Die Wissenschaft vom Guten und Bösen. Interpretationen zu Platons 'Charmides'

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Die Wissenschaft vom Guten und Bösen. Interpretationen zu Platons 'Charmides'

Table of contents :
Einleitung: Interpretation der Interpretationen
1. Kapitel: Sophrosyne. Geltung und Verfall der Grundlagen der Poliskultur
2. Kapitel: Drei Definitionen der Sophrosyne. Ruhe – Scheu – das Seine tun
3. Kapitel: Der Rahmen. Realität und dramatische Gestaltung
4. Kapitel: Die Sokratische Widerlegung. Inhaltliche und formale Bedeutung
5. Kapitel: Die Gefährdung der formalen Definition
6. Kapitel: Der Sokratische Wendepunkt
7. Kapitel: Die Episteme als oberste leitende Wissenschaft
8. Kapitel: Die Wissenschaft der Wissenschaft und die Wissenschaft des Guten
9. Kapitel: Der eschatologische Mythos des Rahmens
10. Kapitel: Die Wissenschaft und das Gute
Register
Bibliographie

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Witte Die Wissenschaft vom Guten und Bösen

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte

Herausgegeben von Heinrich Dörrie und Paul Moraux

Band 5

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970

Die Wissenschaft vom Guten und Bösen Interpretationen zu Piatons 'Charmides'

von Bernd Witte

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970

D 6 Archiv-Nr. 3696703 © 1970 by Waker de Gruyter Sc Co., vormals G. J . Göschen'sehe Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13 (Printed in Germany) Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter 6c Co., Berlin 30

M E I N E N ELTERN

Vorbemerkung Vorliegende Arbeit wurde im Dezember 1966 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelmsuniversität in Münster als Dissertation angenommen. Sie ist seitdem in ihren entscheidenden Teilen neu durchdacht und umgearbeitet worden. Danken möchte ich vor allem Herrn Prof. Dr. Heinrich Dörrie, Münster, dessen ständige wohlwollende Anteilnahme die Entstehung der Dissertation ermöglichte und der ihr schließlich zum Druck verhalf. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Jean Bollack, Paris. Im Dialog mit ihm und seinen Schülern, vor allem mit Herrn Heinz Wismann, sind die Interpretationen des „Charmides" entstanden. Seine unermüdliche, stets um die Sache selbst bemühte Kritik hat mich dazu angehalten, ihnen die vorliegende Form zu geben. Herrn Prof. Dr. Konrad Gaiser und Herrn Christoph Schneider bin ich für Hilfe beim Lesen der Umbruchkorrekturen verpflichtet. Schließlich sei dem Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen für den großzügigen Zuschuß gedankt, durch den die Drucklegung der Arbeit ermöglicht wurde. Paris, September 1969

B. W.

Inhalt Einleitung: Interpretation der Interpretationen

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1. Kapitel: Sophrosyne. Geltung und Verfall der Grundlagen der Poliskultur . . 10 2. Kapitel: Drei Definitionen der Sophrosyne. Ruhe — Scheu — das Seine tun ' 25 3. Kapitel: Der Rahmen. Realität und dramatische Gestaltung 40 4. Kapitel: Die Sokratische Widerlegung. Inhaltliche und formale Bedeutung 64 5. Kapitel: Die Gefährdung der formalen Definition 77 6. Kapitel: Der Sokratische Wendepunkt 85 7. Kapitel: Die Episteme als oberste leitende Wissenschaft 99 8. Kapitel: Die Wissenschaft der Wissenschaft und die Wissenschaft des Guten 114 9. Kapitel: Der eschatologische Mythos des Rahmens 139 10. Kapitel: Die Wissenschaft und das Gute 148 Register 152 Bibliographie

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οΐμαι μέν, ήν δ' t/ώ, ληρεϊν με· όμω$ τό γε προφαινόμενον ccvayκαΐον σκοττεΐυ καΐ μή εική "rrapιέναι, εϊ τίς γε αύτοϋ καΐ σμικρόν κήδεται. (Charm. 173a)

Einleitung Interpretation der Interpretationen

Als Piaton nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg seine ersten Dialoge veröffentlichte, hatten die Normen, die bis dahin das Leben der Polis bestimmten, ihre traditionelle Bedeutung verloren. Dem Philosophen, der sie zum Ausgangspunkt seines Denkens machte, stellte sich daher zunächst die Aufgabe, die überlieferten Begriffe dem Verstehen wieder zugänglich zu machen, um sie dann in seinem Werk neu begründen zu können. In dieser Absicht untersucht Piaton im „Charmides" die „Besonnenheit" (σωφροσύνη). Drei Definitionsversuche, die sich auf geläufige Formeln berufen, führen den Dialog über die traditionelle Auffassung hinaus zu dem Begriff einer „Wissenschaft der Wissenschaft", dem am Schluß die „Wissenschaft vom Guten und Bösen" gegenübergestellt wird. Die dialektische Auseinandersetzung ist eingefaßt von einem Rahmen, der sich als Erzählung der äußeren Gesprächsumstände gibt. Eine solche Vielfalt von Aspekten macht es dem Interpreten, der das Werk als Gegenstand des Verstehens und damit dessen Autor als Philosophen ernst nimmt, zur Aufgabe, das Ganze des Dialoges als von Piaton bewußt geformte Einheit zu deuten, in der jeder Teil seine spezifische Funktion hat und deren innerer Aufbau für die zu sagende Wahrheit bezeichnend ist. Die wissenschaftliche Deutung Piatons ist in ihren Anfängen nicht so sehr vom einzelnen Dialog als von der Gesamtheit des Werkes als Interpretationseinheit ausgegangen. Ihr Bahnbrecher, Fr. Schleiermacher, faßt im Vorwort seiner 1804 erschienenen Übersetzung die hermeneutischen Prämissen seiner Arbeit zusammen. Nach ihm muß es „eine natürliche Folge und eine notwendige Beziehung dieser W i t t e , Wissenschaft

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Einleitung

Gespräche aufeinander geben"1. In dem didaktischen System, zu dem er die Dialoge anordnet, findet der „Charmides" als „Nebenwerk" zu dem „Hauptwerk" der Tugenddefinitionen des „Protagoras" seinen Platz2. Dabei werden die verschiedenen Ebenen, die der dialektische Aufstieg erreicht, als Elemente einer einzigen Definition verstanden3, so daß der Dialog mit einem positiven Ergebnis endet, der Bestimmung der Besonnenheit, die sich aus der Addition aller im Laufe des Gesprächs gefundenen Antworten ergibt4. Die Interpretation Schleiermachers geht von dem methodischen Grundsatz aus, daß die Person des Autors im Sinne eines formalen Prinzips die Einheit des Werkes konstituiert und dadurch Verstehen überhaupt erst ermöglicht6. Indem die intuitive Einsicht in die schöpferische Individualität das Vorgehen des Interpreten leitet, zwingt sie ihn, auch die zunächst disparat erscheinenden Elemente als Teile eines sinnvollen Ganzen zu erfassen. Der Tradition der Piatondeutung des achtzehnten Jahrhunderts folgend,6 bleibt die gesuchte Einheit für Schleiermacher jedoch die des Gesamtwerkes, das, einmal als didaktisches System verstanden, dann wieder Licht auf die Person Piatons zurückwirft und sie mit Leben füllt7. Schleiermachers Arbeiten haben eine neue hermeneutische Situation geschaffen. Was von ihm als formales Subjekt zur Grundlage und 1 2 3 4

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F r . Schleiermacher, Piatons Werke, 1, 1, Berlin 1 1804, 8 185ö, S. 17. Fr. Schleiermacher, 1. c., 1, 1, S. 36. Fr. Schleiermacher, 1. c., 1, 2: Einleitung zum Charmides, S. I f f . Auf Grund der gleichen Methode kommt die Mehrzahl der Einzelabhandlungen über den Charmides, zum größten Teil in Gymnasialprogrammen erschienen, zu einem positiven Ergebnis, so J . Ochmann (1827, lateinische Dissertation als Verteidigung gegen Asts Athetese), A. Spielmann (1876), A. Pawlitschek (1883): Sophrosyne ist „die wohlgefällige Beschaffenheit der Seele (S. 26) . . . sie schließt alle Tugenden in sich (S. 2 8 ) " , A. Sauer (1894): „Die σωφροσύνη ist also das auf der Kenntnis des Guten und Bösen beruhende zarte Pflichtgefühl (S. 2 3 ) " , J . Kohm (1902). Nach Schleiermachers späterer theoretischer Formulierung: „Aber die Einheit des Werkes, das Thema wird hier angesehen als das den Schreiber bewegende Prinzip, und die Grundzüge der Composition als seine in jeder Bewegung sich offenbarende eigenthümliche Natur." (Fr. Schleiermacher, Hermeneutik, hrsg. von H. Kimmerle, Abh. Heidelb. Ak., Phil. Hist. Kl., 1959, 2, S. 107). Dazu H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 172 ff. Zehn Jahre vor dem Erscheinen von Schleiermachers Übersetzung noch einmal zusammengefaßt im „System der Platonischen Philosophie" von W . G. Tenne-· mann, 4 Bände, Leipzig 1792—1795. Schleiermacher ist sich dieses hermeneutischen Zirkels durchaus bewußt: „Vor der Anwendung der Kunst muß hergehen, daß man sich auf der objectiven und subjectiven Seite dem Urheber gleichstellt . . . Beides kann aber erst vollkommen durch die Auslegung selbst gewonnen werden. Denn nur aus den Schriften eines jeden kann man seinen Sprachschatz kennenlernen, und ebenso seinen Charakter und seine Umstände." (Hermeneutik, S. 88).

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Interpretation der Interpretationen

zum methodischen Prinzip der Deutung gemacht wurde, hat nach ihm durch die beständige Beziehung auf das Werk inhaltliche Erfüllung gewonnen. Um der Schwierigkeit zu entgehen, die untereinander widersprüchlichen Dialoge zu einem einheitlichen System ordnen zu müssen, kann Fr. Ast (1816) daher die Ideenlehre als Maßstab dessen ansehen, was „platonisch" ist: „Der Piatonismus ist folglich nicht als ein System zu betrachten. . ., sondern, erhaben über jede endliche und zeitliche Besonderheit, lebt er in der Aetherregion der Idee, lebt er im Lichtglanze der Philosophie selbst"8. Diese vorgefaßte Bestimmung findet ihr klassizistisch verengtes Piatonbild nur in den Dialogen der mittleren Epoche bestätigt und scheidet folgerichtig alle frühen Werke und unter den späten die „Nomoi" und die „Epinomis" als unecht aus9. So beurteilt Ast auch den Gesprächsverlauf des „Charmides" unter ausdrücklicher Ablehnung der Ergebnisse Schleiermachers als „sophistisch-dialektisch, also eigentlich eristisch" und daher als „unplatonisch"10, zumal auch die Charaktere der Gesprächspartner — nach ihm — eines Piaton unwürdig sind11. Indem die Athetese den Dialog aus jedem biographischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhang herausreißt, stellt sie die Interpreten vor eine neue Aufgabe. Man sucht nun nicht mehr die Bedeutung des Dialoges zu bestimmen, sondern ihn in einen neuen historischen Kontext einzufügen, der ihn erst wieder verständlich machen könnte. So wird er in der Nachfolge Asts einem unbekannten hellenistischen Platoniker zugesprochen, in dessen Denken auch aristotelische Einflüsse zu finden seien12. 8 8

