Mythologie und Vernunft: Vier philosophische Studien zu Friedrich Hölderlin 9783110942187, 9783484320659

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Mythologie und Vernunft: Vier philosophische Studien zu Friedrich Hölderlin
 9783110942187, 9783484320659

Table of contents :
Vorwort
Erste Studie: Das „Seyn schlechthin“. Hölderlins „neu-mythische“ Ontologie diesseits des deutschen Idealismus
(1) „Hyperion“ (metrische Fassung); „Urtheil und Seyn“
Exkurs: Die „intellectuale Anschauung“
(2) „Über Religion“
(3) „Über den Unterschied der Dichtarten“ und „Das Werden im Vergehen“
(4) Der „mythische Zustand“ und die Mythe
Zweite Studie: Hölderlins „Rehabilitierung des Mythos“
Exposition: Zur Faszination des Mythos in der Moderne
(1) Die Konturen der ‚alten‘, mythischen Ontologie
(2) Hölderlins ,neu-mythische‘ Ontologie
(3) Die ‚alte‘ und die ,neue‘ ,mythische Ontologie‘ im Vergleich
Dritte Studie: „An sich, kein Ich“. Zu Hölderlins philosophischem Gottesverständnis
(1) Gott – „an sich, kein Ich“
(2) Die Themenschwerpunkte im ,Bundesbrief‘
(3) Die ,Leitmotive‘ in Hölderlins Briefen an seinen Halbbruder
(4) „A deo principium“: eine systematische Interpretation der ,Bundesformel‘
Vierte Studie: Traditionsgeschichte ,nach vorwärts‘: Hölderlin im Verhältnis zu Heidegger, Bloch und Derrida
(1) Hölderlin und Heidegger: das ‚weltliche‘ Dasein und das ,Denken des Seins‘
(2) Hölderlin und Bloch: Der ,Wille zur Utopie‘ und sein ontologisches Korrelat
(3) Hölderlin, Derrida und das Denken der Zukunft
Literaturverzeichnis

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 65

Uwe Beyer

Mythologie und Vernunft Vier philosophische Studien zu Friedrich Hölderlin

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Denen, die in der Liebe leben.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Beyer, Uwe: Mythologie und Vernunft : vier philosophische Studien zu Friedrich Hölderlin / Uwe Beyer. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 65) NE:GT ISBN 3-484-32065-6

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Erste Studie: Das „Seyn schlechthin". Hölderlins „neu-mythische" Ontologie diesseits des deutschen Idealismus (1) „Hyperion" (metrische Fassung); „Urtheil und Seyn" Exkurs: Die „intellectuale Anschauung" (2) „Über Religion" (3) „Über den Unterschied der Dichtarten" und „Das Werden im Vergehen" (4) Der „mythische Zustand" und die Mythe Zweite Studie: Hölderlins „Rehabilitierung des Mythos" Exposition: Zur Faszination des Mythos in der Moderne (1) Die Konturen der ,alten' »mythischen Ontologie (2) Hölderlins ,neu-mythische' Ontologie (3) Die ,alte' und die ,neue' ,mythische Ontologie' im Vergleich

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Dritte Studie: „An sich, kein Ich". Zu Hölderlins philosophischem Gottesverständnis 104 (1) Gott - „an sich, kein Ich" 106 (2) Die Themenschwerpunkte im ,Bimdesbrief 109 (3) Die ,Leitmotive' in Hölderlins Briefen an seinen Halbbruder 114 (4) „A deo principium": eine systematische Interpretation der ,Bundesformel' 130 Vierte Studie: Traditionsgeschichte ,nach vorwärts': Hölderlin im Verhältnis zu Heidegger, Bloch und Derrida 147 (1) Hölderlin und Heidegger: das .weltliche' Dasein und das ,Denken des Seins' 150

(2) Hölderlin und Bloch: Der , Wille zur Utopie' und sein ontologisches Korrelat (3) Hölderlin, Derrida und das Denken der Zukunft

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Literaturverzeichnis

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Vorwort „Ich halte es für grotesk, daß er Mythen gebildet haben sollte." Martin Waiser über Hölderlin (1970)

„Wir müssen die Mythe nemlich überall beweisbarer darstellen." Hölderlin (Wohl Herbst 1803? Die Aufforderung, Mythos und Logos nicht, wie es traditionsgeschichtlich weit über die Wende zum neunzehnten Jahrhundert hinaus die Regel war, gegeneinander auszuspielen, hier die Lügengeschichte und dort die wahre Rede zu hören, findet sich vorformuliert im sog. »Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus'. Denn in diesem wohl 1796/97 entstandenen, uns nur in der Handschrift Hegels und in fragmentarischer Gestalt überlieferten Text, wird nach einer .Mythologie der Vernunft* verlangt. Jenseits (besser: diesseits) der heute wohl auch gar nicht mehr beweiskräftig zu beantwortenden Frage, wer denn der ,eigentliche Autor* dieses Textes sei (insbesondere Hegel, Schelling und Hölderlin werden hier als Kandidaten genannt), soll im vorliegenden Buche der Versuch unternommen werden, systematisch zu zeigen, weshalb und in welcher Weise sich Hölderlin der Aufgabe angenommen hat, Mythologie und Vernunft philosophisch begründet zu vermitteln; und welche neuen Perspektiven sich aus dieser Leistung für die Wahrnehmung des Hölderlinischen Werkes wie überhaupt für gegenwärtige und zukünftige philosophische und theologische Diskurse ergeben können. Die folgenden vier Studien kreisen mit einem jeweils neuen Schwerpunkt um die ontotheologische Frage, wie Hölderlin das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem, wie er das Beziehungsgeflecht von Gott, Welt und Mensch sich denkt. Dabei ist jede Studie als eine in sich geschlossene Sinneinheit konzipiert, die aber, ihrer inneren Logik gemäß, zugleich auf die folgende(n) vorausweist. l Martin Waiser. Hölderlin zu entsprechen. In: ders.: Wie und wovon handelt Literatur. Frankfurt/Main 1973, S. 42-66. Zitat S. 61 — Hölderlin zitiere ich unter Angabe von Band-, Seiten- und Vers- bzw. Zeilenzahl nach der Großen Stuttgarter Ausgabe in acht Bänden, hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1946-1985. Zitat hier: 5; S. 268 Z. llf.

In diesem Sinne bietet die erste Studie die Grundlegung. Durch einen historisch-systematischen Bezug vor allem auf theoretische Texte Hölderlins aus den Jahren 1794-1800 zeigt sie in Form von Analysen und Vergleichen, wie Hölderlin eine eigene ,Seinslehre' entwickelt, und weshalb sie als eine ,neu-mythische Ontologje diesseits des deutschen Idealismus' charakterisiert werden kann. Die zweite Studie präzisiert und vertieft die Einsicht, daß Hölderlins Abwendung vom (subjektiven) Idealismus zugleich eine philosophische Hinwendung zum Mythos bedeutet. Denn sie fragt danach, inwiefern Hölderlin den Mythos rehabilitiert und dabei mit dem Logos vermittelt; mithin danach, was ,neu' ist an seinem mythischen Denken. Schon in dieser Studie deutet sich an, daß Hölderlin ein ungewöhnliches Gottesverständnis entwickelt, welches sich den traditionellen mythischen und metaphysischen Vorstellungen von einem Subjekt als handelnder Ursprungskraft widersetzt. In der dritten Studie wird deshalb Hölderlins brieflich geäußerte Auffassung, daß Gott „an sich, kein Ich" (6,1; S. 419 Z. 42) sei, zum Ausgangspunkt einer systematischen Erörterung seines philosophischen Gottesverständnisses genommen. Vor allem wird danach zu fragen sein, wie und in welchen Weisen ein ,subjektloser Gott' zu wirken vermag, und in welchem Verhältnis ,er' zu den .Göttern' steht, von denen in Hölderlins Dichtungen so oft die Rede ist. In der vierten Studie geht es darum, die zuvor schrittweise gewonnene Wahrnehmung von Hölderlin als einem frühen, konstruktiven Kritiker der Moderne, der klar die theoretischen Schwächen des verabsolutierten Logos-Denkens analysiert, nun ihrerseits ,nach vorwärts' zu verstehen. Daß Hölderlin hier nicht nur »Vorarbeit' geleistet hat, die seither von anderen fortgesetzt, variiert, differenziert, verbessert und aus dem jeweiligen Zeitgeist heraus erneuert worden ist; sondern daß er zum Teil auch stringenter als die Späteren gedacht hat, weshalb sein Denken noch immer zukunftsweisende Impulse für philosophische Diskurse geben kann: das sollen systematische Vergleiche mit Theoremen Blocks (das ontologische Korrelat der Utopie) und Derridas (das Denken der „difference") zeigen. Und freilich wird in diesem Zusammenhang auch auf Heidegger Bezug zu nehmen sein als auf jenen Denker, der — nach seinen eigenen Auskünften — Hölderlin wesentliche Impulse verdankt für seine Konturierung einer ,Geschichte des Seins'. Im Vergleich der Positionen Hölderlins und Heideggers von Hölderlin her wird besonders deutlich werden, daß es eine systematische Bezugnahme,nach vorwärts'ist — also

eine, die sich nicht von Heideggers expliziter Bezugnahme auf Hölderlin die Kriterien vorgeben läßt —, welche bislang verdeckte, auch von Heidegger selbst umschwiegene Aspekte der traditionsgeschichtlichen Beziehung zwischen ,Dichter' und ,Denker' sichtbar macht: d.h. neue Aspekte auf zuweisen vermag und zugleich andere, die Heidegger selbst für sich in Anspruch nimmt, fragwürdig werden läßt. Forschungsgeschichtlich sollen die vier Studien zusammen eine Reihe von Desideraten auszugleichen helfen. Das Buch im Ganzen möchte — wie sein Titel programmatisch andeutet — Hölderlins Denken als einen rationalen Versuch vorstellen, wie eine in ihrer Art unkonventionelle, tief religiöse Wahrnehmung des Menschen im Zusammenhang mit seiner jeweiligen Lebenswelt begründet werden kann und in Gestalt einer ,neu-mythischen' Geschichtsschau zur Anwendung kommt. Zu den Desideraten zählen nicht allein die Vergleiche mit Heidegger, Bloch und Derrida; sondern auch die Analysen zum .subjektlosen Gott* und zu Hölderlins spezifischer »Rehabilitierung des Mythos' wie zu der Frage, ob Hölderlins theoretischer Begriff des Mythischen mit seiner poetologischen Praxis, neue Mythen zu dichten, korrespondiert. Dieser Befund ist auch für sich genommen schon bemerkenswert insofern, als (1) Hölderlins Denken doch bereits früh, nämlich in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, als ein .mythisches' charakterisiert worden ist, und (2) seit wenigstens zwei bis drei Jahrzehnten nun der Mythos generell in der Forschung wieder an Faszinationskraft und dementsprechend an Aktualität gewinnt, und man dabei verstärkt auf rationale Weise nach seiner „Wahrheit" fragt; sei es, daß man diese „Wahrheit" mit Claude Levi-Strauss strukturalistisch versteht als eine logische, dergemäß der Mythos ein ,Sprachspiel' ist, mit dem lebensweltliche Erfahrungen in eine epistemische Ordnung gebracht werden, sei es, daß man diese ,Wahrheit' mit Kurt Hübner gar ontologisiert, also die Möglichkeit nicht ausschließt, daß tatsächlich der Mythos als Erzählung von den Göttern wesentlich durch die Erfahrung numinoser Kräfte motiviert worden ist. Aber die moderne MythosForschung kommt bisher kaum auf Hölderlin zu sprechen.2 Und die 2 Vgl. Die Ausführungen und Literaturangaben in der zweiten Studie und weiter: Renate Schlesier (Hrsg.): Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen. Frankfurt/Main 1985; Hermann Schrödter (Hrsg.): Die neomythische Kehre. Aktuelle Zugänge zum Mythischen in Wissenschaft und Kunst. Würzburg 1991; Christoph Jamme: „Gott an hat ein Gewand". Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt/Main 1991; Eberhard Jüngel: Die Wahrheit des Mythos und die Notwendigkeit der Entmythologisierung. In: Hölderlin-Jahrbuch 27, Stuttgart 1991, S. 32-50 (vgl. dort auch die Beiträge

Hölderlin-Forschung scheut sich offenbar noch immer weitgehend davor, das Mythische bei Hölderlin im Ganzen (wieder) anders als nur am Rande und im engeren traditionsgeschichtlichen Bezug auf die frühromantische Schwärmerei von einer ,neuen Mythologie' in der Zeit um 1800 hervorzuheben. Doch es hat freilich seinen Grund, weshalb es auch heute nicht leicht fällt, Hölderlin ausgerechnet als mythischen Denker wieder: zu empfehlen. Denn rezeptionsgeschichtlich ist die erste große Phase der Wirkung Hölderlins, wenn nicht geprägt, so wenigstens überschattet durch die Stilisierung des Dichters zum heroischen Künder und mythischen Seher zukünftigen deutschen Heiles. Hölderlin wurde im Kontext des Ersten Weltkrieges von den Deutschnationalen, im Kontext des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten und ihren jeweiligen .wissenschaftlichen Assistenten', zur Lichtgestalt erhoben, welche den Krieg verherrlichte und den Sieg versprach. Er sollte es sein, der ,die Geheimkunde von deutscher Zukunft' bringt, die Botschaft, welche lautet: „Vergöttlichung eines ganzen Volkes im Krieg."3 Von ihm glaubte man, er habe seine Dichtung „als Mythos im höchsten Sinne (,) verstanden", denn er habe sie empfangen „aus der göttlichen Natur; das macht ihn, über die Jahrtausende hinweg, zum Angehörigen einer erleuchteten Urzeit."4 von Manfred Frank und Maria Behre); Raimon Panikhar: Rückkehr zum Mythos. Frankfurt/Main und Leipzig 1992. — Hübner bemerkt zur ontologischen ,Wahrheit des Mythos': „Heute haben wir einige Schwierigkeiten, dies einzusehen, weil die Götter aus unserem Leben entschwunden sind und nur verstreute und dunkle Vorstellungen von ihnen zurückblieben." (Kurt Hübner: Die moderne MythosForschung — eine noch nicht erkannte Revolution. In: Dieter Borchmeyer (Hrsg.): Wege des Mythos in der Moderne. München 1987, S. 238-259, Zitat S. 253). 3 Max Kommereil: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Berlin 1928, S. 474. 4 Walter F. Otto: Die Berufung des Dichters. In: Paul Kluckhohn (Hrsg.): Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag. Tübingen 1943, S. 203-223. Zitat: S. 217. Vgl. des weiteren zu dieser Rezeptionsstufe z.B.: Wilhelm Michel: Der Mensch versagt. Berlin 1920. Ders.: Hölderlins Wiederkunft. Wien 1943. Paul Kluckhohn und Friedrich Beißner (Hrsgg.): Iduna. Jahrbuch der Hölderlin-Gesellschaft. 1. Jahrgang. Tübingen 1944 (besonders die Beiträge vom Präsidenten Gerhard Schuhmann und von Paul Kluckhohn selbst); vgl. auch die frühe kritische Stimme von Emil Staiger: Hölderlin-Forschung während des Krieges. In: Trivium 4, 1946, S. 202-219. Zur Hölderlin-Rezeption in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges vgl. den grundlegenden Beitrag von Norbert Rath: Kriegskamerad Hölderlin. Zitate zur Sinngebungsgeschichte. In: Uwe Beyer (Hrsg.). Neue Wege zu Hölderlin. Würzburg 1993 - Zur grundlegenden Information über Literatur zu Hölderlin empfiehlt sich die Internationale Hölderlin-Bibliographie (IHB), hrsg. vom Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. Der erste Band (bearbeitet von Marianne Kohler) ist 1985 erschienen und erfaßt die Zeit von 1804 bis 1983; ihm ist 1991 der zweite Band (bearbeitet von Werner Paul Sohnle und Marianne Schütz)

Durch die verzehrende Gewalt der Feuerzeichen, welche das herrische Verlangen nach imperialer Macht in das Buch der Weltgeschichte setzte, verglühte der schlichte Sinn jener Signifikanten, in denen Hölderlin seine eigentliche Botschaft für „Germanien" verkörpert hat: daß nämlich „Bei deinen Feiertagen/Germania, wo du Priesterin bist/(Du) [...] wehrlos Rath giebst rings/Den Königen und den Völkern." (2,1; S. 152 vs. 109-112; Hervorhebung von mir, ÜB) Und wo man „Urzeit" assoziiert, wenn man Hölderlin mit dem Mythos in Verbindung bringt, übersieht man archaisierend die neue, die philosophische Rechenschaft garantierende Qualität des mythischen Denkens bei Hölderlin, die Vermittlung von ,Mythos und Logos', das leitende Ansinnen, „die Mythe nemlich überall beweisbarer dar(zu)stellen" (5; S. 268 Z. llf). Diese .barbarische' Art, Hölderlins Denken als »mythisches1 zu feiern, dürfte auch nicht schuldlos daran sein, daß alsbald das Pendel ins andere Extrem ausschlug. Nun sollten Hölderlins Denken und der Mythos unvereinbar miteinander sein. So konstatierte 1963 Th. W. Adorno, daß Hölderlin „in objektivem Einverständis mit Aufklärung" sei und „gegen Mythik und Romantik" die „Reflexion"5 setze. Martin Waisers 1970 gegebene Einschätzung findet sich eingangs schon zitiert. 1973 schließlich erscheint ein Sammelband, der schon im Titel die Tendenz solcher Deutungsmuster auf den Punkt bringt: „Hölderlin ohne Mythos".6 Jedoch: der Gedanke eines .Hölderlin ohne Mythos' ist wie — ja, wie ein Philosophieren ohne Liebe zur Weisheit. Man mag es für .grotesk' halten, wen und was Hölderlin zur Mythe verdichtet: den realgeschichtlich recht unbedeutenden Frieden zu Luneville vom 9. Februar 1801 beispielsweise; oder Jesus Christus, der bei Hölderlin zum Halbgott wird, Zeus zum Vater, Herakles und Dionysos zu Brüdern bekommt. Aber Hölderlin dichtet so gewiß Mythen, wie er ,Mythik' und Reflexion', Aufklärung und Wiederverzauberung der Welt vermittelt. Wie und weshalb das vor sich geht, und was daran vielleicht nicht nur bemerkenswert, sondern für das Denken von heute und morgen auch gefolgt, der den Zeitraum von 1984-1988 dokumentiert. Aktualisierungen durch Folgebände sind geplant. 5 Th. W. Adorno: Parataxis. In: Noten zur Literatur III. Frankfurt/Main 1965, S. 156-209. Zitate: S. 204, 206. Bei Adorno wird leider auch allzuoft deutlich, daß er seinen Aufsatz weniger aus Interesse für Hölderlin denn aus Ressentiment gegen den (besseren) Hölderlin-Kenner Heidegger schreibt. So meint er: „Aus Komplizität mit dem Mythos preßt Heidegger Hölderlin zum Zeugen für jenen und präjudiziert durch die Methode das Ergebnis." (S. 173). 6 Hg. von Ingrid Riedel. Göttingen 1973.

empfehlenswert sein mag, ohne daß gleich die Erwartung eines ,Heils' sich mit solchen Hinweisen verbindet: davon handelt dieses Buch.

Meinen herzlichen Dank möchte ich an dieser Stelle aussprechen: Frau Angelika Schmitz, die meine Arbeit durch viele konstruktive Gespräche begleitet und durch kritische Lektüre gefördert hat; FrauBirgitta Zeller, die sich als Lektorin für die Veröffentlichung der folgenden Studien im Tübinger Niemeyer Verlag eingesetzt hat; Frau Dagmar Herms, Herrn Jürgen Brandes und Herrn Klaus Dreyer, die so freundlich waren, hilfreich und zuverlässig die Druckvorlage für dieses Buch zu erstellen.

Das „Seyn schlechthin". Hölderlins »neu-mythische' Ontotogie diesseits des deutschen Idealismus

In den Jahren 1794/95 — 1800 hat Hölderlin schrittweise eine eigene Ontologie diesseits des deutschen Idealismus entwickelt. Diesseits: denn diese Ontologie ist entstanden in (gewisser) Kenntnis und (zunehmender) Distanz zu Kant und vor allem Fichte, doch auch zu Schelling und Hegel, den Studienfreunden Hölderlins. In Anlehnung an Hölderlins eigene Wortwahl wie an die Terminologie im sog. „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus" kann diese Ontologie nun als eine ,neu-mythische' bezeichnet werden. Im Fragment „Über Religion" (das wahrscheinlich im Winter 1796/ 1 97 entstanden ist) entwickelt Hölderlin den primär hermeneutischen Begriff der Mythe; im gleichfalls fragmentarischen Text über „Das Werden im Vergehen" (der wohl 1799/18002 geschrieben wurde) konturiert Hölderlin den vorrangig ontologischen Begriff vom „mythischen Zustand". Der Autor des wohl 1796/973 entstandenen Systemprogramms' spricht die Forderung nach einer „neuen Mythologie" aus. Freilich: bei den drei genannten Texten und den ihnen entlehnten ,Schlagworten' kann nicht selbstverständlich davon ausgegangen werden, daß sie sich fugenlos verbinden lassen. Es bedarf historischer und systematischer Differenzierungen und Erläuterungen, damit die folgenden, anhand der genannten Texte zu erläuternden Thesen einsichtig werden können: — gemäß Hölderlins Ontologie vermag das Sein (welches sich me1 Vgl. zur Datierung des Aufsatz-Fragments: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke (.Frankfurter Ausgabe'; FHA), Bd. 14: Entwürfe zur Poetik, hrsg. von Wolfram Groddeck und D. E. Sattler, Frankfurt/Main 1979, S. llf. 2 „Das Werden im Vergehen" ist laut Sattler wohl um „die Jahrhundertwende" entstanden (FHA Bd. 14 S. 135). 3 Vgl. zur Datierung des .Systemprogramms': Christoph Jamme und Helmut Schneider (Hrsg.): Mythologie der Vernunft. Hegels .ältestes Systemprogramm' des deutschen Idealismus. Frankfurt/Main 1984, S. 36^4.

dial in der Vielfalt der Seienden und deren Beziehungen zueinander manifestiert) nicht begrifflich erfaßt und fest-gestellt, sondern nur durch das ,neu-mythische' Erzählen seiner eigenen Geschichte beschrieben zu werden. Denn dieses Sein ist transzendental ein zeitliches, d.h. es manifestiert sich in einer Folge von unterschiedlichen, je geschichtlich-konkreten ,Welten'. Der Übergang von ,Welt' zu ,Welt' vollzieht sich jeweils in einem „mythischen Zustand." — Jede dieser , Welten' ist eine Sphäre konkreter Lebenszusammenhänge. Als adäquate Diskursform, um Aussagen über den ,Seinssinn' (die Weise, wie Sein konkret sich zeigt) einer solchen Sphäre machen zu können, nennt Hölderlin die „Mythe"; sie gilt ihm als Erzählung, in der empirische Ereignisse transzendental gedeutet werden. — Die „neue Mythologie" Hölderlins ist in wesentlicher Hinsicht das Resultat, die Anwendung der philosophischen Reflexionen über den zeitgenössischen ,subjektiven Idealismus*. Sie manifestiert sich in den poetischen Bildern der Dichtungen, in den mythographischen Darstellungen von Natur und Kultur, wie sie vor allem in den späten Elegien und Hymnen nach 1800 begegnen. „Mythe" und „mythischer Zustand" sind Begriffe, die in Hölderlins Texten selbst begegnen, und denen Hölderlin dort einen eigenen, hölderlinischen, Sinn verleiht. Die Forderung nach einer „neuen Mythologie" ist indessen in Hölderlins Handschrift nicht überliefert. Das »Systemprogramm' in der heute einzig noch vorliegenden, fragmentarischen Textgestalt ist von Hegel notiert worden, und beim gegenwärtigen, auf hohem Niveau angesiedelten Stand der Forschung erscheint es am plausibelsten, nicht Hölderlin, Schelling oder einen unbekannten Vierten, sondern eben Hegel auch als den Autor dieses Textes anzusehen.4 Doch in der Forschung wird allgemein nicht in Abrede gestellt, daß im Systemprogramm' insbesondere die zur Ästhetik vertretenen Thesen mit parallel (nämlich im ersten Band des „Hyperion" formulierten) Gedankengängen Hölderlins korrespondieren.5 Solche Zu-

4 Vgl. dazu: lamme/Schneider (1984), S. 21-75 und S. 263-266, wo die Hrgg. die Diskussion um das .Systemprogramm' von 1917-1984 umfassend bibliographisch dokumentieren. 5 Vgl. z.B. Jamme/Schneider (1984), S. 45-53 und S. 57 f. Die Herausgeber halten Hegel für den Autor. Vgl. ferner: dies.: Der Weg zum System. Materialien zum jungen Hegel. Frankfurt/Main 1990, S. 29-32; Franz Rosenzweig: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Jamme/Schneider (1984), S. 79-125, bes. S. 119 f (Rosenzweig plädiert für Schelling als Autor); Otto Pöggeler: Hegel, der

