnis des Alten Testaments (1963) und dort besonders 68–81.93; dazu aber auch G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments II 4(1965) 42112.

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auch den Bestreitern von beidem entgegenzukommen bereit war30. Den Studenten hatte einst die Erkenntnis der Beziehung der Sittlichkeit auf die Religion gefesselt; der Exeget des Alten Testaments arbeitete nun, in der von ihm längst aufgegebenen Sprache von damals gesagt, das andere heraus: Religion nicht ohne Sittlichkeit. Die Bedeutung des Alten Testaments zeigte er auf andere, aber doch verwandte Weise in den Vorlesungen, die er 1970 „für Hörer aller Fakultäten“ über „Die Weltlichkeit des Alten Testaments“ hielt – in kritischer Anknüpfung an Rudolf Bultmann und ohne das obligate Bonhoeffer-Zitat, auch unter Verzicht auf eine platte „Übertragung in die moderne Gegenwartsproblematik“31, aber gerade darin lebendig und überzeugend. Er widmete das Buch32 seinen sechs Kindern und sechs Schwiegerkindern. „Ein Alttestamentler muß ein Haus haben“, sagte er einmal zu einem jüngeren Kollegen, der sich mit dem Heiraten Zeit ließ. Mit Gerhard v. Rad verband ihn sehr viel mehr, als ihn von ihm trennte – dies war auch der Hauptgrund dafür, dass er 1956 nicht nach Heidelberg ging: er fürchtete, v. Rad dort nicht durch eine sinnvolle Alternative zu ergänzen. Aber ein Punkt, in dem er anderer Meinung war, muss doch noch genannt werden. Er fragte, ob die Theologie des Alten Testaments sich, wie bei v. Rad geschehen, mit einer Nachzeichnung der einzelnen Zeugnisse innerhalb des Alten Testaments begnügen dürfe und nicht vielmehr von einer Mitte her, die das Alte Testament habe, „in stärkerem Maße das Wagnis des Zusammen-Denkens vollziehen“ müsse – dies auch im Blick auf „das schließlich Verbindliche“33. Er beantwortete die Frage mit einem eigenen „Grundriß der alttestamentlichen Theologie“, der jenes „Wagnis“ in den fünf Kapiteln „Grundlegung“, „Jahwes Gabe“, „Jahwes Gebot“, „Das Leben vor Gott“ und „Krise und Hoffnung“ unternimmt34. In einer früheren Gestalt der Vorlesung, die dem „Grundriß“ vorausging35, hieß das Eingangskapitel „Die Begegnung“. In der Tat, das war und blieb die Grundlage für alles: dass da eine Begegnung stattgefunden hatte und immer wieder stattfand, in der der heilige Gott ein Volk anredete. Es war auch grundlegend für Walther Zimmerlis Umgang mit dem Alten Testament. Seine erste Aufsatz30  Vgl. FS W. Eichrodt (1970) 171–90.; FS C. Westermann (1980) 216–35. 31 Vorwort. 32  KVR 327 S (1971). 33  VT 13 (1951) 105. 34  ThW 3 (1972, 51985). Vgl. auch ThLZ 98 (1973) 81–98; EvTh 35 (1975) 97–118; TRE VI (1980) 426–55. 35 Ich hörte sie im Wintersemester 1951/52. Es liegt auf der Hand, dass beim Begriff der Begegnung Emil Brunner Pate gestanden hat, der in Zürich Zimmerlis systematischtheologischer Gesprächspartner war (wie dann in Göttingen Otto Weber), vgl. T. Veijola, ZThK 88 (1991) 439–41 (= Offenbarung und Anfechtung, 2007, 25–28); J. Motte (Anm. 1) 111– 22. Hinter dem Abgehen von dem Begriff im „Grundriß“ braucht man keine allzu prinzipiellen Motive zu suchen, zumal da Zimmerli ihn noch viel später unter Berufung außer auf Brunner auch auf Martin Buber ziemlich prononciert verwendete (Congress Volume Göttingen 1977 [1978] 12). Aber mit „Anrede“ war das, was er meinte, wohl doch spezifischer bezeichnet.

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sammlung, 1956 seiner Frau gewidmet, überschrieb er „Das Alte Testament als Anrede“. Es war ihm unmöglich, das Alte Testament unter Absehung von diesem seinem Anredecharakter zu lesen. Was seine Predigten vom Anfang bis zum Ende, bis zu seinem unverwechselbaren hellen „Amen“, beherrschte, das fehlte auch in seinen Vorlesungen nie: da redete einer, der angeredet, der ergriffen war. Auch der Leser seiner Schriften wird das überall verspüren – wenn es sich nicht gerade um die landwirtschaftliche Bearbeitung des Negeb im Altertum handelt, über die Zimmerli, vielseitig interessiert wie er war, auch geschrieben hat36. Das Angeredetsein, die Ergriffenheit war elementarer als alle Reflexion; aber diese fehlte keineswegs, vielmehr gab Zimmerli sich und anderen sorgfältig Rechenschaft über sein Verstehen des Alten Testaments und befasste sich durch die Jahrzehnte mit den einschlägigen Tages- oder auch Jahrhundert- und Jahrtausendfragen wie Christentum und Judentum, Biblische Theologie und Kanon37. Er sprach darüber mit tieferer Legitimation als mancher, der in solchen Dingen regelmäßig das Wort zu ergreifen pflegt, und gerade darum ohne penetrante Besserwisserei, sondern sachlich und mit Augenmaß. Er war im ganzen Alten Testament ungewöhnlich gleichmäßig zu Hause, aber auch im Neuen Testament, von wo aus er gern den Einstieg in die alttestamentlichen Fragen nahm; hin und wieder hat er auch neutestamentliche Texte vom Alten Testament her erhellt38. Durchmustert man die Göttinger Vorlesungsverzeichnisse, dann findet man, dass er Geschichte Israels überhaupt nicht, Einleitung ins Alte Testament nur einmal, als es noch keinen zweiten Lehrstuhl für sein Fach gab, und Psalmen zweimal gelesen hat, das eine Mal ebenfalls in jener Anfangszeit, das andere Mal während einer späteren Vakanz des zweiten Lehrstuhls. Er nannte sich „unlyrisch“ und daher für die Psalmen nicht zuständig, trug aber bei Gelegenheit gute Beobachtungen zur Psalmenexegese bei39 und behandelte 1964 in seiner Rektoratsrede die Frage „Was ist der Mensch?“ anhand von zwei Psalmen und einem Vers aus Hiob40. Für Geschichte und Einleitung sorgten anfangs in unvergesslichen Gastsemestern zwei Klassiker dieser Disziplinen, Albrecht Alt aus Leipzig und Otto Eißfeldt aus Halle, danach taten es die drei aufeinander folgenden Inhaber des zweiten Lehrstuhls, für die ebenso wie dann später für seinen Nachfolger die Zusammenarbeit mit Walther Zimmerli immer wieder eine beglückende Erfahrung war. Er selbst las außer der Theologie des Alten Testaments und der Genesis vor allem über die großen Schriftpropheten: Jesaja, Deuterojesaja, 36  ZDPV 75 (1959) 141–54. 37  Zu jeder dieser drei Fragen hier ein Titel: Israel und die Christen. Hören und Fragen (1964, 2 1980); Biblische Theologie, BThZ 1 (1984) 5–26; Besprechung von B.S. Childs, Introduction to the Old Testament as Scripture, VT 31 (1981) 235–44. 38  Ges. Aufs. I, 316–24; Festschrift D. Daube (1978) 8–26. 39  Ges. Aufs. II, 261–71. 40  Göttinger Universitätsreden 44 (1964).

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Jeremia. Durch sie war am deutlichsten die göttliche Anrede an Israel ergangen, sie sah er in der neueren und neuesten Exegese besonders empfindlich missverstanden, ihnen und ihrer Verkündigung hat er darum neben und nach der Arbeit am Ezechiel viele auf das Wesentliche zielende Studien gewidmet41. Auf den Abschluss des Ezechielkommentars folgte noch im gleichen Jahr ein Schwall internationaler Anerkennung: die Ehrenpromotionen in Edinburgh und Straßburg, die Ehrenmitgliedschaften in der (amerikanischen) Society of Biblical Literature und der (britischen) Society for Old Testament Study. Später kam noch die Burkitt Medal for Biblical Studies hinzu, die ihm 1972 die British Academy verlieh. Längst bevor er in vielen Ländern akademische Institutionen repräsentierte, war er ein international tätiger und geachteter Gelehrter. Die Nachricht von der Wahl zum Prorektor überraschte ihn nach der Rückkehr von einer Gastprofessur an der Yale University, in den angelsächsischen Ländern hat er, wie auch anderswo, durch viele Vorträge und durch Übersetzungen seiner meisten Bücher gewirkt; kurz vor seinem Tod konnte er noch den zweiten Band des Ezechielkommentars auf englisch in Empfang nehmen42. Unter den Ländern, die er besuchte, verdient das heilige Land besondere Erwähnung. Er nannte es das zweitschönste Land auf der Welt (nach der Schweiz natürlich), war immer wieder dort, um zu sehen und zu lernen und die israelischen Freunde zu besuchen, und nahm lebhaften, aus sehr verschiedenen Gründen besorgten Anteil am Geschick des neugegründeten Staates, für dessen Anerkennung durch die Bundesrepublik Deutschland er zu Anfang der sechziger Jahre öffentlich eintrat. Von 1960 bis 1974 war er als Nachfolger Martin Noths das deutschsprachige Mitglied im Editorial Board von Vetus Testamentum, dem Organ der International Organization for the Study of the Old Testament, 1974 wurde er in Edinburgh zum Präsidenten dieser Organisation gewählt, als solcher hatte er 1977 in Göttingen deren neunten Kongress auszurichten – nach der Europäischen Rektorenkonferenz von 1964 die zweite internationale Großveranstaltung, der er an seiner Wirkungsstätte präsidierte. Damals war er siebzig Jahre alt und längst emeritiert. Es war ein merkwürdiger Ruhestand. Wenn man ihn vorher zu dieser oder jener kleinen Unternehmung verführen wollte, pflegte er zu sagen: „Das machen wir, wenn ich emeritiert bin.“ Es wurde auch dann nicht gemacht, außer wenn es sich leicht mit einer der wirklichen Tätigkeiten verbinden ließ. Denn diese gingen ja weiter: jahrelang (1970– 78) die Vizepräsidentschaft und Präsidentschaft in der Göttinger Akademie der Wissenschaften, dazu der Gründungsvorsitz der Konferenz der westdeutschen Akademien (1973/74), in welchen Funktionen er den Aufgabenbereich dieser alten, von manchen als längst überflüssig betrachteten Institutionen durch die von ihm energisch betriebene Übernahme langfristiger Projekte von der 41  Z.B. Ges. Aufs. I, 192–204; II, 55–72.192–212; VT.S 29 (1978) 1–15; FS H.W. Wolff (1981) 131–46; FS P. Ackroyd (1982) 95–118; VT 32 (1982) 104–24. 42  Ezekiel 2. Translated by J.D. Martin (1983): der erste Band, übersetzt von R.E. Clements, erschien 1979.

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Deutschen Forschungsgemeinschaft sehr erweitern half, eher zwischendurch, aber ebenfalls sehr ernstgenommen das Präsidium bei den Alttestamentlern, und neben alledem als das jederzeit Wichtigste die Arbeit mit den Studenten, die er nicht missen mochte. Er hielt weiter Vorlesungen, und wenn deren Stundenzahl in Göttingen sich auch ein wenig verkleinerte, dann wuchs sie insgesamt doch eher noch an. Denn nun vertrat er, überall heiß begehrt, freie Lehrstühle in Hamburg, Kiel, Mainz, Tübingen und Zürich, und das meist so, dass er die Göttinger Veranstaltungen nicht ausfallen ließ, sondern hin und her fuhr oder das Pensum an einem Ort in Gestalt von Blockseminaren absolvierte – eine Arbeitsform, die ihm in den letzten Jahren mehr zusagte als die normalen Seminare von früher. Damit nicht genug: von 1968 bis 1983 war er auch noch Ephorus des Göttinger Theologischen Stifts, für das er in schwieriger Übergangszeit weit mehr getan hat, als man billig erwarten konnte43. Es war nicht sein erstes Amt dieser Art in Göttingen. Von 1952 bis 1964 hatte er schon dem Uhlhorn-Konvikt als Ephorus vorgestanden, in dem er einst Inspektor gewesen war. Er setzte dort die im Zürcher Theologenhaus begonnene Übung fort, gemeinsam Kirchengemeinden der Umgebung zu besuchen, um dabei durch Veranstaltungen und Erzählungen hin und her Anregungen zu empfangen und vielleicht auch zu geben. Er, der Alttestamentler, redete nicht viel von Praxisbezug, aber er praktizierte ihn, und zwar am legitimsten Ort. Ähnlich verhielt er sich in den unruhigen Zeiten, die 1968 in unseren Universitäten und gerade auch in der Göttinger theologischen Fakultät begannen. Statt davon dies und jenes zu erzählen, gebe ich einige Sätze wieder, die er 1969 in der Weihnachtszeit in seinem regelmäßigen Rundbrief an die alten Zürcher „Theologenhäusler“ schrieb: „Die Universität, die noch vor wenigen Jahren der Ort ruhig konzentrierten Arbeitens erschien – ein Ort in der Etappe –, ist über Nacht ganz in die Frontlinie gerückt worden. Während das wirtschaftlich-gesellschaftliche Leben seinen Gang geht (gewiß wird der Nachdenkliche die Zeichen einer ungesunden Hektik auch dort nicht ohne Sorge sehen), ist der offene Kampf an den Universitäten an der Tagesordnung. Die grellen Aufschriften, die an die vorher sauberen Wände gepinselt werden, die Flugblätter, die man in die Hand gedrückt bekommt, die von kleinen entschlossenen Gruppen gesteuerten Studentenversammlungen, bei denen man die geschickte Taktik der Aktiven bewundern möchte, wenn man ihre Ziele billigen könnte, sind in der Universität das tägliche Brot geworden. – Nun hat dieses Aufgescheuchtsein sicher sein Gutes. Es zwingt, manche Dinge, die zur Routine zu werden drohten, neu zu bedenken und in neuer Gestalt anzugehen. Ich denke etwa an die Methodik von Vorlesung und Seminar, in der Arbeitsgruppen, breiterer Raum für die Diskussion, die Information durch Skripten mit Text- und Literaturangaben und knappen Zusammenfassungen verstärkt eingesetzt werden (der Papierkonsum ist gewaltig gestiegen!). Aber auf der 43  Vgl. E. Noort in: Stiftsgeschichte(n), hg.v. B. Schröder u. H. Wojtkowiak (2015) 306–13.

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anderen Seite gilt es doch, angesichts der allenthalben aufbrandenden Diskussionen um die ‚gesellschaftliche Relevanz‘ dessen, was wir tun, die Mitte, um die es in der Theologie unaufgebbar gehen muß, nicht aus den Augen zu verlieren. Und diese bleibt in jedem Fall die Kunde von der Barmherzigkeit des allein Hohen mit den Geringen – eben die Kunde von Weihnachten. Diese Kunde aber fordert das klare, ruhige Nein zu all dem Bösen und Intoleranten, was in der gegenwärtigen Bewegung sich breit macht – der Unfähigkeit, aufeinander zu hören, dem Meinungsterror, der sich mancherorts breitmacht, dem Klassenkampfklima und der Verleumdungswelle, die Gruppen gegeneinander aufstachelt, die nur in vertrauensvoller Zusammenarbeit recht tun können, was sie tun sollen.“ Wie er hier redete, so verhielt er sich, in der Freiheit, die er sich stets bewahrte und in der er vor den Verlautbarungen der studentischen Fachschaft an der großen Wand im Treppenhaus des Theologicums auf sachlichste Weise von „Hetzplakaten“ sprach, aber auch angesichts von Veränderungen, die Göttingens Hauptstraße um 1970 erlebte, Jesaja (5,8) zitierte: „Wehe denen, die Haus an Haus reihen […] !“ – beides so, dass jeder es hören konnte. Viele Studenten fühlten sich gerade in jener Zeit bei ihm besser aufgehoben als bei irgend einem anderen von uns, wobei durchaus mitgewirkt haben könnte, dass sie bei ihm nichts zu ermäßigtem Preis bekamen. Sie brachten ihm zu seiner Emeritierung in großer Dankbarkeit einen Fackelzug dar – längst ein Rarissimum oder gar Unikum, in dem plötzlich ein Stück Kontinuität des akademischen Lebens aufleuchtete. Er selbst besaß als denkender Mensch und als Christ den Sinn für solche und andere Kontinuitäten und hat sich im letzten Jahrzehnt verstärkt mit ihnen beschäftigt. Er vertiefte sich in die Geschichte der Göttinger Universität und Akademie und die seiner eigenen Wissenschaft, und schließlich las er sehr nachdenklich Briefe, die er selbst in jungen Jahren geschrieben hatte. Aber Gabe und Aufgabe jedes neuen Tages behielten auch für den Emeritus das unmittelbare Vorrecht. Als „Zeit zum Einkehren in die Stille“, wie er, Kohelet 3 variierend, sagte, blieben nach wie vor außer den Ferien in der Schweiz nur die Sonntage – diese freilich konsequent –, während im übrigen „Zeit zum Ausgehen in die Aufgaben von Welt und Leben“ war. Das Übermaß der Pflichten ließ die geplante größere Darstellung der alttestamentlichen Theologie auf eine Theologie der Propheten zusammenschrumpfen, aber auch sie kam nicht zustande. Immerhin holte er, etwa um Freunde im In- und Ausland in ihren Festschriften zu grüßen, aus seinem Schatz noch manches Neue und Alte hervor, und 1976 widmete er den „Ehemaligen“ des „Reformierten Theologenhauses“ der Jahre 1940–51 ein Meisterstück, die Auslegung von Genesis 12–25, der Abrahamgeschichte, in den „Zürcher Bibelkommentaren“. Das Vorwort stellt fest, ein Dritteljahrhundert – die Zeit seit dem Erscheinen der „Urgeschichte“ – gehe „weder am Ausleger noch an der wissenschaftlichen Erschließung der biblischen Texte spurlos vorüber“. Bei diesem Ausleger dürfte die Kontinuität stärker gewesen sein als in der ihn umgebenden alttestamentlichen Wissen-

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schaft, die man freilich nicht in dieser Weise als eine Einheit zusammensehen sollte. Auch als der Patriarch, der er nun längst geworden war, ging er seine Wege mit jugendlich beschwingtem Schritt. Zuweilen meinte er, dass er in manchem nicht mehr so gesetzlich denke wie in früheren Jahren. Man darf hinzufügen: sein Stil war im Lauf der Zeit – ob unter Einfluss des Göttinger akademischen Wesens? – etwas weniger geistlich geworden. Aber ein mit Heiterkeit quittierter Versprecher in einer Professorenversammlung, wo er als Rektor eine Satzung nach Paragraph und Vers zitierte, blieb doch symbolisch für Wichtigeres. Wir erinnern uns, dass er in der Kampfsituation von 1969 auf einmal gar nicht akademisch, sondern mit Weihnachten und dem Evangelium argumentierte. Hier lag sein eigentlicher Maßstab, bis zuletzt. Ohne Scheu vor Missverständnissen, die nicht gänzlich ausblieben, nahm er in jenen wirren Jahren auch seine frühere Zürcher Übung wieder auf, zu Beginn des morgendlichen Kollegs mit den Studenten einen Choral zu singen, etwa einen Hugenottenpsalm oder am liebsten Joh. Zwicks „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu …“. Im Februar und März 1983 las er vor meist römisch-katholischen Studenten in der Benediktinerabtei auf dem sogenannten Zionsberg in Jerusalem, seit längerem einer seiner liebsten Wirkungsstätten, über den geschichtlichen Jesaja, der ihm, trotz Ezechiel, der wichtigste Prophet war; er fand da im Blick auf die neuesten Wendungen der Forschung einiges richtigzustellen und wollte das bald auch literarisch tun. Am 6. März predigte er in der Messfeier mit großem Ernst über das Evangelium des Sonntags, am nächsten Tag verabschiedeten ihn die Studenten, seine letzten, mit einer Ovation. Für den Sommer hatte er keine Vorlesungen angekündigt; er wollte mit der Niederschrift der Auslegung der Geschichten von Isaak, Jakob und Joseph beginnen, über die er im Göttinger Wintersemester 1982/83 gelesen hatte. Die Zeit schien ihm zu drängen, er sprach auch manchmal davon, dass es mit ihm bald zu Ende sein könnte. Als ihn im Juni während eines kirchlichen Examens die Krankheit überfiel, der er am 4. Dezember erlag, hatte er, obwohl er so vieles nun nicht mehr tun konnte, doch sein Haus bestellt. Und noch der Verstummte bezeugte durch eine heitere Gelassenheit, an der nichts gemacht war, seinen Besuchern die Wahrheit, von der er gelebt hatte – auch als Alttestamentler.

Hans Walter Wolff 1911–1993

Im Januar 1935 taucht in einem Brief von Charlotte von Kirschbaum, noch in Bonn, an Karl Barth, schon in der Schweiz, „der kleine Wolf[f] vom Studentenbruderrat hier“ auf1. Es gab im damaligen theologischen Bonn, auch sie in den Kirschbaum-Barth-Briefen genannt, noch den „langen Wolf“, Hans Heinrich (1911–87), später Systematiker und Ökumeniker in Bethel, Bossey und Bochum2, und „Wölflein“, den Kirchenhistoriker Ernst Wolf (1902–71), schon bald in Halle, später in Göttingen3. Dass der „kleine“ Wolff, Hans Walter, trotz seiner äußeren Unscheinbarkeit eine herausragende Persönlichkeit war, geht unübersehbar aus einem etwas späteren Dokument im Basler Barth-Nachlass hervor, einer vierseitigen Liste von 96 Unterschriften von Bonner „Bekenntnisstudenten“, die, am 5. Mai 1935 „in Godesberg zur Freizeit versammelt“, dem „hochverehrten Herrn Professor“ (Barth), der nicht mehr zu ihnen reden durfte, „herzliche Grüße“ schickten, was für sie nicht ganz ohne Risiko war. Die erste Unterschrift ist die von Hans Walter Wolff, der in seiner kleinen, wohlgeformten Handschrift den einleitenden Satz geschrieben hat und sichtlich der Organisator der Aktion gewesen ist4. Ich schließe zur Einstimmung zwei weitere Dokumente an, die nicht in Basel, sondern in Düsseldorf, im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland liegen5, die empfehlenden Gutachten zweier Professoren über den 23jährigen Wolff aus Anlass seiner Meldung zum ersten theologischen Examen. Der Verfasser des ersten Gutachtens ist Hans Emil Weber (1882–1950), Systematiker und Neutestamentler in Bonn, kurz darauf im Zuge der Zerstörung der dortigen Fakultät gemeinsam mit seinem kirchenhistorischen 1  K. Barth – Ch. v. Kirschbaum, Briefwechsel I (2008) 442. 2  Ebd. 423. 3  Ebd. 438 (u.ö.). 4  Karl Barth-Archiv 9335: 438. Nicht alle der Unterschreibenden sind Studenten im engeren Sinn. 5  Dort, und zwar in Wolffs Personalakte (1OB 009/W 159), sowie, großenteils parallel dazu, in seiner Personalakte im Universitätsarchiv Heidelberg (PA 8935/36) und in seinem dortigen Nachlass (Rep. 57) sind die für das Folgende durchgängig benutzten Quellen so leicht auffindbar, dass ich auf die genaue Angabe der Fundstelle meist verzichten kann.

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Kollegen Wilhelm Goeters (1878–1953) nach Münster strafversetzt. Er schreibt unter dem Datum des 10. Februar 1935: „Herr stud. theol. Hans Walter Wolff bittet mich um eine Empfehlung. Unwillkürlich frage ich: hat er noch eine schriftliche Empfehlung nötig? Wer sollte H.W. Wolff nicht kennen als den Vertreter der Hoffnung in der theologischen Jugend – H.W. Wolff, den geschulten Alttestamentler, der schon im 4. Semester eine in der Z. Altt. Wiss. veröffentlichte Arbeit schreiben konnte, der aber auch in den anderen theol. Disziplinen Vortreffliches leistete (so z.B. in meinem systematischen Seminar eine vorzügliche Arbeit über die schwere Frage „Prädestination u. Ethik“ lieferte), H.W. Wolff, der durch seine wissenschaftliche Tüchtigkeit mehrfach Staatsstipendiat war und dabei in studentischer Gemeinschaft Führerqualität erwiesen hat, aber auch schon einen Pfarrer vertreten konnte, H.W. Wolff, der als Leiter des jungreformatorischen Kreises schon im Sommer 1933 bei und vor den Kirchenwahlen – als so viele später aufgewachte Gemeinden und Pastoren noch schliefen oder lavierten oder nichts wagten – sich tapfer einsetzte und so zum bestimmenden Leiter unserer studentischen Bekenntnisbewegung wurde –!? – – Ich kann nur sagen, es ist Grund zur Freude, daß wir solchen Nachwuchs haben. Ich erhoffe viel von solcher Jugend. Professor D.Dr. H.E. Weber.“ In theologischer und politischer Hinsicht Webers genaues Gegenteil war der zweite Gutachter, der Göttinger Alttestamentler Johannes Hempel, dessen Urteilsfähigkeit durch seine baldige Anpassung an die braune Obrigkeit nicht außer Kraft gesetzt war. Hier sein Votum: „Stud. theol. Hans Walter Wolff aus Wuppertal-Barmen ist mir seit Beginn seiner Studienzeit näher bekannt. Ich wiederhole zunächst das Zeugnis, das ich am 12.8.1932 über ihn an den Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung habe gelangen lassen: ‚... entscheidend für meine Bitte an den Herrn Minister ist die Tatsache, dass W. in besonders hohem Masse einer Förderung würdig ist. Mir ist bisher noch kein Student begegnet, der in so jungen Jahren eine solche Reife wissenschaftlichen Urteils mit zielstrebigem Fleiss und lebendiger Hingabe an die geistige Arbeit verbindet. … Auch nach der menschlichen Seite habe ich W. als Mitglied meines Seminars und bei gelegentlichen persönlichen Berührungen schätzen gelernt. Bescheiden ohne alles Kriecherische in seinem Wesen, klar und bestimmt in der Vertretung seiner Ansichten, ohne sture Rechthaberei, offen für neue Eindrücke, ohne sich zu zersplittern, stellt er einen Typus des Studenten dar, wie er nicht allzu häufig ist. …‘ Wolff hat daraufhin das große Staatsstipendium erhalten, und ich kann meinerseits dem damaligen Urteil nur hinzufügen, dass sich der gleiche Eindruck immer wieder bestätigt und vertieft hat. Wolff hat in seinem ZAW 1934 S. 1ff. gedruckten Aufsatz Förderliches gesagt und die Grundlage zu weiter ausgreifenden Arbeiten methodisch sauber gelegt. Er hat über seinen Spezialarbeiten die grösseren zusammenhängenden Aufgaben seines Studiums nicht vernachlässigt. Eine besondere Freude war es mir, in welch ruhiger, entschlossener und tapferer Weise er auch mir gegenüber seine von den meinen weit abweichen kirchenpolitischen Gedanken ver-

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treten und für sie gekämpft hat. Er hat dabei ein Mass von Charakter gezeigt, wie man es in den heutigen kirchlichen Kämpfen nur leider oft vermisst. Ich bezeuge ihm das grade um deswillen besonders, weil ich seine Gedanken weithin sachlich für abwegig halte. Ich wünsche Wolff von Herzen einen guten Verlauf seines Examens und zweifle nicht daran, dass er im späteren Leben seinen Mann ebenso wacker stehen wird, wie als Student. Göttingen, am 12. Februar 1935 Prof. Joh. Hempel.“ Barmen, seit 1930 gemeinsam mit dem benachbarten und verwandten Elberfeld Teil der Stadt Wuppertal, verdient mit dem heute beliebten Ausdruck ein ganz besonderer „Erinnerungsort“ des Protestantismus zu heißen, und das nicht erst seit der epochalen Theologischen Erklärung von 1934, die in Hans Walter Wolffs drittes Bonner Studiensemester fällt. Durch viele Generationen sind dort Gewerbefleiß und Frömmigkeit vielfältige Verbindungen eingegangen und haben eine eindrucksvolle Reihe markanter geistlicher Gestalten hervorgebracht, darunter berühmte Prediger. Die sehr biblischen, sehr erwecklichen und sehr antirationalistischen Kanzelreden eines von ihnen, der es bis zum Hofprediger in Potsdam brachte, nannte Goethe 1828 einigermaßen befremdet „narkotische Predigten“ und fügte noch hinzu: „welche sich denn freilich am klaren Tage, dessen sich das mittlere Deutschland erfreut, höchst wunderlich ausnehmen“6. In dieser Tradition stand Hans Walter Wolff, obwohl sein Weg zunächst einen anderen Verlauf zu nehmen schien. Sein Vater war Geschäftsführer einer Textilfirma und wollte ihn dasselbe oder etwas ähnliches werden lassen. Ohne Zweifel hätte sich der Sohn dafür gut geeignet: zeitlebens führte er seine kirchlichen, akademischen und persönlichen Geschäfte geschickt, akkurat und wohl auch mit einer gewissen Lust. Aber die Fähigkeiten und Leistungen des Schülers auf allen Gebieten ließen seine Lehrer darauf hinwirken, dass er das Barmer Realgymnasium nicht schon mit der mittleren Reife, sondern erst mit dem Abitur verließ; das Reifezeugnis lautete in den meisten Fächern und insgesamt auf „gut“ – damals eine ehrenvollere Note als heute –, in Deutsch und Musik auf „sehr gut“. Über seine Gründe für die Wahl des Studienfachs Theologie scheint er sich im Rückblick nicht geäußert zu haben, wie er denn überhaupt, uneitel wie er war, nicht viel von sich selbst sprach. Für den christlichen Glauben hat ihn, so die familiäre Überlieferung, ein Lehrer im Gymnasium interessiert; durch pfarramtliche Zeugnisse7 ist zudem belegt, dass er jahrelang aktiv im „BK“, dem aus dem damaligen evangelischen Rheinland nicht wegzudenkenden „Bibelkreis für Schüler an höheren Schulen“ mitgearbeitet und dabei die eigentliche Bibelarbeit in den Mittelpunkt gestellt hat. In diesem Zusammenhang ist auch 6  Goethe, Sämtliche Werke (Frankf. Ausg.) I/22, 839 (über F.W. Krummachers „Blicke ins Reich der Gnade“). 7  Pfarrer Calaminus und Pfarrer Schlingensiepen, Barmen 7.2.1935 (Personalakte Düsseldorf).

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an seinen späteren Schwiegervater Willy Halstenbach (1866–1953) zu denken, einen angesehenen Textilfabrikanten mit weitem Horizont und kulturellen Neigungen, Hobby-Maler und -Pianist, fromm, bibelfest, mutig, Mitglied des Presbyteriums der reformierten Gemeinde Barmen-Gemarke und mehrerer Synoden. An seinem Grab würdigte ihn der rheinische Präses Held als dritte bestimmende Persönlichkeit des dortigen Kirchenkampfs neben den Pastoren Paul Humburg und Karl Immer8. Leider verzeichnet die geschriebene Kirchengeschichte nicht die ungezählten mehr oder weniger illegalen Zusammenkünfte, die in der legendären „Villa Halstenbach“ stattfanden. Ein mehrfacher Logiergast war Karl Barth, so auch während der Synode im Juni 1934, deren „Erklärung“ er nachts dem Schüler Karl Immer dem Jüngeren, ebenfalls künftiger Halstenbach-Schwiegersohn und also Schwager Hans Walter Wolffs, in die Schreibmaschine diktierte9. Als sicher darf gelten, dass Willy Halstenbach auch finanziell an dieser Synode und anderen Aktivitäten der Bekennenden Kirche mit großen Beträgen beteiligt gewesen ist. Was Hans Walter Wolff betrifft: dieser ist spätestens 1928 in die Villa Halstenbach gekommen. In diesem Jahr nämlich verließ der bisherige Nachhilfelehrer des ältesten Halstenbachsohnes das heimische Barmen und die Gemeinde Gemarke, um zum Studium der Theologie nach Greifswald zu gehen, woraufhin der 16jährige Hans Walter Wolff an seine Stelle trat. Die Pointe dabei ist: der abgehende Hauslehrer war Helmut Thielicke (1908–86), der kurz vorher nach eigener Angabe aus Begeisterung über einen Vortrag Karl Barths sein „knabenhaftes Herz total an die Theologie verloren“ hatte10. Ohne Gewähr, aber nicht ohne Reiz ist die Vermutung, der Vorgänger im Amt des Hauslehrers, später ein für viele Leute sehr attraktiver Repräsentant der Wuppertaler Kanzelberedsamkeit, sei bei der Studienwahl des Nachfolgers nicht nur dessen Vorgänger, sondern in irgendeinem Grade auch sein Vorbild gewesen. Sicherer und wichtiger: Hans Walter Wolff verliebte sich in die älteste der drei Halstenbach-Töchter, Annemarie, woraus nach einer langen heimlichen und öffentlichen Verlobungszeit eine überaus glückliche Ehe entstand. Indem die zweite Halstenbach-Tochter, Edith, den Theologensohn und Theologen Karl Immer und der zweitjüngste der drei Halstenbach-Söhne, Hanns, die Theologentochter und -nichte Irmela Schlingensiepen heiratete11, formte sich so etwas wie eine natürliche Kleingruppe in der bewegten rheinischen Kirchenpolitik der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Am Barmer Realgymnasium konnte man kein Griechisch lernen. So tat Hans Walter Wolff es nebenher und legte darüber drei Wochen nach dem Abitur, am 1. April 1931, in Bonn eine Prüfung ab, mit dem Prädikat „gut“. Für das Hebräische verbrachte er das Sommersemester 1931 an der Theologischen Schule Bethel; das Hebraicum, abgenommen von den Münsteraner Alt8  R. Hendricks, Villa Halstenbach (1996) 76. 9  Ebd. 56. 10  H. Thielicke, Zu Gast auf einem schönen Stern (1984) 44. 11  Vgl. Hendricks (Anm. 8) 95.

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testamentlern Herrmann und Hänel, bestand er „mit Auszeichnung“. Daneben hörte er, sozusagen zum Ausgleich, einige kleinere Vorlesungen, von denen ihm die zweier Freunde Karl Barths, nämlich Wilhelm Vischer über Hiob und Georg Merz (1892–1959) über Luther, bleibend beeindruckt haben könnten. Die Orte seines anschließenden siebensemestrigen Studiums waren Göttingen mit drei und Bonn mit vier Semestern. Er studierte zugleich planvoll und breit, intensiv und zügig. Mit Ausnahme des letzten Semesters, mit dem es eine besondere Bewandtnis hatte, belegte er jeweils zwischen 20 und 30 Wochenstunden, darunter stets zwei Seminare, beginnend mit den notwendigen Proseminaren, dem kirchengeschichtlichen bei Hans v. Campenhausen (1903– 89), seinem späteren Heidelberger Kollegen, dem alttestamentlichen nominell bei dem Septuaginta-Herausgeber Alfred Rahlfs, der es aber der jungen „Hilfskraft“ Walther Zimmerli anvertraut hatte; Wolff schrieb dort eine Arbeit über die im Bundesbuch vorausgesetzten kulturellen Verhältnisse, die er Jahrzehnte später scherzweise als Beitrag zur Festschrift zu Zimmerlis 70. Geburtstag „dem allgemeinen Gaudi preiszugeben“12 erwog. In seinem Göttinger Studium versäumte er nicht, bei Walter Bauer (1877–1960), dem unbestechlichen Lexikographen des neutestamentlichen Griechisch, synoptische Evangelien und Einleitung ins Neue Testament zu hören, aber seine Favoriten waren mit insgesamt 24 bzw. 19 Wochenstunden in den drei Semestern der Kirchenhistoriker und Systematiker Emanuel Hirsch (1888–1972) und der Alttestamentler Johannes Hempel, beide in scharfer und gehässiger Frontstellung gegen die Dialektische Theologie im allgemeinen und Karl Barth im besonderen, beide arg deutschnational und bald auf fatale Weise dem Dritten Reich ergeben, aber beide in Forschung und Lehre von unbestreitbarem Niveau. Bei Hirsch hörte Wolff drei Viertel des viersemestrigen kirchengeschichtlichen Vorlesungsturnus, außerdem Konfessionskunde, Theologie der Reformatoren und christliche Geschichtsphilosophie; dazu kam ein Seminar über die Geschichte der Prädestinationslehre. Dem Theologen Wolff konnte später niemand nachsagen, er habe die andere Seite nicht gründlich zur Kenntnis genommen! Bei Hempel machte er zwei Seminare und einen aramäischen Sprachkurs mit und hörte Genesis, Psalmen, Amos und Hosea und eine zweisemestrige Geschichte Israels. Das erste Seminar (im Sommer 1932) handelte vom israelitischen Kultus, das zweite (im Winter 1932/33) vom Buch Hiob. Beide Male schrieb Wolff eine Arbeit, die erste über die Kultkritik der älteren Propheten, die zweite über die Begründungen der prophetischen Heils- und Unheilssprüche. Um die zweite dieser Arbeiten handelt es sich bei dem von den Gutachtern Weber und Hempel gerühmten Aufsatz in der ZAW von 193413. Die in ihrer Abfolge von präziser Bestandsaufnahme, Analyse und Synthese für diesen Autor bleibend charakteristische Untersuchung von ungefähr 130 Sprüchen 12  Brief an R. S. 12.12.1973. 13  Dort S. 1–22 = Ges. Studien (21973) 9–35.

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der älteren Prophetie führt zu dem Ergebnis, dass Gottes Handeln „durch die Begründung dem Vorwurf der Willkür entrissen“ ist14. Hempel ließ es als Herausgeber der ZAW zu, dass Wolff dem im Herbst 1933 abgeschlossenen Aufsatz im Frühjahr 1934 noch einen „Nachtrag“ hinzufügte, in dem er sein Ergebnis auf den damals zwischen Karl Barth und Emil Brunner entbrannten, für die Klärung der theologischen Fronten angesichts der deutschchristlichen Versuchung bedeutsamen Streit um den „Anknüpfungspunkt“ bezog und vorschlug, den nach „Synergismus“ schmeckenden, aber auch z.B. auf das deutsche Volkstum und dessen aktuelle geschichtliche Stunde anwendbaren „Anknüpfungspunkt“ durch den „Ansatzpunkt“ zu ersetzen: „Angeknüpft wird nicht; denn alles, was zu sagen ist, ist restlos bestimmt durch die eine Richtung von Gott her. Aber sofern es vernehmbar sein soll, hat es beim Menschen aufzutreffen. Dieser ‚Ansatzpunkt‘ erfreut sich […] bewußt oder unbewußt der besonderen Sorgfalt des Propheten.“ Der Nachtrag schließt mit dem Hinweis, „daß eine Untersuchung des Zitats bei den Propheten zu dieser Frage Wichtiges beitragen“ könne15. Dieser Hinweis entpuppte sich nach wenigen Jahren als die Ankündigung der nächsten, nein schon übernächsten größeren Veröffentlichung des nunmehr 25jährigen Verfassers zur Prophetie, der Monographie über „Das Zitat im Prophetenspruch“ von 1937. Man staunt, wie früh und wie sicher dieser Theologe sein Lebensthema – die alttestamentliche Prophetie – gefunden hat. Die beiden Seminararbeiten bei Hempel zeigen es drastisch: beide Seminare handelten nicht von der Prophetie, wohl aber beide Arbeiten; mindesten im zweiten Fall lag das Thema der Arbeit weit ab von dem des Seminars, es war also mit großer Wahrscheinlichkeit kein normal aufgegebenes, sondern ein individuell verabredetes, bei dem gewiss der Wunsch des Studenten berücksichtigt wurde. Was auch immer ihn zu diesem Wunsch und dieser Wahl bewogen haben mag: die Prophetie und die Propheten, oder anders und allgemeiner, mit dem Titel der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag: die Botschaft und die Boten haben ihn nie mehr losgelassen. Der Weg von Göttingen nach Bonn kam 1933 einem Klimawechsel gleich. Die Bonner evangelisch-theologische Fakultät befand sich noch, gerade noch, auf dem Höhepunkt ihrer gesamten Geschichte, auf den sie drei Jahre vorher die Berufung Karl Barths geführt hatte. In der RGG16 steht zu lesen, Wolff sei in seinem Studium „besonders durch G. v. Rad, M. Noth und K. Barth geprägt“ worden. Von den dreien war aber nur Barth sein akademischer Lehrer, und das natürlich nicht oder nur indirekt auf dem Gebiet des Alten Testaments. 1933/34, in den Barth noch vergönnten drei Bonner Semestern, hörte Wolff bei ihm zweimal Dogmatik, Johannesevangelium und Geschichte der protestantischen 14  Ebd. 22 (34). 15  Ebd. 22 (35). 16  4VIII, 1684 (J. Jeremias).

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Theologie seit Schleiermacher und nahm an seinen Predigtübungen und einem Seminar über die Theologie der Konkordienformel teil. Danach blieb er auch aus der Ferne in der Schule dieses Mannes, bei dem man mehr als bei jedem anderen lernen konnte, was Theologie ist und was nicht. Es hatte Gewicht, dass in seinem Studierzimmer durch die Jahrzehnte ein (nicht schlechtes!) Porträt Barths an der Wand hing, das sein Schwiegervater Halstenbach gemalt hatte. Aus der Zeit seines eigenen Übergangs ins theologische Lehramt, 1950, hat sich ein Brief erhalten, in dem er dem „hochverehrten Herrn Professor“ für „alles“ dankt, „was ich immerzu aus Ihrer Dogmatik lerne, für die ich mir, wenn es eben geht, täglich eine halbe Stunde nehme“17. Er studierte mit gleicher Leidenschaft wie Barth die Bibel, übersprang dabei aber anders als Barth die historische Kritik nicht und zielte bei seiner Exegese unmittelbarer auf die Predigt als der Dogmatiker, von dem er aber auch für die Predigt Wesentliches gelernt hatte. Übereinstimmend lasen beide das Alte Testament, ohne seine eigenen Aussagen zu vernachlässigen, strikt vom Neuen Testament her und auf das Neue Testament hin. Wie Barth und gewiss auch unter seinem Einfluss betrachtete und betrieb Wolff die Theologie als eine notwendig auf die Kirche bezogene Wissenschaft; als er in späteren Jahren vorgeführt bekam, dass J. Wellhausen, der ihn als Mensch und Gelehrter immer mehr beeindruckte, die theologische Fakultät wegen dieses Bezugs verlassen hatte, hat ihn das „fast […] krank gemacht, jedenfalls immens aufgeregt“18. Gleichwohl: ein landläufiger pfeiferauchender Rechts- oder Linksbarthianer zu werden hinderten ihn nicht nur die äußeren Umstände, sondern auch seine natürliche Unabhängigkeit, die er sich stets bewahrte und die wiederum im Sinne Barths war, der ja auch kein Barthianer gewesen ist. Nächst Barth hörte Wolff in Bonn am meisten den gelehrten Hans Emil Weber, seinen ersten Laudator von 1935, von dem es hieß, er entwickle „viele ernsthafte, echt christliche Gedanken, die im ‚Barthianismus‘ zu kurz kommen“19. Wie Wolff in rheinischer Frömmigkeit aufgewachsen – er stammte aus Mönchengladbach –, hatte er Hermann Cremer in Greifswald und vor allem Martin Kähler in Halle zu Lehrern; seine programmatische Erstlingsschrift „Bibelglaube und historisch-kritische Schriftforschung“ (1913) machte es sich zur Aufgabe, „Kählers Neubegründung des Bibelglaubens durch Aufnahme des geschichtskritischen Problems zu ergänzen und fortzuführen“20 – eine Aufgabe, die für Barth, vorsichtig gesagt, zu den weniger dringenden gehörte. Bei Weber belegte Wolff neben einer zweisemestrigen Dogmatik unter anderem Neutestamentliche Theologie und ein neutestamentliches Seminar – letzteres übrigens außerdem bei dem Alttestamentler Gustav Hölscher, der im Sommersemester 1933 zusammen mit Barth in die durch Karl Ludwig 17  Karl Barth-Archiv Basel 9350.729. 18  Postkarte an R. S., 20.5.1981, aufgrund von ZThK 78 (1981) 168–76. 19  F. Kattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher II (1934) 731. 20  So im Vorwort zur 2. Aufl. (1914).

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Schmidts Ausscheiden gerissene Lücke sprang; auch hier schrieb er eine Seminararbeit, über „Das Ende der Zeit, prädestiniert oder bedingt“, die Hölscher „nachdenklich und sorgfältig“ fand. Dazu kommen an Vorlesungen im Alten Testament Einleitung wiederum bei Hölscher und Theologie (hier hatte Wolff in Göttingen bei Hans Duhm, dem unwürdigen Sohn des großen Bernhard, einen missratenen Versuch gemacht) bei dem Stiftsinspektor und Extraordinarius Friedrich Horst (1896–1962), bei diesem auch „Die religiöse Umwelt Israels“, in der Kirchengeschichte Reformation und Gegenreformation sowie Dogmengeschichte bei Wilhelm Goeters, dazu als Leckerbissen bei Ernst Wolf („Wölflein“) ein Semester Augustin und ein Semester Calvin. Für die unumgängliche Praktische Theologie musste er mit zwei „Deutschen Christen“ vorlieb nehmen, den Herren Pfennigsdorf und Schmidt-Japing, in dessen sozialethischem Seminar er eine höchst aktuelle Arbeit über den „Angriff auf das Alte Testament“ schrieb, die der Professor, obwohl sie ihm zweifellos gegen den Strich ging, mit „sehr gut“ bewertete. Auf fortgesetztes Interesse am Alten Testament weist überdies die Teilnahme an einem Arabischkurs und an zwei Übungen des berühmten Textforschers Paul Kahle (1875–1964; Syrisch für Anfänger und Wissenschaftliche Grammatik des Hebräischen), weist aber auch eine unscheinbare Notiz in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, die 1934 den Eintritt des stud. theol. Hans Walter Wolff in Bonn, Humboldtstr. 42, in diese Gesellschaft meldet21. Die Adresse, allen Bonner Theologen wohlvertraut, ist die des evangelisch-theologischen Stifts (später „Hans-IwandHaus“), in dem Wolff zu den tonangebenden Mitgliedern gehörte. Es ist normal, dass ein derart vorbildliches Studium mit einem überdurchschnittlichen Examen endet. In der Tat bestand Wolff im September 1935 die erste theologische Prüfung „recht gut“ und, um das gleich vorwegzunehmen, im normalen Abstand von zweieinhalb Jahren im März 1938 die zweite „gut“. Aber die beiden Zeugnisse weisen eine Unnormalität auf: sie sind nicht vom Konsistorium der Evangelischen Kirche im Rheinland ausgestellt, sondern von der Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland, einer für das öffentliche Recht nicht existierenden Größe. Schon für die Göttinger Anfangssemester bezeugt das Gutachten des Professors Hempel, dass der Student Wolff damals auf Seiten der in statu nascendi befindlichen Bekennenden Kirche (zum zweiten Mal „BK“!) gestanden, ja für sie, wie der Deutsche Christ Hempel mit unverkennbarem Respekt feststellt, auch ihm gegenüber „gekämpft“ hat. Im Sommersemester 1933 sehen wir, dem Weberschen Gutachten folgend, den nunmehrigen Bonner als „Leiter des jungreformatorischen Kreises“, der im Wintersemester 1933/34 zu einem „Freundeskreis des [Niemöllerschen] Pfarrernotbundes“ und nach der Barmer Synode zur „studentischen Bruderschaft der Bekennenden Kirche“ umgebildet wurde; den äußeren Rahmen bildete das Haus der DCSV, der „Deutschen Christlichen Studentenver21  ZDMG 88, S. *1*.