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Fr. Ast, Platon's Leben und Schriften, Leipzig 1816, S. 5. Ast, 1. c., S. 10: „Der einzige Weg, den man bei der Kritik der Platonischen Schriften einschlagen kann, um zu einem sichern Ziele zu gelangen, kann ja nur dieser sein, daß man in den größeren Werken des Piaton, deren Echtheit nicht in Zweifel gezogen werden kann, den eigentümlichen Geist dieses Denkers erforscht . . . und daß man dann diesen . . . als den Maßstab betrachtet, nach welchem die anderen Werke beurteilt werden müssen." Ast, 1. c., S. 424. Ast, 1. c., S. 426: ,,Wie erscheint Sokrates? Nicht als der metaphysische Erotiker, wie ihn Piaton schildert, sondern als empirischer und lüsterner Päderast, der überdies mit sich selbst in Widerspruch ist . . ." C. Schaarschmidt (1866) und K. Troost (1889) schließen aus Parallelen zum späten Piaton, zu Xenophon und zu Aristoteles, diese Autoren seien von dem Kompilator als Quellen benutzt worden. Auf Grund dieses Vorverständnisses werden an sich richtig gesehene Zusammenhänge in ihrer Bezugsrichtung mißdeutet: „Dieser Gedanke [einer έτπστή μη έτπστήμης] wird daher, da wir unserem Verfasser den Erfindungsgeist, ihn selbst produziert zu haben, schwerlich zutrauen dürfen, auf die aristotelische νόησις νοήσεως bezogen werden müssen..." (C. Schaarschmidt, Die Sammlung der platonischen Schriften zur Scheidung der echten von den unechten untersucht. . ., Bonn 1866, S. 431). Für unecht erklärt den Charmides auch E. Zeller in der ersten Auflage der „Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung", Stuttgart 1864. 1·

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Einleitung

Die Aporie, in die Schleiermachers Unternehmen einer einheitlichen Interpretation des Gesamtwerks durch die Athetese eines Großteils der Dialoge geraten war, wird von der philologischen Interpretation durch die Annahme einer Entwicklung des Philosophen zu lösen versucht. Dabei geht sie grundsätzlich nicht über den hermeneutischen Ansatz Schleiermachers hinaus. So gilt auch ihr als Verstehenseinheit das Gesamtwerk, dessen innere Gegensätze jedoch, da sie nicht mehr in ein System zu ordnen sind, direkt aus dem biographischen Zusammenhang als aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen erklärt werden. Dieses Verfahren rückt die frühen Dialoge, zu denen auch der „Charmides" gerechnet wird, in unmittelbare Nähe zum historischen Sokrates und erkennt ihnen daher nur elenktische Funktion zu. Indem es jede Negation als eine absolute und die Schlußaporie als Ratlosigkeit des Philosophen selbst auffaßt, verkennt es das Gesetz des dialektischen Fortschreitens, nach dem jede Setzung in einer höheren wieder aufgehoben werden muß. So kann Th. Becker (1879) unter Berufung auf Bonitz13 das „Resultat" des „Charmides" darin sehen, „nachzuweisen, daß ein Begriff, den man bisher unbefangen als geltend gebraucht hatte, undenkbar sei". In der Sache selbst freilich müsse ,,Plato in edler Offenheit seine Unfähigkeit, die ihm aufstoßenden Schwierigkeiten zu lösen, eingestehen"14. Die Bedeutung der aporetischen Tugenddialoge wird damit auf die beispielhafte Darstellung des „sokratischen Nichtwissens" eingeschränkt. Die Interpretationsmethode der historischen Schule, die in den großen Biographien zu Beginn des Jahrhunderts ihren Höhepunkt findet, zielt auf eine noch engere Verknüpfung von Werk und Leben. Dieser Versuch setzt eine genaue Analyse des sozialen und geistesgeschichtlichen Hintergrundes voraus15, wie sie M. Pohlenz in seinem Buch über „Piatos Werdezeit" (1913) für den Rahmen und die ersten Definitionen des „Charmides" geleistet hat. Andererseits führt sie jedoch dazu, die philosophische Bemühung um die Wahrheit als „Kritik an fremden Ansichten" mißzuverstehen, so daß für Pohlenz die „Wissenschaft der Wissenschaft" zu einem Begriff wird, mit dem ein gegnerischer Sokratiker Leben und Wirken des verstorbenen Meisters zu interpretieren versucht, während Piaton selbst das Tun seines Lehrers durch die „Wissenschaft des Guten" deute. Damit wird 13

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H. Bonitz, Platonische Studien, Berlin »1886, S. 243ff.: Bemerkungen zu dem Abschnitt des Dialogs Charmides p. 166—172. Th. Becker, Plato's Charmides inhaltlich erläutert, Halle 1879, S. 105. In ähnlicher Weise sehen E. Schönborn (1884) und A. Knauer (1889) das Ergebnis in dem Abbau falscher Vormeinungen. In jüngster Zeit hat M. Buccellato, Studi sul dialogo platonico, Riv. Cr. di Storia d. Filosofia 18, 1963, 640—560 diesen Aspekt noch stärker herausgearbeitet.

Interpretation der Interpretationen

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der im Dialog nicht vermittelte Gegensatz zwischen den beiden zentralen Begriffen als Ausdruck historischer Meinungsverschiedenheiten neutralisiert1®, obwohl gerade sein Bestehen als bedeutend für Piatons Denken zu interpretieren wäre. Noch konsequenter wird das Verfahren, angebliche innere Unstimmigkeiten des Dialoges durch biographische Ausdeutung zu erklären, von U. v. Wilamowitz (1919) gehandhabt. Nach ihm bringt die Epistemediskussion in das Werk „eine Zwiespältigkeit herein, deren der Verfasser noch nicht Herr geworden ist"17. Diese Unzulänglichkeit ist nun aber nicht mehr, wie bei Pohlenz, auf äußere Einwirkungen zurückzuführen, sie liegt in der mangelnden Reife Piatons selbst, der sich noch nicht zu seiner eigenen Philosophie durchgerungen hat, sondern nur ,,den Eindruck wiedergeben" will, „den ihm der lebende Sokrates machte"18. Indem der Philologe sein historisierendes Verfahren in das interpretierte Werk hineinträgt, findet er bei Piaton die eigene Methode des Verstehens wieder. Dieser Zirkel führt zu einer von undeutlichen Naturbildern bestimmten Fehleinschätzung der frühen Dialoge: „So weit ist er; er ist sich im Gefühle bewußt, was das wahre Ziel der Philosophie, des Strebens nach Weisheit sein muß; aber es ist noch Gefühl, Ahnen, Fragen. Er ringt; aber er hat sich noch nicht durchgerungen . . . Vor Sonnenaufgang wallen die Nebel, ziehen die Dünste; hier und da zuckt ein Lichtstrahl; wo er herkommt, werden wir erst erkennen, wenn die Sonne erschienen ist. Noch ist sie unter dem Horizonte; aber sie ist im Aufstiege, und die Strahlen kommen von ihr"19. Erst P. Friedländer (1930) durchbricht den Zwang, das Werk ausschließlich unter genetischem Aspekt zu betrachten. Eine genaue Analyse des Dialogaufbaus20 und die Heranziehung von Parallelen aus anderen Platonischen Werken, mit deren Hilfe er die innere Gestalt des einzelnen Gesprächs nachzuzeichnen sucht, führen ihn für den „Charmides" zu der Erkenntnis, daß der Dialog sich in einem hypothetischen „Gipfel" erfüllt, der schon auf den vollkommenen Staat der „Politeia" verweist21. " M. Pohlenz, Aus Piatos Werdezeit, Berlin 1913, (Charmides, S. 40 bis S. 57) S. 48. " U. v. Wilamowitz-Moellendorfl, Piaton, Bd. 1, Berlin l 1919, S. 185. 18 Wilamowitz, 1. c., S. 94; vgl. S. 123:,,... über eigene Wissenschaft verfügte er noch nicht." 19 Wilamowitz, 1. c., S. 200. 20 Ähnlich A. van Bilsen, Plato's Charmides en de Sophrosyne, Philologische Studien 8, 1936/37, 190—206 und 9, 1937/38, 172—181. 21 P. Friedländer, Piaton, Bd. 2, Die Platonischen Schriften, Berlin 1930, S. 75. — Zu demselben Ergebnis kommt O. Wichmann, Piaton. Ideelle Gesamtdarstellung und Studienwerk, Darmstadt 1966, S. 67: „Wir hören so zum erstenmal den Grundakkord der Platonischen Philosophie, die Idee des unbedingten Wertes,

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Einleitung

Außerhalb der vorherrschenden Tradition der historischen Schule stehen die Deutungen, die, in der Mehrzahl neukantianisch, ein fremdes System als Schlüssel für das Verständnis der Platonischen Philosophie benutzen. Ihr bedeutendster Vertreter, P. Natorp (1903), scheint zwar zunächst mit seiner Untersuchung des Verhältnisses von „Wissenschaft der Wissenschaft" und „Wissenschaft des Guten" ein wesentliches Strukturelement des Dialogs erkannt zu haben. Indem er jedoch diesen Gegensatz als den von reiner und praktischer Vernunft faßt, wird deutlich, daß es ihm nicht um die Eigenart der Fragestellung zu tun ist, sondern daß er nur den kantischen Satz, ,,daß ganz allgemein die Form der Erkenntnis es ist, welche den Inhalt bestimmt", im „Charmides" bestätigt sehen will22. Die Abwertung der frühen Dialoge durch Wilamowitz hat lange nachgewirkt. Noch die 1951 erschienene Monographie von T. G. Tuckey steht methodisch unter ihrem Einfluß, wenn sie von vorneherein jegliche philosophische Diskussion in einem Jugendwerk wie dem „Charmides" ausschließt und die Heranziehung von Parallelen aus späteren Schriften für unzulässig erklärt23: „No interpretation of the dialogue is likely to succeed which does not disregard for the moment all later theories of ,epistemology', and indeed all conceptions of ,metaphysics'. For instance... it is generally agreed that the dialogue belongs to Plato's early period, before he had elaborated the Theory of Ideas"24. Ausgehend von dem, worüber man sich „allgemein einig" ist, bleibt diesem, wie sein Autor meint, „streng historischen Interpretationsversuch" schließlich nichts anderes übrig, als die Argumente Piatons an den Regeln der Logik und des common sense auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

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anklingen." Allerdings bleibt die Methode des Dialoges, von Wichmann als „Verfahren der gesteigert unbegründeten Zugeständnisse" bezeichnet (S. 66), völlig unverstanden. P. Natorp, Piatos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Leipzig 1903, S. 27.—J.Boersma, Wijsgeerige Studie over Plato's Charmides, Diss. Utrecht 1929 erkennt zwar eine der Grundfragen des Charmides richtig, bleibt aber auch in kantischen Denkformen befangen: „De vraag is naar de eenheid der vele kennis. Dit is nu trouwens de nooit rüstende vraag von alle kritische .philosophie' (S. 46)." —• Ähnlich G. M. Sciacca, II Carmide e la ricerca d'un oggetto per la filosofia, Riv. Cr. di Storia d. Filosofia 5, 1950, 103—123. — C. Schirlitz, Der Begriff des Wissens vom Wissen in Piatons Charmides, Jahrb. f. class. Philologie 43, 1897, 451—476; 613—537 nimmt den Charmides zum Anlaß einer von Fichte beeinflußten Untersuchung über die Identität von Subjekt und Objekt. Wilamowitz hatte sich gegen die „Erklärer" gewandt, die die spätere „Erläuterung und Erleuchtung . . . zwischen den Zeilen lesen . . . Woher weiß denn ein solcher Erklärer, daß Piaton wenige Jahre nach dem Tode des Sokrates wußte, was er soviel später als Schulleiter aussprechen sollte?" (1. c., S. 199). T. G. Tuckey, Plato's Charmides, Cambridge 1951, S. 1.

