Kriminalliteratur und Wissensgeschichte: Genres - Medien - Techniken [1. Aufl.] 9783839428870

Evidence, identity, fiction: Crime novels and their investigators produce knowledge and subjects. This volume examines t

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Kriminalliteratur und Wissensgeschichte: Genres - Medien - Techniken [1. Aufl.]
 9783839428870

Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Kriminalliteratur und Wissensgeschichte
I. GENRES UND WISSENSORDNUNGEN, 1848-1914
»Dies waren die Thatsachen« Kriminalliteratur und Evidenzproduktion im Familienblatt. Die Gartenlaube
»Rings in diesem Zimmer stehen mächtige Schränke« Wissenstransformationen durch Biometrie
Eindeutigkeit und Ähnlichkeit, Bruch und Kontinuität. Mark Twains Pudd’nhead Wilson
Die Großstadt schreiben. Zur literarischen Unterwelt der Städte um 1900
Im Panikraum des Liberalismus. Balduin Grollers Wiener Sherlock Holmes
II. SPIEGELUNGEN UND BRÜCHE IM 20. JAHRHUNDERT UND IN DER GEGENWART
»Guess again« Aufklärung in den hard-boiled Romanen
»Wahnsinn als Methode« Friedrich Dürrenmatts Der Verdacht als Kriminalroman nach der Shoah
»Look at this tangle of thorns« Vladimir Nabokovs Lolita und die Appellstruktur des Geständnisses
Die Evidenz des Hörens. Über Blinde in Carlo Lucarellis Almost Blue
Genrewissen ›spielerisch‹ erwerben. Heinrich Steinfests Kriminalroman Die feine Nase der Lilli Steinbeck im Literaturunterricht
Autorinnen und Autoren

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Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.) Kriminalliteratur und Wissensgeschichte

Lettre

Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.)

Kriminalliteratur und Wissensgeschichte Genres – Medien – Techniken

Die Drucklegung dieses Bandes wurde unterstützt durch die Ernst-ReuterGesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V. und durch die Stiftungs- und Fördergesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung: Kriminalliteratur und Wissensgeschichte

Clemens Peck (Salzburg) und Florian Sedlmeier (Berlin) | Seite 7

I. GENRES UND WISSENSORDNUNGEN , 1848-1914 »Dies waren die Thatsachen« Kriminalliteratur und Evidenzproduktion im Familienblatt Die Gartenlaube

Julia Menzel (Bayreuth) | Seite 31 »Rings in diesem Zimmer stehen mächtige Schränke« Wissenstransformationen durch Biometrie

Daniel Meßner (Wien) | Seite 55 Eindeutigkeit und Ähnlichkeit, Bruch und Kontinuität Mark Twains Pudd’nhead Wilson

Florian Sedlmeier (Berlin) | Seite 79 Die Großstadt schreiben Zur literarischen Unterwelt der Städte um 1900

Scott Spector (Ann Arbor) | Seite 113 Im Panikraum des Liberalismus Balduin Grollers Wiener Sherlock Holmes

Clemens Peck (Salzburg) | Seite 127

II. SPIEGELUNGEN UND B RÜCHE IM 20. J AHRHUNDERT UND IN DER G EGENWART »Guess again« Aufklärung in den hard-boiled Romanen

Sonja Osterwalder (Zürich) | Seite 161 »Wahnsinn als Methode« Friedrich Dürrenmatts Der Verdacht als Kriminalroman nach der Shoah

Caspar Battegay (Lausanne) | Seite 173

»Look at this tangle of thorns« Vladimir Nabokovs Lolita und die Appellstruktur des Geständnisses

Dustin Breitenwischer (Freiburg) | Seite 197 Die Evidenz des Hörens Über Blinde in Carlo Lucarellis Almost Blue

Peter Kuon (Salzburg) | Seite 215 Genrewissen ›spielerisch‹ erwerben Heinrich Steinfests Kriminalroman Die feine Nase der Lilli Steinbeck im Literaturunterricht

Matthias Pauldrach (Salzburg) | Seite 229 Autorinnen und Autoren | Seite 241

Einleitung: Kriminalliteratur und Wissensgeschichte C LEMENS P ECK (S ALZBURG ) UND F LORIAN S EDLMEIER (B ERLIN )

»B RINGING HIS TALENT INTO PLAY «: A RCHIVFIEBER UND D ETEKTIVFIEBER Es ist ein literaturhistorischer Gemeinplatz, Edgar Allan Poes Trilogie kanonischer Kriminalerzählungen als Ausgangspunkt für eine Gattungsgeschichte und eine Gattungspoetik der Kriminalliteratur oder zumindest der Detektivgeschichte zu reklamieren.1 Als Gründungsurkunde der detective fiction gilt dabei vor allem Poes erste Erzählung »The Murders in the Rue Morgue« (1841),2 die zwar im Vergleich mit »The Purloined Letter« (1845) weniger Eingang in die Theoriedebatten der Dekonstruktion, Psychoanalyse und Semiotik gefunden,3 dafür aber

1

Zur Trennung zwischen Detektivgeschichte und dem gleichermaßen älteren wie jüngeren Begriff des Kriminalromans vgl. Richard Alewyn: »Anatomie des Detektivromans« in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 372-404.

2

Zuletzt etwa in Frank Lawrence: »The ›Murders in the Rue Morgue‹. Edgar Allan Poe’s Evolutionary Reverie«, in: Nineteenth-Century Literature 50,2 (1995), S. 168188 oder in Robert Clark: »1841: Edgar Allan Poe, Recognizing that ›Modern Sciences Has Resolved to Calculate upon Unforeseen‹, Invents the Detective Story: ›The Murders in the Rue Morgue‹«, in: Greil Marcus und Werner Sollors (Hg.), A New Literary History of America, Cambridge 2009, S. 254-259.

3

Vgl. Jacques Lacan: »Seminar on ›The Purloined Letter‹«, aus d. Franz. von Jeffrey Mehlman, Yale French Studies 48 (1971), S. 39-72, und Jacques Derrida: Die Postkarte. Von Sokrates bis Freud und Jenseits, 2. Lieferung, aus d. Franz. von Hans-Joachim Metzger, Berlin 1987, S. 193-281. Vgl. weiterführend John P. Muller und William J.

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einen Orang-Utan anzubieten hat. Davon ausgehend sollen hier kurz die Möglichkeiten eines gleichermaßen gattungs- und wissensgeschichtlichen Verständnisses von Kriminalliteratur skizziert werden – als Konfiguration von Genre, Wissen und Gesellschaft.4 Poes Geschichte hebt an mit einer Reflexion über die intellektuelle Fähigkeit zur Analyse, welche die Einführung des Amateurdetektivs C. Auguste Dupin im poetologischen Rahmen romantischer Ästhetik vorbereitet. Diese Diskussion – auch eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeitsbedingungen von Detektivfigur und Indizienparadigma – führt der Ich-Erzähler auf der Ebene unterschiedlicher Funktionsweisen, Regeln und Fertigkeiten des Spiels: Auf der einen Seite steht dabei die auf Logik und mathematische Analyse gebaute Praxis des Schachspiels. Diese meint auch technologische Fertigkeiten als professionelle Intelligenz. Auf der anderen Seite steht mit dem Whist ein Spiel im Zentrum, das als Kartenspiel zwar ebenfalls einem Regelwerk unterliegt, gleichzeitig aber eine andere Form der Aufmerksamkeit erfordert. Zentral ist nun nicht die Spielstruktur selbst, sondern gerade das soziale und körperliche Außen des Spiels. Es geht darum, Gestik, Mimik und Sprache der Mitspielenden, also die habituellen Details, richtig lesen zu können. In Poes Abhandlung, die die Erzählung vorbereitet, operiert der so in den Blick genommene Analyst jenseits bloßer Abstraktion; sein Wissen ist immer schon sozial und performativ codiert und verlangt in der Kombination vor allem Kreativität. Fester Bestandteil der Analyse dieser Codierung ist für Poe dabei die Vorstellungskraft: »Between ingenuity and the analytic ability there exists a difference far greater, indeed, than that between the fancy and the imagination, but of a character very strictly analogous. It will be found, in fact, that the ingenuous are always fanciful, and the truly imaginative never otherwise than analytic. The narrative which follows will appear to the reader somewhat in the light of commentary upon the propositions just advanced«.5

Richardson (Hg.): The Purloined Poe: Lacan, Derrida & Psychoanalytic Reading, Baltimore und London 1988. 4

Eine Wissensgeschichte der Gattungen ist nicht zuletzt dahingehend ernst zu nehmen, als sie Gattungsgeschichte und Gattungstheorie davor bewahrt, ihre eigenen spezifisch historischen Klassifikationsprinzipien, etwa biologistische, zu universalisieren, und stattdessen, ›kritisch‹ umso vehementer nach ihrer epistemischen Raumzeitlichkeit fragt.

5

Edgar Allan Poe: »The Murders in the Rue Morgue«, in: ders., The Murders in the Rue Morgue: The Dupin Tales, hg. von Matthew Pearl, London 2009, S. 3-35, hier S. 5-6. Im Folgenden zitiert als MRM und Seitenzahl.

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Während Poe die unmittelbar darauffolgende Kriminalerzählung mit dem Amateurdetektiv Monsieur C. Auguste Dupin lakonisch zum Exempel des abstrakten Kommentars über analytische Imagination erklärt, hat er auf äußerst spielerische Weise bereits in den ersten Zeilen bis heute gattungskonstitutive Elemente der detektivischen Kriminalliteratur benannt: »As the strong man exults in his physical ability, delighting in such exercises as call his muscles into action, so glories the analyst in that moral activity which disentangles. He derives pleasure from even the most trivial occupations bringing his talent into play.« (MRM, 3) Dass damit einer der Gründungstexte der noch nicht gattungsnormativ erschlossenen detektivischen Kriminalliteratur vorab auf das Verhältnis von Wissenschaft bzw. Logik und Vorstellungskraft bzw. Kreativität (imagination) – von der genialischen, häufig haltlosen Fantasie (fancy) streng getrennt6 – zu Sprechen kommt, ist kein Zufall. Vielmehr sind es gerade die von Dupin und dem Ich-Erzähler der Zeitung entnommenen »extraordinary murders« an Madame L’Espanaye und deren Tochter, die zur textuellen Inszenierung dieses wechselseitigen Verhältnisses herangezogen werden.7 Der Verweis auf die gattungskonstitutiven Elemente von Poes Erzählung, die deutliche Verwandtschaftsbeziehungen zum Geheimnisroman und zur Schauergeschichte unterhalten, verstellt allerdings auch den Blick auf den Einsatz der Literatur selbst, auf die poetologische Reflexion, aus der Dupin hervorgeht. Der Amateurdetektiv figuriert im Folgenden als ein der Logik verpflichte-

6

Vgl. hierzu Sonja Osterwalder: Düstere Aufklärung. Die Detektivliteratur von Conan Doyle bis Cornwell, Wien u.a.: Böhlau 2011, S. 36. Der wohl wichtigste ideengeschichtliche Bezugspunkt Poes für diese Unterscheidung findet sich im 1817 publizierten ersten Band von Samuel T. Coleridge: Biographia Literaria, hg. mit »Aesthetical Essays« von John Shawcross, 2 Bde., London 1907, bes. S.195-202.

7

Bereits im Essay »Maelzel’s Chess Player« (1836) spielt Poe diese Figuration durch: Darin entlarvt er den in Nordamerika und Europa berühmten Schachspielautomaten des Wiener Erfinders und Schaustellers Johann Nepomuk Mälzel – übrigens auch Erfinder des Metronoms – als Trick, der durch einen Menschen, der sich in der Maschine verborgen hält, ausgeführt wird. Poe entwickelt zunächst die Prinzipien, nach denen der Automat im Idealfall funktionieren müsste; eine solche Maschine sei prinzipiell unschlagbar. Da aber, wie er bemerkt, Mälzels Automat nicht jede Partie gewinnt, reagiere der Automat offensichtlich nicht mechanisch auf äußere Einflüsse. Vgl. Edgar Allan Poe: »Maelzel’s Chess Player«, in: Southern Literary Messenger, April 1836, S. 318-326. Dupins Denkprozesse zwischen Analyse und Imagination weisen einige Ähnlichkeiten mit der Anordnung des Problems und der auflösenden Darstellung im Essay auf, vor allem bei Dupins Tatortbesichtigung.

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ter Analyst mit literarischer Vorstellungskraft. Bereits das erste Zusammentreffen zwischen Dupin und dem Ich-Erzähler erfolgt in einer »obscure library where the accident of our both being in search of the same very rare and very remarkable volume, brought us into closer communion« (MRM, 6). Dabei wird das »archive fever«8 – nicht zuletzt führt die Spur zum mörderischen OrangUtan später selbst über Lektüren – zum Modell für das »detective fever«9, auf das Wilkie Collins in The Moonstone (1868) als gesellschaftliche Pathologie verweisen wird. Der Fokus auf das Abseitige und Obskure erklärt Dupin zum idealtypischen Analysten der außerhalb der Ordnung situierten Gewaltverbrechen. Die Bücher der »obscure library« stehen zunächst im Gegensatz zum Massenmedium der Zeitung, das Dupin die Nachricht von den »extraordinary murders«, die im Text durch die Majuskeln visuell abgesetzt ist, übermittelt und solchermaßen buchstäblich in das philologische Archiv einschreibt. Poes Text bezieht seine Spannung aber gerade aus dieser medialen Differenz, auf der die Fallgeschichte beruht und die umso deutlicher auf die medialen Übersetzungen der Kriminalerzählung selbst verweist.10 Dieses Verhältnis spiegelt sich noch einmal in der Zeitungsmeldung: Das mysteriöse Indiz dieses Falles ist auf der auditiven Wahrnehmungsebene angesiedelt und kann von der Erzählung nur umschrieben werden als »shrill voice«, die von diversen Ohrenzeugen als »that of a

8

Mit Blick auf Freud vgl. Jacques Derrida: »Archive Fever. A Freudian Impression«, aus d. Franz. von Eric Prenowitz, in: Diacritics 25,2 (1995), S. 9-63. Die deutsche Übersetzung »Dem Archiv verschrieben« (Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997) verzichtet auf die doppelte Bedeutung von Verlangen und Übel, die im französischen Originaltitel des Vortrags, den Derrida 1994 in London gehalten hat, angelegt ist: »Mal d’archive«.

9

Wilkie Collins: The Moonstone, New York 1868, S. 67: »If there is such a thing known at the doctor’s shop as a detective-fever, that disease had now got fast hold of your humble servant«. Collins setzt die Bezeichnung, als handle es sich dabei um eine bekannte pathologische Disposition, kursiv. An anderer Stelle heißt es: »At this proposal my detective-fever suddenly cooled«. (S. 68) Oder: »[...] I had another attack of the detective-fever when he said those last words«. (S. 83)

10 Zumindest deutet Poes Geschichte auch an, dass es sich dabei mithin um ein potentielles Phantasma der Buchstabenwelt handelt, das die Bibliothek keinen Augenblick verlassen muss: Die visuell inszenierte Materialität des gedruckten Wortes (die »EXTRAORDINARY MURDERS«) verhandelt solchermaßen grundsätzlich die Rahmung eines Falls. Zu den medialen Übersetzungen der Kriminalliteratur vgl. Gabriela Holzmann: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte, 1850-1950, Stuttgart 2001.

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foreigner« (MRM, 13) eingeordnet wird. Das Verdächtige ist als das Fremde konstruiert. Es gehört zur Ironie von Poes Erzählung, dass es sich um jeweils ›andere‹ foreigner handelt, wie die Zeugenaussagen und Vernehmungsprotokolle, die als Zitate aus einem Zeitungsbericht in den Text montiert werden, zeigen: »But in regard to the shrill voice, the peculiarity is – not that they disagreed – but that, while an Italian, an Englishman, a Spaniard, a Hollander, and a Frenchman attempted to describe it, each one spoke of it as that of a foreigner. Each is sure that it was not the voice of one of his own countrymen. Each likens it – not to the voice of an individual of any nation with whose language he is conversant – but the converse.« (MRM, 20)

Dupin, Liebhaber seltener Bücher, entlarvt die über die Zeugenaussagen konstruierten Indizienketten als kontingent; die gelegten Spuren hängen von unterschiedlichen nationalen Sprachräumen und ihren Verdachtsstrukturen ab. Gleichzeitig impliziert Dupins poetologische Lektüre der Zeitung auch eine epistemologische Schlagseite, die über die Vermittlung der sprachlich-auditiven Leerstelle das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Modi der Wahrnehmung und Evidenzproduktion vorführt. Im Rahmen der so ausgestellten sozialen Realität und epistemischen Ordnungstableaus des frühen 19. Jahrhunderts verweist der »very large, tawny Ourang-Outang of the Bornese species« (MRM, 29), den Dupin wiederum mit Hilfe der Zeitung als Täter ermitteln wird, auf ein ›Reales‹, das die zitierten europäischen Nationalkulturen auf ihre Kolonialgeschichte zurückwirft und zugleich die etablierten Bezugssysteme unterläuft. Davon ausgehend bietet sich Poes Geschichte an, die eingangs dynamisierte Opposition von wissenschaftlich-mathematischer Analyse und literarischer Vorstellungskraft als grundsätzliche Frage nach Konstellationen, Widersprüchen und Figurationen von Wissensordnung (im Verständnis der historischen Epistemologie)11 und literarischer Praxis zu stellen.