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sammenhänge erlauben es, die Forderung nach einer „neuen Mythologie" als (auch) im Sinne Hölderlins, nämlich vor dem Hintergrund auch seiner eigenen Überlegungen als sinnvoll gestellt zu verstehen. Im Systemprogramm' besitzt diese Forderung vor allem eine pädagogische Konnotation. Hegel notiert: „Die Poesie bekömt dadurch (ein)e höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war Lehrerin der (Geschichte) Menschheit; [...] wir müßen eine neue Mythologie haben, [...] sie mus (ein)e Mythologie der Vernunft werden."6 In diesem Kontext (darauf deuten auch die dem Zitat folgenden Sätze im Systemprogramm' hin) scheint die „neue Mythologie" nur Mittel zum Zweck der (Volks-)Erziehung zu sein und unter der Vormundschaft der Philosophie zu stehen: was den Gebildeten aus Vernunftgründen, durch abstrakte Gedankengänge einsichtig gemacht werden kann, hätte sie dem Volk anschaulich zu vermitteln.7 Ob mehr als ein solches Kalkül die Forderung motiviert, läßt sich textimmanent wohl nicht erschließen: die de facto ungeklärte Autorschaft, die fragmentarische Gestalt und die thesenartige, apodiktische Diktion des Textes stellen auch sehr ungünstige hermeneutische Bedingungen für eine sichere Klärung dieser Frage dar. Anders verhält es sich in Bezug auf Hölderlins eigene Texte. Aus ihnen wird deutlich, daß die Forderung nach einer „neuen Mythologie" (soll sie im Sinne Hölderlins verstanden werden) ontologisch motiviert ist und sich gegen das Axiom jener philosophischen Strömung richtet, die Hölderlin als so faszinierend wie bedrohlich empfand und die in seinem geistigen Umfeld des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts in ihrer Art die dominierende war. Diese philosophische Richtung ist der subjektive Idealismus. Ihr Axiom lautet: das transzendentale Ego des Menschen ist der Ursprung des Wissens um sich selbst (Selbstbewußtsein, Ich) und die ,Welf (Bewußtsein von dem, was Nicht-Ich ist). Hölderlin dagegen gelten die menschliche Subjektivität und das begriffliche Denken der Philosophie als Sekundärphänomene. Was Hölderlin im ersten Band des „Hyperion" über den epistemischen Rang der Philosophie sagt, läßt sich in diesem Sinne analog auf seine (ontologische) Einschätzung der conditio humana beziehen: die PhiloVerfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus, in: Jamme/ Schneider (1984), S. 126-143, bes. S. 127-129,135 f, 138-142. 6 Das „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus", verso, Z. 8 f, 17-19. Zit. nach Jamme/Schneider (1984), S. 13. 7 Gedacht ist hier z.B. an die Axiome von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Vgl. verso, Z. 29 f

sophie entspringe „aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End' auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen." (Hyp. I, OriginalPaginierung S. 144 Z. 13-15) Das „Seyn" ist jene (ihrerseits voraussetzungslose) transzendentale Instanz, in der die (Einzel-) Existenz und Erkenntnisfähigkeit des Menschen gründen und auf die sie stets bezogen sind. In diesem Sinne ist das „Seyn" als Dichtung aktivisch zu verstehen, ist ,Dichtendes' (genitivus subjectivus). Das „Seyn" ist aber auch die „geheimnißvolle Quelle der Dichtung" (diese nun poetologisch als eine Diskursform verstanden). Insofern ist das „Seyn" gedichtetes' (genitivus objectivus). Auch wenn sie sich formalsprachlich der gleichen Kategorien bedient (z.B. der grammatikalischen Einheiten: Subjekt, Prädikat, Objekt), sagt die Dichtung qualitativ anderes aus als jene Wissenschaft. Mit der Philosophie — so Hölderlin — könne „man bestimmen, [...] zergliedern." (ebd.; S. 145 Z. 16f): d.h. durch den begrifflichen Bezug auf Seiendes Abgrenzungen vornehmen, im Urteil ,Einzel-heiten' analysieren. Das Dichten versteht Hölderlin demgegenüber als ein synthetisierendes' Verfahren, als sprachliche ,WiederHolung' dessen, was als Un-Bestimmtes der Zergliederung vorausliegt und sie bedingt. Die Dichtung gründet in einem intuitiven, vorreflexiven Bezug zum „Seyn". Sie nimmt Subjekt und Objekt nicht als „das Unvereinbare" wahr wie die »zergliedernde' Philosophie, sondern als ursprüngliche Einheit. Diese Einheit nennt Hölderlin „Seyn". Mit der doppelwertigen Genitiv-Formulierung („Seyns") spricht Hölderlin der Dichtung einen ontosemantischen Charakter zu. Dies gilt in zwei Haupthinsichten. (1) Das „Seyn" dichtet. Diese Hinsicht laßt sich ihrerseits in zwei Aspekte differenzieren, (a) Das „Seyn" konstituiert die menschliche Existenz, (b) Es verfügt die konkreten Bedeutungszusammenhänge, in die jeder Mensch als in seine Lebenswelt eingebunden ist. (2) Das „Seyn" zeigt sich in der Dichtung als in einer Diskursform, d.h.: poetisch kann seine Intentionalität in die semantischen Bezüge der menschlichen Sprachstrukturen ,übertragen' werden. Das poetische Erfassen solcher Bedeutungen mündet dabei nicht in ein positives yWissen' ein. Einer solchen Verendlichung des Unendlichen widerspricht die Unverfüglichkeit des „Seyns" und entsprechend der relationale Charakter der menschlichen .Subjektivität'. Im gegebenen Kontextverdeutlicht Hölderlin dies durch die ,Seinsprädikationen' „unendlich", „göttlich", „geheimnisvoll". Liest man nun die zuvor zitierten Sentenzen aus dem ,Systempro10

gramm' als einen historisch-systematischen Kontext von Hölderlins Darlegungen im „Hyperion", wird man diesen Sentenzen wohl eine ontologische Konnotation zusprechen können. Was die Poesie der Menschheit demgemäß vor allem zu lehren hätte, was sie allen (auch den Gebildeten) vermitteln müßte: das wäre „die höhere Aufklärung, die uns größtentheils abgeht." (4,1; S. 277 Z. 28f)8 Sie würde darüber unterrichten, daß der Mensch kein autonomes Subjekt ist, welches sich und seine ,Welt' (Nicht-Ich als bewußtseinsmäßig wahrgenommene äußere Realität) aus eigenem Vermögen konstituiert, sondern daß ,Mensch und Welt' in Wechselbeziehung zueinander stehen und genuin das Eine sind: „Seyn, im einzigen Sinne des Worts" (3; S. 237 Z. 4) Diese Aufklärungsarbeit zu leisten und in Form von neuen Mythen den modernen, ,aufgeklärten' Menschen einsichtig werden zu lassen, daß ihr Denken und Handeln die Manifestation eines genuin subjektlosen, alldurchwirkenden Seins an sich selbst ist9: dies kann hier als die wesentliche pädagogische Aufgabe der Poesie verstanden werden; es ist die Aufgabe, welche in der Gestalt einer „neuen Mythologie" zu erfüllen wäre. Soll diese Mythologie kulturgeschichtlich nicht eine schlichte Regression, soll Hölderlins Ontologie nicht de facto eine jenseits des deutschen Idealismus sein: dann steht zu erwarten, daß die ,neumythische' Erzählung vom „Seyn" sich aus philosophischen Argumenten gegen den Idealismus zu legitimieren vermag und (vielleicht) ihrerseits die Philosophie methodisch als integrativen Bestandteil enthält. Die jSystemprogramm'-Formulierung „Mythologie der Vernunft", ,hölderlinisch' gelesen, deutet in diese Richtung; ebenfalls Hölderlins oben

8 Sofern nicht anders angegeben, zitiere ich Hölderlin nach ders.: Sämtliche Werke, Große Stuttgarter Ausgabe in acht Bänden (StA), hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1946-1985. 9 Hölderlin entwickelt eine monistische Ontologie, dergemäß alles Seiende funktional als Modus des Seins zu verstehen ist. Deutlich spricht sich dieses Verhältnis in einem Brief an Karl Gock vom 4. Juni 1799 aus. Dort erklärt Hölderlin, daß die Natur (in diesem Kontext: ein Synonym für das Sein) den Menschen „als ein mächtig Triebrad, in ihrer unendlichen Organisation enthält, daß er sich nicht als Meister und Herr derselben dünke und sich in aller seiner Kunst und Thätigkeit bescheiden und fromm vor dem Geiste der Natur beuge, den er in sich trägt, den er um sich hat, und der ihm Stoff und Kräfte giebt" (6,1; S. 329 Z. 126-130). - Vgl. zum Begriff .Monismus' die Erläuterungen bei Dieter Henrich: Selbstverhältnisse. Gedanken und Anregungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, S. 144. Ders.: Jacob Zwillings Nachlaß. In: Christoph Jamme und Otto Pöggeler (Hrsg.): Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin, Stuttgart 1981, S. 245-266, bes. S. 248ff. 11

zitierte Auffassung, wonach die Philosophie aus der Dichtung hervorgehe und auch wieder in sie einmünde.10 Diese letztgenannte Auffassung über das Verhältnis von Dichtung und Philosophie kann ihrerseits als eine systematische Aussage verstanden werden und zugleich als eine, die sich auf eine kulturgeschichtliche Entwicklung bezieht. Aus dem zweiten Aspekt wiederum würde folgen, daß bei Hölderlin die »neu-mythische' Erzählung vom „Seyn" im Sinne einer Geschichtsphilosophie wirkt. Sie hätte zu beschreiben, in welchen konkreten Weisen das „Seyn" sich epochal den Menschen zeigt, und zureichende Gründe für den materialen Wandel der intentionalen Bezüge des „Seyns" auf den Menschen anzugeben. Der Autor des Systemprogramms' deutet das Vorhaben einer solchen poetischen Geschichtsschau an, wenn er postuliert: „Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philos(ophie) (,) (M) Man kann in nichts geistreich seyn (,) selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisoniren — ohne ästhetischen Sin."11 Dieser „Sinn" läßt sich verstehen als das Vermögen, intuitiv die intentionalen Bezüge des „Seyns" auf den Menschen erfassen und entsprechend als »Seinsgeschichte' erzählen zu können.

In den folgenden Abschnitten geht es nun darum, in einem historischsystematischen Zugang auf Texte, die hierfür besonders aussagekräftig sind, Hölderlins Ontologie als eine diesseits des deutschen Idealismus und als eine ,neu-mythische' auszuweisen. Die ersten beiden Texte: der „Hyperion" in seiner metrischen Fassung von 1794/95 sowie die philosophische Skizze „Unheil und Seyn" vom Frühling 1795, zeigen deutlich Hölderlins fruchtbare Versuche, in Jena als Student Fichtes sein eigenes Denken zu schärfen und seine Kritik an Fichte konstruktiv zu einer eigenen philosophischen Position um- bzw. auszugestalten. In den Jahren 1796/97-1800 gelingt es Hölderlin dann, seine Position durch Modifikationen und Erweiterungen von Begründungsschwächen und Aporien seiner frühen Konzeption zu befreien und zu einer die Dichtungen theoretisch begründenden Ontologie auszubauen. Dies wird exemplarisch an den Aufsatzfragmenten „Über Religion", „Über den 10 Deutlicher noch formuliert Hölderlin dies an anderer Stelle im „Hyperion": „Die Dichtung ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft." (Hyp. I; OriginalPaginierung S. 144 Z. llf). 11 .Systemprogramm', verso Z. 2-4. 12

Unterschied der Dichtarten" (wohl im Sommer 1800 geschrieben12) und „Das Werden im Vergehen" gezeigt.13 Daß der neue, eigene Begriff des »Mythischen', den Hölderlin in ,ÜR' und in ,WV' entwickelt, kein theoretisches Konstrukt bleibt, sondern im poetischen Entwurf einer „neuen Mythologie" Anwendung findet, werde ich durch den Aufweis der ontosemantischen Struktur einer Mythe zeigen, die Hölderlin originär gestiftet hat: dies ist die Mythe von Jesus Christus. (1) „Hyperion" (metrische Fassung); „Unheil und Seyn" In ,mF finden sich Formulierungen, die Hölderlin scheinbar als überzeugten Fichteaner zeigen. So ist hier z.B. die Rede vom „Trieb in uns, das Ungebildete/Zu bilden nach dem Göttlichen in uns^Die mächtig widerstrebende Natur/Dem Geist, der in uns herrscht, zu unterwerfen" (vs. 61-64); ein Unternehmen, das freilich für den endlichen Menschen den Charakter einer unendlichen Annäherung besitzen muß: „Das volle Maas", an dem er sich hier ausrichtet, „ist gränzenlos, und soll es seyn und bleiben." (vs. 56-58) Hölderlin paraphrasiert hier Sätze, die er in Fichtes Jenaer Vorlesung „Von den Pflichten der Gelehrten" hören konnte.14 Aber er verwendet in dem zuerst gegebenen Zitat eine syntaktische Struktur, die sogleich Zweifel daran aufkommen lassen kann, ob hier von freien, ,selbst-bestimmten', sein-setzenden .Tatmenschen' im Sinne Fichtes gesprochen wird. Das grammatikalische und semantische Subjekt des Satzes, dessen ,Tat* hier beschrieben wird, ist durchaus kein Seiendes der idealistischen Gattung ,selbstreferentieller Mensch'; sondern es ist etwas„m uns" (Hervorhebung von mir, ÜB), das Hölderlin dreifach bebzw. umschreibt: als „Trieb", als „Göttliches", als „Geist". Und offenbar steht der Mensch transzendental in funktionalem Verhältnis zu dieser Instanz, die ihn also mediumsartig als Handelnden gebraucht. Dieses Verhältnis ist als Kontext mitzudenken, wenn Hölderlin (wieder in scheinbarer Übernahme fichteanischer Gedanken) dann schreibt, „die Welt" sei „Mit unserem Geiste nur" beseelt, und rheto12 „Über den Unterschied der Dichtarten" ist laut D. E. Sattler „frühestens auf Sommer 1800 datierbar" (FHA Bd. 14 S. 343). 13 Im folgenden werde ich diese Texte durch Siglen nachweisen. Dabei bedeutet: ,mF: die .metrische Fassung' des „Hyperion"; ,US': „Urtheil und Seyn"; ,ÜR': „Über Religion"; ,UD': „Über den Unterschied der Dichtarten"; ,WV': „Das Werden im Vergehen". 14 Vgl. dazu die Belege bei Gregor Thurmair. Einfalt und einfaches Leben. Der Motivbereich des Idyllischen im Werk Friedrich Hölderlins, München 1980, S. 49-51. 13

risch fragt: „was ist^Das nicht durch uns so wäre, wie es ist?" (vs. 110-112) Den rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund für diese Verse (und für die vorangehenden vs. 102ff, auf die ich noch Bezug nehmen werde) dürfte der §10 aus Fichtes „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" von 1794 bilden.15 Fichte geht in diesem Paragraphen (unter anderem!) auf das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich ein unter dem Aspekt, daß auch das Nicht-Ich eine gewisse Wirkung — und zwar: auf das Ich — ausübe. Dieses Ich werde „durch die wirkliche Beschaffenheit des Dinges begrenzt"16, und zwar insofern, als es bei der Bestimmung des Gegenstandes diesen nur subjektiv, d.h. im Modus der eigenen Ichlichkeit, wahrnehmen könne. Daß wir es sind, die das Dasein der Dinge für uns bestimmen, ist eine Feststellung, die mithin schon bei Fichte nicht mit der Vorstellung des Menschen als eines absoluten Souveräns verbunden ist (was Fichte in Begründungsschwierigkeiten seiner Rede vom „absoluten Ich" bringt). Hölderlin nun stellt den problematischen Anspruch Fichtes gar nicht. Er spricht von einem „Bedürfnis, was uns dringt^Der ewig wechselnden Natur Verwandtschaft/Mit dem Unsterblichen in uns zu geben^Doch dies Bedürfnis gibt das Recht uns auch." (Vs. 102-106) Wieder begegnet als syntaktisches Charakteristikum das Passiv. Semantisch deutet es darauf hin, daß das genannte „Bedürfnis" funktional zu verstehen ist und einem den Menschen in seiner Endlichkeit transzendierenden Zweck dient. Darauf weisen auch der Terminus „Recht" und eine generelle Konnotation von „Bedürfnis" selbst: nicht freiwillig von sich aus, sondern aus dem „Bedürfnis" kommt der Mensch hier zu ,seinem' Handeln, ist er zum Handeln legitimiert. Ein Bedürftiger handelt ex negativo aus .eigenem' Antrieb — insofern nämlich, als er ein in sich verspürtes Defizit durch das Agieren auszugleichen versucht. Das „Bedürfnis" seinerseits bedarf offenbar keiner Rechtfertigung und näheren Erläuterung seiner Herkunft. Dies deutet darauf hin, daß es von jener Instanz als eine conditio hwnana .gesetzt' wurde, die nicht selbst mehr irgendwelchen Maßstäben unterliegt, sondern ihrerseits maßgeblich und alles(be-)wirkend ist. Eine solche, das Ego schlechthin transzendierende Instanz ist im 15 Vgl. dazu Ulrich Gaier. Hölderlin und der Mythos, in: Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 295-340; bes. S. 321-325. 16 J. G. Fichte. Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. In: Immanuel Hermann Fichte (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Berlin 1845/46, Bd. l, S. 309. 14

Gefüge des subjektiven Idealismus nicht denkbar. Fichte z.B. diagnostiziert und akzeptiert eine Bedürftigkeit nur im Hinblick auf das empirische Ich: dieses bedürfe zu seiner Konstituierung der Begrenzung und sei insofern angewiesen auf ein Nicht-Ich. Prinzipiell jedoch wird gemäß der Egologie Fichtes das Nicht-Ich durch das transzendentale Ego gesetzt. Es ist daher keine positiv in sich selbst gründende und von sich her einwirkende, sondern nur eine funktionale, vom transzendentalen Ego jfremdbestimrnte' Kraft.17 Hölderlin dagegen deutet an, daß es für ihn weder im empirischen noch im transzendentalen Sinne ein .weltloses Ich' gibt. ,Ich' und .Welt' sind in beiden Hinsichten untrennbar, in der Empirie freilich unterscheidbar verbunden. Diese Verbundenheit spricht Hölderlin im zuletzt gegebenen Zitat aus ,mF mit dem Wort „Verwandtschaft" (v. 104) an. Scheinbar formuliert Hölderlin in diesem Kontext zwei Paradoxa. (1) „Verwandtschaft" soll ,gegeben' werden: das klingt unplausibel insofern, als verwandtschaftliche Beziehungen doch gerade solche sind, die nicht empirisch-frei eingegangen werden können, sondern genealogisch verfügt sind. „Verwandtschaft" ist vor-gegeben, ist transzendental gegründet. (2) Die Relation soll zwischen unterschiedlichen ontologischen Qualitäten gestiftet werden: nämlich zwischen „der ewig wechselnden Natur" und „dem Unsterblichen in uns". Hier könnte eine ihrerseits nicht zureichend begründete Vermittlung von Endlichem und Unendlichem von Hölderlin beschrieben worden sein und mithin ein Kategorienfehler vorliegen. Doch worauf Hölderlin hier wohl tatsächlich hinweist, ist die in der Struktur identische Konstitution von ,Ich' und ,Welt' („Natur"), ist deren beider ,existenzialer' Habitus: ,endlich-unendlich'. Empirisch ist das ,Ich' ebenso endlich, dem Wechsel, der Zeitlichkeit unterworfen, wie die „Natur", d.h. das je und je als ,Nicht-Ich' Begegnende. .Unsterblich' sind nicht ,wir', sondern ist etwas „in uns". Diesem ,etwas' kommt keine Subjekthaftigkeit zu. Denn Subjektivität gilt Hölderlin (wie in diesem Abschnitt noch zu erläutern sein wird) als Manifestation der Verendlichung. ,Unsterblich' ist ,etwas', das sich zugleich in ,uns' und in der „Natur" befindet: denn auch der phänotypisch endlichen („wechselnden") „Natur" kommt genotypisch die ontologische Qualität „unendlich" zu. Zum einen ist ihr Changieren in der Weise ihres Sich17 Fichte notiert: „jene Wechselwirkung zwischen dem Ich und Nicht-Ich ist zugleich eine Wechselwirkung des Ich mit sich selbst." (Fichte, 1845/46, S. 280f). 15

Zeigens ein Wechsel ad infinitum („ewig"), zum anderen manifestiert sich ihre ,Unsterblichkeit' in der transzendentalen „Verwandtschaft" mit ,uns'. Subjekt (,Ich') und Objekt („Natur") bilden genealogisch eine qualitative ontologische Einheit. Aufgrund dieser vor-gegebenen Einheit verspürt der endliche Mensch in sich das „Bedürfnis", nun, im Modus der Subjekt-Objekt-Spaltung, die ihn umgebende Außenwelt' als .verwandt' mit ihm zu erfahren. Er sucht in der „Natur" sein Komplement, das ihm zugehörig Fremde. Dieses Gesuchte findet er weder im Nur-Endlichen, noch in einer abstrakt-allgemein, ,für sich seiend' gedachten Unendlichkeit; weder diesseits noch jenseits, sondern nur im Habitus; .endlich-unendlich'. „Im Kleinsten offenbart das Größte sich." (v. 94) Umweltlich Begegnendes kann auf sein ,Eidos' hin .durchschaut' werden. Der intuitiven Wahrnehmung zeigt sich dann „das hohe Urbild aller Einigkeit" (v. 95). Die transzendentale Verbundenheit aller Seienden untereinander, ihre Existenz als Modi eines Seins, und in diesem Sinne: ihre Unsterblichkeit, wird hier erfahrbar. In Allem (Endlichen) zeigt sich das Eine (Unendliche).18 Davon spricht Hölderlin hier gleichnishaft in einem Bild: „Und birgt sich lächelnd nicht,/Indeß er gegen uns die Waffe kehrtj/Ein guter Meister hinter seinem Schilde?-/Benenn' ihn, wie du willst! Er ist derselbe." (Vs. 87-90) Die angedeutete Aggression' des „Meisters" besteht darin, daß er die Subjekt-Objekt-Spaltung etabliert und aufrecht erhält. Die Existenz in dieser Sphäre ist immer eine endliche. Sie bringt Leiden und das Bedürfnis nach dessen Aufhebung durch Sprengung der Grenzen mit sich. Doch wäre es nicht im Sinne des „Meisters", wenn die Menschen unvermittelt ,ihn selbst' zu schauen verlangten, d.h. wenn sie sich bei ihrem Bedürfnis nach Aufhebung des Leidens an der Vereinzelung um die Endlichkeit als einen der beiden wesentlichen hiatischen Aspekte ihres existenzialen Habitus' bringen würden. Der „Schild", hinter dem sich der „Meister" „birgt", ist ein Schutzschild ebenso für ihn wie für die in unrechter Weise ekstatischen Menschen. Er bewahrt den „Meister" vor inadäquaten Annäherungen, die Menschen vor einem Sturz ins ,Nichts', der hier statt der ersehnten .Allerfahrung' droht.19 Diese Allerfahrung ist aber durchaus machbar; 18 Hölderlin wird für diesen vereinigungsphilosophischen Topos im Fortschreiten seiner Arbeit am Hyperion zwei an Heraklit orientierte ontologische Formeln verwenden: hen kai pan (Eins und Alles), hen diapheron heauto („das Eine in sich selber unterschiedne") 3; S. 236 Z. 17; ebd. S. 81 = Hyp. I, Originalpaginierung S. 145 Z. 12f. 19 Das Attribut „gut" (v. 89) läßt sich in diesem Kontext als Hinweis auf die Fürsorge,