Interpretation der Interpretationen

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Dagegen gewinnt A. Pinilla in seinem Buch „Sofrosine: Ciencia de la Ciencia" (1959) gerade durch die Beachtung der Parallelen zum „Theaitet" und zur Aristotelischen Philosophie eine erste Einsicht in die Struktur des Dialoges, dessen Begriffsstufung für ihn verschiedene Ebenen der Wahrheitsfindung darstellt. Er unterscheidet drei Auffassungen der Besonnenheit: ,,a) der volkstümliche Begriff: ethisch-ästhetische Bedeutung; b) der sokratische Begriff: ethischpsychologische Bedeutung; c) der platonische Begriff: noetischmoralische Bedeutung" 26 . In diesem statischen System bleibt jedoch, wie schon der Titel des Buches zeigt, kein Platz für die Wissenschaft des Guten und damit für die ontologischen Probleme des Dialoges, obwohl ihre Untersuchung, wie M. Untersteiners „Studi Platonici" (1965) beweisen, durch die Vergleiche zu Aristoteles' Metaphysik und Περί φιλοσοφίας nahegelegt wird. Untersteiners Arbeitshypothese, der „Charmides" müsse von der Ideenlehre her verstanden werden, wie sie den Inhalt der esoterischen Lehre Piatons ausmache28, führt ihn dazu, in dem Dialog, den er für ein Werk des „reifen Piaton" hält, 27 nur Belegstellen für die aus dem Alterswerk und späteren Testimonia rekonstruierte „ungeschriebene Lehre" zu suchen28. Diesem historischen Interesse bleibt der Dialog merkwürdig als Ausdruck von Piatons Suche nach der Methode der Dialektik29, den dialektischen Gang, in dem sich Piatons Denken bewegt, vermag er jedoch nicht nachzuvollziehen. Demgegenüber hat R. Dieterle in seinen „Untersuchungen zur elenktisch-aporetischen Struktur der platonischen Frühdialoge" wenigstens theoretisch richtig erkannt, daß „die Untersuchung . . . nur in der Gesamtinterpretation eines oder mehrerer Dialoge sich bewähren" kann, „wenn der im einzelnen fragwürdige Teil seinen erhellenden Platz im Ganzen gefunden hat" 30 . Doch Dieterle kann den inneren Zusammenhang des Einzelwerkes nur herstellen, indem er die isoliert betrachteten Teile auf das vorgewußte Ergebnis bezieht, daß die Be26

A. Pinilla, Sofrosine, Ciencia de la Ciencia, Madrid 1969, S. 179f.: Recuente de las definiciones. 2β Μ. Untersteiner, Studi Platonici. II .Carmide', ACME 18, 1965, 19—67; S. 43: „Cosi si trascende dalla scienza della scienza, presupposto gnoseologico di ogni ricerca, alla scienza dell' idea, idea che nel nostro dialogo 6, se non presente, un postulate." »' Untersteiner, 1. c., S. 60. 28 Untersteiner verweist ausdrücklich auf die Rekonstruktionen bei H. J. Krämer, Arete bei Piaton und Aristoteles, Heidelberg 1959 und K. Gaiser, Piatons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1963 (1. c., S. 20, N. 9 und S. 23, N. 22). 29 Untersteiner, 1. c., S. 66f. 80 R. Dieterle, Piatons Laches und Charmides. Untersuchungen zur elenktisch-aporetischen Struktur der platonischen Frühdialoge, Diss. Freiburg 1966, S. 21.

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Einleitung

sonnenheit etwas Gutes ist. Dieses Vorwissen, von Dieterle als „Wertkonstante" bezeichnet,31 erweist sich in allen Definitionsversuchen als gegenwärtig, so daß sie sich trotz ihres negativen Ausgangs als inhaltlich richtig herausstellen, so etwa die dritte Definition: „Es kommt bei der σωφοσύνη jedenfalls nicht auf das Tun als solches an, sondern allein auf dessen Wert: es muß .schön und nützlich' erfolgen! Das ist in der Tat der entscheidende Gesichtspunkt, den Kritias hier vorbringt, aber auf welch seltsam verschlungenen Wegen"32! Der Satz ist kennzeichnend für die Methode Dieterles, der hinter den scheinbaren Sophismen eine inhaltliche Wahrheit festzustellen sucht, ohne jedoch die einzelnen Schritte des dialektischen Aufstiegs, die auf sie hinführen, als notwendig sichtbar machen zu können. Deshalb findet er auch am Schluß seiner Untersuchung trotz Piatons ausdrücklicher Trennung von Wissenschaft der Wissenschaft und Wissenschaft des Guten die Lösung in deren „platonisierend"33 vollzogener Einheit: „Die Wert-Bedingung, eine scheinbar zusätzliche Aussage, die sich an die Bestimmung der Sache selbst anschließt, enthüllt sich . . . als das zentrale Wesen der gesuchten Sache"34. Der Dialog aber findet seinen Sinn allein im „Dialoggeschehen"36, in dem sich nach dem Vorbild des Sokratischen Lebens „das Wissen des Nichtwissens" und damit die Besonnenheit vollzieht „im suchenden Gespräch, in ständiger Prüfung seiner selbst wie auch anderer"36. Nach dieser Interpretation werden Inhalt und Form des Werkes von ihrer je eigenen Wahrheit bestimmt; die von Dieterle theoretisch als notwendig erkannte Sinneinheit des Ganzen wird von ihm nicht einsichtig gemacht. Die Bemühung um Verstehen, die am Anfang von Piatons Dialog steht, ist an ihm selbst erneut zu leisten. Wie die Ironie, mit der Sokrates die alltägliche Rede zum Bewußtsein ihrer selbst bringt, der erste Schritt zum Denken der Wahrheit ist, so erweist die hermeneutische Analyse dadurch, daß sie die historische Bedingtheit der früheren Interpretationen sichtbar macht, die Notwendigkeit, die in der philologischen Tradition zum bloßen Wissensstoff gewordene Wahrheit des Platonischen Philosophierens neu zu denken. Indem sie darüber hinaus die verschiedenen Verstehensmodelle als Ausdruck des Bemühens begreift, in der Vielfalt des Gesamtwerks die Einheit darzustellen, die von Schleiermacher mit Recht als Voraussetzung 81

Dieterle, » Dieterle, 83 Dieterle, 84 Dieterle, *» Dieterle, 84 Dieterle,

1. c., 1. c., 1. c.f 1. c., 1. c„ 1. c..

S. S. S. S. S. S.

163 f. 193. 218. 298. 310. 300.

Interpretation der Interpretationen

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jeder Deutung bestimmt worden war, gibt sie zugleich einem neuen Versuch zu verstehen seine methodischen Grundkategorien. Auch von diesem ist gefordert, in einer Vielfalt von Erscheinungen die sinnvolle Einheit aufzuweisen. Diese Bemühung ist jedoch im Unterschied zu Schleiermacher zunächst für den einzelnen Dialog zu leisten, da allein er durch seine ihm von Piaton gegebene Form den Anspruch stellt, ein in sich geschlossenes Sinnganzes zu sein. Im Gegensatz zur historischen Methode geht es dabei weniger darum, die einzelnen Elemente durch Rückführung auf ihre psychologischen, biographischen oder geistesgeschichtlichen Ursachen zu Kausalketten zu verknüpfen und sie so zu „erklären", als vielmehr ihre Beziehung aufeinander und ihre Funktion im Zusammenhang des Werkes zu bestimmen. Indem so der Versuch unternommen wird, die Ganzheit des Systems wiederzufinden, das der einzelne Dialog darstellt, vollzieht sich in eben dem Maße Verstehen, als die Ordnung der Einzelaspekte in sich schlüssig und als von Piaton intendierte einsichtig wird. Das Nachdenken des Platonischen Gedankens wird zu Ergebnissen kommen, die in ähnlicher Weise für alle „Tugenddialoge" (,,Euthyphron", „Laches", „Lysis", „Protagoras", „Gorgias') gelten: 1. Der „Charmides" geht von einer historisch und sozial scharf eingrenzbaren Situation aus. Er zielt jedoch über die Tugenddefinition hinaus nicht nur auf eine Neubegründung der Ethik, sondern auf eine Neubegründung der Philosophie überhaupt. 2. Es geht in ihm also schon um das eigenste Anliegen der Platonischen Philosophie. Die behauptete Nähe zu Sokrates erweist sich sowohl sachlich als auch historisch, von der Abfassungszeit des Dialoges her, als falsch. Trotzdem ist der Tugenddialog ganz und gar sokratisch durch seine dialektische Methode. 3. Als Frühdialog endet der „Charmides" in der Aporie. Doch diese Aporie ist weder auf das „sokratische Nichtwissen" noch auf das des jungen Piaton zurückzuführen. Sie ist vielmehr Ausdruck des einen Grundproblems, das die Platonische Philosophie in all ihren Phasen beherrscht. Die von Schleiermacher geforderte Einheit des Gesamtwerks ist so durch seine einheitliche Problemstellung gesichert. Sie wird sich darin bestätigen, daß Piaton auch im Alter noch seine ,,Tugenddialoge" als vollgültige und notwendige Grundübung des philosophischen Denkens anerkennt.

1. Kapitel Sophrosyne Geltung und Verfall der Grundlagen der Poliskultur Gesundes Denken „Der Krieg aber, der das Wohlergehen des alltäglichen Lebens aufhebt, ist ein gewaltsamer Lehrer und stimmt die Leidenschaften der Menge nach der jeweiligen Lage. So herrschte nun Aufruhr in den Städten und die später Gekommenen trieben auf die Kunde des bereits Geschehenen hin die Ausschweifung im Umsturz der Gesinnungen noch weiter durch ausgeklügelte Erfindung von Anschlägen und durch die Ungeheuerlichkeit ihrer Rache. Und die gewohnte Geltung der Worte änderten sie um gemäß ihren Taten mit willkürlichem Urteil. Unvernünftigster Wagemut nämlich wurde für kameradschaftliche Tapferkeit gehalten, vorsorgliches Zögern aber für beschönigte Feigheit, Besonnenheit galt als Vorwand der Unmännlichkeit und kluges Verhalten bei jeder Sache als Untätigkeit bei allem"1. Thukydides stellt diese Sätze dem Exkurs voran, in dem er die Verwilderung der politischen Sitten während des Peloponnesischen Krieges beschreibt. Der Historiker macht die Krise, in der sich die griechische Welt gegen Ende des fünften Jahrhunderts befindet, am Bedeutungswandel der Worte sichtbar, die bislang die grundlegenden Normen politischen Handelns darstellten2. Unter ihnen zeichnet sich die „Besonnenheit" (σωφροσύνη) durch ihre zentrale Stellung im traditionellen Wertsystem aus. Der Gebrauch des Wortes, einer abstrakten Sekundärbildung zu dem aus der o-Stufe der Wurzel von phren (Zwerchfell, Sinn) und saos, sös (gesund) gebildeten Adjektiv saophron3, war im Epos auf wenige charakteristische Situationen eingeschränkt. Wie die Variation mit anderen Zusammen1 Thukydides 3. 82, 2 ff. * Den „Verfall" der Sophrosyne gegen Ende des fünften Jhdts. analysiert H. North, A Period of Opposition to Sophrosyne, Trans, and Proc. of the Amer. Phil. Ass. 78, 1947, 1—17. 3 Vgl. U. Wyss, Die Wörter auf -σύνη in ihrer historischen Entwicklung, Diss. Zürich, Aarau 1954., S. 20 f.