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einigung“, die einige Jahre später, 1938, verboten und durch die Studentengemeinden abgelöst wurde. Karl Barth, bei dem Unternehmen kaum entbehrlich, verhielt sich anfangs reserviert, weil ihm, abkürzend gesagt, Niemöller als ehemaliger U-Boot-Kommandant suspekt und die DCSV zu pietistisch war, ließ sich aber durch den von Hans Walter Wolff zu Hilfe geholten DCSVReichsvorsitzenden Reinold von Thadden-Trieglaff, nach 1945 Begründer des Deutschen Evangelischen Kirchentags, umstimmen. Auch die Bonner DCSV schloss sich der Barmer Erklärung an und trennte sich von zwei „Altfreunden“, den Theologieprofessoren Pfennigsdorf und Ruttenbeck, die sich dem verweigerten22. Diese Herren, aber wahrlich nicht nur sie, wurden bald zum Problem für den Vorsitzenden des studentischen „Bruderrats“, der in dem folgenden dramatischen Wintersemester Hans Walter Wolff hieß. Im Oktober 1934 hatte die Bekenntnissynode von Dahlem ein „Notrecht“ beschlossen, das „die Bildung einer vollständigen Konkurrenzorganisation unter Aufkündigung jeder Zusammenarbeit mit DC-Kirchenleitungen und DCPfarrern“ vorsah und dessen praktische Konsequenzen „u.a. das Dienstrecht, die Verwaltung, die theologische Ausbildung und Prüfung, die Bezahlung der Vikare“ betrafen23. In Bonn drang dieser Beschluss weitgehend durch: „Gleich zu Beginn des Semesters stellten sich die Studenten in einer Erklärung auf den Boden der Dahlemer Botschaft und sprachen den Professoren, die den gleichen Schritt getan hatten, ihr dankbares Vertrauen aus. Praktisch bedeutet[e] das den Verzicht auf Seminare und Vorlesungen bei den restlichen Professoren.“ Die „neutralen“ Professoren erhielten den Besuch von Hans Walter Wolff und seinem Kommilitonen Heinrich Quistorp, die sie zur Entscheidung drängten; von Professor Ruttenbeck berichtete hinterher Quistorp, dass er sie beide „fast unter Tränen bat, doch verstehen zu wollen, warum er sich in seiner Position nicht entscheiden könne. Wir blieben aber fest und sagten ihm, daß wir auch ihn leider nicht mehr hören könnten, wenn er sich nicht für die BK entschiede.“24 Die nächsten Wochen und Monate brachten, beginnend mit der Suspension Karl Barths, die so gut wie völlige Zerstörung der Bonner Fakultät25. In der ersten Versammlung der Bekenntnisstudenten im Sommersemester 1935 hielt Hans Walter Wolff als bisheriger Vorsitzender des Bruderrats eine Rede, die als „ziemlich ausführlich, klar und entschieden“ in Erinnerung blieb und die darauf hinauslief, dass nur noch zwei Dozenten gehört werden könnten: Hans Emil Weber und Friedrich Horst, der Alttestamentler. Im übrigen werde man sich „wohl mehr auf Bücher beschränken müssen.“26 Aber auch mit Weber und 22  Das Vorstehende nach W. Scherffig, Junge Theologen um „Dritten Reich“ I (1989) 160f. 23  W.-D. Hauschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte II (1999) 880f. 24  Scherffig (Anm. 22) 162. 25  Immer noch die beste Chronik gibt E. Bizer in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Evangelische Theologie (1968) 227–75. 26  Scherffig (Anm. 22) 172.

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Horst – an beiden hatte gerade Wolff einen starken Rückhalt27 – ging es nicht mehr lange; über Horst erzählten alte Bonner noch nach Jahrzehnten, er habe nach seiner Entlassung vor den Toren der Universität Obst verkauft und dabei reichlichen Zuspruch erfahren. Für die nicht zu besuchenden Vorlesungen und Seminare, namentlich auf dem Gebiet der Praktischen Theologie, organisierte man nach Möglichkeit Ersatzveranstaltungen28; Ferienkurse und Freizeiten hatten Konjunktur – ich erinnere an den eingangs zitierten von Hans Walter Wolff im Mai 1935 aufgesetzten Godesberger Freizeit-Brief an Karl Barth. Barth selbst hatte sich auf einer etwas früheren Godesberger Freizeit, am 10. Februar 1935, von den Bonner Studenten mit den berühmten Sätzen verabschiedet: „Liebe Freunde, die Sie bei mir hörten, Sie haben bei mir in der Hauptsache Dogmatik gehört. Dogmatik ist eine hohe und steile Kunst. Ich will nicht leugnen, daß ich sie auch menschlich mit einer gewissen Lust und Liebe treibe. Und ich habe es wohl gemerkt, daß diese Sache auch Viele von Ihnen begeistert hat. Wenn es nun damit zu Ende ist für den Augenblick, so fassen Sie das auf als einen Pfiff, den Sie bekommen haben, das Studium vorläufig an einem anderen Eck neu zu beginnen. Nehmen Sie jetzt also meinen letzten Rat: Exegese, Exegese und noch einmal Exegese! Wenn ich Dogmatiker geworden bin, so deshalb, weil ich lange vorher mich bemüht habe, Exegese zu treiben. Lassen Sie die systematische Kunst, die einen auch rasend machen kann, ein wenig ruhen und halten Sie sich an das Wort, an die Schrift, die uns gegeben ist und werden Sie vielleicht weniger systematische als Schrifttheologen. Dann ist gewiß auch für die Systematik und Dogmatik gesorgt.“29 Unter den Godesberger Freizeitteilnehmern war Hans Walter Wolff vielleicht der, der den Barthschen „Pfiff“ am wenigsten nötig hatte; um so mehr wird er ihn in dem Weg bestärkt haben, den er durch alle äußeren Anfechtungen unbeirrt weiterging. Das Vikariat, in das ihn nach dem ersten theologischen Examen das Ausbildungsamt der rheinischen Bekenntnissynode für die ersten anderthalb Jahre einwies, fand nicht auf rheinischem Boden statt, sondern aus gutem Grund in Münster in Westfalen, wo sich im Unterschied zu Bonn noch eine leidlich intakte theologische Fakultät befand. Es war kein normales Lehrund Gemeindevikariat, sondern eine völlige Neugründung mit dem Namen „Theologiestudentenamt“. Die Gemeinde dieses Vikars bestand aus den rheinischen Theologiestudenten an allen Universitäten, die er vielfältig zu betreuen und vor allem bei der Stange der Bekennenden Kirche zu halten oder an sie heranzuführen hatte. Sein wichtigstes Instrument waren dabei hektographierte Rundbriefe, in ihrem weithin sehr geistlichen Ton fast Hirtenbriefe zu nennen, die er in kurzen Abständen an alle Studenten verschickte und die noch heute 27  Vgl. seine bewegenden Nachrufe auf Frau Hannah Weber und F. Horst KiZ (1962) 262– 64; über Horst auch die Gedenkrede ThLZ 88 (1963) 313–18. 28  Vgl. Scherffig 170f. 29  K. Barth, Das Evangelium in der Gegenwart (1935) 17 (Predigten 1921–1935 [1998] 427f.).

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eine eindrucksvolle Lektüre sind30. Sie informieren, orientieren, predigen, stärken, mahnen und ordnen auch an: „Zu Beginn der Ferien hat sich jeder beim Vertrauensmann seiner Synode zu melden!“31 Offenkundig konnte Wolff sich auch diese Sprache leisten! Zu den Rundbriefen kamen eine umfangreiche Einzelkorrespondenz und eine lebhafte Reisetätigkeit, wie sie ähnlich mit anderer Zuständigkeit die kirchlichen „Reisesekretäre“ Johannes Hoffmann und Martin Fischer ausübten. Es galt dabei, jede Universität nach getaner Arbeit schleunigst wieder zu verlassen, bevor die Gestapo Wind bekam; ihr fiel es verständlicherweise nicht so leicht, „Leute, die sich ständig auf Reisen befanden, zu fassen“32. Unter solchen Bedrohungen standen natürlich auch die größeren und kleineren theologischen Zusammenkünfte, die Wolff an wechselnden Orten organisierte und für die er kompetente und mutige Redner aus den Reihen der Bekennenden Kirche gewann. Auch er selbst ergriff bei solchen Gelegenheiten mit Vorträgen das Wort. Seine administrativ-geistliche Tätigkeit rieb ihn nämlich erstaunlicherweise nicht auf, sondern ließ ihm noch Zeit zur Weiterarbeit an der alttestamentlichen Prophetie. Im Februar 1936 sandte er der ZAW einen gehaltvollen Aufsatz über „Herrschaft Jahwes und Messiasgestalt im Alten Testament“ ein33, bei dem es sich um die wenig veränderte Hausarbeit zu seinem ersten theologischen Examen handelte; die Gutachter E. Wolf („Wölflein“) und F. Horst hatten sie als „vorzüglich“ befunden, obwohl beide nicht damit einverstanden waren, dass, wie Wolff abschließend behauptete, bei diesem Doppelthema bereits im Alten Testament „trinitarisches Denken vorbereitet“ und das „Gespräch zwischen johanneischer und synoptischer Christologie“ angelegt sei; doch Hempel nahm sogar diesen Schluss in die ZAW auf34. Im Dezember 1936 hielt Wolff in Tübingen vor den dortigen Studenten der Bekennenden Kirche zwei Vorträge über „die normative Bedeutung der prophetischen Verkündigungsweise für die christliche Predigt“, in denen er Folgerungen aus seiner bisherigen Arbeit zog und die er denn auch im Herbst 1937 der Monographie „Das Zitat im Prophetenspruch“ anfügte, die er in jenen Jahren niedergeschrieben hatte35. In Fortführung der Erstlingsarbeit von 1933/34 versteht sie sich als „eine der notwendigen Vorarbeiten für eine Gesamtdarstellung der prophetischen Verkündigungsweise“, anders gesagt für eine „Homiletik der alttestamentlichen Schriftprophetie“, die sich „zur Homiletik der Kirche“ verhält „wie die biblische Theologie zur Dogmatik der Kirche“ (oder auch – Wolff 30  Sie liegen im Archiv der Ev. Kirche im Rheinland vor. 31  Scherffig (Anm. 22) II (1990) 93. 32  Ebd. 109. 33  ZAW 54 (1936) 168–202. 34  Dort 201f. (im Typoskript der Examensarbeit 40). Wolf gingen Wolffs Feststellungen „zu weit“, Horst fand sie „etwas gesucht“. 35  Erschienen als Beiheft 4 zur „Evangelischen Theologie“, wieder abgedruckt in Ges. Studien 36–129.

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hat diese Assoziation gewiss gehabt – zur „kirchlichen Dogmatik“); daher stehen für Wolff „alle Beobachtungen am Zitat im Prophetenspruch unter der Frage nach der Verkündigungsweise der Kirche“36. So verwundert es nicht, dass immer wieder die Gegenwartsdiskussion hineinspielt: ausdrücklich wird die Meinung des alten Göttinger Lehrers Emanuel Hirsch abgewiesen, es sei der „Tod ernster theologischer Arbeit, der Theologie die Aufgabe zu setzen, die Reflexionsgestalt des Neuen [und gar erst des Alten!] Testaments oder irgend einer andern geschichtlichen Theologie zu wiederholen“37, und, indem die Untersuchung ergibt, dass die Propheten in der Regel zum Zweck der Gegensatzbildung zitieren, wiederum auch Emil Brunners „Anknüpfungspunkt“38. Bei seinen exegetischen Beobachtungen, berichtet Wolff im Vorwort, sei ihm aufgegangen, „wie es hier ständig um Probleme der kämpfenden Kirche geht, deren Lösung uns schon zuvor gegeben ist“39. Diese Arbeit, so will es dem heutigen, und vielleicht nicht erst dem heutigen, Leser scheinen, hätte sich gut als Grundlage einer Promotion verwenden lassen; ihr nach heutigem Standard geringer Umfang – 114 Seiten im Druck – wäre damals kaum ein Hindernis gewesen, und an ihrer Qualität konnte, wie immer man zu ihrer theologischen Tendenz stand, kein Zweifel sein. Johannes Hempel, Wolffs anderer Göttinger Lehrer, hat denn auch diese Arbeit eines fairen Kurzreferats gewürdigt und nur zu jener Tendenz ein Fragezeichen gemacht40. Nach glaubhaften Berichten hat Hempel Wolff damals oder schon früher eine Stelle (am Göttinger Sprachenkonvikt?) und die Promotion angeboten, womit er, bedenkt man die damalige politisch-kirchliche Lage, wie schon in dem Gutachten vom Februar 1935 nicht nur Wolff, sondern auch sich selbst ehrte. Aber darauf konnte Wolff nicht eingehen: Hempel gehörte nun wirklich zu den Professoren, die er wegen ihrer Nichtzugehörigkeit zur Bekennenden Kirche boykottieren musste, und vor allem: ihn drängte es ins Pfarramt, zur praktischen Bewährung dessen, was ihm anhand der alttestamentlichen Prophetie aufgegangen war. Was „Das Zitat im Prophetenspruch“ angeht: es ließ sich immerhin als Hausarbeit im zweiten Examen verwenden; Gerhard v. Rad hatte für die Aufnahme in die Beihefte zur „Evangelischen Theologie“ votiert, und Edo Osterloh, Dozent für Altes Testament an der Berliner Kirchlichen Hochschule, bestätigte dieses Votum durch das Prädikat „vorzüglich“. Am 1. April 1937 endete Wolffs Tätigkeit im Theologiestudentenamt. In seinem letzten Rundbrief schrieb er: „Als ich in diesen Tagen die von Euch ausgefüllten 200 Karteikarten noch einmal sehr langsam durchblätterte, blieb kaum eine Karte zurück, mit deren Namen sich für mich nicht eine Geschichte verband. Zum allergrößten Teil sind wir uns durch unsere mancherlei Treffen 36  A.a.O. 4 (37). 37  Hirsch, Schöpfung und Sünde (1931) 9857, Wolff a.a.O. 10417 (12117). 38  Ebd. 109f. (126). 39  Ebd. 4 (37). 40  ZAW 56 (1938) 143f.

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von Angesicht bekannt geworden. Mit jedem ist wohl ein Brief, mit manchen sind sehr viele Briefe gewechselt worden.“ Jahrzehnte später stellte sein Nachfolger im Rückblick fest, von Wolffs Arbeit sei eine Wirkung ausgegangen, „die ein Stück rheinischer Kirchengeschichte mitgestaltet habe“41. Für das letzte Jahr seiner Ausbildungszeit wurde er nach Solingen entsandt, und dort blieb er elf Jahre lang, zunächst als Vikar, nach dem zweiten Examen und der Ordination 1938 als Hilfsprediger „zur Betreuung der Bekenntnisgemeinden im Kirchenkreis Solingen, insbesondere Solingen-Wald“, seit 1943 als Hilfsprediger „der Ev. Kirchengemeinde Solingen-Wald“, seit 1946 als „Pfarrer der Ev. Kirchengemeinde Solingen-Wald“. Wieder sieht das auf den ersten Blick ganz normal aus, aber wieder ist es keineswegs normal – nicht nur darum, weil der geistlichen Laufbahn, eingreifend genug, zeitweise eine militärische parallel geht: Juni 1940 Einziehung zur Wehrmacht, Dezember 1940 Beförderung zum Gefreiten, ab Juni 1941, also von Anfang an, Teilnahme am Russlandfeldzug im Bodenpersonal eines Kampfgeschwaders der Luftwaffe, 1942 Beförderung zum Unteroffizier, 1944 zum Feldwebel, Juli 1945 Entlassung aus der Gefangenschaft42. Das eigentlich Unnormale wird schon in den Dokumenten des Jahres 1938, die Wolffs Ordination und seine Einweisung in den „Hilfsdienst“ betreffen, darin augenfällig, dass dort regelmäßig der Begriff der „Kirchengemeinde“ gestrichen und durch den der „Bekenntnisgemeinde“ ersetzt ist. Ausdrücklich wird auch bekundet, dass der Ordinierte „[g]egenüber den Irrlehren der Gegenwart […] die theologische Erklärung der Bekenntnissynode der D.E.K. zu Wuppertal-Barmen vom 29. bis 31. Mai 1934 als für seine Amtsführung massgebend anerkannt“ hat. Die Ordination wurde in der „Notkirche der Bekennenden Gemeinde“ durch Pfarrer Johannes Schlingensiepen (1898–1980), Leiter des Ausbildungsamtes der rheinischen Bekennenden Kirche, nach 1945 maßgebender Oberkirchenrat in Düsseldorf, und Pfarrer Hans Lutze, nach 1945 Superintendent in Solingen, vollzogen43. 1938 hieß der Superintendent Alfred Thieme, er war Deutscher Christ, gehörte sogar der berüchtigten Thüringer Variante dieser Bewegung an44 und tat alles, um dem jungen Vikar und Hilfsprediger das Leben schwer zu machen. Dieser ließ an seiner Haltung von vornherein keinen Zweifel. Schon wenige Wochen nach der Ordination schrieb er einen beschwörenden Brief an einen Pfarrer, der Miene machte, den gesetzlich angeordneten Treueid auf Hitler zu leisten: „Der Eid bedeutet die persönliche Bindung an den Führer unter feierlicher Anrufung Gottes. Somit steht, wo dieser so verstandene Eid geleistet 41  Scherffig (Anm. 22) II, 283. – Zum Ganzen sehr lesenswert: J. Schlingensiepen, Widerstand und verborgene Schuld. Erinnerungen an den Kampf der Bekennenden Kirche (21977); dort 44f. über das „Ausbildungsamt“ und H.W. Wolff. 42  Brief der Ev. Kirchengemeinde Wald 17.9.1946 an den Superintendenten in Solingen (Personalakte Düsseldorf). 43  H. Ueberholz, MEKGR 49 (2000) 215. 44  Ebd. 199.

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wird, der Dienst am Wort (Predigt, Seelsorge, Sakramentsverwaltung) unter der persönlichen Bindung des Pfarrers an den Führer. Das aber ist eine Vermischung von Religion und Politik, wie sie nicht stärker in Erscheinung treten kann. […] Wie können Sie ein Gesetz überhaupt als Kirchengesetz anerkennen, das im Falle der Weigerung mit Entlassung droht? Dieser Punkt allein macht ja das Nein unbedingt erforderlich, weil Sie als Christ gegen ein Kirchenregiment, das die Gewissen brutal tötet, nur protestieren und im Protest leiden können.“45 Eine erste Gelegenheit, gegen den Hilfsprediger vorzugehen, bot sich dem Superintendenten am 12. Juli 1939. An diesem Tag erschien Wolff „auf Vorladung“ beim Arbeitsamt „zwecks Klärung der Arbeitsbuchpflicht“. Nach minutiöser Aufnahme seiner Personalien und seines Werdegangs bestritt er diese Pflicht, da er „Beamtenanwärter der Körperschaft des öfftl. Rechts der evang. Kirche der altpreussischen Union“ sei; „zum 30. September“ laufe seine „Legalisierung beim Rheinischen Konsistorium in Düsseldorf“; sein Gehalt werde „angewiesen durch Herrn Pfr. i.R. Burkhard, Solingen“. Der Superintendent ließ sich das Protokoll sofort vom Arbeitsamt zuleiten und telefonierte mit einem Konsistorialrat in Düsseldorf, der ihn beauftragte, „dem Arbeitsamt mitzuteilen, dass Wolff weder Beamtenanwärter der Körperschaft des öfftl. Rechts der evang. Kirche der altpreussischen Union“ sei, „noch zur Legalisierung beim Rheinischen Konsistorium in Frage“ komme. Tags darauf schob Thieme brieflich die drohende Feststellung nach, es dürfte „für die Zukunft nicht gleichgültig sein, dass Wolff hier einem öffentlichen Amt unwahre Tatsachen [!] berichtet“ habe, „ganz abgesehen von der Amtsanmassung, die in seiner Erklärung“ liege; ferner fragte er, „wie es möglich“ sei, „dass ein ordentlicher Pfarrer Lutze in Solingen illegale Hilfsprediger beschäftigen“ dürfe, und schließlich erklärte er es für „interessant, dass ein pensionierter Pfarrer Burkardt in Solingen als Arbeitgeber von illegalen Hilfspredigern der Bekenntniskirche angegeben wird. Wo bekommt Burkardt die Gelder her? Könnte das ev. mit ungesetzlicher Sammeltätigkeit zusammenhängen?“46 Der Vorgang gehört in die immer schwierigere Lage, in der sich die Bekennende Kirche seit dem sog. Himmler-Erlass von 1937 befand, der verfügte, dass „die von den Organen der sogenannten bekennenden Kirche errichteten Ersatzhochschulen, Arbeitsgemeinschaften und die Lehr-, Studenten- und Prüfungsämter aufgelöst und sämtliche von ihnen veranstalteten theologischen Kurse und Freizeiten verboten“ wurden47. Damit war auch das zweite theologische Examen Hans Walter Wolffs nach dem Maßstab des geltenden öffentlichen Rechts noch ungültiger als schon vorher. Die Sache hatte, wie aus der Thiemeschen Denunziation deutlich wird, auch ihre finanzielle Seite. „Nur 45  Brief an Pfarrer Martin Schreiber, 27.5.1938, bei F.R. Breuer, MEKGR 51 (2002) 306f. 46  Protokoll und Brief in der Düsseldorfer Personalakte. 47  Scherffig II, 209.

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aus den freien Gaben der Mitglieder der bekennenden Gemeinden und auf Grund der Kollekten, die nach einem vom Bruderrat aufgestellten Kollektenplan eingesammelt wurden, konnte die immer noch wachsende Zahl junger ‚illegaler‘ Theologen besoldet werden.“ „Geld und Glaube lagen hier eng beieinander! Die Gestapo hatte das besser verstanden als manche Pfarrer und Gemeindeglieder; sonst hätte sie nicht ein Heer von Beamten eingesetzt, um die Kollekten der BK und ihre Konten zu beschlagnahmen.“48 Den verheirateten jungen Theologen legte die Bekennende Kirche nahe, zu ihrer finanziellen Sicherstellung eine Risiko- und eine Lebensversicherung abzuschließen, deren Prämie zu zwei Dritteln sie, zu einem Drittel die Versicherten trugen; eine Pension konnte das natürlich nicht ersetzen49. Ein verheirateter junger Theologe war seit dem 23. September 1938 auch Hans Walter Wolff; die junge Familie wuchs schnell an, in der Solinger Zeit wurden fünf der acht Kinder geboren. Es muss ihn hart angekommen sein, war aber ein Gebot der Sicherung der Existenz seiner Familie, wenn er wie die allermeisten seiner ähnlich situierten Amtsbrüder die „Legalisierung“ seines zweiten Examens und seines gegenwärtigen Status beantragte. Erfolg hatte er damit noch nicht, wie erhofft, 1938, sondern erst bei einem erneuten Versuch 1942, der ihm noch einmal eine, diesmal „verkürzte“ zweite theologische Prüfung („im ganzen gut“) abnötigte und dazu die Erklärung, dass er „das [rheinische] Konsistorium […] als seine Dienstaufsichtsbehörde anerkennen, den Dienstverkehr ausschließlich über den für ihn zuständigen Sup. leiten und die derzeit geltende staatliche und kirchliche Ordnung achten und wahren wolle“50. Allerdings begegnete man ihm bei der „Nachprüfung“ mit einer „betonten Freundlichkeit“, die ihm geradezu „unangenehm“ war, und es wurde ihm „verspätete Gelegenheit gegeben, deutlich auszusprechen, daß wir dem Konsistorium nicht das Recht zugestehen können, theol. Prüfungen und Ordinationen usw. zu vollziehen“51. Superintendent Thieme hatte seinem Brief an das Konsistorium im Juli 1939 noch einen vervielfältigten Wolffschen Handzettel beigefügt, der die Gemeindeglieder dringend aufforderte, den sonntäglichen Gottesdienst zu besuchen, und zwar den „evangelischen“, „nicht deutschchristlichen“, in der Notkirche. Thieme fragte, „wie dem begegnet werden“ solle, und erhielt aus Düsseldorf die Antwort, in dieser Sache laufe, wie dem Herrn Superintendenten bekannt sei, „zur Zeit eine besondere Beschwerde“52. Weitere Wellen schlug ein „Osterbrief“, den Wolff 1940 „an die Glieder der Bekennenden Gemeinde“ richtete und in dem er fragte: „was wird mit der heranwachsenden Jugend? Soll sie wieder wie unsre heidnischen Vorväter Schicksal und Tod für die 48  W. Scherffig, Junge Theologen im „Dritten Reich“ III (1994) 228.76. 49  Ebd. 141f. 50  Konsistorium Düsseldorf an Oberkirchenrat Berlin 9.4.1942 (Personalakte Düsseldorf). 51  Wolff bei Scherffig III, 352. 52  Brief vom 29.7.1939 (Personalakte Düsseldorf).

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mächtigsten Gewalten ansehen lernen? Wollen wir tatenlos zusehen, daß sie in den Schulen immer weniger und immer falscheres von Christus hört, daß man vor ihren Ohren die Kraft des Auferstandenen lästert und statt dessen unser Blut anpreist, das doch der Sünde und dem Tod unterliegt?“ Der Brief führte zu einem Gerichtsverfahren mit der Anklage, er habe „Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstand einer Erörterung gemacht“ und „die Schul- und Kirchenpolitik des Staates gewollt“ herabgesetzt; als Zeuge trat ein Kriminaloberassistent von der Gestapo auf53. Wolff ließ gegen das Urteil vom 15. November 1941, das auf eine Geldstrafe von 300,– RM erkannte, durch den unerschrockenen BK-Anwalt Dr. Mensing Revision einlegen, zog sie aber wieder zurück und erklärte dem Düsseldorfer Konsistorium im Interesse seiner angestrebten „Legalisierung“, „daß er heute einen derartigen Brief nicht mehr schreiben würde“54. Von Anfang an war er mit Leib und Seele Pfarrer. Im Sommer 1938 schrieb Willy Halstenbach an Karl Immer (den Älteren): „Gestern war Hans Walter Wolff hier; ich freue mich so über den tapferen Jungen. Seine Notkirche wird zu klein. Er ackert seine Gemeinde durch und predigt. Er wächst.“55 Ein bewegendes Zeugnis aus den Kriegsjahren sind die erhaltenen Briefe, die er aus Russland an die Gemeinde Solingen-Wald und an einzelne ihrer Glieder richtete56. Zwölf davon, geschrieben 1941, hat er nach Kriegsende in einem Bändchen „Neue Liebe zur Kirche“ gesammelt herausgegeben57. Mir scheint, dass die Art seiner Seelsorge und vielleicht sein Christentum überhaupt sich in Kürze nicht besser charakterisieren lässt als durch eine Wiedergabe der Überschriften dieser Briefe: I An meine Frau über unser größtes Glück. II An einen Mann im Ruhestande, der sich vom Gemeindeleben zurückziehen möchte, über die Gegenwart Christi in der Kirche. III  An eine Frau, die trotz ihrer Hilfsbereitschaft unter bösem Geschwätz leiden muss, über die Herrlichkeit der Bruderschaft Christi. IV An eine Helferin, die unermüdlich in der Gemeinde arbeitet, über die fröhliche Freiheit zum Dienst. V An einen Kameraden, der sich stark in die Heimat sehnt, über unser Zuhause in der einen allgemeinen Kirche. VI An junge Eheleute, die unter Gottes Wort leben, über die herrliche Aufgabe einer Hausgemeinde heute. VII  An einen Schüler, der lebhaft nach der Kirche fragt, über den Platz der jungen Generation. VIII An einen Mann, der mit ganzer Hingabe für den Gemeindekern arbeitet, über die Aufgabe an „denen draußen“. IX An eine Mutter, die schwer trägt an der Zerrissenheit der Christenheit, über die Notwendigkeit der Spaltungen. X An einen Mann, der Gemeinschaftsbibelstunden hält, über die Freude der Entdeckung der Kirche im benachbarten Lager. XI An eine Ehefrau, die viel Kummer hat, über die 53  20.8.1940 (Personalakte Düsseldorf). 54  Akten in Düsseldorf und Heidelberg. 55  Bei Hendricks (Anm. 8) 72. 56  Im Archiv der Gemeinde. 57  1947 im Verlag Der Rufer.

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Freude der Kirche am Leiden um Christi willen. XII An eine Witwe, die mit ihrer Trauer in der Gemeinde lebt, über die Verbundenheit der kämpfenden und der triumphierenden Kirche. Es bleibt denkwürdig, dass dieser bis an seine Grenzen beanspruchte Mann über das alles hinaus auch noch die Kraft zu produktiver Wissenschaft aufbrachte. Für das halbe Jahr von September 1941 bis März 1942 erwirkte der Kommandeur seiner Kampfgruppe, dessen Vater ein brandenburgischer Bekenntnispfarrer war, für ihn einen „Studienurlaub“, wie er offiziell für solche in Betracht kam, deren wissenschaftliche Arbeit „für das deutsche Volk von hervorragender Bedeutung“ war – doppelt denkwürdig, da es sich mitten im Dritten Reich um eine Dissertation über das Thema „Jesaja 53 im Urchristentum“ handelte. Sie war der theologischen Fakultät zu Halle nach viereinhalb Monaten einzureichen, damit noch sechs Wochen Zeit für die Begutachtung auf der einen, die Vorbereitung auf das Rigorosum auf der anderen Seite blieb. Wolff predigte in diesem halben Jahr allsonntäglich in seiner Solinger Gemeinde und verrichtete die wichtigsten Amtshandlungen, vier Tage der Woche widmete er sich ausschließlich der Dissertation. Für ihr Thema hatte er sich an Julius Schniewind (1883–1948) gewandt, dem als gebürtigem Wuppertaler und wichtigstem Schüler Martin Kählers er sich ähnlich wie seinem Bonner Lehrer H.E. Weber besonders verbunden fühlte; das Erstreferat übernahm aber einmal mehr Ernst Wolf58. Den Nachweis, den die sehr gelehrte Abhandlung für die These unternimmt, Jesus habe sich als den Gottesknecht von Jes 53 verstanden, bezeichnete Rudolf Bultmann lakonisch als „schwerlich gelungen“59, und der Bultmannschüler Käsemann nannte „die Sicherheit des Verfassers zwar beneidenswert, aber keineswegs unangreifbar“60, doch der Käsemannschüler Stuhlmacher entsprach einem Bedürfnis, indem er das von Wolff gründlich überarbeitete Buch als einen „biblisch-theologischen Klassiker“ nach Jahrzehnten noch einmal neu einleitete61. Große Bedeutung gewannen für Wolff damals zwei Alttestamentler, beide ein Jahrzehnt älter als er, die sich am Rande um die Dissertation verdient machten: Gerhard v. Rad in Jena, mit dem er sich beraten konnte, als er mit der Arbeit begann62, und Martin Noth in Königsberg, der, als Wolff schon wieder an der Ostfront war, eine Korrektur las und die Quellenzitate überprüfte63. W.H. Schmidt hat das Verhältnis, wie es sich in der Folgezeit entwickelte, zutreffend so beschrieben: „H.W. Wolff verstand sich eher als Mann der zweiten Generation, fühlte und wusste sich A. Alt, mehr noch M. Noth und vor allem 58  Das Vorstehende nach den Vorworten, die in der 4. Auflage (1984) zusammengestellt sind. 59  Theologie des Neuen Testaments (1953) 311. 60  VF 1949/50 (1952) 201. 61  S.o. Anm. 58, Zitat dort S. 7. 62  Vorwort zur 4. Aufl. 63  Vorwort zur 1. Aufl.

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G. v. Rad […] verbunden, baute auf ihren Erkenntnissen auf und verstand seine Forschungen als Weiterführung von deren Einsichten – allerdings hatten sie immer auch ihren eigenen Akzent.“64 So beglückend es für Wolff und seine Solinger Gemeinde war, dass er ihr nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft im Sommer 1945 unangefochten und ohne die nun überwundene unselige Spaltung dienen konnte – Superintendent Thieme verschwand alsbald in der Versenkung –, trat doch immer öfter und immer dringlicher die Frage an ihn heran, ob er nicht auf die Dauer im Hauptamt als Forscher und Lehrer in die theologische Wissenschaft gehöre65. Schon im Herbst 1945 begann der Reigen derer, die sich um ihn bewarben, mit Bethel, es folgten Göttingen, Berlin und Leipzig; sie offerierten Assistentenstellen, Gast- und Diätendozenturen und eine Professur – nämlich in Leipzig das Extraordinariat, das an der Seite Albrecht Alts der am Kriegsende gefallene Joachim Begrich innegehabt hatte. Wolff weigerte sich beharrlich mit doppelter Begründung: er könne seine Gemeinde nicht verlassen, und – ich zitiere einen Brief an den Göttinger Dekan von 1947 –: mir ist „nicht klar, daß ich zum Lehramt gerufen bin. Bei ernster Selbstprüfung müßte ich es sowohl hinsichtlich meiner wissenschaftlichen Vorarbeiten als auch im Blick auf meine allgemeine Begabung als eine Leichtfertigkeit ansehen, Ihr Anerbieten anzunehmen.“ Aber Göttingen lockte ihn weiter: wie er anderntags an den präsumptiven rheinischen Präses Held schrieb, wäre es „eine unverantwortliche Anmaßung, in Berlin allein das Alte Testament an der Kirchlichen Hochschule vertreten zu müssen. […] Die einzige Möglichkeit wäre tatsächlich, unter der kundigen Anleitung unseres führenden deutschen Alttestamentlers v. Rad [also in Göttingen] allmählich durch ganze Hingabe in diese Aufgabe hineinzuwachsen.“ Dem schob Held, energisch wie er war, einen Riegel vor, indem er nach Göttingen schrieb, die rheinische Kirche könne Wolff nicht freigeben. Das war nicht mehr nur im Interesse Wolffs gedacht, sondern mindestens ebenso sehr in dem der rheinischen Kirche: Held dachte Wolff über kurz oder lang an die Wuppertaler Kirchliche Hochschule zu ziehen, etwa zunächst in Kombination mit dem lutherischen Pfarramt in Elberfeld, das durch Peter Brunners Fortgang nach Heidelberg freigeworden war. Hierzu kam es nicht, wohl aber zu einer Art gleitendem Übergang an die 1945 neugegründete Hochschule, zu der Wolff natürlich von vornherein (und längst vor dieser ihrer neuen Gestalt) in mancherlei Beziehungen stand. 1947 wurde er dort nebenamtlich, 1949 vollamtlich Dozent, 1952 mit dem Titel Professor. Die Gemeinde SolingenWald verabschiedete ihren „geliebten Seelsorger“ in der überfüllten Kirche – nun nicht mehr der Notkirche – und schenkte ihm für seine weitere Tätigkeit originellerweise eine Septuaginta. 64  In: Kontexte. FS H.J. Boecker, hg.v. Th. Wagner u.a. (2008) 278. Ähnlich J. Jeremias in: Alttestamentliche Wissenschaft in Selbstdarstellungen, hg.v. S. Grätz u. B.U. Schipper (2007) 254. 65  Belege für das Folgende im Universitätsarchiv Heidelberg Rep. 57/33–34.

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Für die Kirchliche Hochschule war er, wie sich leicht denken lässt und vielfach bezeugt ist, der ideale Mann. Er tat, nicht zuletzt als langjähriger Ephorus und als Rektor, viel für ihren Aufbau und ihr Ansehen, vor allem aber war er eine tragende Säule ihres Unterrichts- und Studienbetriebs, zu dessen geistlicher und kirchlicher Prägung er viel beitrug. Das schönste Dokument dafür ist sein erfahrungsgesättigter Immatrikulationsvortrag von 1952 über den „Tag des Theologen“, der in unübersehbarer Nähe zu Bonhoeffers „Gemeinsamem Leben“ unter den Überschriften „Schlafen und Wachen“ (mit einer Anmerkung über den Mittagsschlaf!), „Beten und Arbeiten“ und „Einsamkeit und Gemeinsamkeit“ zugleich sehr biblisch und sehr praktisch in theologische Existenz einweist66. Ebenfalls von 1952 datiert ein zweites Propädeutikum, die „erste Anleitung für Studenten eines alttestamentlichen Proseminars“ anhand der Musterexegese eines Hoseatextes mit den Schritten Text, Form, Ort, Wort, Kerygma67. Der Aufsatz möchte, so die erste Anmerkung, „auch die Brüder im Predigtamt erinnern an Freude und Verheißung der Exegese […] und zugleich auf die Notwendigkeit eines umfassenden biblischen Kommentars hinweisen“. Die Notwendigkeit war damals schon auf bestem Wege, in die Wirklichkeit überzugehen. Die Idee hatte Hans-Joachim Kraus (1918–2000), auch er ein Wuppertaler und nachher der schnellste Kommentarschreiber, und 1950 versammelte sich im Verlagshaus des Neukirchener Erziehungsvereins um den Verlagsleiter Johannes Meyer-Stoll und den Direktor des Vereins, Pastor Hans Kirchhoff, ein kleiner Kreis, der das Programm entwarf und Martin Noth als Galionsfigur für das Unternehmen gewann. Die Seele des Ganzen war von Anfang an Wolff, in dessen Leben durch den „Biblischen Kommentar“ nach „Bibelkreis“ und „Bekennender Kirche“ die Abkürzung BK zum dritten Mal Bedeutung bekam. Er achtete auf die Einhaltung des Programms, organisierte die alljährlichen Zusammenkünfte der Mitarbeiter und redigierte, nachdem die Hauptherausgeberschaft auf ihn übergegangen war, unter kräftiger Inanspruchnahme seiner Assistenten die Manuskripte; Noth hatte sich im allgemeinen mehr oder weniger aufs Blättern beschränkt und seinen Assistenten kein einziges Mal herangezogen – worüber dieser gar nicht böse war. Übrigens ist der Biblische Kommentar auch in seiner äußeren Form mit dem Namen Wolff verbunden: Kurt Wolff (1916–2003), Hans Walters jüngerer Bruder, als Schriftkünstler der kongeniale Nachfolger des großen Rudolf Koch, hat die Einbände und Umschläge gestaltet und die Reihe schon dadurch unverwechselbar gemacht68. Als die Gründerväter des Biblischen Kommentars sich versammelten, hatte Hans Walter Wolff gerade seine erste Wuppertaler Hauptvorlesung hinter sich, die Erklärung der zwölf „kleinen“ Propheten, des Dodekaprophetons. An 66  EvTh 12 (1952/53) 231–44, auch in: Wegweisung (1965) 114–33. 67  EvTh 12 (1952/53) 78–104, auch in Ges. Studien 151–81. 68  Über Kurt Wolff (1916–2003): L. Schaumann, Düsseldorf schreibt. 22 Autorenporträts (1981) 106–10.

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diesem Buch aus zwölf Büchern konnte sich wie an kaum einem anderen seine Leidenschaft für die Prophetie bewähren, und so lag es auf der Hand, ihm auch dessen Kommentierung zu übertragen. Sie wurde für dreieinhalb Jahrzehnte sein Hauptgeschäft. Fortan hatte man immer den Eindruck, dass er nicht nur im 20. Jahrhundert lebte, sondern auch in der Zeit des Propheten, mit dem er gerade beschäftigt war, wobei er es allerdings darauf absah, die beiden Zeiten miteinander in Beziehung zu bringen, genauer: den jeweiligen Text für die gegenwärtige christliche Verkündigung zu erschließen. Das geschah innerhalb des Kommentars im Abschnitt „Ziel“ (statt 1952 „Kerygma“) am Ende jeder „Perikope“ und geschah außerhalb des Kommentars mündlich und schriftlich in einer Unzahl von Predigten, Bibelstunden, Meditationen und sonstigen Arbeiten, die sich natürlich nicht auf das Dodekapropheton beschränkten und durch die er vom Kirchentag bis zum mit besonderer Liebe gepflegten Hauskreis landauf landab eine breitere und tiefere Wirkung ausübte als die allermeisten seiner Kollegen. Was die Wissenschaft angeht, entlastete er die Kommentare vorab durch Aufsätze und Monographien, die seine Thesen begründeten und zur Diskussion stellten. Die Hauptsache sollten sie nicht sein, denn, so das erste Vorwort, „im Sinne unserer besten Ausleger sollte jegliche Bemühung dem Verstehen des Textes selbst dienen und nicht übergeordneten wissenschaftlichen Problemen und Hypothesen, die sich leicht in den Vordergrund spielen“. Nicht nur die Fülle anderer Aufgaben, die Wolff zu bewältigen hatte, sondern auch die Intensität, mit der er sich jedem seiner Propheten widmete, brachte es mit sich, dass der Kommentar im Unterschied zu dem ähnlich dimensionierten Parallelwerk des Münsteraners W. Rudolph69 ein Torso blieb: wir müssen Wolffs Erklärung der Bücher Nahum, Habakuk, Zephanja, Sacharja und Maleachi und dazu, in der heutigen Diskussion besonders schmerzlich, die Einleitung zum ganzen Dodekapropheton entbehren. Immerhin: fünf Bände liegen vor, und die RGG70 steht mit dem Urteil nicht allein, dass sie „neben W. Zimmerlis Ez-Komm. die wichtigsten Prophetenauslegungen des 20. Jh.“ darstellen. Die Zusammenstellung mit Zimmerli hätte Wolff gefreut: bei aller oberflächlichen Verschiedenheit des schweizerischen und des rheinischen Temperaments stand er ihm unter den etwa gleichaltrigen Fachgenossen persönlich und sachlich am nächsten. Bevor er sich der Arbeit am ersten Buch des Dodekapropheton, Hosea, zuwandte – sie sollte ein ganzes Jahrzehnt beanspruchen –, ließ Wolff eine kurze Auslegung des vorletzten Buches, Haggai, hinausgehen. Sie wandte sich an „die Studenten, die sich im letzten Winter [1949/50] mein erstes größeres Exegeticum gefallen ließen, die Brüder im Pfarramt und alle diejenigen, die in Schule und Gemeinde mit uns keine Mühe scheuen möchten, um genau zu hören, was der biblische Text ursprünglich meint, weil wir nur so 69  S.o. 743f. 70  S.o. Anm. 16.

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erfahren, was Gottes Wort uns sagt“71. Dieser äußersten Abbreviatur seiner Hermeneutik ließ er mehrere ausführlichere Darlegungen folgen, eher thesenartig in den „Alttestamentlichen Predigten mit hermeneutischen Erwägungen“, breit in dem großen Aufsatz „Zur Hermeneutik des Alten Testaments“ – beide 1956, als der Begriff der Hermeneutik in aller Munde war und kurz bevor der Streit darüber auf dem Gebiet des Alten Testaments durch Gerhard v. Rads „Theologie“ seinen Höhepunkt erreichte72. v. Rads Hauptgegner Friedrich Baumgärtel (1888–1981) war bereits in Wolffs Aufsatz von 1956 der wichtigste Gesprächspartner, und Baumgärtels Schüler Franz Hesse (1917–2013) nahm mit zehnjähriger Verzögerung die Haggai-Auslegung Wolffs zum Anlass einer scharfen Auseinandersetzung mit der Barth-Wolffschen „Tendenz, das christologische Moment in den Mittelpunkt zu stellen“, und mit der von Wolff geteilten Beschränkung der „sog. kerygmatischen Theologie“ darauf, „dem Zeugnis des Alten Testamentes nachzugehen und seinen Anredecharakter auch für den Menschen unserer Tage herauszustellen“, ohne ernstlich zu fragen, ob die „Fakten, die dem Kerygma das Gepräge geben, wirkliche Fakten im geschichtlichen Sinne sind“73. Indem Hesse mit Wolff stritt, stritt er zu einem guten Teil mit seiner eigenen Herkunft: auch er war ein Wuppertaler, Sohn eines Barth nahestehenden gelehrten reformierten Bekenntnispfarrers74, aber seinerseits im Dissens mit der väterlichen „Barmen-Orthodoxie“ zu den Erlanger Lutheranern Althaus, Elert und Baumgärtel übergewechselt; auf deren Linie und immer mehr auch mit Argumenten der Bultmann-Schule kritisierte er redlich und beharrlich, was ihm auf der Gegenseite als Überbewertung des Alten Testaments in Theologie und Kirche erschien75. Anfang der sechziger Jahre kam es irgendwo zu einer öffentlichen Diskussion, bei der Wolff überrascht war, wie viele Zugeständnisse Hesse ihm machte. Unversöhnlicher war der Widerspruch, der sich auf pietistischer Seite gegen Wolffs Behandlung eines weiteren „kleinen“ Prophetenbuchs, nämlich Jona, als Novelle76 erhob und ihm „eine glaubenzerstörende Demontage der Bibel“ vorwarf. Er gab ihm Gelegenheit, die historisch-kritische Bibelwissenschaft als „eine unentbehrliche Hilfe für den Zeugen“ zu verteidigen, wobei er sich aber nicht nur gegen die „orthodoxen Altpietisten“, sondern – es war seine Mainzer Zeit – über jenes strittige 71  Haggai (1951), Vorwort (September 1950). 72  S.u. 817f. 73  F. Hesse, Haggai, in: Verbannung und Heimkehr, FS W. Rudolph, hg.v. A. Kuschke (1961) 109–34, Zitate 130f. 74  Zu Vater Hesse: G. Abrath, Subjekt und Milieu im NS-Staat. Die Tagebücher des Pfarrers Hermann Klugkist Hesse (1994). 75  Vgl. nach dem Haggai-Aufsatz besonders Das Alte Testament in der christlichen Kirche (1966); Abschied von der Heilsgeschichte (1971). 76  In: Ist die Bibel Gotteswort oder Menschenwort (zusammen mit J. Moltmann und R. Bohren, 1959) 9–35.

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Problem hinaus auch gegen die ihm von Hause aus noch weniger sympathischen „pietistischen Existentialisten“ wandte77. In seiner eigenen Hermeneutik relativierte er den – von ihm natürlich nicht geleugneten – doppelten Zusammenhang des Alten Testaments mit dem Alten Orient einerseits, dem Judentum andererseits, um desto mehr den mit dem Neuen Testament fruchtbar zu machen. Hier allerdings lehnte er die „Textvergewaltigung“ durch „textfremde Einheitsfragen“ ab, wie: „was sagt der Text vom Amt Christi [Vischer]? oder: inwiefern klärt er als ein Stück des Gesetzes den Gegensatz zum Evangelium [Hirsch]? oder: bietet er ‚Verheißung in Christus‘ [Baumgärtel]?“78 Seinerseits erstrebte er eine Auslegungsmethodik, „die mit allen verfügbaren Mitteln den Text in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu verstehen sucht und bemüht ist, willkürliche Deutungen auszuschalten“79. Zum geschichtlichen Zusammenhang gehört aber unabdingbar als sein „Telos“ das Neue Testament; als solches bietet es „die Analogie eines auf Geschichtsfakten bezogenen Glaubenszeugnisses von dem Bundeswillen Gottes, der sich inmitten der Welt ein Volk erwählt und es zur Freiheit unter seiner Herrschaft beruft. Diese Analogie in geschichtlich einmaliger Relation, die nicht ohne ein entscheidendes Moment der Steigerung bis zum Eschaton ist, nennen wir“, so Wolff, „Typologie“80, und er legt Wert darauf, „daß die Typologie Hilfe im Ansatz und Vollzug geschichtlichen Verstehens wird, und nicht erst meditierenden Schlußbetrachtungen dienen soll“81. So ist denn auch in Wolffs Kommentaren der Abschnitt „Ziel“, der am Ende der Erklärung jeder „kerygmatischen Einheit“ „bis an jene Stelle zu führen“ sucht, „an der das prophetische Wort das Ereignis Jesus Christus als Wort Gottes heute verdeutlicht“, immer sehr sorgfältig mit den vorausgehenden Abschnitten verzahnt; „der Weg vom Kommentar zur Kanzel“ ist dann wiederum eine Sache für sich, aber in Wolffs Augen eine unbedingt notwendige, für die er die Leser der Kommentare auf seine gedruckten Predigten verweist82. Neben dieser theologischen Ausrichtung ist aus der Sicht heutiger Prophetenforschung für Wolffs Kommentare charakteristisch, wie sehr sie (noch?) an der Verkündigung der einzelnen Propheten interessiert sind, deren Namen die Bücher tragen. Von Hosea (1961) bis Haggai (1986) glaubt Wolff sie besonders in „Auftrittsskizzen“ fassen zu können, die nachträglich vom Propheten selbst oder einem Schüler aufgezeichnet wurden83. Größeren Einfluss gewannen die redaktionsgeschichtlichen Analysen und Synthesen, die auf ihrem Höhepunkt bei Micha (1982) die Erkenntnis anbahnten, dass wir dort geradezu ein 77  KiZ 10 (1961) 45–48. 78  Ges. Studien 252. 79  Ebd. 255. 80  Ebd. 270f. 81  Ebd. 275. 82  Das Vorstehende nach dem Vorwort zum Hoseakommentar (1961). 83  Vgl. etwa Hosea XXV, 93; Haggai 17 u.ö.