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das Sich-Bergen des „Meisters" ist kein absolutes Pferbergen.20 Der „Meister" begegnet unter vielen Namen, doch stets als „derselbe": im (phänotypisch jeweils) Endlichen kann das Unendliche, der Allzusammenhang erfahren werden. Wie sich zeigt, erzählt Hölderlin in den vs. 87-90 einen Mythos: die arche-typische Geschichte vom Handeln eines (göttlichen) „guten Meisters"21 an den Menschen. Dies ist ein Mythos, der philosophisch kommentiert werden kann, ja dessen einzelnen Elementen sich philosophische Gehalte zuordnen lassen. In den vs. 120-154 erzählt Hölderlin einen weiteren Mythos — und hier flicht er selbst die philosophische Deutung in seine Erzählung ein. Hölderlin variiert hier den platonischen Mythos von der Geburt des Eros.22 Seine Erzählung lautet zusammengefaßt: es sei die Liebe hervorgegangen aus der Verbindung von Überfluß und Armut. Sie sei entstanden, weil und als der menschliche Geist sich vom reinen, freien Geist der Himmlischen geschieden und erdwärts gewandt habe und damit in die Sphäre der Dürftigkeit gekommen sei. Seitdem lebe der Mensch im Widerstreit zweier Triebe: das Göttliche in ihm sehne sich ganz zu den Himmlischen zurück, das Animalische in ihm gebe sich mit der Dürftigkeit ganz zufrieden. Die Liebe bewirke den dynamischen Ausgleich zwischen diesen antagonistischen Tendenzen. Auf diesen ,neuen' (bzw.: modifizierten) Mythos projiziert Hölderlin eine philosophische Analyse der Genese des menschlichen Bewußtseins: dieses Bewußtsein entstehe durch das Verspüren von Mangel (Dürftigkeit), von Begrenzung. Der „leidensfreie reine Geist" (v. 131) könne weder von sich noch von anderen Dingen ein Bewußtsein haben,

die gütige Vorsorge des „Meisters" verstehen; als einen zureichenden Grund dafür, daß das Sein sich vor einer solchen Weise der Annäherung verwahrt. 20 Darauf deutet schon das Partizip „lächelnd" in v. 87, analog dann in v. 92 das Substantiv „Lächeln". 21 Jürgen Soring (Die Dialektik der Rechtfertigung. Überlegungen zu Hölderlins Empedokles-Projekt. Frankfurt/Main 1973) legt seiner Deutung der ,mF den Prosa-Entwurfzugrunde. Erbegreift in diesem Kontext den „guten Meister" als die den Menschen gegenüberstehende Natur (a.a.O., S. 50). Diese Auffassung ist m.E. weder in Bezug auf den Prosatext noch auf die verifizierte Form der ,mF akzeptabel. Worin sollte die Natur, das Komplement des Menschen, diesem ontologisch gleich als ein Sekundärphänomen mit dem Habitus .endlich-unendlich', Meister(in) sein, und dies gar im Hinblick auf den .bildenden' Menschen? Der „gute Meister" ist ein uns „verwandter Geist, der [ . . . ] dem unsrigen überlegen gelten muß" (Ulrich Gaier, 1971, S. 318), der (nicht-allegorisch gesagt) ontologisches Prius in Bezug auf Mensch und Natur ist. Dieser Geist ist es auch (und nicht „der subjektive Geist" des Menschen, wie Söring ebd. konstatiert), der genuin den .verwandtschaftlichen* Bezug zwischen Mensch und Natur .schafft'. 22 Vgl. Plato, Das Gastmahl 203 b-204 c. 17

weil ihm, als unbegrenztem, keine Welt (als Reflexionsgrund) entgegenstehe.23 Der verendlichte menschliche Geist existiere nun im Spannungsfeld antagonistischer Kräfte. In ihm wirke zum einen der „Trieb/ Unendlich fortzuschreiten, uns [...] zu befrein" (vs. 146-148), zum anderen der Trieb, „beschränkt zu werden" (v. 150). Es sei die Liebe, welche eine Vereinigung der widerstrebenden Kräfte schaffe. Im Hinblick auf ihre evozierbaren philosophischen Themen lassen sich ,Meister-Mythos' und ,Eros-Mythos' kombinieren. Hier wie dort geht es um das menschliche Bewußtsein und dessen Genese. Das Bewußtsein wird nicht idealistisch verstanden als Setzung eines transzendentalen Egos, sondern als initiiert durch eine allem Ichlichen unverfügbare Instanz (der sich bergende „Meister").24 Die Verendlichung des Geistes bedeutet seine Unterscheidung, nicht aber Trennung vom „leidensfreien reinen Geist". Denn dieser Geist kann zwar nicht selbst vergegenständlicht, nicht als etwas Empirisches und insofern als ein Inhalt des Bewußtseins wahrgenommen werden, doch er läßt sich im Endlichen erfahren (Der „Meister" begegnet als der Eine in Allem). Diese Erfahrung ist in der Liebe möglich. Der liebende Mensch transzendiert seine Endlichkeit, ohne diese (und damit sich selbst als bewußt existierendes Wesen) aufzugeben. Erspart, was „in uns/Das Göttliche" (vs. 141f) ist, indem er sich auf andere, gleichfalls endliche Seiende hin entgrenzt. Diese Entgrenzung ist eigentlich ein Widerfahrnis, ist jedenfalls keine ,subjektivistische' Eigenleistung. Darauf weist hier das mediale „in uns" ebenso hin wie Hölderlins Rede von den .Trieben*. Der Trieb, sich „zu befrein" (v. 148), vereinigt sich mit jenem, „beschränkt zu werden, zu empfangen" (v. 150). Die Entgrenzung erhält eine Bestimmung, jede Bestimmung (Fest-Stellung des Endlichen als Endliches) wird entgrenzt. So erfährt der Mensch den Allzusammenhang; überall begegnet „unserem Geist ein freundlicher/Verwandter Geist" (vs. 86f). ,Meister-Mythos' und ,Eros-Mythos' zeigen exemplarisch, wie sich Hölderlin 1794/95 in Jena auf den Weg zu einer eigenen »neu-mythischen' Ontologie diesseits des deutschen Idealismus begibt: hier wie 23 Hölderlin läßt den Erzähler, der diese Argumentation vorträgt, einschränkend hinzufügen: „Doch was ich sag', ist nur Gedanke. —" (v. 135) Damit deutet er an, daß der endliche Geist kein positives Wissen vom , sich' des unendlichen Geistes haben kann. Nur aus der Erfahrung seiner selbst vermag er hier (mithin: ex negative) zu schließen. Jeder Gedanke über den originären Habitus des unendlichen Geistes ist aufgrund der Bewußtseinstranszendenz dieses Geistes spekulativ. 24 Im ,Eros-Mythos' wird nicht explizit gesagt, worauf die Verendlichung des Geistes zurückzuführen ist. Es bleibt bei einer Beschreibung des ,(Ab-)Falls'. Vgl. vs. 120-123; 127-130. 18

dort formuliert er Positionen, die sich mit den Axiomen des ihn rings umgebenden subjektiven Idealismus nicht vereinbaren lassen. Und dennoch können diese beiden Erzählungen nicht schon als Mythen gemäß des später explizierten ontohermeneutischen Begriffs vom ,Mythischen' gelten. In ,mF läßt sich der Mythos noch allegorisch verstehen: als in Bilder gehüllte Darstellung abstrakter philosophischer Sachverhalte. Er fungiert noch nicht, wie vor allem dann in den Dichtungen nach 1800, in theoretisch begründeter Weise tautegorisch als jene Diskursform, in der allein die Anwesenheit des Unendlichen im Endlichen transparent zu machen, als Intentionalität des Sems sprachlich gestaltet ist.25 Wo der Mythos in ,mF über seinen allegorischen Charakter hinausgeht, wird er auf unbegründete Weise apodiktisch. D.h.: er erhält dort, wo Hölderlin einen in Rede stehenden Sachverhalt philosophisch nicht zureichend klärt, die Funktion, für sich selbst zu sprechen. Hierbei ist er tautegorisch insofern, als seinem Erzählen einer Begebenheit keine begriffliche, argumentative Darstellung desselben Vorgangs entspricht. Ein dergestalt tautegorischer Mythos springt dort für die Philosophie ein, wo diese sich in bloßen Behauptungen ergeht bzw. sich bei ihren Begründungsversuchen in Aporien verstricken würde. So gibt Hölderlin in ,mF' keinen zureichenden Grund dafür an, weshalb der menschliche Geist sich überhaupt verendlicht, und eine Differenzierung zwischen ontologischen Qualitäten eintritt. Außerdem begründet er nicht, wie es angehen kann, daß einerseits der „reine Geist" zum Teil sich modifiziert (verendlicht), andererseits aber offenbar von dieser Modifikation nicht in seiner ursprünglichen Vollkommenheit beeinflußt wird, also ungeachtet der Teilung weiter in der Qualität .unendlich' vorhanden ist. Der Mythos beantwortet hier weder 25 Formal freilich kann Hölderlins Mythos von Eros als ein .neu-mythischer* charakterisiert werden. Denn Hölderlin variiert das platonische Vorbild so, daß seine Version des Mythos ihrer bei Hölderlin intendierten (allegorischen) Funktion, bewußtseinsphilosophische Reflexionen bildlich dazustellen, gerecht zu werden vermag. Der ,alte' Mythos hätte diesen Zweck nicht erfüllen können. Bei Plato ist der Eros einseitig ein direktes Streben in die Sphäre des mangellosen Göttlichen zurück. Hölderlin schreibt Eros eine binäre Struktur, ein versöhnendes Wesen zu: das Göttlich-Unendliche soll nicht durch Negation des Endlichen angestrebt, es kann nur als ,Eidos' des Endlichen ohne Abstrahierung von diesem Endlichen in ihm erfahren werden. Hölderlin versteht das Göttliche hier pantheistisch: er entwirft eine monistische Ontotogie. Plato denkt in den Kategorien einer ZweiWelten-Lehre und siedelt das Göttliche jenseits des Endlichen an. Demgemäß ist nun bei Hölderlin die Liebe „nicht Mangel des Göttlichen wie (Platos; Anm. von mir, ÜB) Eros, sondern wirkende Anwesenheit des Göttlichen." (Ulrich Gaier. Der gesetzliche Kalkül. Hölderlins Dichtungslehre. Tübingen 1962, S. 53).

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die eine noch die andere philosophisch unabdingbare Frage; ja es liegt in seiner Eigenart, daß er sie nicht stellt, und mehr noch: daß er sie von sich aus als zu stellende Fragen gar nicht erst in den Blick kommen läßt. Er steht damit jenseits des Logos', der argumentativen, um Widerspruchsfreiheit bemühten Rede. Er begründet, indem er behauptet und einfach beschreibt: „unser Geist [...] verlor [„.] sich aus dem freien Fluge/Der Himmlischen" (vs. 120-122). So „begann für uns die Dürftigkeit [...] und es sehnt der Geist/Zum ungetrübten Aether sich zurück." (Vs. 128,138f) Die tautegorischen Züge dieser Art des ,neuen' Mythos' sind nicht rational begründet durch einen Nachweis, daß die Philosophie sich dem poetischen Diskurs zu öffnen habe, wenn adäquat über das Sein (hier: über dessen unterschiedliche Qualitäten) gesprochen werden soll. Im Tautegorischen dieses Mythos' spiegeln sich genau die Begründungsschwächen, die 1794/95 generell kennzeichnend für Hölderlins genuin philosophischen Versuch sind, eine Ontologie diesseits des deutschen Idealismus zu konturieren. (Diese These wird gleich durch eine Analyse der theoretischen Skizze „Unheil und Seyn" erhärtet werden.) In Bezug auf ,mP ist für unseren Kontext jetzt festzuhalten: — Hölderlin hält selbst unter dem direkten Einfluß Fichtes, in intensiver geistiger Auseinandersetzung mit dessen Theoremen, Distanz zu den Positionen des subjektiven Idealismus'. Er nähert sich Fichte terminologisch und in der Exposition gewisser Gedankengänge stark an, gestaltet die eigene Durchführung der Theoreme aber grundsätzlich anders. — Die fundamentale Differenz zu Fichte bekundet sich in Hölderlins Annahme einer bewußtseinstranszendenten, Subjektivität als ein Sekundärphänomen konstituierenden, alldurchwirkenden Instanz, die auch das ,Nicht-Ich' konstituiert und es damit zu einer transzendental dem Ich verwandten, jedoch nicht von diesem gesetzten, sondern ihm gegenüber positiven Kraft bestimmt. — Diese Instanz bezeichnet Hölderlin mythisch-allegorisch als einen „guten Meister", der sich „lächelnd [...] hinter seinem Schilde [...] birgt." Mit diesem ,Meister-Mythos' und mit seiner Variation des platonischen Mythos von der Geburt des Eros beschreibt Hölderlin in Gestalt von apodiktischen Erzählungen das genuin philosophisch zu begründende, doch auf diesem Sektor noch nicht schlüssig behandelte Verhältnis von »unendlichem' und ,endlichem' „Geist". Funktional gesehen, leistet der Mythos hier keine durch philosophische Vorklärung 20

abgesicherte Vermittlung26 zweier ontologischer Qualitäten, ist noch nicht ,neuer Mythos' im Sinne einer hölderlinisch verstandenen „Mythologie der Vernunft", sondern überspielt latente philosophische Begründungsdefizite. Es ist indessen kaum anzunehmen, daß Hölderlin den Mythos hier instrumentalisiert, d.h. bewußt einsetzt, um Aporien seiner sich konturierenden eigenen Position zu kaschieren. Der Hölderlin von 1794/95 ist ein philosophischer Grenzgänger. Er beginnt gerade erst, im Hinblick auf den existenzialen Habitus »endlich-unendlich' der Endlichkeit, der raumzeitlichen Komponente, positive Züge beizulegen. In der „Hymne an die Liebe" z.B., die Hölderlin wohl im Tübinger Frühjahr 1792 gedichtet hat27, besitzt Eros noch genau jene Funktion, die ihm auch bei Plato zukommt; er negiert das Endliche, bezeichnet das Streben zur unvermittelten Unendlichkeit.28 Auch die wohl 1794/95 entstandene29 Ode , An die Natur" lobt und verklärt noch die direkte Flucht „aus der Einsamkeit der Zeit [...] In die Arme der Unendlichkeit" (1,1; S. 192 vs. 38; 40). Die in ,mF zu beobachtende Aufwertung der Zeit (und des Raumes) ist zukunftsweisend. Hölderlin wird in seiner „neuen Mythologie" eine ,Seinsgeschichte' erzählen, dergemäß der unendliche „Geist" sich vollgültig im Endlichen manifestiert und als Definition des „eigentlich Unendlichen" gilt: dies sei „eine bestimmte wirkliche Unendlichkeit" (4,1; S. 260 Z. 2f). Hölderlin wird das Unendliche selbst als in sich bewegte, allesdurchwirkende Kraft denken, die sukzessiv ontosemantisch unterschiedlich durchstimmte Zeiträume als menschliche Lebenswelten öffnet und schließt und dergestalt sich je und je als „eine bestimmte wirkliche Unendlichkeit" zeitigt. Auf dem Weg zur Entwicklung dieser ,neu-mythischen' Ontologie diesseits des deutschen Idealismus ist ,mP ein Markstein. 26 Von „Vermittlung" kann hier allenfalls in der Weise gesprochen werden, wie Ulrich Gaier (1971) dies tut. Gaier konstatiert, daß Hölderlin die ontologischen Qualitäten .unendlich' und .endlich' beide als gegeben annimmt und bemerkt in diesem Kontext zum ,Eros-Mythos': „Die Vermittlung beider einander widersprechender Fakten übernimmt die mythische Erzählung"; sie verlegt die Differenzierung des Endlichen von dem Unendlichen „in ein zeitlich vergangenes Geschehen, das den gegenwärtigen Zustand versuchsweise erklärt." (S. 319; vgl. S. 336). 27 Vgl. 8, S. 291. 28 „Mächtig durch die Liebe, winden/Von der Fessel wir uns los." (1,1; S. 167 vs. 41 f) Im platonischen Sinne überzeugt von der Unsterblichkeit der Seele, fährt Hölderlin fort: „Unter Schwur und Kuß vergessen/Wir die träge Fluth der Zeit^Und die Seele naht vermessen/Deiner Lust, Unendlichkeit!" (vs. 45-48). 29 Vgl. 8; S. 291.

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Denn schon in ihr zeichnet sich das wohl wichtigste Ergebnis der Auseinandersetzung Hölderlins mit dem subjektiven Idealismus Fichtes ab: der geschärfte Blick für die Genese des Bewußtseins. Hölderlin irritierte an Fichte hauptsächlich dessen Rede vom „absoluten Ich". Nach seiner Auffassung hatte Fichte hier ein aporetisches Theorem entwickelt, ein Paradox formuliert. Laut Hölderlin ist ,Ich' ein zweistelliger und damit relationaler Begriff, gebunden an das Faktum des (Selbst-)Bewußtseins, das nur mittelbar — nämlich durch Reflexion an einem Objekt — gewonnen werden könne. Für ein „absolutes Ich" jedoch gebe es „kein Object, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Object ist aber nicht denkbar [...] also [...] als absolutes Ich habe ich kein Bewußtsein, [...] bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts." (6,1; S. 155 Z. 49-56)30 Hölderlin mißdeutet Fichtes Lehre vom „absoluten Ich"; und es ist durchaus anzunehmen, daß er manches nicht sah, was er „in diesem Zusammenhang nicht sehen wollte".31 Dieser Befund läßt sich vereinbaren mit der Diagnose, daß Fichtes Philosophie ein „Korrektiv für das Denken des aus Tübingen kommenden Hölderlin"32 gewesen sei. Fichtes fruchtbarer Einfluß resultiert wesentlich aus dem Bedürfnis Hölderlins, seinem sich wandelnden Lebensgefühl entsprechende Akzentverschiebungen auf der Theorieebene vorzunehmen; Ergänzungen und Erweiterungen, die aber im Resultat nicht zur Negation der religiösen Grundhaltung Hölderlins führen sollten; zur vollkommenen Verleugnung des „reinen Kindersinns" (,mF, v. 21), dem die Verwandtschaft alles Seienden bewußtlos, unmittelbar als Empfindung, „im friedlichen hen kai pan der Welt" (3; S. 236 Z. 17) gegeben ist.33 Fichtes Philosophie führt Hölderlin zu einer »heroischen' Bejahung der Phänomene, die mit der Endlichkeit als ontologischer Qualität verbunden sind: Bewußtsein, Zeit, Geschichte. Diese Phänomene werden für den .neu-mythischen' Dichter die ausgezeichneten Orte der 30 Vgl. dazu in ,mF die vs. 131-146. Ferner 6,1: S. 181 Z. 9-20; S. 300 f Z. 50-61; 4,1; S. 216 Z. 28-S. 217 Z. 11. 31 Christoph Jamme. „Ein ungelehrtes Buch". Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800. Bonn 1983, S. 81. Hölderlin nimmt z.B. weder zur Kenntnis, daß auch Fichte das Ich durch das Nicht-Ich begrenzt sieht, noch auch, daß für Fichte die Bestimmung ,Ich = Ich' keine theoretische Feststellung, sondern eine Tathandlung ist, d.h. eine prozessual zu verstehende Setzung des Ich durch sich selbst. 32 Ulrich Gaier (1971), S. 335. 33 Vgl. als eine solche ,Zustandsbeschreibung' das Gedicht „Da ich ein Knabe war..." (1,1; S. 226)

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Präsenz34 des Göttlichen, der Erfahrbarkeit des hen kai pan sein. Hölderlin findet im Resultat mithin einen Mittelweg, eine Vermittlung zwischen dem ,selbst-losen' (nämlich unbewußten) Aufgehen im Unendlichen, und dem ,selbst-herrlichen' Behaupten einer Absolutheit des Ich.35 Hölderlins kurze Zeit nach ,mF entstandene philosophische Skizze „Urtheil und Seyn"36 ist ein weiteres bedeutendes Zeugnis, das Auskunft gibt über den Weg zu einer ,neu-mythischen' Ontologie diesseits des deutschen Idealismus. Auch hier vertritt Hölderlin axiomatisch die These von der Unverfüglichkeit des Menschen über sich selbst, vom medialen Charakter als der conditio humana. Und er eröffnet durch eine (implizite) Standortbestimmung der Philosophie der Dichtung den Weg, anstelle der Philosophie als Ort der Besinnung auf den Ursprung des Seienden zu fungieren. Hölderlin definiert: „Urtheil. Ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects, diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur-Theilung." (4,1; S. 216 Z. 2-5) Der Begriff ,UrteiT wird von Hölderlin noch differenziert in die Aspekte: .theoretisches' und praktisches' Urteil (vgl. ebd.; Z. 8ff). In beiden Hinsichten ist der Begriff ontologisch und epistemisch konnotiert. Das praktische Urteil' bezieht sich auf die raumzeitlich gegebene Außenwelt in der Weise, wie sie durch das Bewußtsein vom empiri34 Auch eine als „dürftig" qualifizierte Zeit (vgl. 2,1; S. 94 v. 122) ist dann ein solcher Ort: denn sie wird epochal verstanden, in diesem Horizont Ideologisch gedeutet und insofern zureichend begründet (vgl. ebd. S. 93 vs. 109-118). 35 In der „Verfahrungsweise des poetischen Geistes" schildert Hölderlin das Finden dieser Vermittlung als einen phylogenetischen und ontogenetischen Prozeß, der in den Zustand „reifer Humanität" (4,1; S. 255 Z. 19) einmünde (vgl. ebd. S. 255 Z. 12-S. 260 Z. 20). 36 Als Entstehungszeit von ,mP wird allgemein die Zeit von November 1794 bis Januar 1795 angenommen (vgl. z.B. 3; S. 302). ,US' dürfte im .April oder Mai 1795" notiert worden sein (FHA Bd. 17: Frühe Aufsätze und Übersetzungen. Hrsg. von Michael Franz, Hans Gerhard Steimer und D.E. Sattler, Frankfurt am Main 1991, S. 11; vgl. auch S. 149) - Vgl. an Literatur zu ,US': Dieter Henrich: Hölderlin über Urteil und Sein. In: HJB14, Tübingen 1967, S. 73-96; Helmut Bachmaier: Theoretische Aporie und tragische Negativität. In: Helmut Bachmaier/Thomas Horst/Peter Reisinger: Hölderlin. Transzendentale Reflexion der Poesie. Stuttgart 1979, S. 83-145, bes. S. 85-128; Christoph Jarnme (1983), S. 77-87; Michael Franz: Hölderlins Logik. Zum Grundriß von ,Seyn Urtheil Möglichkeit'. In: HJB 25, Tübingen 1987, S. 93-124. Zu weiterführender Literatur vgl. die entsprechenden Angaben der genannten Autoren.

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sehen Ich wahrgenommen wird. Dieses ,Ich' hat indessen weder ,seine' Lebenswelt noch sich selbst souverän ,gesetzt'; es ist in diese Welt als in seinen bestimmten Erlebnishorizont gefügt worden. Die verfügende transzendentale Instanz, welche genuin die Welt und im vorgängigen »theoretischen Urteil* das weltwahrnehmende Ich konstituiert hat, bezeichnet Hölderlin als „Seyn schlechthin" (ebd., Z. 26) bzw. als „absolutes Seyn" (ebd.; S. 217 Z. 11). Diese Instanz kann ihrerseits nicht ,Ich' genannt werden, weil (so betont Hölderlin auch hier) die Rede vom ,Ich' nur dort sinnvoll sei, wo Selbstbewußtsein gegeben ist. Das Selbstbewußtsein jedoch sei eben dadurch bedingt, „daß Ich mich mir selbst entgegenseze, [...] aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesetzten als dasselbe erkenne." (Ebd.; S. 217 Z. 6-8) Die Rede vom ,Ich' impliziert mithin die Subjekt-Objekt-Spaltung: und zwar zuerst als Bezug des Ich auf sich selbst (Ich*).37 Aus diesem Bezug resultiert die Ich-Identität. Sie ist »gesetzte Voraussetzung' dafür, daß das Ich nun als »Subjekt' sich eine Welthabe eröffnen und in diesem Horizont agieren kann, d.h. ein Bewußtsein von den Dingen außerhalb seiner selbst zu gewinnen vermag. Die Ich-Identität selbst ist ein Sekundärphänomen: denn sie ist „keine Vereinigung des Objects und Subjects, die schlechthin stattfände, also ist die Identität nicht = dem absoluten Seyn." (Ebd., Z. lOf) Dieses Sein ist das voraussetzungslose ontologische Prius. Neben „Unheil" verwendet Hölderlin in diesem Text einen weiteren Begriff, der ontologisch und epistemisch konnotiert ist: „intellectuale Anschauung." Mit ihm wird die Weise des Bezuges, der Zugang des empirischen Ichs zum „Seyn schlechthin" bezeichnet. Das empirische 37 Das Axiom von der Mittelbarkeit charakterisiert Hölderlins Theorie des Selbstbewußtseins nicht nur in ,US', sondern auch in der .Verfahrungsweise' (4,1; S. 241-265; vgl. bes. S. 253 Z. 15-S. 255 Z. 5), einem Fragment, das vermutlich in der ersten Hälfte des Jahres 1800 entstanden ist. Dabei ist eine Radikalisierung feststellbar: genügte es laut „Urtheil und Seyn", wenn das Ich (Subjekt) sich als Ich (Objekt) sich selbst entgegensetzt, um sich als ,Ich selbst' zu wissen, so fordert Hölderlin fünf Jahre später: „Seze dich mit freier Wahl in harmonische Entgegensezung mit einer äußeren Sphäre" (ebd.; S. 255 Z. 34-S. 256 Z. 1), also mit einem Nicht-Ich. Doch beide Varianten der einen Theorie führen in einen argumentativen Zirkel, der sich aus dem Axiom von der Mittelbarkeit ergibt. Das ,Ich selbst' muß mir in einer unmittelbaren Vertrautheit schon gegeben sein. Sonst fehlt das Kriterium dafür, wie ich mich durch ein Wissen, das Ich (Subjekt) durch Entgegensetzung zu einem inneren (Ich') oder äußeren (Nicht-Ich) Objekt erlange, mit dem Bewußtsein von mir selbst (,Ich selbst') soll identifizieren können. Vgl. zur Problematik: Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Frankfurt/Main 1986, bes. S. 20 f. Ders.: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Stuttgart 1991 — Vgl. von Frank auch seine Bezugnahme auf ,mP in: Hölderlin über den Mythos. HJB 27 (1990-91), Stuttgart 1991, S. 1-31, dort S. 9-18.

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Ich existiert im Habitus .endlich-unendlich'; d.h. weder seine Ich-Identität noch seine Welthabe gehen in der durch „Ur-Theilung" (ebd.; S. 216 Z. 5) verfügten Verendlichung, in einer .reinen' Empirizität, auf. Wird das ,UrteiP für sich als Vermögen genommen, dann ist es dasjenige Erkenntnisinstrument, mit dem Aussagen über ,Ich' und ,Welt' im Modus ihrer jeweiligen Endlichkeit möglich sind. Solche Aussagen können nach Hölderlins Auffassung ah philosophische Urteile gelten.38 Die „intellectuale Anschauung" indessen ist, für sich genommen, gar kein aktuelles Erkenntnisinstrument. Denn das „Seyn schlechthin" bezeichnet die absolute Einheit von Subjekt und Objekt, ist mithin bewußtseinstranszendent und daher rationaler Erkenntnis nicht zugänglich. Aber das empirische Ich ist, wie gezeigt, ontologisch und epistemisch sowohl in seinen Selbstbezug (theoretisches Urteil') als auch in seine konkrete Welthabe (praktisches Urteil') verfügt, und wird existenzial auch stets in diesem Verhältnis erhalten. Eben deshalb existiert es im Habitus ,endlich-unendlich'. Dieser Hiat ist auch der Bereich, in dem alle realmöglichen Erfahrungen und Erkenntnisse gründen. Für den Zugang, den das empirische Ich zum „Seyn schlechthin" haben kann, bedeutet dies, daß er ein mittelbarer ist. Er führt nicht über eine einfache Negation des Endlichen, sondern über eine dialektische Aufhebung des .Urteils' zum Ziel. In Verbindung mit dem ,UrteiT wird die „intellectuale Anschauung" zu einem aktuellen epistemischen Vermögen. Durch die Synthese, den .stereoskopischen' Gebrauch, gelingt die Wahrnehmung des .eigentlichen' Habitus aller empirischen Phänomene, von ,Ich' und ,Welt': der nicht-gegenständliche Bezug auf alles Seiende, das .Durchschauen' der Empirizität als Gewahrwerden des ,Einen in Allem'. Dies ist eine Erkenntnisweise, welche die Grenzen der Rationalität sprengt und in ihrer Eigenart als intuitiv bezeichnet werden kann; ein Erlebnis, durch welches das ,Urteil' freilich nicht diskreditiert, sondern allererst ,ins rechte Licht gerückt' wird: nämlich sich als eine bestimmte (und daher: eingeschränkte) Wahrnehmung des Seienden zeigt. Die Analogien zwischen ,US' und ,mP in Bezug auf die sich konturierende eigene Ontologie Hölderlins liegen auf der Hand: was Hölderlin hier „Seyn schlechthin" nennt, begegnet dort allegorisch als .guter 38 Denn im philosophischen Diskurs kann „man bestimmen [... ] zergliedern" (Hyp. I, Originalpaginierung S. 145 Z. 16 f). Hölderlin bewegt sich mit dieser Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Philosophie auf dem kritischen Niveau Kants: das ,Ding an sich'(hier: das „Seyn schlechthin'') ist nicht ins rationale Wissen einholbar.