Besonnenheit in der Polis

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Setzungen der gleichen Wurzel beweist4, ist es dabei der etymologischen Grundbedeutung sehr nahe geblieben. Es bezeichnet für Homer die „Gesundheit des Denkens", die der junge Mann durch angemessene Zurückhaltung gegenüber dem älteren5, die Dienerin durch gebührenden Anstand gegenüber der Herrin zum Ausdruck bringt 6 . Während Besonnenheit in diesem Sinne das persönliche, durch die Kenntnis der eigenen Grenzen bestimmte Verhalten gegenüber einem Höhergestellten ist und damit der „Scheu" (αΙδώς) untergeordnet bleibt 7 , die das soziale Verhalten der homerischen Helden in seiner Gesamtheit regelt, tritt das Wort bei Theognis in Gegensatz zur Hybris, dem „gewalttätigen Übermut", und damit in einen vorwiegend politischen Zusammenhang8. Es bedeutet nun Anerkennung der staatlichen Autorität und Unterordnung unter das herrschende Gesellschaftssystem9. Die Kontinuität mit dem homerischen Begriff bleibt jedoch gewahrt; denn auch in diesem neuen Sinnbereich sind es die sozial Abhängigen, „die Bürger", die durch ihre Zurückhaltung Besonnenheit beweisen. Besonnenheit in der Polis Erst zur Zeit der Blüte der Polis erweitert sich das Begriffsfeld über die soziale Bedeutung hinaus und schließt die Beziehung der Menschen zu den Göttern mit ein10. Auch dabei bleibt seine Grundstruktur unverändert. Wie der Mensch vorher seinen „gesunden Sinn" bewies und sich „rettete", indem er sich der gesellschaftlichen Ordnung fügte, so jetzt dadurch, daß er die Wirklichkeit des Göttlichen anerkennt und sich so seiner eigenen Grenzen bewußt wird. In beiden 4 5

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ψ 12f.: άφρονα — έπίφρονα — χσλιφρονέοντα — σαοφροσύνηζ. Φ 462: Apollon hält sich vom Kampf gegen seinen Onkel Poseidon zurück (vgl. Φ 468f.); 6 158: Telemach verstummt gegenüber Menelaos; ψ 30 setzt dieselbe Haltung indirekt voraus: Telemach hält „mit heilsamem Sinn . . . die Anschläge des Vaters verborgen". (Ubersetzung Schadewaldts). ψ 13: Eurykleia — Penelope. Uber σαόφρων bei Homer und seine Beziehung zu αΙδώς siehe auch S. 33. Vgl. H. North, Sophrosyne. Self-Knowledge and Self-Restraint in Greek Literature, Cornell Studies in Classical Philology 35, 1966, S. 17ff. Theognis, Eleg. 1, V. 39—42: „Kyrnos, diese Stadt hegt in Wehen, und ich fürchte, sie wird einen Mann gebären, den Strafer unseres schlechten Übermuts (κακής üßpios). Denn die Bürger (άστοί) sind noch besonnen (σαόφρονες), die Führer jedoch sind großer Schlechtigkeit verfallen." Eine ähnliche Bedeutung kommt dem Wort in der Neuinterpretation des Hesiodeischen Mythos vom eisernen Zeitalter zu, bei der αΐδώζ durch σωφροσύνη ersetzt wird (V. 1135—1140). Eine Sammlung der Belegstellen für σωφροσύνη in der klassischen Literatur gibt G. J . de Vries, σωφροσύνη en Grec Classique, Mnemosyne 11, 1943, 81—101. Vgl. auch Α. Kollmann, Sophrosyne, Wiener Studien 59, 1941, 12—34.

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Fällen definiert er seine Rolle von einem Abhängigkeitsverhältnis her und beschränkt sich auf Grund seiner Einsicht in seinem Handeln gegenüber dem Höhergestellten. Während jedoch die Besonnenheit bei Homer und Theognis rechtes Selbstverständnis nur in der individuellen Situation des jungen Mannes oder der gesellschaftlichen des Bürgers fordert, ist sie in der Tragödie zum Ausdruck einer neuen Erfahrung der Existenz geworden. Im gleichen Maße wie der Mensch nicht mehr von der gesellschaftlichen Bindung, sondern vom individuellen Bewußtsein gelenkt wird, erfährt er die Überlegenheit des Göttlichen und die Notwendigkeit, dessen Wirken anzuerkennen, um „gesunden Sinn" zu beweisen. Der Grund zu einer solchen Entfaltung der im Begriff zwar angelegten, aber anfangs nicht aktualisierten Möglichkeiten kann nicht allein in der Veränderung der sozialen und ökonomischen Bedingungen gefunden werden, etwa in der Beschränkung, die dem heroischen Individuum durch den sozialen Zwang der Polis auferlegt wird, oder dem Kampf der aufsteigenden Mittelklasse gegen die Adelsherrschaft11. Die Analyse der literarischen Zeugnisse beweist im Gegenteil, daß es gerade die konservativen Vertreter jener alten Adelsherrschaft sind (Theognis, Pindar), bei denen sich die neue, in der Tragödie gültige Bedeutung vorbereitet, während andererseits Solon, der die theoretischen und politischen Grundlagen der Polis und der neuen Mittelklasse schafft, das Wort in den überlieferten Fragmenten gar nicht kennt 12 . 11

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Diese Erklärung der Veränderung aus äußeren Ursachen gibt H. North in ihrer Monographie (S. 12ff. u. S. 32f.), deren historische Methode sie im Vorwort definiert : ,,My aim throughout has been to identify all the nuances of sophrosyne as they occur, to trace their development, and to suggest, where evidence is available, the reasons for such changes as seem explicable in the light of altered political, social, religious or economic conditions, or the special interests of a given author (S. V I I I ) . " Wie die Untersuchung, die in Form einer Ideengeschichte einen umfassenden Überblick über die gesamte Literatur bis zum Ausgang der Antike gibt, mit aller Klarheit zeigt, kann Sophrosyne die verschiedensten individuellen, sozialen und religiösen Verhaltensweisen bezeichnen; für Euripides reicht die Bedeutungsskala nach N. (S. 68ff.) ζ. B. von weiblicher Keuschheit über Mäßigung des Ehrgeizes bis hin zu göttlicher Raserei. Da der jeweilige Sinn des Wortes allein vom Kontext abhängt, wäre es Aufgabe des Interpreten, jeweils die Struktur des Wortfeldes und dessen Platz im Ganzen des Werkes zu bestimmen. Angesichts dieses unerfüllbaren Anspruchs beschränkt sich N. darauf, die verschiedenen Bedeutungsnuancen aneinanderzureihen und aus den obengenannten Bedingungen abzuleiten. Damit werden die Bedeutungsänderungen des Wortes zu einer Funktion äußerer Faktoren, und seine Geschichte, die als notwendige Entwicklung von diesen bestimmt wird, verliert ihre eigenständige Erkenntnisfunktion. Da die Frage nach dem Grund des Bedeutungswandels, solange sie als Frage nach dessen Kausalursachen verstanden wird, keine zureichende Antwort finden kann, muß sich die Begriffsuntersuchung darauf beschränken, dem an sich disparat vorfindlichen Material eine Ordnung zu geben, indem sie aus jedem einzelnen Fall

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Die existentielle Gefährdung des Menschen durch den Verlust des „gesunden Denkens" macht als erster Aischylos in den Persern (472 v. Chr.) zur Grundlage des dramatischen Konflikts, indem er die Unsinnigkeit des Xerxeszuges als Gegenbild besonnenen Verhaltens deutet und dadurch dem athenischen Sieg bei Salamis einen religiösen Sinn gibt. Wenn der Chor der persischen Greise das Handeln des Xerxes „unverständig" (δυσφρόνως) nennt13 und Dareios dieses Urteil bestätigt: „Noch jung, versteht er auch Jugendliches nur," (. . . νέος έών νέα φρονεί.)14, so ist damit eine erste Ursache des Unglücks in der mangelnden menschlichen Reife des Königs selbst gefunden. Denn: „Ohne Wissen brachte er dies zu Ende mit jugendlichem Übermut." (. . . ταδ' ού κατειδώς ηνυσεν νέω θράσει)16. Darüber hinaus macht die alte Königin Atossa den gesellschaftlichen Einfluß für den Fall ihres Sohnes verantwortlich: Er verkehrte „mit schlechten Männern", die seine Zurückhaltung als „Unmännlichkeit" (άνανδρία) tadelten und ihn dadurch zur verhängnisvollen Tat trieben16. Während alle bisherigen Urteile über die Ursachen von Xerxes' Niederlage rein menschlicher Natur waren, verkündet Dareios den religiösen Sinn des Geschehens. Der alte König, der als „mächtiger Daimon" aus dem Hades zurückgekehrt ist 17 und von dorther das Wissen um die „Göttersprüche" mitgebracht hat 18 , vermag als einziger zu erkennen, daß das Unglück seines Sohnes von den Göttern

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das Gemeinsame abstrahiert und dadurch die Einheit des Begriffes sichtbar macht, um dann die Vielfalt der Bedeutungsmöglichkeiten durch eine möglichst genaue Bestimmung der Unterschiede festzuhalten. Dieses systematische Vorgehen strukturiert das Begriffsfeld und gibt ihm in der gemeinsamen Grundbedeutung seinen Mittelpunkt. Die so gefundene Struktur dient der Untersuchung der einzelnen geschichtlichen Verwirklichungen als unausgesprochenes hermeneutisches Grundmuster, von dem sich erst die jeweiligen Bedeutungsverschiebungen als sinnvoll abheben. In dieser Sicht wird die historische Aufeinanderfolge nicht mehr als kausal erklärbare, irreversible Entwicklung bestimmt, sondern die Veränderungen innerhalb der zeitlichen Abfolge werden umgekehrt auf Grund ihres unterschiedlichen Abstands vom Zentrum des Begriffsfelds als bedeutend für die Wandlungen des kulturellen und sozialen Systems verstanden. Perser, V. 553. Perser, V. 782. Perser, V. 744. τάδ' gehört als Objekt zu ήνυσεν, während κατειδώς, ohne nähere Bestimmung, den Verlust der vernünftigen Überlegung bei Xerxes zum Ausdruck bringt. So auch H. D. Broadhead, The Persae of Aeschylus, Cambridge 1960, Kommentar ad 1., der auf eine ähnliche Konstruktion in Eur. Medea, V. 992 verweist. Perser, V. 753ff. Die soziale Abwertung, in der Thukydides eine Folge des Peloponnesischen Krieges sah, erweist sich durch den Vergleich mit Aischylos als eine ursprüngliche Gefährdung der Besonnenheit. Perser, V. 620 und 641 f. Perser, V. 800 f.