11 Die Begriffsverwendung folgt im Wesentlichen Michel Foucaults Fortschreibung der historischen Epistemologie Gaston Bachelards und Georg Canguilhems, besonders im ersten Teil von Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus d. Franz. von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main 1974, S. 9-28. Mit besonderer Berücksichtigung von Poes Detektivgeschichte Joseph Vogl: »Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucault«, in: François Ewald und Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Macht. Michel Foucaults Denken, Berlin 1991, S. 193-204.

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Das »locked room«-Rätsel12 von Poes Geschichte bezieht seine Bedrohlichkeit aus einer gespensterhaften agency. Während dieses vorläufige, über das Gewaltverbrechen hinausgehende Unbehagen der Kriminalgeschichte auf ein Reales verweist, konstituiert der Auftritt des Orang-Utan ex negativo eine soziale und epistemische Realität, die sich aus drei Archiven speist. Das erste Archiv ist die obskure Bibliothek, deren Repräsentant der Amateurdetektiv ist. Dupin wird als »young gentleman [...] of an excellent – indeed of an illustrious family« eingeführt, der allerdings wegen einer nicht näher spezifizierten »variety of untoward events« verarmt ist und der nun die »small remnant of his patrimony« (MRM, 6), die ihm seine Schuldner gewähren, mithilfe strikter Haushaltung verwaltet und in gesellschaftlichem Rückzug lebt. Er ist somit Repräsentant einer im Verschwinden begriffenen Kulturaristokratie und muss seinen Habitus kultureller Distinktion in asketisches Studium übersetzen. Seine »sole luxury« (MRM, 6) sind Bücher, und die obskure Bibliothek – das Refugium des Universalgelehrten, der literarisches, naturhistorisches und kulturgeschichtliches Wissen vereint – erscheint dabei als Wunderkammer bzw. Kuriositätenkabinett. Eine Semantik der Bourgeoisie, in die der Orang-Utan gewaltsam einbricht, formt zweitens den eigentlichen »locked room«. Sie umfasst die bürgerliche Wohnung, die der Affe »in the wildest disorder« (MRM, 11) hinterlässt. Mit dieser Semantik korrespondieren das ereignishafte, tagesaktuelle Wissen der Zeitung sowie die nationalkulturellen und kolonialgeschichtlichen Episteme, die dem OrangUtan die Position des Fremden und Monströsen zuweisen. Während sich der Fall für Dupin aus der Perspektive der Bibliothek als Kuriosum konstituiert, bedeutet er für die Bourgeoisie und den bürgerlichen Wohn- bzw. Kommunikationsraum von Beginn an eine Monstrosität, auf die Begehren und Ängste der eigenen sozialen Realität projiziert und ausgelagert werden können. Wenn Poes Erzählung am Ende – mithilfe der Schriften des französischen Naturforschers, Paläontologen und vergleichenden Anatomen Georges Cuvier – dem Orang-Utan im Zoo des Jardin des Plantes seinen natur- und kulturgeschichtlichen Platz zuzuweisen sucht, wird der Affe Teil einer Wissensproduktion, die drittens wiederum auf das Archiv rekurriert. Im Ordnungstableau des zoologischen Gartens wird das Kuriose und das Monströse vereint und darstellbar. Das Verbrechen verschwindet damit wieder – ohne Identifizierung eines menschlichen Täters – in jenem sprachlosen Raum, aus dem es hervorgegangen war. Zwar wird die Paläontologie Cuviers nicht explizit genannt, ist aber hinsichtlich der Rekonstruktion ganzer Lebewesen aus vergangenen Zeitaltern anhand ausgegrabener Fossilien für das Indizienparadigma nicht zu unterschätzen. Sherlock Holmes, der wohl be-

12 Vgl. dazu R. Alewyn: »Anatomie des Detektivromans«, S. 402f.

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rühmteste Nachfolger Dupins zwischen Wissenschaft und Vorstellungskraft, wird diese Verbindung in »The Five Orange Pips« (1891) ausbuchstabieren: »As Cuvier could correctly describe a whole animal by the contemplation of a single bone, so the observer who has thoroughly understood one link in a series of incidents, should be able accurately to state all the other ones«.13 Der hermeneutische Zirkelschluss des Detektivischen, der vom Detail auf das Ganze führt, findet in der Paläontologie seine naturgeschichtliche Legitimierung.

K ONFIGURATIONEN : G ATTUNGS - ALS W ISSENSGESCHICHTE Der Witz, die Dupin-Geschichten als retroaktive Gründungserzählungen zu verstehen, liegt nicht zuletzt darin, dass eben diese Gründungserzählung im Spiegelkabinett romantischer Poetik bereits eine gleichzeitige Überschreitung des erzählerischen Kalküls der Detektivgeschichte vollzieht – noch vor deren eigentlicher Konstituierung als Konvention. Wenn Dupin von seinem Londoner Nachfolger, dem consulting detective Sherlock Holmes inklusive eines erzählerisch völlig funktionalisierten Indizienparadigmas,14 überlagert wird, liegt das nicht zuletzt daran, dass dessen Erfinder, der schottische Schriftsteller, Arzt und Okkultist Sir Arthur Conan Doyle, das Narrativ zum Signum der Figur macht und nicht umgekehrt. Zwar hält sich Conan Doyle sehr genau an Poes exzentrische Detektivfigur und das analytische Erzählmodell. Dies schließt die über den im Dunkeln tappenden Ich-Erzähler vermittelten Dialog-Passagen mit Dupin ein, die im Grunde eher die Form eines Frage-Antwort-Spiels haben, wobei der IchErzähler auch die Position eines Lesers inszeniert, sowie die Methode der genauen Beobachtung und Deduktion. Allerdings weicht die literarische Metareflexivität der Detektivfigur bei Conan Doyle nun ganz dem seriellen Prinzip. Holmes wird im Verbund mit publizistischen Distributionsmöglichkeiten im

13 Arthur Conan Doyle: »The Five Orange Pips«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, London 2009, S. 217-229, hier S. 225. Vgl. dazu auch Gowan Dawson: »Science and its Popularization«, in: Joanne Shattock (Hg.), The Cambridge Companion to English Literature, 1830-1914, Cambridge u.a. 2010, S. 165-183, hier S. 179. 14 Vgl. Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modell für die Literaturgeschichte, aus d. Engl. von Florian Kessler, Frankfurt/Main 2009, S. 86f.

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Strand Magazine ab 1891 gerade an seiner Methode (Deduktion und Indizienparadigma) und Exzentrik erkennbar und damit wiederholbar.15 Fast hundert Jahre später wird es zur Ironie von Umberto Ecos Il nome della rosa (1980) und dessen investigativem Protagonisten William von Baskerville gehören, dass die postmoderne Übersetzung des viktorianischen Detektivs aus der Baker Street in das Klosterleben einer Benediktinerabtei und die Inquisition des Jahres 1327 die Schleife der romantischen Imagination wieder aufgreift, indem sie Figur und Indizienparadigma zurück in die Bibliothek transferiert. Ecos Roman rückt erneut jenen archetypischen Sehnsuchts- und Fieberort in den Mittelpunkt, von dem aus die Gattungspoetik und der populärkulturelle Siegeszug der detektivischen Kriminalliteratur ausgegangen waren. Eine Gattungsgeschichte der Detektiv- und Kriminalliteratur, die wie im vorliegenden Fall den Anspruch auf einen wissensgeschichtlichen Problemzusammenhang erhebt, tut deshalb gut daran, William von Baskerville auf dem Weg von Holmes’ Indizienverfahren zurück zu Dupins Bibliothek und dem imaginären Spiel seines Erfinders zu folgen. Schließlich handelt es sich dabei auch um einen Erkenntnisweg: von der Figur des Detektivs zum Narrativ, von der unmittelbaren Technik zum Archiv ihrer Klassifikationsmodelle und Möglichkeitsbedingungen. Auch Poes Detektivgeschichte zeigt fast alle gattungskonstituierenden Elemente, die in späteren poetologischen Funktionalisierungen der detektivischen Kriminalliteratur dazu führen werden, dass – wie bereits Bertolt Brecht und Viktor Šklovskij betont haben – nicht die Innovation, sondern die Variation zum entscheidenden Differenzkriterium avanciert.16 Das Moment der gattungspoetischen Variation ist nicht zuletzt für das frühe und persistente Interesse der Literatur- und Kulturtheorie an Detektivgeschichte und Kriminalroman verant-

15 Vgl. S. Osterwalder: Düstere Aufklärung, S. 43 und 47. Zu den generellen kulturgeschichtlichen, medientheoretischen und produktions- wie rezeptionsästhetischen Implikationen des Seriellen in der Populärkultur vgl. Frank Kelleter: »Populäre Serialität. Eine Einführung«, in: ders. (Hg.), Populäre Serialität. Narration, Evolution, Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld 2012, S. 11-46. 16 Vgl. Bertolt Brecht: »Über die Popularität des Kriminalromans«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 315-321 und Viktor Šklovskij: »Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 76-94. Vgl. dazu auch Manfred Smuda: »Variation und Innovation«, in: ebd., S. 33-62.

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wortlich.17 Vor diesem Hintergrund wird Poes Text umso bedeutsamer, stellt er doch neben den Formalismen der Kombinatorik und der Variation bereits die erzählerischen Funktionsweisen, politischen Imaginationen und epistemischmedialen Möglichkeitsbedingungen der Detektivgeschichte aus: Die anfängliche räumliche Unordnung der Detektivgeschichte (»wildest disorder«) und die Wiederherstellung der Ordnung in der Serie.18 Auch wenn Poes Geschichte noch nicht von der unmittelbaren Popularität kriminalliterarischer Genres profitieren kann, deutet der erzählerische Einsatz des Massenmediums der Zeitung auf spätere Erfolgsformeln voraus, die untrennbar mit der seriellen Produktion verbunden sind. Bei Poe resultiert auch die Möglichkeit zur literarischen Kritik, sowie die unterschiedliche Verortung dieser Kritik, aus dem spielerischen Rahmen der Erzählung. Dieses kritische Moment entfaltet auf der Ebene der Wissensordnung sowie der sozialen und politischen Imagination seine literatur- und kulturgeschichtliche Tragweite. Es bildet die Grundlage einer epistemologischen Gattungsgeschichte und einer gattungspoetologischen Wissensgeschichte der Kriminalliteratur, wie sie als Rahmung des vorliegenden Sammelbandes verstanden wird. In der Engführung von Wissens- und Erzählordnung ist demgemäß zu fragen, inwiefern kriminalliterarische Texte das kritische Potential aus Poes Erzählung, also die strukturelle Dopplung der eigenen Machart, aufgreifen oder sich dagegen immunisieren. Diese skizzierte Klammer bezieht sich zunächst allgemein auf ein neueres Forschungsfeld der Literaturwissenschaft, das von einer grundsätzlichen poetologischen Spannung von Genre und Wissen ausgeht.19 Hier rückt vor allem jene Ebene des Gattungswissens in den Fokus, welche »die poetologiegesteuerte epistemologische Funktionalität der Gattungen« untersucht, die auf »den gesamten Raum gesellschaftlich verfügbaren Wissens« ausgreift.20 Diese Funktionalität beschreibt dann weniger das Wissen über die Gattung – Poetik, Stil, Rezeptionsstrategien etc. –, sondern die »Triftigkeit von poetischen und ›wissenschaftli-

17 Zu den Genannten kommen dabei noch Ernst Bloch: »Philosophische Ansicht des Detektivromans«, in: J. Vogt (Hg.), Der Kriminalroman I, S. 322-342; Siegfried Kracauer: »Detektiv«, in: ebd., S. 343-355; und Richard Alewyn: »Anatomie des Detektivromans«, in ebd., S. 372-403. 18 Vgl. J. Vogl: »Mimesis und Verdacht«, S. 193-204. 19 Vgl. dazu Michael Gamper und Michael Bies (Hg.): Gattungswissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013, und Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750-1950, Göttingen 2015, bes. S. 74-86. 20 Werner Michler: Kulturen der Gattung, S. 83.

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chen‹ Klassifikationen« einerseits und den »Klassifikationen im Literarischen«21 andererseits. Ausgehend von unterschiedlichen Klassifikationssystemen durch den und im jeweiligen Gattungsrahmen einschließlich dadurch sichtbarer Ähnlichkeitsbeziehungen in anderen gesellschaftlichen Feldern stellt der Sammelband die Frage nach spezifischen Konfigurationen von kriminalliterarischen Genres sowie Formationen kriminalistischer, juristischer, soziologischer, biologischer etc. Diskurse und Praktiken. Im Zentrum stehen dabei vor allem Verdichtungen, Verschiebungen und Brüche dieser Konfigurationen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Eine Wissens- als Gattungsgeschichte schärft einerseits den Blick für »Gegenstände des Wissens«, die nicht zur Gänze »in den Rationalitätsformen einzelner Fachgebiete auflösbar« sind, sondern »ihre größte Sichtbarkeit« vielmehr »an Randgebieten und Übergangsfeldern« gewinnen. Es geht also um »Problematisierungsweisen dessen [...], was man Wahrheit oder Erkenntnis nennen könnte«.22 Andererseits versucht eine Wissensgeschichte der Kriminalliteratur auch die »poetologische« Dimension des Wissens zu umschließen, die das »Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung begreift«.23 Auch wenn die unterschiedlichen Gattungsgeschichten der Kriminalliteratur mitunter bis zu Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schauplatz Jämerlicher Mordgeschichte (1649-1650) und weiter zurückreichen, erfährt die epistemologische Funktionalität der kriminalliterarischen Genres im 19. Jahrhundert eine maßgebliche klassifikatorische Potenzierung. Die »Spurensicherung« als Individualisierungspraxis lässt sich, wie Carlo Ginzburg gezeigt hat, einerseits als »epistemologisches Modell« beschreiben, das im Fall seiner drei Kronzeugen Ende des 19. Jahrhunderts – Giovanni Morelli, Sigmund Freud und Arthur Conan Doyle – auf die Diagnosetechnik der »medizinischen Semiotik« zurückgeht.24 Andererseits speist sich dieses Indizienparadigma aus einer alten Kulturtechnik, die sich bis zum persischen Märchen von den drei Söhnen des Königs

21 Ebd. 22 Joseph Vogl: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7-16, hier S. 13. 23 Ebd. 24 Vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, aus d. Ital. von Gisela Bonz und Karl F. Hauber, Berlin 2002, S. 7-17. Problematisch ist dabei allerdings, dass Ginzburg zwischen dem historischen Begriff »medizinische Semiotik« und einem methodisch-semiologischen Verständnis dieser klinischen Praxis keinen Unterschied macht.

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von Serendip verfolgen lässt.25 Im wissensgeschichtlichen Gattungsmodell ist Kriminalliteratur also weniger Ausdruck einer kausal-chronologischen Differenz in einer als geschlossen angenommenen Gattungsreihe, sondern meint ein durch spezifische soziale Energien befördertes Zusammentreffen historischepistemologischer Ordnungsmodelle und kultureller Ausdrucksformen: Der lange Weg der Spurensicherung, wie ihn bereits die drei Prinzen in der persischen Mythologie zurücklegen – das Märchen war Poe und anderen Pionieren der Kriminalliteratur bekannt –, mündet am Ende des 19. Jahrhunderts in eine spezifische genre-, sozial- und wissensgeschichtliche Konstellation bei Sherlock Holmes, während das Klassifikations- und Darstellungssystem des moralischen Exempels der älteren Kriminalkasuistik wie beim genannten Harsdörffer verschwindet bzw. umcodiert wird. Wissen und Klassifikation von Delinquenz lassen sich nicht ausschließlich auf Disziplinengrenzen beschränken. Das trifft auch auf die Gattung ›Kriminalliteratur‹ zu: Deren ›Geschichte‹ und ›Geografie‹ – vor allem in diesem selektiven Rahmen – sind nicht stringent zu erzählen bzw. darstellbar, ohne auf normative Gemeinplätze zurückzugreifen. Vielmehr steht die Vielfalt der europäischen und nordamerikanischen Produktion von Kriminalliteratur, sowohl ihrer Publikationskontexte als auch ihrer Darstellungsweisen, im Zentrum. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbands verfolgen Ausdifferenzierungen, Etablierungen und Verlagerungen von kriminalliterarischen Genres und Darstellungsmustern, die wiederum an unterschiedlichen epistemologischen Feldern partizipieren. Epistemologien – so die These – helfen dabei, historische und genretechnische Differenzen und Brüche der Kriminalliteratur genauer herauszuarbeiten. Gleichzeitig sind es die Klassifikationsmodelle dieser Gattungsbewegungen und -verlagerungen, die den Blick für die Inszenierung der Wissensobjekte schärfen. Trotz der relativen Dominanz und Beständigkeit von Detektivgeschichte und Kriminalroman kann von Kriminalliteratur hier also nur im Verständnis wechselnder Konfigurationen von erzählerischer Inszenierung und Diskursivierung von Delinquenz und Delinquenten gesprochen werden. Abseits der motivischen, stofflichen und institutionellen Trennung lassen sich Detektivgeschichten, Kriminalromane, journalistische Studien krimineller Sozialmilieus und Topografien, Spionageromane, psychopathologische oder kriminalistische Fallgeschichten, populär aufbereitete Polizeiberichte oder Entwicklungs- bzw. Gesellschaftsromane mit eingelagertem Kriminalplot so nicht nur vergleichen, sondern gerade in ihrer Differenz historisch genauer bestimmen.