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Meister hinter dem Schilde' und als „der leidensfreie reine Geist"; die „intellectuale Anschauung" hat ihr funktionales Analogen in der „Liebe". Hier wie dort wird gegen den subjektiven Idealismus das ,Ich' als ein Sekundärphänomen behauptet. ,US* präzisiert dabei stärker den Selbstbezug, ,mF die Welthabe des Ich. Demgemäß tritt der positive Charakter, den Hölderlin der Verendlichung des „Geistes", der „UrTheilung" des „Seyns schlechthin", 1794/95 zuzusprechen beginnt, in ,mF deutlicher hervor. Dort führt Hölderlin aus, was auch der knappen philosophischen Skizze konform ist (und insofern: evoziert werden kann, s.o.), ihr indessen nur als Implikat eignet: daß das Unendliche im Endlichen („in uns/Das Göttliche") anwesend ist. Aus dieser ,FestSetzung' leitet Hölderlin dort auch die Bestimmung, den Zweck des menschlichen Daseins mit seiner Welthabe, ab: der Mensch soll die „Natur" ,vergöttlichen', d.h. dem Göttlichen, das in ihm und aufgrund der transzendentalen .Verwandtschaft* aller Seienden auch in der „Natur" ist, durch .Bildung' Gestaltung verleihen, durch sich in ihm erfahrbar werden lassen. Diese Bestimmung wertet die Empirie zum sakralen Zeitraum einer ,Seinsgeschichte' auf, wie Hölderlin sie im ,neu-mythischen' Diskurs vor allem in seinen späten Elegien und Hymnen nach 1800 erzählen wird. 1794/95 indessen bahnt sich diese Entwicklung im Denken Hölderlins erst an, ist die Geschichte noch nicht explizit ins philosophische Blickfeld des Dichters gerückt. Das philosophische Problem der Vermittlung des Unendlichen ins Endliche ist noch ungelöst; ja vielleicht als Problem noch gar nicht eigens gesehen. Jedenfalls begegnen in ,US' Aporien, die auch für ,mF kennzeichnend sind. Sie sollen nun in summa genannt werden; denn es wird bei der Wahrnehmung der späteren Texte auch zu beachten sein, welche (Auf-)Lösungen der Widersprüche dort entwickelt werden. Hölderlin39 konstatiert ein sukzessives Verhältnis zwischen dem „Seyn schlechthin" und dem „Urtheil": dieses gehe aus jenem hervor. Einen zureichenden Grund für die „Ur-Theilung" gibt Hölderlin indessen nicht an. So bleibt offen, ob es sich um ein notwendiges oder um ein zufälliges Ereignis, oder gar um einen ,Unfall' handelt. Auch wird nicht gesagt, ob die „Ur-Theilung" von Dauer ist oder ob der Urzustand restituiert werden wird. Generell ist fraglich, ob das „Seyn schlechthin" 39 Vgl. zum folgenden auch: Peter Reisinger: Hölderlin zwischen Fichte und Spinoza. Der Weg zu Hegel. In: Helmut Bachmaier/Thomas Rentsch (Hrsg.): Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Poesie in der Epoche Goethes und Hölderlins. Stuttgart 1987, S. 15-69, bes. S. 25f. 26

definitiv im „Unheil" aufgeht40, oder ob es zugleich als ,schlechthinniges* vorhanden bleibt. Hölderlin zeigt sich von der letztgenannten Annahme überzeugt. Er versucht sogar, durch eine etymologische Spekulation (,Urteü" = ,Ur-Teilung'; vgl. 4,1; S. 216 Z. 5-8) das „Seyn schlechthin" als definitiv gegeben zu erweisen. Doch „UrtheiT und „Seyn schlechthin" begegnen hier als wechselseitig durch Negation sich bestimmende Begriffe. Dieses Verfahren ist unzulässig, weil gemäß Hölderlins eigenen Angaben ein Begriff vom „Seyn schlechthin" ausgeschlossen ist: Begriffe sind nur in der Sphäre des .Urteils* sinnvoll möglich.41 Hölderlins zweiter Versuch, das „Seyn schlechthin" trotz der „UrTheilung" als vorhanden aufzuweisen, ist indessen methodisch besser angelegt und auch zukunftsweisender für sein Denken. Er besteht in der evozierbaren Annahme, daß dem empirischen Ich ein dialektisch mit dem „Unheil" vermittelter, intuitiver Zugang zum „Seyn schlechthin" offenstehe, daß also dieses Sein in der „intellectualen Anschauung" gegenwärtig! werden könne. Diese Annahme ist auch ein Hauptgrund dafür, weshalb Hölderlin alsbald den Dichtem (statt den methodisch nur zu rationalen Urteilen befähigten Philosophen) die besondere Befähigung zur ,Seinsschau' ausdrücklich zusprechen wird. Schon der folgende Exkurs, mit dem die Bedeutung der „intellektualen Anschauung" für Hölderlins sich konturierende Ontotogie systematisch erfaßt werden soll, wird dies zeigen können. Exkurs: Die „intellectuale Anschauung"

Das rational nicht einholbare „Seyn schlechthin" soll sich in der „intellectualen Anschauung" zeigen. Damit läßt sich zunächst feststellen, daß der in Rede stehende Begriff bei Hölderlin positiv besetzt ist. Formal ebenso, material anders verhält es sich bei Fichte und Schelling, den beiden — neben Kant — damals für Hölderlin wichtigsten philosophischen Orientierungspunkten. Kant42 hält nur die sinnliche, nicht aber die intellektuelle Anschauung für menschen-möglich: denn letztere müßte die Noumena (Dinge an sich) zum Gegenstand haben. Solche Gegenstände lassen sich aber laut Kant nur ex negative bestimmen: sie sind weder ausgedehnt (räumlich) noch veränderlich (zeitlich); ihre Existenz kann nur postuliert werden. Für Fichte43 ist dem Menschen in 40 41 42 43

Diese Auffassung vertritt Dieter Henrich (1981), S. 252f. Vgl. Helmut Bachmaier (1979), S. 89f. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 76 u. 77. Vgl. bei Fichte z.B. den Abschnitt 5 der zweiten Einleitung zur „Wissenschafts-

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der intellektuellen Anschauung sein Selbstbewußtsein gegeben: in ihr ist der Mensch sich während seines Denkens dieses Denkens selbstbewußt. In ähnlicher Weise verwendet Schelling44 den Begriff. Für ihn bestimmt der Mensch in der intellektuellen Anschauung seine reine Identität als absolutes Ich. Nicht-sinnlich ist diese Anschauung, weil das Ich hierbei selbstreferentiell verfährt, d.h. kein Objekt, sondern sich selbst anschaut. Für Hölderlin ist die „intellectuale Anschauung" nicht Medium, sondern Voraussetzung des (Selbst-)Bewußtseins: „bloße Harmonie [...] und ihr mythisches bildliches Subject, Object, mit Verlust des Bewußtseyns" (4,1; S. 259 Z. 18-20). Das Gewahrsein des „Seyns schlechthin" ist ein bewußtseinstranszendierender, nur intuitiv vollziehbarer Akt, in dem Subjekt und Objekt nicht auseinandergesetztgegenständlich, sondern in ihrem „höheren mehr als mechanischen Zusammenhang" (ebd.; S. 275 Z. 6f) erfahren werden: nämlich „als Einigkeit mit allem, was lebt" (ebd.; S. 267 Z. 34). Festzuhalten ist auch, daß Hölderlin diese Konstellierung von Subjekt und Objekt als ,mythisch' und ,bildlich' prädikatisiert. Diese Kennzeichnung weist schon auf Hölderlins eigenen, noch zu entwickelnden Begriff des »Mythischen' hin, und deutet einmal mehr an, daß nicht im rationalen Diskurs der Philosophie, unter Verwendung einer präzisen, eindeutigen Begrifflichkeit, das „Seyn schlechthin" gegenwärtigt werden kann, sondern nur „ästhetisch, in der intellectualen Anschauung" (6,1; S. 181 Z. 14): „Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn" (ebd.; S. 203 Z. 36). „Intellectuale Anschauung" ist mithin bei Hölderlin ein positiv konnotierter, spekulativer Begriff. Das mit ihm Gemeinte, das in dieser Anschauungsform Gegebene entzieht sich qua definitionem der allgemeinen, objektiven Nachprüfbarkeit. Es ist intuitiv Geschautes, von dem im Hinblick auf seine epistemische Qualität gesagt werden muß, daß es sich um Offenbarungswissen handelt. Quelle des Wissens ist das „Seyn schlechthin", und der Dichter fungiert als sprachmächtiges Medium, das den Menschen die Intentionen des „Seyns" zu vermitteln hat: „Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen lehre". Als Sekundärliteratur: Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in der Wissenschaftslehre von 1793/94 bis 180V 02, Stuttgart 1986. 44 Vgl. Schellings 1795 veröffentlichte Schrift „Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen".

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Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen." (2,1; S. 119 vs. 56-60) Die Rede vom »entblößten Haupte* und von der »eigenen Hand' weist auf die ausgezeichnete Stellung der Dichter, auf die exklusive Offenbarung des „Vaters" (der Metapher für das „Seyn schlechthin" ist) in der Dichtung hin. Der „Stral" (= „die himmlische Gaabe") ist Metapher für die Intentionalität des „Seyns", das „Lied" bezeichnet diese Intentionalität in sprachlicher Ausgestaltung. Sind die Intuition des Dichters und die Intention des „Seyns" kongruent, dann spricht der Dichter wahr. Diese Kongruenz zu gewährleisten, ist die spezifische ,Sorge' des Dichters (vgl. ebd.; S. 99 vs. 105-108). Die Kongruenz ist möglich, wenn sich „der Dichter mit dem reinen Tone seiner ursprünglichen Empfindung [...] umsieht in seiner Welt [...] und es ist vorzüglich wichtig, daß er in diesem Augenblike nichts als gegeben annehme, von nichts positivem ausgehe, [...] nicht eher spreche, ehe für ihn eine Sprache da ist, d.h. ehe das jezt Unbekannte und Ungenannte in seiner Welt eben dadurch für ihn bekannt und nahmhaft wird, daß es mit seiner Stimmung verglichen und als übereinstimmend erfunden worden ist" (4,1; S. 263 Z. 24 - S. 264 Z 4). Weü der Dichter zum „Seyn" nicht in der Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern in einem medialen Verhältnis steht, ist seine „Stimmung" auch keine .subjektive' (private, akzidentielle), sondern eine Ekstase des „Seyns" selbst. Als intentionales, d.h. epistemisch strukturiertes, ist das „Seyn schlechthin" zwar für sich bewußtseinstranszendent, aber doch offen für die durch das Bewußtsein charakterisierte Sphäre des ,Urteils'.45 45 Daß „intellectuale Anschauung" und Bewußtsein zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen sind, deutet Hölderlin auch an, wenn er in Bezug auf den Dichter von dessen „Tendenz zur Allgemeinheit" spricht, „zu jener ruhigen Betrachtung, zu jener Vollständigkeit und durchgängigeren) Bestimmtheit des Bewußtseyns [...], womit der Dichter auf ein Ganzes blikt" (4,1; S. 156 Z. 2-7). Das in der „intellectualen Anschauung" Gegebene ist nicht-gegenständliches, intuitiv-(atmo) sphärisches Wissen. Mit ihm wird das Bewußtsein nicht zu seiner Aufhebung, sondern auf eine Erweiterung hin transzendiert. Es nimmt als intentionales nun seine Gegenstände nicht mehr isoliert für sich, sondern im All-Zusammenhang wahr. Eben diese .vereinigende' Wahrnehmung, die jede Entität erst in ihrer eigentümlichen ontosemantischen Durchstimmtheit zeigt, ist poetisch (vgl. 6,1; S. 305 Z. 122-Z. 139; S. 306 Z. 168-175). Vgl. zur Abgrenzung des positiv konnotierten intuitiven Wissens vom negativen nur-rationalen Wissen auch: 14; S. 266 vs. 20-32; 2,1; S. 13 vs. 20-32, S. 44 vs. 10-16, S. 47 vs. 45-67, S. 151 vs. 81-97, S. 180 vs. 72 f, S. 226 vs.

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Das „Seyn schlechthin" ist eben auch insofern die „geheimnißvolle Quelle der Dichtung" (3,1; S. 144 Z. 15), als es Referent jeder Bedeutung eines jeglichen sprachlichen Zeichens ist. Es konstituiert die Aussagegehalte in den Aussagetermen. Jede Aussage aber ist ein Urteil, ist als Verbindung von Begriffen nur unter den Bedingungen von Raum und Zeit und im Gefüge der Subjekt-Objekt-Spaltung dechiffrierbar. Das intentionale „Seyn schlechthin" steht mithin weder dem ,Urteir beziehungslos gegenüber, noch geht es ganz in dieser Sphäre des Bewußtseins auf. Es,durchstimmt'jedes Urteil als Aussage, d.h. es konstituiert dessen Sinn — seine umfassende unendliche Bedeutung, die vom bewußtseinstranszendenten, aber ekstatischen „Seyn schlechthin" verfügt wird. Die „intellectuale Anschauung" ist ein Zentralbegriff Hölderlins, weil sie die Verbindung zwischen Ontotogie und Hermeneutik stiftet. Sie weist Hölderlins „neue Mythologie" als ontosemantisches Konzept aus. Im folgenden sollen diese beiden Aspekte weiter erläutert werden. (2) „Über Religion" Dieser Fragment gebliebene Aufsatz dürfte zur gleichen Zeit entstanden sein wie das »Systemprogramm'; denn beide Texte lassen sich hypothetisch auf den Winter 1796/97 datieren. Auch inhaltlich gibt es eine Reihe von Konvergenzen, gerade im Hinblick auf die ,Systemprogramm'-Forderung nach einer „neuen Mythologie".46 Hölderlin führt in seinem Text die „Mythe" als einen ontosemantischen Begriff ein. Er begründet ontologisch und hermeneutisch, weshalb der Mensch nur mythisch sein eigentliches, umfassendes Verhältnis zum „Seyn schlechthin", sein eigenes In-der-Welt-Sein, adäquat zur Sprache bringen kann. Zunächst unterscheidet Hölderlin zwei Formen von Beziehungen, die im Verhältnis des Menschen zu seiner Lebenswelt möglich sind: den bloß „mechanischen" und den „höheren" Zusammenhang (vgl. 4,1; S. 275 Z. 2-8). Der .mechanische Zusammenhang' läßt sich im Humanbereich verstehen als die vertraglich regelbaren Beziehungen von Individuen zueinander, die sich wechselseitig als frei im Sinne des kantischen 8-10, S. 238 vs. 35-39, S. 256 vs. 54 f, S. 317 vs. 7-11, S. 322 vs. 1-3; 3,1; Hyp I. S. 11 Z. 18-S. 12 Z. l, Hyp II. S. 23 Z. 15-18, S. 102 Z. 12-15; femer in 3,1; S. 533 vs. 13-24, S. 535 vs. 67-70, 4,1; S. 20 vs. 457-459. 46 So kann D. E. Sattler in der FHA Bd. 14 zurecht bemerken: „Unübersehbar stimmt Hölderlins Entwurf in der Tendenz mit dem Systemprogramm überein; er legt gewissermaßen den Grund zur Erfüllung der dort erhobenen Forderung einer neuen Mythologie" (S. 12).

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,Zwecks an sich selbst' definieren. Für das Verhältnis des Menschen zu dessen außermenschlicher Natur bedeutet er deren unorganische Wahrnehmung als eine Ansammlung determinierter Atome, die durch Anwendung der entsprechenden (physikalischen, biologischen, chemischen) Gesetze vom Menschen als dem Subjekt des Erkennens und Handelns objektiv verfügbar gemacht werden können. Insgesamt bezieht der »mechanische Zusammenhang' sich nur auf „physische und moralische Nothdurft" (ebd.; Z. 5). Er kennzeichnet das defizitäre Leben in der Sphäre des .Urteils': die Subjekt-Objekt-Spaltung wird nicht dichterisch durchstimmt, nicht als das hen diapheron heauto erfahren. Hölderlin bezeichnet diese Existenzform als eine, die der tierischen vergleichbar sei (vgl. ebd.; S. 276 Z. 3f). Diese Assoziation begegnet schon in ,mF (vgl. dort vs. 51,71,149). Hier wie dort bedeutet sie die — freilich mit tadelndem Unterton vorgetragene — Feststellung, daß es den Menschen durchaus möglich sei, mit einer theoretischen und praktischen ,Engführung' des Lebens zufrieden zu sein, dessen defizitären Charakter gar nicht zu verspüren. Weshalb das so sein kann, begründet Hölderlin in den beiden genannten Texten nicht; wohl aber dann in seiner »neu-mythischen' Erzählung der .Seinsgeschichte', wie sie in Anwendung der ontologischen Überlegungen von ,UD' und ,WV' z.B. die Elegie „Brod und Wein" und der hexametrische Hymnus „Der Archipelagus" entfalten werden (vgl. dazu den folgenden Abschnitt). Der ,höhere Zusammenhang' realisiert sich für den Menschen „in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabenen Beziehung, in der er stehet mit dem was ihn umgiebt." (Ebd.; S. 278 Z. 9-11) Er manifestiert sich in der monistischen Erfahrung, daß Alles (pan) Eins (hen) ist und bedeutet, „die Feier des Lebens mythisch (zu) feiern." (Ebd.; S. 281 Z. 21f) Ein Mensch, der den ,höheren Zusammenhang' mit seiner Welt erfährt, lebt deshalb aber nicht im „Seyn schlechthin", bewußtlos jenseits der Sphäre des ,Urteils'. Indessen ist für ihn diese Sphäre sinnhaft durchstimmt. Er nimmt Entitäten nicht mehr nur-gegenständlich, nicht mehr in der Vereinzelung wahr, sondern er erfaßt sie intuitiv von ihrem All-Zusammenhang, dem konstitutiven Ganzen her. In diesem Gewahrsein erlebt er die „Feier des Lebens" und freilich zugleich sich selbst als einen der Feiernden.47 Die Form dieser Feier bezeichnet Hölderlin als „mythisch". Mit ihr ist der ontologische Aspekt des 47 Vgl. „Der Rhein", vs. 180 f: „Dann feiern das Brautfest Menschen und Götter/Es feiern die Lebenden all,".

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Mythischen angedeutet. Die sprachgestaltete Mythe ist ihr hermeneutisches Korrelat. Hölderlin fragt nun, warum sich die Menschen „eine Idee oder ein Bild machen müssen, von ihrem Geschik, das sich genau betrachtet weder recht denken ließe noch auch vor den Sinnen liege?" (Ebd.; S. 275 Z. 12-14) „Recht denken" läßt sich dieses „höhere Geschik" (ebd.; Z. 7) nicht, weil es der Vorstellungsform eines analytischen Zergliederns gerade entzogen ist. „Vor den Sinnen" liegt es nicht, weil die in ihm gegebene Sinnhaftigkeit nicht eine augenfällige, für jedermann evidente Positivität ist. Denn was wäre — in genuin christlicher oder auch in Hölderlins Wahrnehmung — über die menschheitsgeschichtliche Bedeutung der Biographie Jesu Christi ausgesagt, wenn man hier nur die ,objektiven' Fakten schildern und z.B. sagen würde, daß Jesus religiöses Ärgernis erregt habe und dafür auf eine zeit- und kulturübliche Art durch Kreuzigung getötet worden sei? (Auf dieses Beispiel wird im folgenden Abschnitt ausführlicher Bezug genommen werden.) Hölderlin antwortet nun auf seine Frage, „daß der Mensch auch in so fern sich über die Noth erhebt, als er sich seines Geschiks erinnern, als er für sein Leben dankbar seyn kann und mag" (ebd.; Z. 16-18). Die Erinnerung48 der mythischen Feier ist die Wiederholung des »wirklichen Lebens' ,im Geiste' (vgl. ebd.; S. 276 Z. 5-14) und findet ihre sprachliche Ausgestaltung in der Mythe.49 Denn in ihr — und nur in ihr — wird ein empirisches Ereignis mit seiner transzendentalen Sinnhaf48 Der Begriff „Erinnerung" ist in diesem Text außerordentlich positiv konnotiert. Er wird als Wahrnehmung eines empirischen Vorgangs in seiner transzendentalen Bedeutung verstanden. Hölderlin setzt ihm hier den Begriff „Gedächtniß" entgegen, der die positivistisch-faktenfbderte Wahrnehmung eines nicht im All-Zusammenhang gesehenen empirischen Ereignisses meint. Außerhalb von „Über Religion" begegnet der Begriff „Gedächtniß" aber auch vielfach in jener positiven Konnotation des Begriffes „Erinnerung". Vgl. z.B.: „Die Dioskuren" v. 7; „Stimme des Volks" v. 70; „Thränen" v. 18; „Brod und Wein" v. 36; „Der Rhein" v. 201; „Patmos. Dem Landgrafen von Homburg." v. 143; „Andenken" v. 57; „Die Titanen" v. 36; „Wenn aber die Himmlischen ..." v. 85. Dagegen ist „Erinnerung" mal negativ (z.B.: „Elegie", v. 56), mal positiv (z.B.: „Griechenland II v. 8; vgl. auch „erinnern" in „Stutgard" v. 89) konnotiert. Hölderlins Terminologie, im Aufsatz so eindeutig, erweist sich im Gesamtwerk als changierend. — Vgl. zu „Erinnerung" und „Gedächtniß" in „Über Religion": Gerhard Buhr: Hölderlins Mythenbegriff. Frankfurt/ Main 1972, bes. S. 21 f; Helmut Bachmaier: Hölderlins Erinnerungsbegriff in der Homburger Zeit. In: Jamme/Pöggeler (1981), S. 131-160, bes. S. 157 f; ders.: Der Mythos als Gesellschaftsvertrag. In: Bachmaier/Rentsch (1987; siehe Anm. 39), S. 131-161, bes. 136-142. 49 In unserem Zusammenhang, wo es um die grundlegende ontosemantische Struktur der Mythe geht, kann Hölderlins poetologische Differenzierung der Mythe in die Charaktere: „episch", „dramatisch", „lyrisch" undiskutiert bleiben. Vgl. dazu aber Gerhard Buhr (1972).

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tigkeit vermittelt und so im »höheren Zusammenhang' intuitiv verstanden. Diese Vermittlung ist möglich, weil die Mythe weder nur „intellectuelT noch nur „historisch" (ebd.; S. 280 Z. 23f), d.h. weder nur „Gedanke noch nur „Gedächtniß" (ebd.; S. 276 Z. 17), „sondern beedes in Einem" (ebd.; S. 280 Z. 28) ist. Hölderlin artikuliert hier auf seine Weise die ,Systemprogramm'-Forderung, „die Philosophen sinnlich zu machen."50 Denn er betont, daß transzendentale Gesetze, für sich genommen, sinnleer sind und „ohne einen besondern Fall" (ebd.; S. 277 Z. 6) keine Bedeutung gewinnen; wie auch umgekehrt der .besondere Fall' nicht in seiner eigentlichen Bedeutung erfaßt werden kann, wenn er nur als .historisches' Faktum vom positivistischen „Gedächtniß" registriert wird. Die Mythe bedarf durchaus des transzendentalphilosophischen Elements, wenn durch sie „das Volk vernünftig"51 werden soll. Hölderlins Kritik der reinen Allgemeinheit, seine Einbindung des (philosophischen) Gesetzes in die Mythe, bedeutet auch eine Kritik der praktischen Philosophie Kants, die paradigmatisch durch den Allgemeingültigkeit fordernden »kategorischen Imperativ4 repräsentiert wird. Um mythisch zu denken und zu handeln, muß man über „die moralische Nothdurft sich erheben" (ebd.; S. 275 Z. 5). Wie gezeigt, kann Hölderlin diese Auffassung mit seinen ontologischen und erkenntnistheoretischen Argumenten gegen die Philosophie begründen. Für die Mythe folgt daraus in hermeneutischer Hinsicht, daß ihre konkrete semantische Substanz aus dem in „intellectualer Anschauung" des ,Seyns schlechthin" gewonnenen intuitiven Wissens des Dichters stammt. Das in der Mythe exponierte Wissen ist nie .allgemeingültig', denn es kann nicht abstrakt sein, sondern ist stets gebunden an ein besonderes, empirisches Ereignis. Jedoch kann dieses Wissen als ,objektiv4 bezeichnet werden — zumindest, wenn man Hölderlins ontologjscher Argumentation folgt. Denn danach ist das „Seyn schlechthin" der Garant für die Authentizität, die ,Stimmigkeit' der Substanz der Mythe, welche sich damit als ontosemantische ausweist. Im folgenden Abschnitt steht wieder Hölderlins Auffassung vom „Seyn schlechthin" im Mittelpunkt. Dabei wird sich noch deutlicher zeigen lassen, weshalb die Mythe nicht .allgemeingültig', aber jObjektiv' ist.