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geschickt ist: „Wehe, es kam ein großer Daimon, so daß er nicht mehr verständig dachte" 19 . Während verständiges Denken eben darin besteht, anzuerkennen, „daß man, wenn man sterblich ist, nicht zu hoch hinaus denken darf" 20 , hat Xerxes „über das gegenwärtige, gottgegebene Geschick hinausgedacht" 21 . Die Zerstörung der griechischen Tempel und Altäre, der Frevel gegen die Götter und den von Gott geschützten Nachbarn erweisen sich vor dem göttlichen Verstehen als äußerer Ausdruck einer geistigen Verblendung, die die Götter in ihrem Wesen verkennt und sich damit selbst zum Untergang verurteilt. „Denn Zeus ist als Rächer allzu übermütiger Gedanken zugegen, ein schwerer Strafer" 22 . Indem Aischylos so den Sinn des historischen Ereignisses als göttliche Strafe deutet, erhalten die Variationen des Wortes „verständig denken" (φρουεΐν) eine neue Dimension. Besonnenheit wird über den persönlichen und sozialen Aspekt hinaus auf Gott bezogen; sie ist Erkenntnis im eigentlichen Sinne des Wortes, Erkenntnis des Göttlichen und von daher Anerkennung der eigenen Begrenztheit und des Rechtes der anderen. Xerxes, der sich gegen dieses Grundgesetz der menschlichen Existenz verfehlt hat, wird durch seine Niederlage des Verlustes des gesunden Denkens überführt: „Obwohl er sterblich ist . . ., glaubte er, alle Götter . . . besiegen zu können. Wie hielt da nicht eine Krankheit der Sinne (νόσος φρενών) mein Kind gefangen" 23 . Aber die Niederlage ist zugleich der Beginn der Rettung. Dareios macht diesen dialektischen Vorgang in einem Bild bewußt: „Die Vermessenheit (ύβρις) nämlich setzt, wenn sie aufgeblüht ist, die Ähre der Verblendung (άτη) an, woraus eine tränenreiche Ernte reift" 24 . Diese Ernte wird in der Tragödie selbst eingebracht. Indem die handelnden Personen und mit ihnen die Zuschauer zur Einsicht in die Begrenztheit des Menschen geführt werden, eröffnet sich ihnen die Erkenntnis, die das Wesen der Besonnenheit ausmacht. Wenn daher Dareios, bevor er in den Hades zurückkehrt, dem Chor den Auftrag gibt: „So nun belehrt ihn, der vom Orakel die Weisung erhalten hat, besonnen zu sein (σωφρονεΐν κεχρημένον)26, mit rechten Worten und Ermahnungen, 19 20 21 22 23 24 25

Perser, V. 725: . . . ώστε μή φρονεΐν καλώς. Perser, V. 820: οίιχ ύττέρφευ θνητόν όντα χρή φρονεΐν. Perser, V. 825: ΰττερφρονήσα; τόν παρόντα δαίμονα . . . Perser, V. 827f.: . . . τ ω ν ϊπτερκόμπων ά γ α ν φρονημάτων . . . Perser, V. 749 ff. Perser, V. 821 f. So die Handschriften Α ·Ρ und der Scholiast. Diese Lesart vertreten L.-S.-J., s. ν. χράω, P. Mazon und H. D. Broadhead, der den acc. jedoch nicht auf έκείνου bezieht, sondern ihn absolut f a ß t : „it having been declared . . . " (Kommentar, ad 1.). Dagegen haben M F Q, denen sich Murray in seiner Ausgabe anschließt,

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daß er aufhört, in übermütigem Trotz gegen die Götter zu freveln" 26 , dann betrifft diese Mahnung zur Besonnenheit, in der der Sinn der Tragödie Wort wird, nicht nur Xerxes. Das Leiden, das am Schluß ganz unverhüllt auf der Bühne dargestellt wird, soll auch im Zuschauer die Krankheit des Sinnes heilen und ihn zum gesunden Denken führen auf dem Wege, den der Chor im ersten Stasimon des „Agamemnon" nennt: „Wenn einer Zeus bereitwillig Siegeslieder singt, wird er die Fülle der Einsicht erlangen (φρενών τό παν), ihm, der die Menschen auf den richtigen Weg führt einsichtig zu sein (φρονεϊν) und der festgesetzt hat, Wissen durch Leiden (πάθει μάθος) zu haben . . . Und so kommt zu ihnen auch gegen ihren Willen das Besonnen-sein (σωφρονεΐν)"27. Die Auswirkungen der so verstandenen Besonnenheit auf sozialem und politischem Gebiet werden am deutlichsten in der Erzählung des Dareios von den alten Königen Persiens sichtbar, in der er ein positives Gegenbild zur Unglücksherrschaft seines Sohnes zeichnet. Der Sohn des Medos konnte den von seinem Vater begonnenen Aufbau von Heer und Staat vollenden; „denn verständiger Sinn lenkte seinen Mut" 28 , — ein Bild, das der platonischen Definition der Sophrosyne im „Phaidros" genau entspricht 29 . Und sein Nachfolger Kyros, „der glückliche Mann, brachte herrschend all seinen Freunden den Frieden ; das Volk der Lyder aber und der Phryger gewann er, und ganz Jonien schlug er mit Macht; denn der Gott war ihm nicht feind, weil er recht gesinnt war" 30 . Eben das, was Xerxes erstrebt und verfehlt hat, ist seinen Vorgängern gelungen, weil ihr Tun durch die Besonnenheit gelenkt wurde. Die Anerkennung der Götter durch die Menschen, die den Inhalt der Besonnenheit in den „Persern" ausmacht, hat Aischylos in den „Eumeniden" als eine der Grundlagen der demokratischen Staatsordnung dargestellt. Orest, von den Erinnyen verfolgt, ist auf die Weisung Apollons nach Athen geflohen, um den Areopag in seiner Sache entscheiden zu lassen. Vor dem Spruch hält Athene eine Rede, in der sie Funktion und Bedeutung des obersten Gerichts definiert:

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σωφρονείν κεχρημέυοι. Dann wäre der Chor gemahnt, besonnen zu sein, womit, obwohl diese Konstruktion im Zusammenhang des Satzes weniger glücklich ist, die Moral aus der Niederlage des Xerxes für den Zuschauer noch eindeutiger gezogen wäre. Perser, V. 829 ff. Agamemnon, V. 174ff. Vgl. dazu E. Frankel, Aischylos' Agamemnon, Bd. 2, ad 1. und H. Dörrie, Leid und Erfahrung. Die Wort- und Sinn-Verbindung ιταβεΐν — μαθεϊν im griechischen Denken, Abh. Ak. Mainz 1956, 5, S. 325 (23) f. Perser, V. 767: φρένες γαρ αύτοϋ θυμόν φακοστρόφουν. Phaidros 253cff.; vgl. Pindar, Isth. 8, 25: σώφρονέ; τ' έγένοντο τπνυτοί τε θυμόν. Perser, V. 768ff.: . . . ώς εΰφρων ?φυ.

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„Auf ihm wird die Ehrfurcht der Bürger (σέβας άστών) und die mit ihr verwandte Furcht (φόβος) das Unrecht bändigen tags und auch bei N a c h t . . . Den Bürgern, die eine nicht anarchische und auch nicht knechtische Herrschaft verteidigen, rate ich, Ehrfurcht zu haben und das Schreckliche (τό δεινόν) nicht ganz aus der Stadt zu entfernen. Denn wer von den Sterblichen, wenn er nichts fürchtet, wird gerecht bleiben ?" 31 Der Areopag wird damit als Hüter des „Schrecklichen" eingesetzt, das dadurch, daß es die Bürger in Schranken hält, ein staatliches Zusammenleben erst ermöglicht. Diese aitiologische Rede steht in engem Zusammenhang mit dem Chorlied, in dem die Erinnyen ihr Wirken preisen: „Manchmal ist das Furchtbare (τό δεινόν) gut, und es muß als Aufseher der Sinne (φρενών έττίσκοπον) bestehen bleiben. Es bringt Nutzen, durch Leiden besonnen zu sein (ξυμφέρει σωφρονεϊν ύττό στένει)" 32 . Die rächende Macht der Götter gibt den Menschen den rechten Sinn, macht sie besonnen. Dadurch aber erlangen sie zugleich die richtige politische Ordnung. Indem die Furcht vor der göttlichen Strafe als Mittleres zwischen die Anerkennung der Göttter und die menschliche Selbsterkenntnis tritt, ist die Grundlage einer mittleren, „nicht anarchischen und nicht knechtischen Lebensform" gefunden 33 , deren Gedeihen sich auf das gesunde Denken aller Bürger gründet. „Aus der Gesundheit der Sinne aber (έκ δ' ύγιείας φρενών) kommt der von allen geliebte und viel erflehte Segen" 34 . Wie die Parallele zwischen den Worten der Athene und denen der Erinnyen andeutet, übernimmt der Areopag die Funktion der altertümlichen Gottheiten, die Menschen durch die Furcht zur Besonnenheit zu führen. Die Institution, die als oberste Instanz über die Polis wacht, ist damit auf göttliches Recht gegründet, die von ihr geforderte Ordnung göttlicher Natur.

Auflösung der Einheit Eine ähnliche Beziehung zwischen Furcht und Besonnenheit stellt Sophokles zwanzig Jahre später im „Aias" her, zu einer Zeit, als der Areopag durch die demokratischen Reformen schon seine ursprüngliche Machtstellung eingebüßt hatte. Menelaos verlangt von einem „Mann des Volkes", er solle seinen Vorgesetzten gehorchen 35 ; denn 31 32 33 34 35

Eumeniden, V. Eumeniden, V. Eumeniden, V. Eumeniden, V. Aias, V. 1071 f.

690—692; V. 696—699. 617—521. 526 f. 534«.

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Auflösung der Einheit

nur die Furcht erhalte die Gesetze einer Stadt, „und auch ein Heer möchte wohl nicht besonnen gelenkt werden, wenn es den Schutzwall des Schreckens und der Scheu nicht kennt" 36 . Obwohl Menelaos die gleichen Worte gebraucht wie Athene in den „Eumeniden", ist die Bedeutung seiner Rede doch eine ganz andere. Für ihn, der aus eigenen Gnaden und ohne göttlichen Auftrag spricht, ist die Furcht zu einem rein sozialen Phänomen geworden, zur Tugend, welche das Verhalten des einfachen Bürgers dem Staat gegenüber regelt. Wie getreu Sophokles in diesem Punkt das demokratische Bewußtsein im Athen seiner Zeit wiedergibt, läßt der parallele Gedankengang erkennen, den Thukydides Perikles bei seiner Totenrede in den Mund legt: „Obwohl wir im privaten Bereich so freizügig miteinander verkehren, so ist es im öffentlichen Leben vor allem die Furcht, die uns nicht widergesetzlich handeln läßt, im Gehorsam gegen die jeweiligen Beamten und die Gesetze" 37 . In diesen Worten ist unter dem Einfluß der Sophisten die Furcht vor den Göttern durch die vor den Gesetzen und ihren Strafandrohungen ersetzt. Auch die Besonnenheit wird daher nur als soziales Phänomen begriffen. Am deutlichsten geht diese Anschauung aus der Theorie des Sophisten Antiphon hervor, der die Besonnenheit ganz auf der Furcht vor der Vergeltung durch den Geschädigten gründen will: „Wer aber, wenn er gegen seinen Nächsten vorgeht, um ihm Böses zu tun, fürchtet, daß er durch einen Fehlschlag dessen, was er tun will, das davonträgt, was er nicht will, der ist besonnener. Denn während er fürchtet, zögert er, und während er zögert, hat häufig die inzwischen verstrichene Zeit seinen Sinn von seinen Plänen abgebracht" 38 . Dieser säkularisierte Sophrosynebegriff, der wieder auf den schon bei Theognis erreichten Bedeutungsumfang eingeschränkt ist, nimmt bei Sophokles jedoch nur geringen Einfluß auf den Fortgang des Stückes. Nur Menelaos gebraucht ihn in seiner Kampfrede gegen Teukros, wobei er völlig ungerechtfertigt den adeligen Helden Aias einen „Mann des Volkes" nennt. Der Sinn der tragischen Handlung dagegen wird getragen von dem Erwachen des Aias aus der „völligen geistigen Umnachtung" (δυσλόγιστος), in der er im Prolog gezeigt 88

Aias, V. 1073 ff. ' Thukydides 2. 37, 3. 88 Antiphon 87 Β 58 (D.-Kr.). Dieser relativen Besonnenheit stellt Antiphon als deren höchste Vollendung die Selbstbeherrschung gegenüber (. . . αύτόξ έαυτόν κρατεί ν τε καΐ vtKäv ήδυνήθη αΰτός έαυτόν, 1. c.) und definiert damit zum ersten Mal das, was f ü r Piaton die „volkstümliche Sophrosyne" werden sollte. (Siehe S. 23) — Eine Beziehung zwischen Thukydides und Antiphon h a t schon die antike Biographie hergestellt, die den Historiker zum Schüler des Sophisten m a c h t (87 A 2). 8