25 Vgl. ebd., S. 18-23 und S. 36ff.

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A RCHIVIEREN , K LASSIFIZIEREN , I DENTIFIZIEREN : A NTHROPOLOGIE UND KRIMINALISTISCHE P RAXIS Luc Boltanski verweist darauf, dass die Potenzierung der Kriminalliteratur und die Etablierung der Detektivgeschichte im 19. Jahrhundert die Herausbildung moderner Staatlichkeit und Gouvernementalität begleitet. Das zentrale Anliegen dieses Prozesses, den Abstand zwischen »gelebter und instituierter Realität, zwischen Subjektivitäten und den objektiven Dispositiven, die ihnen als Rahmen dienen«, zu verringern,26 spiegelt sich in der detektivischen Inszenierung des Indizienparadigmas. Die Kriminalliteratur erweist sich diesbezüglich als Experimentierfeld für die Konfrontation von Typus und Individualität, von Norm und Devianz. Die Verwandtschaft von Archiv- und Detektivfieber deutet für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine doppelte Archivierungspraxis an: Einerseits werden Körper und Gesellschaft erst im Archiv zu Repräsentanten sozialer Wirklichkeit, andererseits avanciert der einzelne Körper selbst zum technischen, psychischen und biologischen Archiv, zum Ort der Einschreibung und des Zugriffs.27 Damit verschiebt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Interesse vom Verbrechen und dessen rechtlicher Festschreibung zur Kenntnis des Verbrechers selbst: Produktion, Klassifizierung sowie Archivierung des delinquenten Subjektes werden mit dem Aufkommen des wissenschaftlichen Positivismus und der Evolutionstheorie virulent.28 In Poes Erzählung steht, wie zu sehen war, mit dem Rekurs auf Cuvier das System der Naturgeschichte im Vordergrund, das noch nichts von den biologisti-

26 Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, aus dem Franz. von Christine Pries, Berlin 2013, S. 47. Vgl. dazu auch Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège des France 1977-1978, hg. von Michel Sennelart, aus d. Franz. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2004, und ders.: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, hg. von Michel Sennelart, aus d. Franz. von Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2004. 27 Gerade in Bezug auf diese Frage führt die Fernsehserie von CSI vor Augen, dass die Populärkultur mitunter auch als fröhliches Nostalgieunternehmen einer Tatort- und Laborfiktion fungieren kann, die durch Zitate epistemischer Anordnungen der Kriminalliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die gegenwärtigen Erfassungs- und Identifikationsmöglichkeiten durch genetische Codes oder Big Data verschleiert. 28 Vgl. Clarence Ray Jeffrey: »The Historical Development of Criminology«, in: Journal of Criminal Law and Criminology 50.1 (1959), S. 3-19.

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schen Signaturen der Evolutionstheorie weiß, aber bereits über eine Nomenklatur verfügt, die über die Figur des Archivars Kuriositäten und Phänomene als fixierte Einheiten enzyklopädisch erfassen und typologisieren kann. Zwar befindet sich der Orang-Utan bei Poe außerhalb der bürgerlichen Rechtsordnung und wird aufgrund seiner Herkunft als koloniales Anderes lesbar,29 aber er verkörpert zugleich eine Externalisierung der Ängste und Begehren des Bürgertums. Die Erschließung dieser Doppelfunktion basiert jedoch auf einer allegorischen Lesart – Borneo wird etwa erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Kolonie und die in Frankreich spielende Geschichte ist auch als Kommentar auf das Nordamerika vor dem Bürgerkrieg lesbar. Der Orang-Utan, den Carl von Linné in Systema Naturae (1735) klassifiziert und in einer späteren Auflage unter heftiger Kritik in eine Klasse mit dem Homo Sapiens gestellt hatte, besitzt bei Poe keine definierbare Subjektivität, und das Problem, das er für die Rechtsordnung produziert, findet seine Lösung darin, dass er in die naturgeschichtliche Sammlung überführt wird, wobei die Möglichkeit des Ausbruchs aus dieser Sammlung und damit auch die Destabilisierung der Klassifikation bestehen bleibt. Die Ordnungen von Naturgeschichte und Anthropologie erfahren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine radikale Veränderung, die zunächst mit der Resonanz und Rezeption der Evolutionstheorie Charles Darwins zu tun hat, wie er sie in On the Origins of Species (1859) darlegt.30 Die skandalöse Feststellung, der Mensch stamme vom Affen ab, zieht – im an Darwin anschließenden Übertrag auf Vorstellungen von Kultur und Sozialität – die etablierten Ordnungen der Distinktion und des Status in Zweifel; sie trifft auf eine progressive Zeitlichkeit und auf die Entwicklungshypothese, die Herbert Spencer zu einem allgemeinen Prinzip für soziale und kulturelle Formationen abstrahiert. Diese explosive Verbindung erlaubt es, einerseits das Fortschrittsnarrativ zu befeuern, andererseits neue Typologien des Devianten und Rückständigen zu konstruieren, die sich schließlich auch in Rassenepistemologien, in auf Vererbung basierenden Milieutheorien und im die Eugenik hervorbringenden Sozialdarwinismus manifestieren. Die Wissenschaft vom Leben ist ein entscheidender Grundstein für die Entwicklung der Kriminologie. Sie lenkt den Blick auf die Produktion neuer Ty-

29 Vgl. dazu auch L. Frank: »Edgar Allan Poe’s Evolutionary Reverie«, S. 179. Frank zitiert eine Stelle aus Cuviers Le règne animal (1831-1843), in der Cuvier auf die Etymologie des Namens »Orang-Utan« verweist: »Ourang is a Malay word signifying reasonable being, which is applied to man, the ourang-outang, and the elephant. Outang means wild, or of the woods; hence Wild Man of the Woods.« 30 Zu diesem Umschwung und seinen Implikationen vgl. etwa Rolf Peter Sieferle: Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt/Main 1989.

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pen und Subjekte und gestattet die Überführung der Anthropologie in eine Kriminalanthropologie. In diesem Rahmen ist auch Cesare Lombrosos berüchtigte Studie L’uomo delinquente (1876) zu verorten.31 Der diskursiven Bewegung vom Verbrechen zum Verbrecher folgend etabliert sich die Kriminologie als Raum, in dem sich juristische, ethnografische, medizinische, soziologische und psychologische Diskurse kreuzen. Diese unterschiedlichen Wissensfelder eint das Bedürfnis nach Produktion, Vermessung und Archivierung des Delinquenten bzw. des delinquenten Körpers. Die Kriminologie übernimmt dabei auch das Repertoire der Darstellungstechniken dieser Diskurse, die von der Fotografie32 bis zur Statistik reichen, um einerseits ein umfassendes Wissen über die angenommene, typologisierte ›Eigenart‹ der Verbrecher bereitzustellen und andererseits eine Professionalisierung der kriminalistischen Praxis zu entwickeln. Die Anordnung des kriminologischen Tableaus lässt sich einer Grafik entnehmen, die der erste akademische Kriminologe Hans Gross33 der vierten Auflage seines Handbuchs für Untersuchungsrichter (1901) voranstellt, das bis weit ins 20. Jahrhundert zum Standardwerk der wissenschaftlichen und angewandten Kriminalistik werden sollte. Die Kriminologie wird darin in drei Untergruppen geteilt: Kriminalanthropologie, Kriminalsoziologie und Kriminalphänomenologie. Während die Sta-

31 Vgl. Daniel Pick: Faces of Degeneration. A European Disorder, c. 1848-c. 1918, Cambridge 1989, bes. S. 109-154. 32 Die Kriminologie entwickelt sich also als eigenständige Disziplin anhand einer Reihe von medialen Darstellungstechniken und Wissensformationen, die mit Konstruktionen des ethnokulturellen und klassenspezifischen Anderen zur bürgerlichen Ordnung verbunden sind, die Poe unter einer älteren Wissensordnung bereits vorwegnimmt. Ein prägnantes Beispiel: Die Kriminologie öffnet einen besonderen Blick auf die Geschichte der Fotografie. Wie Allan Sekula gezeigt hat, entsteht um das Medium ein doppeltes Darstellungssystem, »functioning both honorifically and repressively«. Allan Sekula: »The Body and the Archive«, October 39 (1986), S. 3-64, hier S. 6. Die Fotografie hat somit nicht nur eine bürgerliche Porträtfunktion, die aus ihrer historischen Konkurrenzbeziehung zu Malerei erwächst, sondern dient auch der anatomischen und medizinischen Illustration. Sie erlaubt es so, bürgerliche Selbstvergewisserung und Typologien des Anderen in einem einzigen Archiv von Körperbildern zur Darstellung zu bringen. 33 Zur Kriminalwissenschaft bei Hans Gross vgl. Christian Bachhiesl: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft. Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung, Wien und Berlin 2012, S. 35-203.

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tistik als Bereich der Soziologie und die Somatologie als Bereich der Anthropologie ausgegeben werden, taucht die »Kriminalistik« als Bereich der Phänomenologie auf, die sich wiederum in die »Erscheinungslehre des Verbrechens« und die »Untersuchungskunde« verzweigt.34 Damit ist nicht zuletzt eine Naturalisierung des Verbrechens und des Verbrechers erreicht. Die Kriminologie ist auch insofern ein diskursiver Kreuzungsort, als sie allmählich zu einem bürgerlichen Sicherheitsraum avanciert, in dem jene gesellschaftlichen Ordnungen, die sich durch soziale Mobilität und Industrialisierung nicht mehr unmittelbar in einer statischen gesellschaftlichen Stratifikation niederschlagen, auf den Körper übertragen werden. Deshalb rücken nun äußere und innere Merkmale des menschlichen Körpers ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Damit wird das »single hermeneutic paradigm«,35 das sich mit Physiognomie und Phrenologie etabliert hatte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zum Ausweis der Seele und des Charakters, sondern wie bei Lombrosos ›signifikanter‹ Hinterhauptmulde als Typologie der pathologischen und anthropologischen Devianz von Verbrechern herangezogen. Gleichzeitig destilliert die Anthropometrie, die der heutigen Biometrik vorausgeht und die mit dem Namen Alphonse Bertillon verbunden ist, daraus eine klassifizierende Systematik, die eindeutige Identifikation produzieren soll und fotografisch dokumentiert wird. Dass Ginzburgs anthropologisch begründetes Modell des Sammelns und der Spurensicherung zur Evidenzproduktion im Hinblick auf Kriminalanthropologie und Kriminologie sowie die kriminalistische und erkennungsdienstliche Praxis weiter differenziert werden muss, zeigt insbesondere das Beispiel Sir Francis Galtons: Angetrieben vom Glauben an Degeneration, Eugenik und Vererbung etabliert er nicht nur die Technik des Komposit-Porträts, die mehrere Fotografien eines Subjektes übereinander legt, um – ganz im Sinne der frühen Kriminalanthropologie Lombrosos – die typischen Charakteristika von Gesicht und Schädel gegenüber der Fülle detaillierter Abweichungen zu extrahieren. Galton tritt auch in direkte Konkurrenz zu Bertillon, indem er nahezu zeitgleich zu dessen Systematik in seiner Abhandlung Finger Prints (1892) das mediale Konkurrenzsystem des Fingerabdruckes weiterentwickelt, dessen Versprechen es ist, ein einziges universelles Zeichen eindeutiger Identifizierbarkeit zu schaffen. Als Anhänger der Vererbungslehre und Begründer der Eugenik will jedoch gerade Galton dieses Zeichen eindeutiger und unabhängiger Identifikation an essentia-

34 Vgl. Hans Gross: Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik, 4. Aufl., München 1901, S. XII. 35 A. Sekula: »The Body and the Archive«, S. 10.

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listische Rassenklassifikationen und etablierte Klassenhierarchien binden. Galtons Überzeugungen wirken somit der eigentlichen Funktion der Daktyloskopie – der Produktion eindeutiger Identifizierbarkeit bar differentieller Zuschreibungen – entgegen, die heute ebenfalls mit seinem Namen verbunden wird. Die Kehrseite des Glaubens an diese archivierbare Singularität wäre dann allerdings ein Wahrheitsversprechen, das ethnokulturelle, psychologische und sozioökonomische Kontexte als Erklärungsmodelle außer acht zu lassen droht und so die Bedingtheiten der Ungleichheiten in der Gesellschaftsstruktur übersieht.36 Die Kriminalanthropologie mit ihrer biologistischen Klassifikation des Devianten und die Kriminologie als Sammeldisziplin und Kreuzungspunkt diverser Wissensformationen und Ermittlungspraktiken sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts untrennbar mit der Legitimation politischer und rechtlicher Systeme verbunden. Gerade angesichts des nationalsozialistischen Terrorregimes und der Shoah zeigt sich die unheilvolle Verschränkung von Kriminalanthropologie und kriminalistischer Praxis als permanenter »Ausnahmezustand«. Für Giorgio Agamben wird dieser Ausnahmezustand – die Schaffung eines fiktionalen Außen zu einer etablierten Rechtsordnung – zur Grundlage des modernen Totalitarismus, der immer auch vermeintlich demokratische Systeme mit einschließt.37 An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wird ein kritischer Einbezug Galtons vor diesem Hintergrund umso dringlicher. Die Möglichkeit einer DNA-Datenbank verschärft die Produktion des Körpers als detektivisch lesbarem Text: Nun werden auch Abjektale des Körpers – Sekrete oder Haare – zu Spuren und Medien der eindeutigen Identifizierung. Zur Kriminologie und zur Kriminalanthropologie gehört von Anfang an auch die Rolle der Gesellschaft bis hin zur Strafrechtsreform. Die Relevanz der paradoxalen Wissensformation Galtons – der eindeutigen, nicht-typologischen Identifizierung gegenüber der visuellen Produktion von Verbrechertypen qua Milieu und Vererbung – kehrt nicht nur in populären Diskursen zum »Verbrecher-Gen« wieder. Sie ist, mit konkretem Blick auf die USA, auch in einen institutionellen Rassismus eingeschrieben. Zum einen erlaubte es die DNA-Technik in den letzten Jahren, einige zu Unrecht verurteilte und zumeist afroamerikanische Bürger nachträglich zu entlasten. Zum anderen zeigt die gerade im vergangenen Jahr eklatante Häufung von Fällen, in denen unschuldige Schwarze von Polizisten aufgrund visueller Wahrnehmungsmuster

36 Vgl. hierzu Simon A. Cole: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge und London 2002. 37 Vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, aus d. Ital. von Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt/Main 2004, S. 7-41.

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(Hautfarbe und Körperbewegungen) verdächtigt und erschossen wurden, die strukturelle – psychosoziale wie institutionelle – Persistenz der Kopplung von Bedrohung und Verbrechen an Konstruktionen des Anderen, die in Poes OrangUtan bereits allegorisch angelegt ist.

G ENRES , M EDIEN , T ECHNIKEN Ist mit Anthropometrie und Daktyloskopie zwar das Primat des Visuellen in der Spurensicherung fortgeführt, so zeigt sich auch, dass Ginzburgs Hermeneutik des Details, also die Lesbarkeit des Körpers, hinsichtlich der ihr eingeschriebenen Archivierungspraktiken und Medienkonkurrenzen erweitert werden muss. Hierbei kommt noch einmal Poe ins Spiel, unterläuft die Erzählung »The Murders in the Rue Morgue« doch bereits das sich später herausbildende kriminalistische Paradigma der Sichtbarmachung, indem sie das entscheidende Indiz auf der Ebene des Auditiven ansiedelt. Zugleich ist in Erinnerung zu rufen, dass sich die Spurensicherung im späten 19. Jahrhundert zwar vorrangig auf Sichtbares stützt, die Überführung des Kriminellen jedoch eines Geständnisses bedarf, das mündlich erfolgen bzw. in die Schrift gesetzt werden muss. Wir haben es also mit medienbedingten Wissensgeschichten zu tun, die dem Problemzusammenhang von Evidenz, Identität und Fiktion verpflichtet sind. Das Verhältnis dieser Wissensgeschichten zu den diversen Genres und Publikationskontexten der Kriminalliteratur zu erkunden, ist ein zentrales Anliegen dieses Bandes. Genres meinen demnach narrative Muster und Klassifikationen in der Literatur wie in den Wissensordnungen; Medien gleichermaßen literarische Publikationsformen und Orte der Evidenzproduktion. Genres und Medien werden dabei vor allem über jene Techniken in den Blick genommen, die gleichermaßen Methoden und Verfahren des Erzählens und der Spurensicherung sind. Vor dieser Folie lassen sich nicht nur epistemische Anordnungen, sondern auch einzelne Dinge, Auftritte und Handlungsweisen der Ermittlung hinsichtlich ihrer wissenspoetologischen Dimension herausarbeiten – auch und gerade als Störgeräusch und Filmschmutz der Evidenzproduktion. Die Beiträge des Sammelbands verfolgen in einem ersten Block die skizzierte epistemologische Verdichtung in unterschiedlichen Konfigurationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Dabei werden nicht nur unterschiedliche (institutionelle) Genres der Kriminalliteratur in diversen Erscheinungsformen, sondern auch ihre spezifischen Erzähl- und Ermittlungstechniken als epistemische und soziale Ordnungspraxis beschreibbar: JULIA MENZELs Beitrag widmet sich am Beispiel der Kriminalerzählungen

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J.D.H. Temmes dem medialen Status der Kriminalliteratur im Familienblatt Die Gartenlaube und den darin verhandelten Verbrechenskonstruktionen am Beispiel einer Kindsmörderin. DANIEL MESSNER arbeitet in seinem Beitrag über Biometrie die für den Zusammenhang von Gattungs- und Wissensgeschichte notwendige Differenz der Wissensordnungen der Kriminalanthropologie und der erkennungsdienstlichen Praxis Ende des 19. Jahrhunderts heraus. Ausgehend von der Literarisierung der Identifizierungstechnik des Fingerabdruckes und deren Kollision mit dem Rassendiskurs positioniert FLORIAN SEDLMEIER Mark Twains Pudd’nhead Wilson als Gründungstext für eine nordamerikanische Literaturgeschichte des Kriminalromans. Der Problemhorizont der gattungs- und wissensgeschichtlichen Ausdifferenzierung wird in SCOTT SPECTORs Beitrag anhand von Hans Ostwalds Berliner Stadtbeschreibungen Dunkle Winkel in Berlin im Kontext moderner Urbanisierung um 1900 und der damit verbundenen Darstellungsproblematik aufgegriffen. CLEMENS PECK untersucht die epistemologische und soziologische Gravität von Balduin Grollers Sherlock Holmes, der die serielle Detektivgeschichte aus dem viktorianischen London in die Kultur der Wiener Jahrhundertwende transferiert und zum Sicherheitsberater des Liberalismus avanciert. Ein zweiter Block verfolgt Respondenzen auf die im 19. Jahrhundert etablierten wissens- und gattungsgeschichtlichen Konfigurationen. Diese erscheinen mitunter als Verschiebungen und Auflösungen von Wissensordnungen im 20. Jahrhundert, wobei den dabei sichtbar werdenden Fragen nach einer spezifischen Verknüpfung von Evidenz, Identität und Fiktion die »extremen« Spuren der politisch-totalitären Projekte anhaften. Das Problem der modernen Subjektkonstruktion in den amerikanischen 1930er und 1940er Jahren verhandelt SONJA OSTERWALDER, die sich dem prekären Status des Indizienparadigmas in den hard boiled-Romanen Raymond Chandlers und Dashiell Hammetts widmet. CASPAR BATTEGAY untersucht Friedrich Dürrenmatts Kriminalroman Der Verdacht als Auseinandersetzung mit dem anthropologischen und juristischen Status des Verdachts nach der Shoah. DUSTIN BREITENWISCHER liest Vladimir Nabokovs Lolita rezeptionsästhetisch wie kriminalgeschichtlich über die Verschränkung der Appellstruktur des Gedächtnisses mit der wirkungsästhetischen Bedeutung der Geschworenenrolle. Anhand von Carlo Lucarellis Roman Almost Blue führt PETER KUONs Beitrag die Evidenz des Hörens und das Versagen des investigativen Auges vor, demgegenüber sowohl die Ermittlungs- als auch die Erzähltechniken problematisiert werden. MATTHIAS PAULDRACH folgt am Beispiel von Heinrich Steinfests Kriminalromanen der kulturanthropologischen Frage nach dem Spielcharakter der Kriminalliteratur und dessen Einsatz im Literaturunterricht.