50 verso, Z. 24 f; zit. nach lamme/Schneider (1984), S. 13f. 51 verso, Z. 24, zit. nach lamme/Schneider (1984) S. 13.

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(3) „ Über den Unterschied der Dichtarten" und „Das Werden im Vergehen"

An diesen Aufsatzfragmenten läßt sich ablesen, wie Hölderlins Seinsverständnis sich fünf Jahre nach ,mF und ,US' differenziert hat. Begründungsdefizite der frühen Texte werden ausgeglichen. Das erstgenannte Fragment enthält zwei Antworten auf die Frage, weshalb das „Seyn schlechthin" (hier das „Ursprünglich einige" genannt; 4,1; S. 268 Z. 8f) sich überhaupt ,ur-teilt': es gibt in ihm keinen Stillstand (vgl. ebd.; Z. 10), d.h. es ist ein transzendental-dynamisches; und es ist in seiner Bewegung teleologisch strukturiert, denn es strebt danach, in seinen Teilen sich zu fühlen. Deshalb soll gelten, daß „jeder Theil im Fortgang dem Ganzen gleich sei an Vollständigkeit, das Ganze hingegen im Fortgang den Theilen gleich werde an Bestimmtheit, jenes an Inhalt gewinne, dieses an Innigkeit" (ebd.; Z. 15-18). Von einer , i/r-Teilung' im Sinne einer logisch und/oder chronologisch bestimmbaren Genesis der Sphäre des ,Urteils' ist nicht die Rede. Dem „Ursprünglich einigen" eignet nun transzendental die Zeitlichkeit. Impliziert ist damit auch, daß die Sphäre des ,Urteils' nicht (mehr) als eine material stets gleiche gedacht wird: es gilt, daß „die Theile des Einigen nicht immer in derselben näheren und entfernteren Beziehung bleiben dürfen, damit alles allem begegne" (ebd.; Z. 12-14). Die Sphäre des ,Urteils' ist mithin nur formal stets die eine mit sich identische. Material existiert sie als eine chronologische Folge verschiedener Sphären. Alle diese Sphären sind Konkretionen als Zeigeweisen des „Ursprünglich einigen" an ihm selbst52; jede „wirkliche Trennung" ist „nur ein Zustand des Ursprünglich einigen" (ebd.; Z. 5-9), welches sich damit transzendental als hen diapheron heauto erweist. Deutlich zeigt sich Hölderlins Ontologie hiermit als eine monistische; das in ,mP und ,US' textimmanent mögliche Mißverständnis, Hölderlin denke ein „Seyn schlechthin" als vollkommenes noch einmal neben dem in der ,Ur-Teilung' aufgegangenen „Seyn schlechthin", er konzipiere also eine problematische Zwei-Welten-Ontologie im Sinne Platos, ist hier ausgeräumt. Hölderlins Seinsdenken in ,UD' gibt auch die ontologische Begründung für seine chiliastische Interpretation der Geschichte, die er ungefähr zeitgleich zum hier in Rede stehenden Text — und dann haupt52 Vgl. den Begriff vom Phänomen bei Heidegger: „das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare." (Sein und Zeit, Halle 1927, S. 28). Auch für den durch die kritische Schule Kants gegangenen Hölderlin kann Heideggers Wort gelten: „Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich." (ebd.; S. 35).

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sächlich in seinen späten Elegien und Hymnen — verstärkt auszuprägen beginnt. Eine geschichtliche Dimension begegnet zwar auch schon in Hölderlins Texten aus früherer Zeit, doch die Geschichte wird dort eher negativ gewertet bzw. funktional als ein Zustand zwischen ursprünglicher „seeliger Einigkeit" (3,1; S. 236 Z. 15) und deren Wiederkehr als „Frieden allen Friedens" (ebd.; Z. 25) betrachtet, wie die Vorrede zur vorletzten Fassung des „Hyperion" aus der zweiten Hälfte des Jahres 1795 aussagt. Das Zukünftige wird hier noch regressiv53 als Wiederherstellung des Gewesenen gedacht. Und es begegnet hier — wie auch in „Urtheil und Seyn" — eine problematische ontologisch-epistemische Doppelung: „das Seyn, im einzigen Sinn des Worts, ist für uns verloren" (ebd.; Z. 15) und zugleich doch vorhanden — als Schönheit" (ebd.; S. 237 Z. 4f). Es ist mithin zum einen ahistorisch-unversehrt und begegnet in der (vorreflexiven) „intellectualen Anschauung" als intuitiv-atmosphärische Erfahrung des Schönen; zum anderen aber ist es geschichtlich-urgeteilt und begegnet in diesem epistemischen Modus in der ,uninspirierten', rein rationalen Wahrnehmung des Endlichen als Endliches, d.h. der einzelnen Seienden als separater Teile. — Keimhaft nur ist in diesem Text die Vermittlung der beiden extremen Positionen (unendlich-endlich) angelegt: die (eben auch später erst ontologisch begründete) Einsicht, daß „für uns" (d.h.: epistemisch; aber freilich mit ontologischem Korrelat!) das monistische Sein changierend zwar, doch immer authentisch sich an sich selbst zeigt.54 Das Niveau von ,UD' deutet sich dann 1797/98 mit den Arbeiten am Trauerspiel „Der Tod des Empedokles" an. So heißt es schon in der ersten Fassung (vs. 1634-1636): „Wenn dann die glüklichen Saturnustage/Die neuen, männlichem gekommen sind^Dann denkt vergangner Zeit". Hier wird nicht „eine neue Unmittelbarkeit, [...] die Wiederherstellung des Goldenen Zeitalters"55 vorgestellt. Dagegen spricht grammatikalisch der Komparativ („männlichem"), und als inhaltliches Ar53 Vgl. zur regressiven Verneinung von Zeit und Geschichte auch das Gedicht „An die Natur"; drei der „Diotima"-Gedichte (1,1; S. 216-219; S. 220-222; S. 233); femer das Gedicht „An ihren Genius". Später warnt Hölderlin vor dieser Haltung wie auch vor dem bloß rückwärtsgewandten Sich-Verlieren in die ideal vorgestellte geschichtliche Vergangenheit. Vgl. „Stimme des Volks" I und II; „Der Archipelagus" vs. 205-207; .Andenken" vs. 25-36; „Der Einzige" II vs. 53-56; „Der Einzige" III, vs. 71-73; „Mnemosyne" III, vs. 12-14. 54 Vgl. zu Hölderlins Verständnis von Sein und Geschichte auf den verschiedenen Stufen der Arbeit am „Hyperion" und in späterer Zeit: Christoph Jamme (1983), S. 72-77; 87-98; 191-195. 55 So deutet indessen Christoph Jamme (1983), S. 307 die Textstelle. 35

gument der Hinweis auf das (Ge-)Denken „vergangener Zeit" (vgl. „Der Archipelagus", vs. 271-277). Denn solches Erinnern ist nur in der Sphäre des Urteils möglich. Es setzt Unterschiedenheit, Mittelbarkeit, Bewußtsein voraus. Das „Ursprünglich einige" tendiert zu immer größerer Bestimmtheit, nicht zur Wiederkehr der unbestimmten und damit bewußtlosen Innigkeit. Der geschichtlich existierende Mensch soll auch ferner sein Bewußtsein behalten: denn es ist „seine Menschenbestimmung, [...] das Leben der Natur zu vervielfältigen, zu beschleunigen, zu sondern, zu mischen, zu trennen, zu binden." (6,1; S. 328 Z. 85-87) Hölderlins ontologischer Entwurf in ,UD' impliziert, daß irgendwann die vollkommene Bestimmtheit des „Ursprünglich einigen" erreicht sein wird. Durch die These von der Unmöglichkeit des Stillstands impliziert er jedoch auch, daß damit die Zeit als Bewegung nicht einfach aufhört. Die Qualität der Zeit wird sich ändern: sie ist dann nicht mehr Bewegung zum telos hin, sondern selbst-bewußte Bewegung des hen diapheron heauto56. Ort dieses Selbstbewußtwerdens ist der Mensch; durch ihn, das „mächtige Triebrad" (ebd.; S. 329 Z. 126) kommt der „Geist, der entfaltet seyn will," (ebd.; Z. 117f) zum Ziel. Damit ist auch impliziert, was sich schon im Kontext von ,ÜR' angedeutet hat; der im ,höheren Zusammenhang' lebende Mensch ist kein .Zweck an sich selbst', sondern verfügt in ein geschichtliches Schicksal. Das gilt für Einzelgestalten ebenso wie für Menschengemeinschaften. „So ist Empedokles ein Sohn seines Himmels und seiner Periode" (4,1; S. 154 Z. 25), „so individualisirt sich seine Zeit in Empedokles" (ebd.; S. 158 Z. 1), denn „das Schiksaal seiner Zeit [...] erforderte ein Opfer" (ebd.; S. 156 Z. 22-25; vgl. auch: S. 155 Z. 20f; 31f; S. 156 Z. 14-S. 158 Z. 4; S. 159 Z. 22-28). Und Hermokrates, der Gegenspieler, „ist das Schiksaal selber" (ebd.; S. 162 Z. 10). Die antiken Griechen waren dazu bestimmt, ihre volksgemeinschaftliche Identität und ihre Kultur verlieren zu müssen, während es den Abendländern bereitet ist, aus dem Zustand ihrer „noch kinderähnlichen Kultur" (6,1; S. 436 Z. 15) sich zu einer dauerhaften Hochkultur aufzuschwingen.57 56 Vgl. auch: Uwe Beyer. Christus und Dionysos. Ihre widerstreitende Bedeutung im Denken Hölderlins und Nietzsches. Münster und Hamburg 1992, Abschnitt 1,1.10. 57 Vgl. zum Verhältnis zwischen den antiken Griechen und den Abendländern Hölderlins Briefe an Böhlendorff vom 4. Dez. 1801 und aus dem Jahr 1802 (6,1; S. 425-428; S. 432 f.; dazu die hymnischen Entwürfe „... meinest du, es solle gehen ..." (2,1; S. 228; bes. vs. 1-15) und „Einst hab ich die Muse gefragt..." (ebd.; S. 220 f; bes. vs. 6-8). In den späten Hymnen und hymnischen Entwürfen betont Hölderlin verstärkt Kampf, Gefahr und Widerstand bei der Bereitung der erfüllten

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Das dynamische „Ursprünglich einige" zeigt sich also an ihm selbst in der Sphäre des Urteils, und hier in einer Abfolge je konkreter Sphären. Jede dieser Sphären ist auf eine spezifische Weise ontosemantisch durchstimmt. Das „Seyn schlechthin" wirkt nicht nur konstant als Copula vermittelnd zwischen Subjekt und Objekt (Modus: ,bloßes Sein')58, sondern es wirkt in dieser Beziehung auch transzendental als intentionales Sein (Modus: „intellectuale Anschauung"). Diese Wirkung ist die je konkrete semantische Durchstimmung der Sphäre. Aus diesem Kontext läßt sich bereits verstehen, weshalb eine Mythe zwar nicht,allgemeingültig', aber .objektiv' ist. Die Sphäre des Urteils existiert nicht .allgemein'; sie ist eine je konkrete, eine auf je besondere Weise bedeutsame. Dennoch ist sie .objektiv* insofern, als das „Seyn schlechthin" ihr die ontosemantische Evidenz gibt. Und die Mythe ist sprachgestaltete Reproduktion eines je besonderen sphärischen Ereignisses. Weshalb das Verhältnis von „Seyn schlechthin" und der Sphäre des »Urteils' kein statisches ist, begründet Hölderlin in ,UD'. Wie der Übergang von einer konkreten Sphäre zur anderen sich vollzieht, erläutert Hölderlin nun in ,WV'. Das „Seyn schlechthin" begegnet hier unter dem Titel „die Welt aller Welten, welche immer ist und seyn muß, deren Seyn als das Alles in Allen angesehen werden muß" (FHA Bd. 14 S. 174 Z. 7-9). Diese deutlich als monistisch gedachte „Welt" zeigt sich an ihr selbst auf zweifache Weise: sie „stellt sich nur in aller Zeit — oder im Untergange oder im Moment, oder genetischer im Werden des Moments und Anfang von Zeit und Welt dar" (StA 4,1; S. 282 Z. 10-12). Die monistische „Welt" ist mithin zeitliches „Seyn", das sich in einer Abfolge von je konkreten „Welten" präsentiert (und insofern jeweils bestimmtes Zeit. Vgl. z.B. „Der Einzige" II, vs. 50-72; III vs. 69-73; „Patmos. Dem Landgrafen von Homburg." v. 87, vs. 171-175; „Mnemosyne" I, vs. 49-52; III vs. 8-13; „An die Madonna", vs. 121-134; „Die Titanen", vs. 1-5; 23-28; 75-83; „Wenn aber die Himmlischen ...", vs. 30-47; 87-96; „Das Nächste Beste" I, vs. 1-7; II, vs. 1-7. Doch im ganzen behält Hölderlin auch in der Spätzeit die chiliastische Hoffnung bei. Vgl. der Vatikan..." vs. 44 f; „Griechenland" III, vs. 32-34; den Brief an Seckendorf vom 12. März 1804 (6,1; S. 437, bes. Z. 38-40). Selbst noch in der Zeit des Wahnsinns schreibt Hölderlin an die Mutter: „Die Zeit ist buchstabengenau und allbarmherzig." (Ebd.; S. 467 Z. 6f). 58 Zur Unterscheidung von „Seyn schlechthin" und ,bloßem Sein' vgl. Helmut Bachmaier (1979), S. 90. In der Tat verwendet Hölderlin in ,US' zwei Begriffe von „Seyn", wobei der letztere eine Modifikation des ersteren ist; „Wo Subject und Object schlechthin [ . . . ] vereiniget ist, da und sonst nirgends kann von einem Seyn schlechthin die Rede seyn." (4,1; S. 216 Z. 23-27): „Seyn - drükt die Verbindung des Subjects und Objects aus." (Ebd.; Z. 22).

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„Seyn" ist), und außerdem die Abfolge der „Welten" notwendig (aufgrund ihrer immerwährenden Dynamik) bewirkt. Die je konkrete ,Welt' nennt Hölderlin „lebendig Bestehendes" (ebd.; Z. 17). Das Substantiv kennzeichnet die Bestimmtheit einer solchen ,Welt', das Attribut die in der Zeitlichkeit des „Seyns" begründete Relativität der erreichbaren Fest-Stellung. Wie für die hermeneutische Struktur der Mythe, so gilt für die ontologische Struktur der jeweils konkreten ,Welt': sie ist ,objektiv', aber nicht »allgemeingültig'. Ein „lebendiges Ganzes" ist „zwar durch und durch individualisirt", und es „muß aus jedem endlichen Gesichtspunct irgend eine der selbständigen Kräfte des Ganzen die herrschende seyn, aber sie kann auch nur als temporär und gradweise herrschend betrachtet werden." (6,1; S. 301 Z. 67-73) Als intentionales „Seyn" durchstimmt die „Welt aller Welten" jede konkrete ,Welt' individuell; dergestalt, daß jeweils „eine Beziehungsart, und Stoffart" (4,1; S. 282 Z. 18) vorherrscht als eine „besondere Wechselwirkung" zwischen „Mensch und Natur" (ebd.; Z. 2f). Dabei stehen — wie gezeigt — „Mensch und Natur" sich nicht in der vergegenständlichenden Subjekt-Objekt-Relation gegenüber; sondern der Mensch wirkt als bewußtseinsbegabter Modus des „Seyns" in der transzendental ihm ,verwandten' Natur. Schon um zu verstehen, welches in der je konkreten ,Welt' die „besondere Wechselwirkung" semantisch ist, bedarf der Mensch des in der „intellectualen Anschauung" gegebenen intuitiven Wissens um den »höheren Zusammenhang', der zwischen ihm und seiner Sphäre herrscht. Die generelle Tendenz des „Seyns" erschließt sich ihm aber erst, wenn er das Gesetzmäßige in der Abfolge der „Welten" durchschaut. Dazu muß er verstehen, (1) wie der Übergang von ,Welt' zu ,Welt' sich vollzieht, und (2), wie die Erinnerung an eine gewesene und die Prognose für eine künftige ,Welt' möglich ist. Zu (1): Hier geht es um die ,genetischere' Zeigeweise der „Welt aller Welten" an ihr selbst. Hölderlin arbeitet zu ihrer Beschreibung mit den Modalkategorien Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit. Der Übergang ist durch eine Umkehr des Innerhalb einer ,Welt' herrschenden Verhältnisses von .Wirklichkeit' und ,Möglichkeit' zueinander charakterisiert: „Im lebendig Bestehenden herrscht eine Beziehungsart, und Stoff art vor; wiewohl alle übrigen darinn zu ahnden sind, im übergehenden ist die Möglichkeit aller Beziehungen vorherrschend, doch die besondere ist daraus abzunehmen" (ebd.; Z. 17-20); „Aber das Mögliche, welches in die Wirklichkeit tritt, indem die Wirklichkeit sich 38

auflöst, diß wirkt, und es bewirkt sowohl die Empfindung der Auflösung als die Erinnerung des Aufgelösten." (Ebd.; S. 283 Z. 5-7)59 In nuce sind damit alle wichtigen Informationen gegeben: der Übergang vollzieht sich durch eine Fluktuation zwischen faktisch Wirklichem und real Möglichem. Faktisch wirklich ist jeweils eine ontosemantische Durchstimmung des Verhältnisses zwischen „Mensch und Natur". Weil aber das „Seyn" der monistisch-dynamischen „Welt aller Welten" das „Alles in Allen" ist, muß es mehr sein als das jeweils faktisch Wirkliche. Für eine je konkrete ,Welt' bedeutet dies, daß sie nach Genotyp und Phänotyp zu differenzieren ist. Genotypisch ist sie die „Welt aller Welten" als das „Unendlichreale" (ebd.; S. 286 Z. 8f), welches die infinite Zahl an realen Möglichkeiten (zu bestimmten, daher jeweils endlichen „Welten") in sich enthält; wovon aber phänotypisch — d.h.: in einem bestimmten Zeitraum — nur jeweils eine, Welt' faktisch wirklich ist. Der Phänotyp ist transparent auf den Genotyp hin: deshalb sind die realen Möglichkeiten (potentielle ontosemantische Durchstimmungen) „darinn zu ahnden". Diese Transparenz erklärt sich aus dem Monistischen der Ontologie Hölderlins. In der Differenzierung nach Genotyp und Phänotyp zeigt die „Welt aller Welten" sich als hen diapheron heauto. Im Zustand des Übergangs ist eine ontosemantische Durchstimmung nicht fest-stellbar; jedoch „daraus abzunehmen". Denn die „neue Welt, eine neue aber auch besondere Wechselwirkung", geht aus dem Genotyp der alten, „besonderen ideal gewordenen Welt" (ebd.; S. 286 Z. 7f; 3f) hervor. Sie ist nichts Ganz-Neues und insofern historischgenetisch Unerklärliches, sondern ihrerseits das Resultat einer Wechselwirkung: der Fluktuation zwischen faktisch Wirklichem (wird zu real Möglichem transformiert) und real Möglichem (changiert zur faktischen Wirklichkeit). Die Fluktuation selbst läßt sich als ,ontologisches Ereignis' bezeichnen („diß wirkt"). Davon ist das (unter (2) zu erläuternde, in sich zweistufige) ,hermeneutische Ereignis' zu unterscheiden („es bewirkt"). Den Begriff »Ereignis' führe ich hier ein, um Hölderlins komplexe Ausführungen in ,WV' zu seiner Ontosemantik systematisch-analytisch zu differenzieren. Der Terminus selbst ist in bewußter Anlehnung an Heidegger gewählt. Zwar ist hier nicht der Ort, Hölderlins Ontoseman59 Hölderlin kennzeichnet damit das Verhältnis von ,Wirklichkeit' und .Möglichkeit' zueinander ganz ähnlich wie Bloch. Vgl. dazu: Uwe Beyer: Kunst als Vorschein, oder: inwiefern Hölderlin hält, was Bloch verspricht. In: prima philosophia, Bd. 4 Heft 2, Cuxhaven 1991, S. 165-196; bes. S. 181 und S. 186-191.

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tik traditionsgeschichtlich zu koordinieren, aber zum Begriff des „Ereignisses' sei doch folgendes gesagt: Bei Heidegger*3 hat der Terminus eine ausgezeichnete ontosemantische Bedeutung. Er bezeichnet die Zeigeweise des Seins an sich selbst (ontologischer Aspekt) als dessen Intentionalität, konkret gegeben im Modus jeweiliger Intention (hermeneutisch-semantischer Aspekt). Dabei versteht Heidegger die Sprache als das Sein im Modus seiner (geschichtlich changierenden) Offenbarkeit, und den Menschen als den Ort dieser ,Lichtung'. Wenn der Mensch sprachliche Zeichen (Phoneme wie Grapheme) verwendet, sind deren Bedeutungen vom Sein her verfügt. Der Mensch erbringt hier keine Eigenleistung, sondern ist schicksalhaft in die ,Geschichte des Seins' eingelassen. Ähnlich verhält es sich bei Hölderlin: die Dichtung ist „des Seyns" im subjektiven und objektiven Sinn, wobei der Dichter selbst sprachbegabtes Medium „des Seyns" ist: „was bleibet aber, stiften die Dichter." (2,1; S. 189 v. 59) Denn der Dichter, der ja nicht eher spricht, „ehe für ihn eine Sprache da ist" (4,1; S. 263 Z. 34 - S. 264 Z. 1), weiß durch „intellectuale Anschauung" intuitiv, wie und worin konkret die „Welt aller Welten" sich als bedeutsame in einer bestimmten ,Welt' zeigt. Durch ihn entfaltet das ,ontologische Ereignis' seine hermeneutische Dimension und erweist sich selbst als ontosemantisches. Mit dem Begriff ,ontologisches Ereignis' soll nun bezeichnet sein: der Übergang von ,Welt' zu ,Welt', und zwar gerade in der ihm eigenen Konnotation, nämlich in der Ausrichtung auf die Bildung einer „neuen Welt". Hölderlin selbst bezeichnet den Übergang in diesem Sinne als „mythischen Zustand" (ebd.; S. 286 Z. lOf), und er kennzeichnet ihn „als einen (transcendentalen) schöpferischen Act [...], dessen Wesen es ist, idealindividuelles und realunendliches zu vereinen", damit „sich dann ein neues Individuelles, indem das Unendlichneue vermittelst dessen, daß es die Gestalt des endlichalten annahm, sich nun in eigener Gestalt individualisirt" (ebd.; Z. 5-7; 26-28). „Schöpferisch" ist der genannte Akt, weil durch ihn eine „neue Welt" entsteht; „transcendental", weil die „Welt aller Welten" im Übergang die Sphäre des ,Urteils' neu durchstimmt, d.h. zukünftig der Mensch sich und seine Sphäre in anderer Bedeutung erfahren wird als zuvor. „Mythisch" läßt der Übergang sich aus mehreren Gründen nennen (wenn man die Semantik des Wortes/Wortfeldes im »Systemprogramm' 60 Vgl. zum folgenden: Martin Heidegger: Der Weg zur Sprache. In: ders.: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen, siebente Auflage 1982, S. 239-268.