W i t t e , Wissenschaft

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wird 39 , zur Erkenntnis seiner Lage. Dieses langsame Zurückfinden zum klaren Bewußtsein erweist den Wahnsinn als sichtbaren Ausdruck des Verstoßes gegen „das Weltgesetz des Sophrosyne" 40 . Aias selbst eröffnet sich schrittweise in den drei großen Reden die Einsicht in sein Vergehen, so daß er sich, tödlich getroffen in seiner Ehre, das Leben nimmt. Dieses Geschehen erfährt im Prolog schon im vorhinein seine Deutung als Offenbarung des Sinns der Besonnenheit. Athene ermahnt Odysseus, nicht „überheblich" gegen die Götter zu handeln wie Aias41, sondern sich der menschlichen Schwäche bewußt zu bleiben; denn „die Götter heben die Besonnenen und hassen die Schlechten" 42 . Aias hat sich, wie der Seher Kalchas sagt, in seinem Übermut gegen Athene vergangen, weil er ihre Hilfe im Kampf zurückwies: „Durch solche Worte zog er sich den fürchterlichen Zorn der Göttin zu, er, der nicht dachte nach Menschen Art" 43 . Sie nimmt ihm daher den „gesunden Sinn" (φρονεΐν) und macht ihn zum „Unsinnigen" (δύσφρων). Indem sie ihn so zu seinen grausigen Taten „antreibt" 44 , deckt sie die gottverhaßte Verworfenheit der Hybris auf und gibt dadurch Odysseus die Erkenntnis dessen, was gesundes Denken ist. Die Neuerung gegenüber Aischylos besteht darin, daß in der Tragödie neben diesem ursprünglichen jener zweite Sophrosynebegriff eine Rolle spielt, der aus dem religiösen Bezugssystem gelöst und auf der Furcht als sozial verstandenem Phänomen begründet, allein in der politischen Wirklichkeit Geltung besitzt. Damit begegnet zum erstenmal eine Erscheinung, die für die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts kennzeichnend werden sollte. Die Sophrosyne spaltet sich auf in einen ethischen und einen politischen Begriff; die Einheit, die bei Aischylos die verschiedenen Komponenten im Rahmen der Polisreligion vereinigte, geht verloren.

Spartanische

Besonnenheit

Dieser Vorgang wird bestätigt durch den Wortgebrauch bei Thukydides. Bei ihm ist die Besonnenheit zu einer politischen Ordnungsvorstellung geworden, mit deren Hilfe die spartanische Gesell·» Aias, V. 40 (vgl. V. 59f.)· 40 W. Schadewaldt, Besprechung: Τ. B. L. Webster: Sophocles, in Hellas und Hesperien, Zürich und Stuttgart 1960, S. 304. 41 Aias, V. 127 f. 42 Aias, V. 132f.: . . . του; δέ σώφρονος / θεοί φιλοΰσι καΐ στυγοϋσι τού$ κακούς. 43 Aias, V. 776 f. 44 Aias, V. 51 f., 59f.

Spartanische Besonnenheit

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schaft ihre Eigenheiten und ihre Vorzüge gegenüber dem demokratischen Athen definiert. Als die Korinther den Lakedaimoniern nach der Schlacht bei Potidaia die Unbeweglichkeit ihrer Außenpolitik vorwerfen, führen sie die zurückhaltende „Besonnenheit" Spartas auf „Gutgläubigkeit" und „Unerfahrenheit" zurück45. Der Spartanerkönig Archidamos erkennt in seiner Erwiderung diese Charakteristik an, wendet sie aber ins Positive: „Und wegen des Langsamen und Zögernden, das sie am meisten an euch tadeln, schämt euch nicht . . . Vermag doch dies vor allem wohlüberlegte Besonnenheit (σωφροσύνη Ιμφρων) zu sein; denn nur hierdurch werden wir im Glück nicht übermütig und geben im Unglück weniger nach als die anderen"48. Die Sophrosyne erscheint damit als Grundlage der „guten Ordnung" (εύκοσμον) des spartanischen Staates und Heeres47. So verstanden, erweist sie sich als Gegensatz der demokratischen „Vielgeschäftigkeit" (πολυπραγμοσύνη), in der Thukydides die psychologische Grundlage des athenischen Imperialismus sieht48. In demokratischen Kreisen Athens verliert die Sophrosyne dementsprechend ihre Bedeutung als politische Norm. Nur die traditionell aristokratisch oder spartafreundlich gesinnten Gruppen halten weiterhin an ihr fest.49 Die terminologische Fixierung des Begriffes geht so weit, daß der Ausdruck „besonnene Regierung" in Athen zum Äquivalent für „Oligarchie" werden kann. In diesem Sinne fordert Peisandros gegen Ende des Peloponnesischen Krieges vor der Volksversammlung, man solle „besonnener regieren und in stärkerem Maße die Ämter auf wenige verteilen", um Alkibiades die Rückkehr zu erleichtern und das Vertrauen des Großkönigs zu gewinnen50. Damit ist an der Wende vom fünften zum vierten Jahrhundert der Endpunkt einer Entwicklung markiert, in deren Verlauf der Begriff der Sophrosyne von einer religiös fundierten Norm menschlicher Existenz zum Schlagwort der Tages- und Parteienpolitik eingeengt wurde. Thukydides 1. 68, 1. » Thukydides 1, 84, l f . ; vgl. 8. 24, 4. 47 Thukydides 1. 84, 3. 48 V. Ehrenberg, Polypragmosyne: Α Study in Greek Politics, Journ. of Hell. Stud. 67, 1947, 46—67; auch in „Polis und Imperium", 1965, S. 476: „To Thucydides σωφρονεϊν was almost identical with being a conservative and an enemy of the radical democrats." 49 So ζ. B. Aristophanes, Frösche, V. 727 ff.: των πολιτών β' οΰς μέν ίσμεν ευγενείς καΐ σώφρονα? . . . ττρουσελοΟμεν . . . 6 0 Thukydides 8. 53, 3; vgl. Alkibiades' Rede, 6. 89, 5. 46

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Keuschheit Aber auch der ethische Begriffsinhalt der Sophrosyne erfährt gegen Ende des fünften Jahrhunderts eine weitgehende Relativierung. Wenn Euripides in seinem im Jahre 428 v. Chr. aufgeführten „Hippolytos" den Helden von sich sagen läßt, er „übertreffe alle an Sophrosyne" 61 , dann ist damit nicht mehr eine umfassende Besonnenheit gegenüber Göttern und Menschen gemeint. Hippolytos dient nur noch einer Göttin, der keuschen Artemis. Weil er sein ganzes Leben dem Dienst dieser seiner Herrin geweiht hat, kann sich Besonnenheit für ihn nur in der „jugendlichen Zurückhaltung" und in einem noch spezielleren Sinne in der „sexuellen Enthaltsamkeit" bewähren. Schon bei seinem ersten Auftritt gibt er dem Wort im Bild der „ungemähten Frühlingswiese" diesen Inhalt: „Die Scheu (αιδώς) macht sie blühen mit ihren . . . Tautropfen, und nur wer keiner Unterweisung bedarf, sondern von Natur besonnene Zurückhaltung (τό σωφρονεΐν) in allen Dingen erlangt hat, der darf dort pflücken" 62 . Und noch im Angesicht des bevorstehenden Unterganges bekennt er sich seinem Vater gegenüber zu seinem Ideal: „Vom Liebesgenuß ist bis zu diesem Tage unbefleckt meine Gestalt. Nicht kenn' ich diese Handlung, außer daß ich von ihr sprechen hörte und auf Bildern sah; und auch nicht bin ich begierig, dies zu schaun, weil ich eine jungfräuliche Seele habe. Doch auch mein Besonnen-sein überzeugt dich nicht" 63 . Blumenpflücken ist, wie die Jagd und die Pferdezucht 54 , für Hippolytos Gottesdienst an seiner Herrin Artemis. Als aber Phaidra in ihrer magischen Liebesverbundenheit mit dem jungen Mann dieselben Betätigungen auch für sich wünscht 56 , wird sie von ihrer Dienerin „unsinnig" gescholten und empfindet selbst Scham wegen dieses Verlangens, das ihre unnatürüche Liebe in ihr geweckt hat 66 . Diese gegensätzliche Wertung macht deutlich, daß die Handlungen des Menschen nicht mehr als eindeutig erfahren werden, sondern Wert oder Unwert durch die Gesinnung erhalten, mit der sie ausgeführt werden. Diese Ambivalenz der menschlichen Situation bedingt eine Zweideutigkeit der Sprache. Von der Scheu (αιδώς), der Tugend, auf die Hippolytos vor allem stolz ist, sagt Phaidra: „Zwiefach nämlich ist sie, die eine nicht schlecht, die andere aber eine Last der S1

Hippolytos, Hippolytos, « Hippolytos, M Hippolytos, 56 Hippolytos, 5e Hippolytos,

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V. V. V. V. V. V.

1365: δδ' ό σωφροσύνη πάντα; ύττερσχών . . .; vgl. V. 995; 1100. 78ff. 1003 ff. 61 ff.; 108ff. 208ff.: Wiese; V. 216ff.: Jagd; V. 228ff.: Pferde. 232: . . . ττσράφρων . . .; V. 241; V. 246.

Verstellung der Wahrheit

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Häuser. Wenn aber sicher war' das rechte Maß, wäre sie nicht zwiefach unter gleichem Namen" 57 . Die Unsicherheit der moralischen Maßstäbe wird zum spannungserzeugenden Moment der dramatischen Handlung. Hippolytos verstößt durch seine einseitige Sophrosyne gegen das Gesetz einer anderen Göttin. Er lästert Aphrodite, „sie sei die schlechteste von allen Göttern" 58 , bezichtigt sie, daß sie „den Frauen Übeltaten eingebe" 69 und verweigert ihr mit einer ironischen Bemerkung den Dienst 60 . Auf Grund dieser Hybris, dieses Nicht-besonnen-seins, verfällt Hippolytos der Strafe der Göttin. Um sich an ihm zu rächen, zettelt Aphrodite, wie sie im Prolog verkündet, die unglückselige Liebe der Mutter an und verdirbt ihn schließlich durch den Fluch des eigenen Vaters 61 . Im Sinne der Aphrodite hat Phaidra also recht, wenn sie ihren Tod als Mittel ansieht, Hippolytos' Hochmut zu heilen und ihn Sophrosyne zu lehren82. Die tragische Ironie liegt darin, daß Aphrodites Erziehung zur Sophrosyne sich gerade gegen den wendet, der von sich behaupten darf, er besitze die meiste Sophrosyne unter allen Menschen. „Meiner Ehre zürnte sie, den Besonnenen aber haßte sie", urteilt Artemis in ihrer Schlußepiphanie 63 . So geht Hippolytos an dem Konflikt zugrunde, der in der Zwiespältigkeit der Sophrosyne und der sie vertretenden Götterwelt seinen Ursprung hat.

Verstellung der Wahrheit

Kurz vor seinem Tode hat Euripides in den „Bakchen" (406 v. Chr.) noch einmal die menschliche Verwirrung angesichts der Offenbarung eines Gottes in den Mittelpunkt des dramatischen Geschehens gestellt. Pentheus, der König von Theben, widersetzt sich aus Gründen der Staatsraison der Einführung des Dionysoskultes in seiner Stadt und verkennt den Gott selbst als Unruhestifter und Verführer. Dadurch überschreitet er die Grenzen „des sterblich Denkens": sein Tun zeugt von seinem „unbesonnenen Charakter" 64 . Die eigent57

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Hippolytos, V. 385 ff. B. Snell, Das früheste Zeugnis über Sokrates, Philol. 97,1948, 125—-134 will in dieser Stelle eine Polemik gegen Sokrates' Lehre vom Tugendwissen sehen. Die umgekehrte Interpretation scheint zutreffender zu sein: Die sokratischplatonische Rationalisierung des Tugendbegriffes ist eine Antwort auf solche Sophismen der Irrationalität. Hippolytos, V. 13. Hippolytos' großer Monolog gegen die Frauen, besonders V. 642 f. Hippolytos, V. 113. Hippolytos, V. 6; V. 21; V. 49ff. Hippolytos, V. 730f. 84 Hippolytos, V. 1402. Bakchen, V. 396—401.