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Die Herausgeber danken der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin und der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg für die großzügige Unterstützung der Druckkosten. Anja Burghardt danken wir herzlich für die Übersetzung des Beitrages von Scott Spector. Ohne Simon Rienäckers Sorgfalt und Kompetenz bei der Einrichtung des Manuskriptes läge der Band in dieser Form nicht vor. Der Workshop, dessen Beiträge die Grundlage dieses Buches bilden, wurde durch den Forschungsschwerpunkt »Wissenschaft & Kunst« der Universität Salzburg finanziert, besonderer Dank gebührt Peter Kuon und Silvia Amberger für die freundliche Unterstützung. Abschließend bedanken wir uns bei Christian Bachhiesl und dem Hans-GrossKriminalmuseum der Universität Graz für das Coverbild. Berlin und Salzburg im Januar 2015

L ITERATUR Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand, aus d. Ital. von Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt/Main 2004. Alewyn, Richard: »Anatomie des Detektivromans«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 372-403. Bloch, Ernst: »Philosophische Ansicht des Detektivromans«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 322-342. Boltanski, Luc: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, aus d. Franz. von Christine Pries, Berlin 2013. Brecht, Bertolt: »Über die Popularität des Kriminalromans«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman II. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 315-321. Bachhiesl, Christian: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft. Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung, Wien und Berlin 2012. Clark, Robert: »1841: Edgar Allan Poe, Recognizing that ›Modern Sciences Has Resolved to Calculate upon Unforeseen‹, Invents the Detective Story: ›The Murders in the Rue Morgue‹«, in: Greil Marcus und Werner Sollors (Hg.), A New Literary History of America, Cambridge 2009, S. 254-259. Cole, Simon A.: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge und London 2002.

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Coleridge, Samuel T.: Biographia Literaria, hg. mit »Aesthetical Essays« von John Shawcross, 2 Bde., London 1907. Collins, Wilkie: The Moonstone, New York 1868. Conan Doyle, Arthur: »The Five Orange Pips«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, London 2009, S. 217-229. Dawson, Gowan: »Science and its Popularization«, in: Joanne Shattock (Hg.), The Cambridge Companion to English Literature, 1830-1914, Cambridge u.a. 2010, S. 165-183. Derrida, Jacques: »Archive Fever. A Freudian Impression«, aus d. Franz. von Eric Prenowitz, in: Diacritics 25,2 (1995), S. 9-63. Derrida, Jacques: Die Postkarte. Von Sokrates bis Freud und Jenseits, 2. Lieferung, aus d. Franz. von Hans-Joachim Metzger, Berlin 1987, S. 193-281. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège des France 1977-1978, hg. von Michel Sennelart, aus d. Franz. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2004. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, hg. von Michel Sennelart, aus d. Franz. von Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2004. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus d. Franz. von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main 1974. Gamper, Michael und Michael Bies (Hg.): Gattungswissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013. Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, aus d. Ital. von Gisela Bonz und Karl F. Hauber, Berlin 2002. Gross, Hans: Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik, 4. Aufl., München 1901. Holzmann, Gabriela: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte, 1850-1950, Stuttgart 2001. Jeffrey, Clarence Ray: »The Historical Development of Criminology«, in: Journal of Criminal Law and Criminology 50.1 (1959), S. 3-19. Kelleter, Frank: »Populäre Serialität. Eine Einführung«, in: ders. (Hg.), Populäre Serialität. Narration, Evolution, Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld 2012. Kracauer, Siegfried: »Detektiv«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 343-355. Lacan, Jacques: »Seminar on ›The Purloined Letter‹«, aus d. Franz. von Jeffrey Mehlman, Yale French Studies 48 (1971), S. 39-72.

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Lawrence, Frank: »The ›Murders in the Rue Morgue‹. Edgar Allan Poe’s Evolutionary Reverie«, in: Nineteenth-Century Literature 50,2 (1995), S. 168-188. Michler, Werner: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750-1950, Göttingen 2015. Moretti, Franco: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modell für die Literaturgeschichte, aus d. Engl. von Florian Kessler, Frankfurt/Main 2009. Muller, John P. und William J. Richardson (Hg.): The Purloined Poe: Lacan, Derrida & Psychoanalytic Reading, Baltimore und London 1988. Osterwalder, Sonja: Düstere Aufklärung. Die Detektivliteratur von Conan Doyle bis Cornwell, Wien u.a.: Böhlau 2011. Pick, Daniel: Faces of Degeneration. A European Disorder, c. 1848-c. 1918, Cambridge 1989. Poe, Edgar Allan: »The Murders in the Rue Morgue«, in: ders., The Murders in the Rue Morgue: The Dupin Tales, hg. von Matthew Pearl, London 2009, S. 3-35. Poe, Edgar Allan: »Maelzel’s Chess Player«, in: Southern Literary Messenger, April 1836, S. 318-326. Sekula, Allan: »The Body and the Archive«, October 39 (1986), S. 3-64. Sieferle, Rolf Peter: Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt/Main 1989. Šklovskij, Viktor: »Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 76-94. Smuda, Manfred: »Variation und Innovation«, in: Jochen Vogt (Hg), Der Kriminalroman I. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, München 1971, S. 33-62. Vogl, Joseph: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7-16. Vogl, Joseph: »Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucault«, in: François Ewald und Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Macht. Michel Foucaults Denken, Berlin 1991, S. 193-204. Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung, 2 Bde., München 1971.

I. Genres und Wissensordnungen, 1848-1914

»Dies waren die Thatsachen« Kriminalliteratur und Evidenzproduktion im Familienblatt Die Gartenlaube J ULIA M ENZEL (B AYREUTH )

I. »Es ist ein schweres Amt, das Amt eines Criminalrichters«.1 Mit dieser schlichten Feststellung beginnt 1856 im Familienblatt Die Gartenlaube einer der ersten Serienhelden in der Geschichte der deutschen Kriminalprosa die Schilderung seines zweiten ›Falls‹ »Das lebendig vergrabene Kind«. Insgesamt erscheinen zehn dieser Richter-Geschichten jeweils in Fortsetzung über mehrere Heftnummern im 1853 vom Leipziger Verleger Ernst Keil erstmals publizierten »Illustrirten Familienblatt«.2 Der zitierte Untersuchungs- und »Criminalrichter« fungiert

1

Jodocus Temme: »Das lebendig vergrabene Kind«, in: Die Gartenlaube 4,10 (1856), S. 125. Im Weiteren erfolgt die Angabe von Stellennachweisen der Gartenlaube des Jahres 1856 sofern Titel und Verfasserangabe genannt werden unter Verwendung der Sigle GL inkl. Seitenangabe im Fließtext.

2

Die Gartenlaube verfügt über eine fast 100jährige Geschichte (1853-1944) mit insgesamt drei Herausgeberwechseln und gilt als Protottyp des sogenannten (illustrierten) Familienblatts. In wöchentlichen Ausgaben veröffentlichte sie Feuilletonromane, biographische Skizzen und Gedichte, kulturgeschichtliche Essays, populärwissenschaftliche Aufsätze und Korrespondentenmeldungen aus aller Welt und erreichte damit in Hochzeiten eine Auflagenhöhe von mehr als 380.000 Exemplaren. Aufgrund ihrer Distribution in den für das 18. und 19. Jahrhundert üblichen Lesezirkeln und Leihbüchereien kann von einem Vielfachen an tatsächlicher Leserschaft ausgegangen werden. Vgl. dazu: Hartwig Gebhardt: »Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende

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darin als Ich-Erzähler, der sowohl die Rekonstruktion der verbrecherischen Tat vornimmt als auch den Leser durch die Erzählung dieser Rekonstruktion führt. Geistiger Vater dieses Serienermittlers, der Einblick in seine Arbeitsstube und den Arbeitsalltag gewährt und damit vorgeblich den institutionellen Umgang mit Kriminalität im Deutschland des 19. Jahrhunderts darstellt, ist Jodocus Donatus Hubertus Temme (1798-1881). Temme, selbst Jurist und zeitweilig Rat am Berliner Kriminalgericht beziehungsweise später Direktor am Oberlandesgericht Münster,3 ist Vielschreiber und fleißiger Beiträger der Gartenlaube. Von 1855 bis in die späten 70er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein veröffentlicht er hier zahlreiche Artikel und (Kriminal-)Erzählungen und avanciert damit neben Eugenie Marlitt und Alfred Brehm zu einem der beliebtesten Autoren des Familienblatts.4 Dass Temme sich in der Gartenlaube gut platziert fühlt, nimmt wenig Wunder. Entspricht sein Credo »vorzüglich belehren – durch Unterhaltung«5 doch der Programmatik der Zeitschrift, wie sie Ernst Keil in seinem Vorwort zum ersten Heft formuliert: »An unsere Freunde und Leser! […] Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und für die Familie, ein Buch für Groß und Klein […]. Dann wollen wir hinaus wandern an der Hand eines kundigen Führers in die Werkstätten des menschlichen Wissens, in die freie Natur, zu den Sternen des Himmels […] und dann sollt Ihr hören von den schönen Geheimnissen der

des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung«, in: Buchhandelsgeschichte 2 (1983), B 41-B 65. 3

Nähere Angaben zur wechselvollen wie interessanten Biographie Temmes in: Walter Gödden und Siegfried Kessemeier: »Nachwort«, in: dies. (Hg.), Jodocus Temme Lesebuch, Ahlen 2004, S. 140-149, sowie in knapper Darstellung bei Julia Menzel: Unfälle, Zufälle, erste Fälle. Ein Criminalrichter in der Gartenlaube, in: CULTurMAG. Literatur, Musik und Positionen 2, Februar 2013, http://culturmag.de/rubriken/buecher/ julia-menzel-uber-jodocus-donatus-hubertus-temme/65241 (Zugriff: August 2014).

4

Friederieke Henriette Christiane Eugenie John (1825-1887) veröffentlichte als Eugenie Marlitt in der Zeit von 1865 bis 1888 insgesamt 12 Romane (den letzten posthum) als Erstdruck in Fortsetzungen in der Gartenlaube. »Tiervater« Alfred Brehm (18291884) verfasste zahlreiche populärwissenschaftliche Beiträge für die Zeitschrift und wird hier u.a. durch eine ausführliche Biographie (im Jahresband 1868, S. 20ff.) sowie einen Nachruf (im Jahresband 1884, S. 796) als »Lehrer und Aufklärer des Volkes von Gottes Gnaden« (ebd.) gewürdigt.

5

Temme zit. in W. Gödden und S. Kessemeier: »Nachwort«, S. 139.

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Natur, von dem künstlichen Bau des Menschen und seiner Organe, von Allem, was da lebt und schwebt […], was Ihr täglich seht und doch nicht kennt. Und was außerdem noch von Interesse ist im Thun und Treiben der Menschen […] So wollen wir Euch unterhalten und unterhaltend belehren. Ueber das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben wie der Duft auf der blühenden Blume […], es soll den Leser anheimeln in unserer Gartenlaube.« (GL 1853, 1)

An diesem Ort also soll die Familie zusammengebracht werden. Es gilt, den Spagat zwischen Nachrichtenblatt und überzeitlichem Hausbuch im Sinne einer Enzyklopädie zu schaffen, zeitgenössisches Wissen an den Leser zu bringen – und zwar im Wortsinn Wissen über das Innerste, auch Verborgene im Menschen. Die Gartenlaube erscheint solchermaßen als medialer Ort der Ordnung und Konfiguration von Wissen, der in Wechselbeziehung mit einem ethisch-ästhetischen Vermittlungsrahmen steht. Wenn dabei anheimelnd poetisch zu verfahren ist, geht es also gleichermaßen um Unterhaltung durch und Popularisierung von Wissen. Die Gartenlaube bedient sich hierbei eines Wissens- und Darstellungsparadigmas, das die zeitschrifteneigene Möglichkeit von Bezugsformen vor allem im Hinblick auf die präsentierten ›Konzepte vom Menschen‹ nutzt. Basal für die spezifische Form des Umgangs der Familienzeitschrift mit dem Menschen, seiner Welt und der Darstellung dieser Welt ist die Verknüpfung zwischen (Fach-)Wissen und der emotional-subjektiven Vermittlung dieses Wissens.6 Für die »Werkstätten des menschlichen Wissens« im Hinblick auf die Entstehung von und den Umgang mit Kriminalität interessiert sich auch Jodocus Temme in einer Weise, die weder »Grausen und Abscheu« erregen soll, noch

6

Die Verschränkung von Wissensordnungen und Gefühlskultur findet sich besonders ausgeprägt in all jenen Gartenlaube-Beiträgen, die sich (mehr oder minder) dezidiert an ›die Leserin‹ richten bzw. auf das weibliche Publikum zielen. Der Gender-Aspekt der Familienzeitschrift ist entsprechend ein bereits mehrfach behandelter Forschungsgegenstand. Vgl. u.a. Ingrid Otto: Bürgerliche Töchtererziehung im Spiegel illustrierter Zeitschriften von 1865 bis 1915. Eine historisch-systematische Untersuchung anhand einer exemplarischen Auswertung des Bildbestandes der illustrierten Zeitschriften Die Gartenlaube, Über Land und Meer, Daheim, Illustrierte Zeitung, Hildesheim 1990, sowie Kirsten Belgum: »Domesticating the Reader: Women and Die Gartenlaube«, in: Women in German Yearbook: Feminist Studies in German Literature & Culture 9 (1994), S. 91-111. Zur Verschränkung von Wissensvermittlung und weiblichem Lesepublikum vgl. Romana Weiershausen: Wissenschaft und Weiblichkeit. Die Studentin in der Literatur der Jahrhundertwende, Göttingen 2004.

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rein »aktenmäßig«7 erscheinen darf, sondern den Leser an die Hand des »kundigen Führers« empfiehlt. Und so nimmt Temmes »Criminalrichter« den Leser denn auch wirklich mit zum »Thun und Treiben der Menschen«, das er täglich vor Augen hat und »doch nicht kennt« und macht ihn zum »Inquirenten« (GL, 143): »Und wie war dies gräßliche Verbrechen entstanden? Wie konnte das junge litthauische Mädchen mit dem sanften, gutmüthigen Gesichte zu einer so entsetzlichen Verbrecherin herabsinken? Folge der Leser mir in eine armselige litthauische Hütte.« (GL, 126). Bereits an dieser Stelle wird mit wenigen Worten ein ganzer Kosmos des kulturell und sozial Anderen aufgerufen, dem sich die Leserschaft unter der Aufsicht des Untersuchungsrichters nähern kann. Der strafrechtlich kundige Ich-Erzähler übernimmt dabei die erzählerische und epistemische Funktion des Türöffners und fungiert damit als der angekündigte kundige Führer durch die Werkstätten unterschiedlicher Wissensbestände. Wissen, das vor die Augen geführt werden soll – gar Wissen vom Verborgenen, das an den Leser, die Leserin gebracht werden soll – ist ein Anspruch, der nicht erst mit Jodocus Temme oder der Gartenlaube entsteht, sondern in einer sich immer stärker werdenden »Kultur der Evidenz«8 begründet liegt, die ihren Anfang im 17. Jahrhundert nimmt. Die Notwendigkeit der Produktion von evidentia, einem ursprünglich rhetorischen Konzept der Spätantike,9 geht hier einher mit dem, was gemeinhin als ›wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts‹ bezeichnet wird10 und vor allem den Bedeutungszuwachs des EmpirischExperimentellen gegenüber der reinen Beobachtung meint. Der Augenschein wird dabei nicht ersetzt, sondern erfährt vielmehr eine ergänzende Verwissenschaftlichung, in deren Rahmen Evidenzen des Anschauens produziert werden müssen. Hole Rößler fasst diese Evidenzverfahren als »Praktiken, in denen auf unterschiedliche Weise ästhetische und semiotische Elemente zum Zwecke der unmittelbaren und überzeugenden Anschaulichkeit zusammengeführt werden.«11

7

Temme zit. nach W. Gödden und S. Kessemeier: »Nachwort«, S. 139.