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„Kompendium der Prophetie“ vor uns haben84. Schon vorher war in dieser Richtung der Amoskommentar (1969) mit der exakten Herauspräparierung einer sechsstufigen Entstehungsgeschichte von den „Worten des Amos“ über die „Zyklenniederschrift“, die „alte Amosschule“, die „Bethel-Interpretation“ und die deuteronomistische Redaktion bis zur „nachexilischen Heilseschatologie“ wegweisend. Er machte, recht verstanden, nicht weniger dadurch Epoche, dass er gegenüber damals verbreiteten Nivellierungstendenzen im Blick auf Amos „auf der ganzen Linie“ dem Satz Wellhausens Recht gab, das Credo der Propheten stehe in keinem Buche85. Das „Nein des Amos“ erhielt durch diesen Kommentar, wie überhaupt die ältere Prophetie durch die gesamte Arbeit Hans Walter Wolffs, viel von der „Härte“86 zurück, die ihr in der Forschung der Jahrhundertmitte verloren zu gehen drohte87. Dass er bei aller Leidenschaft für die Prophetie keinen „Prophetomonismus“ betrieb, zeigte er – um beim Beispiel dieses Propheten zu bleiben –, indem er dem Amos in der altisraelitischen „Sippenweisheit“ eine „geistige Heimat“ zu verschaffen unternahm88 und sich auch sonst für die verschiedenen Möglichkeiten nichtprophetischer Verkündigung interessierte89, zeigte er aber auch in seinen stets anregenden und ergiebigen Versuchen zur Bestimmung des „Kerygmas“ der Erzählungswerke des Deuteronomisten, des Jahwisten und des „Elohisten“90 und zeigte er besonders wirkungsvoll in seinen beiden in viele Sprachen übersetzten Bestsellern „Bibel: das Alte Testament: eine Einführung in seine Schriften und in die Methoden ihrer Erforschung“ (1970) und „Anthropologie des Alten Testaments“ (1973). Verlegerischen Wünschen nach einer Theologie des Alten Testaments gab er nicht nach, was angesichts seiner großen Nähe zur Konzeption Gerhard v. Rads vermutlich weise war, obwohl bei ihm, in dieser Disziplin nicht alltäglich, wissenschaftliche Seriosität und didaktisches Geschick in hohem Ausmaß zusammentrafen. Bedauern mag man, dass er auf seinen Jugendplan einer „Homiletik der alttestamentlichen Schriftprophetie“ nicht zurückgekommen ist. Der Kairos ist vorüber, aber wer weiß, vielleicht kehrt er eines Tages wieder? 84  J. Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha (2007) VII. Jeremias’ Kommentierungen, zunächst die zu Hosea und Amos, führen die seines Lehrers kongenial weiter und machen dabei indirekt auf deren Stärken und Schwächen aufmerksam. Sehr kompetent ist Jeremias’ Darstellung von Wolffs Arbeit an den Propheten in dem Sammelband „Neu aufbrechen, den Menschen zu suchen und zu erkennen“. Symposium anlässlich des 100. Geburtstages von H.W. Wolff, hg.v. J.Ch. Gertz u. M. Oeming (2013) 61–76. 85  Wolff, Amos’ geistige Heimat (1964) 60; vgl. Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels (61905) 398. 86  Jeremias (Anm. 84) 73f. 87  Vgl. dazu besonders die Aufsätze über das „Thema ‚Umkehr‘“ (Ges. Studien 130–50) und die eigentliche Botschaft der klassischen Propheten (Studien zur Prophetie, 1987, 39–49). 88  S.o. Anm. 85. 89  Vgl. Studien zur Prophetie (1987) 92. 90  Ges. Studien (21973) 308–24.345–73.402–17; dazu Th. Römer in: „Neu aufbrechen …“ (Anm. 84) 41–59.

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Das Vorwort zum Hoseakommentar, aus dem Juni 1961, ist schon nicht mehr in Wuppertal, sondern in Mainz unterschrieben, wo sich Wolff seit 1959 befand. Es war der erste reguläre Ruf an eine Universität gewesen: zwar hatte ihn bereits 1949 die Bonner Fakultät an die erste Stelle einer Berufungsliste für ein neues Extraordinariat gesetzt, woraufhin die nordrhein-westfälische Kultusministerin Christine Teusch ihn offiziell fragte, ob er einen Ruf annehmen würde; aber so sehr ihn namentlich die Zusammenarbeit mit Martin Noth lockte, musste er doch absagen; er konnte, das machte ihm die Kirchenleitung unmissverständlich klar, Wuppertal nicht so schnell wieder verlassen91. Gleichwohl dürfte er seit seiner Göttinger Studienzeit eine entschiedene Neigung zur Universität gehabt haben: 1935, beim Antritt seines Theologiestudentenamtes, als die Gründung der Kirchlichen Hochschule in Elberfeld versucht wurde, bedauerte er offen „die an der KiHo engagierten Studenten, daß sie jetzt die ‚Universitas‘ missen müßten (‚und das ist nichts Geringes!‘), und warb nicht für Elberfeld“92. Ein praktischer Nachteil der Kirchlichen Hochschule war dann, dass sie noch kein Promotionsrecht hatte, wodurch mehrere Wolff-Schüler anderswo, vorab in Bonn, promoviert werden mussten93. Aber 1958 wurde der Mainzer Ordinarius Friedrich Horst durch schwere Krankheit vorzeitig dienstunfähig. Er wünschte sich dringend seinen alten Bonner Hörer, Stiftsinsassen und Mitkämpfer Wolff, den „HaWaWo“, wie er ihn nannte, zum Nachfolger und drang damit sogar bei der rheinischen Kirche durch. Bis zu Horsts Tod 1962 hatten beide noch eine harmonische Arbeitsgemeinschaft, Wolffs Würdigungen des Verstorbenen94 zeugen von Verehrung und Sympathie. Weniger glücklich war er mit der Mehrheitsgruppe in der Mainzer Fakultät, den „Sprachereigneten“, wie er sagte, und ihrer „Holzhacker-Theologie“95. 91  Vgl. H. Faulenbach, Die Evangelisch-Theologische Fakultät Bonn (2009) 140f. 92  Scherffig (Anm. 22) II, 88. 93 Aufschlussreiche Erinnerungen aus Wolffs Schülerkreis enthält der Band „Alttestamentliche Wissenschaft in Selbstdarstellungen“ (s. Anm. 64): K.Baltzer (91), H.J. Boecker (105f.), E. Gerstenberger (142–46), W.H. Schmidt (200–03), F. Crüsemann (236f.), J. Jeremias (254f.); vgl. auch W.H. Schmidt in: Kontexte. FS H.J. Boecker (2008) 273–82. 94  S.o. Anm. 27. 95  Brief an E. Wolf 22.10.1966 (Universitätsarchiv Heidelberg, Rep. 57/33). – Hier soll auch die Gegenseite das Wort haben. Nach W. Schottroff (Das Reich Gottes und der Menschen, 1991, 213) sind Wolff und Herbert Braun (Gott „das Woher meines Umgetriebenseins“) „in Mainz Antipoden gewesen und haben den in ihrer unterschiedlichen Theologie und Lebensweise begründeten Konflikt auf ihre Weise ausgetragen. Beispielsweise begann der von missionarischem Eifer beseelte und ganz auf die Bekehrung seines von ihm als gottlos angesehenen Kontrahenten Braun ausgerichtete Alttestamentler Wolff in der Zeit seines Dekanats jede Fakultätssitzung mit einer von Mal zu Mal länger werdenden Andacht. Herbert Braun dagegen, der in den Fakultätssitzungen ein ganz und gar profanes Geschäft sah, brachte schließlich, als ihm die Frömmigkeitsübungen zu weit gingen, ein Buch mit, schlug es auf, zündete seine Pfeife an und saß da, in seine Lektüre vertieft und ostentativ dicke Rauchwolken ausstoßend, bis die Andacht ihr Ende gefunden hatte. Die nächsten Fakultätssitzungen begannen dann ohne Andacht.“

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Zunächst hielt er es für seine Pflicht, auf dem Posten zu bleiben, um, wie er offiziell erklärte, „das Gespräch der verschiedenen theologischen Richtungen zu fördern im ernsthaften Fragen nach der uns alle bindenden Wahrheit“ – so an den Mainzer Dekan 1961 zur Begründung der Ablehnung eines Rufs nach Basel96, für die in Wahrheit eher die Sparsamkeit des Basler Erziehungsdepartements den Ausschlag gegeben hatte. Sehr ernsthaft, aber wiederum schließlich mit negativem Ergebnis, erwog er 1964 einen Ruf nach Münster, doch als 1966 sowohl München als auch Heidelberg auf ihn zukamen, war klar, dass er an einen dieser Orte gehen würde. Zunächst bot nur München die beiden Assistentenstellen, die er für Lothar Perlitt und Jörg Jeremias haben wollte, doch als das Stuttgarter Ministerium in dieser Sache gleichzog, waren die Würfel schon fast gefallen. Als heimlichen Hauptgrund für Heidelberg nannte Wolff privatim die Aussicht auf „das immer ganz einzigartig anziehende Gespräch mit von Rad“97 – eine Aussicht, die noch verschönert wurde durch v. Rads Mitteilung, dass in seiner unmittelbaren Nachbarschaft ein Haus mit Garten leer stand, Rolloßweg 19 neben Amselgasse 15. Über den Heidelberger Wolff müsste ein Heidelberger berichten: über den begeisterten und begeisternden Lehrer, den Prediger, Seelsorger und Berater, Antreiber und Vermittler, Dekan und Kollegen, Gastgeber und, last not least, Familienvater – dies alles und noch manches mehr in einer Zeit, über die er im Vorwort zu seiner „Anthropologie“ schrieb: „Wie wurden Menschen […] aufgestört!“ Es entsprach seinem Temperament, vor allem aber seiner Auffassung von der Sache, in deren Dienst er sich wusste, dass auch er selbst „aufstören“ konnte. Berühmt wurde seine Amos-Predigt am 26. November 1967, in der er der Gemeinde unversehens erklärte: „Ich könnte diese Predigt jetzt beschließen, indem ich vor euren Augen mein Beffchen abbinde, meinen Talar aufknöpfe, ihn hier auf der Kanzel ausziehe und in zwölf Stücke zerreiße, wie einst Ahia von Silo zum Zeichen, daß dem Hause Salomo nur ein Stamm bleiben soll, daß also der Anhang Jerusalems dezimiert wird; ich könnte die Fetzen vor eure Füße flattern lassen.“98 Er tat es nicht, obwohl die Gemeinde den Atem anhielt und Gerhard von Rad seine Tochter am Arm fasste und ihr zuflüsterte: „Du, der ist imstand!“, sondern begnügte sich mit der Erklärung, jeder habe „seine abgöttisch geliebten Traditionen und Gewohnheiten zu zerreißen“99. Als in den folgenden Monaten und Jahren allenthalben und so auch in Heidelberg Traditionen und Gewohnheiten und Wichtigeres zerrissen wurden, ließ sich Wolff nicht bedingungslos auf eine der beiden auch in seiner nächsten Umgebung manchmal unversöhnlich einander gegenüberstehenden Seiten ziehen, sondern suchte unverdrossen das Gespräch, glich geschickt aus, wo 96  Brief an M. Schmidt 17.4.1961 (ebd.). 97  An E. Wolf (Anm. 95). 98  Die Stunde des Amos (1969) 167. 99 Ebd.

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es anging, und bewahrte dabei Vernunft, Anstand und Würde. Statt dafür viele Zeugen anzuführen, beschränke ich mich auf ein einziges Beispiel, eine typische Situation, über die er am 17. Mai 1968 in einem Brief an den ortsabwesenden G. v. Rad selbst berichtet hat; der Bericht lässt auch seine politische Grundhaltung erkennen: „Der Asta hatte zu einem allgemeinen teach in aufgerufen mit der Aufforderung: besetzt am 15. Mai die Neue Universität.“ „Den tumultuarischen Streikaufrufen des Asta und des SDS hatte der Rektor geschickt eine Einladung zur Information über die Notstandsgesetze durch die vier Staatsrechtler im 13 von 11 bis 13 Uhr an die Seite gestellt.“ „Wie vor der Universität, so befanden sich vor meinem Hörsaal 13 allerlei Streikposten. Ich ging gelassen und einigermaßen erheitert hindurch, fragte vor den Türen meines Hörsaals, wer noch hinein möchte und schloß dann die Türen hinter mir. Etwa die Hälfte meiner Hörer hatten die Streikposten passiert und saßen erwartungsbereit dort, vielleicht 150 Studenten. Dazu hatte sich eine Gruppe von Streikposten auf den ersten Plätzen und in der Nähe des Katheders stehend eingefunden, die im wesentlichen nach SDS aussahen. Ich bat sie Platz zu nehmen. Die meisten folgten zögernd und etwas verlegen, bis schließlich noch ein Hüne demonstrativ dicht neben mir, dem Volk zugewandt, stehenblieb. Ich forderte dann auch ihn freundlich auf, es sich doch bequem zu machen und wenigstens auf einem der vorderen Klappsitze Platz zu nehmen. Das tat er dann auch, während gleichzeitig Finger aus der Gruppe der Streikposten hochgingen. Ich bat sie, mich zunächst einiges erklären zu lassen. Dem beugten sie sich. Dann erklärte ich, daß ich mich freue, wenigstens mit einem Teil meiner Hörer, trotz allem auch in dieser Stunde, zusammen sein zu können. Ich möchte ihnen dreierlei erklären. Zum ersten führte ich kurz die Gründe meiner Stellung gegen die Notstandsgesetze aus, in betonter Anlehnung an Heinemann’s Argumentation für seinen Austritt aus dem ersten Kabinett Adenauer. Wie wir ohne Friedensvertrag nicht wieder hätten aufrüsten dürfen, so müsse auch die Notstandsvorsorge Sache der Alliierten sein. Nach der Schuld, die Deutschland im zweiten Weltkrieg über zahllose Völker gebracht habe, bestehe das einzige Lebensrecht der Überlebenden darin, entschieden und ausschließlich für den Frieden in der Welt zu arbeiten. Die politische Arbeit für den besseren Frieden müsse die entscheidende politische Lebensfrage für uns sein. Natürlich viel Beifall, aber auch etwas Zischen. Dann ging ich zum zweiten ausführlicheren Teil über. In der gegenwärtigen Lage müßten wir vor allen Dingen für den Frieden unter uns einiges tun. Die überhitzte Situation an der Universität sei nicht geeignet, Früchte für die Zukunft gedeihen zu lassen. In der gegenwärtigen Lage müsse angestrebt werden, ein Maximum an Argumentation, die Agitation müsse aber auf ein Minimum herabgeschraubt werden. Ich erlaubte mir dann einige scharfe Bemerkungen, mit deutlicher Blickrichtung auf meine Streikposten. Ich sei durchaus nicht sicher, daß dieser Streik dem Willen der Mehrheit der Studentenschaft entspreche. Ja, ich müsse feststellen,

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in der Studentenschaft sei die Demokratisierung am tiefsten unterentwickelt. Es könne doch an den demokratischen Ordnungen etwas nicht stimmen, wenn ein Mann wie [N.N.100], ich nannte den Namen, in seiner Fachschaft nur das Vertrauen einer Minderheit gefunden habe und dieser Mann dann Sprecher der gesamten Studentenschaft würde. Ich könne auch nicht verstehen, daß Fachschaftsbeschlüsse rechtskräftig seien, wenn nur ein Bruchteil der Fachschaftsangehörigen anwesend sei. Eine Fakultät werde beschlußunfähig wie die meisten anderen demokratischen Gremien, wenn nicht wenigstens die Hälfte anwesend seien. Ich hielte es für eine entscheidende, den Frieden unter uns fördernde Aufgabe, undemokratisches und rein agitatorisches Verfahren unter uns abzubauen. Ich begrüße es deshalb, daß der Rektor in diesem Hörsaal in den nächsten beiden Stunden eine Information über die Notstandsgesetzgebung durch Fachvertreter durchführen lasse. Zu meiner Überraschung gab es auch hier viel mehr Beifall als Zischen, obwohl ich mir zur unterentwickelten Demokratisierung auf studentischer Ebene noch die Bemerkung erlaubt hatte, daß bei einer wünschenswerten Wahlpflicht bei den Wahlen zum Studentenparlament die Vertretung der Studentenschaft ganz anders zusammengesetzt sein würde. Zum Dritten machte ich noch einige Bemerkungen zur Unterscheidung von außer- und antiparlamentarischer Opposition. Ich griff Heinemann’s Bemerkungen aus der vorigen Woche von seiner siebenjährigen Zugehörigkeit zur außerparlamentarischen Opposition auf. Ich brachte einige Beispiele für einschneidende Veränderungen an den früheren Gesetzen durch die Arbeit des letzten Jahres und der letzten Wochen. Dabei stellte ich das erklärte Ziel heraus, die freiheitliche Ordnung auch im Notstand zu bewahren. Arbeit und Ziele auch des politischen Gegners müßten respektiert werden. Diese einfache demokratische Regel werde leider in der gegenwärtig überhitzten Atmosphäre allzu häufig übertreten. Wir müßten es lernen, uns rechtlich zustande gekommenen Entscheidungen auch dann zu beugen, wenn sie unserer Meinung als Minderheit nicht entsprechen, allerdings nur so lange sie uns nicht zu Handlungen nötige, die wir aus Gewissensgründen verweigern müßten. So ähnlich stotterte ich mein Sprüchlein, während zwischendurch immer mehr Studenten in den Hörsaal hineinfluteten. Einige Minuten, bevor ich meine drei Punkte beendet hatte, war eine Gruppe von Studenten mit riesigen Plakaten hinein gekommen, die, wie sich später herausstellte, in unflätigster Weise den Rektor und die Juristen, die nachher hier sprechen sollten, angriffen. Mit freundlichen aber deutlicher Gesten bat ich sie, uns wenigstens noch zehn Minuten in Ruhe zu lassen. Ich würde wegen des Andrangs der nachfolgenden Veranstaltung ohnehin meine Stunde zehn Minuten früher beenden. Aber schon um viertel vor war kein Halten mehr. Ich hatte geschlossen, wollte dann noch gern zu meiner Vorlesung übergehen, aber es war undenkbar, da in dem 100  Im Brief steht der volle Name.

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Augenblick als ich endete und ein Student noch das Wort nehmen wollte, beide Türen breit aufgingen und die Massen hineinfluteten. Doch damit Schluß mit dem garstigen politischen Lied, das Du ohnehin nicht hören magst. Was hättest Du getan?“101 Kaum war die heißeste Phase der Universitätskonflikte zu Ende, da traf Wolff eine „Aufstörung“ ganz anderer Art: noch einmal, oder wieder einmal, griff die rheinische Kirche nach ihm. Zum 1. Juli 1971 trat ihr zweiter Nachkriegspräses Joachim Beckmann in den Ruhestand, und es galt, einen Nachfolger in diesem schon von der Verfassung her sehr mächtigen Amt zu wählen. Im März ersah ein Nominierungsausschuss als die beiden evidentesten Kandidaten die Professoren Thielicke in Hamburg und Wolff in Heidelberg, die beiden ehemaligen Nachhilfelehrer im Haus Halstenbach. Eine nie publizierte und, wie es scheint102, auch in den offiziellen Akten nicht festgehaltene erste Probeabstimmung ergab 27:2 Stimmen für Wolff und 16:15 für Thielicke, worauf der Ausschuss die einstimmige Bitte an Wolff richtete, für das Amt zu kandidieren. Aber auch ein Schwall von Briefen, Telefonaten und Besuchen konnte ihn nicht in seiner schon vorher geäußerten ablehnenden Haltung irremachen. Ihm war klar, dass ein Ja das Ende seiner wissenschaftlichen Arbeit am Alten Testament bedeutet hätte; „er will lieber lehren als leiten“, berichtete der „Spiegel“, der von der Sache erfahren hatte103. Bei der Wahl durch die Synode im Juni war Thielicke im ersten Wahlgang wieder oder noch dabei, im zweiten gewann der Wolff nächste Kandidat, nämlich sein Schwager Karl Immer, mit 142 gegen den Bonhoeffer-Biographen Eberhard Bethge mit 113 Stimmen. Der literarische Ertrag der Heidelberger Jahre war reich. Vier der fünf Bände zum Dodekapropheton wurden abgeschlossen, als letzter 1986 Haggai, womit Wolff zu dem Propheten zurückkehrte, den er einst als ersten gesondert behandelt hatte. Eine besondere Freude war es ihm, in der Kommentierung des Jona über seine „Studien zum Jonabuch“ (1965) hinauszukommen, indem er, amerikanische Arbeiten nutzend, in diesem Text mehrere Spielarten des Humors dingfest machte und dabei zu dem Satz gelangte: „Die Erweckung zum Lachen wird zum Gnadenmittel der Freundlichkeit Gottes.“104 Er selbst konnte, das sei hier bemerkt, sehr herzlich lachen, sogar bei der Lektüre wissenschaftlicher Bücher105. Den (Obadja-) Jonakommentar (1977) versah er mit der schönen Widmung: „In der Hoffnung für Jonas und alle meine Enkelkinder 101  Universitätsarchiv Heidelberg Rep. 57/26 (Durchschlag). 102  Nach Auskunft des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland. Vgl. aber Wolffs Brief an den Heidelberger Rektor vom 26.3.1971 in der dortigen Personalakte und seinen im Nachlass (Rep. 57/4) aufbewahrten Briefwechsel mit Superintendent Johannes Fach in Gummersbach, dem Vorsitzenden des Nominierungsausschusses. 103  10.5.1971, 78 (nicht in allem zutreffend). 104  Studien zur Prophetie (1987) 128. 105  „Noch was Schönes: Heute bin ich mit dem Gutachten zu Perlitts ‚Bundestheologie‘ fertig geworden. Bei kaum einem Buch bin ich so oft in schallendes Gelächter ausgebrochen. Gelehrte Heiterkeit ist Mangelware.“ (Brief an R. S. 22.5.1969).

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auf ihrer Lebensfahrt zur See und nach Ninive“. Den Michakommentar (1982) bereitete er, auf die Emeritierung zugehend, durch „die ungewöhnlichste Lehrveranstaltung [s]einer Hochschulpraxis“ vor: „ein sechsstündiges Forschungsseminar, zu dem sich zweimal wöchentlich für je drei frühe Morgenstunden zwanzig Studenten um das Buch des Propheten Micha zusammenfanden – eine inspirierende Studiengemeinschaft“. Im Anschluss daran machte er ein Jahr lang die Texte dieses Buches zum Gegenstand aller Vorträge und anderen Veranstaltungen, zu denen er eingeladen wurde, und zwar in zwei Reihen: in der einen legte er fortlaufend das Buch aus, in der anderen nahm er den Ausgangspunkt bei aktuellen Problemen und beleuchtete sie dann von den Prophetenworten her; dabei wurde er – es war das wiederum „heiße“ Jahr 1977 – sehr konkret und redete niemandem nach dem Mund106. Auch ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der Kommentararbeit fuhr er fort, aus gegebenem Anlass Prophetentexte zum Reden zu bringen. Zwei Beispiele: 1980 trug er auf der rheinischen Synode, die den bekannten Beschluss „zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ fasste, die einleitende Bibelarbeit über Jer 31,31– 34 vor, wobei ihm über die Exegese hinaus an einem „Hinweis“ und einem „Anstoß“ gelegen war. Der „Hinweis“: er fand es „mehr verwirrend als hilfreich […], wenn der Ausschuß Juden und Christen sich scheut, von der Heiligen Schrift des Alten Testaments zu sprechen und stattdessen von ‚Schriften Israels‘ und von ‚Hebräischer Bibel‘ redet. Kein Jude erwartet das von uns – das haben wir gestern beglückend eindeutig [im Vortrag von R.J. Zvi Werblonsky] gehört.“ Der Anstoß: „Würde unser Gespräch zwischen Juden und Christen nicht einen guten Schritt vorwärts kommen, wenn wir nicht nur Tora und Talmud auf der einen Seite, Jesus und Neues Testament auf der anderen Seite stehen ließen, sondern wenn wir den eschatologischen Umbruch der Prophetie – ich habe gestern gespannt auf den Moment gewartet, wo ein Lichtblick aus der Prophetie in den Saal gefallen wäre –, wenn wir die Prophetie miteinander bedenken würden?“107 Und 1984 widerlegte er in einem Münchener Vortrag den Vorwurf, die Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ in der „Friedensbewegung“ bedeute den Missbrauch eines Prophetenwortes, mit einer genauen Erörterung von Joel 4,9–12, Jes 2,2–5 und Mi 4,1–5 im alt- und neutestamentlichen Zusammenhang108. Der tiefste Einschnitt in Wolffs Leben war der Tod seiner Frau 1979. Davor hatte er sich, 1978, vorzeitig emeritieren lassen, danach erkrankte er, aber er gewann wieder die Kraft, trotz mancher Müdigkeit gemeinsam mit seiner zweiten Frau (aus einem anderen Haus Halstenbach) zu tun, was die Heidelberger theologische Fakultät 2011 in der Einladung zur Feier seines hundertsten Geburtstags nannte: „Neu aufbrechen, den Menschen zu suchen 106  Vgl. Mit Micha reden. Prophetie einst und heute (1978) 9. 107  Handreichung für Mitglieder der Landessynode Nr. 39 (1980) 44–55, Zitate 53.55. 108  EvTheol 44 (1984) 280–92, auch in: Studien zur Prophetie (1987) 93–108.

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und zu erkennen“. Der nächsten und der übernächsten Generation in seiner Wissenschaft begegnete er ohne Überheblichkeit und Besserwisserei, aber in dem gelassenen Bewusstsein, dass das, was seine eigene Generation erarbeitet hatte, nicht durchweg so falsch war, wie es jetzt hingestellt wurde. „Nach einem erfüllten Leben“ sei er entschlafen, teilte die Familie am 22. Oktober 1993 mit. Ein leichtes Leben war es nicht, aber er hat es in der Verantwortung vor Gott und den Menschen so geführt, wie es nur Wenigen gegeben ist.

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„Das Ansehen einer Fakultät bestimmen nicht ihre Mehrheiten, sondern ihre Köpfe.“ In diesem Satz des Dekans Perlitt zu festlichem Anlass1 treten mehrere Charakteristika des Sprechers zutage: die Lust an zuspitzender Formulierung, der Akzent auf dem Ansehen, die konservativ-elitäre Grundhaltung. Und kein Zweifel kann bestehen: Lothar Perlitt selbst war ein Kopf, eigenständig, eigensinnig, unangepasst, ein Individualist reinsten Wassers. Veranlagung und Erfahrung imprägnierten ihn gegen alle Spielarten dessen, was er den doppelten Sozialismus seines Jahrhunderts nannte, den braunen und den roten. Wenn er einen menschlichen Leitstern hatte, dann Gottfried Benn (1886–1956), seinen „Hausdichter“, dessen Geburtstag, der 2. Mai, auch der seine war – er glaubte da eigentlich an keinen Zufall. Ihn faszinierte die suggestive Artistik der Bennschen Sprache schon um ihrer selbst willen, aber vor allem als Ausdruck einer illusionslosen Schwermut angesichts der Unbegreiflichkeit des Lebens und der Geschichte. Er sprach gern mit Bennschen Worten, auch, ja mit besonderem Nachdruck in der Predigt, wohl wissend, dass der Pfarrerssohn Benn der Welt seines Vaterhauses sehr entschieden den Rücken gekehrt hatte. Aber Lothar Perlitt sah das Verhältnis zwischen Benns Welt und der seinen „nicht als ein absolutes Gegeneinander, sondern eher als ein phänotypisches Nebeneinander“, ja Miteinander: „Das Leben im Schatten des verborgenen Gottes ist nie ohne Verlangen nach dem offenbaren; und die Erfahrung des offenbaren Gottes ist nie ohne den Schatten des verborgenen. Es ist aber“, so formulierte er die Essenz seines eigenen Glaubens und Denkens, „derselbe Gott, der sich verbirgt und offenbart.“2 Mit Recht steht der schöne Aufsatz über die Verborgenheit Gottes, den er G. v. Rad zum 70. Geburtstag widmete, an der Spitze seiner gesammelten „theologischen Studien“3. Hier wie sonst wusste er sich – um es mit zwei großen Namen zu sagen – mehr auf Seiten Martin Luthers als Karl Barths, den darum zu 1  W. Trillhaas’ 80. Geburtstag (PTh 73, 1984, 123–27) 123. 2  In: Die Kunst im Schatten des Gottes. Für und wider Gottfried Benn, hg. v. R. Grimm u. W.-D. Marsch (1962) 142 (= L. Perlitt, Allein mit dem Wort, 1995, 332). 3  Allein mit dem Wort 11–25.

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unterschätzen er aber viel zu sehr Theologe war. „Vielleicht“, schrieb er mir einmal, „ist mir Karl mehr als Ihnen Gottfried?“4 Zur Theologie kam er unter dem Einfluss eines herrnhutischen Kreises in Forst in der Lausitz, wo er, der gebürtige Berliner, das Gymnasium besuchte. Zur Wahl stand für ihn sonst nur das Studium der Musik; seit früher Kindheit war er musikalisch empfänglich und – am Klavier – tätig. Er studierte von 1949 an ausschließlich an der Kirchlichen Hochschule in Berlin, bestand 1954 das erste, 1959 das zweite theologische Examen und wurde danach von Bischof Dibelius, einem Mann ganz nach seinem Geschmack, ordiniert; auch er selbst hätte, beiläufig bemerkt, einen überdurchschnittlichen Bischof (oder Kardinal!) abgegeben – immerhin brachte er es zum evangelischen Abt. Neben dem Pfarramt, das mit viel Sozialarbeit, besonders an Flüchtlingen, verbunden war, versah er jahrelang einen Lehrauftrag für das alttestamentliche Proseminar und den Hebräischunterricht an der Hochschule. Er war als Student durch seine biblisch-exegetischen und philologischen Neigungen dem dortigen Alttestamentler Fritz Maass (1910–2005) aufgefallen, einem literarisch kaum hervorgetretenen, aber vielseitig interessierten Mann, der ihm, vielleicht auf Anregung seines eigenen Lehrers Otto Eißfeldt, auch gleich ein Dissertationsthema vorschlug, nämlich die „geschichtsphilosophischen Voraussetzungen und historiographischen Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen“. Es ist unbestritten und Wellhausen selbst hat es mehrfach unterstrichen, dass er Entscheidendes dem Berliner Theologen Vatke verdankte. Aber weil Vatke ein Hegelianer war, behaupteten vor allem Gegner Wellhausens, dann müsse auch er ein Hegelianer gewesen sein; in Wahrheit hatte er nicht den Hegelianismus, sondern bestimmte exegetisch-historische Einsichten von Vatke übernommen, richtiger: sich in ihnen durch Vatke bestärken lassen. Die falsche Behauptung, 1956 besonders vollmundig wiederholt5, ließ sich leicht auf wenigen Seiten entkräften6, aber es war nicht sinnlos, dass das noch einmal ausführlich geschah, und nunmehr ergänzt durch eine positive Darstellung jener „Voraussetzungen und Motive“, die es damals noch nicht oder nur in einer schwer greifbaren, allerdings maßstabsetzenden Marburger Dissertation von 1938 gab7. Lothar Perlitt unterzog sich der Aufgabe mit kaum zu überbietender Gründlichkeit und weitem, bis in die Aufklärung zurückreichendem Horizont. Die Hochschule promovierte ihn im Sommersemester 1962, aber als er, mit einer Kürzungsauflage des Verlags de Gruyter von 350 auf 200 Seiten konfrontiert, das Manuskript wieder vornahm, genügte es seinen Ansprüchen überhaupt nicht 4  Karte vom 14.7.1966. Vgl. aber auch seinen Hinweis auf v. Rad (und Barth) a.a.O. 2536. 5 H.-J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments 178f.238f.244.248f. 6  Vgl. ThZ 14 (1958) 112–15 (R. Smend, Bibel und Wissenschaft, 2004, 118–20). 7  F. Boschwitz, Julius Wellhausen. Motive und Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung; einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich durch den Nachdruck Darmstadt 1968.

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mehr und er arbeitete es so gründlich um, dass nach seiner eigenen Aussage kein einziger Satz stehen blieb. Im September 1964 war er so weit, dass er das Vorwort schreiben konnte8. Anschließend sagte er zu seinem Doktorvater Maass: „Jetzt schreibe ich mein Buch über Benn.“ Worauf Maass antwortete: „Nein, jetzt habilitieren Sie sich, danach können Sie über alles schreiben – oder über nichts, so wie ich.“ Weil die Berliner Hochschule noch kein Habilitationsrecht hatte, musste er sich in Westdeutschland nach einer Gelegenheit umsehen. Sie bot sich in Mainz bei Hans Walter Wolff, einem Menschen und Theologen ganz anderen Schlages, mit dem er sich aber bald aufs beste verstand. Die Freundschaft begriff die Ehefrauen ein – Perlitt hatte 1959 die studierte Ökonomin Freda Gräfin Finckenstein (1925–2013) geheiratet, die ihn durch ihr starkes Temperament und ihre direkte, den Menschen zugewandte Art in idealer Weise ergänzte und in deren altpreußische Umgebung er sich gern und gut einfügte. Der Abschied von Berlin fiel schwer – „Berlin war mein Leben“, schrieb er mir damals –, aber schon durch seine unermüdliche Gastfreundschaft war das Ehepaar Perlitt schnell überall zu Hause, nach drei Jahren Mainz, genauer Ingelheim, in Heidelberg, wohin Wolff den Assistenten 1967 mitnahm, gerade rechtzeitig für die akademischen Wirren der nächsten Jahre, in denen Perlitt, auf allen Ebenen – im Hörsaal, im Großen Senat, auf der Straße – von einer radikalen Minderheit der Studentenschaft lautstark und mitunter auch brachial angegriffen, furchtlos und wortgewandt für die hergebrachte Universität stritt, in entschiedenem Dissens zu einer beträchtlichen Gruppe von Assistenten und auch Dozenten der eigenen Fakultät; mit der seitherigen „Gruppenuniversität“ hat er sich innerlich nie abgefunden. Um so mehr bedeuteten ihm die „Köpfe“ unseres Eingangszitats, von denen es im damaligen Heidelberg noch einige gab, voran, äußerlich und innerlich von Adel, der Alttestamentler Gerhard v. Rad und der Kirchenhistoriker Hans Freiherr v. Campenhausen (1903–89). Auch im eigenen Fach ging es lebhaft zu, woran die in jenen Jahren ziemlich zahlreichen Studenten Anteil haben konnten. So notierte Perlitt im November 1969: „Gestern abend war öffentliche disputatio Wolff–Rendtorff vor ca. 400 Studenten über ATTheologie, Hermeneutik, Theologie überhaupt usw. Rendtorff bezeichnete Wolff als Biblizisten höherer Ordnung (nicht völlig verkehrt), decouvrierte sich selbst aber als Historisten niederster Ordnung. Seine ganze Theologie besteht aus einem verdünnten und halbverstandenen Pannenberg. Was dabei rauskommt, kann man nicht einmal dieser Studentengeneration vorsetzen.“9 Über einen ganz verstandenen Pannenberg hätte sich Perlitt mit größerem Respekt, 8  Das 249 Seiten starke Buch erschien 1965 mit dem Obertitel „Vatke und Wellhausen“ als Beiheft zur ZAW. 9  Brief an R. S. 19.11.1969. – Mit dem „Biblizisten höherer Ordnung“ dürfte Rolf Rendtorff (1925–2014) eine Anleihe bei seinem jüngeren Bruder gemacht haben, vgl. Trutz Rendtorff in: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, hg. v. H.-J. Birkner u. D. Rössler (1968) 85.

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aber kaum geringerer Reserve geäußert; spätestens durch seine Hegel-VatkeWellhausen-Studien war ihm der Appetit auf geschichtstheologische Entwürfe vergangen. So hielt er auch Distanz zu Begriff und Sache der Heilsgeschichte, ohne die in seiner Heidelberger Umgebung weder v. Rad noch Wolff auskamen. Dagegen konnte er sich mit Wolffs „Biblizismus“ durchaus anfreunden, und im Verein mit seinem Ko-Assistenten Jörg Jeremias ließ er sich auch über das Redaktionelle hinaus keine Mühe verdrießen, die exzellenten Wolffschen Prophetenkommentare noch exzellenter zu machen. 1969 habilitierte er sich mit einer exakt 300 Seiten starken Arbeit über „Bundestheologie im Alten Testament“. Ich hatte ihn 1963 bei etwas lustlosen Vorüberlegungen zur theologischen Bedeutung der Stadt im Alten Testament angetroffen und freute mich, dass er sich ziemlich leicht für ein zentraleres Thema gewinnen ließ, das zudem seinen in der Dissertation zutage getretenen polemischen Talenten ein ergiebiges Betätigungsfeld versprach. Unbestritten gehört die Vorstellung von einem „Bund“ zwischen Jahwe und Israel zu den wichtigsten Theologumena innerhalb des Alten Testaments, und ebenso unbestritten ist sie besonders in der deuteronomisch-deuteronomistischen Schule um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends ausgebildet worden. Aber es fragt sich, ob sie bereits, wie die Tradition will („Sinaibund“), an den Anfang der israelitischen Geschichte gehört und alles Folgende, voran die Verkündigung der Propheten, von ihr her zu verstehen ist. Immerhin Wellhausen hatte das bündig bestritten, aber zwei Generationen nach ihm dachte man anders: ein im alten Israel geradezu allgegenwärtiger „Bund“ war große Mode, vor allem mit dem Instrumentarium der Formgeschichte postulierte man Größen wie ein Bundesrecht oder einen Bundeskultus mit allerlei Bundesfesten, und 1960 habilitierte sich in Heidelberg der v. Rad-Schüler Klaus Baltzer mit der Hypothese eines „Bundesformulars“, das zwar im Alten Testament nirgends vorkommt, aber, so Baltzer unter dem Beifall mancher, bei vielen seiner Texte als Hintergrund zu denken ist; dazu wurden assyrische und besonders hethitische Vertragstexte als Vorbilder bemüht. Wie im Fall Vatke-Wellhausen war die Widerlegung dieser Hypothese nicht allzu schwer, aber Perlitt besorgte sie in vierjähriger Arbeit mit solcher Akkuratesse und solchem Witz, dass der Erstreferent Wolff bei der Lektüre immer wieder in „schallendes Gelächter“ ausbrach10. Was wichtig war: Perlitt blieb wie in der Dissertation nicht bei der Destruktion stehen, sondern beschrieb in eindringlicher Interpretation der zentralen Texte die deuteronomisch-deuteronomistische Bundestheologie positiv als ein „theologisches Mittel zur Bewältigung der religiösen Krise, die Israel mit dem Untergang beider Teilreiche [Israel und Juda] betraf“11. Leider versagte er sich der dankbaren Aufgabe, die weiteren Ausprägungen der 10  Brief H. W. W. an R. S. 22.5.1969. 11  So die Zusammenfassung auf der hinteren Umschlagseite von „Bundestheologie im Alten Testament“ (1969).

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Bundestheologie innerhalb des Alten Testaments einzubeziehen und dadurch das Bild vollständiger und plastischer zu machen. Gleichwohl übertreibt man nicht, wenn man dem Buch eine Schlüsselposition in der Forschung zuspricht. Die Diskussion, die es auslöste und in der der Frankfurter Jesuit Norbert Lohfink Perlitts höchst beachtlicher Haupt- und Lieblingsgegner war, ist bis heute nicht beendet12. Einem derart ausgewiesenen Autor gebührte der erste oder der zweite danach freiwerdende Lehrstuhl. Aber obwohl er auch in den Bewerbungsvorträgen seine Konkurrenten klar in den Schatten stellte, scheiterte seine Berufung mehr als einmal an seiner hochschulpolitischen Stellung, die zu verleugnen unter seiner Würde war. Endlich 1974 gelang es, ihn mit der knappstmöglichen Mehrheit auf den ersten Listenplatz für die Nachfolge Walther Zimmerlis in Göttingen zu setzen und gegen bleibende örtliche Widerstände seine Berufung zu erreichen. Nach seiner Übersiedlung gewann er rasch das Vertrauen der Einsichtigen, und mancher, der sich seiner Berufung entgegengestellt hatte, war von der Sachlichkeit überrascht, mit der er diskutierte und als Dekan und Seminardirektor die Geschäfte führte. Ein harter Kern marxistisch orientierter Studenten verharrte noch lange Zeit dabei, in Wort und Schrift gegen den „Reaktionär“ oder den „schwarzen Abt“ zu agitieren, und es gehört zu den ärgsten Episoden der Fakultätsgeschichte, dass in einer Nacht im Juni 1984 sein Dienstzimmer im Seminar verwüstet und die zahlreichen dort hängenden von Perlitt liebevoll gesammelten Porträtstiche älterer Theologen fast vollständig zerstört wurden; Senat und Präsident der Universität verurteilten den Akt, die theologische Fachschaft distanzierte sich mit fadenscheinigen Worten. Wer unter den Studierenden sich nicht verhetzen ließ, und das war allmählich die große Mehrheit, begriff, dass es in Perlitts sorgfältig ausgearbeiteten und formulierten Vorlesungen mehr zu lernen gab als anderswo. Viele wurden hier für das Alte Testament, einige auch für die Wissenschaft gewonnen. Perlitt wurde in Göttingen bald heimisch. Als ihm 1980 der Lehrstuhl Wolffs in Heidelberg angeboten wurde, erwog er den Fortgang nicht ernstlich. Auch sonst blieb öffentliche Anerkennung nicht aus. 1980 wurde er zum Vorsitzenden der Fachgruppe Altes Testament in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 1982 zum ordentlichen Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt; 1990 machte ihn die theologische Fakultät in Helsinki zum Ehrendoktor. Was seine Forschungstätigkeit betraf, war 1972 in Heidelberg eine folgenschwere Entscheidung gefallen, indem er Wolffs werbendem Zureden erlag, im Neukirchener „Biblischen Kommentar“ das Deuteronomium zu übernehmen, in das er von der „Bundestheologie“ her schon einigermaßen eingearbeitet war. Eigentlich hatte er dieses Gebiet nach Vollendung seiner „Bundesschwarte“, wie er die Habilitationsschrift liebevoll-ironisch nannte, verlassen wollen, 12  Vgl. E. Aurelius, ZThK 111 (2014) 357–73.

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um sich etwas ganz Anderem zuzuwenden – am liebsten den Psalmen oder auch Hiob, über den er besonders gern Kolleg las; die in diesen Büchern verhandelten Probleme berührten ihn in seiner ja nicht zufälligen Benn-Prägung als Menschen, Christen und Prediger ungleich tiefer als die deuteronomischdeuteronomistische Bundes-, Gesetzes- und Geschichtstheologie. Aber vor allem um der Freundschaft mit Wolff willen blieb er beim Deuteronomium, und diese ungeliebte Pflicht begleitete ihn in den vierzig ihm verbleibenden Jahren wie einst die Wolken- und Feuersäule das Volk Israel auf seinem ebenso langen Zug durch die Wüste. Bevor er an die Arbeit ging, fragte er im Neukirchener Verlag an, ob der Kommentar kurz oder ausführlich erwünscht sei. Die Antwort lautete „ausführlich“, und das ließ er sich bei seinem Hang zu penibler Gründlichkeit nicht zweimal sagen; einen Gefallen tat er damit auf die Dauer weder sich noch dem Buch. Zur Zeit seines Todes war er mit der Erklärung des Dekalogs in Dtn 5 beschäftigt; die Kapitel 6–34 hatte der Verlag mit seinem Einverständnis längst in andere Hände gegeben. Der große Torso, den wir nun vor uns haben – 485 Druckseiten –, ist eine minutiöse kritische Beschreibung des Textes mit den Mitteln von Lexikon, Textkritik, Grammatik und Konkordanz und eine Erörterung der in der exegetischen Literatur vorgeschlagenen Lösungen der Probleme, die er bietet, wobei auf Seiten dieses Kommentators eine nüchterne, mitunter in Spott übergehende Zurückhaltung gegenüber den gängigen Hypothesen zutage tritt, den formgeschichtlichen von gestern, den literarkritischen und hier besonders den redaktionsgeschichtlichen von heute. Vielen seiner Kollegen hat er dabei voraus, dass er nicht nur das Heute und Gestern, sondern auch das Vorgestern kennt. Und nicht zu vergessen: der im Neukirchener Kommentar obligate theologische Schlussabschnitt „Ziel“ artet bei Perlitt niemals in billige Erbaulichkeit aus, sondern hält, oft sehr knapp, in neuer Wendung das Niveau des Vorangegangenen; besonders geschätzt sind zwei Gesprächspartner aus dem Vorvorgestern: Martin Luther und Johann Gerhard. Von den Lieferungen des Kommentars erschienen drei 1990–94 und vier 2006–13. In den Hiatus fiel (2004) ein weiterer Kommentar, zu Nahum, Habakuk und Zephanja im „Alten Testament Deutsch“, das Perlitt jahrzehntelang gemeinsam mit Otto Kaiser herausgab und zu dem er doch auch einen eigenen Beitrag liefern wollte. Er wählte dafür jene drei „kleinen“ Propheten und erklärte sie dem Charakter der Reihe gemäß sehr viel kürzer als das Deuteronomium, aber auch dichter und mit der gleichen Grundhaltung, ja noch entschiedenerer Wendung gegen eine überzogene Redaktionsgeschichte, wie er sie „vor allem von O. H. Steck [1935–2001] und seinen Schülern gefördert“ sah: ihm lag „zuerst daran, dass das Besondere der einzelnen Schrift wie der durch sie hindurchtönenden Stimme nicht überhört wird. Auch hinter Nah– Zeph steht jeweils eine Gestalt mit eigener Sprache und Geschichte, so wenig wir davon auch fassen können“ – so in der Einleitung. Er sagte es auch gern in seiner Berliner Muttersprache: „Von nischt kommt nischt.“

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Bei der Arbeit am Deuteronomiumkommentar musste er sich eine Askese auferlegen, die ihm durchaus bewusst war und die er manchmal beklagte: er konnte nicht so schreiben, wie er es am liebsten tat und wie es ihm eigentlich gemäß war: mit selbstgewähltem Thema und Gedankengang, prägnant und pointiert, möglichst auch unterhaltsam und ein wenig provokativ. Das findet der geduldige Leser stellenweise auch im Deuteronomiumkommentar, aber viel mehr war es natürlich das Vergnügen der Hörer von Perlitts Vorträgen und, unter besonderem Vorzeichen, seiner kraftvoll-geschliffenen Predigten, die immer eine große Gemeinde hatten. Etwa gleichzeitig kamen zwei beinahe abschließende, bleibend wertvolle Aufsatzbände heraus: 1994 die „Deuteronomium-Studien“ und zum 65. Geburtstag 1995, vom Herausgeber, Perlitts Schüler Hermann Spieckermann, mit dem schönen Titel „Allein mit dem Wort“ versehen, eine breitere Sammlung von „Theologischen Studien“, die in drei Benn-Stücke mündet und davor nicht nur den wohl wichtigsten Aufsatz zum Deuteronomium nachträgt13, sondern auch, jeweils auf den doppelten Umfang gebracht, die beiden fulminanten Reden auf dem Europäischen Theologenkongress 1980 und zum Göttinger Universitätsjubiläum 1987 enthält: den Rundumschlag gegen die damals dominanten theologischen Entwürfe von Weltauslegung als Geschichtsauslegung und die Philippika gegen den großen Vorgänger Heinrich Ewald, den er als „Gelehrten in der Politik“ vorführte. Einen dritten, weniger polemischen Vortrag, über Luther als Übersetzer des Alten Testaments, 1983 zum Lutherjubiläum gehalten, ließ er ungedruckt, um ihn bei weiteren Gelegenheiten zur Verfügung zu haben14. Die Polemik, allgemeiner und richtiger gesagt, die kritische (und nicht nur negativ-kritische) Betrachtung dessen, was um ihn herum im Fach geschah, gehörte zu seinen großen Stärken. In den sechziger und siebziger Jahren hielt er die Leserschaft der „Pastoraltheologie“ in Sammelberichten sehr objektiv, sehr subjektiv, sehr amüsant und sehr praktisch (Empfehlung des Kaufs oder Nichtkaufs!) über Neuerscheinungen zum Alten Testament auf dem Laufenden15, seine letzte Arbeit abseits des Deuteronomiums war eine genussvolle Besprechung der vierten Auflage der „Religion in Geschichte und Gegenwart“16, dazwischen liegt als seine Hauptleistung auf diesem Gebiet die Herausgabe der Theologischen Rundschau (gemeinsam mit Jörg Baur, 1984– 2000). Noch nie war die renommierte Berichts- und Besprechungszeitschrift so energisch und so penibel redigiert worden wie durch diesen Herausgeber, der keine Zeit und Mühe scheute, ihr nach Form und Inhalt die Qualität zu geben, die alles haben sollte, was sich mit seinem Namen verband. Manchen Artikel 13  Der Staatsgedanke im Deuteronomium (236–48), aus der Festschrift für James Barr (1994). 14  Inzwischen liegt er vor: In memoriam Lothar Perlitt (Bursfelder Universitätsreden 31, 2013) 18–29. 15  Zuerst PTh 56 (1967) 393–409, zuletzt 66 (1977) 112–27. 16  ThR 74 (2009) 1–29.

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schrieb er so rigoros um, wie er es einst mit seiner eigenen Dissertation gemacht hatte. Es kam auch vor, dass er ein Rezensenten-Urteil noch verschärfte. Leider verzichtete er darauf, selbst einen der großen Forschungsberichte zu übernehmen, wozu er wie wenige geeignet gewesen wäre. Noch mehr Zeit und Mühe kostete ihn das Amt des Abtes von Bursfelde, das er von 1980 bis 2000 als zwölfter in einer 1828 beginnenden Reihe von Göttinger Theologieprofessoren versah. Er nahm es ernster als jeder seiner Vorgänger, schrieb seine Geschichte17, machte die zu Himmelfahrt und Heiligabend in der Klosterkirche stattfindenden Gottesdienste zu einem integralen Bestandteil des Universitätslebens und installierte schließlich gemäß unserem Eingangszitat von den „Köpfen“ einen „Konvent“ aus zwölf vom Abt ausgewählten Professoren verschiedener Fächer, allerdings unter Ausschluss der Nicht-Lutheraner und („da uns Bursfelde die Tradition eines Männerklosters zutrug“) der Frauen. In einem ersten Rückblick musste er freilich feststellen, dass „die Kirche ein so hohes Gut bisher nicht“ genutzt habe18. Zwei Bursfelder Jubiläen, von ihm aufs sorgfältigste vorbereitet und mit viel geistlicher und weltlicher Prominenz bestückt, waren Höhepunkte seines Lebens: 1984 die 550-Jahr-Feier der Bursfelder Kongregation, auf der er den Abtprimas der Benediktiner aus Rom ein Pontifikalamt zelebrieren ließ, und 1993 die 900-Jahr-Feier des Klosters, bei der er und der hannoversche Landesbischof (als Abt von Loccum) den Abt von Maria Laach in die Mitte nahmen und anschließend Hans Maier aus München den ersten der Festvorträge hielt. Sorgfältige Vorbereitung war überhaupt seine Sache. Obwohl von schnellem Verstand und sehr schlagfertig, improvisierte er ungern, erwog vielmehr ausführlich die Umstände und die Folgen, bevor er zu einer Meinung oder einem Entschluss kam. Er war pünktlich in jedem Sinn und hielt gute Ordnung in allem bis hin zu den Hobbies, die er überaus methodisch betrieb: das Sammeln von Briefmarken und Stichen (außer den Theologen: Palästina und brandenburg-preußische Landesherren), vor allem aber seit Ingelheim die Kunde des Weins, in der er sich auch von Fachleuten nicht gern übertreffen ließ. Er konnte sich in scheinbar undurchdringliches Schweigen hüllen, hörte aber, wenn es darauf ankam, sehr aufmerksam zu, war ein generöser Gastgeber und ein unbedingt zuverlässiger Freund. Viele, die zunächst sein unbezähmbarer Sarkasmus irritierte, entdeckten über kurz oder lang, dass sich dahinter ein teilnehmender, gütiger Mensch verbarg.