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liehe Ursache des Konflikts liegt jedoch nicht in dem persönlichen Versagen des Pentheus. Der Gott selber entzieht sich auf Grund seiner Natur dem Begreifen des menschlichen Alltagsverstandes; daher muß der Mensch, ihm gegenüber seiner gewöhnlichen Orientierungshilfe beraubt, der Verblendung verfallen®6. Die Verwirrung und Zweideutigkeit, der sich die überlieferten Werte dadurch ausgesetzt sehen, manifestiert sich eindringlich in der Sprache. Der Chor bezeichnet die bei klarem Verstände gefaßten Entschlüsse des Pentheus als „widergesetzliche Raserei gegen das bakchische Rasen", während er im gleichen Atemzug den rasenden Kult des Gottes als „verständige Besonnenheit" (γνώμαν σώφρονα) preist66. Das sind für den alltäglichen Wortverstand paradoxe Formulierungen. In ihnen hat das Wissen, daß allein die Anerkennung des Gottes Besonnenheit ist, seine letzte Zuspitzung gefunden. Zugleich macht dieses Paradox jedoch die tragische Verblendung des Menschen verständlich, sein Unvermögen, in der Zweideutigkeit der Welt die Wahrheit zu finden, wovon selbst der alte König Kadmos und der Seher Teiresias nicht ausgenommen sind. So bleibt am Schluß einzig die fromme Verehrung des Gottes durch den Chor der thrakischen Frauen als wahre Besonnenheit in Geltung. Dionysos selbst spricht es in seiner Schlußepiphanie aus, nachdem er Pentheus, Agaue und Kadmos ihrer Strafe zugeführt hat: „Dies verkündige ich, nicht von sterblichem Vater geboren, ich, Dionysos, sondern von Zeus; wenn ihr aber besonnen zu sein erkannt hättet damals, als ihr nicht wolltet, dann hättet ihr, mit dem Sohn des Zeus als Bundesgendssen, die Glückseligkeit erreicht"67. In diesen Worten enthüllt Dionysos mit göttlicher Autorität die Erfahrung, die der Handlung des Dramas zugrunde liegt: Besonnenheit bewährt sich — ganz im Sinne des aischyleischen Begriffs — in der Anerkennung der Götter, das heißt in der Anerkennung der eigenen menschlichen Sterblichkeit. Da diese Erkenntnis dem Menschen aus eigener Kraft nicht mehr zugänglich ist, verfällt er der göttlichen Strafe. Sein Untergang jedoch bestätigt die überlegene Wirklichkeit des Göttlichen. 66

H. Diller, Die Bakchen und ihre Stellung im Spätwerk des Euripides, Abh. Ak. Mainz, geist. u. soz. Kl. 1955, 5 spricht vom Drama des „desorientierten" Menschen (S. 467). ββ Bakchen, V. 997—1004; Text nach der Herstellung von K. Deichgräber, Die Kadmos-Teiresiasszene in Euripides' Bakchen, Hermes 70, 1935, 322—349. Danach ist γνώμαν σώφρονα Apposition zu τάνίκατον. Vgl. auch V. 329, wo die Verehrung des Gottes ebenfalls als Besonnenheit bezeichnet wird: τιμών τε Βρόμιον σωφρουεΐς μέγαν θεόν. · ' Bakchen, V. 1340ff.

Verlust der Tradition

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Verlust der Tradition Das Drama des Euripides ist Symptom für den Verlust der überlieferten Wahrheit, der gegen Ende des Peloponnesischen Krieges in Athen das Verständnis von Sophrosyne kennzeichnet. Der Begriff hat in der alltäglichen Rede seine religiöse Fundierung verloren und ist zum Ausdruck einer sozialen Konvention geworden. Als solcher vermag er sich gegenüber dem Ideal der freien Entfaltung des Individuums, wie es von der jüngeren Sophistik vertreten wird, nicht mehr zu behaupten. Piatons Auseinandersetzung mit den Sophisten gibt eine scharfsinnige Analyse dieser Situation. Im „Gorgias" zitiert Sokrates das Verständnis von Sophrosyne, das ihm das allgemein vorherrschende zu sein scheint: „Ich meine nichts Großartiges, sondern was alle Welt meint, nämlich daß der Besonnene auch der sich selbst Beherrschende ist, indem er über die Lüste und Begierden in sich herrscht"68. Zwar ist hier der restriktive Aspekt der Besonnenheit auf eine rationale Formel gebracht, zugleich aber wird damit auch ein äußerstes Maß an Säkularisierung erreicht69. Der nur noch konventionell beglaubigte Begriff fällt, wie Piaton zeigt, mit unerbittlicher Folgerichtigkeit der rationalen Kritik der jüngeren Sophisten zum Opfer. Ihr Sprecher Kallikles fordert die Befreiung des Menschen von allen Kräften, die ihn unterdrücken könnten: „Denn wie könnte wohl ein Mensch glücklich werden, der irgend jemandem dient"70? „Das Schöne und Gerechte gemäß der Natur" besteht nach Kallikles vielmehr darin, „seine Begierden freizulassen, damit sie möglichst groß sind, und sie nicht zu zügeln, ihnen aber . . . durch Tapferkeit und Verstand zu dienen. . ."71 Die völlige Freiheit des Menschen, die allein sein Glück verbürgt, erfordert vor allem die Beseitigung der sozialen Zwänge, deren stärkster und zugleich subtilster, weil verinnerlichter, die als Selbstbeherrschung verstandene Sophrosyne ist. Indem die Sophisten sie als bloße Konvention (Nomos) entlarven72, erfunden von den einfältigen Toren, um „ihre Ohnmacht zu verbergen"73, und gelobt von der großen Menge „wegen ihrer eigenen Unmännlichkeit"74, glauben sie das Individuum über seine wahre Natur 68

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Gorgias 491 d. Diese δημοτική σωφροσύνη ist für Piaton das Musterbeispiel einer unreflektierten, nur konventionell gesicherten Tugend; vgl. Phaidon 82b; Symposion 196c; Politeia 364a; Nomoi 710a. Schon Antiphon 87 Β 58 (D.-Kr.) hatte die Sophrosyne in dieser Weise definiert. Siehe S. 17 N. 38. Gorgias 491 e. Gorgias 491 e—492 a. 7 Gorgias 492 b. » Gorgias 492 a. Gorgias 492 b; Piaton selbst übernimmt im Phaidon (68 c—69 a) und in der Politeia (430 e) diese Argumente der Sophisten, um zu zeigen, daß die unreflektierte

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aufklären und die alte Gesellschaftsordnung durch die Schaffung eines neuen Bewußtseins ändern zu können. Mit den Argumenten des Kallikles referiert Piaton die philosophischen Theorien, die zu der von Thukydides beschriebenen Zerstörung der griechischen Politik geführt hatten. Für den Historiker war der Verfall der bisher geltenden gesellschaftlichen Ordnung die Ursache der Sprachverwirrung gewesen, der Philosoph weist mit der Darstellung der Machtideologie der jüngeren Sophisten auf die Revolution im Denken hin, die beiden Phänomenen zugrunde Hegt. Thukydides' Analyse findet sich fast wörtlich in der „Politeia" wieder, wo sie in der Theorie vom Wechsel der Staatsformen den Ubergang vom oligarchischen zum demokratischen Staat charakterisiert. Die „lügenhaften und schmeichlerischen Worte" 75 , die die Seele des demokratischen Mannes besetzt halten, „nennen die Scheu Einfältigkeit und verstoßen sie ehrlos als Flüchtling, die Besonnenheit heißen sie Unmännlichkeit, schmähen sie und werfen sie hinaus, Maß aber und geordnete Lebensführung geben sie als bäurisches und unedles Wesen aus und treiben sie über die Grenze mit ihren vielen und unnützen Begierden"76. In diesem bitteren Urteil spricht sich, zu geschichtsphilosophischer Systematik abstrahiert, die Erfahrung aus, die Piaton selbst nach der Vertreibung der Oligarchen und der Wiederherstellung der Demokratie in Athen gemacht hat, als ihm durch die Verurteilung des Sokrates die Korruption dieses Systems bewußt geworden ist. Der Historiker und der Philosoph sind sich in ihrem Urteil darüber einig, daß die Besonnenheit gegen Ende des fünften Jahrhunderts ihre Vorrangstellung als soziale und ethische Norm verloren hat. Für die Praktiker der Macht wie für ihre Ideologen ist sie zur bloßen Konvention geworden, die im Namen des Naturgesetzes überwunden werden muß. Den Einsichtigen jedoch erscheint dieser Verfall als bedrohliches Symptom für die Gefährdung des gesellschaftlichen Ordnungssystems in seiner Ganzheit. Sophrosyne in sich widerspruchsvoll ist. „Denn nur weil sie fürchten, anderer Lüste beraubt zu werden, und weil sie diese begehren, enthalten sie sich der einen, beherrscht von den anderen." (Phaidon 68e). 76 Politeia 560 c. '« Politeia 560 d.

2. Kapitel Drei Definitionen der Sophrosyne Ruhe — Scheu — das Seine tun Aristokratische Pädagogik Charmides, von Sokrates eindringlich nach einer Definition der Besonnenheit gefragt, gibt zunächst nur zögernd1 Auskunft: „. . . Ihm scheine Besonnenheit zu sein, geordnet alles zu tun und ruhig, über die Straße gehen und sich unterhalten, und alles andere ebenso zu machen"2. Die Bedeutung, die das Adverb ,,ruhig" in dieser Bestimmung durch seine betonte Stellung am Ende des ersten Infinitivsatzes gewinnt, wird von Charmides noch unterstrichen, wenn er das Gesagte in einem abstrakten Substantiv zusammenfaßt: „Und mir scheint, ... kurz gesagt, eine gewisse Ruhigkeit das zu sein, wonach du fragst"3. Die zurückhaltende Art, in der diese Aussage gemacht wird4, erweckt den Eindruck, daß der junge Mann nur seine persönliche, unverbindliche Meinung wiedergibt5. Ein Vergleich mit anderen Äußerungen über die Bedeutung der Ruhe als Verhaltensnorm der athenischen Jugend zeigt jedoch, daß die wenigen Sätze ein fest umrissenes Erziehungsprogramm enthalten. In den „Wolken" des Aristophanes tritt als Anwalt der pädagogischen und sozialen Forderungen einer konservativen Oberschicht die „Gerechte Rede" auf: „Nun will ich euch sagen, wie es um die althergebrachte Erziehung bestellt war, als ich, Verkünder des Gerechten, in Blüte stand und die Besonnenheit für Gesetz galt. Da durfte kein unziemlicher Laut von des Knaben Stimme gehört werden; da gingen sie auf den Straßen in wohlgeordneten Reihen zum Musiklehrer . . Die Erinnerung an die alte Zeit, in der eine gute Erziehung sich vor allem in dem zurückhaltenden Auftreten der jungen Leute bewährte, wird von Aristopha1 2 3 4 5 β

Charm. 159 b I f . : „Und er zögerte zuerst und wollte gar nicht antworten . . .". Charm. 159 b 2—5. Charm. 159 b 5f. Beide Male fängt Charmides seinen Satz mit μοι δοκεΐ an. R. Dieterle, 1. c., S. 154: . . vollkommen persönlich geprägt . . .". Aristophanes, Wolken, V. 961 ff.