8

Hole Rößler: Die Kunst des Augenscheins. Praktiken der Evidenz im 17. Jahrhundert, Münster 2012, S. 3.

9

Vgl. Tom Holert: »Evidenz-Effekte. Überzeugungsarbeit in der visuellen Kultur der Gegenwart«, in: Matthias Bickenbach und Axel Fliethmann (Hg.), Korrespondenzen. Visuelle Kulturen zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Köln 2002, S. 198-255, hier S. 207f.

10 Vgl. etwa Alistair Crombie und Michael Hoskin: »The Scientific Movement and the Diffusion of Scientific Ideas 1688-1751«, in: V. J. S. Bromley (Hg.), The New Cambridge Modern History, Bd. 6, Cambridge 1969, S. 37-71. 11 H. Rößler: Die Kunst des Augenscheins, S. 12.

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Damit aber stellt sich die Frage: »Wie wird Anschaulichkeit hergestellt, ohne etwas zum Anschauen zu bieten? Und wie wird bisweilen überzeugt, ohne zu bezeugen?«12 Der Richter und Gartenlaube-Autor Temme schildert Fälle aus der Praxis eines Untersuchungsrichters, der in mehr oder minder direktem Kontakt mit dem Verdächtigen steht. Indem die nachträgliche Rekonstruktion der verbrecherischen Tat durch den Untersuchungsrichter die Erzählung konstituiert, muss diese Erzählinstanz umso deutlicher auf die Evidenzproduktion verweisen: Tatorte sichten, Zeugen verhören, Indizien sammeln, beobachten und kombinieren. Dieser durchaus komplexe Wahrheits(er)findungsprozess ist nun allerdings keiner, den Temmes »Criminalrichter« allein durchläuft. Entsprechend der Gartenlauben-Programmatik – Anspruch auf unterhaltende Wissensvermittlung und Konfiguration unterschiedlicher Wissensbestände – verlagert Temmes Richter unter aktivem Einbezug der Leserschaft den Prozess der Wahrheitsfindung zum Teil in den größeren Rahmen, d.h. in andere Bereiche, des Familienblatts. Als »Leseaufgabe«13 erweist sich demgemäß sowohl die Beurteilung des Strafprozesses (wobei das, wie noch zu zeigen sein wird, gerade in »Das lebendig vergrabene Kind« eine nicht ganz einfache Aufgabe ist) als auch die (der Beurteilung vorund nachgelagerte) glossierende Erweiterung des Wissenshorizontes im Medium des Familienblatts. Dieser Prozess der Wissensentstehung wie das Generieren von Wissen allgemein ist allerdings, wie Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer in ihrem Band zur Figuration von Evidenz zwischen Kunst und Wissen aufzeigen, eng an die Gestaltung bzw. Konstruktion von Evidenz gekoppelt.14 Anschaulichkeit suggeriere und produziere Wissen, das dergestalt nicht mehr in einen separierten Produktions- und davon völlig unabhängigen Darstellungsprozess unterteilt werden könne.15 Solcherlei Evidenzproduktion entspreche Popularisierungsstrategien, »[…] in denen Anschaulichkeit zwar als vermeintliches Zugeständnis an den NichtExperten verfasst ist, tatsächlich aber nicht zuletzt dazu dient, die Wissenschaft aus dieser

12 T. Holert: »Evidenz-Effekte«, S. 199. 13 Fred Breinersdorfer: »Vorwort«, in: Hans Otto Hügel et al. (Hg.), Mord in der Bibliothek. Eine Ausstellung des Studiengangs Kulturpädagogik der Universität Hildesheim, Marbach am Neckar 1995, [= Marbacher Magazin 73, 1996], S. 1-25, hier S. 17. 14 Vgl. Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer: »Intellektuelle Anschauung – unmögliche Evidenz«, in: dies. (Hg.), »Intellektuelle Anschauung«. Figuration von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 9-21, hier S. 9. 15 Vgl. ebd., S. 12.

36 | J ULIA M ENZEL veranschaulichenden Vermittlung als eine in sich konsistente Autorität zurück zugewinnen.«16

Das heißt für den vorliegenden Zusammenhang, dass nicht nur der geneigte Gartenlaube-Leser vom »Criminalrichter« und dessen anschaulicher Wissensvermittlung profitiert, sondern die vermittelten Wissensbestände selbst. Die Gartenlaube wird ihrerseits zum Evidenzproduzenten für die Erzählung des »Criminalrichters« und die darin behandelten Wissensbestände. Mehr noch: In dem es diese Wissensbestände gleichzeitig in andere Kanäle außerhalb der Erzählung auslagert und im eigenen Medium doppelt, begründet sich das Familienblatt selbst als ebenjener Ort, an dem das (noch) Verborgene des menschlichen Wissens zur Anschauung kommt und Gültigkeit erlangt. Denn: Evidenzen »sind nicht etabliert, nicht selbstverständlich. Was evident wird, ist zuvor noch nicht gewesen, ist also nicht Teil eines vorgängig Gewussten […]. Ein wesentliches Merkmal von Evidenz ist ihre Neuheit.«17 In der Interaktion mit der Gartenlaube wird die Kriminalerzählung dergestalt zum Ort der Wissensvermittlung, die Gartenlaube ihrerseits aber avanciert zu einem regelrechten Medium der Evidenz. Der vorliegende Beitrag betrachtet daher das Familienblatt Die Gartenlaube als spezifischen Publikationsort, der aufgrund seiner Struktur und konzeptuellen Anlage den idealtypischen Platz für Temmes »Criminalrichter«-Geschichten bildet. Das »System Gartenlaube« erweist sich dabei als konstitutiv für das Gelingen von Temmes Erzählung (als Kriminalerzählung),18 indem bereits beste-

16 Ebd., S. 13 mit Verweis auf Ulrike Felt: »Die Stadt als verdichteter Raum der Begegnung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit«, in: Christian Goschler (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin 1870-1930, Stuttgart 2000, S. 185-220. 17 H. Rößler: Kunst des Augenscheins, S. 15. 18 Inwieweit es sich bei Temmes »Criminalrichter«-Geschichten um »Kriminalerzählungen« im Sinne der entsprechenden Bauformen und Elemente handelt, ist in der Forschung umstritten. Für eine Zuordnung Temmes zu diesem Genre vgl. u.a. Friederike Meyer: »Zur Relation juristischer und moralischer Deutungsmuster von Kriminalität in den Kriminalgeschichten der Gartenlaube 1855 bis 1870«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12,1 (1987), S. 156-189. Ihrer Einschätzung schließe ich mich mit Verweis auf die ›Minimaldefinition‹ dieses Genres an, die Karin Ackermann vorschlägt: »Aufklärung eines Delikts, vorzugsweise eines Kapitalverbrechens, mittels Detektion, Abduktion, Zeugenbefragungen und Indizienauswertung«. Vgl. Karin Ackermann: »Einleitung«, in: Véronique Liard (Hg.), Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst, München 2010, S. 11-16, hier S. 11.

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hende, medieninhärente Besonderheiten von der Kriminalerzählung als Beglaubigungsstrategie nutzbar gemacht werden können, als Wissensgenerator fungieren und die Kriminalerzählung damit zum Träger neuer Wissensordnungen machen. Zugleich werden Narrations- und Fiktionskonzepte der Gartenlaube an der Kriminalerzählung erprobt.

II. Evidenz erscheint in Temmes Geschichte vorrangig in Form eines Zeigegestus, hinter dem das Beteiligungskonzept des Lesers als Augenzeuge steht. Diese Versuchsanordnung forciert von Beginn an das Sehen über den Text der Erzählung hinaus in das Familienblatt hinein, und ist eher einem ›showing‹ statt ›telling‹, also dem Zeigen statt Explizieren, verhaftet.19 So wird »Das lebendig vergrabene Kind«, die Erzählung über eine junge litauische Magd namens Mare Müller, die, ungewollt schwanger, von ihren Wirtsleuten nur schlecht versorgt und schließlich hinausgeworfen wird, um anschließend auch von ihrer Mutter verstoßen zu werden und in völliger Verzweiflung ihr Neugeborenes an einem Wall zu vergraben, ohne Autornamen publiziert. Die Verfasserangabe beläuft sich lediglich auf den Titelzusatz »Vom Verfasser der schwarzen Mare« (GL, 125). Diese, durchaus nicht unübliche Angabe der Autorschaft,20 dient hier nicht der Verrätselung oder Anonymisierung des Urhebers, sondern markiert seine Expertise am dafür vorgesehenen Ort innerhalb des Familienblatts – und dies gleich in doppelter Hinsicht: So verweist die Angabe explizit auf den 1854 erschienenen Roman Die schwarze Mare, der im Untertitel den Zusatz »Bilder aus Litthauen« trägt und der für den Gartenlaube-Leser eine, zumindest namentlich, wohl bekannte Publikation ist. Bereits im Jahrgang 1855, dem ersten Jahrgang, in dem Temme im Familienblatt veröffentlicht, ist er nämlich mit zwei Erzählungen vertreten, für die beide der »Verfasser der schwarzen Mare« verantwortlich zeichnet. Während »Schlom Weißbart« (GL 1855, Heft 19 bis 22) die Beigabe »Ein Bild aus Litthauen« (GL 1855, 241) erhält und damit direkten Bezug auf den im Vorjahr veröffentlichten Roman nimmt, wird »Der gestohlene Brautschatz« (GL 1855,

19 Vgl. Ursula Renner: »›Details sollten sein wie jener Blitz bei Dickens‹ – Photopoetische Reflexe um 1900«, in: Helmut Pfotenhauer u.a. (Hg.), Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, Würzburg 2005, S. 103-128, hier S. 106. 20 Vgl. zu Geschichte, Form und Funktion von Verfasserangaben in Untertiteln: Annette Retsch: Paratext und Textanfang, Würzburg 2000, bes. S. 44ff.

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Heft 36 bis 39) gar mit »Eine Criminalgeschichte aus guter alter Zeit. Vom Verfasser der schwarzen Mare« (GL 1855, 467) angekündigt. Ohne jegliche Namensangabe verschafft Die Gartenlaube Temme damit einen Autoritätsanspruch für die Erzählung des Jahres 1856, der keinen Zweifel an der Beantwortung der Frage »Wer ist glaubwürdig?«21 aufkommen lässt. Der Autor sogenannter ›Zeitbilder‹ aus dem Leben der litauischen Bevölkerung hat sich bereits auch als Autor von »Criminalgeschichten« bewährt. Diese Identitätszuschreibung verbindet den Kriminalautor (Temme) mit dem Litauen-Kenner (Temme) und macht Identität als Beglaubigungsstrategie nutz- und sichtbar. Den meisten Lesern dürfte zudem zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt gewesen sein, dass es sich beim Autor selbst auch um einen Juristen und Untersuchungsrichter handelt.22 Eine Dopplung dieser Strategie findet sich auch zu Beginn der Erzählung. Der eigentliche Fall wird zusätzlich durch den Bericht des »Criminalrichters« gerahmt, der Ich-Erzähler und Teilnehmer am Prozess zugleich ist. Ebenjener Richter schaltet dem Plot einen rechtstheoretisch anmutenden Essay zur Todesstrafe vor, der in Inhalt und Ausprägung nicht nur stark an Jodocus Temmes eigene Kritik an der Todesstrafe (wie er sie u.a. in seiner Critik des Entwurfs des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten äußert)23 erinnert, sondern seine (populär)wissenschaftliche Entsprechung in der Gartenlaube selbst findet. Die Kritik des »Criminalrichters« an der Unzeitgemäßheit der Todesstrafe entzündet sich dabei maßgeblich, und darin geschickt auf die Schilderung der schwierigen Lebenssituation Mare Müllers hinleitend, an der mangelnden Berücksichtigung sozialer Umstände:

21 F. Breinersdorfer: »Vorwort«, S. 18. 22 Die schwarze Mare wird ihrerseits mit, diese Praxis dürfte nun kaum mehr überraschen, »Vom Verfasser der Neuen deutschen Zeitbilder« beworben. Diese dreibändige Romanreihe verwertet offen Temmes Erfahrungen als Untersuchungsrichter. Vgl. dazu Winfried Freund: »Demokrat, Richter, Kriminalautor. Eine Wiederbegegnung mit Jodokus Donatus Hubertus Temme«, in: Gerhard Peter Knapp (Hg.), Autoren damals und

heute.

Literaturgeschichtliche

Beispiele

veränderter

Wissenshorizonte,

Amsterdam 1991, S. 257-272, hier S. 268. 23 Vgl. J. D. H. Temme: Critik des Entwurfs des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten, 2 Bde., Berlin 1843. Zu Temmes Auseinandersetzung mit dem Preußischen Strafrecht vgl. Karoline Peters: J. D. H. Temme und das preußische Strafverfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin und New York 2010.

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»Gerade der edlere, der bessere Mensch hat am meisten die Ueberzeugung, daß die Todesstrafe gegenwärtig keine gerechte Strafe mehr, daß sie nur noch eine Grausamkeit ist […]. Und so hat der gebildete, der fühlende und denkende Criminalrichter schon längst die Ueberzeugung gewonnen, daß die Todesstrafe als eine der Gerechtigkeit entsprechende Strafe nicht mehr anerkannt werden kann.« (GL, 125)24

Und weiter: »Die bei weitem größere Anzahl der Richter ist so von dem Geiste der Bureaukratie inficirt, daß ihnen klares Denken und richtiges Fühlen ganz und gar unmöglich geworden ist. […] Ihnen gegenüber denke man sich jene unglücklichen Geschöpfe, die nicht aus Schlechtigkeit, die nur aus Schwäche zu Verbrechern wurden. Die Strafgerechtigkeit wird unter ihren Händen zu einem Glücksspiele […].« (GL, 126)

Ein harter Befund der eigenen Zunft, der jedoch auch außerhalb der Erzählung geteilt wird. So wird diese Kritik im, nun tatsächlich, rechtstheoretischwissenschaftlichen Essay »Eine Verbrechersammlung« ein paar Seiten nach der Erzählung im Heft aufgefaltet und an aktuellen Beispielen aus der Justiz exemplifiziert. »Auch die neuere und neueste Gesetzgebung hat oft mit dem, was der gesunde, parteilose, gebildete Mensch für recht und billig hält, nichts zu thun. Ja, der strenge, erfahrene, praktische Richter unserer Zeit selbst muß erst aus unabsehbaren Labyrinthen von Rechts- und Gesetzparagraphen und Anmerkungen und Erläuterungen dazu eine Stelle heraus speculiren, um über einen vorliegenden Fall begangenen Unrechts zu entscheiden. Das Rechtsgefühl, selbst das gebildete Rechtsbewußtsein des edeln Richters wird nicht gefragt. Dieses entscheidet oft, ja, in der Regel ganz anders […]. Hier eröffnet sich ein weites Feld für Geltendmachung der Humanität, physiologischer und socialer Einsicht, welche den Verbrecher und jedes Vergehen immer viel richtiger und milder beurtheilt als das Gesetz und selbst als das unmittelbare Rechtsgefühl. Die sociale Einsicht in die Quellen der Verbrechen reicht allein hin, uns demüthigend milde zu stimmen, wenn wir Gefängniß, Zuchthaus, Schaffot und Galgen vor uns haben. Fast durchweg läßt sich in jedem Verbrechen als Quelle der Schuld die bestehende sociale und politische ungesunde, schwache Construction des Lebens nachweisen […].« (GL, 215f.)