17  Professoren der Theologischen Fakultät in Göttingen als Äbte von Bursfelde, JGNKG 82 (1984) 7–23; 83 (1985) 261–314. 18  L. Perlitt, Der Konvent des Klosters Bursfelde, in: Kirche in reformatorischer Verantwortung, Festschrift Horst Hirschler (2008) 421–32, Zitate 423.432.

Diethelm Michel 1931–1999

Zum ersten Mal sah ich Diethelm Michel am 8. Mai 1951 in der Warteschlange der Tübinger Erstimmatrikulanden, die er alle um Haupteslänge überragte. Das freundlich-nachdenkliche Gesicht, die damals noch fast schlanke Gestalt, die etwas schwerfälligen Bewegungen prägten sich ein. Ich fiel ihm natürlich nicht auf, auch nicht in der einen oder anderen Lehrveranstaltung der folgenden Semester, in der wir beide saßen. So war er erstaunt, als ich ihn acht Jahre später in Bonn mit seinem Namen anredete. Zu unser beider Bedauern folgte dort auf mein Kommen bald sein Gehen. Er gab noch 1959 die Stelle des Studieninspektors am Evangelisch-theologischen Stift in der Humboldtstraße, dem späteren Hans-Iwand-Haus, auf, um in Heidelberg Lektor für Hebräisch zu werden. Tübingen – Bonn – Heidelberg: eine schöne Sequenz für die akademischen Lehrjahre! Das Studium der Theologie scheint er nicht gewählt zu haben, weil er unter allen Umständen Pfarrer werden wollte. Er wollte wohl genauer wissen, was es mit dem christlichen Glauben auf sich hat. Seine Dissertation ist „in Dankbarkeit“ seinen Eltern gewidmet, „die keine Mühe gescheut haben, um ihre drei Söhne studieren zu lassen“. Ein „ganz besonderer Dank“ geht an den Vater, der, von Beruf Schriftsetzer, „unter großen persönlichen Opfern den Druck der Arbeit ermöglichte“1; er hat ihn mit eigener Hand besorgt. Diethelm Michel wies gelegentlich mit einem gewissen Stolz darauf hin, dass er „aus einer Arbeiterfamilie mit einem begrenzten kulturellen Hintergrund“ kam2. Der Vater war es auch, der 1945 den Sohn zur ernsthaften Beschäftigung mit dem christlichen Glauben zwang. Als nämlich der Sohn nach der Heimkehr aus einem nationalsozialistischen Kinderlandverschickungslager die Teilnahme am Konfirmandenunterricht mit der Begründung verweigerte, „er habe keine Lust, sich mit dem auseinanderzusetzen, was jener Jude aus Nazareth gesagt hat“, entgegnete der Vater, „er werde das nicht zulassen, denn Diethelm könne nicht ungeprüft ablehnen, was er gar nicht kenne, und er verlange von 1  Tempora und Satzstellung in den Psalmen (1960) 14. 2  Erinnerungen an Friedrich Smend, in: R. Elvers und K. Hochreither (Hg.), Bach-Kantaten in Berlin (1991, 211–17) 214.

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ihm jedenfalls, dass er sich mit dem auseinandersetze, was ihm in den zwei Jahren des kommenden Unterrichts nahegebracht werde; wenn er danach sage, dass das Thema für ihn erledigt sei, solle das gut sein“3. Das Thema wurde in den zwei Jahren nicht erledigt, sondern trat ins Zentrum des ganzen weiteren Lebens. Man darf vermuten, dass ihm im Unterricht und im CVJM, dem er angehörte, die pietistische Tradition seiner Vaterstadt Mülheim vermittelt wurde. Geistige Enge bedeutete das bei ihm sicher nicht; noch in seiner letzten Predigt hat er berichtet, dass er als Schüler gern den stoischen Philosophen Epiktet las. Es entsprach seiner Begabung und seinem geistigen und menschlichen Horizont, dass ihn die Studienstiftung des Deutschen Volkes aufnahm. Das Theologiestudium betrieb er von Anfang an in voller Breite und bald mit einer nicht alltäglichen Zugabe. Den Hebräischunterricht erteilte nämlich in Tübingen ein Ägyptologe, der feinsinnige Hellmut Brunner (1913–97), und dieser lehrte ihn nicht nur „die Liebe zur hebräischen Sprache“4, sondern führte ihn auch in die ägyptische Sprache, Literatur, Kunst und Geschichte ein. Auf vier Semester in Tübingen folgten fünf im sozusagen heimatlichen Bonn. Das Studienbuch verzeichnet auch hier die Zugabe: in jedem Semester zweistündig „Lektüre ägyptischer Texte“, zunächst bei Bonnet, dann bei Edel. Unter den Theologen war von vornherein Martin Noth der Meistgehörte. Er wurde nach Brunner zu Diethelm Michels zweitem und wichtigstem Lehrer. Man hatte bei Noth immer einen Stein im Brett, wenn man sich schon als Student ein wenig im außerisraelitischen Orient zu bewegen wusste, und ägyptologische Studien taten es ihm, wie schon seinem eigenen Lehrer Albrecht Alt, ganz besonders an. Er wird bald in Diethelm Michel den künftigen Fachgenossen gesehen haben. Der persönliche Verkehr begann allerdings mit einer Blamage für den Schüler. Dieser nahm bei der ersten Einladung im Haus Noth eine der schweren Zigarren, die man dort unweigerlich angeboten bekam, musste aber, nachdem er sie zur Hälfte geraucht hatte, plötzlich das Zimmer verlassen und kam nach einer Viertelstunde ohne die Zigarre zurück. Sowohl Noth als auch Michel, beide mit dem Sinn für Situationskomik ausgestattet, haben sich dieses Vorfalls immer gern erinnert, vorzugsweise beim Genuss schwerer Zigarren, denn darin hatte sich der Schüler inzwischen geübt, um auch in dieser Hinsicht vor dem Lehrer bestehen zu können. Als er im April 1956, knapp fünf Jahre nach jener Tübinger Immatrikulation, die Erste theologische Prüfung „im ganzen gut“ bestand, lag bereits seine erste Veröffentlichung vor, die „Studien zu den sogenannten Thronbesteigungspsalmen“. Es handelte sich wohl um eine Seminararbeit, die Noth so gut gefiel, dass er sie in der renommiertesten Fachzeitschrift, dem von ihm mitherausge-

3  Zitiert nach der Ansprache von Dr. Hartmut Michel bei der Trauerfeier am 7. Juli 1999 in Kochel am See. 4  Tempora und Satzstellung 14.

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gebenen „Vetus Testamentum“, unterbrachte5 – bei einem noch nicht examinierten, geschweige denn promovierten Autor kein alltäglicher Vorgang. Das Thema war brisant: die berühmte, vor allem mit dem Namen des großen Norwegers Sigmund Mowinckel verbundene These, eine Reihe von Psalmen, die den Satz ‫ יהוה ָמַלְך‬enthalten (und nicht nur sie), hätten ein jährlich gefeiertes Fest der Thronbesteigung Jahwes als Sitz im Leben gehabt. Von einer ägyptischen Parallele (in der Erzählung vom Streit zwischen Horus und Seth) ausgehend, bestritt Michel, zunächst auf formgeschichtlichem Wege, dass es sich bei jenem Satz, der nicht wie etwa das „Du bist mein Sohn“ von Ps 2,7 in der zweiten, sondern in der dritten Person formuliert ist, um einen Inthronisationsruf handelt. Er fügte sprachliche Argumente hinzu: der Satz mit der Stellung Subjekt–Prädikat und einem Verbum finitum als Prädikat ist gemäß der von Nyberg wiederaufgenommenen Ansicht der arabischen Grammatiker nicht als invertierter Verbalsatz, sondern als zusammengesetzter Nominalsatz zu verstehen, der keine neue Handlung berichtet, sondern über das Subjekt eine Aussage macht. Und diese Aussage ist, wie eine Prüfung sämtlicher Belege für das Verbum ergibt, nicht: „er ist König geworden“, sondern: „er ist König, wirkt, herrscht als König“. Michel war bei weitem nicht der erste, der Mowinckels Thesen bestritt; aber die anspruchslose Sachlichkeit der Argumentation mit altem und durchaus auch neuem Material haben diese Anfängerarbeit zu einem Markstein in der nicht enden wollenden Diskussion ihres Themas gemacht. Bei ihrer Lektüre hat man öfters den Eindruck, dass sie nach einer Fortsetzung rief, die über das begrenzte Thema der angeblichen Thronbesteigungspsalmen hinausging, aber zunächst noch im Bereich der Psalmen blieb – einem Bereich übrigens, auf dessen Erforschung Michel durch zwei vierstündige Vorlesungen im Lauf seines Studiums, eine bei Artur Weiser im zweiten Tübinger und eine bei Martin Noth im ersten Bonner Semester aufs beste vorbereitet war. „Tempora und Satzstellung in den Psalmen“ hieß die Dissertation, aufgrund derer ihn 1960 die Bonner Evangelisch-theologische Fakultät promovierte. Sie war im „Humboldtstift“ entstanden, in dessen Inspektorswohnung Michel seit dem Herbst 1956 mit seiner Frau inmitten der Studenten hauste. Ein naher, geradezu freundschaftlicher Kontakt ergab sich zu dem Ephorus des Stifts, dem Systematiker Hans Joachim Iwand (1899–1960), einem leidenschaftlichen Theologen von großer Anziehungs-, aber auch Abstoßungskraft. Michel nannte im Rückblick auch ihn seinen Lehrer, nach Brunner und Noth den dritten. Die drei Jahre im Stift waren mit Arbeit überfüllt. Der Inspektor konnte und wollte sich den Studenten nicht entziehen, öffnete sich ihnen auch menschlich, begeisterte sie für das Alte Testament und die Theologie und, nicht zu vergessen, spielte mit ihnen Schach. Diese „königliche“ Kunst war ihm zeitlebens unentbehrlich, und er brachte es in ihr zur Meisterschaft. Wenn er zum Bei5 VT 6 (1956) 40–68, wieder abgedruckt in D. Michel, Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte (im Folgenden: Studien) (1997) 125–53.

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spiel auf Alttestamentlerkongressen im Ausland plötzlich unsichtbar war, konnte man ziemlich sicher sein, dass er mit den einheimischen Schachgrößen seine Kräfte maß. In der Berliner Kirchlichen Hochschule soll er simultan gegen zwanzig Partner und „blind“ gegen zwei oder drei gleichzeitig gespielt haben. Mir schien es immer, als habe auch seine Wissenschaft, besonders auf linguistischem Gebiet, etwas vom Schachspiel: die Übersicht über ein großes Feld, genaue Beobachtung, sorgfältiges Kombinieren und Abwägen, bedachtes Handeln, stets mit dem Blick auf die Gegenseite und ihre Möglichkeiten – das alles mit viel Geduld und langem Atem, ohne die Angst, nicht schnell genug fertigzuwerden. Er produzierte eher zögerlich und hatte dafür die Genugtuung, dass er später – so sah er es wenigstens selbst – nichts zurücknehmen musste. „Tempora und Satzstellung in den Psalmen“! Was die Satzstellung angeht, stand die Hauptthese schon in der Seminararbeit über die Thronbesteigungspsalmen (‫ יהוה ָמַלְך‬als zusammengesetzter Nominalsatz). Weit überwiegend gilt die Dissertation den Tempora. Der Verfasser ist sich bewusst, dass es grundsätzlich „sicherlich richtig“ ist, „eine syntaktische Untersuchung bei Prosatexten zu beginnen“, findet aber, dass die Prosatexte, indem sie „fast durchweg vergangene Ereignisse berichten“, „nur sehr bedingt bei der Erhebung der Bedeutung der Tempora verwendet werden können“; besser eignen sich Texte, „die sowohl Vergangenes als auch Gegenwärtiges als auch Zukünftiges berichten“ – und hier bieten sich „die Psalmen an, deren Handlungen in allen drei Zeitstufen liegen“. Sie sind, damit ein objektives Ergebnis erzielt wird, zu untersuchen, „als sei die Bedeutung der Verbformen, die in ihnen vorkommen, völlig unbekannt“, und dabei darf nicht, wie üblich, eklektisch verfahren werden, vielmehr sind die Belege für die Verbformen vollständig zu untersuchen6. Die Untersuchung, in der Tat ein wenig nach Art eines Schachspiels durchgeführt, ergibt negativ: „In den Psalmen bezeichnen die Tempora keine Zeitstufen“, positiv: „Das perfectum wird zur Wiedergabe einer Handlung gewählt, wenn diese als selbstgewichtig, als absolut angesehen wird“, das imperfectum dagegen, wenn die Handlung „ihre Bedeutung von etwas außerhalb der Handlung selbst Liegendem bekommt, also relativ ist“. Von da her erklären sich auch die beiden geläufigsten Erzähltempora: „Wenn für die Wiedergabe vergangener Handlungen am häufigsten perf. oder impf. cs. verwendet werden, so deshalb, weil eine vergangene Handlung in der Regel etwas faktisch Vorliegendes oder sich aus einer Handlungskette Ergebendes ist.“ Michel erhob nicht den Anspruch, mit seiner dreifachen These etwas ganz Neues zu sagen. Für ihren negativen Teil – die „Tempora“ keine Tempora – nannte er als Vorgänger Knudtzon, Köhler, Nyberg, Strack-Jepsen und Brockelmann, für den positiven, mehr oder weniger, wiederum Köhler, Nyberg und Brockelmann. Aber er konnte hinzufügen: „Da wir zu unserem Ergebnis auf rein induktivem Wege gekommen sind, lediglich durch die Prüfung der 6  Ebd. 11–13.

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Verbformen, freut uns diese nachträglich festgestellte Übereinstimmung natürlich besonders, stützt und erhärtet sie doch unsere Ergebnisse.“7 Die größte Anerkennung für die Dissertation, noch größer als das „summa cum laude“ der Bonner Fakultät, bedeutete es, dass ihr kein Geringerer als Sigmund Mowinckel in der Theologischen Literaturzeitung eine sehr gehaltvolle, acht Spalten lange Besprechung widmete8. Weithin stimmte er zu, angefangen damit, dass die „alte Wahnvorstellung von hebräischen ‚Tempora‘“ nunmehr endgültig erledigt sei9. Er beanstandete Vernachlässigung der Textkritik, der Sprachgeschichte und der Metrik10 und war natürlich gar nicht einverstanden, wo es um seine „Thronbesteigungspsalmen“ ging. Hier und überhaupt auf dem Gebiet der Gattungsforschung sah er Michel „mit Krauss [sic] und Westermann u.a. in der Gunkelschen Sackgasse“ steckengeblieben, nämlich in einem „reinen Formalismus“, der den „kultfunktionellen Gesichtspunkt“ außer acht lasse. Trotzdem war es keine Redensart, wenn Mowinckel das Buch eine „sehr verdienstvolle Untersuchung“ und wegen der Fülle der Einzelexegesen ein „nützliches Nachschlagebuch“ nannte, an dem niemand, der sich mit den Psalmen beschäftige, vorübergehen dürfe11. Ich zitiere noch einen Satz aus der Dissertation, den ich besonders sympathisch finde. Zu Eingang des Paragraphen, in dem er einzelne Psalmen behandelt, bemerkt Michel, er habe ursprünglich geplant, „auch Ps 68 und 110 hier zu besprechen“, habe aber davon Abstand genommen, „da mir diese Psalmen trotz längerer Beschäftigung mit ihnen als Ganzes unklar geblieben sind“12. Es war nicht seine Art, Scheinlösungen zu erzwingen. Das Doktordiplom nahm er 1960 nicht mehr als Bonner, sondern schon als Heidelberger entgegen. Damals wurden in unseren Fakultäten die Stellen nicht gestrichen, sondern vermehrt, und so gelang es Gerhard von Rad, die Einrichtung eines hebräischen Lektorats zu erwirken, wie es hieß des ersten in Deutschland. Er besetzte es nicht mit einem eigenen Schüler, sondern mit dem Nothschüler Michel, der allerdings nach und nach auch von Rad als seinen Lehrer betrachtete, den vierten. Er bewunderte von Rads Sensibilität, Stilgefühl und Formulierungskraft und gehörte zu den nicht Vielen, mit denen der Meister sich gern und ausgiebig unterhielt; er hatte immer biblische Beobachtungen auf Lager, das „Stickl Thora“, nach dem von Rad so begierig war. Ein Hauptgegenstand ihrer Gespräche dürfte die alttestamentliche Weisheit gewesen sein, die von nun an fortschreitend Michels Interesse auf sich zog. Aber die Habilitationsschrift, die er 1964 einreichte, betraf wiederum ein sprachliches Thema: „Begriffsuntersuchung über ‫ ְצ ָדָקה – ֶצ ֶדק‬und ‫“ֱאמּו ָנה – ֱאֶמת‬. 7 Ebd. 254–56. 8 ThLZ 87 (1962) 32–39. 9 Ebd. 32. 10 Ebd. 34f. 11 Ebd. 35.38f. 12 Tempora und Satzstellung 221.

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Sie ist leider nicht gedruckt worden, aber ihre wesentlichen Thesen hat Michel später anderweitig bekanntgemacht. Die Bestandteile der beiden Begriffspaare sind danach entgegen der herrschenden Annahme keine Synonyme, vielmehr ist ‫ ֶצ ֶדק‬ein Kollektivbegriff mit der Bedeutung „Gerechtigkeit, Gemeinschaftstreue“ und ‫ ְצ ָדָקה‬ein nomen unitatis mit der Bedeutung „Erweis der Gerechtigkeit, Heilstat, Wohltat“13; und ‫ ֱאֶמת‬meint das Feste, Richtige, Zuverlässige, Gültige, Wahre (LXX: ἀλήϑεια), ‫ ֱאמּו ָנה‬die Beständigkeit, Zuverlässigkeit, Treue (LXX: πίστις)14. Zumindest für ‫ ֱאֶמת‬bemerkte Michel ausdrücklich, dass ihn das Ergebnis selbst überrascht habe15. Noch mehr Entdeckerfreude verriet sich, wenn er in den Heidelberger Jahren von der Beschäftigung mit einem ganz anderen Thema berichtete, wiederum einem Doppelthema, nämlich Deutero- und Tritojesaja. Zu Tritojesaja kam schneller ein Manuskript zustande; er trug es 1964 bei seiner Habilitation vor. Ausgehend von W. Zimmerlis Beschreibung der Aufnahme und Modifikation deuterojesajanischer Texte durch Tritojesaja fragte er nach dem dabei zugrundeliegenden Traditionsverständnis und kam zu dem Resultat, dass für Tritojesaja, der „kaum Prophet genannt werden darf“, „die Tradition, wenigstens zum Teil, so fest geronnen“ ist, „daß sie nicht uminterpretiert, sondern nur interpretiert werden kann. Wenn man nun Tritojesaja, wie seit Duhm fast allgemein üblich ist, an den Propheten, besonders an Deuterojesaja mißt, muß er als stümperhafter Epigone erscheinen. Damit aber wird man ihm einfach nicht gerecht; man muß sehen, daß mit ihm eine neue Epoche anbricht: die schriftgelehrte Auslegung, die die Tradition als feste, unveränderliche Größe ansieht.“ So oder ähnlich kann man es heute bei einer wachsenden Zahl von Gelehrten lesen, ohne dass dabei Michels Name zu fallen pflegt. Michel kündigte bei der Veröffentlichung16 eine weitere Arbeit an, die grundsätzlich die Auslegungsmethode Tritojesajas behandeln sollte17; leider ist sie nicht erschienen. Mit dem Aufsatz über Deuterojesaja trug er sich schon in den Bonner Jahren. An die Öffentlichkeit wagte er sich mit ihm aber erst 1967, in der Berliner Antrittsvorlesung, und drucken ließ er ihn unter dem Eindruck eingetretener und befürchteter Missverständnisse erst nach einem weiteren Jahrzehnt18. Er überschrieb ihn „Das Rätsel Deuterojesaja“ und stellte die Rätselfrage so: „Hat es überhaupt einen Menschen Deuterojesaja gegeben – oder müssen wir ihn als ein Geschöpf der Ausleger ansehen, als einen Homunculus, der zwar zweihundert Jahre lang durch die wissenschaftlichen Werke gegeistert ist, der

13 NBL I (1991) 795–801. 14 ABG 12 (1968) 30–57. 15 Ebd. 55. 16 ThViat 10 (1966) 213–330; auch in: Studien 181–97. 17 Studien 197; dort auch das obige Zitat. 18 ThViat 13 (1977) 115–32, auch in: Studien 199–218. Vgl. auch die beiden DeuterojesajaArtikel TRE VIII, 510–30 und NBL I, 410–13.

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aber jetzt am besten wieder in der Versenkung verschwinden sollte?“19 Weder literarisch noch stilistisch noch theologisch weisen die Kapitel Jes 40–55 eine solche Geschlossenheit auf, dass sich daraus zwingend die Autorschaft eines einzelnen Propheten ergibt. Als Alternative stellte sich Michel nicht, wie es heute mehr und mehr üblich ist20, Bearbeiter oder Redaktoren vor, sondern eine Prophetenschule, die mit den Anfangsworten „Tröstet, tröstet mein Volk“ angeredet sein könnte. Zu einer handfesten These hat er diese Vermutung allerdings nicht ausgebaut; noch in seiner letzten Äußerung zum Thema begnügte er sich mit einem „vielleicht“21. Der Heidelberger Privatdozent las nur einen Winter. Zum Sommer 1965 wurde er auf einen der beiden alttestamentlichen Lehrstühle an der Kirchlichen Hochschule in Berlin berufen. Ein kleiner Wermutstropfen war, wenn ich das erwähnen darf, dass diesmal für sein Kommen mein Gehen die Voraussetzung war und wir also wieder nicht am gleichen Ort tätig sein konnten. Aber es machte Freude, ihm ein wenig die Wege zu ebnen und die Kraft und den Optimismus zu sehen, mit denen er von seinem neuen Wirkungskreis Besitz ergriff. Mit fast kindlichem Vergnügen kostete er aus, dass er seine künftigen Kollegen nicht mehr – man kann es sich heute kaum noch vorstellen – mit „Herr Professor“ anreden musste, sondern einfach „Herr N.N.“ sagen konnte. Die anderthalb Berliner Jahrzehnte – er kam mit 34 und ging mit 50 Jahren – sind in mancher Hinsicht seine Glanzzeit gewesen, obwohl sie von schweren Belastungen – die Studentenunruhen seit 1967, das Scheitern seiner ersten Ehe – nicht frei waren. Er gehörte zu denen, die der Kirchlichen Hochschule ihr Gesicht gaben, hatte immer einen vollen Hörsaal, faszinierte mit seinem pädagogischen Charisma auch Fernerstehende und zog Schüler und Schülerinnen heran, die seine Ideen aufnahmen und weiterführten. Schon nach einem Jahr berief ihn das Vertrauen, das er allerseits genoss, in das Amt des Ephorus der Kirchlichen Hochschule. Der Ephorus war sozusagen das Mädchen für alles, eine Integrationsfigur, derer die Hochschule in jenen Jahren mehr bedurfte als irgendwann sonst. Die Studentenrevolution, in Berlin ausgebrochen und dort vehementer als an den meisten anderen Orten, riss nicht nur zwischen Professoren und Studenten einen tiefen Graben, sondern brachte auch die bis dahin gern als brüderlich deklarierte Gemeinschaft innerhalb des Kollegiums in Gefahr. Michel, ein auf Harmonie angelegter Mensch, baute Brücken, wo er konnte, und wurde darin von denen anerkannt, die nicht unversöhnlich waren. Als das Schlimmste überstanden war, wechselte er ins nächste Amt, das des Rektors (1973–75). Seine Tätigkeit ging aber weit über die Kirchliche Hochschule hinaus. Seit dem Sommer 1966 hielt er im Rahmen der religionspädagogischen Weiter19  Studien 205. 20  Vgl. TRE VIII, 520f. 21  NBL I, 412.

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bildung für Berliner Lehrer Vorlesungen, die interessierte Nichttheologen in die Forschung am Alten Testament einführen sollten. Wie er selbst sagte, hat ihn die „Aufgabe, einmal in weitgehendem Verzicht auf theologische Fachsprache die Forschung ohne wesentliche Verkürzungen darzustellen, […] sehr gereizt“. Er gab keinen kompendienhaften Überblick, sondern legte „in einem ‚exemplarischen Unterricht‘ ausgewählte Texte gründlicher aus“, denn: „Methodik kann man sich ja nur im Vollzug der Auslegung aneignen.“ Viele Hörer äußerten den Wunsch, „die Vorlesungen in schriftlicher Form zum Nacharbeiten zu erhalten“, und so entstand das Buch „Israels Glaube im Wandel. Einführungen in die Forschung am Alten Testament“, das 1968 in erster, 1971 in zweiter Auflage erschien und im Vorwort als ersten Dank den an die Hörer enthält, „für die interessanten Diskussionen und Gespräche, die sich an die Vorlesungen anschlossen“22. Der Ruf, den er von da her genoss, könnte beteiligt gewesen sein, als er 1979 in die zwölfköpfige Westberliner Kirchenleitung gewählt wurde. Das „Berliner Sonntagsblatt“ schrieb damals23: „Einen Schwerpunkt seines zukünftigen Wirkens in der Kirchenleitung sieht Prof. Michel darin, die Erwachsenenbildung zu fördern. Er möchte Bibel und Evangelium besonders den gebildeten und im Denken geübten Menschen nahebringen und zeigen: Theologie ist keine Sache, bei der man den Verstand zu Hause lassen muss. Wer selbst einmal zugehört hat, wenn Prof. Michel die Welt des Alten Testaments lebendig werden läßt, der versteht, daß ihm viele sagen: ‚Ich wußte ja gar nicht, wie interessant das alles ist.‘“ In vergleichbarer Weise wurde er damals auch an ganz anderem Ort tätig, nämlich in der „Kirchlichen Arbeit Alpirsbach“, wo er noch zu Zeiten von Friedrich Buchholz (1902–67) Psalmen auslegte und dann regelmäßig zu Epiphanias, gelegentlich auch im Herbst, „Woche hielt“. Später berief man ihn auch in den Leitungskreis und an dessen Spitze – ein Amt, das er liberal und unprätentiös versah. In Berlin gewann er auch noch einmal einen Lehrer, den fünften und den, dem er persönlich am nächsten trat. Es war der fast vierzig Jahre ältere Friedrich Smend (1893–1980), Bibliothekar und Emeritus für Kirchenmusik an der Kirchlichen Hochschule. Wie Michel über den Texten des Alten Testaments, so brütete er hingebungsvoll über den Partituren J. S. Bachs, beobachtend, analysierend, vergleichend, vermutend und dann durchaus thesenfreudig. Nach Michels, von Smend bestätigten, Worten lag „die Besonderheit und Einmaligkeit seiner Art von Bachforschung nicht zuletzt darin, daß er“, übrigens promovierter Neutestamentler, „Methoden der Textbehandlung, die in der neutestamentlichen Wissenschaft in jahrhundertelanger Tradition entstanden seien und in ihrer letzten Feinheit vielleicht nur einem Fachexegeten als selbstverständliches

22  Zitate aus dem Vorwort. 23  Jg. 34 (1979) Nr. 4 (28.1.1979) 3.

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Handwerkszeug zuhanden wären, auf die Musikwissenschaft übertrage“24. In ungezählten Abend- und Nachtgesprächen bei Wein und Zigarren – hier kam Michel seine Lehrzeit bei Martin Noth zugute – erörterten die beiden nicht nur Methodenfragen, sondern führten sich gegenseitig auch detailliert vor, was sie gerade unter der Hand hatten. Smend hielt noch im hohen Alter Übungen ab, von denen Michel fünf nach eigenem Bekunden mit viel Gewinn besuchte: über die Matthäuspassion, die Johannespassion und die sogenannte h-Moll-Messe, aber auch – mit Goethe befasste Smend sich nämlich kaum weniger leidenschaftlich als mit Bach – über den West-östlichen Divan und die Farbenlehre. Zu Smends 80. Geburtstag hielt Michel ihm als Rektor eine Rede, in der er den Vers aus den Proverbien (25,2) auslegte: „Die Ehre Gottes ist es, einen ‫ ָּדָבר‬zu verbergen, die Ehre der Könige ist es, einen ‫ ָּדָבר‬zu erforschen.“ Den ‫ ָּדָבר‬verstand er dabei als „sinntragendes Wort“ oder geradezu „Sinn“. Im Sinne dieses Verses, meinte er, habe Smend „königlich gelebt“25. Leider lehrte ihn Smend auch die Divan-Zeile lieben: „Sagt es niemand, nur den Weisen“26, und daraus das nach dem Proverbien-Vers doch eher göttliche Recht herzuleiten, den gefundenen ‫ ָּדָבר‬zu verbergen. Smend und Michel scheuten etwas über das lobenswerte Maß hinaus die Druckerschwärze; sie sagten, es genüge, wenn sie selbst in ihrem (in beiden Fällen ausgezeichneten) Gedächtnis trügen, was sie gefunden hatten, und es allenfalls einigen „Weisen“ mitteilten. Der wissenschaftlichen Allgemeinheit ist dadurch manches verlorengegangen. Was er wissenschaftlich in Berlin vor allem tun wollte, zeigte Michel an, indem er sich bei seinem Kommen in der Kirchlichen Hochschule eine „Forschungsstelle für hebräische Syntax“ einrichten ließ. Nach seinen voraufgegangenen Arbeiten war das keine Überraschung. Schon der Aufsatz über die sogenannten Thronbesteigungspsalmen hatte sein Thema von der linguistischen Seite her angefasst, und dass die Dissertation und die Habilitationsschrift in dieses Gebiet gehörten, bedarf keines Wortes. Eine gewisse Vorläufigkeit ist ihnen allen anzumerken, und Michel ließ in der einen oder anderen gedruckten Bemerkung und vollends im mündlichen Gespräch keinen Zweifel daran, dass ihm die Weiterführung, Ergänzung und Abrundung seiner Gedanken immer vor Augen stand. Er machte sie auch, soweit das ging, seinen Heidelberger Studenten zunutze. Für den Kursus Hebräisch II verfasste er „Skizzen über ausgewählte Fragen der hebräischen Syntax“, die „dem Wesen des akademischen Unterrichts entsprechend“ den Versuch unternahmen, „in aller Kürze in die Problematik einzuführen und nicht nur fertige Ansichten zu bieten“; sie bewährten sich auch im gleichzeitigen Bonner Kursus Hebräisch II, der nach Martin Noths weiser Anordnung vor dem Proseminar zu besuchen war. Von ihnen bis zu der ausgeführten Syntax, wie sie Michel vorschwebte, war aller24  Erinnerungen (s.o. Anm. 2) 215f. 25  ThViat 12 (1975) 213–19, hier 216f.219. 26  Frankfurter Ausgabe 3/I, 24.

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dings noch ein weiter Weg. Der ursprüngliche Plan einer einbändigen „für den Alltagsgebrauch bestimmten hebräischen Syntax“ wurde nach einigen Jahren fürs erste aufgegeben, weil sich darin die wissenschaftlichen Erörterungen, an denen Michel gelegen war, nicht hätten unterbringen lassen. So nahm er zunächst eine mehrbändige „Grundlegung einer hebräischen Syntax“ in Angriff, deren erster Band, mit etwa hundert Seiten nicht sehr umfangreich, nach vielen Vorankündigungen 1977 erschien. Er erörtert einleitend die Methodik und im Hauptteil Genus und Numerus des Nomens. Die weiteren Bände sollten „in nunmehr rascher Folge erscheinen“, wobei nicht vorgesehen war, „alle Themen der Syntax gleichmäßig zu behandeln“27. Ein zweiter Band, handelnd vom Nominalsatz, kam, von einem sechsköpfigen Team herausgegeben, wenigstens noch als Torso zustande28, auf den dritten, über den Verbalsatz, müssen wir ganz verzichten. Für Michel war die Kenntnis der hebräischen Sprache die Grundlage aller wissenschaftlichen Arbeit am Alten Testament. Er litt förmlich darunter, wenn die Teilnehmer seines Seminars unzureichend Hebräisch gelernt und den jeweiligen Text nicht ordentlich präpariert hatten; weil er hier von seinen Forderungen nicht abgehen konnte, waren die Seminare weniger erfolgreich und beliebt als die Vorlesungen. Der erste Paragraph der Vorlesung über Einleitung in das Alte Testament hatte, ungewöhnlich genug, die Überschrift: „Das Problem der sich in der hebräischen Sprache äußernden Denkstruktur“. Obwohl Michel der Kritik James Barrs an Thorleif Bomans „Hebräischem Denken im Vergleich mit dem griechischen“29 nicht jedes Recht absprach, wusste er sich in der Tradition von Herders und Humboldts Gedanken über die Sprache und suchte die „inhaltsbezogene Grammatik“ des Bonner Sprachwissenschaftlers Leo Weisgerber für die Erforschung des Hebräischen fruchtbar zu machen. Auf den Strukturalismus gab er im allgemeinen nicht viel, weil er dort die Inhalte vernachlässigt sah, auf die es ihm selbst zuerst und zuletzt ankam30. Denn er war zuerst und zuletzt Theologe. Als solcher wird er auch denen, die ihn nicht als Vortragenden oder als Prediger erlebt haben, vielseitig in den Aufsätzen sichtbar, die unter dem etwas engen Titel „Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte“ aus Anlass seines 65. Geburtstags gesammelt wurden. Er geht dort einige Male aufs Ganze. So, wenn er entschieden an der „Einheit in der Vielfalt des Alten Testaments“ festhält und diese Einheit in drei Besonderheiten findet, die Israels Religion von der Umwelt unterscheiden: „Es gibt in ihr am Ende einen Monotheismus, der vermutlich seine Vorstufen in einer Monolatrie gehabt hat. 27  Grundlegung einer hebräischen Syntax I (1977) VI f. 28  D. Michel, Grundlegung einer hebräischen Syntax II, hg. von A. Behrens, J.F. Diehl, A.A. Diesel, R.G. Lehmann, A. Müller u. A. Wagner (2004). Lesenswert auch das Vorwort der Herausgeber! 29  Vgl. J. Barr, The Semantics of Biblical Language (1961). 30  Vgl. Grundlegung I, 1–23.

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Es gibt im Alten Testament eine Vorstellung von göttlichem Wirken in der Geschichte, die […] im Alten Orient nicht ihresgleichen hat und die vermutlich mit der Monolatrie zusammenhängt. Und es gibt eine Begründung ethischen Handelns in Jahwe, die in dieser Form ebenfalls singulär ist und die wohl so zu verstehen ist, daß der in der Geschichte allein erwählend an Israel handelnde Gott von den Erwählten ein korrespondierendes Handeln erwartet.“ Soweit es die Geschichte betrifft, wendet sich Michel dabei ausdrücklich gegen B. Albrektson „u.a.“, insgesamt schließt seine dreifache These für ihn in sich, „daß die alttestamentliche Religion auf keinen Fall als eine evolutionäre Entwicklung aus kanaanäischen Ursprüngen (Lemche) oder als Religionsvariante aus der Matrix der syrisch-kanaanäischen Religionen (Niehr) verstanden werden kann“31. Einen Schritt weiter geht der Aufsatz, der unter der Überschrift „Annäherungen“ „Gedanken zum Problem der fundamentalen Bedeutung des Alten und der normativen Bedeutung des Neuen Testaments“ entwickelt32. Die „fundamentale Bedeutung“ des Alten Testaments, deretwegen Christen nicht auf es verzichten können, besteht darin, dass jene drei Besonderheiten auf alttestamentlichem Grund auch das Neue Testament von seiner Umwelt unterscheiden. Michel weiß wohl, dass, „historisch gesehen, das Christentum nur eine mögliche und faktisch geschehene Fortsetzung des Alten Testaments ist“, fügt aber hinzu, dass es „für den Glauben […] die im AT angelegte und eigentlich gemeinte Fortsetzung des AT“ ist, was „nichts mit Antijudaismus oder gar Antisemitismus zu tun“ hat33. Auch das ist in aktueller Abgrenzung gesagt. An sich war Michel niemand, der sich durch Abgrenzungen „profilierte“, kein Partei- und Richtungsmann, sondern ein Einzelgänger, der das Modische mied und mit eigenen Augen sah, dabei aber das Gespräch suchte und pflegte. Er gab nicht so schnell preis, was er bei seinen Lehrern gelernt hatte, und wünschte neue Hypothesen nicht nur mit gerade passenden Einzelstellen, sondern aus der Breite der Texte belegt zu sehen. Das war ja ein Anspruch, den er auch an sich selbst stellte – was nicht bedeutet, dass nicht gerade er scheinbaren Kleinigkeiten eine weittragende Bedeutung geben konnte; man lese nur seine Ausführungen zu ‫ ָלָּמה‬und ‫ַמּדּוַע‬34 oder zu ‫ֶחֶסד ֶוֱאֶמת‬35! Hier ließe sich leicht fortfahren und nicht so bald an ein Ende kommen, besonders wenn man daran denkt, was an Ungedrucktem und Unvollendetem bei ihm gelegen haben mag. Als er 1985 von seinem Assistenten schwer krank in die chirurgische Klinik gebracht wurde, sagte er zum Abschied: „Herr Lehmann, falls wir uns nicht mehr sehen – Sie geben meine Manuskripte heraus!“ Neben der vollständigen Syntax sind es zwei Bücher, die wir nicht mehr bekommen haben: eine Anthropologie des Alten Testaments und 31  Studien 68. 32  Ebd. 69–88. 33  Ebd. 87f. 34  Ebd. 13–34. 35  In: A. Wagner (Hg.), Studien zur hebräischen Grammatik (1997) 73–82.

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ein Kommentar (im „Alten Testament Deutsch“) zu Kohelet, dem Prediger Salomo; hier ist der Verlust besonders schmerzlich, weil das Manuskript schon weit fortgeschritten war. Der Kommentar hätte eine jahrzehntelange Arbeit gekrönt. Die Vorlesung im ersten und einzigen Heidelberger Privatdozentensemester hieß „Weisheit und Kohelet“, vielleicht in Erinnerung an ein 1952 in Tübingen bei Ernst Würthwein gehörtes Kolleg über „Weisheit und Hiob“. Auch ihn bewegte Hiob, ja er konnte „das Hiobproblem genau das Problem unserer heutigen Theologie“ nennen, und 1970 veröffentlichte er in einem Berliner Sammelband über „Humanität Heute“36 eine Trias von Vorträgen „Weisheit als Urform der Humanität“ – „Humanität angesichts des Absurden. Qohelet 1,2-3,15“ – „Hiob – oder: der inhumane Gott“. „Absurd“ war Michels Übersetzung von ‫( ֶהֶבל‬Koh 1,2 usw.), und der bewusste Anklang an Albert Camus verrät, warum Michel sich wie damals viele von uns durch Kohelet faszinieren ließ. Bei ihm hat die Faszination nicht aufgehört, auch als es mit dem Existentialismus längst vorbei war. Die beiden großen öffentlichen Reden, die er über Kohelet hielt, die Berliner Rektoratsrede von 197337 und der Eröffnungsvortrag im Mainzer Zyklus „Universität im Rathaus“ 198638, schließen mit persönlichen Bekenntnissen, von denen ich das zweite zitieren will: „Ein Freund fragte mich einmal: Warum beschäftigst du dich eigentlich so viel mit dem Buche Qohelet, wenn du den Verfasser für einen Ketzer hältst? Ich habe darauf nach einigem Nachdenken geantwortet: Weil das Buch Qohelet die Seite in mir anspricht, die nicht ‚glaubt‘, die mit dem Verstand alles in der Welt erklären will. Und weil es diesem Teil von mir zeigt, was von dem aus der Welt abgeleiteten Gott übrigbleibt, wenn aufklärerischer Optimismus resigniert und in Skepsis umschlägt. In diesem Sinn ist für mich der skeptische Philosoph Qohelet eine Vorbereitung auf Christus.“39 Das hier vorausgesetzte Bild von Kohelet hatte sich Michel ergeben, indem er, angeregt durch den amerikanisch-jüdischen Exegeten Robert Gordis und im Gespräch mit Norbert Lohfink, eine Reihe von Texten als Zitate identifizierte, mit denen sich Kohelet kritisch auseinandersetzt. Das Bild, das er so gewann, „unterscheidet sich fundamental von dem bisher üblichen: Qohelet ist kein Empiriker, der verschiedenartigste und widersprüchlichste Erfahrungen macht und notiert, sondern ein Denker (genauer: ein erkenntnistheoretischer Skeptiker), der eine genau beschreibbare Grundposition hat, von der aus er […] zu verschiedenartigsten Problemen Stellung nimmt, die offenbar in seiner Zeit virulent waren […].“ Es war Michel damit, wie er nicht ohne Genugtuung fest36  Hg.v. H. Foerster; das Zitat über das Hiobproblem 50. 37  Vom Gott, der im Himmel ist (Reden von Gott bei Qohelet), ThViat 12 (1975) 87–99, auch in: Untersuchungen zur Eigenart des Buches Qohelet (1989) 274–89. 38  Ein skeptischer Philosoph: Prediger Salomo (Qohelet), in: Universität im Rathaus 7 (1987) 1–31. 39  Ebd. 26.

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stellte, gelungen, „Qohelet als Denker mit einer widerspruchslosen Weltdeutung zu verstehen und sein Buch als Darlegung dieser Weltdeutung“40. Er hat selbst gesagt, dass er in solchem „Verstehen“ seinen eigentlichen Beruf sah. „Als bei einem Treffen zwischen Psychologen und Theologen die Psychologen wieder einmal einen ihrer Tests zur Selbsterkenntnis machten und die Aufgabe stellten, jeder solle schnell aufschreiben, was er als Motto seines Lebens auf seinem Grabstein stehen haben wolle, lieferte“ er „nach kurzem Nachdenken seinen Zettel als erster ab. Er hatte das Motto gewählt: ‚Er hat versucht, Fremdes zu verstehen‘.“41 Als wir uns Ende Januar 1999 nach langer Zeit wiedersahen, stand seine Emeritierung unmittelbar bevor42. Er freute sich darauf, sprach von seinen Plänen und davon, wie wir in dem Haus in Kochel, das ihm seine Frau so liebevoll eingerichtet hatte, all die Gespräche nachholen würden, zu denen wir 48 Jahre lang nicht gekommen waren. Am darauf folgenden Sonntag hat er noch im Universitätsgottesdienst über den 77. Psalm gepredigt, und dann kam nach wenigen Tagen der Unfall und die letzte Krankheit. Es bleibt ein Werk, das voll ist von versuchtem und auch von gelungenem Verstehen, und es bleibt die Erinnerung an einen liebenswürdigen und liebenswerten Weggefährten.

40  Qohelet, EdF 258 (1988) 33. 41  Das Bild des „Predigers Salomo“, Allgemeine Zeitung 17.10.1986, 14. 42  Sie war der Anlass für den Vortrag „Richtungen“, den ich damals auf seinen Wunsch und zu seinen Ehren hielt (jetzt in: Bibel und Wissenschaft, 2004, 264–80).

Timo Veijola 1947–2005

Es sei mir gestattet, noch einmal mit eigener Erinnerung zu beginnen. Im Wintersemester 1970/71 beendete ich meine bisherige Lehrtätigkeit in Münster und begann die künftige in Göttingen, indem ich an beiden Orten ein Seminar über den Propheten Elia hielt. Was ich, zunächst wenigstens, nicht wissen konnte: hier wie dort befand sich unter den Teilnehmern ein namhafter Alttestamentler der nächsten Generation – und beide wurden später nahe Freunde. In Münster war es Hermann Spieckermann, stud. theol. im dritten Semester, in Göttingen Timo Veijola, mit 23 Jahren bereits Magister der theologischen Fakultät in Helsinki und ordinierter Geistlicher der finnischen lutherischen Kirche. Er war mit einem Stipendium des Lutherischen Weltbundes nach Göttingen gekommen, um hier seine in Helsinki begonnenen alttestamentlichen Studien abzurunden, mit dem Ziel einer Promotion an der Heimatfakultät. Er stammte aus Oulu, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Norden Finnlands1. Beide Eltern hatten Agrarwissenschaft studiert, der Vater arbeitete als „Bezirksagronom“, die Mutter unterrichtete Biologie in der Schule; ein älterer Bruder wurde Forstmann und Spezialist für die Tundra-Vegetation. Ihm selbst schwebte zeitweise ein Studium der Germanistik vor, doch dann entschied er sich für die Theologie, um Pfarrer zu werden. Für das Alte Testament gewann ihn schon früh ein Professor, dem er persönlich nicht mehr begegnen konnte, nämlich Gerhard von Rad. „Als Student im dritten Semester“, so hat er später berichtet, „stieß ich eher zufällig auf seine Theologie des Alten Testaments, die in den sechziger Jahren in Helsinki als ein alternatives Lehrbuch für die alttestamentliche Theologie empfohlen, aber wegen der deutschen Sprache und des anspruchsvollen Inhalts von den Studenten selten gewählt wurde. Schon nach der Lektüre von einigen zehn Seiten jedoch war ich auf eine eigenartige Weise in den Bann des Werkes gezogen und alsbald davon überzeugt, dass Altes Testament mein Hauptfach sein werde. Wie unzählige andere Menschen hat 1  Für biographische Auskünfte danke ich herzlich Frau Pirjo Veijola in Tampere. – Vgl. auch die Würdigung durch W. Dietrich in: T. Veijola, Offenbarung und Anfechtung (2007) 1–9 (mit kostbaren Briefzitaten).

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von Rad mich durch seine Schriften gelehrt, das Alte Testament zu lieben.“2 Von vornherein sprachlich interessiert – neben der Theologie studierte er in Helsinki griechische Philologie –, wandte er sich nunmehr unter Anleitung von Professor Jussi Aro auch den semitischen Sprachen zu. Der Weg zur Magister-, womöglich auch Doktorwürde im erwählten Hauptfach führte über das Graduiertenseminar des Alttestamentlers Ilmari Soisalon-Soininen (1917–2002), wo im akademischen Jahr 1968/69, wahrscheinlich am Leitfaden von Noths „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“, die deuteronomistische Historiographie besprochen wurde3. Das wissenschaftliche Interesse dieses Professors gehörte fast ausschließlich der Septuaginta, und so zeugt es für die Wertschätzung, die er dem jungen Veijola entgegenbrachte, dass er ihn schon im Sommer 1970 als „Forschungsassistenten“ in seinem „Septuagintaprojekt“ beschäftigte. Für den Dissertationsplan zeichnete sich damit bereits eine ungefähre Richtung ab: Septuagintaprobleme im Bereich der deuteronomistischen Historiographie, vorzugsweise in den dafür besonders ergiebigen Samuelbüchern. Mit der Septuaginta hing auch die Entsendung nach Göttingen zusammen. Soisalon-Soininen beschrieb die weltweite Septuaginta-Forschung gern und nur halb im Scherz als eine Ellipse mit den beiden Brennpunkten Helsinki und Göttingen, wobei in Helsinki die Übersetzungstechnik, in Göttingen die kritische Edition im Vordergrund stand. Ob er wohl daran dachte, dass genau ein Jahrhundert vor Timo Veijolas erstem Göttinger Aufenthalt, 1871, ebendort eins der grundlegenden Werke sowohl zur Septuaginta als auch zu den Samuelbüchern erschienen war, Wellhausens „Text der Bücher Samuelis“? Jedenfalls war das Septuaginta-Unternehmen im Lagardehaus, damals unter der Leitung von Robert Hanhart, zunächst Veijolas wichtigste Göttinger Adresse. Im Alten Testament war seit Jahren nur der erste der beiden Lehrstühle besetzt, aber durch keinen Geringeren als Walther Zimmerli, der für Timo Veijola bald zu einem wichtigen Lehrer und väterlichen Freund wurde. Es traf sich, dass zugleich mit Veijolas Kommen durch meinen Dienstantritt auch jene Lehrstuhlvakanz ein Ende fand. Zwar war ich kein Septuaginta-Spezialist, aber ich hatte, seit ich mir 1955/56, übrigens auf Anregung Zimmerlis, einige Monate an den Prosatexten des Jeremiabuchs die Zähne ausbiss, die deuteronomistischen Probleme quer durch das Alte Testament im Auge behalten und dabei immer mehr den Eindruck gewonnen, dass die einschlägigen Texte umfangreicher und vielschichtiger sind, als Martin Noth für das von ihm postulierte Geschichtswerk angenommen hatte. Dieses Interesse intensivierte sich in den Münsteraner Jahren und führte unter anderem zu der 1971 in meiner Göttinger Antrittsvorlesung vorgetragenen Hypothese einer „nomistischen“ Bearbeitung jenes Ge2  T. Veijola, Leben nach der Weisung. Exegetisch-historische Studien zum Alten Testament, hg.v. W. Dietrich (2008) 13. 3  Vgl. L. Aejmelaeus, Academia Scientiarum Fennica, Year Book 2005, 147.150.