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und in „Über Religion" mitdenkt).61 Erstens ist der Mensch in diesem Akt (wie auch sonst) nicht der sein-setzende (man denke dagegen an die „Thathandlung" bei Fichte), sondern der geschichtlich in sein jeweiliges Schicksal verfügte. Zweitens ist der Akt ins rationale Urteil nicht einholbar; nach den Kriterien der Logik ist er kontradiktorisch, paradoxal strukturiert: ein „reales Nichts" (ebd.; S. 285 Z. 23). Denn .Möglichkeit' und »Wirklichkeit' verhalten sich während der Fluktuation nicht mehr ihrer (statischen) Definition gemäß. „Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung".62 Wie in der ersten Hinsicht ontologisch, so zeigt sich hier erkenntnistheoretisch die Abhängigkeit des Menschen vom unverfügbaren „Seyn schlechthin". Drittens weist der „mythische Zustand" eine Strukturanalogie zur .Mythe' gemäß „Über Religion" auf. Beide Begriffe sind zweistellig, sind gegeben im Habitus ,endlich-unendüch'. In der Mythe wird ein empirisches Faktum zum eigentlichen' Verständnis seiner Bedeutung transzendentalontologisch durchstimmt; im „mythischen Zustand" wird die „endlichalte" ,Welt' mit dem „Unendlichneuen" zu einer „neuen Welt" vermittelt. Diese „neue Welt" hat die Gestalt der „endlichalten", d.h.: auch sie ist formal eine Sphäre des ,Urteils'. Dennoch ist sie „in eigener Gestalt individualisirt" (Hervorhebung von mir, ÜB): durch die ,genetischere' Präsentation der „Welt aller Welten" als „Unendlichneues" hat sich als Resultat der Fluktuation eine neue transzendentale Durchstimmung der Sphäre des ,Urteils' ergeben. Systematisch führt übrigens der Aufweis, daß der ontohermeneutische Begriff des „Mythischen" die Struktur .endlich-unendlich' besitzt, zu einem weiteren wichtigen Resultat: bereits die Analysen von ,mP und ,US' haben gezeigt, daß Hölderlin auch den existenzialen Habitus des Menschen als .endlich-unendlich' bestimmt. Hölderlin versteht mithin — wie sich nun zusammenschauend sagen läßt — sowohl den existenzialen als auch den epistemischen Charakter des menschlichen Daseins als »mythisch'. Er sieht diesen in der Mythe, jenen als Resultat des „mythischen Zustande" begegnen. Zu (2): Das ,hermeneutische Ereignis' bezieht sich auf das .ontologische Ereignis' in seiner Wahrnehmung durch den Menschen. Es wird durch den ontologischen Vorgang „bewirkt", steht also in kausalem Verhältnis zu ihm, ist aber nicht mit ihm identisch. Das ,hermeneuti61 Über Differenzen im Verständnis des Mythischen zwischen ,WV' und ,ÜR' wird noch zu sprechen sein. 62 Georg Büchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. Erster Akt. Zweite Szene. König Peter vom Reiche Popo spricht. 41

sehe Ereignis' zeigt sich als „Empfindung der Auflösung" und „Erinnerung des Aufgelösten". Es unterteilt sich mithin in zwei Phasen. Auf der »empfindsamen' Stufe drückt sich der „Schmerz der Auflösung aus; in diesem ist das Neuenstehende, Idealische, unbestimmt, mehr ein Gegenstand der Furcht, da hingegen die Auflösung an sich, ein Bestehendes selber wirklicher scheint und reales oder das sich Auflösende im Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn im Nothwendigen begriffen ist." (Ebd.; S. 283 Z. 16-20) Der Übergang wird negativ erfahren als Untergang einer ,Welt'. Noch zeichnen sich keine klaren Konturen einer „neuen Welt" ab. Begriffen (wenn man das Wort im gegebenen Kontext als ontologisch und hermeneutisch konnotiert versteht), begriffen also wird einzig, daß die sich vollziehende Fluktuation notwendig ist. Woher der Mensch diese Einsicht hat, erläutert Hölderlin nicht weiter. Doch verhält es sich wohl so, daß die „Welt aller Welten" auch während der Fluktuation eine intentionale ist und dem Menschen sinnvoll in der „intellectualen Anschauung" sich mitteilt: nun eben »genetischer' als unendlich-dynamische, die den Horizont jeder endlichen ,Welt' sprengen muß. Daher weiß der Mensch dann intuitiv um die Notwendigkeit der Auflösung. Und weil für ihn jetzt die Erfahrung der Fluktuation im Mittelpunkt steht, tendiert er sogar dazu, die Auflösung zu einem „Bestehenden" zu hypostasieren; womit er (ohne es jetzt besser wissen zu können) den Charakter der Auflösung paradoxal verkennt. Aber gerade hierin ist das ,hermeneutische Ereignis' in seiner ersten Phase dem ,ontologischen Ereignis' strukturanalog: das paradoxe Verständnis entspricht jenem paradoxen Verhältnis von ,Wirklichkeit' und »Möglichkeit' zueinander während der Fluktuation. Mit der „Erinnerung des Aufgelösten" setzt als zweite Phase des ,hermeneutischen Ereignisses' das ans Bewußtsein gebundene eigentliche Verstehen des ,ontologischen Ereignisses' ein. Schritt für Schritt wird in diesem „reproductiven Act"63 (ebd.; S. 284 Z. 3) das .ontologjsche Ereignis' reflektiert — „vom Anfang der Auflösung bis dahin, wo aus dem neuen Leben eine Erinnerung des Aufgelösten, und daraus, als Erklärung und Vereinigung der Luke und des Contrasts, der zwischen dem Neuen und dem Vergangenen stattfindet, die Erinnerung der 63 Der Kontext dieser Stelle zeigt ebenso wie ebd. Z. 20-23, daß Hölderlin hier von der „idealischen Auflösung" spricht. Fred Lönker (Welt in der Welt. Eine Untersuchung zu Hölderlins „Verfahrungsweise des poetischen Geistes". Göttingen 1989, S. 31) deutet sie indessen so, daß schon die „historische Auflösung" (Lönker; Hölderlin sagt: „wirkliche Auflösung"; vgl. z.B. ebd., Z. 24) damit gemeint sei.

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Auflösung erfolgen kann. Diese idealische Auflösung ist furchtlos. Anfangs- und Endpunkt ist schon gesezt" (ebd.; S. 283 Z. 29-S. 284 Z. 1). Schrittweise wird die Unmittelbarkeit der Empfindung von der Mittelbarkeit der Erinnerung abgelöst. Ort der Erinnerung des gesamten Fluktuationsprozesses ist „das neue Leben"; es „ist jetzt wirklich, das sich auflösen sollte, und aufgelöst hat, möglich (ideal alt), die Auflösung nothwendig und trägt ihren eigentümlichen Karakter zwischen Seyn und Nichtseyn." (Ebd.; S. 283 Z. 21-23) Nun hat alles wieder seine kategoriale Ordnung.64 Die Auflösung wird nicht mehr zu einem Bestehenden hypostasiert, sondern als das wahrgenommen, was sie ist: Fluktuation zwischen faktisch Wirklichem und real Möglichem. Denn nun hat sich eine „neue Welt" gebildet (Abschluß des ,ontologischen Ereignisses'). Sie wird als wirklich erfahren; als Ort der „idealischen Erinnerung" (ebd.; S. 283 Z. 27f) ist sie dem reflektierenden Menschen unmittelbar gegeben; d.h. sie wird wesentlich empfunden, denn sie selbst ist ja eine für die Zukunft noch offene, nicht-abgeschlossene, und daher noch nicht durchgängig bestimmbare Sphäre. Um eine solche Sphäre handelt es sich aber bei der aufgelösten ,Welt'. Sie war wirklich, ist nun möglich, kann deshalb erinnert, und in der Mittelbarkeit der Erinnerung bestimmt werden. Eine solche Bestimmung ist keine Vergegenständlichung. Es geht bei ihr um das intuitive, (atmo-)sphärische Wissen von der spezifischen Durchstimmtheit einer ,Welt'. Hier erweist sich die „idealische Erinnerung" als Modus der mit dem „Urtheil" dialektisch vermittelten „intellectualen Anschauung." „Die .Wirklichkeit' ist unmittelbar, die .Möglichkeit' mittelbar gegeben. Beide haben das Notwendige zur Voraussetzung65 — die Auflösung. Denn als Fluktuation konstituiert sie erst konkret, was vom Menschen als ,möglich' bzw. .wirklich' wahrgenommen wird. Und wesentlich notwendig ist die Auflösung schon deshalb, weil die dynamischunendliche „Welt aller Welten" niemals in einer bestimmten ,Welt' (Phänotyp) aufgehend verharren kann. 64 Nicht so bei Stephan Wackwitz: Trauer und Utopie um 1800. Studien zu Hölderlins Elegienwerk. Stuttgart 1982. Er ordnet zwar richtig die Modalität .möglich' dem „vergangenen Leben als einem Aufgelösten"' zu (S. 8), bezeichnet aber irrtümlich das „Unendlichreale" als „wirklich", indem er es mit dem „neuen Leben" identifiziert (vgl. S. 7 und 63). Das „Unendlichreale" ist aber die Kraft, welche spezifisch die Fluktuation bewirkt. Dir kommt als Modalität die .Notwendigkeit' zu; jene Kategorie, die Wackwitz bei seiner Interpretation von ,WV gar nicht beachtet. 65 Damit ist das Verhältnis der Modalkategorien in, WV' strukturanalog zu jenem in „Unheil und Seyn". Vgl. 4,1; S. 216 Z. 12-21 und als Interpretation: Helmut Bachmaier (1979) S. 121-124. 43

Das ,ontologische Ereignis' beschreibt Hölderlin freilich nicht nur in dessen .idealtypischer' Form, d.h. auf der Theorieebene der philosophischen Reflexion. Es begegnet auch dort, wo es ja eigentlich' am Platze ist, nämlich zweckgebunden, Angewendet' im poetischen Kontext, im Horizont des »neu-mythischen' Erzählens von der Geschichte des Seins. Dafür ist die fünfte Strophe der Elegie „Brod und Wein" ein profundes Beispiel. Das ,ontologische Ereignis' manifestiert sich dort als zweistufige Offenbarung von numinosen, für den Menschen erfahrbaren Seinskräften. Auf der ersten Stufe sind diese Kräfte noch nicht als einzelne identifizierbar. Sie werden in einer Gefühlsverbindung von Furcht und Glück in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit als „Eines und Alles" (v. 84; vgl. vs. 73-81; 87-89) erfahren. Erst auf der zweiten Stufe begegnen sie inMittelbarkeü, und es ist den Menschen möglich, „Worte, wie Blumen" (v. 90) für die Kräfte zu finden. Denn jetzt erst „in Wahrheit/Kommen sie selbst" (vs. 81f), d.h. lassen sie sich in ihrer Differenz identifizieren als das hen diapheron heauto. Die beiden Stufen der Offenbarung korrespondieren in gewisser Hinsicht mit den Modalitäten .Wirklichkeit' und .Möglichkeit', wie Hölderlin sie in ,US' und in ,WV' verwendet: die ,Wirklichkeit' ist unbegriffene Empfindung, die erst aus der Distanz der „idealischen Erinnerung" des ,ontologischen Ereignisses' (welches sich dann im Status des „ideal alt" real Möglichen befindet) .verstanden' werden kann. Die zur realen Möglichkeit transformierte »Wirklichkeit* (die Fluktuation als transzendentale Wirkkraft) ist durch diese Metamorphose nicht wirkungslos geworden. Sie entfaltet im Gegenteil erst aus dieser Mittelbarkeit ihre umfassende ontologische und hermeneutische Wirkung. „Ideal alt" (so läßt sich mit „Brod und Wein" Hölderlins ontosemantische Konzeption in ,WV' ergänzen) kann nicht nur eine bestimmte ,Welt' als ehemals „lebendig Bestehendes" genannt werden, sondern auch der (so erst: erinnerbare) Übergang von ,Welt' zu ,Welt' (die beiden Stufen der Offenbarung beschreibt Hölderlin verknappt, aber analog zu „Brod und Wein" dann auch in seinen „Anmerkungen zur Antigonae"; vgl. 5; S. 207 Z. 22-26). Hölderlins ontologische Aussagen in ,WV' konzentrieren sich um den „mythischen Zustand" als den Übergang der „Welt aller Welten" von einer konkreten Zeigeweise an ihr selbst66 zur anderen. Dabei wird 66 Jede bestimmte ,Welt'präsentiert also die „Welt aller Welten". Eine solche Sphäre (oder gar formal die gesamte Sphäre des .Urteils') „als Repräsentanz des Absoluten aufzufassen", wie Peter Reisinger dies tut (1987, S. 47), ist daher problematisch. Denn diese Auffassung impliziert — gegen Hölderlins ontologischen Monismus und sein Denken der transzendentalen Zeitb'chkeit der „Welt aller Welten" —

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dieses dreigliedrige Modell abstrakt vorgestellt; es hat paradigmatischen Charakter. Realgeschichtlich — bzw. in Hölderlins .neu-mythischer' Wahrnehmung geschichtlicher Fakten — dürfte es mehrere Übergänge als Materialisation dieses Modells geben. Eine jetzt wirkliche ,Welt' wäre damit abzugrenzen gegen verschiedene „ideal alte" und fideal neue' „Welten". Denn Vergangenheit und Zukunft befinden sich im Status des Möglichen und haben beide ihr ontologisches Korrelat im Genotyp der jetzt wirklichen .Welt'. Demnach dürfte es ein intuitives Wissen nicht nur um gewesene „Welten" geben („idealische Erinnerung"), sondern (antizipatorisch) auch von zukünftigen.67 Und es würde sich in einer weiteren Hinsicht zeigen, daß .ontologisches' und ,hermeneutisches' Ereignis strukturanalog sind. Beide hätten zurück- und vorausweisende Funktion: Auflösung einer .wirklichen Welt'/deren „idealische Erinnerung"; Bildung einer „neuen Weif/Empfindung ihrer Durchstimmung; Tendenz zur Verwirklichung einer .ideal neuen Welt' (aufgrund der transzendentalen Zeitlichkeit der „Welt aller Welten")/Antizipation an deren Durchstimmung. Eine Prüfung dieser Überlegungen läßt sich nicht textimmanent an ,WV' vornehmen; wohl aber anhand des konkreten Geschichtsbildes Hölderlins. In ihm kommt — gerade was den Übergang von ,Welt' zu ,Welt' betrifft — der Christus-Gestalt besondere Bedeutung zu. In Hölderlins Verständnis ist sie ein .ontologisches Ereignis' mit der eben skizzierten Struktur: sie löst eine .wirkliche Welt' auf (die Sphäre der griechischen Antike), leitet eine „neue Welt" ein (die Sphäre abendländischer Geschichte bis in die Lebenszeit Hölderlins hinein) und weist mit ihrer eine ferne Zukunft antizipierenden performativen Rede (Ankündigung der Parusie) bereits auf eine kommende wirkliche, jetzt noch ,ideal neue' .Welt' hinaus. (Vgl. „Brod und Wein", vs. 107-110; 125-132) In diesen drei Hinsichten handelt Jesus Christus gemäß Hölderlins .neu-mythischer' Deutung nicht für sich allein, sondern für den gesamten „himmlischen Chor" (ebd.; v. 132). Es ist eine bestimmte Kraft, an der offenbar wird, was für alle Kräfte, die den Menschen im Widerfahrnis begegnen können, gilt. Sie alle sind „einst [...] da gewesen" (ebd.; v. 131), waren präsent in der nun „ideal alten" ,Welt' der Antike; sie alle einen platonischen Dualismus zweier Welten, die wechselseitig sich transzendent sind. 67 Daß diese Annahme in der Logik der Seinsvorstellung von,WV liegt, betont auch Stephan Wackwitz. Vgl. ders.: Zum Begriff des Ideals bei Friedrich Hölderlin. In: Bachmaier/Rentsch (1987), S. 101-134, bes. S. 118.

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wirken nun, in der „neuen Welt", mittelbar, sind repräsentiert in „einigen Gaaben" (ebd.; v. 132), die als „Zeichen" (ebd., v. 131) der Erinnerung an die gewesene Präsenz ebenso fungieren wie als ,Realindiz' dafür, daß sie alle „kehren in richtiger Zeit" (ebd., v. 140), wenn eine jetzt noch ,ideal neue' ,Welt' sich realisieren wird. Christus kündigt (entsprechend der Mythe, die Hölderlin von ihm erzählt) nicht seine Parusie nur an. Die „Himmlischen alle" (ebd.; S. 91 v. 55) werden neu sich offenbaren: so z.B. Herakles und Dionysos, die in Hölderlins Sicht Christi Brüder (vgl. 2,1; S. 158 vs. 51f) sind. Deshalb kann Hölderlin antizipatorisch sprechen von „Herakles Rükkehr" (2,1; S. 57 v. 52) und Dionysos auch nennen den „kommenden Gott" (2,1; S. 91 v. 54). Die Mythen, welche Hölderlin nun — in der Zeit um und nach 1800 — erzählt, haben keinen allegorischen Charakter mehr. Sie sind tautegorisch zu verstehen, verweisen ontosemantisch auf sich selbst. In ihnen manifestiert sich jeweils die Deutung eines (seins-)geschichtlich beobachtbaren Vorgangs. Die ,neue' tautegorische Mythe ist gebunden an ein bestimmtes Ereignis, ist eingebunden in eine Zeit, in der sich insofern eine lineare Bewegung manifestiert, als sie durch Ideologisch motivierte epochale Zäsuren rhythmisiert wird. Jedes ,ontologische Ereignis' ist unvertretbar-einmalig, ist originär in Bezug auf seine in der Mythe zu erzählende Bedeutung. Dabei ist es sekundär, ob dieses .Ereignis' in seiner empirischen Dimension als historisches Faktum gesichert werden kann (wie, zumindest nach biblischem Zeugnis, die Verkündigung Jesu Christi), oder ob es einer solchen ,positivistischen' Datierung entzogen ist (wie z.B. die Vermittlung des Weins als eines Kulturgutes an die Menschen durch Dionysos, den „Weingott": 2,1; S. 94 vs. 123, 141). Denn es geht stets um den ,arche-typischen', den lebensweltwandelnden, konkret-paradigmatischen Charakter des betreffenden Ereignisses, und dieser Charakter wird gerade durch die Fixierung auf ein innergeschichtliches Datum als ein solches nicht zu erfassen sein. Der endliche Vorgang in der Zeit muß intuitiv auf seine Bedeutung in der Bewegung des Unendlichen, muß als Zeigeweise des Unendlichen „durchschaut' werden; dann zeigt er sich als ,seinsgeschichtliches' ,ontologisches Ereignis'. In diesem Sinne nimmt Hölderlin die Christus-Gestalt wahr und deutet sie ,neu-mythisch' nach den drei oben genannten Hinsichten; wobei der tautegorische Charakter dieser Mythe auch dadurch nicht infrage gestellt wird, daß Christus für alle „Himmlischen" handelt: denn dieser Verweisungsaspekt ist der ontosemantischen Struktur der Mythe immanent. 46

Als Hermeneut des ,ontologischen Ereignisses Jesus Christus' unterscheidet Hölderlin hier drei „Welten", und er setzt seinen eigenen ,Sitz im Leben' (bzw. jenen des »lyrischen Ich') gegen Ende jener ,Welt'-Zeit an, die mit Jesu Christi Tod begonnen hat (vgl. ebd.; vs. 7-36; 50; 119-124; 134-136; 149-152; 157f). Er kann zwar die noch-wirkliche ,Welt' nicht durchgängig bestimmen: denn dazu müßte sie sich bereits vollends aufgelöst haben. Jedoch vermag er seiner Empfindung ihrer Durchstimmung sich bewußt zu werden und sie sprachlich zu artikulieren: diese ,Welt' ist eine der „dürftigen Zeit" (ebd.; v.122). Dieses transzendental grundierte Urteil ergibt sich aus einer Mittelbarkeit: nämlich dem erfahrbaren Kontrast zwischen der erinnerbaren „ideal alten" ,Welt' und der auf sie folgenden, noch aktuellen .wirklichen Welt'. Die ,alte Welt' war „Seeliges Griechenland! du Haus der Himmlischen alle" (ebd.; v. 55), mithin von der Qualität der Zeigeweise der „Welt aller Welten" an ihr selbst her das, was die ,ideal neue Welt' auch auszeichnen soll: „[...] und eher legt sich schlafen unser Geschlecht nicht, Bis ihr Verheißenen all, All ihr Unsterblichen, uns Von eurem Himmel zu sagen. Da seid in unserem Hauße." (3; S. 536 vs. 112-117) „Leichtathmende Lüfte/Verkünden [...]" (ebd.; vs. 118f) zwar schon das Kommen der besseren ,Welt', aber noch haben „das Brautfest Menschen und Götter" (2,1; S. 147 v. 180) nicht gefeiert; die Possessivpronomina („eurem"/„unserem") zeigen dies an. Die Erwartung einer solchen besseren ,Welt' ist für Hölderlin insbesondere in den Jahren 1800/01 eng verbunden mit der Hoffnung auf ein Ende der politisch-militärischen Feindseligkeiten zwischen Österreich und seinen Verbündeten auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite. 1799 hatte der zweite Koalitionskrieg begonnen und den Franzosen erst einige Niederlagen, 1800 dann aber zwei entscheidende Siege beschert: Napoleon gewann die Schlacht von Marengo, Moreau diejenige bei Hohenlinden. Österreich mußte sich arrangieren. Am 9. Februar 1801 wird im französischen Lunoville der Friedensschluß unterzeichnet. Damit ist der Kriegszustand im Herzen Europas aufgehoben. Den frankophilen Hölderlin erfüllt diese Entwicklung mit chiliasti47

sehen Naherwartungen. Bereits im Juli 1800 äußert er seine Hoffnung auf einen „baldigen gründlichen Frieden" (6,1; S. 398 Z. 22f). Im November berichtet er gar, es habe ihm „ein französischer Offizier" gesagt, daß dieser Friede schon „beschlossen seyn soll." (Ebd.; S. 402 Z. 11) Zu Neujahr 1801 gibt Hölderlin deutlich zu verstehen, daß er sich „unter dem Seegen dieses neuen Friedens" den Aufgang einer ,neuen Welt' verspricht, nämlich dies: „daß der Egoismus in allen seinen Gestalten sich beugen wird unter die heilige Herrschaft der Liebe und Güte, daß Gemeingeist über alles in allem gehen" wird (ebd.; S. 407 Z. 30; 27-29). Entsprechend enthusiasmiert reagiert Hölderlin auch, als ihn Ende Februar die Nachricht vom tatsächlichen Frieden erreicht. Er vergleicht „die nahe" mit der „längstvergangenen Zeit" und resümiert: „alles dünkt mich seltne Tage, die Tage der schönen Menschlichkeit" (ebd.; S. 413 Z12-14) und denkt: „eine schönere Geselligkeit, als nur die ehernbürgerliche mag reifen!" (Ebd.; S. 417 Z. 62f) Realgeschichtlich ist dieser Frieden ein innerzeitlicher Vorgang von marginaler Bedeutung gewesen. Er hat weder Österreich und Frankreich ausgesöhnt (1805 begann der dritte Koalitionskrieg), noch gar die ganze Menschheit ihre transzendentale .Verwandtschaft' empfinden lassen, sie im universalen „Gemeingeist" vereinigt. Der Zeitzeuge Hölderlin jedoch hat diesen Vorgang poetisch als ,ontologisches Ereignis' gedeutet: „seeliger Friede !/Diß eine weiß ich, sterbliches bist du nichts", (2,1; S. 130 v. 8f; S. 133 u. 136 par.). Er ,durchschaut' das endliche Faktum auf jene Bedeutung hin, die es (vermeintlich) für die Selbstbewegung des Unendlichen hat. Hölderlin stiftet dem Frieden eine Mythe: denn er spricht es ihm als dessen ontosemantischen Sinn zu, daß mit ihm das Parusie-Versprechen Jesu Christi eingelöst wird. Durch den Frieden kündigt sich Hölderlins Meinung nach die Eröffnung eines neuen Zeitraums an, in dem, wie einst in der Antike, der „höhere Zusammenhang", die transzendentale »Verwandtschaft' aller Seienden, in der Empirie erfahrbar sei. Der Dichter „merket die Zeit [...] und rufet den Tag." (2,1; S. 96 vs. llf) Er erfaßt, wie die „Welt aller Welten" epochal-welthaft sich zeitigt, und teilt durch das Erzählen von Mythen den darüber noch unaufgeklärten Zeitgenossen seine Erfahrung mit: „in den Feiertagen des Frühlings/Red' und hoff ich mit euch vieles, ihr Lieben! davon." (Ebd.; S. 98 vs. 83f) Wie die Christus-Gestalt, so ist auch der ,neu-mythisch' verstandene Frieden zu Luneville ein ,ontologisches Ereignis', dessen Bedeutung sich nach drei Hinsichten differenzieren läßt. Der Friede zeigt die Auflösung einer ,wirklichen Welt' an (des Abendlandes als einer „dürf48

tigen" Raumzeit), er öffnet einen neuen Zeitraum (die Sphäre der Parusie der „Himmlischen") und weist damit zugleich auf die „längstvergangene Zeit" der Antike zurück (auf die für Hesperien ,vor-bildliche' „ideal alte" ,Welt'). Jene »Welf, die durch das Wirken Christi in der Spätantike sich zu konturieren begann, wird nun ebenfalls vollends der „idealischen Erinnerung" mit allen ihr zugehörigen einzelnen Vorgängen in ihrer umfassenden ,seinsgeschichtlichen' Bedeutung zugänglich. Sie fügt sich sinnvoll ein in „das Zeitbild, das der große Geist entfaltet" (3; S. 536 v. 94). Im Vergleich zur Konkretion des dreistelligen ,ontologischen Ereignisses' anhand der Christus-Gestalt hat sich bei der »neu-mythischen' Deutung des Friedens zu Luneville eine aus der ,seinsgeschichtlichen' Bewegung selbst resultierende Verschiebung der (formalen) Akzente um einen ,Weltmodus' nach vorn ergeben. Die von Jesus Christus antizipierte ,ideal neue Welt' verwirklicht sich nun, und in dem Maße, wie dies geschieht, tritt zu der (auch nun erst: als „töngrtvergangene Zeit" — Hervorhebung von mir, ÜB — zu benennenden) „ideal alten" ,Welt' der Antike eine weitere, im Ganzen idealisch erinnerbare hinzu. Auch hier sind, wie in Bezug auf die Christus-Gestalt, ,ontologisches' und ,hermeneutisches' Ereignis strukturanalog; der „idealischen Erinnerung" zugänglich sind die beiden aufgelösten „Welten", während die neu sich bildende ,Welt' mittelbar, nämlich durch einen Vergleich mit den gewesenen „Welten", in ihrer Durchstimmung qualifiziert werden kann. Die „nahe" Zeit ist wie die „längstvergangene" (doch anders als die gerade vergehende „dürftige") von der Offenbarkeit der „Himmlischen", der Erfahrbarkeit des „höheren Zusammenhangs" geprägt. Unsagbar ist freilich, wie sie konkret, wie sie innerzeitlich ausgestaltet sein wird. Die beiden Beispiele zeigen übrigens auch, daß sich kein rein theoretischer Begriff, kein abstrakter Archetypus vom ,ontologischen Ereignis' entwickeln läßt. Der „mythische Zustand" ist, wie die Mythe, eine ,seinsgeschichtliche' Kategorie, zu der unverzichtbar, in einem »synthetischen a priori', das Empirische gehört. Im Habitus ,endlich-unendlich' ist das Endliche kein »Akzidenz', sondern Träger, reflektierender Modus der in diesem Sinne sich an sich selbst zeigenden »Substanz*. Die beiden Beispiele deuten aber auch auf eine Konstante: nämlich darauf, daß »ontologisches' und »hermeneutisches' Ereignis zwar voneinander zu unterscheiden sind (»produktiver' und „reproductiver Act"), sich aber nicht trennen lassen. Denn was als ,ontologisches Ereignis' ausgezeichnet wird und worin dann konkret dessen Bedeu49

tung besteht — das ist eine Frage der Hermeneutik des „Seyns schlechthin." Der Genitiv ist hier wieder subjektiv und objektiv zu verstehen; er kennzeichnet die ontosemantische Verfassung des „Seyns schlechthin" in seinen Zeigeweisen an ihm selbst. Der Dichter als Hermeneut ist sprachmächtiges Medium des „Seyns schlechthin", er verfügt weder ontologisch noch hermeneutisch über den Referenten seiner Aussage. Insofern kann er sich der Adäquanz seiner Deutungen nie gewiß sein und schwebt stets in der Gefahr, sich als „falscher Priester" (2,1; S. 120 v. 72) entdecken zu müssen. Doch für seine hermeneutischen Fehlleistungen ist er nicht eigen-verantwortlich; folgt man Hölderlins ontosemantischem Konzept (das freilich insofern spekulativ-zirkelhaft ist, als das jhermeneutische Ereignis* das ,ontologjsche' voraussetzt, dieses aber erst im hermeneutischen ,Durchschauen' eines endlichen Vorgangs als solches qualifiziert wird), dann ist der Dichter auch hier verfügt in sein seinsgeschichtliches Geschick. Die Auffassung, daß der Geschichtsverlauf determiniert sei, zieht sich als roter Faden durch Hölderlins ontologisierte Hermeneutik der Geschichte. So begann „das Trauern mit Recht68 über der Erde" („Brod und Wein", v. 128), als die griechisch-antike ,Welt* sich auflöste; denn nicht eine subjektiv-akzidentielle menschliche Schuld, sondern objektive, verfügte conditio humana ist der zureichende Grund für dieses Ereignis; „Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch. Traum von ihnen (den „Himmlischen"; Anm. von mir, ÜB) ist drauf das Leben." (Ebd.; vs. 114f) Der „Traum" ist Antizipation des real-möglichen Ideals: nach rückwärts als „idealische Erinnerung" der Antike, nach vorwärts als intuitives Wissen darum, daß „die sonst/Da gewesen [...] kehren in richtiger Zeit" (ebd.; v. 139f; vgl. auch vs. 149-152). Deterministisch ist auch der — systematisch zu erschließende — zureichende Grund dafür, daß viele Menschen (Zeitgenossen Hölderlins) die Dürftigkeit des (noch-)wirklichen Lebens gar nicht empfinden, vielmehr „wohlzufrieden" (ebd.; v. 5) gestimmt sind und sich im ,mechanischen Zusammenhang' durchaus genügen.69 Anders als die Dichter sind sie nicht sensibilisiert für den „göttlichen Sinn" (2,1; S. 111 v. 267). Das ändert sich erst, wenn gilt:

68 Im Sinne von: ,zurecht', d.h. in der ,seinsgeschichtlichen' Ordnung. 69 Vgl. neben „Brod und Wein" vs. 1-6 auch: „Der Archipelagus", vs. 241-246; Hyperions ,Scheltrede'(3; Hyp. II, S. 112-118) und im Brief an Ebel vom 10. Jan. 1797 Z. 26-60 (6,1; S. 229f). 50

„Und vollendend, wie sonst, erscheinst du wieder den Kindern Überall, o Natur! und, wie vom Quellengebirg, rinnt Seegen von da und dort in die keimende Seele dem Volke." (ebd.; vs. 268-270; vgl. vs. 247-252) Deshalb ist es des verstehenden Dichters Aufgabe, die Skeptiker „ins Offene" (ebd.; S. 84 v. 1) zu rufen, und geduldig die intuitiv erfahrene Ontosemantik zu vermitteln.70 Damit ist nun auch gesagt, wie die Erinnerung71 an eine gewesene und die Prognose für eine künftige ,Welt' möglich ist. Als intuitives Wissen teilt sich dem Dichter in „intellectualer Anschauung" der ,Sinn des Seins' mit. Er manifestiert sich als Durchstimmung einer konkreten ,Welt*. Das ,ontologische Ereignis' wirkt als Fluktuation von „Welten" und wird im ,hermeneutischen Ereignis' intuitiv-reflexiv (unendlichendlich) nachvollzogen. Die beiden ,Ereignisse' sind eigentlich das hen diapheron heauto, insofern sie das „Seyn schlechthin" als ontosemantisches aufweisen. Durch adäquates und umfassendes Verständnis eines ,ontologischen Ereignisses' gewinnt der Dichter eine Orientierung über die Abfolge von „Welten" und die dieser Bewegung innewohnenden Tendenz. Damit kann er Gewesenes erinnern und Zukünftiges prognostizieren — nicht aber determinieren. Denn er ist selbst eingelassen in ein unverfügliches ,seinsgeschichtliches' Geschick. In ,WV' analogisiert Hölderlin selbst den ontologischen und den henneneutischen Aspekt der genetischeren' Zeigeweise der „Welt aller Welten"72 an ihr selbst, indem er konstatiert: „dieser Untergang 70 Vgl. z.B. „Stutgard", zweite Strophe. Auf die pädagogisch vorbereitenden Fragesätze (vs. 19-24) folgt die Aufforderung, Prioritäten zu setzen (vs. 25-30), und schließlich erläutert der Dichter, was die bei dem ,Vaterlands-Fest' zu vollziehenden Rituale .eigentlich' bedeuten; je zwei Mal hebt er an mit „darum" und „diß" (vs. 31-36). 71 Stephan Wackwitz meint, daß Hölderlin in der Hymne „Mnemosyne" („Ein Zeichen sind wir, deutungslos ...") den Zusammenbruch des Theorems von der „idealischen Erinnerung" thematisiere (vgl. Wackwitz 1987, S. 161). Insbesondere die vs. 8-17 zeigen aber, daß die Sprachkrise von einer temporär begrenzten Abwesenheit des Referenten herrührt und sich daher in das hier skizzierte ontosemantische Konzept Hölderlins integrieren läßt. Entzieht sich der Referent, wird das Zeichen zur sinnentleerten Chiffre (hermeneutischer Aspekt), und begegnet das „Seyn schlechthin" in der Absenz-Erfahrung des .Nichts' (ontologischer Aspekt; vgl. 3,1; Hyp. I S. 78 Z. 11-S. 80 Z. 16; 6,1; S. 253 Z. 17-S. 254 Z. 32). 72 Diese Analogjsierung ist keine schlichte Gleichsetzung. Es bleibt die Differenz zwischen .produktivem* ontologischen und „reproductivem" henneneutischen Ereignis. Gerhard Ruhr dagegen verkehrt dieses Verhältnis bzw. übersieht das (doch grundlegende!) ,ontologische Ereignis', wenn er den „mythischen Zustand" als „Resultat der idealischen Auflösung" bezeichnet. Vgl. Buhr (1972), S. 81, 84,409. 51

und Anfang ist wie die Sprache Ausdruk Zeichen Darstellung eines lebendigen aber besonderen Ganzen" (4,1; S. 282 Z. 12-14). Die Bestimmung ,lebendig aber besonders' weist auf die Struktur des „mythischen Zustands": ,unendlich-endlich', nämlich Vermittlung von „unendlichrealem" und „endlichidealem" (ebd.; S. 286 Z. llf). Analog dazu ist laut ,ÜR' die Mythe strukturiert. In ihr wird ein empirisches (daher: endliches) Ereignis mit seiner transzendentalen (vom unendlichen „Seyn schlechthin" intendierten) Sinnhaftigkeit vermittelt. Läßt sich also sagen, daß der sprachlich gestaltete „mythische Zustand" (,henneneutisches Ereignis') ein Synonym für die Mythe ist? Diese Frage soll der abschließende Vergleich erörtern.

(4) Der „mythische Zustand" und die Mythe In ,ÜR' thematisiert Hölderlin das Verhältnis des Menschen zur Welt, in der er lebt. Es geht ihm hier wesentlich um den hermeneutischen Aspekt: wie erfährt sich der Mensch in seiner Lebenswelt, wie ,versteht' er sie? Vom „mythischen Zustand" als dem ,ontologischen Ereignis', das die aktuell erfahrbare ,Welt' konstituiert, ist nicht die Rede. Im Vergleich zu ,WV' fehlt die genetischere' Beschreibung der „Welt aller Welten", überhaupt der Hinweis auf ihre transzendentale Zeitlichkeit, auf den Übergang als vermittelnde »mythische' Instanz zwischen den je konkreten „Welten". In dieser Hinsicht wird ,ÜR' durch ,WV' ergänzt; in anderer Hinsicht verhält es sich umgekehrt: ,WV" thematisiert nicht, daß es verschiedene Formen der Beziehung des Menschen zu seiner jeweiligen Welt gibt, oder anders: in ,WV' begegnet eine solche Differenz nur in Bezug auf den chronologischen Aspekt, demgemäß in den verschiedenen „Welten" jeweils eine andere „besondere Wechselwirkung" zwischen „Natur und Menschen" gegeben ist. Um von Hölderlin einen zureichenden Grund für die Möglichkeit der Simultaneität verschiedener Beziehungsformen innerhalb einer bestimmten ,Welt' genannt zu bekommen, muß man den textimmanenten Rahmen von ,ÜR' seinerseits sprengen und (wie oben skizziert) z.B. die geschichtsphilosophischen Dichtungen befragen. So läßt sich (was hier nur angedeutet ist) systematisch ein Beziehungsgeflecht zwischen Texten unterschiedlicher Gattungen und verschiedener Entstehungszeiten herstellen, das Hölderlins Projekt einer »neu-mythischen* Ontologie diesseits des deutschen Idealismus immer deutlicher in seinen Konturen sich abzeichnen läßt. Dabei zeigt sich, daß die Ausführungen sich wechselseitig ergänzen, daß also nicht52

zwangsläufig ein eingleisig-linearer ,Erkenntnisfortschritt' in der Richtung von früheren Texten auf spätere Texte vorliegt.73 Nun scheint es aber im Hinblick auf den Begriff der Erinnerung eine qualitative Differenz zwischen ,ÜR' und ,WV' zu geben. Zwar meint der Begriff formal in beiden Texten dasselbe: einen reproduktiven Akt als Wiederholung von wirklich Erfahrenem im Geiste. Jedoch bezieht er sich inhaltlich in ,ÜR' auf eine für sich betrachtete sphärische Verbindung des Menschen mit seiner ,Welt', während er in ,WV' umfassender die Auflösung einer alten und die Konstituierung einer neuen ,Welt' meint. Seinen logischen Schwerpunkt bildet hier der „mythische Zustand" als Übergang. Erst, wenn der „mythische Zustand" mitreflektiert wird, läßt sich die ontologische Begründung einer ,Welt' (und damit auch der in ihr gegebene ,höhere Zusammenhang') genealogisch verstehen. Der Erinnerungsbegriff in ,WV' widerstreitet jenem in ,ÜR' nicht; aber er gibt ihm erst die umfassende ontologische Legitimation. Für den Vergleich des sprachlich gestalteten „mythischen Zustands" (,hermeneutisches Ereignis') mit der „Mythe" in ,ÜR' bedeutet dies, daß die Begriffe zwar eine Strukturanalogie besitzen (siehe oben; »unendlich-endlich'), jedoch darum (noch) nicht synonym sind. Soll in Gestalt einer „neuen Mythologie" über die Geschichte geistreich raisonniert' werden74, muß der ,höhere Zusammenhang' des Menschen 73 Helmut Bachmaier (1981) konstatiert, daß Hölderlin den Erinnerungsbegriff in ,WV' differenzierter gebrauche als in ,UR' — vor allem, weil in ,ÜR' „die Kategorie des .Unendlichrealen' [ . . . ] noch nicht entwickelt ist." Hölderlin behaupte „den höheren Zusammenhang noch (bloß) [...], er zeigt sich noch nicht an der besonderen Welt selbst." (S. 158) - Die (ontologische) Kategorie des „Unendlichrealen" hat aber als die (hermeneutische) Kategorie des „Gedankens" ihr strukturelles Analogen in ,ÜR'. Einmal wird die Transzendentalität des „mythischen Zustands", einmal diejenige der „Mythe" bezeichnet. Vom hermeneutischen Aspekt her begründet Hölderlin den .höheren Zusammenhang' in ,ÜR' durchaus. Das .Defizit' von ,ÜR* liegt in der fehlenden Diskussion des ontologischen Aspekts. Blendet man ihn von ,WV' her ein, kann auch nicht schlüssig behauptet werden, daß die Erinnerung des „wirklichen Lebens [... ] im Geiste" (4,1; S. 276 Z. 6 f) „deshalb wieder in das wirkliche Leben" treibe, weil sie „zugleich unvollkommen — aus endlichem Ursprung —" sei (Bachmaier, ebd.). Hölderlin spricht von der „eigentümlichen Vollkommenheit und Unvollkommenheit" der „geistigen Wiederholung" (4,1; S. 276 Z. 8 f). Die „Vollkommenheit" deutet m.E. darauf hin, daß die Erinnerung durchaus nicht .endlichen Ursprungs' ist, sondern den (ontologisch gegebenen) .höheren Zusammenhang' hermeneutisch reproduziert. Ihr Ursprung ist unendlich, und darin ist auch ihre „Unvollkommenheit" gegründet. Denn die Dynamik der unendlichen „Welt aller Welten" duldet keinen Stillstand. Sie erfordert daher ontologisch den Wechsel der „Welten" und fundiert hermeneutisch jede „Erinnerung" als zwar .objektive', aber .nicht-allgemeingültige'. Die „Erinnerung" dient dem mythischen Verstehen des „wirklichen Lebens"; dazu gehört notwendig auch, daß sie den Menschen „wieder ins wirkliche Leben treibt." (Ebd.; Z. 9). 74 Vgl. .Systemprogramm', verso Z. 2-4.

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mit seiner Welt seinerseits (1) genealogisch begründbar und (2) aus der gesamten ,seinsgeschichtlichen' Bewegung als seinem umfassendsten Zusammenhang erklärbar sein. Dieser Aufgabe können nur Mythen gerecht werden, welche der in »mythischen Zuständen' sich zeigenden Intentionalität der „Welt aller Welten" eine adäquate Sprachstruktur geben. Das läßt sich allein mit dem in ,ÜR' präsentierten Begriff der Mythe noch nicht leisten; wohl aber mit dessen Weiterentwicklung, dem ontosemantischen Begriff des „mythischen Zustands", den Hölderlin dann in ,WV' vorstellt.

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Hölderlins Rehabilitierung des Mythos'

Exposition: Zur Faszination des Mythos in der Moderne Mythos und Logos: diese Begriffe wurden schon in der Spätantike in Kontrast zueinander gesetzt.1 Wesentlich die Vorsokratiker haben die Frontstellung etabliert und damit bewirkt, daß das abendländische Denken bis in unsere Zeit hinein vom »Logos' dominiert wird. Formal jedoch kommen Mythos und Logos in gewisser Hinsicht überein: sie sind ursprungsphilosophische Diskurse, unterschiedliche Denkformen zur Orientierung über Wesen, Herkunft und Entfaltung des Seienden zu einer vielschichtigen Lebenswelt. Der Mythos läßt sich in diesem Kontext verstehen als die Erzählung von personifizierten ontischen Kräften — den Göttern —, deren Handeln die menschliche Erfahrung seiner Lebenswelt bestimmt. Schon der Mythos schematisiert diese Lebenswelt: er führt z.B. zeitlich differente Ereignisse ontologisch auf ein Urereignis zurück, indem er sie als identische Wiederholungen dieses Urereignisses deutet. Das Urereignis seinerseits begründet er ontologisch dadurch, daß er es als die Handlung eines göttlichen Wesens versteht.2 Insgesamt beschreibt er die Lebenswelt als eine Pluralität von raumzeitlichen Sphären, die von verschiedenen Göttern konstituiert werden. Der Mythos ist genuin polytheistisch* Das Logos-Denken ist dagegen charakterisiert durch einen radikaleren Reduktionismus und durch Abstraktionen. ,Urereignisse' wie das Kommen ,des' Frühlings oder ,der' Nacht sind demnach nur Sekundärphänomene: Manifestationen des einen, apersonalen, allgemeinen

1 Vgl. Pindar: 1. Olympische Ode, vs. 28f. (476 n.Chr.). 2 So kehrt immer der eine Frühling wieder, und dies geschieht, wenn Persephone aus dem Hades heraufkommt. 3 So mag die Wiederkehr des Frühlings berauschend wirken, aber nicht Persephone, sondern Dionysos ist der Gott der Ekstase, und die Mänaden haben ihre Orgien zumeist im Winter gefeiert. Doch in .mythischer Konkurrenz' zu Persephone wird das Kommen des Frühlings auch auf Dionysos als den Blütengott (Dionysos Anthios) zurückgeführt.

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Prinzips, des »Ganzen', das seine /Teile' organisiert.4 Der Logos ist ontologisch dieses .Ganze' selbst; hermeneutisch ist er die wahre Rede vom ,Ganzen'.5 So wird in der Spätantike dem Logos als der vernünftigen, begründeten Rede der Mythos gegenübergestellt. Er gilt nun als Gattungsbegriff für Erzählungen, die bloße Fabeln sind und von erfundenen Gestalten handeln.6 Niemand möchte als Urheber dieser Rede identifiziert werden: „nicht von mir ist der Mythos"!7 Diese äußerst negative Bewertung hat die Einschätzung der Bedeutung des Mythos' im abendländischen Kulturraum nachhaltig geprägt. Der Mythos zeigt sich nun als naiver Versuch zur Begründung einer Ontotogie und in dieser Hinsicht historisch als Vorgänger, systematisch als Gegner des Logos. Aus diesem Spannungsfeld von Mythos und Logos lassen sich die verschiedenen Versuche verstehen, in der Moderne den diskreditierten Mythos wieder zu rehabilitieren. Die Faszinationskraft des Mythos wächst in dem Maße, wie der Logos (sich selbst) fragwürdig wird. Kants erkenntniskritische Reflexionen auf die Grenzen der menschlichen Vernunft haben die ,Wahrheit des Logos' zum Postulat depotenziert. Die Vorstellung, daß der Kosmos ein geordnetes, vernünftig organisiertes ,Ganzes' sei, hat auf diesem philosphischen Niveau nur noch den Charakter einer zweckmäßigen Denkhypothese, einer regulativen ,Idee'. Der Logos — die ehemals universale Ontotogie und wahre Rede vom monistischen Ganzen — zerfällt in verschiedene ,Logoi': in die empirischen Einzelwissenschenschaften mit ihren regionalen Ontotogien und der hermeneutischen Selbstbeschränkung, nur relative, richtige (d.h.: falsifizierbare) Aussagen machen zu können, die sich außerdem nicht auf das ,Ganze', sondern jeweils nur auf einen bestimmten Gegenstandsbereich beziehen. Die Beschränkung auf den Gewinn von empirisch überprüfbarem Wissen fördert eine unübersehbare Fülle von neuen Einzelerkenntnissen zutage, aber sie impliziert auch, daß diese Erkenntnisse sich nicht als Teile eines vernünftigen, transzendentalen .Ganzen' verstehen lassen. Daraus resultiert eine weltanschauliche Orientierungslosigkeit. Der Mensch sieht sich ins Offene eines wissenschaftlich-technischen Fortschreitens gestellt, das er einerseits planend selbst organisiert, andererseits aber als eigendynamische und 4 Vgl. z.B. Heraklit, Frgm. B10 und bes. B 67. 5 Vgl. z.B. Heraklit, Frgm. B 2 und B 50. 6 Vgl. zur Mythenkritik bei den Vorsokratikern z.B.: Xenophanes, Frgm. B l, 11-17; Heraklit, Frgm. B 30, 42, 57, Empedokles, Frgm. B 203, 204. 7 Euripides, Melanippe, Frgm. 484 (ed. Nauck).

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,im Ganzen' sinnlose Bewegung erlebt. Der Logos wird in diesem Kontext als erklärende Rede erfahren, die indessen Letztbegründungen vorenthält. Er gilt nicht mehr als die allgemeinverbindliche, wahre Rede vom Ganzen, sondern nur noch als die persönlich unverbindliche, richtige Rede über separierte Teile. Die Krise des Logos-Denkens kann in verschiedenen Hinsichten den Mythos als ursprungsphilosophischen Diskurs wieder attraktiv werden lassen. In diesen Hinsichten manifestieren sich zugleich unterschiedliche Grade einer .Rehabilitierung des Mythos'. So haben Forscher wie Walter F. Otto, Vilhelm Gr0nbech, Karl Kerenyi, Mircea Eliade und Kurt Hübner in unserem Jahrhundert wissenschaftliche Plädoyers für den Mythos gehalten, indem sie das frühe mythische Denken als ein auf bestimmte Erfahrungen und Vorstellungen gegründetes Regelsystem rekonstruierten. Ihnen gemeinsam ist die Überzeugung, daß der Mythos eine »vernünftige', jedenfalls in bestimmten Kulturkreisen allgemeinverständliche und geschichtlich bewährte Diskursform sei, und daher nicht einfach in Form einer Abwertung dem Logos gegenübergestellt werden könne. Der Mythos wird von diesen Forschern als eine mögliche Weise von begründeter Rede ausgewiesen und insofern rehabilitiert. Die Aufwertung des Mythos zur gleichberechtigten Diskursform neben dem Logos wird hauptsächlich durch ein relativistisches Argument gestützt: wie einerseits die wissenschaftlichen Erkenntnisse ihrerseits auch auf vorrationalen Prämissen basieren, wohnt andererseits dem vermeintlich »irrationalen' mythischen Denken auch eine eigene, nachvollziehbare Logik inne.8 Im Rahmen seiner .relativistischen' Rehabilitierung wird der Mythos freilich weiterhin ,nur' als ein kulturgeschichtliches Phänomen betrachtet: er ist als ,begründete Rede' geschichtsmächtig gewesen, kann aber für die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht wieder die allgemeinverbindliche Diskursform werden. Die Erfahrungswelt, dem der Mythos entsprochen hat, ist nicht mehr als Ganzes gegeben. Sie wird nur noch museal durch einige ihrer kulturgeschichtlichen Zeugnisse 8 Vgl. dazu z.B.: Kurt Hübner. Die moderne Mythos-Forschung — eine noch nicht erkannte Revolution. In: Dieter Borchmeyer (Hg.): Wege des Mythos in der Moderne. München 1987, S. 238-259, bes. S. 249-253. - Ähnlich argumentiert Walter F. Otto, wenn er schreibt: „Wahrhaftig, man muß sich wundem, mit welcher Sicherheit über das, was so bedeutende Geschlechter von den höchsten Dingen gedacht haben, abgeurteilt wird, ohne daß man prüft, ob denn der eingenommene Standpunkt eine Einsicht in die andere Gedankenwelt überhaupt möglich macht." (Die Götter Griechenlands. Bonn 1929. S. 8) Vgl. ders.: Gesetz, UrbUd, Mythos. Stuttgart 1951, S. 60.

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dokumentiert. Damit bleibt der moderne Mensch der Krise seines Denkens ausgesetzt. Auf andere Weise haben in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Hegel und Schelling den Mythos im Kontext ihrer Geschichtsphilosophien rehabilitiert. Auch ihnen gilt er als gegründete' Rede und damit als ,vemünftige' Diskursform. Doch nur für Schelling verbindet sich damit in gewisser Hinsicht auch die Relativistische' Auffassung, daß Mythos und Logos .eigentlich' gleichberechtigt seien. Hegel versteht den Mythos als eine frühe Inkarnation des universalen Logos, der als ,Weltgeist' selbst eine geschichtlich sich manifestierende Entwicklung durchmacht. So definiert er: „Der Inhalt des Mythus ist der Gedanke [...] es ist eine Ohnmacht des Gedankens, der für sich noch nicht festzuhalten weiß [...] Die Mythe gehört zur Pädagogie des Menschengeschlechts. Ist der Begriff erwachsen, so bedarf er derselben nicht mehr".9 Schelling indessen betont, daß die Mythologie nicht allegorisch, sondern tautegorisch10 sei, d.h. nicht auf ein außerhalb ihrer selbst gelegenes ,Wahres' verweise, sondern dieses ,Wahre' selbst sei. Es bedürfte zwar einerseits der „Philosophie der Mythologie" als der „wahren Wissenschaft der Mythologie", um dieses Wahre als Wahres begrifflich zureichend zu bestimmen, doch andererseits gelte auch: „In der Tat sind die Götter jeder Mythologie nichts anderes als die Ideen der Philosophie nur objektiv und real angeschaut."11 Hegels Rehabilitierung des Mythos' läßt sich insgesamt als eine relative verstehen: der alte Mythos wird in den universal gedachten Logos integriert und gedeutet als eine frühe Form, wie im objektiven, kollektiven Bewußtsein der Menschheit sich der geschichtlich seinem Wissen um sich selbst zustrebende Logos manifestiert. Der Verlust der ,mythischen Bewußtseinsstufe' ist teleologisch begründet, die Substanz der Mythologie in der rationalen Philosophie des ,Weltgeistes' .aufgehoben'. Schellings .relativistische' Position wertet demgegenüber den Mythos stärker auf. Ihr gemäß sind der ,frühe' Mythos und die ,spätere' Philosophie nur methodisch differente, in der Qualität aber gleichberechtigte epistemische Zugänge zur Weltwirklichkeit. Auch Schellings 9 G.W.F. Hegel. Sämtliche Werke. Hg. von Hermann Glockner, Stuttgart/Bad Cannstadt 1964, Bd. 18 S. 188ff. 10 F.WJ. Schelling. Sämtliche Werke. Stuttgart und Augsburg 1856, Bd. 11 S. 198f. 11 Ebd.; S. 3ff (vgl. Anm. 10); Bd. 5, S. 370. Vgl. auch Bd. 11 S. 15ff. Schelling betont dort, daß die Dichter nicht Schöpfer (i.S. von: ,Erfinder') der mythologischen Gestalten seien, sondern den Menschen das Bewußtsein von ihnen (die objektive Entitäten sind) vermitteln wurden. Wie sich zeigen wird, steht Schelling mit dieser Auffassung Hölderlin nah.