Über diese strafrechtliche und ethische Kontextualisierung wird der Ich-Erzähler innerhalb des Jahrgangsheftes 1856 der Gartenlaube als verlässliche Instanz

24 Hervorhebungen J.M.

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aufgebaut, dessen kritische juristische Erörterungen innerhalb der Erzählung zum Teil bis in die Wortwahl hinein mit den wissenschaftlichen Ausführungen außerhalb der Erzählung korrespondieren und ihn damit als Amtsträger beglaubigen. Hier wird nicht der »Gerichtssaal […] zur Bühne von Expertenkompetenz«,25 sondern das Familienblatt. Im Abgleich mit der ›tatsächlichen‹ Expertenkompetenz formiert sich erst die Identität des Erzählers als »Criminalrichter« und konstruiert eine augenscheinliche Verlässlichkeit des Erzählten. Die hier markierten Themenfelder delinquenten Verhaltens exponieren Mare Müller als ein typisches Problem der zeitgenössischen Justiz, die sich weigert, neueste Wissensordnungen in die Bearbeitung ihrer Fälle zu integrieren. Sowohl in der Erzählung als auch im rechtswissenschaftlichen Essay wird auf die Notwendigkeit des ›edlen Menschen‹ auf dem Richterstuhl hingewiesen, der seinen Interessensfokus von der Tat auf den Täter verlagern und damit die sozialen Umstände und die Herkunft des Verbrechers bei der Wahrheitsfindung berücksichtigen sollte. Dass es sich beim berichtenden »Criminalrichter« um einen solchen »edeln Richter« handelt, der »klares Denken und richtiges Fühlen« über die Buchstaben des Gesetzes stellt und der gerade im vorliegenden Fall über Wissen verfügt, das die Betrachtung des Täterinnenprofils auf eine andere Ebene hebt, legt die Exposition als kriminalkundiger Litauen-Kenner nahe. Temme vollzieht die verstärkte Hinwendung zum Täter in der Betrachtung der litauischen Straftäterin durch einen ausgewiesenen Experten. Wie stark der unmittelbare Wahrheitsanspruch gerade im Bereich der Justiz bzw. des Justizvollzugs an Identität im Sinne eines (auch von anderen entsprechend wahrgenommenen) Ichbewusstseins geknüpft ist, verdeutlicht eine kleine Nebenepisode in »Das lebendig vergrabene Kind«. Der »Berittschulz des Bezirks, eine Art Executor des Landrathsamtes und zugleich selbstständiger unterer Polizeibeamter«, von dem der »Criminalrichter« zu berichten weiß: »Dergleichen Beamten pflegen meist in hohem Grade von ihrer Würde eingenommen zu sein« (GL, 128), ermittelt kurz nach Mares Niederkunft bei ihren Arbeitsgebern und Wirtsleuten, um die Recht- bzw. Unrechtmäßigkeit des Aufenthalts der russischstämmigen Magd in Preußisch Litauen festzustellen. Auf den Widerspruch des Bauern, der einwendet, dass eine polizeiliche Anmeldung »nur für russische Ueberläufer und Deserteure« (GL, 128) gelte, erwidert der Polizeibeamte: »Schweig. Das muss ich besser wissen. Das königliche Landrathsamt kann Dich in eine Strafe von zweihundert Thalern nehmen.« (ebd.) Ebenso quittiert der Beamte den Hinweis, dass ihr Bräutigam und der Vater des Kindes in Kürze mit den zur Heirat erforderlichen Papieren einträfe, mit einem: »Hier verheiraten?

25 T. Holert: »Evidenz-Effekte«, S. 203.

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Das muss ich besser wissen. Dazu gehört für die Ausländerin obrigkeitlicher Consens, und der müßte von Berlin und Petersburg kommen.« (ebd.) Auch hier kennzeichnet die Erzählung Verlässlichkeit und Beglaubigung über die Identität einer Figur, denn die Voraussage tritt ein und markiert den Beginn der Flucht Mare Müllers.26

III. Die Evidenztechniken, die in der Gartenlaube zum Einsatz kommen, belaufen sich jedoch nicht nur auf die Konstruktion von ›reliability‹ im Hinblick auf Figuren und Personen, sondern nutzen auch neue Wissensbestände (der Blick in die »Werkstätten des menschlichen Wissens«) um mit der Hilfe des Lesers die Tat zu rekonstruieren. Wenn Walter Gödden und Siegfried Kessemeier Temmes »Criminalrichter«-Geschichten attestieren, dass häufig der Zufall bei der Aufklärung behilflich sei, und vermerken, dass »[d]urch neu bekannt werdende Indizien […] ein Fall in jeweils neues Licht«27 rücke, erscheint mir vor dem Hintergrund der Geschichten im Publikationskontext der Gartenlaube eine präzisere Zuordnung des Zufalls nötig. Die jeweils neu bekannt werdenden Indizien in der Erzählung »Das lebendig vergrabene Kind« zumindest, speisen sich zum Teil aus Wissen, das zeitgleich in wissenschaftlichen Artikeln der Gartenlaube des Jahres 1856 publiziert wird. Die eigentliche Rekonstruktion der Tat beginnt dabei mit einer Beschreibung der Täterin: »Es war eine große, wohlgebaute Person, mit einem im Ganzen ausdruckslosen, aber doch gutmüthigen und sanften, und nichts weniger als unangenehmen Gesichte. Sie war außerordentlich blaß; ihre großen, blauen, etwas matten Augen hatten einen ängstlichen Blick.« (GL, 126)

Daran schließt die bereits erwähnte, Narration produzierende Frage des IchErzählers: »Wie konnte das junge litthauische Mädchen mit dem sanften, gut-

26 »Sein Vormund und das Gericht […] wollten ihm [Mares Bräutigam Martin Jurrot, J.M.] nicht die Einwilligung geben zu der Heirath mit Dir. Das Gesetz gestatte es nicht, gaben sie ihm zum Bescheid; er sei arm, und Du desgleichen. Und dazu seiest Du eine Ausländerin, die ohne Erlaubniß der preußischen und russischen Regierung gar nicht hier in das Land heiraten könne. Die Obrigkeit müsse Dich zurückschaffen, so wie man erfahre, daß Du mit einem Kinde angekommen seiest.« (GL, 141) 27 W. Gödden und S. Kessemeier: »Nachwort«, S. 143.

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müthigen Gesichte zu einer so entsetzlichen Verbrecherin herabsinken?« (GL, 126) Diese kurze Analyse, vornehmlich physiognomischer, Elemente greift auf eine Vorstellung Lavater’scher Prägung zurück, nach der der Abdruck der inneren Persönlichkeit auf der Gesichtsfläche zu erkennen sei. Diese Form der anschaulichen Evidenz ist von der Praxis der Bertillonage, jenem System zur Identifizierung anhand der Maße von einzelnen Körperteilen, das zum Ende des Jahrhunderts populär werden sollte28, deutlich verschieden. In Temmes Geschichte sind es vor allen Dingen die Augen, die zum Spiegel der Seele avancieren: Der Erzähler fokussiert die Augen mit insgesamt vier Adjektiven und etabliert sie damit als Zentrum der sichtbaren Persönlichkeit Mare Müllers. Ein Vorgehen, das der anonyme Gartenlaube-Autor des Artikels »Das Auge des Menschen«29 (GL, 331ff.) sicher gut heißt, denn: »Was das Licht in der Landschaft, ist das Auge in dem Menschengesichte […]. Der Blick ist das Erste, das wir an einem Menschen beachten, der uns gegenübertritt und aufmerksamer als auf die Worte oder auf den Ton der Stimme sind wir auf den Ausdruck des Auges.« (GL, 331) Auf insgesamt drei Seiten werden darin Beschaffenheit und Symbolik des Auges ausgebreitet. Das Publikum des Familienblatts bekommt dabei ein Instrumentarium an die Hand, mithilfe dessen sich Größe, Stellung und Farbe des Auges in direkten Bezug zum »innersten Wesen« (ebd.) des oder der Betrachteten setzen lassen. »Wo eine Neigung nach dem innern Winkel zu erscheint, soll sie«, so der Verfasser, »religiöse Schwärmerei, begeisterte Frömmigkeit oder schlaue Heuchelei andeuten« (GL, 331). Nichts von alledem ist Mare Müller zur Last zu legen. Hier ›spricht‹ vielmehr der bloße Blick: »Jeder Mensch auf Erden hat einen ihm eigenen Blick. Die Anatomen finden ihn nicht, die Physiologen können ihn nicht erklären, aber wir Alle wissen, daß er da ist. Er ist das Resultat des Gesammtausdrucks aller Theile des Auges, der nach vielfachen Wiederholungen endlich dauernd bleibt. Er wird deshalb der charakteristischste Zug des Menschen, der wirkliche Spiegel seines Lebens, der Dolmetsch aller seiner Gedanken und Gefühle.« (GL, 332)

28 Vgl. hierzu und zum Paradigma der sekundären Details gerade in Verbindung mit Kriminalliteratur den Grundlagentext von Carlo Ginzburg: »Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, München 1998, S. 274-296. 29 Der Artikel erscheint mit zwei Unterpunkten (I. Symbolik des Auges, II. Bau des Auges), von denen nur der zweite Punkt gekennzeichnet wird. Verantwortlich zeichnet hier der Anatom Carl Ernst Bock (1809 bis 1874), der zahlreiche populärwissenschaftliche Beiträge aus dem Bereich Medizin für Die Gartenlaube verfasste.

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Der grundsätzlich anatomisch-physiologisch ausgerichtete Artikel integriert hier ein emotionales ›Wissen‹ in seine Argumentation, das nicht das Wissen der Wissenschaftler ist, gleichwohl aber als ebenbürtig, wenn nicht zum Teil überlegen, beschrieben wird. Den Wissensbeständen, denen der Leser in Expertenartikeln begegnet, wird damit das bereits bestehende ›Lebenswissen‹ dieses Lesers beigegeben, um den ›Fall Mare Müller‹ richtig einzuordnen. Ihr ängstlicher Blick aus matten Augen (vgl. GL, 126) enthüllt Mare Müller damit als eines jener »unglücklichen Geschöpfe, die nicht aus Schlechtigkeit, die nur aus Schwäche zu Verbrechern wurden« (GL, 126) und die, dem Gartenlaube-Beitrag »Die Verbrechersammlung« folgend, »der Humanität, physiologischer und socialer Einsicht unterliegen müssen, weil sich eine bestehende sociale und politisch ungesunde, schwache Construction des Lebens nachweisen« (GL, 215f.) lasse. Was dem Leser hier vorgeführt wird, ist keine Täterin, sondern ein Opfer der Umstände. Entsprechend erscheinen die Verbrecher der »Verbrechersammlung« auch nicht als Täter aus Bosheit, sondern vielfach als Ausdruck eines tiefer liegenden Problems, das hier als politisch wie sozial kranke Gesellschaft beschrieben wird. Von der Wissenschaft der Physiognomik, deren theoretische Ausarbeitung im Artikel »Das menschliche Auge« seine exemplarische Anwendung in »Das lebendig vergrabene Kind« findet, wechselt die Erzählung zudem in den noch jungen Wissensbereich der Ernährungsphysiologie:30 Kurz nach der Geburt ihres Kindes erkrankt Mare Müller und erfährt statt mitleidiger Humanität die ganze Hartherzigkeit ihres Arbeitsgebers. »Der hartherzige Geiz des Hausherrn ließ ihr nur magere Kost zukommen, und die Armuth der mitleidigen Hausfrau gab es nur selten zu, der Kranken eine bessere, nahrhaftere Speise verstohlen verabreichen zu können. Desto mehr zehrte das kräftige Kind an der Brust der Mutter die schwachen Kräfte derselben auf. […] Mare Müller war von Tag zu Tage schwächer geworden […].« (GL, 127)

30 Die moderne Ernährungsphysiologie wurde von Justus Freiherr von Liebig (18031873) 1842 durch entsprechende Experimente an der Universität Gießen begründet. Vgl. hierzu: Marion Schmaus: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936), Tübingen 2009, S. 223f., sowie Hans-Jürgen Teuteberg und Günter Wiegelmann (Hg.): Nahrungsgewohnheiten in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl., Münster 1995, S. 47ff. Die Gartenlaube würdigt Liebig bereits 1854 als einen von den »Männern, welche den langsamen Entwickelungsgang der Wissenschaften durch einen mächtigen Anstoß plötzlich um ein gutes Stück vorwärts brachten.« (GL 1854, 83)

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Die derart immer wieder als »krank« Bezeichnete und mit »abgemagerte[m], bleiche[m] Gesichte« (ebd.) Dargestellte, erhält statt nahrhafter Mahlzeiten nur dünne Hafersuppe, schwarzes Brot und kaltes Wasser (vgl. GL, 128). Dabei macht der Erzähler deutlich: »Die Kranke hatte Hunger, denn ihre Krankheit bestand wohl nur meist aus Schwäche wegen Mangels hinreichender Ernährung« (GL, 141). Welche Auswirkung solcherart Mangelernährung auf die Bevölkerung des Jahres 1856 hat, beschreibt indes Fr. W. Grünee in der Handreichung »Wie sind die Speisen nahrhaft, verdaulich und auch billig zuzubereiten« (GL, 227ff.): »Es ist mehr als zu bekannt, in welchem drückenden Nothstande die arbeitende Klasse in ganz Deutschland binnen 4 Jahren versunken und stecken geblieben ist, welche bedeutende Unterstützungen von Seiten der Regierungen und Gemeinden nöthig gewesen sind, um diese Noth nur einigermaßen zu mildern, wie enorm sich die Preise der Nahrungsmittel gesteigert haben, wie Einschränkung, theilweises Hungerleiden, Verarmung, Bettelei, Beanspruchung der Armenkassen, vermehrte Verbrechen, Ueberfüllung der Straf- und Versorgungshäuser, Abmagerung, allerhand Krankheitsformen fortwährend zunehmen.« (GL, 227)

Was Grünee hier ausführt, wird in »Das lebendig vergrabene Kind« bereits erzählerisch angelegt. Die Kritik an einer Gesellschaft, die ihre Armen und Kranken hungern lässt und sie damit zwangsläufig – so zumindest legt der hier argumentierte Zusammenhang zwischen Ernährungsphysiologie und Kriminalität nahe – straffällig werden lässt, weist nicht nur auf eine progressive Wissensordnung hin, sondern wird an der Figur der Mare Müller geradezu exemplifiziert. Dass der menschliche Organismus auf mehr als ein »den Hunger stillen und sich sättigen« (GL, 39) zum »Leben und Gesundbleiben« (GL, 227) angewiesen ist, betont neben der Handreichung ein zweiter Artikel mit »Winke[n] für Unbemittelte« (GL, 39ff.). Dass sich »im Blute Wärme« (GL, 227) entwickle, sei maßgeblich für den Erhalt der Gesundheit. Mare Müller aber wird weiterhin nur mit kaltem Wasser in einer kalten Schlafstatt versorgt: »Man sah bei jedem Athemzuge der Kranken deutlich ihren Athem in der kalten Luft; man konnte meinen, er friere sofort vor ihren Lippen zusammen; und es war doch ein heißer, glühender Athem, der aus der Brust der Kranken sich entwickelte.« (GL, 127) Auf diese Weise wird die Figur der Erzählung zum Präzedenzfall der »Aerztliche[n] Strafpredigten. Nr. II« (GL, 538ff.) von Carl Ernst Bock. Im zweiten, »Gegen das kalte Wasser als Stärkungsmittel« überschriebenen Teil der Medizin-Reihe beschreibt der Anatom die physiologischen wie psychologischen Auswirkungen kalten Wassers und kalter Luft.

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»Ist die Peitsche für ein mattes Pferd deshalb etwa ein Stärkungsmittel, weil sie dasselbe eine kleine Strecke weit zum schnellern Lauf antreibt? Und was wird denn wohl endlich mit dem matten Pferde, wenn es fortwährend gepeitscht wird? Die Antwort auf diese Fragen kann sich sicherlich ein Jeder selbst geben. – Ganz so wie mit der Peitsche und einem matten Pferde verhält es sich nun aber auch mit dem kalten Wasser und einem an sogen. Schwäche und Blutarmuth (Bleichsucht) leidenden Menschen. Das kalte Wasser, die kalte Luft […] ist blos Peitsche, d.h. ein Antreibungsmittel für den Schwachen, niemals ein Stärkungsmittel, ja anstatt die Schwäche zu vertreiben, vermehrt es dieselbe in der Regel nur und macht den Schwachen nur noch reizbarer.« (GL, 538)

Der derart überreizte Mensch verändere sich in krankhafter Weise durch die Störung der Organe. »Daher kommt es denn, daß die meisten Kaltwasserliebhaber bleich und reizbar (nervös nennt es der Laie) werden und an Kopfschmerz oder Eingenommenheit des Kopfes Schlaflosigkeit, Herzklopfen, sowie an großer Empfindlichkeit gegen Licht und Schall, selbst an Krampfzuständen leiden, daß sie leicht erschrecken, über die Maaßen empfindsam und verletzbar sind, sich und Andere mit ihren Nerven quälen, ja sogar nicht blos in Bezug auf das Gemüth, sondern auch auf Verstand und Willen leiden.« (GL, 539)

Bocks Artikel implementiert eine Zurechnungsfähigkeitsdebatte in die Lektüre der Erzählung, die vom Erzähltext selbst nicht explizit geführt wird, sondern seine Evidenz über die im Familienblatt etablierten Wissensordnungen erhält. Nach Physiognomik und Physiologie ist es danach nur noch ein kleiner Schritt zur Bewertung des Falls auf der Grundlage psychologischer Elemente. Die erkrankte Mare Müller sucht nach dem Rauswurf durch ihre Wirtsleute Unterschlupf mit dem Neugeborenen bei ihrer Mutter, wird dort aber mit barschen Worten abgewiesen. Sie verlässt daraufhin das Haus, irrt umher und begeht schließlich die Greueltat. Den Auslöser hierfür benennt der Erzähler wie folgt: »Da kamen ihr die Worte in den Sinn, die ihre Mutter ihr zum Abschiede zugerufen hatte: wenn ich ein solches Ferkelchen hätte, so wüßte ich wohl, was ich thäte, ich schmisse es in den Dreck und träte es mit Füßen.« (GL, 144) Dass eine solche Erinnerung tatsächlich handlungsauslösend wirken kann, beschreibt wiederum die anonym erschienene »Psychologische Andeutung« mit dem Titel »Sinn und Besinnung. Gedanke und Gedächtniß« (GL, 76ff.). »Die von außen in Schwingung versetzten Nerven zittern, auch wenn die von Außen erregende Ursache aufhört, noch eine Zeit lang fort und beruhigen sich erst je nach Spannung

46 | J ULIA M ENZEL und Temperament. Wir freuen, ärgern und oft noch lange, wenn die directe Ursache der Freude oder des Ärgers aufgehört hat, von Außen auf uns zu wirken.« (GL, 76)

So erfährt der Gartenlaube-Leser, wie eine Handlung ohne Besinnung, also eine nicht zurechenbare Tat, auf psychische Funktionen und physiologische Ursachen, nicht aber auf den »Willen« (GL, 539) zurückzuführen ist. Wie viel freien Willen kann der Leser nun wohl noch in Mare Müllers Tat erkennen? Temme in der Gartenlaube bietet mit dem hier beispielhaft skizzierten Fokus auf Evidenzen eine »Pseudo-Verwissenschaftlichung des Kriminalgenres«31 wie sie Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer feststellen. Dieser »Sprung von scheinbar [für den Fall, J.M.] unerheblichen Fakten, die der Beobachtung zugänglich sind, zu einer komplexen Realität«32 spiegelt sich solchermaßen in der komplexen Anordnung und den Korrespondenzen innerhalb des Familienblatts. Dabei werden Aufklärung und Bewertung der Tat zumindest teilweise performativ in den Bereich der Rezeption verschoben.