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schichtswerks4. Unter den Zuhörern in der Göttinger Aula befanden sich außer dem üblichen akademischen Premierenpublikum auch Timo Veijola und der als Assistent mit mir gekommene Walter Dietrich, 27 Jahre alt und frischgebackener Doktor der evangelisch-theologischen Fakultät in Münster. Auch er brachte eine fertige Arbeit zum deuteronomistischen Geschichtswerk mit: seine Dissertation, in der er einen dritten (der Zeitfolge nach zweiten) Deuteronomisten postulierte, der prophetische Texte und Reflexionen in das Werk eintrug5. Dietrich nannte diesen Sekundär-Deuteronomisten DtrP, ich nannte auf Dietrichs Vorschlag den (oder besser die) „nomistischen“ Tertiär-Deuteronomisten DtrN, ihren grundlegenden Vorgänger nannten wir zunächst DtrG (G für Geschichtswerk), später6 DtrH (H für Historiker), während „DtrG“ sich für das Geschichtswerk als ganzes einbürgerte. Wir ahnten nicht, dass wir eine kleine Lawine lostraten. Nicht lange, dann sprach man von einer „Göttingen School“ – ganz hat das immer noch nicht aufgehört –, und außerhalb Göttingens wurden emsig weitere Deuteronomisten kreiert, deren Bezeichnungen mit „Dtr“ begannen; nach einigen Jahren sollte ein neu hinzugekommener Göttinger, der sich keiner „School“ subsumieren ließ7, über den „Siglenzirkus“ spotten. Timo Veijola, ein nüchterner Mann, wurde durchaus nicht von heute auf morgen zum Anhänger dieser – übrigens nicht in jeder Hinsicht neuen – Forschungsrichtung; überhaupt war er ja von Helsinki her nicht an Literarkritik gewöhnt. In den ersten Sitzungen des Elia-Seminars äußerte er sich selten, reserviert und kritisch. Ihn irritierte schon, wie er nach Jahren lächelnd bekannte, die scheinbare Äußerlichkeit, dass der Seminarleiter außer dem „Regum“-Heft der Biblia Hebraica nie etwas Gedrucktes oder Geschriebenes mitbrachte; bei der literarischen Analyse von 1 Kön 17–19, über die das Seminar nicht hinauskam8, sollte möglichst nur von den Texten selbst, nicht von vorliegenden wissenschaftlichen Thesen oder gar „Modellen“ ausgegangen werden. In der Sache war Veijola zunächst ganz und gar nicht mit dem in seinen Augen viel zu großen Umfang einverstanden, der den redaktionellen Bestandteilen dieser Kapitel eingeräumt wurde. Aber allmählich ließ er sich überzeugen, nicht nur im Seminar, sondern im Anschluss daran auch in Gesprächen und wohl noch mehr durch die Lektüre der beiden genannten, sich im Untertitel „redaktionsgeschichtlich“9 nennenden Arbeiten Münsterschen Ursprungs. 4  Vgl. Das Gesetz und die Völker. Ein Beitrag zur deuteronomistischen Redaktionsgeschichte. In.: Probleme biblischer Theologie. Gerhard v. Rad zum 70. Geburtstag, hg.v. H.W. Wolff (1971) 494– 509 (Die Mitte des Alten Testaments, 2002, 148–61). 5  W. Dietrich, Prophetie und Geschichte. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung zum deuteronomistischen Geschichtswerk (1972). 6  Vgl. Dietrich, VuF 22 (1977) 4811. 7  Lothar Perlitt. 8  Vgl. R. Smend, Das Wort Jahwes an Elia. Erwägungen zur Komposition von 1 Kön 17–19, VT 25 (1975) 525–43 (= Die Mitte des Alten Testaments, 2002, 203–18). 9  Ich wüsste nicht mehr zu sagen, ob wir diesen Begriff bewusst von anderswoher übernahmen. Als sein Urheber gilt W. Marxsen, der 1956 seiner Habilitationsschrift über den Evangelisten Mar-

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Am wichtigsten wurde der Austausch mit dem einige Jahre älteren Walter Dietrich. Zwischen beiden entwickelte sich bald eine lebenslange intensive Arbeitsgemeinschaft, in der die Beteiligten ihre volle Selbständigkeit und Eigenart wahrten, sich aber gegenseitig sehr fruchtbar anregten und ergänzten. So kam es, dass bei Veijola das Interesse an der Literarkritik, genauer an der (deuteronomistischen) Redaktionsgeschichte, nach einiger Zeit das an der Textgeschichte, genauer an der Septuaginta, deutlich überwog. Aber die Samuelbücher als Feld für seine Dissertation behielt er bei. Das schien auf den ersten Blick ein in dieser Hinsicht ganz unergiebiges Feld zu sein. Noch vor kurzem hatte G. v. Rad geschrieben und damit einigermaßen die communis opinio wiedergegeben: „merkwürdigerweise klafft zwischen dem Ende der Richterzeit und dem Einsatz des dtr Königsbuches (1. Kön. 3,1ff.) eine große Lücke, in die Dtr überhaupt nicht bearbeitend eingegriffen hat“, und er hatte das mit richtigem Instinkt einen „schwer erklärbaren Befund“ genannt10. Nachdem Veijola das Feld in einem ersten Arbeitsgang kreuz und quer durchstreift und da und dort auch schon etwas tiefer aufgegraben hatte, kam er zu dem Urteil, dass dieser Befund nicht „schwer erklärbar“, sondern falsch war. Für den genauen Nachweis wählte er zunächst die Geschichte Davids, die in 1  Kön 2f. endet. Er begann mit diesen beiden Schlusskapiteln und entdeckte dort eine unerwartet tief eingreifende deuteronomistische Bearbeitung, deren Ziel es ist, „das davidische Königtum als moralisch integer und von Jahwe legitimiert zu erweisen“11. Von dort zurückgehend fand er diese Bearbeitung an entscheidenden Weichenstellungen in der gesamten Davidgeschichte wieder, wobei sich ihm eher nebenbei auch hier die „Dreischichtigkeit“ von DtrG (= H), DtrP und DtrN ergab12. Als deuteronomistisch erwies sich unbeschadet zweier verwendeter älterer Orakel insbesondere die umfangreichste Ausformung der Dynastieverkus den Untertitel „Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums“ gab und dort im Vorwort erklärte, wie nach dem ersten Weltkrieg die Formgeschichte habe nach dem zweiten die Redaktionsgeschichte „gleichsam in der Luft“ gelegen. Beim Alten Testament, wo der Begriff sich stärker aufdrängt als beim Neuen, fand er im Lauf der sechziger Jahre noch eher programmatisch als ausgeführt Eingang in die Lehrbücher der „Einleitung“ (Fohrer 1965, 207 für den Pentateuch, Kaiser 1969, 234 für die Prophetenbücher). Vgl. auch J. Rohde, Die redaktionsgeschichtliche Methode (1966); W. Klatt, Hermann Gunkel (1969) 126; Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur (1975) 290f. und R. Smend, ThR 49 (1984) 24f. Doch von „Geschichte der Redaktion“ spricht schon R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition (11921) 194 und vor ihm von „Stufen der Redaktion“ J. Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien (11905) 57, und lange vorher begegnet die „Redactionsgeschichte“ in der Pentateuchkritik bei J. Popper, Der biblische Bericht über die Stiftshütte (1862) 5 zusammen mit „Compositionsgeschichte“ und „Diaskeue“. Auch hier könnte übrigens gelten: „Am Anfang war Napoleon“, vgl. die „Redactionsgeschichte“ bzw. „Redactions-Geschichte“ des Code de commerce von 1808 bei J.A.L. Seidensticker, Einleitung in den Codex Napoleon (1808) 296. 10  Theologie des Alten Testaments (1957) 332, (41962) 346f. 11  T. Veijola, Die ewige Dynastie. David und die Entstehung seiner Dynastie nach der deuteronomistischen Darstellung (1975) 46. 12  Hierzu ebd. 127–42.

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heißung an David an ihrem locus classicus, der Nathansweissagung in 2 Sam 713. Veijola war weder der Erste noch der Jüngste, der sich in Göttingen mit diesem Kapitel befasste. 1863 hatte die dortige theologische Fakultät einer in sechs Wochen zu lösenden Preisaufgabe das Thema gegeben: „Entwicklung der messianischen Grundweissagung in 2 Sam 7“, und eine Prämie von zehn Talern hatte die Arbeit des 19jährigen stud. theol. Julius Wellhausen gewonnen, der sie mit dem Wunsch begleitete, aus ihr lasse sich „hoffentlich ersehen […], daß sie mit Liebe gemacht“ sei14. Leider hat sie sich nicht erhalten, so dass wir nicht vergleichen können, aber eine Gemeinsamkeit dürfte feststehen: auch Veijolas Arbeit ist mit Liebe gemacht. Die Wissenschaft war ihm immer Herzenssache, er betrieb sie mit dem vollen Einsatz seiner Person und konnte mit Leidenschaft um seine Einsichten ringen und für sie kämpfen. Das beeinträchtigte aber nicht, sondern förderte die planmäßig-zielstrebige Sorgfalt, mit der er bei seinen Analysen und Synthesen zu Werke ging. Er legte stets in durchsichtiger Disposition das gesamte relevante Material vor, bedachte alles, ging keiner Schwierigkeit aus dem Weg, tat niemals den zweiten Schritt vor dem ersten und gab über jeden Schritt genau Rechenschaft, ohne dabei in den Fehler mancher Dissertationsverfasser zu verfallen, den Lesern überflüssige methodologische Belehrungen zu erteilen. Auch sonst war „Die ewige Dynastie“ keine typische Anfängerarbeit; mit ihr stand ihr Autor bereits auf dem Niveau, das er dann zeitlebens gehalten hat. Als „Ergebnis“ formulierte er, Noths Datierung des deuteronomistischen Geschichtswerks in das babylonische Exil voraussetzend, „dass die Katastrophe von 587 nicht den Untergang, sondern den eigentlichen Anfang der Hoffnungen bedeutete, die sich um das davidische Königtum zu bilden begannen“15; das idealisierte Davidbild des DtrG/H ist „Vehikel zur Mitteilung dieser Hoffnung“16. Ein „besonderes Problem“ liegt natürlich darin, „dass diese tiefgreifende Besinnung auf den unerschütterlichen Bestand der davidischen Dynastie zu einer Zeit stattgefunden hat, da dieses Königshaus in Wirklichkeit entmachtet war“, wogegen sich aber auf die „entsprechenden Äusserungen in den eindeutig späteren Partien des AT“ und besonders darauf hinweisen lässt, „dass die Überzeugung von der Unvergänglichkeit der Daviddynastie in der prophetischen Literatur erst bei den späteren Propheten und in den sekundären Erweiterungen der älteren Prophetenschriften zu entdecken ist“17. 13  Entscheidend die DtrH-Sätze v. 11b.13.16.26 (ebd. 72–77). 14  Wellhausen, Briefe (2013) 3. Das Thema heißt dort „Die Entwicklung der messianischen Weissagung“. Ist das eine Abkürzung oder hat Wellhausen das (in den Stiftsakten der Fakultät verzeichnete) Thema von sich aus erweitert oder handelt es sich um zwei Arbeiten, von denen die zweite thematisch an die erste anschließt? 15  A.a.O. 137 (Hervorhebung von Veijola). 16  Ebd. 138. 17  Ebd. 137.

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Die Dissertation war im Herbst 1974 fertig – bis dahin war der Göttinger Aufenthalt durch Stipendien des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung verlängert worden – und wurde am 5. April 1975 in feierlicher Disputation vor der theologischen Fakultät Helsinki und einem zahlreichen Publikum gegen einen aus Göttingen eingeflogenen Opponenten, der nicht viele Einwände hatte, souverän und konzentriert verteidigt. Ganz am Rande ließ der junge Doktor durchblicken, dass er mittlerweile mit einem anderen, nicht weniger weitreichenden Problem auf dem Feld der Samuelbücher beschäftigt war. Er hatte mich schon vor geraumer Zeit, wohl irgendwann 1973, eines Tages unvermittelt gefragt: „Haben Sie schon 1 Sam 8–12 und besonders Kapitel 8 auf DtrN hin untersucht?“ Meine Antwort war gewesen: „Nein, aber die Samuelbücher sind ja auch Ihre Domäne! Für aussichtsreich würde ich diese Untersuchung allerdings halten.“ Das feine Lächeln, mit dem er sich daraufhin verabschiedete, ließ mich vermuten, dass er bereits eine bestimmte Spur verfolgte. Das erwies sich als richtig. Gleich nach Fertigstellung der „Ewigen Dynastie“ begann er mit der Ausarbeitung seiner neuen These, die er nach wenig mehr als einem Jahr abschloss; das Buch, mit 147 Seiten noch schlanker als sein Vorgänger (164), erschien 1977 mit dem Titel „Das Königtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung“. Die Erzählungsreihe 1 Sam 8–12 gehört zu den Schlüsseltexten des Alten Testaments. Indem sie die Königwerdung Sauls und damit die Entstehung des Königtums schildert, handelt sie grundsätzlich von dieser Institution überhaupt; nicht ohne Grund hat Martin Buber von der „biblischen Politeia“ gesprochen18. Die Kapitel enthalten allerdings einige offenkundige Ungereimtheiten, die sich nur literarkritisch auflösen lassen. Hier hatte, wie so oft, Wellhausen Epoche gemacht, indem er die Redegänge zwischen Samuel und dem Volk 1 Sam 8; 10,17–27; 12 als eine jüngere Version erwies, „mit Beziehung auf [die] ältere Erzählung geschrieben und von Anfang an […] in dieselbe eingeschaltet“19, und indem er „1. Sam. 8 mit Zubehör“ als „deuteronomistisch“ bestimmte, mithin „schwerlich in eine Zeit zu setzen, wo noch das judäische Königtum bestand“20. „Im Hintergrunde der beiden verschiedenen Berichte“, so Wellhausen21, „erkennen wir den geistigen Abstand zweier Zeitalter. Dem vorexilischen Israel ist das Königtum der Höhepunkt der Geschichte und die größte Segnung Jahves“, für die „jüngere Version“ ist „die Errichtung des Königtums nur eine tiefere Stufe des Abfalls“. Im Gegensatz zu anderen, teils quellenscheidend, teils über-

18  S.o. 631. 19  Der Text der Bücher Samuelis (1871) X. 20  Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments (31899) 243. 21  Prolegomena zur Geschichte Israels (61905) 250f., vgl. R. Müller, Königtum und Gottesherrschaft (2004) 3f.

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lieferungsgeschichtlich verfahrenden Lösungsversuchen22 war Noth Wellhausen gefolgt und hatte dessen jüngere Version dem Verfasser „seines“ deuteronomistischen Geschichtswerks zugeschrieben23. Dieser führe, so Noth auf den Spuren Wellhausens, „die Entstehung der von ihm negativ beurteilten Einrichtung des Königtums im Grunde einfach auf den bösen Eigenwillen des Volkes zurück“24. Durch das „im Grunde“ und ein wenige Sätze später folgendes „So etwa“ hatte Noth allerdings, gewissenhaft wie er war, schon selbst eine leichte Unschärfe dieser Diagnose eingeräumt, und in der Tat lässt sich Kapitel 8 nicht „einfach“ auf das Konto der Königtumskritik verrechnen; neben dem unzweideutigen Nein Samuels und Jahwes zum Begehren des Volkes nach einem König steht ohne gedanklichen Ausgleich der göttliche Befehl an Samuel zur Einsetzung dieses Königs. Gegenüber allerlei redlich bemühten Versuchen, den Ausgleich doch noch irgendwie herbeizuzwingen25, hatte Veijolas literarkritischer bzw. redaktionsgeschichtlicher Vorschlag schon den Vorzug der Einfachheit: der königtumskritische Passus 1 Sam 8,6–22a geht nicht auf den deuteronomistischen Geschichtsschreiber (DtrH), sondern – wiederum: unbeschadet älterer Elemente, wie sie im „Recht des Königs“ v. 11–17 stecken mögen – auf seinen „nomistischen“ Ergänzer (DtrN) zurück 26, dem auch die übrigen königskritischen Texte in der näheren und weiteren Umgebung, beginnend mit dem Gideonspruch (Ri 8,22f.)27 und gekrönt von Samuels Abschiedsrede (1 Sam 12), zuzuschreiben sind. In Einzelheiten mag Veijolas Analyse zu modifizieren sein – auch er selbst hat das übrigens noch getan28 –, die Grundthese, durch Veijolas minutiöse Untersuchung des Inhalts und der Sprache gewonnen und abgesichert, dürfte feststehen: der „geistige Abstand zweier Zeitalter“ tut sich bei diesem wichtigen Gegenstand nicht, wie so oft, zwischen Tradition und Redaktion auf, sondern innerhalb der Geschichte der (deuteronomistischen) Redaktion. Während der Autor des deuteronomistischen Geschichtswerks, der als letztes Ereignis die Begnadigung des letzten judäischen Königs Jojachin durch den babylonischen König Ewil-Merodach (Amelmarduk) berichtet (561 v.Chr., 2 Kön 25,27–30), 22 Zum Gang der Forschung vgl. Veijola, Königtum 6–13; Müller a.a.O. 3–11; W. Dietrich, Samuel I (2010) 349–51. 23  Überlieferungsgeschichtliche Studien (1943) 56–60. 24  Ebd. 57. 25  Vgl. besonders H. J. Boecker, Die Beurteilung der Anfänge des Königtums in den deuteronomistischen Abschnitten des I. Samuelbuches. Ein Beitrag zum Problem des „Deuteronomistischen Geschichtswerks“ (1969). 26  Königtum (1977) 53–72. 27  Ebd. 100–03. 28  Endgültig hat er 1Sam 8,6a.7–21 DtrN und darin v. 8.9a noch „einem jüngeren Vertreter des DtrN-Kreises“ zugeschrieben (Moses Erben, 2000, 202 mit Anm. 58). Eine Verfeinerung der Analysen Veijolas bietet R. Müller (Anm. 21), mit dem sich wiederum, sozusagen aus „altgöttinger“ Sicht, W. Dietrich, ThLZ 132 (2007) 308f. auseinandersetzt. Den ernsthaftesten Einspruch gegen Veijola hat U. Becker eingelegt: Der innere Widerspruch der deuteronomistischen Beurteilung des Königtums (Festschrift A.H.J. Gunneweg, 1987, 246–70).

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offenbar dort wie bei Sauls Königwerdung noch von der Wertschätzung des angestammten Königtums als einer göttlich begründeten Institution ausgeht und vermutlich deren Wiederherstellung erhofft, lässt sein „nomistischer“ Ergänzer die Erzählung seines Vorgängers von Sauls Königwerdung zwar (unter Einschluss der dort verwendeten „älteren Version“) im Wortlaut bestehen, versieht sie aber mit Zusätzen, die die in ihr ausgesprochene Wertung geradezu ins Gegenteil verkehren. Veijola schließt theologisch-grundsätzlich: „Die Polemik des DtrN gegen das Königtum wurzelt in der Einsicht, dass Jahwe der eigentliche König Israels ist und keinen Konkurrenten von menschlicher Seite neben sich duldet (Ri 8,23; 1 Sam 8,7; 12,12). […] DtrN hat […] als erster aus der Erkenntnis von Jahwes Königtum die theokratische Konsequenz gezogen, dass es gar kein menschliches Königtum geben dürfte. Wenn ich recht sehe, gehört diese Einsicht zu dem Wertvollsten in der Theologie des DtrN, der in der bisherigen Forschung wegen seiner monotonen Betonung der Gesetzestreue etwas stiefmütterlich behandelt worden ist. Die theologische Bedeutsamkeit seiner theokratischen Sicht wird erst dann transparent, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass ein König im alten Orient einschliesslich Israels nie bloss ein neutraler Administrator war, sondern ein mächtiges ideologisch-religiöses Kraftzentrum, das einen grossen Einfluss auf die Weltanschauung und Lebensführung des einzelnen Bürgers ausübte. Indem DtrN die Existenzberechtigung dieser potestas in Frage stellte, vollbrachte er eine beachtenswerte ideologisch-religiöse Reinigung – eine Aufgabe, zu der auch alle spätere Theologie unter veränderten Verhältnissen verpflichtet ist.“29 Der Zufall wollte es, dass fast gleichzeitig mit Veijolas „Königtum“ ein „Widerstand gegen das Königtum“ erschien, ebenfalls das zweite Buch eines durch eine vorzügliche Dissertation ausgewiesenen Autors, mit vollem Titel: Frank Crüsemann, Der Widerstand gegen das Königtum. Die antiköniglichen Texte des Alten Testaments und der Kampf um den frühen israelitischen Staat (1978). Veijolas Vorwort ist auf Januar, das Crüsemanns auf Februar 1977 datiert; so konnte leider keiner der beiden sogleich auf den anderen eingehen. Immerhin nahm Crüsemann Gelegenheit, die Grundthese von Veijolas vorausgegangener Dissertation ohne allzuviel Federlesens für „schlichtweg mißglückt“ zu erklären30, und da er sein eigenes „im Rahmen der Habilitationsarbeit vorgelegtes neues Modell des vorstaatlichen Israel“ noch nach Jahrzehnten „in Grundzügen bis heute bewährt“ nannte31, ist anzunehmen, dass er Veijolas Buch von 1977 ebenso beurteilte wie das von 1975. Das „neue Modell“ verstand sich als ein sozialgeschichtliches und gehört in die Reihe der Versuche, „für eine seit Wellhausen recht leer gewordene Epoche israelitischen Daseins ein wissenschaftlich zu 29  Königtum 121f. 30  Widerstand 1295. 31  Alttestamentliche Wissenschaft in Selbstdarstellungen, hg.v. S. Grätz /B. U. Schipper (2007) 238.

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rechtfertigendes Geschichtsbild“ zu gewinnen32. Hatte sich der bekannteste dieser Versuche, M. Noths „Amphiktyonie“-Hypothese, vorzugsweise griechischer Analogien bedient33, so orientierte sich Crüsemann an Verhältnissen bei afrikanischen Völkern, für die in der Soziologie Begriffe wie „regulierte Anarchie“ und „segmentäre“ oder „akephale Gesellschaft“ in Gebrauch waren34. Er führte die königtumskritischen Texte, voran Gideonspruch, Jotamfabel und Königsrecht, direkt oder indirekt auf die Frühzeit des Königtums zurück; „stets ist das vorstaatliche Israel und damit die segmentäre Gesellschaft die Norm, an der es [das Königtum] gemessen und nach der es verurteilt wird“35. Auf andere Weise ist auch Crüsemanns Buch selbst ein königtums-, ja staatskritischer Text, dem man eine einschlägige Voreingenommenheit mit mindestens gleichem Recht vorhalten könnte, wie Crüsemann es in umgekehrter Richtung gegen Wellhausen unternimmt36. Inzwischen fällt auf der Gegenseite nicht nur die redaktionsgeschichtliche Arbeit Veijolas und seiner Nachfolger ins Gewicht, sondern auch der Nachweis, dass die Übertragung der Verhältnisse in „segmentären Gesellschaften“ auf ein vorstaatliches Israel auf schwere Bedenken stößt37, und, last not least, eine veränderte Einschätzung der Rolle des Königtums überhaupt: von den Autoritäten der Jahrhundertmitte als „Episode“ angesehen38, als „zu spät gekommen“ und „nicht zum konstitutiven Grundbestand der israelitischen Volksordnung“ gehörig39, hat es sich inzwischen die fundamentale Rolle zurückerobert, die es in Israel wie im ganzen alten Orient spielt und ohne die uns vieles im Alten Testament unverständlich bliebe. Das geradezu modische Interesse, das die Königtumskritik in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts fand, speiste sich vorwiegend aus der „antiautoritären“ Strömung, die nach 1968 die theologischen Fakultäten umspülte. „Widerstand gegen das Königtum“ gehörte damals zu den meistgewählten Spezialgebieten im alttestamentlichen Examen, wobei die Kandidaten als gelesene Literatur meist nur das im Trend liegende, zudem gut geschriebene Buch Crüsemanns angaben40 und zur Veijola-Lektüre erst mühsam überredet werden mussten. Der künftigen Forschung hatte allerdings Veijola den bei weitem aussichtsreicheren Weg gewiesen. Die in seinen beiden Erstlingsschriften erfolgte „Näherbestimmung des Nothschen Deuteronomisten“ konnte schon bald mit Fug „der bedeutendste Einzelbeitrag zur alttestamentlichen Literaturgeschichte aus der jüngsten Zeit“ genannt werden41. 32  M. Buber, Königtum Gottes (1932) Vorwort (Werke II, 1964, 491; MBW XV, 96). 33  S. o. 834. 34  Widerstand a.a.O. 203. 35  Ebd. 217. 36  Widerstand 3–7. 37  Vgl. J.W. Rogerson, JSOT 36 (1986) 17–26. 38  M. Noth, Geschichte Israels (21954) 262. 39  A. Alt, Kleine Schriften II (1953) 116. 40  Dessen Qualitäten wusste man auch in Göttingen zu schätzen, vgl. W. Dietrich, UF 10 (1978) 465f. 41  Ch. Levin, Der Sturz der Königin Atalja (1982) 111.

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Ende 1974 verließen die Veijolas Göttingen zu viert, nachdem sie vier Jahre vorher zu zweit – Timo mit seiner jungen Frau, der Physiotherapeutin Pirjo Veijola – gekommen waren; in Göttingen hatten die Töchter Sanna und Tuulia, wie der Vater sich ausdrückte42, „das Tageslicht erblickt“. Sie sollten mehrfach zu kürzeren und längeren Aufenthalten wiederkehren, später mitsamt dem 1978 geborenen Sohn Jaakko. „Die ewige Dynastie“ widmete der Vater 1974 den Töchtern, das finnische Buch über den Dekalog 1988 dem Sohn im Anklang an ägyptische Lehren „zur Weisung auf dem Weg des Lebens“. Göttingen betrachtete er fortan als seine zweite akademische Heimat; auch aus der Ferne nahm er Anteil an den Geschicken der Georgia Augusta und mancher ihrer Bürger, nicht nur in der theologischen Fakultät, und es drückte ein längst bestehendes Verhältnis aus, als ihn 1996 die Akademie der Wissenschaften zum korrespondierenden Mitglied wählte. Zwar schrieb er mir einmal: „Mir ist die deutsche Sprache so lieb wie meine Frau, aber von beiden muß ich gestehen, daß ich sie nie voll beherrschen werde.“ Doch sein Deutsch brauchte sich vor dem seiner hiesigen Fachgenossen nicht zu verstecken, er sprach es geläufig und nuanciert, verstand auch Ironie (einschließlich Selbstironie) sofort und wusste sie zu erwidern. Er schrieb muntere und inhaltreiche Briefe, in denen er mit entschiedenen Urteilen nicht zurückhielt. Natürlich beschränkte sich der Austausch nicht auf Göttingen und nicht auf Deutschland; Veijola war bald ein geschätzter Vortragsredner und Diskussionsteilnehmer und hatte in aller Welt ständige Gesprächspartner und Freunde. Den Radius seiner wissenschaftlichen Beziehungen und des Ansehens, das er genoss, beleuchtet der Umstand, dass die Beiträge zu der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag, die dann leider zur Gedenkschrift werden musste43, in zwölf verschiedenen Ländern geschrieben wurden. Gelegentlich gab es Überlegungen, ihn auf eine Professur in Deutschland zu holen; auch er selbst hatte nach eigenem Geständnis hin und wieder „Träume“ in dieser Richtung, winkte aber, konkret auf solche Möglichkeiten angesprochen, immer gleich ab; er fühlte sich mit seiner Familie in Finnland zu Hause und empfand stark die Verpflichtung gegenüber seiner Fakultät in Helsinki. Dort stieg er seit der Rückkehr aus Göttingen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in steter Folge vom Assistenten und Dozenten über die Erlangung des Professorentitels (1980) 1985 zum Inhaber des Lehrstuhls für Altes Testament auf. Über die Reihung der fünf in die engere Wahl gekommenen (durchweg finnischen) Kandidaten und Kandidatinnen hatten im Oktober 1984 die Professoren J. Barr (Oxford), K.-J. Illman (Åbo) und O. Kaiser (Marburg) zu entscheiden; alle drei setzten Veijola an die erste Stelle. Er war sich der Verantwortung, die er mit dem Lehrstuhl übernahm, sehr bewusst. Auch um ihretwillen hielt er sich immer wieder seine älteren Vorgänger vor Augen, von denen der Kohelet-Kommentator Aarre Lauha (1907–88), inzwischen Bischof von 42  Die ewige Dynastie 3. 43  Houses Full of All Good Things, hg.v. J. Pakkala und M. Nissinen (2008).

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Helsinki, noch lebte. Besonders fühlte er sich mit Antti Filemon Puukko (1875– 1954) verbunden, dessen Karriere die seinige auf verblüffende Weise vorausgenommen zu haben schien: Studium der semitischen Sprachen in Helsinki bei K. L. Tallqvist, dann (1906–09) des Alten Testaments in Leipzig (sozusagen seinem „Göttingen“) bei dem verehrten R. Kittel, Promotion 1909 in Helsinki mit einer literarkritischen Dissertation über das Deuteronomium44, mehrmalige Rückkehr nach Leipzig, Arbeit an den altorientalischen Parallelen zum alttestamentlichen Gesetz, Dozent in Helsinki 1910–18, Professor 1918–27, Lehrstuhl 1927–45. Veijola rechnete Puukkos Dissertation zu den „classics of deutero­ nomic research“ und urteilte insgesamt: „He contributed decisively to the breakthrough of historical-critical biblical studies in his homeland through his broad writing activities in the Finnish language and also played an influential role in the modern translation of the Finnish Bible, OT (1933) and NT (1938).“45 Respekt hatte Veijola auch vor dem „grand old man der finnischen Bibelwissenschaft“ seiner eigenen Anfangszeit, dem Alt- und Neutestamentler Rafael Gyllenberg (1893–1982, Ordinarius in Helsinki 1929–34), auch wenn ihre Themen und Positionen weiter auseinander lagen46. Er selbst wurde nicht alt genug, um „grand old man“ genannt zu werden, aber an der überragenden Bedeutung, die auch er für die finnische Bibelwissenschaft gehabt hat, kann kein Zweifel sein. Anstelle der in Finnland wie in den meisten Ländern nicht üblichen Habilitation hatte er sich 1975 durch eine Probevorlesung (und durch Kenntnisse in der schwedischen Minoritätssprache!) als „Dozent der alttestamentlichen Exegetik“ zu qualifizieren. Die Vorlesung hieß „Der König und die Theokratie“ und wird die Quintessenz des in statu nascendi befindlichen „Königtums“ geboten haben. Die Lehrtätigkeit begann 1976 mit einem Seminar über die Bundestheologie. Dieses Thema war spätestens seit 1969 virulent, als Lothar Perlitt seine Attacke auf das „Bundesformular“ ritt47. Veijola war mit Perlitts theologiegeschichtlicher Einordnung der Bundestheologie in den „Deuteronomismus“ weitgehend einverstanden, fand aber, dass Perlitt die Parallelen zu den altorientalischen Staatsverträgen allzu rigoros vom Tisch gewischt hatte. Er gedachte ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, wobei ihm die philologischen Studien zustatten kamen, die er in Göttingen nebenher bei dem großen Assyriologen Rykle Borger (1929–2010) betrieben hatte. Als Ausgangspunkt wählte er, charakteristisch für den leidenschaftlichen Exegeten, wohl schon in jenem Seminar einen biblischen Text, nämlich Psalm 89, in dem solche Parallelen gehäuft begegnen. Sie waren allerdings schon von Anderen, besonders E. Lipiński48, so eingehend behandelt worden, dass sie für Veijola bei der weiteren Beschäftigung mit Ps 89 ganz zurücktraten und er ihre Erörterung in einen gesonderten 44  BWAT V (1910). 45  DBInt (1999) II, 342. 46  Vgl. Offenbarung und Anfechtung (2007) 10–18. 47  S.o. 929f. 48  Le poème royal du Psaume lxxxix 1–5.20–38 (1967).

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Aufsatz verschob, aus dem seine völlige Vertrautheit mit diesem Material hervorgeht49. Dem neuen Buch kamen 1978 ein viermonatiger Aufenthalt in Jerusalem und 1980 ein achtmonatiger in Göttingen zugute. In Jerusalem lebte er mit seiner Familie im Ökumenisch-theologischen Institut Tantur und diskutierte mit den Fachgenossen in der Hebräischen Universität und der École biblique, in Göttingen hatte er der Kritik der Nachfolger W. Zimmerlis und W. Dietrichs standzuhalten: Lothar Perlitt zerpflückte ebenso lustvoll wie unergiebig seine Thesen, Christoph Levin setzte ihnen von den Texten her scharfe Alternativen entgegen, um bald darauf seine für ihn grundlegende erste Schrift wie zur Versöhnung dem „Freund und Widersacher Timo Veijola“ zu widmen50. Perlitt stellte damals eine Weiche für Veijolas weiteren Weg, indem er den Gast überredete, im „Alten Testament Deutsch“ die Kommentierung des Deuteronomiums zu übernehmen. Das 1980 in Göttingen fertiggestellte Buch erhielt den Titel „Verheißung in der Krise. Studien zur Literatur und Theologie der Exilszeit anhand des 89. Psalms“. Es erschien 1982 wie schon seine beiden Vorgänger von 1975 und 1977 durch die Vermittlung Soisalon-Soininens, der auf seinen ersten Promovenden sehr stolz war, in den Abhandlungen der Finnischen Akademie der Wissenschaften. Veijola wollte es, wie er im Vorwort erklärte, nicht nur äußerlich mit der „Ewigen Dynastie“ und dem „Königtum“ als Teil einer Trilogie zusammengesehen wissen. Der Schlussband übernimmt mit einigen Modifikationen die Ergebnisse der ersten beiden, voran die Dreiheit der Redaktionen des deuteronomistischen Geschichtswerks, dies jedoch so „dass hinter dem Siglum DtrN ein ganzer Kreis von Bearbeitern und Verfassern zu vermuten ist“51. Die eingehende Untersuchung des in der Forschung sehr kontrovers behandelten Psalms im näheren und weiteren Zusammenhang ergibt seine mehrstufige Entstehung als aus Motiven des Königsliedes gespeistes Volksklagelied unter deuteronomistischem Einfluss (einschließlich DtrN im angegebenen Sinn) noch während der Exilszeit. Der zentrale Punkt ist die im Zeichen der „Krise“ vollzogene „nationale Neuinterpretation der Königstheologie“52, genauer „die Ausdehnung bzw. Übertragung der Davidverheissung auf das Volk Israel“, eine Erscheinung, die sich nicht „nur auf diesen einen Psalm beschränkt, sondern einem breiteren Trend innerhalb der spätexilischen Theologie entspricht“53. „David wurde“, zitiert Veijola54 Wellhausen zu Ps 8955, „das Symbol der theokratischen Reichs49 Davidverheißung und Staatsvertrag. Beobachtungen zum Einfluß altorientalischer Staatsverträge auf die biblische Sprache am Beispiel von Psalm 89 (ZAW 95, 1983, 9–31, auch in: David, 1990, 128–53). 50  Der Sturz der Königin Atalja (1982). 51  A.a.O. 118. Vgl. in dieser Richtung schon R.S., Das Gesetz und die Völker (s. Anm. 4) 496f. (149f.). 52  Verheißung 145. 53  Ebd. 143. 54  Ebd. 133f. 55  Skizzen und Vorarbeiten VI (1899) 181.

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herrlichkeit, und nicht sein Geschlecht, sondern Israel galt als deren Inhaber von Gottes und Rechts wegen. Ohne Empfindung irgend eines Unterschiedes wird v. 39 von David auf Israel übergegangen, als wenn es sich von selbst verstünde, dass Israel der Erbe der Verheissungen Davids sei.“ Für Veijola löste sich hier auch ein in seiner vorigen Monographie „offengebliebenes Problem in der Einstellung des DtrN zum Königtum“, dass „nämlich die Verherrlichung Davids bei DtrN nicht mit einer Hochschätzung der Monarchie verbunden [ist], sondern ganz im Gegenteil mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung“56. Wie­der­ um ist die Tragweite voll im Blick: „Die damals vollzogene kollektive Aneignung des davidischen Verheissungskapitals hat unübersehbare Folgen für die Entwicklung des Judentums bis auf den heutigen Tag gehabt. Im Zuge der kühnen Neuinterpretation der Adressaten der Davidverheissung sind nämlich zugleich die Weichen für eine Glaubensweise gestellt worden, die wegen ihres nationalen Grundansatzes unvermeidlich jede Messianologie ablehnen muss, die mit einem universalen, die Schranken des Volkes Israel überschreitenden Messias rechnet. Und obwohl es im nachexilischen Zeitalter an Messianologie nicht gefehlt hat, ist selbst der Messias im Grunde genommen eine Randfigur geworden, nachdem das Volk Israel die messianische Verheissung und den messianischen Auftrag – die beide aus der Davidtheologie erwachsen – auf sich selbst genommen hat; der Platz des Messias ist seitdem de facto schon besetzt.“57 Das Schlusskapitel von „Verheißung in der Krise“ ist „Sitz im Leben“ überschrieben. Beobachtungen A. Jepsens58 und M. Noths59 auswertend, gibt es den exilischen Klageliedern und also auch Ps 89 ihre ursprüngliche Heimat in Klagefeiern, die in Mizpa und Bethel bezeugt scheinen, sucht dort aber auch die Herkunft der deuteronomistischen Bewegung überhaupt; das Geschichtswerk wäre der Gattung nach als eine in diesen Feiern verwurzelte „große, aus dem Kultischen ins Literarische transponierte ‚Gerichtsdoxologie‘“ (v. Rad) oder besser „Generalbeichte“ (Zimmerli) zu bestimmen60. Als Veijola dieses Kapitel am 1. Februar 1980 im Göttinger Doktorandenkolloquium vortrug, verteilte er ein Thesenpapier, dem er nicht nur den Titel gab: „Die Heimat der deuteronomistischen Bewegung“, sondern auch, in Klammern, den Untertitel „Ein Versuch, J. Wellhausen und H. Gunkel zu versöhnen“. Beim Abschluss des opus magnum, das die Trilogie der Jahre 1975/77/82 darstellt, bezog er sich also halb spielerisch auf die beiden Gelehrten, die seiner Wissenschaft im 20. Jahrhundert weit über Deutschland hinaus mehr als alle anderen den Weg gewiesen hatten. Als noch direkteren Paten seiner Ar56  Verheißung 160. 57  Ebd. 174. 58  Die Quellen des Königsbuches (1953) 95–100. 59  Überlieferungsgeschichtliche Studien (1943) 97.1101. 60  Ebd. 206 unter Bezugnahme auf G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I (51966) 355 und W. Zimmerli, Grundriß der alttestamentlichen Theologie (1972) 158, nach dem Vorgang von H. Gunkel (–J. Begrich), Einleitung in die Psalmen (1933) 132.

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beit hätte er auch M. Noth nennen können, dessen Lebenswerk zu einem Teil faktisch ebenfalls der Versuch einer solchen „Versöhnung“ gewesen ist; an ihn schlossen sich die redaktionsgeschichtlichen Arbeiten zum deuteronomistischen Geschichtswerk in Göttingen und anderswo auch und gerade dort an, wo sie ihn kritisierten. Veijola hat von Noth später in einer eigenen Studie61 gehandelt, die mit dem Urteil beginnt, er sei „mehr Historiker als Theologe gewesen“, und ihm am Schluss die „Ehre“ zuspricht, „das Fundament gelegt zu haben, auf dem andere ihre eigenen Theorien aufbauen konnten“. Im Gespräch bedauerte er mehr als einmal, Noth – wie auch v. Rad – nicht mehr selbst erlebt zu haben; als er nach Deutschland kam, lag Noths Tod wenige Jahre, sein für ihn vor allem maßgebliches Werk, die „Überlieferungsgeschichtlichen Studien“, knapp drei Jahrzehnte zurück. Aber noch mehr als ein Jahrzehnt lebte in Göttingen W. Zimmerli, der umgekehrt wie Noth mehr Theologe als Historiker war62. Ihm widmete Veijola zum 75. und vorletzten Geburtstag, dem 20. Januar 1982, den Schlussband seiner Trilogie mit dem schwerwiegenden Bekenntnis, er habe von ihm „mehr – viel mehr – gelernt […], als aus diesem Buch ersichtlich“ sei63. In der unaufdringlich-natürlichen Art, in der der genau vierzig Jahre Ältere wissenschaftliche Arbeit und Glaubenszeugnis verband, blieb er für den Jüngeren erklärtermaßen das Vorbild eines Theologieprofessors. Über seine eigene Inauguration zu diesem Amt am 15. Mai 1985 berichtete er: „Meine Antrittsvorlesung64, wo ich die großen Linien der atl. Forschung seit Wellhausen mit einer bewußten theologischen Pointe darstellte, hatte eine wunderliche Wirkung: Die profanen Wissenschaftler waren ganz offensichtlich froh, daß jemand unter den Theologen seine Sache auf diesem Forum ohne apologetische Anbiederungen vertrat, und die Theologen anderer Disziplinen fühlten sich durch meine Rede ermutigt. Allein die Exegeten knirschten mit den Zähnen und betrachteten mich wahrscheinlich als Deserteur, weil ich nicht öffentlich Partei für Herrn Räisänen genommen habe. Räisänen65 steht nämlich wegen seiner (echt) liberaltheologischen Ansichten, die er jetzt überall durch Reden und Zeitungsartikel verbreitet, in einem furiosen Kampf mit der Kirchenleitung, und die anderen Exegeten meinen, es sei eine moralische Pflicht, ihm in diesem anachronistischen Unternehmen durch ähnliche Stellungnah61  JSOT.S 182 (1994) 101–27 (Moses Erben, 2000, 11–28). 62  Damit soll nicht behauptet werden, dass er kein Historiker – und dass Noth kein Theologe gewesen ist! 63  Verheißung in der Krise 4. 64  Vanhan testamentin tutkimus Julius Wellhausenin jälkeen (TAik 90, 1985, 265–68). Der Nicht-Finne kann den Gedankengan ungefähr erraten, wenn er die in der Vorlesung genannten Gelehrtennamen in der Reihenfolge ihrer Nennung bzw. Erstnennung an sich vorüberziehen lässt: Wellhausen (19 ×), Ritschl, Graf, Gunkel (8 ×), Greßmann, Mowinckel, Engnell (4 ×) Alt, Noth (2 ×), v. Rad, Mendenhall, Albright, Thompson, Van Seters, Franz Delitzsch (2 ×), Friedrich Delitzsch (4 ×), K. Barth, Gabler (Anm. R.S.). 65  Zu Heikki Räisänen (1941–2015, Neutestamentler in Helsinki seit 1975) vgl. T. Veijola, Offenbarung und Anfechtung (2007) 342.

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men beizustehen! Also sehe ich mich hier von einer rebellierenden Rotte Korahs umgeben, was etwas bedrückt, aber auch das Leben interessant macht.“66 Man wird nicht alle Sätze dieses nah an der Situation geschriebenen Briefes auf die Goldwaage legen dürfen, und manches wird sich im Lauf der Zeit gewandelt haben – so habe ich z.B. Veijola über Räisänen und Räisänen über Veijola mehrfach mit großer Anerkennung reden hören. Aber eine gewisse Vorstellung davon, wie Veijolas Position unter den Kollegen in den nächsten zwanzig Jahren ausgesehen haben mag, kann diese Ausgangsposition oder richtiger: seine Sicht von ihr vielleicht doch vermitteln. Über sein Verhältnis zu den Studenten hat sein Schüler Marko Marttila auf der Gedenkfeier am 9. September 2005 gesagt: „Timo war ein anspruchsvoller Professor. Er forderte viel von seinen Studenten, aber am meisten forderte er von sich selbst. Auf der anderen Seite hatte er die Gabe, sorgsam, ermutigend und anstachelnd zu sein.“ „Die Atmosphäre im Doktorandenkolloquium ist stets gut gewesen, und diese motivierende Stimmung wurde weitgehend von Timo selbst als dem Leiter des Seminars geschaffen. Die gehaltenen Vorträge bekamen in richtigem Maß sowohl Danksagungen als auch konstruktive Kritik. Timo hatte die Fähigkeit, seine Studenten zu immer besseren Leistungen anzuspornen. Ein charakteristischer Zug für das Doktorandenkolloquium war Internationalismus, und es war ergiebig, Seminarreisen nach den Nachbarländern und nach Mitteleuropa unter Timos Leitung zu machen. Während der Seminarreisen kam unter Timos scheinbar schweigsamem und nachdenklichem Charakter ein fröhlicher, humorvoller und umgänglicher Mann zum Vorschein.“ „Während der letzten Jahre hat es ungefähr dreißig Doktoranden für die alttestamentliche Wissenschaft hier in Helsinki gegeben. Seit 1985, als Timo Veijola seinen Dienst als Professor anfing, sind mehr als ein Dutzend alttestamentlicher Dissertationen fertig geworden. Außerdem sind mehrere Dissertationen zur Zeit [2005] im Stand der Vollendung.“ Und sein Nachfolger Martti Nissinen berichtet, Veijola habe ihm „nicht nur die Vorliebe für die literar- und redaktionskritische Problemstellung beigebracht, sondern auch seinen Assistenten die Freiheit selbständigen Denkens gelassen und bestmögliche Arbeitsverhältnisse garantiert […]. Überdies ist er mir ein lebendiges Beispiel dafür gewesen, wie die Rollen des Forschers und des Familienvaters harmonisch miteinander kombiniert werden können.“ 67 Das erste Buch des Ordentlichen Professors ging unmittelbar aus seiner Lehrtätigkeit hervor. 1987/88 hielt er eine zweisemestrige Vorlesung über den Dekalog, 1988 publizierte er sie unter dem Titel „Dekalogi. Raamatullisen etiikan perusteita“ in den Schriften der Finnischen Exegetischen Gesellschaft, einem auch weiter von ihm geschätzten Publikationsort. Den Titel übersetzte er mir mit „Der Dekalog. Grundlagen biblischer Ethik“, und auch einiges aus dem 66  Brief vom 22.5.1985. 67  M. Nissinen, Prophetie, Redaktion und Fortschreibung im Hoseabuch (1991) VII.

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Vorwort sowie das Inhaltsverzeichnis mit einigen näheren Angaben übersetzte er bereitwillig, aber der mehrfachen Bitte um eine Übersetzung des Ganzen verschloss er sich mit der Begründung, Monographien über den Dekalog gebe es in Deutschland schon „in Hülle und Fülle“ und er habe nicht die „Kühnheit“, seinen „ganzen Dilettantismus in deutscher Sprache und vor aller Welt offenkundig zu machen“68. Auf solche Weise ist leider ein großer Teil seiner reichen Produktion69 dem nichtfinnischen Publikum unzugänglich geblieben. Was den Dekalog betrifft, verstand er sich immerhin zu drei deutschsprachigen Aufsätzen aus dem Bereich der Vorlesung und des Buches. Er hatte dort die Erklärung jedes Einzelgebots durch eine ausführliche Darstellung der späteren Tradition ergänzt, in der er seinen „persönlichen Spaß fand“70 und die immer auf einen Abschnitt über Luther hinauslief 71. Diese Schlussabschnitte führte er nun unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Luther und der heutigen Wissenschaft zusammen und trug das Ergebnis im November 1988 aus Anlass des 50jährigen Jubiläums der Finnischen Exegetischen Gesellschaft vor, deren Sekretär er von 1977 bis 1980 und deren Präsident er von 1985 bis 2001 war72. Er suchte dabei zwei entgegengesetzten Gefahren zu begegnen: „daß die für die historisch-kritische Forschung charakteristische antidogmatische Einstellung schon im Ansatz die Möglichkeit desavouiert, die bleibenden Verdienste des Reformators als Exeget wahrzunehmen“, und umgekehrt, dass der Forscher aus Begeisterung für Luthers Auslegungen „nicht mehr in der Lage ist, ihre Schwächen und zeitbedingten Züge zu erkennen“73. Die ebenso unvoreingenommene wie kundige Studie ergibt, dass Luthers Auslegungen „in einem erstaunlich hohen Maß – auch – der ursprünglichen Intention der Gebote gerecht werden“74. Unter den Konvergenzen ist dem Deuteronomismusforscher eine besonders wichtig: das erste Gebot „stand bei Luther in einem zumindest ebenso hohen Rang wie bei den Deuteronomisten“75. Die beiden anderen Aufsätze gelten Einzelgeboten. Der eine76 bringt zum Verbot des Missbrauchs des Gottesnamens eine schöne ägyptische Parallele bei, die die Deutung auf den Meineid erneut wahrscheinlich macht, der andere77 sichert von den einschlägigen Prophetentexten her – er ist dem Prophetenforscher O. Kaiser gewidmet – die durch 68  Briefe vom 19.7. und 29.8.1988. 69  Bibliographie: Leben aus der Weisung (2008) 165–68 (nichtfinnisch).169–75 (finnisch). 70  Brief vom 29.8.1988. 71  Eine Ausnahme bildet das Bilderverbot, das Veijola im Widerspruch gegen Luthers Verfahren in den Katechismen als selbständiges zweites Gebot behandelt. 72  Publiziert in: The Law in the Bible and in its Environment, hg.v. T. Veijola (Publications of the Finnish Exegetical Society 51, 1990) 63–90 (auch in: Moses Erben, 2000, 29–47). 73  A.a.O. 64 (30). 74  Ebd. 88 (46). 75  Ebd. 72 (35). 76  ZAW 103 (1991) 1–17 (Moses Erben 48–60). 77  In: Prophet und Prophetenbuch. Festschrift Otto Kaiser (1989) 246–64 (Moses Erben 61–75).