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»Rehabilitierung des Mythos' beschränkt sich indessen auf einen philosophischen Diskurs über die ,frühe(n)' Mythologie(n) und führt nicht zur Konzeption einer eigenen, neuen .mythischen Ontologie' und/oder einer ,neuen Mythologie'. Andere Autoren gehen weiter und versuchen, den Mythos auf maximale Weise zu rehabilitieren, d.h. ihn als die eigentlich begründete, allgemeinverbindliche Rede zu verstehen. Ansätze zu solchen Deutungen finden sich im zwanzigsten Jahrhundert verschiedentlich. Es handelt sich dabei vornehmlich um Reaktionen auf die Krise des Logos in Gestalt der Unverbindlichkeit der vielen ,Logoi'. Die Etablierung eines neuen Mythos ist hier nicht notwendig an die tiefergehendere Beschäftigung mit den alten Mythologien gebunden. Im Vordergrund steht der Wunsch, die menschliche Existenz wieder als eingebunden in ,höhere Zusammenhänge' zu erfahren. Ernst Jüngers Deutung des »Arbeiters' als einer existentiellen Größe von planetarischer Gestalt12 läßt sich als ein solcher .neuer Mythos' verstehen. Der »Arbeiter* wird bei ihm nicht soziologisch als ein Berufsstand neben anderen (Angestellten, Beamten etc.) vorgestellt, sondern umfassend als Arche-Typ eines bestimmten modernen Lebensstils, der sich in den Biographien ganzer Generationen als geschichtliche Herrschaftsform ausprägen (d.h.: .wiederholen') soll. Dieser ,neue Mythos' trägt heroische Züge: er soll die gewaltige, zerstörerische Energie der (kriegerischen) Technik und die ruhelose Arbeit als Selbstzweck einer auf die eigenen Kräfte fixierten, «soldatischen' Menschheit als verfügtes geschichtliches Schicksal begründen, in dem eine namenlose, jedoch eigenschaftlich sich zeigende Kraft authentisch erfahrbar wird.13 Aus anderen Gründen vertreten führende Autoren der „New Age"Bewegung eine maximale Rehabilitierung des Mythos'. Sie möchten zeigen, daß die vielen ,Logoi' (Einzelwissenschaften) sich stimmig miteinander zu einem ,Systembild des Lebens'14 vermitteln lassen. Das Systembild soll indessen nicht wieder zur Annahme eines universalen Logos führen, mit dem reduktionistisch alle empirischen Phänomene 12 Vgl. Ernst Jünger. Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Zuerst: Hamburg 1932. Jünger selbst bezeichnet die Gestalt des Arbeiters' „als mythische Größe, die in die Geschichte eintritt" (ders.: Aus der Korrespondenz zum „Arbeiter". In: ders.: Der Arbeiter. Stuttgart 1982 (Cotta's Bibliothek der Moderne, Bd. 1); S. 319. 13 Vgl. z.B. die verdichtete Darstellung dieses Mythos' in dem Text ,Das Lied der Maschinen', in: ders.: Das abenteuerliche Herz (zweite Fassung). Zuerst: Hamburg 1938. 14 Vgl. Fritjof Capra. Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Bern und München 1985. Bes. Kap. 9. 59

ursächlich in einer selbstreferentiellen Substanz begründet werden. Die Autoren betonen vielmehr, daß die Wechselwirkungen zwischen Entitäten das Primäre seien; denn sie wären es eigentlich, die das je spezifische Dasein der Entitäten bestimmten. Der Lebensraum Erde sei als Ökosystem ein solches Netz von Wechselwirkungen. Er lasse sich deshalb als ein sich selbst regulierendes, intelligentes Lebewesen verstehen, das nach der griechischen Göttin der Erde ,Gaia' genannt werden könne.15 Dieser ,neue Mythos' von Gaia trägt harmonistische Züge. Er erzählt von der Eingebundenheit des menschlichen Lebens in das Handeln eines höher organisierten, intelligenten Wesens: es ist Gaia, welche die Biosphäre und damit auch die Lebenswelt des Menschen konstituiert. Deshalb ist der Mensch existentiell vom Verhalten Gaias abhängig. Das Gleiche gilt umgekehrt nicht: durch Umweltverschmutzung und Kriege können die Menschen zwar ihre eigenen Lebensressourcen vernichten, Gaia aber nicht entscheidend treffen. In der Auflehnung gegen Gaia würde der Mensch sich selbst richten. Gaia jedoch ist von sich aus dem menschlichen Leben wohlgesonnen.16 Den beiden bisher gegebenen Beispielen für eine .maximale Rehabilitierung' liegt jeweils eine tautegorische Auffassung des Mythos' zugrunde: der »Arbeiter' und ,Gaia' sind ontologische Sphärengestalten. Anders verhält es sich bei Richard Wagners Bühnenf estspiel „Der Ring des Nibelungen". Einerseits leistet auch Wagner eine maximale Rehabilitierung des Mythos': er erzählt die dramatische Geschichte vom Aufstieg und Fall der Götter, die machtvoll in die Lebenswelt der Menschen hineinhandeln. Andererseits ist Wagner nicht der Auffassung, daß solche Götter als suprahominale Gestalten wirklich existieren.17 Wagner inszeniert den Mythos, um seiner zeitgenössischen bür15 Vgl. z.B.: Jim Lovelock und Lynn Margulis. The Gaia Hypothesis - A New Look at Life on Earth. Oxford 1979. Vgl. philosophisch-kritisch zur „New Age"-Bewegung: Uwe Beyer. Die Ontologie des New Age. Alternatives Denken — Alternative zum Denken? In: prima philosophia Bd. 5 Heft 2, Cuxhaven 1992, S. 167-195. 16 Vgl. dazu auch Capra, a.a.O., S. 314-316. 17 „Gott und Götter sind die ersten Schöpfungen der menschlichen Dichtungskraft: in ihnen stellt sich der Mensch das Wesen der natürlichen Erscheinungen als von einer Ursache hergeleitet dar; als diese Ursache begreift er aber unwillkürlich nichts Anderes, als sein eigenes menschliches Wesen, in welchem diese gedichtete Ursache auch einzig begründet ist. Geht nun der Drang des Menschen [...] dahin, die gedichtete Ursache derselben sich so deutlich wie möglich darzustellen [...] so muß er den Gott sich auch in derjenigen Gestalt vorführen, die [...] als äußerliche Gestalt ihm die verständlichste ist." (Richard Wagner. Oper und Drama. Zweiter Teil. In: ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen Bd. 4. Leipzig 1888, S. 1-103. Zitat S. 31f).

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gerlichen Gesellschaft ihre ,Spielregeln', ihre (seiner Ansicht nach: verdorbene) geistige Physiognomie, archetypisch vorzuführen. Er stiftet einen kritischen Sozialmythos18, der eine genuin von Menschen gestaltete Sozietät paradigmatisch in einen enthistorisierten »mythischen' Zeit-Raum projiziert. Wagners ,neuer Mythos' ist mithin allegorisch19 zu verstehen; er ist eine codifizierte Gesellschaftskritik.20 Pädagogische und politische Motive dürften die hauptsächlichen Gründe für eine solche Codifizierung gewesen sein. Wagner wollte der politischen Zensur entgehen und seinem Volk die Mechanismen der Macht in der modernen Gesellschaft durch Versinnbildlichungen durchsichtig machen. Dafür bot sich ihm insbesondere der germanische Mythos an: in ihm wurde ja als ein genuiner Topos die Geschichte vom Ende der Götter erzählt (»Götterdämmerung'), und er sollte dem Volk, das ihn einst hervorgebracht hatte, der vertrauteste noch sein. Richard Wagner ist allerdings neben Friedrich Höldertin wohl der einzige ,Dichter', der im Zuge einer modernen .Rehabilitierung des Mythos' tatsächlich eine ,neue Mythologie'nicht nur in Erwägung gezogen, sondern auch ausgestaltet hat. Detailliert erzählt der spätromantische Dichterkomponist' von den Beziehungen der Götter und Helden untereinander; von jenen Beziehungen, welche die Lebenswelt der Menschen prägen. Die Forderung nach einer ,neuen Mythologie' selbst ist freilich andernorts expressis verbis und vielfach formuliert worden: nämlich in der deutschen Frühromantik um 1800. Doch weder Herder noch Novalis, Winckelmann, Tieck, Schleiermacher oder Friedrich Schlegel haben ein solches Unterfangen als ihr Lebenswerk in die Tat umgesetzt. Selbst Hegel und Schelling — Hölderlins Studienfreunde — haben sich schließlich in dieser Hinsicht mit philosophischen Diskursen über die alte (vornehmlich: griechische) Mythologie beschieden. Hölderlin indessen hat in seinen Dichtungen eine ,neue Mythologie' entworfen, mit der er über die anderen skizzierten Versuche, in der Moderne den Mythos als ursprungsphilosophischen Diskurs zu rehabi18 Vgl. Zu dieser Einschätzung: Herbert Schnädelbach. .Ring' und Mythos. In: Udo Bermbach (Hg.): In den Trümmern der Welt. Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen". Berlin/Hamburg 1989, S. 145-161. 19 Anderer Auffassung ist Kurt Hübner. Er meint, es sei „für Wagner der von ihm gedichtete Mythos [...] unmittelbare Wirklichkeit(,) [...] etwas Tautegorisches" (ders.; Die Wahrheit des Mythos. München 1985. S. 397). 20 Wagners Sozialrevolutionäre Absichten sind schon früh erkannt worden. Vgl. z.B.: Friedrich Nietzsche. Der Fall Wagner (1888), bes. Abschnitt 5. Und: George Bernhard Shaw. The perfect Wagnerite (1898).

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litieren, hinausgeht. Denn anders als Wagner faßt Hölderlin den Mythos tautegorisch auf21; anders als Ernst Jünger oder die Autoren der „New Age"-Bewegung setzt sich Hölderlin intensiv mit dem alten Mythos (insbesondere dem griechischen) auseinander und integriert ihn in vielen Hinsichten in seine eigene Konzeption; anders als Hegel und Schelling führt er nicht einen philosophischen Diskurs über Mythologie, sondern entwirft gerade als konstruktive, philosophisch begründete Kritik am deutschen Idealismus eine neue, universale ,mythische Ontologie'; anders als den Mythos-Forschern geht es ihm mithin nicht darum, den Mythos nur als ein in sich schlüssiges Regelsystem vorzustellen, das Ausdruck einer kulturgeschichtlich früheren, unwiederbringlich vergangenen, allgemeinverbindlichen Orientierung des Menschen über die Konstitution seiner Le.benswelt ist. Hölderlin rehabilitiert den Mythos, indem er einen neuen, ontologisierten Begriff des Mythischen entwickelt. In dieses Verständnis des Mythischen ist auch die Erfahrung der Mythosferne und Logos-Herrschaft integriert. Entsprechend erfährt der alte Mythos bei Hölderlin eine schöpferische Neudeutung. Der alte Mythos gilt Hölderlin durchaus auch in seiner überlieferten Gestalt schon als begründende und begründete Rede vom Handeln der Götter an den Menschen. Aber Hölderlin ist davon überzeugt, daß die umfassenderen Begründungszusammenhänge, die das Handeln der Götter verständlich werden lassen, erst durch seine eigene ,Götterlehre' — d.h.: durch die ,neue Mythologie' — Sichtbarwerden. Aus seiner ,neu-mythischen' Ontologie erklärt sich, weshalb Hölderlin dieser Überzeugung sein kann. Hölderlins philosophisch begründete »maximale Rehabilitierung des Mythos' soll nun konturiert werden. Zunächst (1) gilt es dabei, anhand des idealtypisch rekonstruierten ,alten' Mythos Kriterien zu gewinnen, die es erlauben, eine Ontologie als »mythisch' zu charakterisieren. Dabei werde ich mich auf den griechischen Mythos beziehen, denn wesentlich dieser ist es, den Hölderlin .rehabilitiert' hat, und dessen Götternamen auch in seiner ,neuen Mythologie' begegnen.22 Dann (2) ist Hölderlins .neu-mythische' Ontologie zu konturieren. Schließlich (3) wird der Vergleich zwischen beiden Ontologien zeigen, welche 21 Vgl. z.B.: „An die jungen Dichter"; „Die scheinheiligen Dichter"; „Dichterberuf'; „Wie wenn am Feiertage ..."; „Brod und Wein". 22 Reminiszenzen an andere Mythologien sind selten und akzidentiell. Vgl. z.B. Hölderlins Bezüge auf die germanische Mythologie in „Emilie vor ihrem Brauttag", vs. 206-210, und in der Hymne „Der Ister", v. 58.

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Analogien und Differenzen es im Hinblick auf die Bedeutung des Mythischen in der Antike und bei Hölderlin gibt. (1) Die Konturen der,alten',mythischen Ontotogie' Der Mythos ist ein kulturgeschichtlich früher Versuch des Menschen, seine Lebenswelt zu strukturieren und zu erklären. In ihm kommt ein bestimmtes Verständnis der erfahrbaren Wirklichkeit zur Sprache. Diese Wirklichkeit ist für den Menschen ein raumzeitlich dimensioniertes ,Wahrnehmungsfeld'. Dabei gelten Raum und Zeit aber nicht wie in der klassischen Philosophie und Physik der Moderne als objektive, transzendentale Konstanten. Sie bilden kein apriorisches Koordinatennetz, in dem alle Gegenstände lokalisiert werden können, und das aller konkreten welthaften Erfahrung als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrundeliegt. Raum und Zeit sind in einem ,synthetischen Apriori' mit der konkret erfahrenen Weltwirklichkeit verbunden. Sie haben stets eine bestimmte materiale Qualität, die ihrerseits als Eigenschaft eines numinosen Wesens verstanden wird. Die mythisch wahrgenommene Wirklichkeit ist mithin kein homogenes raumzeitliches Kontinuum, sondern eine Pluralität von ontologischen Sphären unterschiedlichen materialen Charakters. So gilt der Parnaß als ein Hauptschauplatz dionysischer Orgien und ist als Ort zu gewissen Zeiten eine Sphäre des Dionysos. Der Berg Oeta dagegen ist eine Kultstätte des Herakles, weil der Gott dort auf dem Scheiterhaufen starb. Die Stadt Delphi ist ein Beispiel dafür, wie ein Ort zum Kampfplatz verschiedener numinoser Wesen werden kann: Apollo hat sich der dortigen Kultstätte bemächtigt und andere Götter (z.B. Poseidon und Gaia) verdrängt. Doch Apollo mußte seinerseits zulassen, daß auch Dionysos Einfluß auf das Heiligtum gewann. Die genuine Konkurrenz der Götter wurde durch einen Kompromiß beruhigt: Apollo überließ während des Winters die Herrschaft in Delphi dem Dionysos. Diese Beispiele zeigen, daß in der mythischen Wahrnehmung Raum und Zeit sphärische Attribute einer numinosen Wirkkraft sind, in deren Bannkreis der Mensch einbezogen wird. Hier begegnet eine Weltsicht, die auch dem modernen Menschen genuin nicht fremd ist, nur daß er entsprechende Erfahrungen zumeist psychologisiert, d.h. im Humanbereich begründet und nicht auf eine äußere, ihm überlegene numinose Kraft zurückführt. Doch für den gläubigen (katholischen) Christen ist auch heute in den Gaben des Abendmahls der .Erlöser' präsent, ist die Kirche ein sakraler Ort und die Stunde des Gottesdienstes mehr und anderes als das Verfließen der ,profanen' Zeit. Wenn Friedrich Nietz63

sehe 1888 von „der heiligen Stunde" schreibt, „in der Richard Wagner in Venedig starb"23, dann ist dies eine rhetorische Reminiszenz an Mythos und Kultus. Und die folgende Charakterisierung, die Kurt Hoffmann 1965 von Walter F. Otto gegeben hat, zielt auf eine ähnliche suggestive Wirkung ab: „Wer Otto begegnet ist, ist der Welt des Mythos begegnet, einer Welt eigener Klarheit und Schönheit."24 Mythische Erfahrung von Raum und Zeit wird in jedem Personenkult reaktiviert und auch in allen Versuchen, Zeiträume zu personifizieren (,die Epoche Napoleons'). In der Mythos-Forschung werden die Begriffe Arche und Temenos verwendet, um das mythische Verständnis von Zeit und Raum zu charakterisieren.25 Eine Arche ist ein ursprüngliches, singuläres Ereignis, das die ontologische Sphäre eines numinosen Wesens begründet. Die Begründung hat dabei primär nicht jene Kausalstruktur, die das Verhältnis von Ursache und Wirkung kennzeichnet. Denn diese Struktur ist nur geeignet, Ereignisse in der ,profanen', linear verlaufenden Zeit zu beschreiben: so wird ein Gegenstand der Masse A von der Kraft k in der Zeit t vom Ort B zum Ort C bewegt. Die ,sakrale' Genealogie eines solchen Ereignisses wird hierbei nicht erfragt. Sie kommt erst mit der Frage nach der Arche in den Blick. In diesem Sinne ist dann z.B. die Rückkehr der Persephone aus dem Hades der Grund dafür, daß ,der' Frühling (wieder-)kommt; ist es Dionysos, der die Mänaden begeistert; Poseidon, der das Meer bändigt usw. Auf Archäi werden — wie die Beispiele zeigen — sowohl natur- als auch menschheitsgeschichtliche Ereignisse zurückgeführt. Das Ursprungsereignis selbst ist dabei realgeschichtlich nicht lokalisierbar. Dennoch besitzt es als Begründung axiomatischen Charakter. ,Irgendwann einmal* hat der verführerische Dionysos .zuerst' die Frauen zu 23 Friedrich Nietzsche. Ecce homo. Über »Also sprach Zarathustra'. Abschnitt 1. 24 Kurt Hoffmann (Hg.): Die Wirklichkeit des Mythos. München 1965, S. 7. 25 Vgl. zur folgenden Darstellung z.B.: Ernst Cassirer. Philosophie der symbolischen Formen II. Darmstadt 1977, S. HOf. Mircea Eliade. Die Religionen und das Heilige. Salzburg 1954. S. 355ff. Ders.: Myth and Reality. New York 1968, S. 13ff (dt.: Mythos und Wirklichkeit. Frankfurt/Main 1988; bes. S. 25ff). Vilhelm Gr0nbech. Götter und Menschen. Reinbek 1967, S. 170f. Kurt Hübner. Die Wahrheit des Mythos. München 1985. S. 135-173. Ders.: Mythische und wissenschaftliche Denkformen. In: Hans Poser (Hg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium. Berlin/New York 1979, S. 75-92, bes. S. 83-85. Ders.: Die moderne Mythos-Forschung [...] a.a.O., bes. S. 247f; Karl Keronyi: Einführung in das Wesen der Mythologie. Amsterdam/Leipzig 1941, S. llf; Walter F. Otto. Die Götter Griechenlands. Bonn 1929, S. 136; ders.: Die Gestalt und das Sein. Darmstadt 1974, S. 13f; Ulrich Gaier. Hölderlin und der Mythos. In: Manfred Fuhrmann (Hg.). Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971. S. 295-340, bes. S. 200ff. 64

Mänaden werden lassen — und seither erleben Generationen von Frauen die ekstatische Wirkung dieses Gottes. Die Wirkung wiederholt sich immer wieder. Dionysos ist bei allen Dionysien anwesend, ganz gleich, wo diese sich im Sinne der .profanen' Koordination von Raum und Zeit ereignen. Die Mänaden sind während ihres Rausches der ,profanen' linearen Zeit und dem ,profanen' geographischen Raum erlebnismäßig ,enthoben'. Ihre Lebenswelt ist die ,sakrale' Sphäre der numinosen Kraft, die mit mythischem Namen „Dionysos" genannt wird. Der Arche als ,ontologischem Ereignis' gehört die Mythe als ihre sprachliche Gestalt zu (»hermeneutisches Ereignis'). Die Mythe ist eine ,sakrale' Geschichte, die erzählt wird, um Vorgänge in der aktuellen Lebenswelt zu verstehen. Generell können durchaus verschiedene, auch in ambivalentem Verhältnis26 zueinander stehende Archäi einem Wesen zugesprochen werden. Die Summe dieser Mythen bildet den Mythos des gemeinten Wesens. Zur Identifikation verschiedener Archäi als Wirkweisen eines Wesens dient die Verwendung eines Eigennamens. Und noch in anderer Hinsicht hat der Eigenname identifizierende Funktion: er zeichnet ein bestimmtes, durchaus auch in den ,profanen' Kategorien von Raum und Zeit lokalisierbares Ereignis (z.B. das Kommen des Frühlings) als Wiederholung der Arche aus und hebt es damit in den Rang des ,Sakralen'. Hier zeigt sich, daß die mythische Identifikation durch den Namen etwas anderes ist als die philosophische durch den Begriff. Das begriffliche Denken subsummiert das Besondere unter das Allgemeine, das Konkret-Materielle unter das Abstrakt-Ideelle. So ist es für Plato die intelligible Idee des Schönen, die alle Schönheit als Attribut der raumzeitlich existierenden Seienden bewirkt (vgl. Phaidros lOOd). Doch die Idee selbst ist in ihren Materialisationen immer nur mittelbar, d.h. im Vergleich zu ihrem intelligiblen Ursprung ontologisch defizitär anwesend. Anders verhält es sich für das mythische Denken: es verbindet das Allgemeine und Besondere, Ideelle und Materielle zu einem ,synthetischen Apriori'. Die mythischen Gestalten sind keine abstrakten, auch ,an sich' existierenden Ideen; die Mythe erzählt immer von der konkreten Handlung eines (göttlichen) Individuums. Als Arche ist diese Handlung aber ihrerseits nichts Akzidentielles. Sie wiederholt sich als die eine mit sich identische an verschiedenen 26 So kann der dionysische Rausch festlich begeistern und lebenssteigemd wirken, doch auch in die gewalttätige, tödliche Ekstase führen. 65

Stellen im ,profanen' Koordinatennetz von Zeit und Raum. Die Wiederholung ist gegenüber dem Ursprung ontologisch nicht defizitär. Dionysos tanzt durch jede Mänade, Persephone ist überall ganz und gleichzeitig, wo wieder ,der' Frühling beginnt, und Poseidon ist stets mit voller Kraft am Werk, wenn irgendwo die Erde bebt, etc. Einerseits ist der philosophische Begriff, wie der mythische Name, das Bedeutete selbst: denn es stimmen signum und res in der Idee überein. Andererseits ist der ontologisierte allgemeine Begriff stets transzendent zu den raumzeitlich besonderen Fällen, die sich unter ihm subsummieren lassen: so repräsentiert jedes schöne Seiende die ideelle Schönheit nur. Anders verhält es sich beim mythischen Namen: wird er genannt, ist die vollgültige Präsenz des bezeichneten Wesens gemeint.27 Der Begriff ist im Hinblick auf raumzeitliche Ereignisse durch eine ontosemantische Mittelbarkeit charakterisiert, während den Namen die ontosemantische Unmittelbarkeit kennzeichnet. Damit ist indessen nicht gesagt, daß der mythisch denkende Mensch den Namen im Sinne einer herbeizitierenden, performativen Rede verwenden kann. Im Gegenteil: „Der Mensch ist in dieser Sicht so sehr der Schauplatz göttlicher Wirksamkeit und göttlichen Einflusses, daß sein Ich als selbständig handelnde Person fast völlig verschwindet."28 Dem Menschen bleibt hier kaum mehr an Eigenständigkeit', als das Widerfahrnis durch Nennung des richtigen Namens mit dessen numinosem Ursprung zu identifizieren. Dadurch ,versteht' er, was geschehen ist. Doch selbst dieses Verständnis ist keine »eigentliche' Leistung menschlicher Subjektivität (wenn man sich darunter im Sinne der neuzeitlichen Philosophie ein Bewußtsein vorstellen will, das sich auf einen externen, objektiv gegebenen Gegenstand bzw. Sachverhalt bezieht). Der Widerfahrnischarakter der mythischen Welterfahrung bezieht auch die reflexiven Akte des Erkennens und Identifizierens mit ein. Anders als im philosophischen, logos-dominierten Kontext handelt es sich bei diesen Akten auch nicht um primär theoretisch-denkerische Leistungen, sondern um das intuitive Verstehen einer konkreten, praktischen Erfahrung. Das Erlebnis ist ebenso ein Widerfahrnis wie dessen Reflexion. Deshalb sind die mythisch-empirischen Erkenntnisse keine Lei27 So schreibt Walter F. Otto (Gesetz, Urbild, Mythos. Stuttgart 1951, S. 67) über den ontologischen Rang der mythischen Rede: „Es muß dasjenige Wort sein, das die Sache nicht bloß bezeichnet, sondern selbst ist. So aber ist das Wort [...] in dem griechischen Begriff mythos ursprünglich gedacht." Das Wort des Mythos' ist „kein gedachtes Wort [...], sondern ein erfahrenes: das Sein der Dinge selbst." 28 Kurt Hübner in: Hans Poser (1979), S. 78. Vgl. Ernst Cassirer (1977), S. 94.

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stungen, „die der menschliche Geist hervorgebracht hat, sondern sie sind etwas von einem Numinosen Mitgeteiltes, sie beruhen auinuminosen Erfahrungen, in denen ein Gott etwas dem Menschen zeigt.l