IV. Natürlich ist »Das lebendig vergrabene Kind« nach wie vor kein Tatsachenbericht oder eine Gerichtsreportage, sondern bietet dem Leser als Kriminalerzählung eine auf Lesbarkeit abgestellte, fiktionale Welt, in der das Verbrechen erzählerisch hergestellt wird. Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass sich die Konstruktionsleistung nicht allein auf die Erzählung beschränken lässt, sondern ebenfalls ein Konzept des Mediums Gartenlaube ist. Damit agiert das Familienblatt (literaturgeschichtlich) paradigmatisch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn auch »die Künstler und Theoretiker des literarischen Realismus und Naturalismus verpflichten sich darauf, dem Referenten ›Wirklichkeit‹ dadurch Rechnung zu tragen, indem sie die Dinge klar und deutlich vor Augen stellen.«33 Die Nobilitierung des Details, »der Detailrealismus« und die verstärkte Konzentration auf die Implementierung neuer, zumeist naturwissenschaftlich

31 Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer: Vorwort, S. 11, deuten diesen Aspekt für die US-amerikanische Fernsehserie CSI an. CSI: Crime Scene Investigation läuft seit 2000 auf dem Sender CBS und unterteilt sich mittlerweile in die Reihen CSI: Vegas, CSI: Miami und CSI: New York. 32 C. Ginzburg: »Indizien«, S. 280. 33 U. Renner: »Photopoetische Reflexe«, S. 110.

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grundierter, jedenfalls aber empirisch-experimentell abgesicherter Wissensbestände, wirkt sich auf Produktions- und Rezeptionsverhalten aus. 34 ›Wirklichkeit‹ wird hier als wirklich wahrgenommen, wenn das Präsentierte einer bestimmten Diskurswelt angehört, d.h. als frequent auftretende Beschreibung eines bestimmten Wissensgebietes und der dazugehörigen Narrative und Inszenierungen bemerkt wird.35 Insbesondere »Bezugsgrößen des realen Lebens«36 sichern dabei beim Leser, wie in den Punkten II. und III. für den vorliegenden Zusammenhang beschrieben, die Authentizität des Berichteten ab. Diese Hybridisierung von Literatur durch Einbeziehung von Elementen anderer Genres ist insbesondere für die Kriminalliteratur konstitutiv,37 birgt allerdings Gefahren. So warnt der Literaturkritiker, Autor und Gartenlaube-Beiträger Rudolf Gottschall in seiner Kritik des Realismus38 im für die hier verfolgte Argumentation bedeutenden Jahr 1856: »So dürfen wir doch die Vorliebe für das Absonderliche, Außergewöhnliche, Gewagte nicht als einen Vorzug ›moderner Dichtung‹ preisen und in der Vertiefung in das kleinliche Detail eines Handwerks keinen ersprießlichen Zuwachs an plastischer Kraft der Darstellung in unserer Literatur begrüßen.«39

Die »Werkstätten des menschlichen Wissens« sollen eben nicht bis »in das kleinliche Detail« vorgestellt und zerlegt werden, die Gartenlaube will aus der unzugänglichen Wahrheit eine zugängliche machen, »der Hauch der Poesie«

34 Ebd. 35 Vgl. Jörg Hennig: »Gerichtsberichtserstattung in deutschen Tageszeitungen 18501890«, in: Jörg Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativem Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1930, Narr 1991, S. 349-367, hier S. 362. 36 Ebd., S. 365. 37 Vgl. Lothar Mikos: »Dem Verbrechen auf der Spur. Ästhetik der Gewaltdarstellung im

Krimi«,

in:

TV-Diskurs

20

(2002),

http://www.lmz-bw.de/fileadmin/

user_upload/Medienbildung_MCO/fileadmin/bibliothek/mikos_krimi/mikos _krimi.pdf, S. 2 (Zugriff: August 2014). 38 Rudolf Gottschall (1823-1909) schreibt über 30 Jahre lang für Die Gartenlaube und deckt in dieser Zeit nahezu alle hier angebotenen Textgenres ab. Neben Rezensionen, Gedichten und Theaterkritiken verfasst er u.a. sogenannte »Charakterbilder«, eine Abhandlung über die »Politischen Attentate des 19. Jahrhunderts« sowie Texte zum »Preußischen Liberalismus«. 39 Gottschall zit. in U. Renner: »Photopoetische Reflexe«, S. 110.

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(ebd.) soll ja über dem Ganzen schweben – gerade, wenn es um so etwas »Absonderliches« wie Verbrechen geht. Wie sonst sollte es den Leser hier »anheimeln« (GL 1853, 1) können? Poesie, mithin Fiktion, ist also nötig. Auch und gerade in den wissenschaftlichen, ›faktualen‹ Beiträgen. Die »Verbrechersammlung« (GL, 215f.) bemüht daher den Dichterfürsten, um die Kritik am aktuellen Justizwesen durch historische Distanz zu relativieren. »›Es erben sich Gesetze und Rechte wie eine ewige Krankheit fort‹, sagt Goethe mit dem inhaltschwer die Erben anklagenden Zusatze: ›Weh’ Dir, daß Du ein Enkel bist!‹« (GL, 215) Ähnlich wie Goethe – über die Zeilen des Mephistopheles im ersten Teil des Faust40 – wird der Stadtgerichtsrat B. in »Das lebendig vergrabene Kind« in die rechtstheoretische Abhandlung eingebunden. Die eingebettete Erzählung über den Kollegen des »Criminalrichters« wird als »Anekdote« (GL, 126) ausgewiesen und folgendermaßen eingeleitet: »Noch vor wenigen Jahren lebte in Berlin der Stadtgerichtsrath B., ein alter Beamter mit mancherlei Eigenheiten und manchen Schwächen. Zu seinen Eigenheiten vielleicht gehörte eine unüberwindliche Scheu, für ein Todesurtheil zu stimmen.« (GL, 125)

Goethe wie B. dienen zwar in den beiden Texten als Anlass der Reflektion über »die neuere und neueste Gesetzgebung« (GL, 215), insbesondere die Bezeichnung der Todesstrafen-Gegnerschaft als »Eigenheit« B.s und die Einbindung des Faust fiktionalisieren das Problem der Todesstrafe und markieren Kritik am Strafrecht und Justizwesen als ein überzeitliches Phänomen, das als inventarisiertes Motiv der Literatur erscheint. Die Gartenlaube nutzt Fiktionalisierungsstrategien, um einerseits alternative Räume der Rechtssicherheit anzudeuten und andererseits Schrecken und Bedrohungen zu relativieren.41 Diesen Zusammenhang thematisiert das Familien-

40 Vgl. Mephistopheles (im Gespräch mit dem Schüler) im Studierzimmer (II): »Ich kann es euch so sehr nicht übel nehmen/Ich weiß wie es um diese Lehre steht./Es erben sich Gesetz’ und Rechte/Wie eine ew’ge Krankheit fort;/Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte,/Und rücken sacht von Ort zu Ort./Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage;/Weh dir, daß du ein Enkel bist!/Vom Rechte, das mit uns geboren ist,/Von dem ist leider! nie die Frage.« Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt.: Bd. 7/1, hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt/Main 1994, S. 85. 41 Vgl. hierzu die Ausführungen zur »Gesellschaftlichen Funktion der Kriminalliteratur« von Joachim Linder und Jörg Schönert: »Literarische Verständigung über ›Kriminali-

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blatt selbst in einer direkten Leseransprache. Zum Abschluss der zweiteiligen Serie »Die Strafen der Vorzeit und Gegenwart« (GL, Heft 23 und 24), die neben der Grundlegung »Warum, was und wie soll man strafen« (GL, 304) zahlreiche, historische wie zeitgenössische Formen der Todesstrafe auflistet und u.a. Strafen für »Kindesmörderinnen« (GL, 305) beschreibt, besänftigt der anonyme Autor seine Leser mit einer Geschichte: »Doch genug. Sollte der Leser oder die Leserin die Scenen, welche ich vorüberziehen ließ, erschreckt oder geängstigt haben, so will ich ihnen die trüben Bilder noch mit der Geschichte von dem Glücke des ›Claus Baya‹ in Stockholm verscheuchen, welcher unter Christian II. nebst vielen anderen Bürgern in das Gefängnis geworfen und darin erdrosselt werden, aber so ungeheuer dick war, daß man ihn in kein Gefängnis brachte und laufen ließ.« (GL, 321)

Eine vergnügliche Auflösung, die in der Geschichte der abgemagerten Kindsmörderin Mare Müller wohl keine Option ist. Deren Unzurechnungsfähigkeit inklusive einer alternativen Rechtsprechung wird aber (siehe III.) u.a. über die »Psychologische Andeutung« (GL, 76ff.) zumindest impliziert. Als Bestandteil einer konstruierbaren Argumentationskette, die physiologische Gegebenheiten auf »psychologische Thatsachen« (GL, 77) applizierbar macht, setzt sich der Artikel mit teilweise beunruhigenden Auswirkungen von Erinnerungen auseinander. Doch auch hier werden Strategien zur Popularisierung von Wissensbeständen eingesetzt, die erzählenden Charakter haben: »Ich hatte einmal einen lieben Freund, nämlich einen Hund, der nicht gern trockenes Brot fraß. Wenn ich aber einen ganz reinen Teller nahm und das Brot darauf umherwischte, fraß er’s mit Wonne. Die Erinnerung an Bratfett, welche er dabei in sich auferweckte, ersetzte ihm die Butter auf dem Brote vollkommen. Vielleicht dacht’ er wirklich: ’s ist doch gut, daß ich Bratenfett auf˚s Brot kriege, statt Butter.« (GL, 77)

Erinnerungen müssen also nicht immer tödlich enden, trockenes Brot muss nicht notwendig die physiologische Grundlage eines Verbrechens bilden. Und so lässt sich mit den Worten des Artikels befinden: »Summa Summarum ergiebt sich aus

tät‹ in der deutschen Literatur 1850-1880. Vermittelnde Medien, leitende Normen, exemplarische Fälle«, in: Jörg Schönert (Hg.), Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850-1880, Tübingen 1983, S. 184-238, hier insb. S. 184ff.

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solchen psychologischen Thatsachen, mit der Wahrheit in der Mitte, […]« (GL, 77), dass wir es mit Geschichten zu tun haben. Die Tat Mare Müllers wird dementsprechend mithilfe von Fiktionssignalen als Erzählung markiert, während die Wissensbestände, die diese Erzählung (mit-)teilt und damit popularisiert durch ihre Behandlung in den umgebenden Artikeln als durchaus real und relevant herausgestellt werden.

V. Zurück zu Rudolf Gottschall, der theoretisch formuliert, was Jodocus Temme praktisch umsetzen muss: »das Absonderliche, Außergewöhnliche, Gewagte«42 zu zeigen, ohne ästhetische Normen zu verletzen oder Darstellungskonventionen zu brechen. Temmes »Criminalrichter«-Geschichten in der Gartenlaube dürfen keine Grenzen verletzen und müssen doch auf die Notwendigkeit der Ausdifferenzierung, den Zwang zum Aufgreifen von neuem Wissen, die zu stillende Befriedigung des neu gewonnenen Blicks für das Detail reagieren. Eine Aufgabe, die das Familienblatt löst, indem es sich einer Medienstrategie bedient, die mit dem Konzept poetischer Wahrheitsfindung korreliert und ein multikanales Narrationsverfahren entfaltet. Wahrheitsfindung wird zur Entdeckungsreise durch das gesamte Blatt, das sich damit als optimales Medium der Evidenzproduktion für die Kriminalerzählung wie für das hier abgelegte Wissen und damit letztlich den eigenen Anspruch auf Kundigkeit in »den Werkstätten des menschlichen Wissens« geriert. Wie hier ausgehend von Temmes Erzählung anhand des Jahres 1856 gezeigt wurde, geschieht dies zunächst über formal und thematisch verschiedene Beiträge und Genres in mehreren aufeinanderfolgenden Heften, die allerdings im Rahmen der epistemischen Kanäle des Familienblatts produktive Interferenzen bilden und Evidenzräume schaffen. Eine Methode, die absichert, dass die Geschichte eines Verbrechens im Sinne der bürgerlich-realistischen Wissens- und Erzählkultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer auch belehrende Unterhaltung ist, also Wissensbestände etabliert und popularisiert. Der Wahrheitsgehalt der Kriminalgeschichte wird dabei auf mehrere Ebenen verlagert, indem der Prozess der Wahrheitsfindung bzw. die diesen Prozess rahmende Ethik über den literarischen Text der Kriminalgeschichte hinausgeht und in unterschiedlichen Segmenten und Kolumnen des Mediums Relaisstellen unterhält. Demgemäß wird auch der Nachrichtenteil der Gartenlaube als Archiv des Wis-

42 Gottschall zit. in U. Renner: »Photopoetische Reflexe«, S. 110.

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sens (über Verbrechen) nutzbar gemacht. Hier wird jenes Wissen generiert und nach den narrativen Figurationen des Familienblatts geordnet, das wiederum die literarische Spurensuche mit Wirklichkeitsgehalt unterfüttern und beglaubigen kann.

L ITERATUR Ackermann, Karin: »Einleitung«, in: Véronique Liard (Hg.), Verbrechen und Gesellschaft im Spiegel von Literatur und Kunst, München 2010, S. 11-16. Belgum, Kirsten: »Domesticating the Reader: Women and Die Gartenlaube«, in: Women in German Yearbook: Feminist Studies in German Literature & Culture Volume 9 (1994), S. 91-111. Breinersdorfer, Fred: »Vorwort«, in: Hans Otto Hügel et al. (Hg.), Mord in der Bibliothek. Eine Ausstellung des Studiengangs Kulturpädagogik der Universität Hildesheim, Marbach am Neckar 1995 [=Marbacher Magazin 73, 1996], S. 1-25. Crombie, Alistair und Hoskin, Michael: »The Scientific Movement and the Diffusion of Scientific Ideas 1688-1751«, in: V. J. S. Bromley (Hg.), The New Cambridge Modern History, Bd. 6, Cambridge 1969, S. 37-71. Felt, Ulrike: »Die Stadt als verdichteter Raum der Begegnung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit«, in: Christian Goschler (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin 1870-1930, Stuttgart 2000, S. 185-220. Freund, Winfried: »Demokrat, Richter, Kriminalautor. Eine Wiederbegegnung mit Jodokus Donatus Hubertus Temme«, in: Gerhard Peter Knapp (Hg.), Autoren damals und heute. Literaturgeschichtliche Beispiele veränderter Wissenshorizonte, Amsterdam 1991, S. 257-272. Gebhardt, Hartwig: »Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung«, in: Buchhandelsgeschichte 2 (1983), B 41-B 65. Ginzburg, Carlo: »Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, München 1998 [1979], S. 274-296. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt.: Bd. 7/1, hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt/Main 1994. Gödden, Walter und Siegfried Kessemeier: »Nachwort«, in: dies. (Hg.), Jodocus Temme Lesebuch, Ahlen 2004, S. 140-149. Hennig, Jörg: »Gerichtsberichtserstattung in deutschen Tageszeitungen 18501890«, in: Jörg Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und

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Funktion von narrativem Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1930, Narr 1991, S. 349-367. Holert, Tom: »Evidenz-Effekte. Überzeugungsarbeit in der visuellen Kultur der Gegenwart«, in: Matthias Bickenbach und Axel Fliethmann (Hg.), Korrespondenzen. Visuelle Kulturen zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Köln 2002, S. 198-255. Linder, Joachim und Jörg Schönert: »Literarische Verständigung über ›Kriminalität‹ in der deutschen Literatur 1850-1880. Vermittelnde Medien, leitende Normen, exemplarische Fälle«, in: Jörg Schönert (Hg.), Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 18501880, Tübingen 1983, S. 184-238. Menzel, Julia: Unfälle, Zufälle, erste Fälle. Ein Criminalrichter in der Gartenlaube. In: CULTurMAG. Literatur, Musik und Positionen 2 (Februar 2013), http://culturmag.de/rubriken/buecher/julia-menzel-uber-jodocus-donatushubertus-temme/65241 (Zugriff: August 2014). Meyer, Friederike: »Zur Relation juristischer und moralischer Deutungsmuster von Kriminalität in den Kriminalgeschichten der Gartenlaube 1855 bis 1870«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12,1 (1987), S. 156–189. Mikos, Lothar: »Dem Verbrechen auf der Spur. Ästhetik der Gewaltdarstellung im Krimi«, in: TV-Diskurs 20 (2002), http://www.lmz-bw.de/fileadmin/ user_upload/Medienbildung_MCO/fileadmin/bibliothek/mikos_krimi/mikos _krimi.pdf, S. 2 (Zugriff: August 2014). Otto, Ingrid: Bürgerliche Töchtererziehung im Spiegel illustrierter Zeitschriften von 1865 bis 1915. Eine historisch-systematische Untersuchung anhand einer exemplarischen Auswertung des Bildbestandes der illustrierten Zeitschriften Die Gartenlaube, Über Land und Meer, Daheim, Illustrierte Zeitung, Hildesheim 1990. Peters, Karoline: J. D. H. Temme und das preußische Strafverfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin und New York 2010. Peters, Sibylle und Martin Jörg Schäfer: »Intellektuelle Anschauung – unmögliche Evidenz «, in: dies. (Hg.), »Intellektuelle Anschauung«. Figuration von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 9-21. Renner, Ursula: »›Details sollten sein wie jener Blitz bei Dickens‹ – Photopoetische Reflexe um 1900«, in: Helmut Pfotenhauer u.a. (Hg.), Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, Würzburg 2005, S. 103-128. Retsch, Annette: Paratext und Textanfang, Würzburg 2000.