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nes mit den Neuerungen der Sophisten kontrastiert, als deren typischer Vertreter ihm Sokrates gilt, der dem Inhalt der traditionellen Lebensform verständnislos gegenübersteht und sie dadurch bei der Jugend in Mißkredit bringt. Außer in der eigenen Vergangenheit fand die athenische Aristokratie der Jahrhundertwende auch in Sparta ein Vorbild für die von ihr geforderte Erziehung. In der geschlossenen Gesellschaft des Kriegerstaates hatten sich die überlieferten Verhaltensnormen bis ins vierte Jahrhundert hinein lebendig erhalten, so daß Xenophon seinen athenischen Lesern die spartanische Jugend als Ideal vor Augen führen kann: „Außerdemwollte man ihnen zurückhaltende Scheu nachdrücklich einpflanzen und befahl ihnen daher, auch auf der Straße die Hände im Mantel zu halten, schweigend zu gehen und nirgendwo umherzuschauen, sondern nur vor sich zu sehen. Daran ist auch wohl deutlich geworden, daß das männliche Geschlecht befähigter ist, besonnen zu sein als die weibliche Natur"7. Die Vorliebe für die spartanischen Lebens- und Umgangsformen war auch in der unmittelbaren Umgebung des jungen Charmides milieubestimmend, wie die Schriften seines nur wenig älteren Vetters Kritias erkennen lassen. In dem elegischen Gedicht „Staat der Lakedaimonier" lobt der spätere Tyrann die spartanische Enthaltsamkeit, weil sie die jungen Männer zur Besonnenheit führe8. Zur Bestätigung der von ihm vertretenen Maßethik zitiert er einen Spruch, den er dem Lakedaimonier Chilon, einem der Sieben Weisen, zuschreibt: „Nichts im Übermaß. Im rechten Augenblick ist alles Schöne zugegen"9. Andere unter dessen Namen überlieferte Sentenzen sprechen das von Aristophanes und Xenophon bewunderte Erziehungsideal noch deutlicher aus: „Wenn du trinkst, rede nicht viel, denn du wirst Fehler machen". „Auf der Straße eile nicht hastig vorwärts". „Bewege auch nicht die Hand; denn das ist unbesonnen"10. Der konservativen Pädagogik, die in diesen Regeln zu Wort kommt, gelten Ruhe und Ordnung im öffentlichen Auftreten, Mäßigung beim Symposion und Zurückhaltung im Reden als höchstes Ideal, da diese äußeren Verhaltensweisen als Ausdrucksform und Garanten für die Haupttugend des Menschen stehen, die zwar mit dem Wort „Besonnenheit" bezeichnet, aber in ihrer inneren Wirklichkeit nicht beschrieben werden kann11. Wenn Charmides sagt, Besonnenheit sei 7 8 8 10 11

Xenophon, Staat der Lakedaimonier 3, 4. Kritias 88 Β 6, 15ff. (D.-Kr.). Kritias 88 Β 7, 2 (D.-Kr.). Chilon 10 A 3 y, 2, 17, 18 (D.-Kr.). Das heißt aber nicht, daß damit nicht eine Haltung des ganzen Menschen gemeint ist. Wenn manche Interpreten darin nur ein „äußerliches" Verhalten sehen (ζ. B.

Das goldene Zeitalter und die aristokratische Staatsform

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„geordnet alles tun und ruhig", dann vollzieht er ausdrücklich diese von den anderen vorausgesetzte Gleichung und bekennt sich damit zu den Werten, die er in seiner Erziehung als junger athenischer Aristokrat als verpflichtend erfahren hat. So ist auch die zurückhaltende Art seiner Antworten im Lichte der eigenen Definition nicht so sehr als individuelles Charaktermerkmal zu verstehen, sondern als augenfälliges Zeichen dafür, daß er die Besonnenheit, von der er spricht, auch selber besitzt. Das goldene Zeitalter und die aristokratische Staatsform Das Ideal des „besonnenen Jünglings" steht in einem umfassenderen politischen und religiösen Zusammenhang, innerhalb dessen die „Ruhe", mythisch überhöht, als Privileg eines glücklicheren Menschengeschlechts erscheint. Bei Hesiod zeichnen sich die Menschen der goldenen Rasse dadurch aus, daß sie „ruhig ihre Werke verrichten"12. In dem durch seine Stellung am Versanfang hervorgehobenen Adjektiv faßt der Dichter die Vorzüge des besten Zeitalters zusammen: Die Menschen brauchen sich nicht für ihren Lebensunterhalt abzumühen, denn der fruchtbare Acker trägt ihnen „reichlich von selbst" 13 ; und sie führen keinen Krieg, da sie sich ganz von der Dike leiten lassen. Gerade dadurch unterscheiden sie sich aber vom silbernen Geschlecht, das „von wahnsinniger Hybris gegeneinander sich nicht enthalten konnte"14 und von der ehernen Rasse der Giganten15, „denen nur die seufzerreichen Werke des Ares im Sinne liegen und die Werke der Hybris"16 und die sich darum gegenseitig hinmetzeln17. Friedländer, 1. c., Bd. 2, S. 71), entgeht ihnen die Tiefendimension dieses pädagogischen Ideals. Sie nehmen unbewußt den beschränkten Standpunkt ein, den Sokrates in seiner Widerlegung absichtlich um seines dialektischen Zieles willen wählt. 12 Werke und Tage, V. 119: ήσυχοι Ιργ' ένέμοντο . . . 13 Werke und Tage, V. 117f. Ein solches „Paradies" verspricht noch die „Gerechte Rede" in Aristophanes' Wolken dem Jüngling, der ihr Erziehungsideal annimmt: „Im Hain des Akademos wirst du wandeln, . . . mit schimmerndem Laub bekränzt, an der Seite des besonnenen Freundes, nach Eibe duftend und müßiger Ruhe . . ." (V. 1005ff.). 14 Werke und Tage, V. 134f. J. P. Vernant, Le Mythe H6siodique des Races, Essai d'Analyse Structurale, in Mythe et Pensie chez les Grecs, Paris 1965, S. 19—47 sieht den Unterschied zwischen den Zeitaltern in dem jeweiligen Vorherrschen von Dike oder Hybris. 15 J. P. Vernant identifiziert die Giganten mit der bronzenen Rasse (1. c., S. 31ff.). Giganten wie Bronzemenschen stammen von Eschen ab (Ικ μελιδν, Werke und Tage, V. 145), beide betreiben nichts anderes als Krieg, beide bringen sich gegenseitig um. Sie sind das ganz von der Hybris regierte Geschlecht. 17 " Werke und Tage, V. 145f. Werke und Tage, V. 152ff.

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Die Menschen der goldenen Rasse werden nach ihrem Tode zu guten überirdischen Dämonen. Diese Gunst gewährt ihnen Zeus als „königliches Ehrengeschenk" 18 . Sie sind daher, wenn man den Mythos unter seinem sozialen Aspekt betrachtet, Vorbilder der gerechten Richter und Könige. So kann Hesiod seinen Richtern und seinem Bruder Perseus das Bild einer von gerechten Königen gelenkten Gesellschaft vor Augen halten, die der des goldenen Zeitalters in allen wesentlichen Zügen gleicht: „Die aber gerades Recht sprechen Fremden und Einheimischen und das Gerechte nicht überschreiten, denen gedeiht die Stadt, und die Bevölkerung blüht auf in ihr. Frieden, Jugend nährender, ist über der Erde, und nicht teilt ihnen schmerzvollen Krieg zu der weitblickende Zeus. Auch kommt die gerecht richtenden Männer niemals Hunger an noch Unglück . . . ihnen trägt die Erde reichlichen Lebensunterhalt" 19 . Das Ideal einer gerechten Gesellschaftsordnung im Zeichen der Hesychia ist auch nach Hesiod lebendig geblieben. Pindar sieht in der „Ruhe" eine der Grundlagen des gerecht regierten Staates, für deren Verwirklichung der adelige Herrscher zu sorgen hat. Daher betet er bei der Neugründung der Stadt Aitnai für ihren Gründer Hieron zu Zeus: „Mit deiner Hilfe mag der fürstliche Mann . . . das Volk ehren und es zuwenden einträchtiger Ruhe" 20 . Er lobt den adeligen Herrscher von Kamarina, weil „er sich der städteliebenden Ruhe mit reiner Gesinnung zugewandt" habe21, und seine thebanischen Mitbürger bittet er, „der hochgemuten Ruhe glänzendes Licht" zu suchen und „Bürgerkrieg" zu meiden22. In seiner spätesten uns erhaltenen Ode, der achten Pythischen aus dem Jahre 446 v. Chr., ruft Pindar im Prooemium die Hesychia als Göttin an23. Ihre in traditioneller Form gegebene Aretalogie zeichnet ein vollständiges Bild ihres göttlichen Wirkens, das in wesentlichen Zügen dem des goldenen Zeitalters gleicht. Sie wird angerufen als „städtevergrößernde Tochter des Rechts", der die Entscheidung über Krieg und Frieden zukommt 24 , sie weiß „Mildes" zu wirken und zu leiden. Dem Haß begegnet sie, indem sie den Über18 19 20 21 22

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Werke und Tage, V. 126: . . . γέρας βασιλήιον . . . Werke und Tage, V. 225 ff. Pindar, Pyth. 1, 69 ff. Pindar, Olymp. 4, 16f. fr. 109 (Snell). Vgl. auch Nem. 9, 48: Hesychia beim Symposion. Pyth. 9, 22ff.: Die Nymphe Kyrene, die ihren Herden „ruhigen Frieden" gibt, wird von Apollon zur Stadtgöttin gemacht. Die früheste Personifizierung der Hesychia findet sich in einem Fragment Epicharms (fr. 101 K.), wohl aus der Komödie „Odysseus der Deserteur": „Die Ruhe ist eine angenehme Frau / und der Besonnenheit nahe wohnt sie". Schon bei Epicharm stehen also Hesychia und Sophrosyne in unmittelbarem Zusammenhang. Pindar, Pyth. 8, Iff.

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mut, nach Pindars drastischen Worten, „ins Jauchewasser taucht". Dieser Eingang gewinnt vom Schluß der Ode her eine aktuelle politische Bedeutung als Mahnung an Ägina, innere Ruhe und Frieden zu wahren 25 und sich von der Oberherrschaft des demokratischen Athen zu befreien. Wie der politische Kontext erhellt, ist die Ruhe, in Fortsetzung der mythischen Tradition, zum Kennzeichen der aristokratischen Staatsform geworden. Zu ihr bekennt sich Pindar auch persönlich, wenn er in seiner „Selbstverteidigung" der Tyrannei einerseits und dem Neid der Menge andererseits eine „mittlere" Lebensform gegenüberstellt: „Wenn jemand das Höchste ergreift und es ruhig verwaltet, dann ist er dem verderblichen Übermut entgangen" 28 . Die wiederholte Gegenüberstellung mit der Hybris beweist, daß der Ruhe in der von Pindar gepriesenen vollendeten Aristokratie dieselbe zentrale Funktion zukommt, die in der Poliskonzeption des Aischylos die Sophrosyne einnimmt. Charmides hat also auch in diesem umfassenderen Sinne recht, wenn er die Besonnenheit als Ruhe definiert.

Ruhe als politisches

Programm,

Gegen Ende des Jahrhunderts siedelt Aristophanes die Ruhe in seiner Stadt der Vögel an; in „Wolkenkuckucksheim" sollen „Weiss'6 So R. W. B. Burton, Pindar's Pythian Odes, Oxford 1962, S. 176. 26 Pyth. 11, 52ff. V. 54f. ist das überlieferte φθονεροί 5' άμύνοντ' &l~r