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A. Lemaire und Ch. Levin erneuerte These J. Meinholds78 vom Sabbat als ursprünglichem Vollmondstag und die damit verbundene Datierung des Sabbatgebots (und des Dekalogs) in die frühnachexilische Zeit. 1990 folgte, wiederum in den Schriften der Finnischen Exegetischen Gesellschaft, ein überwiegend deutschsprachiger Band, der, „David“ überschrieben, „gesammelte Studien zu den Davidüberlieferungen des Alten Testaments“ enthält. Sie waren einzeln schon zwischen 1978 und 1988, also grob gesagt während des vierten Lebensjahrzehnts ihres Autors, erschienen, aber weil Veijola voraussah, dass er „in nächster Zukunft kaum noch etwas Neues zu diesem Thema sagen“ würde und dass diese Beiträge „nach zwanzig Jahren wahrscheinlich schon ganz veraltet sein würden“79, gab er sie hier noch einmal heraus, sozusagen zum Abschied von der „Domäne“ seiner frühen Jahre. Nicht alles, was er zu den Samuelbüchern gearbeitet hatte, war ja in die Trilogie von 1975/77/82 eingegangen, und zudem war, als er im Herbst 1974 deren ersten Band, „Die ewige Dynastie“, abschloss, gerade anderswo eine schmale Monographie erschienen, die in der Forschung einigen Staub aufwirbelte, Ernst Würthweins „Erzählung von der Thronfolge Davids – theologische oder politische Geschichtsschreibung?“ (1974). Würthwein (1909–96) hatte diese Alternative, indem er die theologischen „Deutestellen“ innerhalb der jetzigen Erzählung als sekundäre Zufügungen aufwies, im zweiten Sinn entschieden und damit, wie Veijola sofort erkannte80, einen „Totalangriff gegen die [von G. v. Rad herrührende] gängige Meinung“ geführt. Das berührte sich eng mit seiner eigenen These von einer (oder mehreren) deuteronomistischen Bearbeitung(en) jenes Zusammenhangs und hatte einen für beide Seiten anregenden Gedankenaustausch zur Folge, der bis zu Würthweins Tod anhielt. Schon bald kam ein weiterer, höchst gelehrter und fleißiger Bundesgenosse hinzu, indem der zunächst skeptische Père François Langlamet (1931–2005) von der École biblique sich durch Veijola überzeugen ließ und 1976 in der Revue biblique sowohl Würthwein als auch Veijola zustimmend und in vielen Details weiterführend rezensierte81. Noch nach einem Vierteljahrhundert gedachte der Professor in Helsinki besonders gern „der Luft in den 70er Jahren, als wir drei Forscher verschiedenen Alters und Status – ein etablierter deutscher Theologieprofessor aus Marburg, ein in Jerusalem lebender französischer Dominikanerpater und ein junger finnischer Doktorand – weitgehend unabhängig voneinander zu ähnlichen Ergebnissen bei der Auslegung der Thronfolgegeschichte kamen“82.

78  S.o. 493f. 79  Brief vom 17.9.1989. 80  Ewige Dynastie 929. 81  RB 83 (1976) 114–37; weitere ähnlich gehaltvolle Artikel folgten. Vgl. auch RB 107 (2000) 278f. 82  ThR 67 (2002) 412.

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An der Spitze der „David“-Sammlung steht, wiederum bezeichnenderweise, ein Stück exegetischen Handwerks; der Aufsatz „David in Keïla“83, übrigens auch der umfangreichste des ganzen Bandes, „stellt einen Versuch zu einer ganzheitlichen Auslegung eines relativ kleinen Einzeltextes (1Sam 23,1– 13) dar, die sich auf die Literarkritik gründet und über die Bestimmung der Form und Tradition in die Erörterung der Überlieferung einmündet“84. „Die kleine Episode mit ihren verschiedenen Überlieferungsstufen zeigt uns in beispielhafter Weise, wie aus dem historischen David allmählich das Bild des biblischen David entsteht.“85 Wer Veijola als historisch-kritischen Exegeten, ja wer überhaupt historisch-kritische Exegese an einem übersichtlichen Musterstück studieren möchte, greife zu diesem Aufsatz! Die Mühe, aber auch den Genuss einer minutiösen Beweisführung bereiten die beiden anderen Exegetica: in „David und Meribaal“86 wird die Annahme aus der „Ewigen Dynastie“87, der Jonathan-Sohn sei im Unterschied zu dem gleichnamigen Sohn Sauls eine deuteronomistische Erfindung, nach allen Regeln der Kunst begründet, in „Salomo – der Erstgeborene Bathsebas“88 der Beweis für die provokative Behauptung dieser Überschrift angetreten; beide Male war der Austausch mit „den exegetischen Gesprächspartnern und Weggenossen“, Würthwein und Langlamet, beteiligt89. In Sachen Bathseba/Salomo hatte schon vor Jahrzehnten Elias Auerbach (1882–1971) es für „sehr möglich“ gehalten, „daß die Erzählung von dem ersten gestorbenen Kind der Batšeba eine Legende ist, die von Salomo den Makel nehmen will, daß er als Frucht eines ehebrecherischen Verhältnisses geboren sei“90. Im Anschluss daran warf E. Würthwein die Frage auf, ob 2Sam 12,15b–24a zur alten Thronfolgeerzählung gehört habe, ließ sie aber noch offen91. Veijola war mutiger und erhob durch eine Reihe ineinandergreifender literar- und textkritischer, formgeschichtlicher, historischer, psychologischer und sogar gynäkologischer Überlegungen die brisante Vermutung zur Wahrscheinlichkeit. Den Namen Salomo deutete er mit der jüngsten Forschung92 als „Ersatznamen“ mit der Bedeutung „sein Ersatz“, ließ 83  David 5–42. 84  Ebd. 1. 85  Ebd. 42. 86  Ebd. 58–83. 87  Dort 10814. 88  David 84–105. 89  Ebd. 2. 90  Wüste und gelobtes Land I (1932) 2411. Auerbach, in Berlin von Ed. Meyer angeregt, seit 1909 in Palästina, betrieb neben seiner Tätigkeit als Arzt in Haifa Bibelstudien und hielt noch auf den internationalen Alttestamentlerkongressen in Kopenhagen (1953) und Bonn (1962) anregende Vorträge. M. Buber erklärte sein oben zitiertes Buch für eine „frische, gesunde, gehaltvolle, nützliche Arbeit“ (Briefwechsel II, 1978, 455). 91  Die Erzählung von der Thronfolge Davids – theologische oder politische Geschichtsschreibung? (1974) 31f. 92  G. Gerleman, ZAW 85 (1973) 13 in Anknüpfung an J.J. Stamm, ThZ 16 (1960) 296.

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dabei aber, anders als seine Vorgänger, die Namengeberin93 Bathseba nicht an das auf dieser literarischen Stufe noch gar nicht verstorbene Kind, sondern an ihren getöteten Mann Uria erinnern94. Veijola trat ihr zur Seite, indem er seinem Aufsatz im Erstdruck die Widmung vor­ansetzte: „Dem Gedächtnis des Hethiters Uria gewidmet“95. Im „David“-Sammelband fiel diese Widmung aus irgendeinem Grund unter den Tisch, aber die spätere englische Übersetzung96 stellte sie, gewiss mit seinem Einverständnis, wieder her. Hier zeigt sich, dass er nicht „nur“ ein Handwerker war. Das merkten wohl auch die Theologen der Ostseeländer, denen er 1978 auf einer Konferenz in Greifswald „Überlegungen eines Alttestamentlers“ zu ihrem Konferenzthema „Theologie und Erfahrung“ vortragen sollte. Er tat es, indem er gestützt auf die damalige Diskussion und seinen Anteil an ihr die Thronfolgeerzählung als „ganz und gar aus Erfahrung geborene, engagierte politische Geschichtsschreibung“ beschrieb, die „alle spätere Theologie an ihre bleibende gesellschaftskritische Funktion“ erinnere97. Vor einer ganz anderen Aufgabe stand er, als er einige Jahre später, Ende Mai 1982, zum „Nordischen Symposium der Alttestamentler“ nach Sandbjerg in Dänemark eingeladen (oder wie er es eher empfand: vorgeladen) wurde, um dort „Gedanken eines Außenseiters zur skandinavischen Traditionsgeschichte am Beispiel der Davidüberlieferungen“ zu äußern. Er fragte sich zunächst, wie er „überhaupt etwas Positives über diesen absonderlichen methodischen Ansatz zu sagen vermöge“98, doch dann analysierte er besten Willens und geduldig der Reihe nach die DavidArbeiten des in verschiedenen Graden von dem Uppsalienser I. Engnell (1906– 64) herkommenden, in sich durchaus unterschiedlichen Quartetts Ahlström– Carlson–Grønbæk–Mettinger mit dem von seinen Gastgebern vermutlich erwarteten Ergebnis, „dass die ‚Traditionsgeschichte‘ im Sinne von Engnell kein Generalschlüssel und keine Alternative zur Literarkritik oder zu den sonstigen exegetischen Methoden sein kann, sondern eine Methode unter vielen anderen“99. Dafür zitierte er Sätze H. Greßmanns aus den methodologischen Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre100; natürlich hätte er wie 1980 in Göttingen auch einfach chiffrenhaft die Namen Wellhausen und Gunkel nennen können. Gegen den Versuch redaktionsgeschichtlicher Synthese bei 93  In 12,24b liest Veijola (a.a.O. 88) mit dem Qerē ‫ ותקרא‬statt ‫ויקרא‬, wodurch auch der Anschluss an 11,27a noch evidenter wird. Für die Nathan-Szene 11,27b–12,15a stand der Zusatzcharakter längst fest. 94  A.a.O. 89. 95  VT.S 30 (1979) 230. 96  Solomon: Bathseba’s Firstborn, in: Reconsidering Israel and Judah, hg.v. G.N. Knoppers u. J.G. McConville (2000) 340–57; wiederholt in Veijola, Leben nach der Weisung (2008) 101– 17, dort die Widmung sogar als Untertitel. 97  David 43–57, Zitat 57. 98  Brief vom 25.4.1982. 99  David a.a.O. 127; der ganze Vortrag dort 106–27. 100  Ebd. 126; vgl. R.S., Bibel und Wissenschaft (2004) 270.

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seinen skandinavischen Kontrahenten verwahrte er sich gerade als der Redaktionsgeschichtler, der er selber war: sie bleibt „zwangsläufig unberechenbar […], solange sie nicht von einer vorausgegangenen literarkritischen Analyse getragen wird“101. Ausdrücklich verzichtete er in der David-Sammlung von 1990 auf „zusätzliche Stellungnahme[n]“ zu der „heute verbreitete[n] literaturwissenschaftliche[n] Betrachtungsweise, die die Aufmerksamkeit wieder stärker auf die literarische Endgestalt statt auf die Literaturgeschichte richten möchte“, doch nahm er eine Rezension hinein, die 1979 auf die „brüchige literarische Basis“ einer dahin gehörigen Neuerscheinung über „The Story of King David“ hingewiesen hatte102. Wenige Monate nach dem Treffen in Sandbjerg stellte er sich ein weiteres Mal der Diskussion mit skandinavischen Kollegen, diesmal in der Universität Uppsala und wiederum, ja nach seinem Gefühl noch stärker in der Rolle des „Außenseiters“, jedenfalls im Verhältnis zu den Exegeten, mit denen ihn im übrigen ein gut kollegiales oder sogar freundschaftliches Verhältnis verband. Für ihn ging es diesmal nicht nur um diese oder jene exegetische Methode, sondern um Grund und Gegenstand der gemeinsamen Wissenschaft überhaupt; daher die Schärfe seines Berichts, den ich ohne Beschönigung wiedergebe: „Meine Vortragsreise in Uppsala letzte Woche war kein Erfolg. Die dortigen Exegeten haben Gott mit leichter Hand in die Verbannung geschickt und seitdem ist die Frage nach einer atl. Theologie nicht mehr akademisch diskutabel. Ich fühlte mich dort wie Amos in Bethel.“103 Seine Alternative trug er nicht sofort den Uppsaliensern vor, sondern acht Jahre später, am 25. September 1990, den Alttestamentlern auf dem 7. Europäischen Theologenkongress in Dresden. „Von der Möglichkeit einer Theologie des Alten Testaments“ hieß der Untertitel seines dortigen Referats; der Obertitel „Offenbarung als Begegnung“ fasste das Hauptmotiv bündig zusammen104. Eigentlicher Antagonist war der verstorbene Raffael Gyllenberg, der 1938 eine alttestamentliche Theologie für eine „Unmöglichkeit“ erklärt hatte, „weil der Forscher von den Texten des Alten Testaments [anders als von denen des Neuen] nie auf eine existentielle Weise angesprochen und ergriffen werden könne“. Dagegen stellte Veijola „die Einsicht, daß wir in der ‚Begegnung‘ eine Kategorie besitzen, die dem eigenen Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis des Alten Testaments entspricht und zugleich auch für die heutige Theologie und Glaubenserfahrung von Belang sein könnte. Sie hat auch den Vorteil, daß sie den Zugang zur alttestamentlichen Theologie nicht über das Neue Testament erschließt und damit ein Gespräch ermöglicht, an dem 101  David 126f. 102  Ebd. 2.160–62 (zu D.M. Gunn). 103  Karte vom 6.10.1982. 104  Offenbarung als Begegnung. Von der Möglichkeit einer Theologie des Alten Testaments, ZThK 88 (1991) 427–50, auch in: Offenbarung und Anfechtung (2007) 10–33 (hiernach zitiert),

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Forscher verschiedener Glaubensüberlieferungen unvoreingenommen teilnehmen können, was besonders wichtig im Blick auf den heutigen, auf die Gleichheit der Teilnehmer gegründeten christlich-jüdischen Dialog ist.“105 Für den Begriff der Begegnung war Veijola W. Zimmerli verpflichtet106, bei dem er allerdings eine „personalistische Begrenzung auf die menschliche Welt“ beanstandete, „wobei die Geschichte fast zu dem alleinigen Betätigungsfeld der Begegnung wird und die nicht-menschliche Welt weitgehend außer acht bleibt“107. Diesen Einwand wiederholte er später noch einmal ausführlicher unter Berufung auf ihm durch O. Bayer vermittelte Aussagen Luthers und Hamanns und vor allem in Anknüpfung an G. v. Rads späte Hinwendung zur Weisheit108. Wir können danach von ferne etwas von der Struktur ahnen, die seine Theologie des Alten Testaments angenommen hätte, wenn er nach Vollendung des Deuteronomiumkommentars noch zu ihr gekommen wäre; zu den Plänen, von denen er gelegentlich sprach, hat sie gehört. Er war ein aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens und verglich gern die Zustände und Vorgänge in seinem eigenen Land mit denen in der übrigen Welt, besonders in Deutschland. Einer deutschen Öffentlichkeit schilderte er in den neunziger Jahren die Lage der finnischen Kirche mit erstaunlichem Optimismus und erwähnte dabei die Präsidentschaftswahl von 1994, die die aussichtsreichere Kandidatin verloren hatte, weil sie „wahrscheinlich den entscheidenden Fehler“ beging, „als sie sich skeptisch zur Historizität der Person Jesu äußerte“, was „offenbar ausschlaggebend auf das Wahlverhalten vieler Christen“ wirkte109. Bibelwissenschaft werde in Finnland, so seine Erfahrung, „weitgehend als historische Forschung verstanden“, bei der es entscheidend auf die historische Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit ankomme – eine Grundeinstellung, die er mit negativer Tendenz bei dem Göttinger Neutestamentler Gerd Lüdemann wiederfand. Zu dem Historismus, den er hier noch am Werk sah und dessen prominentester Vertreter für ihn sein Kollege Räisänen war, kam ein latenter Biblizismus auf den Spuren des in Finnland immer noch nachwirkenden Johann Tobias Beck (1804–78), und beide, Historismus und Biblizsimus, bildeten eine „Allianz“, die in Finnland „die hermeneutische Diskussion über die aktuelle Relevanz der Heiligen Schrift blockiert[e] und jeden Fortschritt verhindert[e]“. Um dem entgegenzuwirken, machte sich Veijola mit großem Fleiß in der neuesten theologisch-hermeneutischen Diskussion heimisch und erarbeitete „Überlegungen eines Alttestamentlers zur Lösung des Grundproblems der biblischen Hermeneutik“, die er unter dem Titel „Text, Wissen105  Ebd. 30. 106  Ebd. 25–28, s. auch oben 888f. 107  Ebd. 28. 108  Das Heilshandeln und Welthandeln Gottes nach dem Zeugnis des Alten Testaments (zuerst 1999, dann Offenbarung und Anfechtung 68–87, dort 80–82 und 82f.). 109  EK 29 (1996) 729.

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schaft und Glaube“ veröffentlichte110. Anstelle eines umständlichen Referats seien hier die zehn Schlussthesen wiedergegeben: 1. Der gegenwärtige Sinn der biblischen Texte für heutige Leser ist nicht identisch mit ihrer historischen Bedeutung. Die Richtigkeit dieser These wird erhärtet sowohl durch die Entdeckungen, die man in der neueren Literaturwissenschaft über die aktive Rolle des Lesers gemacht hat, wie auch durch die Beobachtungen, die den Einfluß der impliziten Axiome hinter und vor den Texten betreffen. 2. Die historische Erforschung der biblischen Texte stellt eine Aufgabe dar, die genauso sinnvoll wie jede wissenschaftliche Beschäftigung mit irgendeinem anderen antiken Stoff ist. In bestimmten Fragen ist sie auch von theologischem Belang für die späteren Empfänger. Den christlichen Lesern ist es z.B. nicht ohne Bedeutung, ob Jesus von Nazaret eine wirkliche Person der Geschichte oder lediglich eine fiktive Gestalt der Phantasie war. Von anderer Art ist hingegen die Frage nach seiner Auferstehung, die bereits ihrem Charakter nach die Grenzen des historischen Paradigmas überschreitet. Von ihr wird der Gläubige nicht auf Grund historischer Beweise, sondern dadurch überzeugt, daß er dem auferstandenen Christus in seinem eigenen Leben so oder so begegnet ist und auf Grund dieser Erfahrung weiß, daß er lebt (Christus praesens). Dies gilt gleichermaßen für die ersten wie auch die späteren Jünger und Jüngerinnen Jesu. 3. Ein Bibelleser, der die Texte aus der Perspektive seiner eigenen Lebenswirklichkeit liest, soll nicht behaupten, daß der von ihm ermittelte Sinn mit der „ursprünglichen“ geschichtlichen Bedeutung der Texte zusammenfalle. Die Fundamentalisten hegen die fatale Illusion, daß ihr Glaube vollkommen identisch mit dem der Propheten und Apostel sei. Ihnen bedeutet der Einblick in die Ergebnisse der historischkritischen Bibelwissenschaft eine Erfahrung, die oft erschütternde Folgen für ihren Glauben hat: Entweder leugnen sie den Wert der historischen Bibelwissenschaft insgesamt, oder aber sie ersetzen durch sie ihren ehemaligen Glauben. In jenem Fall bleibt ihr Glaube für immer dem Historismus und Biblizismus verhaftet, während in diesem Fall aus der historischen Bibelwissenschaft eine Art Pseudoreligion wird, die die Gläubigen wohl von der Illusion des Fundamentalismus befreit, aber nicht von den Fesseln des Historismus. 4. Historismus und Biblizismus sind zwei eng zusammenhängende Phänomene, die wie die beiden Seiten ein und derselben Münze sind. Beide stellen eine rückwärts gewandte geistige Orientierung dar. 5. Von den Fesseln des Historismus wird man befreit, wenn man einsieht, daß der Sinngehalt alter Texte nicht auf ihre historische Bedeutung beschränkt ist und daß Gott (Christus und der Heilige Geist) kein Gefangener der Heiligen Schrift ist, sondern als lebendige Macht in jeder Gegenwart präsent ist. 6. Von der Falle des Biblizismus wird man befreit, wenn man einsieht, daß der Gläubige seinen Glauben nie allein auf die Heilige Schrift gründet (sola scriptura num110  JBTh 15 (2000) 313–39, auch in: Offenbarung und Anfechtung 34–67. Oben zitierte ich aus den ersten beiden Absätzen.

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quam sola), sondern daß auch andere, vorsprachliche Faktoren mitwirken und zusammen mit der Schrift seine Perspektive bilden. 7. Die Offenheit für die Präsenz Gottes in der Gegenwart beeinflußt auch die Haltung, welche der Forscher zu den Schriften der Bibel, z.B. den von ihnen erzählten Wundern, einnimmt. Die atheistische Perspektive des Forschers ist keine Gewähr dafür, daß er den Texten in historischer Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren läßt. Vielmehr ist er ständig der Gefahr ausgesetzt, von vornherein die Möglichkeit einer solchen Dimension der Wirklichkeit auszuschließen, die seiner eigenen Weltanschauung widerstreitet. Deshalb bedarf auch die in der säkularisierten Bibelwissenschaft modisch gewordene Ideologiekritik der Bibel einer metakritischen Betrachtung. 8. Auf der kirchlichen Seite sollte man sich nicht ungebührlich darum beunruhigen, was die historisch-kritischen Exegeten machen. Der Glaube der Kirche darf nicht daran gebunden werden, was in der Wissenschaft jeweils Mode ist. Sonst würde der Glaube der Kirche ja nichts anderes als eine Variante der Wissenschaftsgläubigkeit darstellen, und die historisch-kritischen Forscher würden ihre Priester und Lehrer sein. 9. Die Laien brauchen keine historisch-kritische Belehrung, um bessere Christen zu werden. Hingegen können sie sich für die Ergebnisse der historischen Bibelwissenschaft aus allgemeiner humanistischer Wißbegier interessieren, aber auch dann sollte man auf der Hut sein, sie nicht durch einen einseitigen historischen Unterricht in die Falle des Historismus zu verführen. 10. Für die Theologen ist die Bekanntschaft mit der historischen Bibelforschung unabdingbar, da es ihre berufsmäßige Pflicht ist, den christlichen Glauben auch kritisch zu reflektieren und mit den jeweils vorherrschenden Wissenschaftsbegriffen in Beziehung zu bringen (aber nicht zu assimilieren!). Damit wird letzten Endes der Tatsache der Inkarnation und Gegenwart Gottes auch in dieser Zeit Rechnung getragen. Das eigentliche Ziel besteht jedoch darin, durch das Feuer der historischen Kritik hindurch zu einer „geprüften, kritischen Naivität“ [Karl Barth] zu gelangen.111

Höhepunkte in Veijolas Tätigkeit, wie in der jedes Exegeten, waren es, wenn es ihm gelang – und das geschah nicht selten –, Texte zum Reden zu bringen. Niemand, der dabei war, wird den großen Vortrag vergessen haben, den er im November 1987 nacheinander in Marburg und Göttingen über einen großen Text hielt, das Opfer des Abraham in Gen 22, beidemale zwei akademische Stunden vor einem atemlos lauschenden Auditorium112. Er begann mit der vom Midrasch erzählten Reaktion der Sara: ihren sieben Schmerzensschreien und ihrem sogleich erfolgten Tod, und schloss mit der heutigen Bedrohung der Menschheit „durch den Menschen selbst, der sich selbst, alle 111  Ebd. 64–67. Die Stelle bei Barth ist KD IV/2, 542. 112  Das Opfer des Abraham – Paradigma des Glaubens aus dem nachexilischen Zeitalter, in: Offenbarung und Anfechtung (2007) 88–133 (zuerst ZThK 85, 1988, 129–64).

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seine Söhne und Töchter, seine Brüder und Schwestern und mit ihnen die gesamte Natur vernichten kann – es sei denn, daß jemand sieht und das Messer in seiner hochgehobenen Hand zurückhält“. Das theologische Thema des Vortrags lieferte Immanuel Kant, der die Geschichte nicht verstehen konnte, weil er übersah, „daß der Gehorsam des Abraham in seinem Gottvertrauen gründete. […] Abraham besaß die unerschütterlich feste Gewißheit, daß dieser Gott sich als der wahre Gott auch dann erweisen wird, wenn er vom Menschen Sinnloses fordert“113; anders als Kant „konnte Abraham das Gesagte von dem Redenden nicht abstrahieren“114. Dem „Versuch […] den Text mit eigenen Augen neu zu lesen“115, geht eine kundige Charakteristik des traditionellen jüdischen und christlichen Verständnisses voran, wobei Veijola zu den jüdischen Auslegern bemerkt: „Verglichen mit ihren äußerst scharfsinnigen, gelegentlich auch phantastischen Betrachtungen wirken die heute modischen strukturalistischen und sonstigen literaturwissenschaftlichen Analysen oft ungemein oberflächlich, ja geradezu banal“116. Die eigene Auslegung erweist den Text in allen „einzelnen Beobachtungen“, die stets „dem Verständnis des Ganzen dienen“117, „als Kunstwerk eines Meisters […], der sein Metier souverän beherrschte“118; in der Art, wie sie „die psychologische Grundspannung und die eigentümliche Dialektik der Erzählung“ so entwickelt, dass auch der heutige Hörer und Leser sich „gleichzeitig über Abraham als sein Beobachter wie auch neben ihm als sein Schicksalsgenosse“ befindet119, ist sie auf ihrer Ebene auch ihrerseits das Kunstwerk eines Meisters. Nun ist das spezielle Metier dieses Meisters die historische Kritik, und sie führt ihn ebenso überraschend wie überzeugend wieder einmal zur Bestreitung einer communis opinio: es handelt sich nicht um ein vom „Elohisten“ der Königszeit aufgenommenes Stück mündlicher Erzähltradition, sondern um die „Schöpfung eines Schriftstellers und Theologen“ viel späterer Zeit, etwa des 5. Jahrhunderts v. Chr., erzählerisch vergleichbar mit der Erzählung von der Brautwerbung für Isaak Gen 24120. Auch sachlich nah verwandt ist die Rahmenerzählung des Buches Hiob, deren Abhängigkeit von Gen 22 Veijola später detailliert nachgewiesen hat121. Aus dem Vortrag von 1987 sei noch eine beiläufig angeführte Maxime hervorgehoben, die dieser Exeget nicht nur hier, sondern auch sonst immer wieder bestätigt fand: „Die Wahrheit ist in der Bibel – und auch in der 113  Ebd. 88f. 131f. 114  Ebd. 104f. 115  Ebd. 100. 116  Ebd. 91. 117  Ebd. 100. 118  Ebd. 113. 119  Ebd. 102. 120  Ebd. 123f. 121  Abraham und Hiob, ebenfalls in: Offenbarung und Anfechtung, 134–57 (zuerst in: Vergegenwärtigung des Alten Testaments. Festschrift R. Smend 2002, 127–44).

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Bibelwissenschaft – letztlich doch sehr einfach und sollte nicht unnötig verkompliziert werden.“122 Nur scheinbar widerspricht diesem Satz ein anderer, den er gut ein Jahrzehnt später niederschrieb: „Es ist […] meine feste Überzeugung, daß es für die verwickelten Probleme des Deuteronomiums keine einfachen und schnellen Lösungen gibt, daß vielmehr nur eine beharrliche literarische und historische Arbeit, die die theologische Seite der Texte nicht vergißt, zum Ziel führen kann.“123 Auf diese Arbeit war Veijola aufs Beste vorbereitet durch seine Beschäftigung mit dem Dekalog, aber auch durch die redaktionsgeschichtliche Erschließung der Samuelbücher – sie war es ja gewesen, die in Lothar Perlitt das Zutrauen geweckt hatte, dass er der großen Aufgabe gewachsen sein würde, das Deuteronomium zu kommentieren. Veijola wusste längst: „Die deuteronomische Tora birgt den Schlüssel auch zur deuteronomistischen Problematik“124; er hatte aber auch Gründe für die Vermutung, dass umgekehrt von den deuteronomistischen Texten her, mit denen er ja einige Erfahrung besaß, neues Licht auf die deuteronomische Tora fallen könnte. Beides bestimmte ihn, sich so früh wie möglich an die Arbeit zu machen. Allerdings empfand er sehr bald „die Schwere der Aufgabe, die jedem bekannt ist, der mit einer vollständigen Auslegung des Dtn geehrt worden ist“125. Mitten aus der Arbeit heraus schrieb er mir einmal: „Ich wundere mich bei jedem neuen Text, wie kompliziert die Dinge in diesem Buch sein können, freue mich aber jedesmal darüber, wenn ich einige Schneisen in dieses Dickicht schlagen kann. Die frühere Arbeit im Bereich der historischen Bücher war wie ein Kinderspiel im Vergleich zu diesem Unternehmen. Höchst unsicher ist allerdings, ob meine Überlegungen jemals in ATD erscheinen können, denn ich kann mich nicht so knapp ausdrücken, wie es dort erforderlich ist, sondern schreibe dem Umfang nach eigentlich für BK!“126 Für BK, den Neukirchener „Biblischen Kommentar“, schrieb schon Lothar Perlitt, der vierzig Jahre lang unter dieser widerwillig übernommenen Last seufzte und bei seinem Tod im Herbst 2012 erst an der Schwelle zur Auslegung des Dekalogs in Dtn 5 stand – die mittlerweile in Veijolas Kommentar ein Glanzstück war. Perlitt hatte, als er den jüngeren Kollegen für das Parallel-Unternehmen engagierte, den Nebengedanken gehegt, von ihm Anregungen für die eigene Arbeit zu erhalten. Veijola erfüllte ihm den Wunsch reichlich in Briefen, Gesprächen und einem 16stündigen Blockseminar in Helsinki über Dtn 1–3 im April 1989. Die Ideen lieferte meist Veijola, aber Perlitt war ihm kraft seiner stupenden kritischen Begabung immer wieder ein wertvoller 122  A.a.O. 130. Zu der Einsicht, dass es sich „um einen mehrdimensionalen Text handelt“ (ebd. 128), hat er offensichtlich keinen Widerspruch empfunden. Man lese auch das Zitat aus dem Finnischen 13076! 123  Moses Erben (2000) 9. 124  Ebd. 125  ThR 67 (2002) 287. 126  Brief vom 26.6.1994.

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Partner. In der Deuteronomiumforschung hatte seine „Bundestheologie“ von 1969127 geradezu spaltend gewirkt, und seitdem hatte er nichts getan, um den Spalt zu schließen, ihn vielmehr 1983 durch einen Vortrag über „Deuteronomium 1–3 im Streit der Methoden“128 im „Collegium Biblicum Lovaniense“ vor 140 Kollegen, darunter mehreren Deuteronomiumkommentatoren, in scharfer und grundsätzlicher Polemik gegen den Bedeutendsten von ihnen, den Frankfurter Jesuiten Norbert Lohfink, noch einmal mit aller Kraft offengehalten. Wenige Jahre später redete Timo Veijola im Rahmen einer noch größeren Versammlung, des zwölften internationalen Alttestamentlerkongresses in Jerusalem 1986, in friedlicherem Ton über die drei Anfangskapitel129. Von seiner dort am Ende geäußerten, für das redaktionsgeschichtliche Problem nicht belanglosen Vermutung, das deuteronomische Gesetz sei erst durch den „nomistischen“ Bearbeiter DtrN in den Erzählungszusammenhang eingefügt worden130, pfiff Perlitt ihn umgehend zurück131, auf die Dauer mit Erfolg132. Nachdem die Studien zum Dekalog und zu David unter Dach waren, wurde die Analyse des Deuteronomiums Veijolas Hauptgeschäft, das im Lauf weniger Jahre zu einem durchaus „kommentarreifen“ Bild wenigstens der ersten Hälfte des schwierigen Buches führte. Neben der konzentrierten Arbeit am Schreibtisch profitierte er von kleineren Spezialtagungen über das Deuteronomium, 1993 in Münster und 1995 in Hyvinkää (Finnland), an denen Perlitt nicht mehr teilnahm, wohl aber andere Mit-Kommentatoren, neben Lohfink dessen Schüler und Mitarbeiter Georg Braulik OSB aus Wien und der damalige Mainzer Eckart Otto; mit ihm als dem Leiter der Projektgruppe für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie veranstaltete er selber das Symposion in Hyvinkää. Beidemale trug er auch selber vor, mit besonderer Emphase in Hyvinkää, seinem Wohnort unweit von Helsinki. Dort präsentierte er nämlich das ihm wichtigste Resultat seiner bisherigen Arbeit am Deuteronomium, die These von dessen „bundestheologischer Redaktion“, von ihm DtrB genannt. Er hatte diese Redaktion in dem Gebot der Gottesliebe entdeckt, das in Dtn 6,5 den für das Deuteronomium in jeder Hinsicht fundamentalen „dogmatischen“ Satz über Jahwes Einzigkeit in v. 4 als seine „ethische“ Konsequenz fortsetzt133, und hatte sie dann mit fortschreiten127  S.o. 929f. 128  BEThL LXVIII (1985) 149–63 (Perlitt, Deuteronomium-Studien, 1994, 109–22). 129  Principal Observations on the Basic Story in Dtn 1–3, in: Collected Communications to the XIIth Congress of the International Organization for the Study of the OT, hg.v. M. Augustin u. K.-D. Schunck (1988) 249–59. 130  Ebd. 255 (mit Anm. 48 gegen R. S.). 131  BK V/1 (1990/2013) 33f. 132  Vgl. Bundestheologische Redaktion im Deuteronomium, in: Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen, hg.v. T. Veijola (1996, 242–76) 25879 = Moses Erben (2000, 153–75) 16593; vgl. Veijola, ATD 8,1, 3. 133  Das Bekenntnis Israels, ThZ 48 (1992) 369–81 und VT 42 (1992) 528–41, dann in Moses Erben (2000) 76–93.

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der Sicherheit in mehreren auch theologisch bedeutsamen Aufsätzen durch die ganze erste Hälfte des Deuteronomiums weiter verfolgt134. Der resümierende Vortrag von 1995 nennt als Vorgänger, deren Beobachtungen sich seine These zunutze macht, Norbert Lohfink, Eckart Otto – beide in Hyvinkää anwesend und vortragend –, Félix García López und „last not least“ Christoph Levin, der in Hyvinkää mit einem von Wellhausen135 stammenden Stichwort „[ü]ber den ‚Color Hieremianus‘ des Deuteronomiums“ sprach136. Veijolas Vortrag bezieht sich noch nicht hierauf, sondern auf Levins damals im Druck genau zehn Jahre alte Göttinger Dissertation „Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt“ (1985). Er findet dort137 Hinweise auf „eine umfassende Redaktion, die das ältere Deuteronomium tiefgreifend umgestaltet und dem heutigen Deuteronomium sein vorherrschendes, bundestheologisches Profil gegeben habe. Das Hauptgesetz des Urdeuteronomiums sei das Zentralisationsgesetz (Dtn 12*), das der bundestheologischen Bearbeitung hingegen das erste Gebot mit seinem Ausschließlichkeitsanspruch. Überall, wo das letztgenannte Anliegen zur Sprache kommt, besteht nach Levin Grund zu der Annahme, daß wir es mit der bundestheologischen Bearbeitung zu tun haben. Selber macht er en passant einige schnelle Sondierungen auf dem Gelände des Gesetzeskorpus […]“138. Die Hinweise reichten später für Veijola aus, seinen DtrB als „von Christoph Levin 1985 eingeführt“ zu bezeichnen139. Die Aufgabe des Kommentators bestand nun darin, über die Sondierungen hinaus den vollständigen Anteil dieser Redaktion am Deuteronomium zu ermitteln. Es ergab sich, dass er größer war als der der ihm vorangehenden Redaktionen DtrH, DtrP und DtrN zusammen140 – diese drei von der „Göttingen School“ postulierten Größen fand Veijola „erwartungsgemäß“141 auch im Deuteronomium wieder, wobei auf die „prophetische“ Redaktion der geringste Anteil entfiel, nämlich die Einfügung und Rahmung des auf prophetische Weise durch Mose übermittelten Dekalogs in Dtn 5142. Was für DtrN von vornherein feststand, wies Würthwein143 für DtrP nach: es waren nicht nur einzelne Re134  Zusammengestellt in Moses Erben 94–152. 135  Die Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments (31899) 1921. 136  In: Das Deuteronomium und seine Querbeziehungen (Anm. 132) 105–26, dann in: Levin, Fortschreibungen (2003) 81–95. 137  Bei Levin, Verheißung 81–89. 138  Veijola, Moses Erben 174. 139  ATD 8,1, 4 140  Genaue Liste ebd. 3f.9–12. 141  Ebd. 4. 142  Vgl. ebd. 130 mit dem Hinweis (Anm. 45) auf eine von R. Achenbach festgehaltene Vermutung F. Forestis, eines von Veijola seit dem internationalen Alttestamentlerkongress in Salamanca 1983 hoch geschätzten, viel zu früh verstorbenen Mitforschers in Deuteronomicis. Sein wichtigster Beitrag: The Rejection of Saul in the Perspective of the Deuteronomistic School. A Study of 1 Sm 15 and Related Texts (1984). 143  Die Bücher der Könige (1984) 496–98.

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daktoren, sondern ganze Gruppen am Werk. Veijola definierte den von ihm postulierten weiteren Deuteronomisten, noch bevor er ihm einen wenigstens siglenhaften Namen gegeben hatte, durch seine Gruppenzugehörigkeit als „ein jüngeres Mitglied des DtrN-Schulhauses“144; später variierte er: „ein Schüler des DtrN-Schulhauses“145 und merkte an, übrigens im Gespräch mit Norbert Lohfink, es handle sich um „den bundestheologisch orientierten ‚zweiten‘ DtrN, für den ich das Signum DtrB geprägt habe“146. Die Schulzugehörigkeit blieb bestehen: die durch DtrB vollzogene Koordinierung von Dogmatik und Ethik in Dtn 6,4f. war ein Werk der „DtrN-Schule“147. Es liegt auf der Hand, dass eine Kombination wie diese sehr gewichtige theologiegeschichtliche Implikationen haben kann und dass sie in einem möglichst großen Zusammenhang bedacht sein will. In diesen Zusammenhang gehört an vorderster Stelle das Buch Jeremia, dessen Exegese nur in enger Fühlung mit der des Deuteronomiums zu betreiben ist, wofür das Ineinandergreifen von Veijolas Deuteronomiums- und Levins Jeremia-Exegese im Postulat einer „bundestheologischen Bearbeitung“ des Deuteronomiums ein zentrales, gerade unter dem theologiegeschichtlichen Gesichtspunkt durchaus noch nicht voll ausgeschöpftes Beispiel liefert. Ich gestehe, dass ich eine Zeitlang den Gedanken hatte, der großen Aufgabe könne vielleicht eine Personalunion in der Kommentierung der beiden Bücher nützlich sein, und dass ich daher eines Tages Timo Veijola anbot, nach Vollendung des Deuteronomiumkommentars in Eißfeldts „Handbuch zum Alten Testament“ den seit W. Rudolphs Tod verwaisten Jeremia-Band in Angriff zu nehmen. Die Antwort aus Hyvinkää kam schnell: „Aus Liebe und Treue zu Ihnen müßte ich eigentlich zusagen, aber das wäre zu billig. Wenn ich meine Zukunft und meine Kräfte realistisch einschätze, muß ich sagen, daß ein Kommentar für ein Leben ausreicht.“148 Ich verstand das nur allzu gut und tröstete mich mit Wellhausen: „Auch wäre es nicht nöthig die Arbeit immer in Form von Commentaren fortzuwälzen“149. Vielleicht hatte mich zu meiner zudringlichen Anfrage auch verleitet, dass Veijola vor geraumer Zeit ein anderes Angebot aus Göttingen nicht abgelehnt hatte: „Obwohl die Arbeitsstimmung während der vergangenen freien Monate insgesamt gut gewesen ist,“ berichtete er im Frühjahr 1993150, „kann ich nicht tagaus, tagein über dem Dtn sitzen, sondern muß zur Abwechslung auch etwas anderes unternehmen. Perlitt beauftragte mich im Sommer Literatur zum Deuteronomium und DtrG zu sammeln und in einigen Jahren einen Literaturbericht für seine Theologische Rundschau zu schreiben.“ Aus „einigen Jah144  ThZ 48 (1992) 380. 145  Moses Erben (1990) 92f. 146  Ebd. Anm. 113. 147  ThZ 48, 380; Moses Erben 93. 148  Brief vom 23.1.1994. 149  Bleek(–Wellhausen), Einleitung (51886) 629. 150  Brief vom 21.3.

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ren“ wurde ein Jahrzehnt; 2002/03 erschien der Bericht151 über 89 Werke mit 26348 Seiten152, die Veijola, schon immer ein fleißiger Rezensent, offenkundig samt und sonders auch dort geduldig durchgelesen hat, wo sie ganz Abwegiges oder zweite und dritte Aufgüsse enthalten. Niemand wird das aufrichtige Bemühen um Gerechtigkeit verkennen, das auf diesen 133 Seiten herrscht. Hier wird nicht einfach eine „School“ gegen Andersdenkende verteidigt, so wenig die Auseinandersetzung fehlt und das Urteil gemieden wird. Als Überraschung sei Veijolas Begeisterung für J.-P. Sonnets unter „bewusster Ausblendung entstehungsgeschichtlicher Probleme“ geschriebenes „Meisterwerk“ „The Book within the Book“ (1997) notiert, das „selbst den (dia-)chronischen Skeptiker davon zu überzeugen“ vermag, „dass eine aufmerksame und einfühlende Lektüre des Dtn in der kanonischen Form ein ästhetisch und theologisch beachtliches Erlebnis sein kann, das mirabile dictu zugleich auch in historischer Hinsicht anregend wird. Die wahre Wissenschaft hebt die Grenze zwischen ‚Diachronie‘ und ‚Synchronie‘ auf und redet jenseits der Alternativen eine Sprache, die unmittelbar einleuchtet.“153 Aber Veijola legt Wert darauf, dass es sich bei Sonnets Buch um die „einzige restlos positive Ausnahme“ handelt, „die die Regel bestätigt“154. Im Urteil über Sonnet trifft er sich mit E. Otto155, dem im übrigen die wichtigste einzelne Auseinandersetzung innerhalb des Literaturberichts gilt, nämlich seiner Deuteronomium-Monographie von 1999, deren „Quod erat demonstrandum: de Wette ist tot, es lebe de Wette“ Veijola durch eine kritischexegetisch fehlgreifende „durchgehende ‚Assyrianisierung‘ des Dtn – und vieler anderer Teile des Pentateuchs –“ erkauft sieht156. Schon nach Jahresfrist ließ Otto eine überaus gelehrte und scharfsinnige weitere Monographie unter dem Titel „Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch“ folgen; sie bestätigte in Veijolas Augen „nachdrücklich die Tatsache, dass die frühen Schriftgelehrten ihr Werk mit einer Perfektion durchgeführt haben, die keine allzu große Hoffnung zulässt, dass man die literarischen Produkte ihrer hochkomplizierten Gedankengänge noch nachträglich vollständig entziffern könnte“157. Als ich Veijola lange davor Wellhausens briefliche Bemerkung zu dem ihm unsympathischen „Raffinement“ von Buddes Analyse der Urgeschichte vorlas, man solle sich „grade deswegen, weil die Sache wahrscheinlich höchst complicirt ist, bescheiden“158, hatte er nachdenklich genickt. Später nahm er, wofür 151  ThR 67, 273–327.391–424; 68, 1–44. 152  ThR 68, 41. 153  ThR 67, 323–27. 154  ThR 68, 42. 155  ThR 67, 327115. 156  Ebd. 292–96. 157  ThR 68, 382 (am Schluss einer nicht mehr in den Literaturbericht aufgenommenen Rezension). 158  An W.R. Smith 30.12.1883 (Briefe, 2013, 138).

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er sich auf F. Overbeck berief159, die Einsicht hinzu, es gehöre „zum Wesen der kanonischen Literatur, dass sie ihre Entstehungsbedingungen sorgfältig verdeckt“, und folgerte, weil „die dtn/dtr Schreiber“ in diesem Sinn „mit ihrem gelehrten Griffel die Spuren ihrer literarischen Tätigkeit unkenntlich gemacht“ hätten, sei „jedes Unternehmen zum Scheitern verurteilt, dessen Initiatoren sich anmaßen, die Genealogie dieser Literatur vollständig zu entschlüsseln“. Anstelle der „Sisyphusarbeit“, dieses „Puzzle“ zu rekonstruieren, sah er es als Zukunftsaufgabe, „sich verstärkt der Frage zuzuwenden, wie die traditionsgeschichtlichen und historischen Linien von den dtn/dtr Schreibern (vgl. Jer 8,8f.) zu den aus späteren Quellen wohl bekannten Schriftgelehrten laufen, was das Gespräch zwischen ‚Hebraismus‘ und ‚Judaismus‘ berühren würde“160. Es bedarf keines Wortes, dass diese Frage, wenn immer noch oder wieder „die nächste Aufgabe der atl. Theologie vor allen Dingen die Geschichte des vorchristlichen Judentums ist“161, zentrale Bedeutung hat, und ebenso wenig, dass sich hier für Veijola selbst „eine höchst lebendige und verheißungsvolle Perspektive auf die Wirksamkeit der inzwischen von manchen schon für tot erklärten Deuteronomisten“ eröffnen musste162. So nahm er sich vor, der Frage neben und nach dem zweiten Band des Deuteronomium-Kommentars einen Teil seiner Kraft zu widmen. Das Programm trug er in einer Kurzfassung („Deuteronomisten als Richter“) am 21. Juli 1999 auf einer Tagung der Society of Biblical Literature in Lahti (Finnland) vor163, vollständig stellte er es ein Jahr später ans Ende der Sammlung „Moses Erben“, die er François Langlamet widmete: „Die Deuteronomisten als Vorgänger der Schriftgelehrten. Ein Beitrag zur Entstehung des Judentums“164. Ausdrücklich möchte er „in der jetzigen Phase der Untersuchung“ nicht behaupten, dass die Deuteronomisten „tatsächlich die ersten Schriftgelehrten waren“, sondern nur, „daß sie eine Vorform des Standes der Rechtsgelehrten vertraten, aus dem sich später die Schriftgelehrten im strengen Sinne des Wortes entwickelten“165. Er nennt einige Gelehrte, die sich in der jüngsten Vergangenheit mit verwandten Fragen beschäftigt haben: O.H. Steck (1935–2001), der, in der rabbinischen Literatur ähnlich gut bewandert wie Veijola selbst, bestimmte Züge des deuteronomistischen Geschichtsbildes im palästinischen Judentum wiederfand166; M. Weinfeld (1925–2009), der das Deuteronomium auf gelehrte „Schreiber“ am Königshof zurückführte167; A. Rofé, 159  Christentum und Kultur (1919) 23–25; Veijola spitzt aber schärfer zu. 160  ThR 68, 41f. 161  R. Smend 1880, s.o. 432. 162  Moses Erben (2000) 9. 163  S. ebd. 269. 164  Ebd. 192–240. 165  Ebd. 224. 166  Ebd. 192f. 167  Ebd. 193. – Im „Moshe Weinfeld Jubilee Volume“ von 2004 (459–78) variierte Veijola noch einmal seine eigenen Grundgedanken.

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der „anhand zahlreicher Beispiele nachgewiesen hat, wie die letzten literarischen Stufen des AT aus der persischen und hellenistischen Zeit mit der Entstehung des später rabbinisch genannten Judentums zusammenfallen“168; und schließlich am nächsten bei der Sache W. Dietrich, der „bereits 1983 über die dtr Schule schrieb: ‚Vielleicht können wir in ihr eine Frühform jener (Schrift-) Gelehrtenschulen sehen, die später die geistesgeschichtliche Produktion des Judentums maßgeblich beeinflußt haben.‘“169 Es ist aber, so stellt Veijola fest, „noch nie ein gezielter Versuch unternommen worden, die Existenz einer literarischen Kontinuität zwischen den Deuteronomisten und den Schriftgelehrten zu beweisen“170. Seinen eigenen Versuch charakterisiert wie immer, dass er von den Texten ausgeht und die Nähe zu ihnen behält. Die hier in Betracht kommenden Texte stammen größtenteils aus der „Schule“ der „nomistischen“ Deuteronomisten (DtrN), der er im Unterschied zu dem ihm sonst nächststehenden Mitforscher Dietrich mehr als nur ein „kritisches Minimum“ zurechnet171. Er setzt ein mit dem Geschenk der richterlichen Weisheit an Salomo (1 Kön 3,4–15) und der Bestallung der Vorsteher und Richter in Dtn 1,9–18172, die ihn fragen lässt, „ob die nomistischen Deuteronomisten vielleicht selber ein solches Amt als Vorsteher und Richter der exilischen oder wahrscheinlicher: nachexilischen Gemeinde innegehabt oder im Auge gehabt und damit in Dtn 1,9ff. die Ätiologie für ihre eigene Tätigkeit gegeben haben“173. Für die Richter- und erste Königszeit kann Veijola auf seine ersten Arbeiten zurückgreifen, die eine deutliche Aufwertung des Richtertums bei DtrN gegenüber der Hochschätzung des Königtums bei DtrH ergeben haben174. Es folgt eine ausführliche Skizze der Schriftgelehrten als Exegeten, Pädagogen und Juristen einerseits175, der Deuteronomisten als Schriftgelehrter andererseits176. Bei der Suche nach „Verbindungslinien zwischen den Deuteronomisten und den Schriftgelehrten […] richtet sich der Blick von selbst auf Esra“ und wird hier auf der „Textebene“ schnell fündig177. Was dagegen die Ebene der Geschichte betrifft, „mehren sich“ im Zeichen „der heute üblich gewordenen Dekonstruktionen der Geschichte Israels“178 die „Stimmen, die vor allem dem, was über Esra berichtet wird, his168  Ebd. 206. 169  Ebd. 224208. 170  Ebd. 192. 171  Ebd. 213135. 172  Ebd. 194–200. 173  Ebd. 200. 174  Ebd. 201–06; s.o. 954–56. 175  Ebd. 206–13. 176  Ebd. 213–24. 177  Ebd. 224–32. 178  Hier sei wenigstens anmerkungsweise darauf hingewiesen, dass Veijola einen entschiedenen Widerwillen gegen das empfand, was er „destruktive Exegese“ nannte, so etwa „die neueren Versuche, die den Königsbüchern jeglichen Wert als Quellen für die Erforschung der Geschichte und Religion Israels absprechen (G.W. Ahlström, P.R. Davies, N.P. Lemche, K.A.D.

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torische Zuverlässigkeit nur im Blick auf die eigene Zeit des [frühhellenistischen] Verfassers beimessen“, wodurch „zwischen den ‚deuteronomistischen Schriftgelehrten‘ (um 500) und dem Schriftgelehrten Esra (um 300) ein historischer Graben von etwa zweihundert Jahren klaffen würde179. Veijola widerspricht dem im Anschluss an allgemeine Überlegungen F. Braudels und unter ausdrücklichem Verzicht auf ein „Urteil über die Abfassungszeit der in Esra– Nehemia eventuell verarbeiteten Quellen“180 – vielleicht war hier ein Feld, auf dem er, wäre ihm die Zeit dafür beschieden gewesen, noch ähnlich hätte Ordnung schaffen können wie einst auf dem Feld der Samuelbücher. Eine gewisse Vorläufigkeit weisen auch die „Schlußfolgerungen“ aus der Hauptthese des Programms auf: die nunmehrige Lokalisierung der Deuteronomisten oder wenigstens von DtrN in der babylonischen Gola181, das Bestehen auf einem „klassischen oder normativen Judentum“ im Widerspruch zur „Fragmentierung des Frühjudentums in eine unübersehbare Menge von ‚Judaisms‘“182, der Protest gegen die „von W.M.L. de Wette inaugurierte Gegenüberstellung von Hebraismus und Judentum“ – die Lücke zwischen Deuterojesaja und Esra ist vielmehr mit L. Perlitt durch den Deuteronomismus auszufüllen183. Mit deutlicher Vorsicht formuliert Veijola am Ende den Satz: „Es ließe sich vielleicht etwas ungeschützt und thetisch behaupten, daß die Grundlagen für die Art der Religion, die in dem späteren Judentum vorherrschend geworden ist, im 6. Jahrhundert im babylonischen Exil geschaffen wurden.“184 Das Fachwerk, das er mit diesem Programm errichtet hatte, hätte er in den folgenden Jahren reichlich gefüllt, vielleicht auch verändert; an neuen Gesichtspunkten und neuem Material war er immer interessiert, und seine früheren Aufstellungen überprüfte er ohne Vorbehalt. Noch in seinem letzten Jahr führte er, beeindruckt von J. Assmanns „Kulturellem Gedächtnis“ (1992), der Leserschaft seiner Universität „die hinter dem Deuteronomium stehenden gelehrten Schreiber“ vor, die „maßgeblich zur Entstehung des kulturellen Gedächtnisses der jüdisch-christlichen Religion und Kultur beigetragen haben“185. Vielleicht wären sie ihm auch in der so ganz anderen, aber letztlich doch identischen Gestalt von Richard Simons „écrivains“186 interessant geworden – schon über den Titel „Moses Erben“ könnte man sich zwischen den beiden Kritikern Smelik, T.L. Thompson)“ (ThR 68, 2). Umgekehrt gab er seiner Freude Ausdruck, wenn mit Argumenten „Mose als geschichtliche Gestalt“ gesucht (R. Smend 1995) oder in den Prophetenbüchern „das Besondere der einzelnen Schrift wie der durch sie hindurchtönenden Stimme nicht überhört“ wurde (L. Perlitt, ATD 25/1, 2004, XVI). 179  Ebd. 232f. 180  Ebd. 233f. 181  Ebd. 236–38, vgl. oben 961; hier Berührung mit N. Lohfink und W. Dietrich. 182  Ebd. 238 mit Anm. 295. 183  Ebd. 239. Perlitt: Deuteronomium-Studien (1994) 247–60. 184  Ebd. 240. 185  Universitas Helsingiensis/University of Helsinki Quarterly 1/2005, 24f. 186  S.o. 76.

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und Exegeten über dreihundert Jahre hinweg ein lebhaftes und vielleicht am Ende ganz harmonisches Gespräch vorstellen. Fast eine Neuentdeckung seiner letzten Jahre war der Weisheitslehrer Jesus Sirach/Ben Sira, mit dessen Buch er eine Reihe von Übersetzungen biblischer Bücher ins Finnische abschloss. Er hatte 1976 mit Amos begonnen, auch um sich nebenher Geld zu verdienen. Auf seine frühe Tätigkeit als Psalmenübersetzer dürften seine Überlegungen zu den Tempora in den Psalmen zurückgehen, die er 2004 seinem Kollegen T. Harviainen widmete187. Der Untertitel seiner ersten und leider auch letzten exegetischen Arbeit zu Sirach zeigt, mit welcher Fragestellung er an dieses Buch heranging: „The Deuteronomistic Heritage in Ben Sira’s Teaching of the Law“188. Wir können, wie schon vorher im Falle Esras, sicher sein, dass er damit noch nicht alles gesagt hatte, was er zu Sirach sagen wollte. Im Herbst 2005 erschien, leider erst zur Hälfte, Veijolas Deuteronomiumkommentar, der auch als Torso sein Hauptwerk und ein großes Vermächtnis bedeutet. Der Rezensent der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft begrüßte ihn mit den Worten: „Was im Allgemeinen richtig ist (‚Die Kommentare der Menschen sind in Sachen der heiligen Schrift wie die Pest zu fliehen‘, Melanchthon), kann im konkreten Fall ganz falsch sein. Dieser besondere Fall ist hier gegeben. Denn der Vf. dient auf selten erreichte Weise dem Wort in den Wörtern, indem er konzentriert und klar argumentierend die mitunter spröden Texte in ihrer Entstehung durchsichtig macht, deren theologische Pointen – oft überraschend – zur Geltung bringt und so gelungen formuliert, dass die Lektüre ein Vergnügen ist.“189 Die Durchsichtigkeit wird durch ein drucktechnisches Verfahren erhöht: „Die verschiedenen literarischen Schichten werden in der Übersetzung dadurch kenntlich gemacht, dass der jeweils älteste Text in Normalbreite erscheint und die sukzessiven Erweiterungen stufenweise eingerückt sind.“190 Die anschließende Erklärung folgt den literarischen Schichten. Zum Verständnis der „theologischen Pointen“ hilft oft Luther, aber auch andere Ausleger der Vergangenheit, besonders die Rabbinen, kommen immer wieder zu Wort. Von dem Geist, in dem der Kommentar geschrieben ist, zeugt der Schlusssatz der Einleitung: „Auch wenn wir die letzten Geheimnisse dieser Schriften, die mit Herz und Verstand konzipiert und überliefert worden sind, nie vollständig enthüllen können, hilft die Kenntnis der Geistigkeit ihrer Autoren und Redaktoren, die Grenzen zu respektieren, die unserer Arbeit in diesem Literaturbereich gesetzt sind.“191 Und der schon angeführte Rezensent schließt: „Dieser Kommentar ist das Glanzstück des 187  Auch in: Leben nach der Weisung (2008) 129–43. Der Aufsatz übt namentlich Kritik an D. Michel (s.o. 938). 188  In der Gedenkschrift für K.-J. Illman (2006), dann in Leben nach der Weisung 144–64. 189  M. Köckert, ZAW 117 (2005) 481. Mit dem Melanchthon-Zitat begann Veijolas Vorwort. 190  ATD 8,1, IX. 191  Ebd. 6.

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ATD, aus dem man lernen kann, was es heißt, biblische Texte zu kommentieren.“192 Timo Veijola hat dieses Urteil noch zur Kenntnis bekommen und sich darüber gefreut. Aber es erreichte ihn als einen schwerkranken Mann. Schon im Frühjahr 1997 hatte ihn eine überaus quälende psychische Krankheit befallen, die sein Leben und das seiner Familie von da an überschattete und, nachdem sie mehrfach überwunden schien, am 1. August 2005 zu seinem Tod führte. Es ist kaum begreiflich, was er in diesen Jahren noch für die Wissenschaft hat leisten können. Er beschäftigte sich auch mit den medizinischen und psychologischen Aspekten seiner Krankheit, übersetzte eine Schrift „Vom Kreutz der gläubigen Seelen“ des Barockpredigers Christian Scriver aus dem 17. Jahrhundert ins Finnische193 und studierte im Licht seiner eigenen Erfahrungen und Kenntnisse die biblischen Zeugen von Depression: Saul, Elia, Jona, Hiob. Ps 88 legte er als Gebet eines Depressiven, Ps 30 als Dankgebet eines von Depression Geheilten aus. Die Vorträge, die er darüber hielt – sie wurden postum ins Deutsche übersetzt194 –, sind das Bewegendste, was es von ihm zu lesen gibt. Bald nach seinem Tod erschien ein Sammelband mit Vorträgen von einer Eisenacher Tagung Ende Mai 2003 über „Festtraditionen in Israel und im Alten Orient“, auf der Timo Veijola über den Festkalender des Deuteronomiums gesprochen hatte195. In ihrem Vorwort, im September 2005, erinnerten sich die Tagungsleiter und Herausgeber, E. Blum und R. Lux: „Zu den besonders eindrücklichen Erfahrungen der Eisenacher Tagung gehörte das intensive textbezogene Gespräch zwischen Timo Veijola und Shimon Gesundheit über den Festkalender im Deuteronomium. Vor der Drucklegung dieses Bandes ist Timo Veijola völlig unerwartet verstorben. Er war einer der herausragenden Exegeten seiner Generation. Alle, die ihn persönlich kannten, werden seine feine Art, seine unprätentiösen und immer sachorientierten Beiträge, aber auch seinen leisen Humor nicht vergessen.“ Requiescit in pace.

192  Köckert a.a.O. 482. Davor gibt die Rezension eine instruktive Übersicht über den literargeschichtlichen Ertrag des Kommentars. 193  Erschienen 2001. 194  Depression als menschliche und biblische Erfahrung, in: Offenbarung und Anfechtung (2007) 158–90. 195  Sein Vortrag in dem Sammelband 174–89.

Nachweis der zugrundeliegenden Erstveröffentlichungen

Die verwendeten Abkürzungen richten sich, wie auch sonst in diesem Buch, nach Siegfried M. Schwertner, IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 32014.

Die Buxtorfs: Vier Epitaphe – die Basler Hebraistenfamilie Buxtorf, Litterae et Theologia. Schriften des Frey-Grynaeischen Instituts in Basel, hg. v. Martin Wallraff, Bd. 1, Berlin u.a. 2010. Samuel Bochart, Baruch de Spinoza, Richard Simon, Heinrich Ewald, Rudolf Smend, Martin Buber, Walter Baumgartner, Wilhelm Vischer, Timo Veijola: hier erstmals veröffentlicht. Johann Gottlob Carpzov: Spätorthodoxe Antikritik. Zum Werk des J. G. C., in: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, hg. v. Henning Graf Reventlow, Walter Sparn u. John D. Woodbridge, Wolfenbütteler Forschungen 41, Wiesbaden 1988, 127–37 = Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien Bd. 3, BEvTh 109, München 1991, 33–42. Jean Astruc: Überarbeitete deutsche Vorlage von: J. A., in: From Astruc to Zimmerli. Old Testament Scholarship in three Centuries, Tübingen 1–14. Vgl. auch: J. A.: A Physician as a Biblical Scholar, in: Sacred Conjectures. The Context and Legacy of Robert Lowth and Jean Astruc, hg. v. John Jarick, Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies 457, London u.a. 2007, 157–73. Robert Lowth: Der Entdecker des Parallelismus: R. L. (1710–1787), in: Prophetie und Psalmen (Festschrift für Klaus Seybold zum 65. Geburtstag), hg. v. Beat Huwyler u. a., AOAT 280, Münster 2001, 185–99. Johann David Michaelis*, Johann Gottfried Eichhorn*: J. D. M. und J. G. E. – zwei Orientalisten am Rande der Theologie, in: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttinger Universitätsschriften A 1, hg. v. Bernd Moeller, Göttingen 1987, 59–71. 71–81. Johann Gottfried Herder: H. und die Bibel. Festvortrag in der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar am 18. Dezember 2003, in: J. G. H. Aspekte seines Lebenswerkes, hg. v. Martin Keßler u. Volker Leppin, AKG 92, Berlin u.a. 2005, 1–14.

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Nachweis der zugrundeliegenden Erstveröffentlichungen

Wilhelm Martin Leberecht de Wette*: W. M. L. de W., in: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert I, Urban-Taschenbücher 284, hg. v. Martin Greschat, Stuttgart 1978, 44–58. Wilhelm Gesenius*, Bernhard Duhm*, Wilhelm Rudolph*, Gerhard von Rad*, Walther  Zimmerli*, in: Rudolf Smend, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989. Friedrich Bleek*, Adolf Kamphausen*, Johannes Meinhold*: F. B., A. K., J. M., in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. I. Evangelische Theologie (150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818–1968, II,1), Bonn 1968, 31–41. 91–102. 121–29. Ernst Wilhelm Hengstenberg: Vgl. Hebrew Bible/Old Testament III,1 (s.u.), 494–520. Franz Delitzsch: Franz Delitzsch. Aspekte von Leben und Werk, in: Die Erzväter in der biblischen Tradition. Festschrift für Matthias Köckert, hg. v. Anselm C. Hagedorn u. Henrik Pfeiffer, BZAW 400, Berlin u.a. 2009, 347–366. Vgl. auch: Hebrew Bible/Old Testament III,1 (s.u.), 494–520. Abraham  Kuenen: A. K. (1828–1891). Ein Klassiker der Einleitungswissenschaft, in: Deuteronomy and Deuteronomistic Literature (Festschrift Chri​ stian H. W. Brekelmans), hg. v. Marc Vervenne u. Johan Lust, BEThL 133, Leuven 1997, 569–86. Emil Kautzsch: Traditionsbewußte Erneuerung der alttestamentlichen Wissenschaft: Emil Kautzsch (1841–1910), in: Im Spannungsfeld von Gott und Welt. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart des Frey-Grynaeischen Instituts in Basel, hg. v. Andreas Urs Sommer, Basel 1997, 111–22. Julius Wellhausen*: J. W., in: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert I, Urban-Taschenbücher 284, hg. v. Martin Greschat, Stuttgart 1978, 166–80; auch: J. W., in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. v. Martin Greschat, X,1, Stuttgart 1985, 45–58. Bernhard Stade*, Hermann Gunkel*: B. St., H. G., in: Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Hans Georg Gundel u. a. (Lebensbilder aus Hessen 2, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 35,2), Marburg 1982, 913–24. 345–55. Hermann Guthe: H. G. (1849–1936), in: Palaestina Exploranda. Studien zur Erforschung Palästinas im 19. und 20. Jahrhundert anläßlich des 125jährigen Bestehens des Deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas, hg. v. Ulrich Hübner, ADPV 34, Wiesbaden 2006, 129–44. Karl Budde: Karl Budde (1850–1935), in: Language, Theology and the Bible. Essays in Honour of James Barr, hg. v. Samuel A. Balentine u. John Barton, Oxford 1994, 359–69. Rudolf Kittel: R. K. (1853–1929), ThZ 55 (1999) 326–53. Karl  Marti*, Hugo  Greßmann*: Die älteren Herausgeber der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, in: Lebendige Forschung im Alten

Nachweis der zugrundeliegenden Erstveröffentlichungen

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Testament (BZAW 100 Suppl.-Bd.), hg. v. Otto Kaiser, Berlin 1988, (2–21) 5–8. 8–16. Alfred Rahlfs: A. R. Ein Leben für die Septuaginta, in: Die Göttinger Septuaginta. Ein editorisches Jahrhundertprojekt, hg. v. Reinhard Gregor Kratz u. Bernhard Neuschäfer, AAWG.PH NF 22 / MSU 30, Berlin u.a. 2013, 265– 72. Alfred Bertholet: Ein Göttinger Deuteronomiumkommentator. A. B. (1868– 1951), in: Liebe und Gebot. Studien zum Deuteronomium (Festschrift zum 70. Geburtstag von Lothar Perlitt), hg. v. Reinhard Gregor Kratz u. Hermann Spieckermann, FRLANT 190, Göttingen 2000, 173–89. Otto  Procksch: Überarbeitete deutsche Vorlage von: „The Idea of Covenant Has its History“. On the Life and Work of O. P. (1844–1947), in: Covenant as Context. Essays in Honour of Ernest W. Nicholson, Oxford 2003, 371–92. Gustav  Hölscher: G. H. Alttestamentler und Zeitgenosse, in: Diasynchron. Walter Dietrich zum 65. Geburtstag, hg. v. Thomas Naumann u. Regine Hunziker-Rodenwald, Stuttgart 2009, 345–73. Ludwig Köhler: L. K. 1880–1956, in: Theologisches geschenkt (Festschrift für Manfred Josuttis), hg. v. Christoph Bizer, Bovenden 1996, 185–95. Albrecht Alt*: A. A. 1883–1865, ZThK 81 (1984) 286–321 (Vortrag in der Sektion Theologie der Universität Leipzig aus Anlass von Alts 100. Geburtstag am 27. September 1983). Sigmund Mowinckel: S. M. 1884–1965. Foredrag holdt i Fellesmøte 13. Januar 2000, in: ArNVAO (2000) 449–62. Otto Eißfeldt: O. E. 1887–1973, in: Understanding Poets and Prophets. Essays in Honour of George W. Anderson, hg. v. A. Graeme Auld, JSOT.S 152, Sheffield 1993, 318–35. Wilhelm Rudolph*: Gedenkrede, gehalten in der Aula der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster am 9. November 1987. Johannes Hempel: J. H. (1891–1964). Ein Alttestamentler in schwieriger Zeit, in: Mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker genannt werden (Jes 56,7). Judentum seit der Zeit des Zweiten Tempels in Geschichte, Literatur und Kult (Festschrift für Thomas Willi zum 65. Geburtstag), hg. v. Julia Männchen, Neukirchen-Vluyn 2007, 347–70. Martin Noth*: M. N., in: Martin Noth, Gesammelte Studien zum Alten Testament II, hg. v. H. W. Wolff (ThB 39), München 1969, 139–65. Isac Leo Seeligmann: Begegnung mit I. L. S., in: Isac Leo Seeligmann, Gesammelte Studien zur Hebräischen Bibel, hg. v. Erhard Blum, FAT 41, Tübingen 2004, 469–92. Walther Zimmerli*: In memoriam W. Z. Gedenkrede von Rudolf Smend. Gedenkworte von Norbert Kamp, Josef Fleckenstein und Eduard Lohse. Göttinger Universitätsreden 73, Göttingen 1984, 20–48. Hans Walter Wolff: H. W. W. Leben und Werk, in: Neu aufbrechen, den Menschen zu suchen und zu erkennen. Symposium anlässlich des 100. Geburts-

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Nachweis der zugrundeliegenden Erstveröffentlichungen

tages von Hans Walter Wolff, hg. v. Jan Christian Gertz u. Manfred Oeming, BThSt 139, Neukirchen-Vluyn 2013, 11–40. Lothar  Perlitt: Nachruf auf L. P. (2. Mai 1930–25. Oktober 2012), in: JAWG 2013, Göttingen 2014, 189–96. Diethelm  Michel: D. M. 1931–1999, in: KUSATU 1. Kleine Untersuchungen zur Sprache des Alten Testaments und seiner Umwelt, hg. v. Reinhard G. Lehmann, Waltrop 2000, 5–25. * auch enthalten in: Rudolf Smend, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989. Englische Fassungen der Porträtskizzen von J. Astruc, R. Lowth, J. D.  Michaelis, W. M. L. de Wette, W. Gesenius, A. Kuenen, J. Wellhausen, B. Duhm, H. Gunkel, A. Alt, S. Mowinckel, G. von Rad, M. Noth, I. L. Seeligmann und W.  Zimmerli finden sich in: Rudolf Smend, From Astruc to Zimmerli. Old Testament Scholarship in Three Centuries, Tübingen 2007. — Vgl. außerdem die Abschnitte „The Work of Abraham Kuenen and Julius Wellhausen“, „In the Wake of Wellhausen: The Growth of a Literary-critical School and Its Varied Influence“ und „A Conservative Approach in Opposition to a Historicalcritical Interpretation: E. W. Hengstenberg and Franz Delitzsch“, in: Hebrew Bible/Old Testament. III. From Modernism to Post-Modernism. Part 1. The Nineteenth Century – a Century of Modernism and Historicism, hg. v. Magne Sæbø, Göttingen 2013, 424–53. 472–93. 494–520. Auf Sæbøs großes Werk insgesamt sei auch an dieser Stelle mit Nachdruck hingewiesen.

Bildnachweis S. 3: Schabkunst (J.J. Haid, um 1747). — S. 19, 31, 33: Kupferstich (P. Aubry, 1659) u. Ölgemälde (F. Wettstein[?], um 1687; Unbekannter Künstler, um 1705); Basel, Porträtsammlung der Universität (Portr BS Buxtorf J 1599, 2, Buxtorf JJ 1645, 1 u. Buxtorf J 1663, 1). — S. 37: Kupferstich (Unbekannter Künstler, 1663). — S. 51: Kupferstich (Unbekannter Künstler, 1733). — S. 99: Frontispiz (Kupferstich, J.M. Bernigeroth, Leipzig 1747; Apparatvs Historico Criticvs Antiqvitatvm Sacri Codicis Et Gentis Hebraeae: Vberrimis annotationibvs in Thomae Goodwini Mosen et Aaronem. Svbministravit Ioh. Gottlob Carpzov, Frankfurt u. Leipzig 1748). — S. 109: Frontispiz (Kupferstich, J. Astruc, Mémoires pour servir à l’histoire de la Faculté de médecine de Montpellier, Paris 1767). — S. 125: Frontispiz (Kupferstich, R. Lowth, Lectures on the Sacred Poetry of the Hebrews, translated by G. Gregory, vol. 1, London 1787). — S. 141: Ölgemälde (C.A.F. Lafontaine, 1790); Göttingen, Seminar für Iranistik. — S. 155: Kupferstsich (F. Anderloni, 1847). — S. 177: Kupferstich (E.S. Henne, 1737); Göttingen, Kunstsammlung der Universität. — S. 193: Lithographie (F. d’Avignon); Basel, Porträtsammlung der Universitätsbibliothek. — S. 209: Lithographie (Jentzen); Erlangen, Sammlung Beyschlag. — S. 227: Lithographie (C. Hohe, 1836); Bonn, Universitätsarchiv. — S. 241: Frontispiz (J. Bachmann, Ernst Wilhelm Hengstenberg. Sein Leben und Wirken nach gedruckten und ungedruckten Quellen, Bd. 1, Gütersloh 1876). — S. 279: Photographie (Unbekannter Photograph; nach S. Wagner, Franz Delitzsch. Leben und Werk, BEvTh 80, München 1978). — S. 301: Frontispiz (A. Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur biblischen Wissenschaft, Freiburg i.Br. u. Leipzig 1896). — S. 319, 489: Photographien; Bonn, Universitätsarchiv. — S. 345: Photographie; Göttingen, Universitätsarchiv. — S. 359: Frontispiz (Photographie; B. Duhm, Der Prophet Jesaia, HK.AT 3,1, Göttingen [1892] 51968, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht). — S. 373: Photographie; Gießen, Universitätsarchiv. — S. 387: Photographie (1886?), G. Brokesch, Leipzig. — S. 405: Photographie (um 1921?); Marburg, Bildarchiv Foto. — S. 455: Photographie; Leipzig, Universitätsarchiv. — S. 483: Photographie; Bern, Burgerbibliothek. — S. 503: Photographie; Göttingen, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. — S. 545: Photographie; Unbekannte Quelle (Wikimedia Commons), um 1925. — S. 561: Photographie; nach ZAW 45 (1927). — S. 599: Photographie (J. van Bilsen, 1963); Nationaal Archief, Den Haag, Niederlande; Fotocollectie Algemeen Nederlands Persbureau (ANEFO), 1945–1989, Bestanddeelnummer 915–3257 (CC BY-SA 3.0 NL). — S. 635: Photographie; nach V. Maag, Profes-

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Bildnachweis

sor Ludwig Köhler. 14. April 1880 bis 25. November 1956, Universität Zürich. Jahresbericht 1956/57, 99–101 (nach S. 100). — S. 649: Photographie; H. Jäggle, Tübingen 1951. — S. 679: Frontispiz (Interpretationes ad Vetus Testamentum pertinentes Sigmundo Mowinckel septuagenario missae, Oslo 1955). — S. 693: Photographie; Halle/Saale, Theologische Fakultät (Reproduktion: E.-J. Waschke). — S. 795: Photographie; Rose von Rad, München. — S. 827: Photographie; Dorothea Bleibtreu, Bonn. — S. 873: Photographie; Göttingen, Städtisches Museum. — S. 895: Photographie; Mainz, Universitätsarchiv. — S. 927: Photographie; H. Ringleben, Göttingen. — S. 935: Photographie; im Besitz von Frau E. Michel in Kochel am See. — S. 949: Photographie; P. Veijola, Tampere. Bei den Bildern auf den Seiten 259, 333, 421, 517, 527, 571, 709, 731, 749, 771 u. 849 handelt es sich um Photographien im Privatbesitz des Autors. Trotz intensiver Bemühungen war es nicht immer möglich, die Druckrechte der Abbildungen bzw. deren Inhaber zu ermitteln. Die Bildrechte der Photographen oder ihrer Erben bleiben selbstverständlich gewahrt. Sollten sich Inhaber von Urheberrechten in ihren Rechten beeinträchtigt sehen, werden sie höflich gebeten, sich an den Autor oder den Verlag zu wenden.

Namenregister

Abert, Hermann 797 Abrabanel, Isaak 22, 135 Achenbach, Reinhard 975 Acosta, Ana M. 110, 113, 115 Adelung, Johann Christoph 98 Agnon, Samuel Josef 602 Ahlström, Gösta W. 967, 979 Albright, William F. 403, 648, 650, 657, 662, 664, 670, 674, 683, 699, 708, 842 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 112, 120 D’Alessandro, Giuseppe 178 Alexander VII. 72 Alonso-Schökel, Luis 137f. Alphandéry, Paul 110, 115, 121 Alt, Albrecht 242, 327, 360, 380, 395, 402f., 454, 468, 469, 470, 471, 479ff., 549, 573, 585, 601, 615, 647, 648–677, 682, 688, 704f., 710, 735, 739, 755, 757, 766, 772ff., 786f., 791f., 794, 799, 802–812, 820, 825– 836, 843, 850, 862, 864, 889, 911f., 936, 957 Alt, Caroline 654 Alt, Friedrich 654 Alt, Hildegard 656 Alt, Theodor 654 Altenhein, Hans 608 von Altenstein, Karl 229, 245 Althaus, Paul 449, 552, 692, 799, 915 Althoff, Friedrich 438f., 452, 463, 465, 505, 588 Alting, Johann Heinrich 18 Amyraut, Moïse 40 Andreas, Friedrich Carl 442 Aner, Karl 34, 188 Ap-Thomas, Dafydd Rhys 688 Armogathe, Jean-Robert 121 Arndt, Ernst Moritz 203 Arnet, Samuel 727 Arnold, Gottfried 15 Arnold, Günter 65, 154, 160, 179 Aro, Jussi 950 Askani, Hans-Christoph 609f. Assmann, Jan 980 Astruc, Anne-Louis 111 Astruc, Jacques 111

Astruc, Jean 65, 108–123, 151, 161, 182, 305, 449 Astruc, Pierre 110f. Aubin, Gustav 701 Auerbach, Elias 966 Augusti, Johann Christian Wilhelm 199f. August II. „der Starke“ 112 Aurelius, Erik 930 Auvray, Paul 68, 70, 72, 83ff. Axt-Piscalar, Christine 194 Bach, Carl Philipp Emanuel 850 Bach, Johann Sebastian 98, 648 Bachmann, Johannes 240ff. Bachofen, Johann Jakob 778, 792 Bacon, Francis 30 Baeck, Leo 567, 854 Baentsch, Bruno 531, 670, 734 Baethgen, Friedrich 341, 367, 392, 462, 507 Bahrdt, Carl Friedrich 144 Balla, Emil 418, 437, 479ff. Baltzer, Klaus 929 Bardtke, Hans 390, 648, 651, 676 Barr, James 689, 726, 786f., 944, 958 Barrick, W. Boyd 554 Barstad, Hans 688 Barth, Christoph 791, 818 Barth, Karl 2, 18, 21, 27, 66, 75f., 80, 152, 192, 204, 208, 422, 431, 486, 498, 507, 515, 537, 556, 559, 567, 569, 588ff., 600, 623, 646, 653, 721f., 728, 746, 753, 755, 770, 773ff., 788ff., 798, 806, 821, 824, 829, 838, 860f., 876, 883, 894, 898ff., 915, 925f., 971 Barthélemy, Jean-Dominique 78 Graf Baudissin, Wolf Wilhelm 284ff., 291, 298, 351f., 390, 416, 440, 449, 507, 616, 692ff., 699f., 706 Bauer, Bruno 230, 313 Bauer, Hans 700 Bauer, Theo 833 Bauer, Walter 515, 522f., 881, 883, 899 Baumann, Julius 516, 692 Baumgärtel, Friedrich 467, 676, 736, 751f., 758, 762, 765, 818, 915f. Baumgarten, Michael 289

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Namenregister

Baumgarten, Otto 156, 562 Baumgarten, Siegmund Jakob 70 Baumgartner, Andreas 711, 725 Baumgartner, Hans 725 Baumgartner, Mia 719 Baumgartner, Walter 311, 360, 368f., 371, 410, 414, 419, 481, 485, 501, 510ff., 525, 542, 563, 582, 586, 610f., 615, 617, 622, 641ff., 708–728, 747, 757, 777, 788, 790f., 847, 859, 861, 865, 869, 881 Baumgartner-Teucher, Bertha Aline 725 Baur, Ferdinand Christian 205, 238, 244f., 251, 271, 273, 346, 354, 456 Baur, Jörg 932 Bayer, Oswald 969 Bayle, Pierre 39f., 48f. Bea, Augustin 742 Beck, Johann Tobias 456, 570, 969 Beck, Sebastian 17f., 21 Becker, Carl Heinrich 513 Becker, Karl Friedrich 281 Becker, Uwe 955 Beckmann, Joachim 922 Beckmann, Klaus 244 Beek, Martinus Adrianus 652 Beer, Georg 372, 400, 469, 593 Begrich, Joachim 481, 513, 650, 676, 805, 912, 961 Bellarmin, Franz Romulus Robert 21 Ben-Chorin, Schalom 600, 605, 625, 788 ben Chajim, Jakob 12 Bender, Wilhelm 377 Benecke, Heinrich 207f., 247, 265 Bengel, Johann Albrecht 779 Benjamin von Tudela 111 Benn, Gottfried 925, 932 ben Samuel ha-Levi, Jehuda 23 Bentzen, Aage 262, 765, 767, 774 Benzinger, Immanuel 530 Bergman(n), Samuel Hugo 612f., 616, 621, 624, 626, 632f. Bergmann, Juda 567 Bergsträßer, Gotthelf 591, 748 Berliner, Abraham 852 Bernoulli, Carl Albrecht 361, 526 Bernus, Auguste 68f., 81, 85, 87, 89 Bertheau, Carl 5, 258 Bertheau, Ernst 5, 26, 38, 178f., 258, 274, 364, 388, 438 Bertholdt, Leonhard 233f. Bertholet, Alfred 260, 342, 360, 382, 430, 523, 525–542, 711, 733f., 758, 762, 777

Bertholet, Salome 538 Bestmann, Hugo Johannes 339 Beutel, Albrecht 290 Beyschlag, Karlmann 290, 516, 552 Beza, Theodor 5, 18, 20, 68 Bickell, Gustav 591 Bickermann, Elias 853 Bieberstein, Klaus 397 Birkeland, Harris 687 Birnbaum, Walter 759, 761 von Bismarck, Otto 248, 274, 346, 543, 572, 667 Bitter, Stephan 65 Bizer, Ernst 588, 592f., 903 Bleek, Auguste 229 Bleek, Friedrich 97, 205, 226–239, 305, 318, 323, 327, 350, 407 Blenkinsopp, Joseph 274 Bloch, Marc 96 Blum, Erhard 982 Blumenbach, Johann Friedrich 176 Blumhardt d.J., Christoph 772 Bochart, René 36 Bochart, Samuel 17, 36–49 von Bodelschwingh d.Ä., Friedrich 780 von Bodelschwingh d.J., Friedrich 498, 776, 780, 782 Bodenstein von Karlstadt, Andreas 4 Boecker, Hans Jochen 955 Bödeker, Heinrich 263, 779, 781 Böhl, Franz Marius Theodor 853f. Böhme, Jakob 159 Böhmer, Heinrich 715 Boehmer, Julius 283 de Boer, Pieter Arie Hendrik 645, 766 Böttinger, Carl August 152 Bogaert, Pierre-Maurice 69 Bogenstahl, Irmgard 178 von Bohlen, Peter 246 Bohren, Rudolf 357 Bohrmann, Georg 52 Lord Bolingbroke (eig. Henry St. John) 112 Boman, Thorleif 944 Bonhoeffer, Dietrich 783, 798, 888, 913 Bonjour, Edgar 2, 534 Bonnet, Hans 936 Bonwetsch, Nathanael 282, 520, 692 Borger, Rykle 959 Bornhäuser, Karl 715 Borst, Arno 43, 81 Boschwitz, Friedemann 926 Bossuet, Jacques-Benigne 41, 83f., 86, 88, 93f.

Namenregister Bost, Charles 110 Bostroem, Eugen 372 Bourel, Dominique 606 Bousset, Wilhelm 201, 447, 470, 478, 501, 504, 506, 513, 521, 533, 562, 564, 567, 575f., 582, 586, 692 Boyle, Robert 86 Brandi, Karl 538 Braudel, Fernand 980 Braulik, Georg 974 Braun, Herbert 918 Braunschweig, Abraham 16 Bredenkamp, Conrad Justus 491 Bredow, Gabriel Gottfried 44 Brockelmann, Carl 938 Brooks, Van Wyke 179 Bruckner, Johann Jacob 34 le Brun, Jacques 68, 70, 96 Brunner, Emil 498, 567f., 646, 593, 789, 888, 900, 906, 937 Brunner, Hellmut 936 Brunner, Peter 912 Bruzen de la Martinière 67, 70, 84 Buber, Adele 606 Buber, Martin 341, 598–633, 656, 711, 850, 888, 954, 957, 966 Buber, Paula 606 Buber, Rafael 612 Buber, Salomon 606 Buchenau, Artur 70 Buchman, Frank 689 Budde, Helene 414 Budde, Hermann 406 Budde, Justus 406 Budde, Karl 308, 320ff., 369, 392, 404–419, 426, 438f., 451, 463, 484f., 491, 494, 511f., 520, 531f., 586, 711, 715, 720, 757, 778, 977 Budde, Ottilie 404 Budde, Otto 404 Budde, Wilhelm 404, 493 Buder, Paul 457 Bücher, Karl 434 Bürger, Gottfried August 224 Bürkli, Carl 712, 722 Buhl, Frants 213, 391, 399, 465f., 469, 544, 547, 572, 724 Buhle, Johann Gottlieb 145 Bullinger, Heinrich 5 Bultmann, Christoph 124, 156, 164, 194, 528 Bultmann, Rudolf 174, 355, 416, 431, 470, 501, 506f., 578, 583f., 624, 641, 717, 719, 722, 733, 767, 888, 911, 952

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Frhr. von Bunsen, Christian Carl Josias 318, 328f. Buntfuß, Markus 156 Burckhardt, Carl Jacob 40 Burckhardt, Jacob I 192 Burckhardt, Jacob II 44, 192, 351, 365, 432, 434f., 484, 525, 536, 642, 665, 712, 792, 797 Burckhardt, Johann Ludwig 218 Burg, Josef 677 Burkert, Walter 167 Burkhard, Pfr. in Solingen 908 Burnett, Stephen G. 1, 5, 7, 9, 13, 15f. Busch, Eberhard 592, 782, 789 Busoni, Ferruccio 526 Buxtorf, Hieronymus 6 Buxtorf, Joachim 2 Buxtorf, Johannes 2 Buxtorf, Johannes I 1–17, 81, 215, 242, 364 Buxtorf, Johannes II 6, 9f., 15, 17–28, 36, 72f., 81, 87, 97, 137, 139, 252 Buxtorf, Johannes III 6, 12, 15, 32–35 Buxtorf, Johann Jacob 6, 28 Buxtorf, Lucia 6 Buxtorf, Margareta 2 Buxtorf, Maria 6 Buxtorf, Rudolf 35 Buxtorf, Severin 2 Buxtorfs 1–35, 38 Calvin, Jean 2, 13, 15, 18, 20, 40, 42, 248, 878 Frhr. von Campenhausen, Hans 595, 650, 814, 878, 899, 928 Camus, Albert 946 Cappel, Jacques 38 Cappel (Cappellus), Louis 14f., 24ff., 38, 42, 72, 81, 91, 105 Carlson, Rolf August 967 Carlyle, Thomas 351, 543, 555 Carpzov, Johann Benedikt II 97 Carpzov, Johann Benedikt III 98 Carpzov, Johann Benedikt V 98 Carpzov, Johann Gottlob 34, 97–107, 130, 182, 252 Carpzov, Samuel Benedikt 98 Carroll, Robert P. 543 Caspari, Wilhelm 418, 644 Cassuto, Umberto 617, 858 Celsius, Olaus 47 Champollion, Jean François 254 Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniel 537, 541

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Namenregister

Lord Chesterfield (eig. Philip Stanhope) 112 Cheyne, Thomas Kelly 139 Childs, Brevard S. 41, 556, 889 Chirac, Pierre 112 Christ, Paul 640 Christine von Schweden 48, 70, 88 Christophersen, Alf 291 le Clerc, Jean (Johannes Clericus) 20, 23, 86, 89ff., 102f., 116, 119, 123f., 130, 181 Coccejus, Johannes 10, 30, 557 Cohen, David 853 Cohen, Hermann 66, 538, 852 Colbert, Jean-Baptiste 84 Colenso, John William 308, 314 (de) Condé, Henri 70 (de) Condé, Louis 71 Conrad, Ruth 508 Conzelmann, Hans 818 Cook, Stanley A. 535 Cordemann, Claas 156 Cornill, Carl Heinrich 322, 368, 411, 426, 438f., 463, 596, 734 da Costa, Uriel 55 Cowley, Arthur Ernest 446 Cremer, Hermann 348, 465, 901 Crenshaw, James Lee 495 Cripps, Richard Stafford 139 Crusius, Christian August 249, 290 Crüsemann, Frank 766, 956f. Cudworth, Ralph 165 Cüppers, Heinz 402 Cullhed, Anna 124 Cullmann, Oscar 790 Curione, Celio Secondo 2 Curione, Leo 2, 6 Curione, Margareta 2 Curley, Edwin 63 Curtius, Ernst Robert 388, 814 Dahl, Nils Alstrup 690 Dalman, Gustaf 280, 469, 549, 566, 655, 661, 672, 757, 825 Dan, Joseph 870 Dandini, Jérôme 69 Darwin, Charles 323 Davidowicz, Klaus Samuel 604 Davies, Philip R. 979 Dehn, Günther 507, 513f., 701 Delitzsch, Franz 236f., 242, 255, 257f., 269, 278–299, 320, 340, 350, 374, 390ff., 401, 430, 436, 454, 457, 464f., 484, 490f., 544, 619, 694, 853

Delitzsch, Friedrich 463, 490, 507, 694 Dempster, Thomas 38 Dentan, Robert C. 558, 752 Descartes, René 48, 55, 70 Deuschle, Matthias A. 240, 250 Dexinger, Ferdinand 72 Dibelius, Martin 493, 507, 578, 588, 594, 641 Dibelius, Otto 507, 511, 747, 765, 926 Diebner, Bernd Jörg 661 Diestel, Ludwig 42, 46, 107, 251, 257, 318, 320, 340, 363, 427, 456ff., 461 Dietrich, Franz 213 Dietrich, Walter 597, 727, 951f., 960, 979f. Dihle, Albrecht 167 Dillmann, August 276, 322, 330, 340, 348, 350, 374f., 407, 423f., 429, 459ff., 490f., 507 Dilthey, Wilhelm 606 Diodati, Giovanni 18 Dirksen, Peter B. 306 von Dobschütz, Ernst 748 Doe, Janet 110, 115 Döderlein, Johann Christoph 178f., 183 Döring, Jürgen 176 Donner, Herbert 60, 213, 386, 402, 676, 724 Dorner, Isaak August 318, 374, 389 Doumergue, Emile 5 Dozy, Reinhart Pieter Anne 302 Driver, Godfrey Rolles 82 Driver, Samuel Rolles 469 Dubnow, Simon 603f. Duhm, Bernhard 131, 138f., 189, 270, 311, 314, 332, 353, 357–371, 372, 375, 386, 389f., 392, 411, 428, 437ff., 444ff., 457, 485, 501f., 510, 516, 526, 528ff., 534, 538, 544, 554, 563, 570, 577, 586, 622, 652, 672, 681, 692, 708, 711, 715, 721, 723, 727, 757, 772, 777ff., 792, 940 Duhm, Hans 371, 902 Duhm, Helene 364 Duhm, Lauardus Nikolaus 358 Dukes 294 Dury (Duraeus), John 22 Dyserinck, Johannes 315 Ebeling, Erich 566, 627, 794, 823 Ebers, Georg 397 Ebrard, August 237, 388, 394 Eck, Reimer 149 Edel, Elmar 936 Egli, Emil 640 Ehrenfeuchter, Friedrich 422 Eichhorn, Albert 504, 506, 563ff.

Namenregister Eichhorn, Johann Gottfried 34, 65, 97, 104, 107, 121f., 130, 151, 158, 170, 176–191, 196f., 208, 210f., 220ff., 261, 265, 413, 438, 492, 509, 729 Eichhorn, Karl Friedrich 190 Eichhorn, Susanne Dorothea 176 Eichrodt, Walther 556f., 721f., 741, 774, 778, 787f., 790f., 799, 815, 818 Eisenmenger, Johann Andreas 293 Eißfeldt, Otto 118, 123, 217f., 268, 284, 407, 430, 450, 464, 469, 480, 540, 591, 671, 691– 707, 751, 758, 766, 774, 803, 835, 838f., 855, 868, 889, 926, 976 Elbogen, Ismar 567 Elert, Werner 97, 552, 915 Elliger, Karl 676, 704, 736 Elliger, Walter 247 Elzevier, Daniel 84 van den Ende, Franciscus 55 Engelken, Karen 634 Engels, Friedrich 687 Engnell, Ivan 967 Ericksen, Robert P. 768 Erman,Adolf 694 Ernesti, Johann August 158 Ernst August 271 Erpenius (van Erpen), Thomas 38 Everett, Edward 179 Ewald, Heinrich 150, 154, 189f., 222f., 258– 277, 297, 305, 311, 313, 322, 325, 346, 348, 352, 354, 358, 360f., 363, 366, 374, 379, 390, 414, 420, 424, 426, 438, 460, 553, 619, 694, 711, 843, 932 Fabricius, Georg 7 Felber, Stefan 589, 770, 776, 778, 786 Feller, Richard 484 Feuerbach, Ludwig 56 Fezer, Karl 790 Fichte, Johann Gottlieb 194 Fichtner, Johannes 611 Finkelstein, Israel 677 Fischer, Anton 406 Fischer, August 573, 748 Fischer, Hans 395, 401 Flasch, Kurt 145, 152 Fleischer, Heinrich Leberecht 280, 334, 374, 484 Fleury, Claude 116 Flusser, David 850 Foerster, Friedrich Wilhelm 583 Fohrer, Georg 623, 767, 952

993

Foresti, Fabrizio 975 Francke, August Hermann 98, 100 Frank, Franz Hermann Reinhold 283, 543 Franklin, Benjamin 144 François, Laurent 116, 120 Freimarck, Vincent 127 Frensdorff, Ferdinand 188 Freud, Sigmund 56, 647 Freudenthal, Jacob 54 Frey, Jörg 174 Frey, Johann Ludwig 34 Freytag, Georg Wilhelm 242, 266, 318 Freytag, Gustav 501 Fricke, Gustav Adolf 374 Friedell, Egon 397 Friedman, Maurice 604, 606, 630 Friedrich, Hugo 784 Friedrich Wilhelm III. 245 Fries, Jakob Friedrich 195, 201 Fritsch, Theodor 473 Froben, Hieronymus 6 Frommel, Otto 594 Fück, Johann 38, 148, 266 Fürst, Julius 280 Furrer, Konrad 640 Gabler, Johann Philipp 187f., 196 Gadamer, Hans-Georg 814 Gaier, Ulrich 169 Frhr. von Gall, August 372, 383f., 584 Galland, Jacques Alfred 40f. Galling, Kurt 560, 566, 676, 755 Garbe, Richard 733 García López, Félix 975 Gauß, Carl Friedrich 176, 271 Gawlick, Günther 52 Gaxotte, Pierre 68 Gebauer, Sascha 566 Gebhardt, Carl 52, 57 von Gebhardt, Oskar 431f. Geiger, Abraham 575 Geiger, Ludwig 5 Geiger, Max 22, 27 George, J. F. Leopold 205, 253, 306 Georg IV. 180 Gerhard, Johann 104, 931 Gerhards, Meik 170 Gerhardt, Paul 810 von Gerlach, Ernst Ludwig bzw. Brüder 243ff., 248 Gerleman, Gillis 967 Gernler, Lukas 17, 20ff., 27

994

Namenregister

Gertz, Jan Christian 5 Gerwig, Max 777 Gese, Hartmut 866 Gesenius, Wilhelm 7ff., 44ff., 138f., 148, 181, 190, 207–225, 233f., 245, 265f., 282, 336f., 375, 423, 513, 644 Gesundheit, Shimon 982 Geyer, Christian 798 Gibbon, Edward 129f. Gibert, Pierre 73, 75, 83, 117, 121 Giesebrecht, Friedrich 398, 470, 491, 546, 548, 557, 560, 564 Gildemeister, Johann 396, 412, 420, 424ff., 435, 449 Ginsburg, Christian David 852 Glassius, Salomon 101 Goedeke, Karl 516 Goes, Albrecht 610 Goeters, J. F. Gerhard 2, 588, 590, 592f. Goeters, Wilhelm 896, 902 von Goethe, Johann Wolfgang 88, 108, 110, 115, 123, 140, 150, 158, 162, 168, 173, 178, 181, 189, 194, 344, 543, 794, 897, 943 Goetz, Karl Gerold 779 Götze, Albrecht 877 Goeze, Johann Melchior 80, 158, 169, 287, 299 Goldschmidt, Hermann Levin 627 Goldziher, Ignaz 852 Gomarus, Franz 18 Goodwin, Thomas 102, 107 Gorbatschow, Michail 793 Gordis, Robert 946 Gordon, Aharon David 630 Gordon, Haim 606 Gotthelf, Jeremias 881 Gottsched, Johann Christoph 39f., 48 Gottschick, Johannes 378 Graf, Karl Heinrich 68, 73ff., 83f., 86ff., 93f., 254, 278, 309, 312, 314, 322, 346f., 362f., 413f., 426f., 429, 444, 457, 472, 586, 706, 868 Grafe, Eduard 498 Grafton, Anthony 27, 70 Gramberg, Carl Peter Wilhelm 224 Gregory, George 130 Greschat, Martin 61, 738 Greßmann, Hugo 450, 493, 509, 539, 560– 568, 578, 645f., 663, 685, 755ff., 841, 867, 876, 967 Griesbach, Johann Jakob 196 Grill, Julius 538, 544, 546, 732

Grimm, Jacob u. Wilhelm 509 Grimm, Friedrich Melchior 115, 120 Grønbech, Vilhelm 683ff. Grønbæk, Jakob H. 967 Grotius, Hugo 22, 91 Grünwaldt, Klaus 70 Grundmann, Walter 650 Grundtvig, Nikolai Frederik Severin 689 Gruter, Jan 16 Grynaeus, Johann Jakob 2, 5ff., 17f. Grynaeus, Samuel 6 Guardini, Romano 821 Günther, Anton 296 Gunkel, Elisabeth 507 Gunkel, Hermann 42, 154, 200, 339, 342, 366, 369, 372, 386, 404, 412, 418f., 437, 449f., 470, 479ff., 493, 501–514, 516, 531, 536, 540, 550f., 560, 563ff., 574, 578ff., 584f., 590f., 595, 597, 673, 680, 682ff., 692, 694f., 697ff., 705, 711, 715ff., 720, 723f., 727, 735, 751f., 758, 772, 784, 812, 853, 859, 867, 939, 952, 961, 968 Gunn, David M. 968 Gunneweg, Antonius H. J. 558 Gustav Adolf 48 Guthe, Hermann 334, 341, 386–403, 425, 466, 572, 574, 757 Guthe, Therese 391 Guthe sen., Hermann 395 Guttmann, Julius 567 Guttmann, Michael 567 Gutzen, Dieter 149 Gyllenberg, Rafael 959, 968 Haam, Achad (eig. Ascher Hirsch Ginsberg) 692, 631 Hackmann, Heinrich 398, 521 Hadorn, Wilhelm 484 Haenchen, Ernst 788 Hänel, Johannes 899 Haering, Theodor 520, 733 Hävernick, Heinrich Andreas Christoph 107, 256 Hagen, Oskar 538 Hagenbach, Karl Rudolf 5, 334f. Halevi, Jehuda 137 Hall, Peter 124, 127, 129f. von Haller, Albrecht 114f., 144 Haller, Max 535, 832 Hals, Frans 300 Halstenbach, Hans 898 Halstenbach, Willy 898, 901, 910, 922

Namenregister Hamann, Johann Georg 152, 159, 165, 168, 774, 969 Hammann, Konrad 501, 505 Hammarskjöld, Dag 607 Hanhart, Robert 515, 524, 784, 861f., 870, 950 Hansen, Thorkild 149 Haran, Menahem 850 Hare, Francis 132 Harleß, Adolf 283 von Harnack, Adolf 285, 365, 377f., 392f., 399, 416, 431, 443, 502, 524f., 544, 548, 566, 573, 694, 792, 821 Harnack, Theodosius 283 Hartlich, Christian 186 Hartmann, Benedikt 726f. Hartung, Ernst Bruno 284 Harviainen, Tapani 981 von Hase, Karl 372 Hasse, Friedrich Rudolph 318 Hauck, Albert 544, 572 Hauger, Martin 796, 823 Haupt, Paul 380, 399, 415, 464, 468 Hausheer, Jakob 640, 711, 713f., 787, 876, 881 Hayes, John H. 558 Haym, Rudolf 167, 211f., 225, 516 Hazard, Paul 75 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 56, 65, 195, 204, 211, 251, 290, 309, 351, 514, 600, 687, 926, 929 Hegner, Jakob 609 Heidegger, Johann Heinrich 27 Heidegger, Martin 600 Heim, Karl 734, 798 Heimpel, Hermann 434f., 598, 600 Heine, Heinrich 50, 56, 189f., 634 Heinemann, Gustav 797 Heinrich IV. 39 Heitmüller, Wilhelm 692, 715, 773 Held, Heinrich 912 Heldmann, Karl 583 Heller, Josef 110 Hempel, Johannes 456, 473, 478f., 481, 536, 704, 747–769, 833, 862, 877ff., 881, 896f., 899f., 902, 905f. Hendricks, Rainer 898 Hengel, Martin 355 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 238, 240–257, 282, 289f., 297, 423, 480 Hengstenberg, Therese 244 Henke, Heinrich Philipp Konrad 98, 208 Herbart, Johann Friedrich 176

995

Herder, Johann Gottfried 65f., 73, 133, 140, 150f., 154–175, 178f., 184, 187, 190, 194, 211, 222, 286, 303, 363, 509, 511 Hermann, Gottfried 381 Hermelink, Heinrich 584 Herms, Eilert 156 Herrmann, Johannes 776, 899 Herrmann, Siegfried 674, 676 Herrmann, Wilhelm 285, 352, 377, 393, 416, 431, 439, 443, 453, 459, 715 Herschel, Rev. 321 Hertzberg, Hans Wilhelm 418, 774, 864 Herzl, Theodor 602, 606, 631 Hess, Moses 56 Heß, Johann Jakob 645, 875 Hesse, Friedrich Hermann 376ff. Hesse, Franz 730, 741, 818, 915 Heuss, Theodor 541 Heussi, Karl 179, 804 Heyne, Christian Gottlob 144, 159, 186ff., 196, 211, 222 Hiller, Ferdinand 408 Hillmann, Reinhard 700 Hilty, Carl 638 Hintze, Otto 670, 673 Hirsch, Emanuel 52, 152, 173, 182, 184, 243, 256, 451, 650, 741, 747, 759, 761f., 767, 786, 806, 837, 876, 887, 899, 906, 916 Hirsch, Franz Julius 278 Hirsch, Levy 280 Hirzel, Salomon 460 Hitzig, Ferdinand 264, 270 Hjelde, Sigurd 680, 682f., 687f. Hobbes, Thomas 119 Höfling, Friedrich Johann Wilhelm 283 Hölder, Otto 377, 476 Hölderlin, Friedrich 796 Hölscher, Borghild 582, 590 Hölscher, Gustav 450, 494, 499, 569–597, 671, 680ff., 720, 734, 780, 787, 814, 832, 885, 901f. Hölscher, jun., Gustav 570 Hölscher, Uvo 570, 582, 814 Hölscher, Wilhelm 582 Hölscher sen., Wilhelm 570 Höpfner, Ernst 440 Hoffmann, Andreas Theophilus 213 Hoffmann, Georg 562 von Hofmann, Johann Christian Konrad 283, 289ff., 297, 388, 549 von Hofmannsthal, Hugo 797 Holl, Karl 566, 876

996

Namenregister

Hollenberg, Johannes 410, 418, 720 Holtzmann, Heinrich Julius 76, 92, 231, 285, 303, 318, 325, 400, 572 Holtzmann, Oskar 379 Holzinger, Heinrich 71, 90, 121, 262, 268, 449f., 529f., 670, 734 Hooykas, Isaac 315 Horneffer, Ernst 584 Horst, Friedrich 902f., 905, 918 Horst, Ludwig 462, 519 Hottinger, Johann Heinrich 29, 81 Houtman, Cornelis 305 Huard, Pierre 110, 118, 120 Huch, Ricarda 810, 823 Hülsmann, Jakob 321 Hüne, Albert 189 Huet, Pierre Daniel 48 Hugenberg, Alfred 702 von Humboldt, Alexander 143, 179, 187 von Humboldt, Wilhelm 264ff., 343 Humburg, Paul 898 Hume, David 164 Hunt, Thomas 131 Hupfeld, Hermann 123, 174, 255, 268, 282, 303, 305, 414, 449, 594 Hurvitz, Avi 869f. Hyde, Thomas 165 Ibn Esra, Abraham 12, 63 Ilgen, Karl David 123 Illman, Karl-Johan 606, 619, 958, 981 Imbault-Huart, Marie-José 110, 118, 120 Immer, Edith 898 Immer, Karl 898, 910, 922 Immer, Karl, d.J. 898 Irmscher, Hans Dietrich 160 Iselin, Christoph 34 Israel, Jonathan G. 55, 57 Iwand, Hans Joachim 829, 937 Jablonski, Paul Ernst 165f. Jacob, Benno 612, 617 Jacob, Georg 662 Jacobi, Friedrich Heinrich 201 Jaeger, Werner 814 Jahn, Friedrich Ludwig 203 Jahn, Otto 176 Japhet, Sarah 863f., 870 Jaspers, Karl 50, 55 Jean Paul 154, 181 Jensen, Peter 562, 682, 714 Jepsen, Alfred 961

Jeremias, Alfred 278, 676 Jeremias, Jörg 917, 919, 929 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 121 Jirku, Anton 593, 607 Joachim, Joseph 408 Johnson, Robert 691 Jørgensen, Sven Aage 159, 169 Josuttis, Manfred 634 Juijnboll, Theodoor Willem J. 302 Jülicher, Adolf 92, 285, 352, 399, 416, 424, 434, 447, 715 Jung-Stilling, Johann Heinrich 166 Jung, Carl Gustav 647 Junge, Eberhard 32, 61, 558, 676 Jünger, Ernst 296 Justi, Ferdinand 416 Kaegi, Adolf 713 Kaegi, Werner 434 Kaftan, Julius 377, 433 Kahle, Paul 295, 469, 765, 902 Kähler, Martin 498, 516, 574, 732, 901, 911 Käsemann, Ernst 911 Kahnis, Karl Friedrich August 247, 283, 372, 374, 490 Kaiser, Otto 188, 268, 541, 845, 931, 952, 958, 965 Kamphausen, Adolf 228ff., 268f., 317–331, 341, 407ff., 415, 427, 440, 461 Kamphausen, Alwine 321 Kamphausen, Emmy 321 Kant, Immanuel 56, 168, 188, 457, 459, 519, 572, 972 Karasszon, Dezsö 708 Karl I. 41 Karl II. 40, 46, 88 Karl August von Sachsen-Weimar 204 Kattenbusch, Ferdinand 334, 340, 377f., 389 Katz, Peter 524 Kaufmann, David 292ff. Kaufmann, Walter 604 Kaufmann, Yecheskel 676, 848, 850, 858f., 868 Kautzsch, Emil 1, 5ff., 10, 199, 316, 328, 332– 342, 375, 384, 386, 392, 395, 398, 400, 431, 433, 458, 461f., 484, 507, 540, 713 Kautzsch, Helene 334 Kautzsch, Karl Friedrich 334 Kautzsch, Rudolf 334 Kayser, August 485 Kehr, Paul Fridolin 442 Keil, Friedrich Karl 107, 231, 257

Namenregister Keim, Karl Theodor 377 Kesselring, Heinrich 640 Kessler-Mesguich, Sophie 11 Keßler, Martin 156 Kiefer, Jörn 13 Kierkegaard, Søren 562, 689 Kimchi, David 9, 12 Kirchhoff, Hans 913 von Kirschbaum, Charlotte 592f., 793, 894 Kittel, Rudolf 242, 323, 341, 384, 386, 391, 399, 435, 450, 454–481, 486, 540, 550, 563, 577, 644, 653, 659, 671f., 704, 734f., 747f., 750ff., 758, 825, 833, 835, 843, 959 Kittel, Gerhard 470, 478, 625, 804 Klatt, Werner 501, 509, 564f. Kleinert, Paul 694f., 752 Klinger, Max 476 Klöpper, Albert 377 Klopstock, Friedrich Gottlieb 162 Klostermann, August 320, 412, 567 Knight, Douglas A. 688 Knoke, Karl 520 Knudtzon, Jørgen Alexander 938 Köberle, Justus 671, 752 Köberlin, Theodor 654 Koch, Rudolf 913 Kocher, David 139 Koechlin, Alphons 542 Köckert, Matthias 677, 981f. Köhler, August 281, 284, 288, 320 Köhler, Ludwig 482, 485, 568, 634–647, 711, 714, 720, 724, 815, 881, 938 Köllner, Eduard 376f. König, Eduard 321f., 392 König, Johann Ludwig 6 König, Ludwig 18 Köpf, Ulrich 752 Koepp, Wilhelm 753, 759 Kohn, Hans 606, 609f., 613, 631 Konow, Sten 535 Koppe, Benjamin 138, 183, 219 Kosters, Willem Hendrik 315 Frhr. von Kottwitz, Hans Ernst 243 von Kotzebue, August 203 Kraetzschmar, Richard 214 Kraft, Werner 606, 616f., 633 Kratz, Reinhard Gregor 524 Kraus, Hans-Christof 245 Kraus, Hans-Joachim 71, 75f., 80, 85, 90, 249, 257, 292, 480, 557f., 725, 791, 913, 926, 939 Krehl, Ludolf 374, 490 Kühner, Heinrich O. 770

997

Kümmel, Werner Georg 92, 95, 151, 641 Kuenen, Abraham 14, 65, 300–316, 322, 347, 351, 382, 407, 413ff., 426, 428, 430, 432, 449, 473, 482 Kuenen, Wiepke 302, 313 Kugel, James L. 136 Kusche, Ulrich 474 Kuschel, Karl-Josef 624 Kutscher, Eduard Yechezkel 726 Lachmann, Karl 185, 273, 274 de Lagarde, Paul Anton 251, 352, 360, 390, 426, 438f., 442f., 452, 502, 516, 518ff., 853, 862 Lahmeyer, Johannes 344 Lambrecht, Wilhelm 360 Lamprecht, Karl 748, 755 Landauer, Gustav 606, 630 Langlamet, François 965f., 978 Laplanche, François 38 Latour, A.-M. 110 Lauer, Gerhard 96 Lauha, Aarre 959 Lavater, Johann Caspar 159, 167 Lawrence, Thomas Edward 721, 727 Lazarus, Moritz 852 Leers, Reinier 85 van der Leeuw, Gerardus 723, 525, 535f., 621, 723 Legaspi, Michael C. 140 Lehmann, Reinhard G. 945 Lehmann, Edvard 538 Leibniz, Gottfried Wilhelm 57 Lemaire, André 494, 965 Lemche, Niels Peter 945, 979 L’Empereur, Constantijn 10, 20, 23 Lenz, Max 243f. Leo, Friedrich 442 Leon von Modena 69 Leß, Gottfried 143, 149 Lessing, Gotthold Ephraim 55, 79f., 120, 140, 149, 158, 169, 184f., 287, 299 Leusden, Johannes 30 Leverkühn, Adrian 111 Levin, Christoph 414, 445, 450, 597, 835, 958, 960, 965, 975f. Levita, Elias 5, 12ff., 18, 25, 77 Lichtenberg, Georg Christoph 140 Lidzbarski, Mark 336, 562, 877 Lieb, Fritz 592, 773f., 782, 791 Lieb, geb. Staehelin, Ruth 773, 792 Liebermann, Max 603

998

Namenregister

Lietzmann, Hans 567, 876 Lightfoot, John 30 von Lilienfeld, Fam. 389 Lilienthal, Christoph 158 Lipiński, Edward 960 Littmann, Enno 694f., 733 Lloyd Jones, G. 4 Loader, James Alfred 305 Lods, Adolphe 110, 120f., 535 Löhr, Max 469 Löscher, Valentin Ernst 98 von Loewenich, Walther 543f., 551, 553f., 559 Lohfink, Norbert 611, 930, 946, 974f., 980 Lohmeyer, Ernst 625 Lohse, Eduard 627 Longueville, Herzog von 39 Loofs, Friedrich 340, 732 Lorry, Anne-Charles 111, 113, 121 Lotz, Wilhelm 671, 799 Lotze, Hermann 176, 358, 388, 422f. Löwenstamm, Samuel E. 869 Löwith, Karl 814 Lowth, Robert 66, 124–139, 150, 171, 183 Lowth jun., Robert 124, 159 Lowth, William 124, 126, 130 Lucas, Jean Maximilian 53 Ludwig XIV. 39, 67, 83f., 108 Ludwig XV. 108, 112 Lücke, Friedrich 200, 204, 229, 232, 238 Lüdemann, Gerd 969 Lüdemann, Hermann 377 Lüders, Heinrich 537, 539 Luthardt, Ernst 283, 298, 391, 465, 490, 544 Luther, Martin 13, 82, 150, 165, 173, 204, 221, 286, 328, 330, 497, 543, 607f., 611, 788, 791, 816, 925, 931f., 964, 969 Lutze, Hans 907f. Lux, Rüdiger 982 Maass, Fritz 926, 928 Macholz, Waldemar 804 Magnes, Judah 601 Maier, Hans 933 Maimonides, Moses 20, 23, 135 Malamat, Abraham 673, 850 Malebranche, Nicolas 70 Mandelbrote, Scott 124, 128 Mandelkern, Solomon 10 van Manen, Willem Christiaan 302 Mangold, Wilhelm 321 Mann, Thomas 111, 560, 653 Marahrens, August 563

Marheineke, Philipp Konrad 200, 243 Marino, Luigi 190 Markwart, Otto 712 Marmontel, Jean François 112 Marti, Karl 341, 367, 369, 407, 445, 482–487, 528ff., 560, 572, 711, 714, 756 Marti, Kurt 486 Martinus, Raimundus 12, 16 Marttila, Marko 437, 963 Marx, Karl 56, 514, 600, 623, 687 Marxsen, Willi 951f. Masson, Pierre-Maurice 112 Mathias, Dietmar 284 Mathys, Hans-Peter 197, 334, 484f., 531 Matthes, Jan Carel 315 Maurer, Michael 156 Mayer, Emil Walter 584 McFall, Leslie 265 McKane, William 68, 76, 78, 80, 82f., 94 (von) Meier, Ernst 303, 439 Meier, Heinrich 57, 59 Meinecke, Friedrich 539 Meinhold, Arndt 700 Meinhold, Johannes 450, 488–500, 588, 754, 965 Meinhold, Karl 488, 490 Melzer, Abraham 628 Menasse ben Israel 104 Mendelssohn, Arnold 408 Mendelssohn, Moses 136, 140 Mendes-Flohr, Paul R. 607, 628 Mensing, Karl 910 Merx, Adalbert 12, 375, 452 Merz, Georg 783, 899 Mettinger, Tryggve N. D. 967 Meuli, Karl 721 Meyer („aus Speyer“), Wilhelm 442 Meyer-Stoll, Johannes 913 Meyer, Arnold 641 Meyer, Eduard 298, 392, 401, 448, 565, 581, 596, 619, 674, 694, 750, 809, 841, 843, 966 Meyer, Heinrich August Wilhelm 205 Meyer, Leo 326 Meyer, Lodewijk 61 Meyer, Rudolf 213, 674, 676 Meyer, Wolfgang 18 Michaelis, Caroline 145 Michaelis, Christian Benedict 121, 143, 147 Michaelis, Gottfried 781 Michaelis, Helene 334 Michaelis, Johann David 43, 65, 92, 121f., 127, 133f., 140–153, 158ff., 164, 169, 173,

Namenregister 176, 179, 181, 183, 185, 218, 222, 286, 438, 652 Michaelis, Johann Heinrich 143 Michel, Diethelm 934–947, 981 Michelet, Simon 678, 682 Mirbt, Carl 505 Möller, Johann Friedrich Wilhelm 122 Molien, Auguste 68 du Molin (Molinaeus), Pierre 36 Momigliano, Arnaldo 47 Mommsen, Theodor 351, 460 de Montaigne, Michel 783f. Montesquieu (Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de M.) 112, 149, 171 Moppert, Oscar 371 Morenz, Siegfried 676 Morin, Jean 24, 26, 36, 39f., 42, 48f., 73f., 81, 88, 91 Morley, George 40f. Morteira, Saul Levi 53 Mosche, Wilhelm Heinrich Carl 228 Movers, Franz Carl 45 Mowinckel, Sigmund 512, 536, 570, 582, 591, 615, 643, 673, 675, 678–690, 718, 721, 757, 777, 812, 867, 937 Mühlau, Ferdinand 213 Müller, E.F. Karl 798 Müller, Georg Elias 516, 519 Müller, Johann Georg 143, 534 Müller, Karl 384, 516 Müller, Paul Georg 102, 394, 397 Müller, Reinhard 954f. Müller, Sascha 68, 84, 102 Müller, Werner 676 Münster, Sebastian 4, 9, 11, 18 Musil, Alois 401 Nägeli, Theodor 872 Napoleon Bonaparte 952 Natan, Isak 10 Natorp, Paul 773 Naumann, Friedrich 582 Neander, August 224, 229, 232, 243, 245 Nellen, Henk J. M. 70 Nelson, Richard D. 313 Neske, Günther 784 Nestle, Eberhard 75, 82, 462, 730, 732, 740 Nestle, Erwin 730 Neubauer, Alfred 446 Neudeck, Rupert 628 Neumann, Carl 435 Neuschäfer, Bernhard 524

999

Nicholson, Ernest 557 Nicolai, Friedrich 188 Nicolson, Harold 112 Niebuhr, Barthold Georg 146 Niebuhr, Carsten 149 Niehr, Herbert 945 Niemöller, Martin 902f. Niese, Benedictus 416 Nietzsche, Friedrich 56, 332, 484, 606, 629, 772 Niewöhner, Friedrich 52 Nikisch, Arthur 572 Nilsson, Martin P. 535 Nippold, Friedrich 378 Nisbet, Hugh Barr 165 Nissinen, Martti 963 Nitzsch, Carl Immanuel 226 de Noailles, Louis Antoine 93 Nock, Arthur Darby 535 Nöldeke, Theodor 274f., 277, 292, 337, 352, 426, 447f., 469, 526, 564 Nohl, Herman 877, 879, 881, 883 Nolde, Emil 540 Noth, Gerhard 825 Noth, Martin 403, 454, 464, 472, 593, 597, 603f., 615, 619, 648, 662f., 676, 681f., 688, 705, 755, 766, 778, 787, 794, 802, 813, 825– 846, 862, 885, 887, 890, 900, 911, 913, 918, 936f., 943, 950, 953, 955, 957, 961f. Nowack, Wilhelm 438, 462, 464, 469 Nyberg, Henrik Samuel 938 Oechsli, Wilhelm 712f. Oekolampad, Johannes 4 Oeri, Jacob 434 Oesterley, William Oscar Emil 757 Oestreicher, Theodor 776 Oetinger, Friedrich Christoph 159 Oettli, Samuel 360, 484, 491, 549 Olevian, Caspar 2 Olshausen, Hermann 229, 236, 291 Olshausen, Justus 266, 374, 379 Oncken, Wilhelm 376 Oort, Henricus 300, 304, 315 von Orelli, Konrad 338, 433, 491, 526, 534, 538 Orlinsky, Harry M. 748 Osterloh, Edo 906 Otto, Eckart 673, 974f., 977 Otto, Rüdiger 65 Otto, Rudolf 192, 201, 343, 416, 624, 719 Otto, Walter 587

1000

Namenregister

Otto, Walter F. 814 Otzen, Benedikt 684, 689 Overbeck, Franz 264, 274, 332, 425, 433f., 443, 446, 770, 793, 859f., 978 Page, Denys L. 865 Pagninus, Sanctes 9 Palmer, Paul 402 Pangritz, Andreas 782 Pannenberg, Wolfhart 820, 928 Parente, Fausto 187 Pareus Scultetus 18 Pascal, Blaise 55, 783 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 196 Peake, Arthur Samuel 369 Pedersen, Johannes 582, 683ff. Pellikan, Konrad 5 Perles, Felix 852 Perlitt, Freda 928 Perlitt, Lothar 64, 271, 557, 729, 860, 919, 925–933, 951, 959f., 973f., 980 Perthes, Justus 460 Pestalozzi, Karl 194 Peter III. 157 Peterson, Erik 589 Pettazzoni, Raffaele 535 de la Peyrère, Isaac 70ff., 76, 103, 119 Pfaff, Christoph Matthäus 106 Pfeiffer, August 101 Pfennigsdorf, Emil 592, 902f. Pfister, Rudolf 27 Pfleiderer, Otto 458 Philippe II. de Bourbon, Herzog von Orléans 112 Philippi, Friedrich 336 Pietschmann, Richard 442 Pirot, Esmé 86, 88, 90 Piscator, Johannes 2 Planck, Heinrich Ludwig 221f., 261, 263 Planck, Marga 541 Planck, Max 525, 536, 540 du Plessis-Mornay, Philippe 16 Pococke, Edward 30 Pohlenz, Max 762 Polanus von Polansdorf, Amandus 7f., 13 Polotsky, Hans Jakob 850 Madame Pompadour 112 Popkin, Richard Henry 50, 70 Popper, Julius 308, 312, 952 Porteous, Norman W. 643, 787, 794 Pott, David Julius 263 Preuß, Horst Dietrich 553, 555ff.

Prickett, Stephen 124 Prijs, Bernhard 5, 22, 34 Prijs, Joseph 5, 22, 34 Prinsloo, Willem S. 305 Pritchard, James 566 Procksch, Otto 539, 543–559, 672, 754, 799ff. Prussner, Frederick 558 Pünjer, Bernhard 377 Purcell, Henry 869 von Puttkamer, Robert Viktor 396 Puukko, Antti Filemon 959 von Quast, Therese 244 Quell, Gottfried 467, 751f. Quesnel, Pasquier 70 Quistorp, Heinrich 903 von Rabenau, Konrad 505, 513 von Rad, Gerhard 371, 445, 557, 559, 569, 595ff., 602, 615, 650, 652, 661, 664, 670f., 676, 705, 722, 729, 741, 763, 766, 768, 770, 787, 793, 794–824, 838, 840, 860, 862, 882, 887f., 900, 906, 911f., 915, 917, 919f., 925, 928f., 939, 948, 952, 961f., 965, 969 von Rad, Luise 797 Rade, Martin 288, 393, 416, 567, 584, 719 Räisänen, Heikki 962, 969 Ragaz, Leonhard 624f. Rahlfs, Alfred 452f., 502, 515–524, 539, 692, 861, 877, 899 Rahlfs, Georg 515 Rahlfs, geb. Brüel, Ottilie 515 Rahner, Karl 821 von Ranke, Leopold 290, 566 Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak) 12 Rathenau, Walther 478 Regenbogen, Otto 594, 809 Reger, Max 348, 526 Regnault de Segrais, Jean 47 Rehkopf, Friedrich 137 Rehn, Elisabeth 969 Reibel, David A. 128 Reichel, Wolfgang 493 Reimarus, Hermann Samuel 158 Reimer, Georg 460 Reinhardt, Karl 814 Reiser, Marius 68, 72f., 80, 83 Reiske, Johann Jakob 148 Rembrandt (R. Harmenszoon van Rijn) 52, 54, 300, 435 Renan, Ernest 120 Rendtorff, Rolf 556f., 790, 928

Namenregister Rengstorf, Karl Heinrich 283 Reuchlin, Johannes 5 Reuß, Eduard 36, 41, 78f., 82, 214, 285, 297, 303, 306, 309, 416, 462, 687 Reuter, Hermann 516 Graf Reventlow, Henning 68, 80, 95, 102f., 556, 786 Rhodokanakis, Nikolaus 566 Rian, Dagfinn 688 Richardson, Mervyn Edwin John 727 Richardson, Samuel 144 Richelieu (eig. Armand-Jean du Plessis, Premier Duc de Richelieu) 40, 71 Richter, Ludwig 408f., 713 Richter, Werner 588 Riehm, Eduard 175, 254, 318, 330, 340, 427ff., 460, 516 Riemann, Hugo 591 Ringgren, Helmer 688 Ringleben, Joachim 152 Ritschl, Albrecht 274, 321, 323, 346, 358, 360, 363, 378ff., 388ff., 393, 422f., 431, 439, 442, 484, 502, 504, 516, 520, 531, 572 Ritschl, Otto 226, 274, 317, 361, 364 Rittelmeyer, Friedrich 798 Ritter, Carl 218 Ritter, Eugène 110f., 120 Ritter, Heinrich 358, 388 Rivet (Rivetus), André 38, 43 Robinson, Edward 218, 653 Robinson, Theodore W. 124, 404, 406f., 417f., 560, 564, 568, 691, 757 Marquis de Rochefort 115 Rödiger, Emil 214, 336, 374 Roessle, Robert 540 Roethe, Gustav 440, 442 Rofé, Alexander 863, 868, 870, 978 Rogerson, John W. 124, 170, 194f., 203, 207, 296, 509, 957 Rohling, August 293f. van Rooden, Peter T. 10, 20, 22f. de la Roque, Hyacinthe 68, 81, 84 Rosellini, Ippolito 212 Rosenmüller, Ernst Friedrich Karl 47, 104, 267, 281 Rosenthal, Franz 337, 723 Rosenzweig, Franz 606ff., 616 dei Rossi, Azarja 137 Rost, Leonhard 525, 535, 539, 675f., 801 Rothe, Richard 312, 318, 323 Rothstein, Johann Wilhelm 322, 341, 469, 481

1001

Rowley, Harold Henry 691 Rudolph, Uta 735, 745 Rudolph, Wilhelm 413, 617, 669, 704, 729– 746, 799, 914, 976 Rüterswörden, Udo 215 Rüetschi, Rudolf 341 Rühle, Oskar 341 Rumpaeus, Justus Wesselius 102 Ruprecht, Günther 807 Ruprecht, Gustav 512 Rutgers, Antonius 302 Ruttenbeck, Walter 903 Ryssel, Viktor 341, 392, 469, 640 Sabbatai Zwi 71 Sachau, Eduard 448 Sachs, Michael 294 Sachs, Walter 186 Sack, Ottilie 404 de Sacy, A.I. Silvestre 266 de Sacy, Louis-Isaac Le Maistre 92 Sæbø, Magne 556 von Salis, Jakob Arnold 29 Sand, Karl Ludwig 203 Sanders, James A. 832 Sasse, Hermann 783 Sauerbruch, Ferdinand 540 Saumais (Salmasius), Claude 48 Scaliger, Joseph 14, 16, 26f., 42 Schadewaldt, Wolfgang 814 Schaeder, Grete 605f. Schaeder, Hans Heinrich 478, 859 Schäfer, Barbara 602, 631 Schäfer, Christian 524 Schäfer, Peter 616 Schaffstein, Friedrich 149 Schalin, Zacharias J. 283 Schapira (Shapira), Moses Wilhelm 401 Scharpius, Johannes 104 Schechter, Solomon 446, 852 von Scheffel, Joseph Victor 501 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 195, 290 Schenkel, Daniel 326 Scherer, Andreas 475 Schiller, Friedrich 178, 194, 199, 524, 543 Schlatter, Adolf 733f., 799 Schlegel, Caroline 145 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 154, 185, 192, 195, 200ff., 229, 231f., 237f., 243, 245, 250, 271, 392, 488, 544, 901 Schleiermacher, Nathanael 200 Schley, Donald G. 542

1002

Namenregister

Schlier, Heinrich 592 Schlingensiepen, Johannes 907 Schlottmann, Konstantin 318, 320, 335f., 340, 431 Schlözer, August Ludwig 151 Schmalenbach, Th. 240 Schmid, Hans Heinrich 641, 654 Schmid, Heinrich Friedrich Ferdinand 283 Schmid, Konrad 568 Schmidt, Carl 444 Schmidt, Hans 417, 509f., 513, 565, 568, 698, 720, 734 Schmidt, Johann Michael 596 Schmidt, Karl Ludwig 417, 578, 588f., 592f., 624, 641, 901f. Schmidt, Ludwig 646 Schmidt, Martin 281 Schmidt, Werner H. 911 Schmidt-Japing, Johann Wilhelm 592, 902 Schmiedel, Paul Wilhelm 639f., 642, 714 Schmithals, Walter 184, 274 Schmoll, Heike 791 Schnabel, Franz 246 Schnapp, Friedrich 692 Schnedermann, Georg 26f. Schneider, Lambert 605, 607ff. Schniewind, Julius 829, 911 Schocken, Salman 618 Schoeps, Hans-Joachim 70 Schofield, John Noel 556 Scholem, Fania 604 Scholem, Gershom (Gerhard) 14, 71, 486, 603ff., 611ff., 616, 618, 621ff., 625, 627, 629ff., 847, 850 Scholten, Johannes Henricus 302f. Schorch, Stefan 207, 513 Schottroff, Willy 606, 677, 918 Schrader, Eberhard 322 Schreiber, Alwine 321 Schrenk, Elias 638 Schröder, Edward 442, 516, 692, 762 Schröder, Rudolf Alexander 810 Schroven, Brigitte 558, 786 Schürer, Emil 285, 377f., 384, 392, 448, 461, 533, 546, 575f., 582, 586 Schultens, Albert 148, 181 Schultheß, Friedrich 562, 640 Schultz, Hermann 438, 519f., 555f. Schulze, Wilhelm 442 Schumacher, Gottlieb 402 Schwagmeier, Peter 714, 881 Schwally, Friedrich 380, 384, 511

Schwartz, Eduard 271, 275, 344, 355, 441f., 596, 602, 750, 809 Schwarzbach, Bertram-Eugene 93, 121 Schweitzer, Albert 171f., 273, 355, 416, 624, 642 Schwyzer, Eduard 713 Scriver, Christian 982 Seeberg, Reinhold 244, 462, 465, 544 Seeligmann, Isac Leo 286, 448, 600, 602f., 726, 728, 818, 847–870 Seeligmann, Judith 854 Seeligmann, Margot 854 Seeligmann, Mirjam 854 Seeligmann, Sigmund 852, 857, 862 Seeligmann-Veershijm, Juliette 852, 867 Segal, Moses Hirsch 858 Sehmsdorf, Eberhard 178, 189 Seidensticker, Johann Anton Ludwig 952 Seils, Martin 779 von Selle, Götz 188 Sellheim, Rudolf 707 Sellin, Ernst 539, 550, 554f., 560, 566, 572, 663, 734, 742, 752, 876 Semler, Johann Salomo 65, 85, 144, 147, 158f., 185 Sethe, Kurt 442 Seybold, Christian Friedrich 732f. Seybold, Klaus 124, 194 Shalev, Zur 36, 38ff., 42, 47ff. Shedletzly, Itta 629 Siebeck, Paul 341, 528 Siegfried, Carl 10, 15, 25f., 63, 107, 299, 341, 375, 381, 400, 445 Sieglin, Wilhelm 573 Siemens, Martin 122 Sievers, Eduard 398, 591 Silber, Clara 282 de Silhouette, Etienne 112 Simmel, Georg 606, 613 Simon, Ernst 604, 626 Simon, James 573 Simon, Richard 8, 24, 26, 28, 34, 46, 48, 50, 62, 67–96, 98, 102, 103, 105, 107, 116, 119, 124, 181, 303f., 980 Simonis, Johannes 181 Smelik, Klaas A. D. 979 Smend, Friedrich 942f. Smend, Hedwig 420, 447 Smend, Julius 331, 408, 416, 422 Smend, Rudolf (1851–1913) 121, 147f., 152, 322, 357, 364, 368, 392, 411, 420–453, 493,

Namenregister 520, 523, 526, 532, 551, 562f., 582, 692, 696ff., 768, 792, 978 Smend, Rudolf (1882–1975) 439, 549, 862 Smith (Reverend) 297 Smith, Edward-Herbert 36 Smith, Mark S. 708 Smith, William Robertson 351, 428f., 444, 547 Smitskamp, Rijk 84 Snell, Bruno 814 Socin, Albert 335f., 338, 340f., 392, 400, 437, 458, 484, 490, 544, 547, 572 von Soden, Wolfram 592f., 715 Söderblom, Nathan 748 Soisalon-Soininen, Ilmari 950, 960 Soloweitschik, Menahem 123 Sommer, Andreas Urs 35 Sommerauer, Adolf 553 Sonnet, Jean-Pierre 977 Spanheim, Ezechiel 87 Spanheim, Friedrich 21, 87 Spencer, John 161 Spener, Philipp Jakob 22f., 98 Spieckermann, Hermann 932, 948 Spinoza, Baruch 34, 50–66, 67, 71, 73, 78f., 88, 182, 280 Spinoza, Gabriel 53 Spinoza, Hanna Debora 53 Spinoza, Michael 53 Spitta, Friedrich 408, 416, 525 Spörri, Gottlob 882 Springer, Julius 408 Sprondel, Gottfried 563 Staats, Reinhart 95 Stade, Bernhard 266f., 298, 323, 372–385, 386, 390, 399, 444f., 460ff., 486, 501f., 511f., 533, 560, 572 Stade, Helene 376 Staehelin, Andreas 21, 34, 772 Staehelin, Ernst 21f., 34, 194, 773, 791 Stähelin, Johann Jakob 267, 338 Stähelin, Rudolf 434 Stählin, Wilhelm 798 Staerk, Willy 340, 481 Stäudlin, Karl Friedrich 263f. Stamm, Johann Jakob 722ff., 790, 967 Stange, Carl 876, 878f. Steck, Odil Hannes 931, 978 Stegemann, Ekkehard W. 194, 790 Stein, Lorenz 674 Steinmann, Jean 68, 70, 78, 90, 93 Steinthal, Heymann 852

1003

Stengel, Friedemann 701, 703 Stephan, Martin 281 Sterne, Laurence 127 Steuernagel, Carl 402, 529, 531f., 734 Stier, Fridolin 613 Stockmeyer, Immanuel 435 Stoevesandt, Margarete 780 Strack, Hermann Leberecht 491, 566, 763 Straube, Karl 526 Strauß, David Friedrich 65, 196, 238, 246, 251, 256, 269, 271, 350 Strauß, Friedrich 243 Strauss, Leo 57ff. Struck, Hermann 852 Strunkede, Baron 34 Strunkede, Baronin 32 Studer, Gottlieb 410 Stübel, Alphons 401 Stuhlmacher, Peter 911 Stummer, Friedrich 67, 76, 80, 87ff., 757 Swarat, Uwe 95 Swift, Jonathan 127 Sybel, Heinrich 425 Tallqvist, Knut Leonard 959 Talmon, Shemaryahu 613, 850 Talshir, Zippora 867 Tammann-Bertholet, Verena 538 Madame de Tencin 112 von Thadden-Trieglaff, Reinold 903 Thielicke, Helmut 569, 594, 898, 922 Thieme, Alfred 907ff. Thierry, Gerard Jacobus 855 Thiersch, Hermann 574 Tholuck, August 106f., 204, 224, 243, 245, 325, 330, 488 Thomasius, Gottfried 98, 100, 283, 388 Thommen, Rudolf 4 Thompson, Thomas L. 979f. Thomsen, Peter 394, 396, 400, 402 Thomssen, Reiner 115 Thorlacius, Birger 232 Thurneysen, Eduard 357, 370, 525, 721, 774, 776f., 787, 789, 883 Ticknor, George 179 Tieck, Ludwig 195 Tiele, Cornelius Petrus 302, 436 Tillich, Paul 588 Titius, Arthur 568, 876 Toellner, Richard 116 Toland, John 101

1004

Namenregister

Torczyner, Harry (Tur-Sinai, Naphtali Herz) 567, 858 Torrey, Charles Cutler 708 Tossanus, Daniel 2, 5f., 17 Tov, Emanuel 864 von Treitschke, Heinrich 244 Treml, Martin 602 Trillhaas, Wolfgang 539, 553, 796, 798 Troeltsch, Ernst 154, 357, 504 Tronchin, Théodore 20 Trumbull, Clay 401 Tschackert, Paul 692 Tschudi, Rudolf 721 Tuch, Friedrich 282, 305, 334, 340 Tuchtenhagen, Ralph 91 Turrettini, Benedict 20 Turrettini, Michel 111 Tychsen, Thomas 261 Uffenheimer, Benjamin 612 Ungnad, Arthur 566 Ursin, Zacharias 17 de la Valle, Pietro 72 Vandenhoeck & Ruprecht 365 de Vaux, Roland 123 Vater, Johann Severin 198 Vatke, Wilhelm 174, 205, 207f., 246f., 253, 258, 265, 269, 306, 309, 322f., 350f., 361, 614, 926, 929 Veijola, Jaakko 958 Veijola, Pirjo 948, 958 Veijola, Sanna 958 Veijola, Timo 494, 888, 948–982 Veijola, Tuulia 958 de Veil, Charles-Marie 86 Vernes, Maurice 314 Vernon, François 39f. Vielhauer, Philipp 812, 952 Vischer, Eberhard 4, 21, 435, 770 Vischer-Koechlin, Valérie 772 Vischer, Wilhelm I 770f. Vischer, Wilhelm II 338, 434f., 770 Vischer, Wilhelm 498, 558f., 589, 675, 721f., 770–793, 806ff., 876, 883, 899, 916 Vischer-Staehelin, Marie 773 Vischer, Wolfgang Amadeus 772 Vitringa, Campegius 138 Voeltzel, René-Frédéric 90 Voetius, Gisbert 30 Vogel, Friedrich Christian Wilhelm 376 Volck, Wilhelm 213

Voltaire (eig. François-Marie Arouet) 120, 123 Volz, Paul 595, 617, 685, 734f., 738, 799, 868 Voss, Isaac 44, 48, 88f. Voß, Johann Heinrich 44 de Vries, Simon J. 305, 312 Vriezen, Theodorus Christiaan 774, 854 Wachsmuth, Curt 573 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 195 Wackernagel, Jacob 434, 442, 452 Waehner, Andreas Georg 24 Waetzoldt, Wilhelm 408 Wagner, Siegfried 278, 280, 282f., 288ff., 292ff., 401 Wagner, Max 337 Wagner, Rudolph 296 Wagner, Yigal 628 Wallis, Gerhard 691, 701 Wallmann, Johannes 23 von Walter, Johannes 692, 752 Walther, Manfred 56f., 66, 107 Warburg, Aby 858 Warburton, William 129, 166 von Warnstedt, Adolf 271 Waschke, Ernst-Joachim 207, 501 Watson, Wilfred G. E. 124 Weber, Cornelia 747, 765 Weber, Hans Emil 894, 896, 899, 901ff., 911 Weber, Marianne 594 Weber, Max 616, 673 Weber, Werner 719 Weder, Hans 194 Wegscheider, Julius 208, 223 Weidner, Daniel 171, 604, 616 Weiffenbach, Ernst Wilhelm 376f. Weinfeld, Moshe 978 Weiser, Artur 593f., 736, 937 Weisgerber, Leo 944 Weiß, Bernhard 463, 507 Weiß, Johannes 416, 504 Weiss, Meir 850, 870 Weiße, Christian Hermann 273f. von Weizsäcker, Carl Friedrich 343 Weizsäcker, Karl 199, 341, 456 Welch, Adam Cleghorn 757 Wellhausen, August 344 Wellhausen, Julius 344 Wellhausen, Julius 12, 28, 36, 65, 71, 74, 79f., 86, 94f., 123, 140, 148, 154, 173f., 184, 192, 198, 205, 207, 215, 223, 226, 231, 236, 240, 247, 255, 258, 260, 263ff., 268ff.,

Namenregister 276f., 285f., 292, 295ff., 300, 304f., 309ff., 314, 316, 322f., 326, 328, 332, 339ff., 343– 356, 358, 360f., 363f., 369, 372, 376, 379, 381f., 386, 390, 392, 399, 404, 413ff., 422f., 425ff., 434, 436, 438f., 441ff., 445, 447ff., 456ff., 468, 470, 472f., 479f., 482, 484, 488, 491ff., 501f., 504, 507, 509, 515f., 520, 522ff., 528, 531, 533, 544, 546ff., 560, 562, 564f., 568, 572, 578, 581f., 586, 597, 602, 604, 614ff., 620, 622, 629, 643f., 670ff., 675f., 680f., 685, 689, 692, 695, 697, 706, 711, 713ff., 717, 719, 729, 734f., 738, 792, 801, 812ff., 842ff., 850, 853, 860, 862, 868, 901, 917, 926, 929, 950, 952ff., 957, 961f., 968, 976f. Wellhausen, Marie 348, 431, 516 Welten, Peter 562 Weltsch, Robert 628 Wendland, Johannes 369 Wendt, Hans Hinrich 377 Werblowsky, Zvi 923 Werenfels, Peter 27ff., 32 Werenfels, Samuel 2, 6 Wernle, Paul 35, 361, 365 Wesley, John 126 Westermann, Claus 939 Westphal, Alexandre 115, 121 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht 14, 34, 65, 94, 154, 174, 182, 188, 190, 192– 206, 208, 210, 217ff., 222, 229, 231ff., 240, 242f., 250ff., 255, 258, 297, 305, 322f., 329, 341, 347, 364, 534, 585, 621, 752, 799f., 847, 980 Wettstein sen., Johann Rudolf 21f. Wettstein jun., Johann Rudolf 22, 27 Wetzstein, Gottfried 412 Whiston, William 97, 101f., 106 Wickert, Lothar 460 Wiedemann, Alfred 400 Wiese, Christian 294, 474 Wiesinger, August 388f., 520 von Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich 110, 348, 442f., 448, 451, 502, 546, 694 Wilhelm II. 441, 543, 553 Wilke, Christian Gottlob 273f. Willi, Thomas 5, 9, 12, 64, 156, 793, 864 Willi-Plein, Ina 16 William of Wykeham 128 Williams, Jay G. 218 Winckler, Hugo 399 Winter, Georg 390, 393f. Wischnath, Michael 790

1005

Wise, Stephen S. 567 de Witt, Johan 57 Witte, Bernd 607 Witte, Markus 124, 156, 184, 511 Wittenberg, Martin 278 Witter, Henning Bernhard 121 Wobbermin, Georg 753, 759 Wolf, Ernst 589, 592, 807, 894, 905, 911 Wolf, Hans Heinrich 894 Wolff, Annemarie 898 Wolff, Hans Walter 100, 296, 623, 743, 816, 824, 868, 894–924, 928f. Wolff, Kurt 913 Wölfflin, Heinrich 526 Wolleb, Johannes 17f. Woodbridge, John D. 70, 78f., 85 Wrede, William 356, 504 Würthwein, Ernst 558, 786, 946, 965f. Wundt, Wilhelm 509, 572, 577, 748 Wurster, Paul 733 Yadin, Yigael 448, 850 Young, Thomas 144 Yovel, Yirmiyahu 52 Zahn, Theodor 95, 247, 364, 388, 423, 544, 546 Zakovitch, Yair 869 Zanchi, Hieronymus 17 Zeman, Frederic D. 114 Zezschwitz, K.A. Gerhard 388 Ziegler, Joseph 447, 730, 769, 855, 861 Zielinski, Tadeusz 535 Zillessen, Alfred 441 Zimmerli, Irmgard 881, 889 Zimmerli, Jakob 872, 874 Zimmerli, Lily 872 Zimmerli, Walther 529, 560, 586, 597, 664, 723, 729, 742, 747, 753f., 762, 768f., 787, 789, 791, 816, 818, 847, 860, 871–893, 899, 914, 930, 940, 950, 960ff., 969 Zimmermann, Carl Ferdinand 338 Zimmern, Heinrich 400, 506, 544, 572, 644, 662, 685, 724, 748 Zobel, Hans Jürgen 207, 211, 223f., 691, 702 Zöckler, Otto 293, 297, 491 Zwickel, Wolfgang 338 Zwinger, Johann Rudolf 28f. Zwinger, Theodor 6, 21, 27 Zwingli, Huldrych 13

Magne Sæbø (ed): Hebrew Bible / Old Testament The History of Its Interpretation With regard to Biblical studies in general and the interpretation of the Hebrew Bible/ Old Testament in particular, a decisive historical-critical approach emerged which generated tension between this new method and the traditional scriptural interpretation of the Church. This in turn also precipitated relatively severe controversies between the opposing fronts. The indexes (names, topics, references to Biblical sources and a broad body of literature beyond) represent major keys to the wealth of information provided. Volume I-III: Hebrew Bible / Old Testament – complete 2015. 4.391 pp, linen 978-3-525-54024-4 eBook ISBN 978-3-647-54024-5

Volume I, Part 1: From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300). Part 1: Antiquity 1996. 847 pp, linen ISBN 978-3-525-53636-0

Volume I, Part 2: From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300). Part 2: The Middle Ages 2000. 729 pp, linen ISBN 978-3-525-53507-3

Volume II: From the Renaissance to the Enlightenment In cooperation with Michael Fishbane and Jean Louis Ska, SJ. 2008. 1248 pp with 3 ill, linen ISBN 978-3-525-53982-8

Volume III, Part 1: From Modernism to Post-Modernism. Part I: The Nineteenth Century – a Century of Modernism and Historicism 2013. 757 pp, linen ISBN 978-3-525-54021-3 eBook: ISBN 978-3-647-54021-4

Volume III, Part 2: From Modernism to Post-Modernism Part 2: The Twentieth Century – From Modernism to Post-Modernism 2015. 777 pages with 1 table, hardcover ISBN 978-3-525-54022-0

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De Septuaginta Investigationes (DSI) Die Reihe De Septuaginta Investigationes (DSI) deckt das gesamte Spektrum der internationalen Septuagintaforschung ab. In englischer, deutscher und französischer Sprache erscheinen Monographien und fokussierte Sammelbände, deren Themen von der Septuaginta selbst über die Vorlagen und Tochterübersetzungen bis zur Wirkungsgeschichte reichen. Die Veröffentlichungen sollen den akademischen Diskurs zur Septuaginta und deren Umfeld fördern. Band 10: Manfred Pollner Die Vetus-Latina-Fragmente im Jeremiabuch Untersuchungen zur Textgestalt und deren Lesartendifferenzen gegenüber LXX und MT unter Berücksichtigung inhaltlichtheologischer Bearbeitungsstufen 2017. Ca. 760 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-54066-4

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