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Rößler, Hole: Die Kunst des Augenscheins. Praktiken der Evidenz im 17. Jahrhundert, Münster 2012. Schmaus, Marion: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses, 1778-1936, Tübingen 2009. Temme, J. D. H.: Critik des Entwurfs des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten. 2 Bände, Berlin 1843. Temme, Jodocus: »Das lebendig vergrabene Kind«, in: Die Gartenlaube 4,10 (1856), S. 125. Teuteberg, Hans-Jürgen und Günter Wiegelmann (Hg.): Nahrungsgewohnheiten in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl., Münster 1995. Weiershausen, Romana: Wissenschaft und Weiblichkeit. Die Studentin in der Literatur der Jahrhundertwende, Göttingen 2004.

»Rings in diesem Zimmer stehen mächtige Schränke« Wissenstransformationen durch Biometrie D A N I E L M E S S N E R (W IEN )

»Ich habe drei Tage und drei Nächte daran studiert. Nun endlich bin ich also so glücklich, mit Sicherheit in meiner Umgebung alle Verbrecher zu erkennen. Ich werde sofort wissen, ob ich es mit einem ehrlichen Mann oder mit einem Gauner zu tun habe. Eine unschätzbare Eigenschaft, eine fast göttliche Kraft.«1 Bereits nach kurzer Zeit entpuppt sich die Fähigkeit des Polizeikommissärs Silvester Frometius Ziervogel im Theaterstück Wie man Verbrecher entdeckt. Kriminalistische Kinematographie als nicht zielführend – im Gegenteil: Der Autor Karl Hans Strobl lässt den Protagonisten Ziervogel im Verlauf des Stücks von der »Überzeugung in den Fanatismus« abgleiten. Am Ende erkennt er nicht nur in allen Menschen aufgrund ihrer Ohr- oder Kopfformen in seiner Umgebung »Defraudanten«, »Wechselfälscher«, »Totschläger« oder »Giftmischerinnen«, sondern entlarvt auch sich selbst als »Verbrecher«. Mit dem Baron Montecristallo, einem aristokratischen Kommissär, lässt Strobl den außer sich geratenen Ziervogel wieder beruhigen, in dem er ihm die Absurdität seiner Argumentation vorhält. Am Ende des komödiantischen Stücks löst sich die Situation in Wohlgefallen auf: »Baron: Sie wären ja eine ganze Strafanstalt. Ziervogel: Eines von den Merkmalen passt wohl auf jeden Menschen. Baron: Wir wären also alle Verbrecher?

1

Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA), Intimes Theater (1909), Theaterstücke, Karton 656/22. Vielen Dank an Jan Lazardzig für den Hinweis.

56 | D ANIEL M ESSNER Ziervogel: Oder könnten es sein … Es ist zu lächerlich. Baron: Also lachen wir.«2

Das Theaterstück Wie man Verbrecher entdeckt. Kriminalistische Kinematographie wäre wahrscheinlich nicht überliefert, wenn es nicht vor seiner Aufführung im Dezember 1909 von der Wiener Theaterpolizei zensuriert worden wäre.3 Der Eingriff durch die Zensurbehörde der k.k. Polizeidirektion in Wien betraf in dem Fall nur vereinzelte Satz- oder Wortkorrekturen, die sich nicht auf die Darstellung kriminalistischer Methoden bezogen, sondern auf Aussagen, die sich als gegenwärtige, politische Kommentare interpretieren ließen. Beispielsweise musste ein Satz gestrichen werden, in dem Ziervogels Vorgesetzter an der k.k. Behördenstruktur Kritik übt. Das Stück handelt von einem Polizeibeamten, dem die Deutung körperlicher Merkmale völlig entglitten ist. Es spielt damit auf eine Debatte an, die Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder geführt wurde, ausgelöst durch anthropologische, kriminologische oder kriminalbiologische Arbeiten, in denen in positivistischer Manier nach dem »Verbrechermenschen« gesucht wurde. Eines der bekanntesten dieser Werke ist etwa Cesare Lombrosos L’uomo delinquente (1876).4 Mit Blick auf forensische Ermittlungsmethoden und biometrische Identifizierungstechniken zeigt sich eine erstaunliche Differenz zwischen kriminalistischen Praktiken und ihren literarischen und journalistischen Beschreibungen. Diese Differenz lässt sich nicht allein durch eine idealisierte Darstellung der Techniken erklären, sondern ergibt sich vor allem aus der Trennung zwischen einer Anwendung von Biometrie zu Verwaltungszwecken, wie sie bei den Erkennungsdiensten5 der Polizeibehörden zum Aufbau von Informationssammlun-

2

Ebd.

3

Zur Frage nach Theaterzensur und Archiv: Hans-Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, Paderborn und München 2004.

4

Vgl. Cesare Lombroso: L’uomo delinquente. In rapporto all’antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie, Turin 1876. Dazu gibt es zahlreiche Arbeiten aus der Kriminalitätsgeschichte, siehe etwa: Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002.

5

Das Wort »Erkennungsdienst« taucht bei deutschsprachigen Polizeibehörden erst nach Institutionalisierung der Anthropometrie ab 1897 auf, wird in diesem Aufsatz schon für die Abteilungen der »Sicherheitsbureaus« verwendet, die mit dem Umgang der Polizeifotografien betraut waren.

W ISSENSTRANSFORMATIONEN DURCH B IOMETRIE

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gen und Registraturen eingesetzt wurde, und anderweitigen Gebrauchsweisen, etwa für wissenschaftliche Forschungsprojekte in anthropologischen Studien.6 Im Folgenden werden Beschreibungen verschiedener Genres von kriminalistischen Verfahren im Umgang mit Polizeifotografie und Daktyloskopie (Fingerabdruckverfahren) aus der Zeit um 1900 gegenübergestellt. Der Analyse liegt die These zugrunde, dass Prozesse des Klassifizierens und Archivierens für die Polizeipraxis entscheidenden Anteil an der Professionalisierung der Polizei- und Sicherheitsbehörden hatten. Sie führten Ende des 19. Jahrhunderts zum Auf- und Ausbau spezieller Registraturen. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass genau die sammlungs- und verwaltungstechnischen Aspekte kriminalistischer Arbeit in Debatten außerhalb der Sicherheitsbehörden nicht diskutiert wurden. Das ist bemerkenswert, weil davon auszugehen ist, dass wir das Wissen um Ermittlungsmethoden der Sicherheitsbehörden, wie das Vorgehen der Kriminalpolizei oder die Spurensicherung der Erkennungsdienste, vorwiegend aus fiktionalen Erzählungen gewinnen. Das lässt sich nicht nur für die Gegenwart feststellen, wo Fernsehserien, wie CSI: Crime Scene Investigation eine entscheidende Rolle in der Vermittlung von kriminalistischem Wissen spielen.7 Kriminalistisches Wissen wurde ebenso Anfang des 20. Jahrhunderts in populären Kriminalgeschichten verbreitet – dabei waren neben fiktiven Formaten auch Erzählungen von Kriminalfällen, in Pitaval-Sammlungen, wichtig.8 Die Identifizierungstechniken Fotografie und Daktyloskopie lassen die Unterschiede in der Beschreibung kriminalistischer Verfahren deutlich werden. Die Anwendung der Techniken führte die Polizeibehörden in eine ähnliche Problemlage. In beiden Fällen stellte sich die Frage nach der Beschreibbarkeit visueller, körperlicher Merkmale und bestand die Schwierigkeit der Sicherheitsbehörden darin, Personen auf Basis der Interpretation von Bildmaterial zuordnen zu müssen. Der Unterschied lag daran, dass sich im Falle der Fotografien vielfach ein alltagsnaher Gebrauch durch die

6

Vgl. Jens Jäger: »Polizeibilder und Verbrecherbilder. Bemerkungen zur Visualisierung von Polizei und Verbrechern zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik«, in: Karl Härter, Gerhard Sälter und Eva Wiebel (Hg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit, Frankfurt/Main 2010, S. 455-485, hier: S. 471.

7

Vgl. hierzu die Debatte um den CSI-Effekt: Simon Cole und Rachel Dioso-Villa: »Investigating the ›CSI Effect‹ Effect: Media and Litigation Crisis in Criminal Law«, in: Stanford Law Review 61,6 (2009), S. 1336-1374.

8

Die Pitavals wurden häufig von Kriminalbeamten gesammelt und herausgegeben, siehe zum Beispiel »Der Pitaval der Gegenwart. Almanach interessanter Straffälle«, der seit 1904 unter anderem von Gustav Roscher, Leiter der Hamburger Kriminalpolizei, herausgegeben wurde.

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Polizeibeamten ergab, schließlich waren Fotografien Ende des 19. Jahrhunderts ein verbreitetes Medienformat. Es hatten sich seit ihrer Erfindung in den 1840er Jahren zahlreiche Nutzungsformen etabliert. Für die Sicherheitsbehörden galt es, einen professionalisierten Umgang mit den Bildern zu entwickeln. Das heißt, sie entwarfen Verfahren und Standards zur Wiedererkennung von Personen. Ein Prozess, den Susanne Regener die Herausbildung des »polizeilichen Blicks« nennt.9 Die Problematik in der Anwendung des Fingerabdruckverfahrens unterschied sich in der Theorie nicht grundlegend von der Problemstellung der Polizeifotografie. Auch bei der Daktyloskopie sollten verdächtige Personen aufgrund eines Vergleichs von visuellem Material identifiziert werden, schließlich ist ein Fingerabdruck ein graphisches Muster, das mit Hilfe von Druckerschwärze auf Papier fixiert wurde. Im Unterschied zur Polizeifotografie konnten die Beamten beim Fingerabdruckverfahren nicht auf Alltagswissen in der Herstellung, Anwendung und Interpretation der Papillarlinienmuster zurückgreifen. Bei der Daktyloskopie handelte es sich von Anfang an um einen kriminalistischen Expertendiskurs, der in weiterer Folge nach außen vermittelt wurde – nicht zuletzt, weil forensische Methoden zur Spurensicherung enorme Faszination ausstrahlten und daher anschlussfähig waren an Narrative der Popularkultur. Während sich bei den Fotografien ein Expertentum aus einer im Alltag verbreiteten Medienanwendung herausbildete, war dies bei der Daktyloskopie nicht der Fall. Das Fingerabdruckverfahren verbreitete sich aus einem kriminalistischen Expertendiskurs. Einer der Gründe dafür ist, dass beide Techniken unterschiedliches Wissen voraussetzten. Lag die Komplexität bei der Fotografie im Herstellungsprozess, wofür Kenntnisse über Optik und Chemie notwendig waren, konnten die Fingerabdrücke nach einer kurzen Einweisung genommen werden. Allerdings setzte das biometrische Verfahren ein Verständnis individueller Identität voraus, das an den Körper gebunden war. Der komplexe Teil der Anwendung war nicht die Herstellung der Zeichen, sondern ihre Deutung. Die Evidenz- und Wissensproduktion mit Hilfe klassifikatorischer und archivalischer Verfahren wird insofern unterschätzt, weil es sich um verwaltungstechnische Anwendungen handelte, die auf staatlicher Ebene die Konstruktion von Identitäten grundlegend veränderte und zur Entstehung einer erkennungsdienstlichen Wissenskultur führte. Es lassen sich mediale und technische Transfers in der Anwendung und Vermittlung von Identifizierungstechniken beobachten, deren Auswirkungen im Folgenden herausgearbeitet werden.

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Vgl. Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999, S. 120.

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P OLIZEIFOTOGRAFIE – K RIMINALISTIK It was a tremendously virile and yet sinister face which was turned towards us. With the brow of a philosopher above and the jaw of a sensualist below, the man must have started with great capacities for good or for evil. But one could not look upon his cruel blue eyes, with their drooping, cynical lids, or upon the fierce, aggressive nose and the threatening, deep-lined brow, without reading Nature's plainest danger-signals.10 ARTHUR CONAN DOYLE

Literarische Beispiele, in denen körperliche Merkmale von Personen im Kontext polizeilicher oder detektivischer Ermittlungen charakterlich gedeutet wurden, finden sich zahlreich, nicht nur bei Sherlock Holmes oder dem eingangs zitierten Theaterstück Wie man Verbrecher entdeckt. Derlei Deutungen hatten bereits eine längere Tradition, etwa in der Interpretation von Schattenrissen bei Johann Caspar Lavater in den Physiognomischen Fragmenten. Es gibt auch vor dem Einsatz der Fotografie Versuche, die textuellen Informationen durch bildliche Darstellungen zu ergänzen, etwa mit Hilfe von Porträtzeichnungen. Auch die Produktion von Schattenrissen wurde diskutiert: Beispielsweise brachte Friedrich Eberhardt, der Herausgeber des Allgemeinen Polizei-Anzeigers, 1837 den Vorschlag ein, das »Silhouettieren als Mittel zur Erleichterung der Sicherheitspflege« einzuführen. Statt Porträts von »Gaunern« anfertigen zu lassen, die nicht »vollkommen genau« bezeichnet werden könnten, sollten mit Hilfe des Storchschnabels Schattenrisse erstellt werden. Die Redaktion des Allgemeinen PolizeiAnzeigers wäre entschlossen, eine »ordentliche Sammlung solcher Zeichnungen von den berüchtigtsten Gaunern anzulegen«.11 Nach Erfindung der Fotografie ließen die ersten behördlichen Einsätze nicht lange auf sich warten. Sie dienten zum Beispiel der Illustration von Steckbriefen. Eines der bemerkenswertesten Projekte ist ein Album mit Lithografien, für das im Oktober 1852 nicht-sesshafte

10 Arthur Conan Doyle: »The Adventure of the Empty House«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, hg. von Ruth Rendell, London 2009, S. 483-496, hier: S. 492. 11 Friedrich Eberhardt: »Das Silhouettiren als Mittel zur Erleichterung der Sicherheitspflege«, in: Eberhardts Polizei-Anzeiger 4 (1837), S. 228.

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Personen in der Schweiz fotografiert wurden. Der Fotograf Carl Durheim erhielt im Oktober 1852 den Auftrag, die im Berner Gefängnis inhaftierten »Heimatlosen und Vagabunden« zu fotografieren. Das Vorhaben war mit dem Ziel verbunden, alle Formen nicht-sesshafter Lebensweise zum Verschwinden zu bringen und das »althergebrachte Lügensystem der Vaganten zu bekämpfen und zu brechen.«12 Wie an diesem Beispiel zu erkennen ist, lässt sich bei der Anwendung von Identifizierungstechniken häufig eine Diskriminierung und Stigmatisierung marginalisierter Bevölkerungsgruppen beobachten. Entscheidend für die Frage nach der Deutung des erkennungsdienstlichen Materials ist in diesem Fall, inwiefern das behördliche Vorgehen durch die Bilder bzw. darauf konstatierte körperliche Merkmale begründet wurde. Allerdings wurden die Bilder keiner charakterologischen Lesart unterzogen. Im Falle der Lithografien von Carl Durheim begründeten nicht die Bilder den Status der Fotografierten als »Heimatlose und Vagabunden«, sondern die Personen wurden aufgrund dieser Zuschreibung fotografiert. Ein systematischer und institutioneller Gebrauch begann bei den Polizeidirektionen in der Habsburger Monarchie und dem Deutschen Reich, wie in Wien und Berlin, erst in den 1870er Jahren mit der Einrichtung »photographischer Ateliers«.13 Bis dahin produzierten häufig Atelierfotografen die Bilder. Mit der Institutionalisierung begannen die Polizeibeamten damit, eigene Darstellungskonventionen zu etablieren. Alphonse Bertillon entwickelte für die biometrische Identifizierungstechnik Anthropometrie – die auf der Vermessung von Personen beruhte – ein polizeifotografisches Format. Es bestand aus einer Doppelfotografie, mit einem Frontalbild und einer Profilaufnahme der zu erfassenden Person. Die Details der Aufnahmen variierten von Behörde zu Behörde, zum Beispiel in der Frage, ob die technischen Apparate, wie die Kopfstütze, sichtbar sein sollten oder in welcher Kleidung die Personen zu fotografieren waren. Das von Bertillon vorgeschlagene Format setzte sich in den deutschsprachigen Erkennungsdiensten im Laufe der 1890er Jahre durch. Damit einher ging ein Blickregime, das gänzlich auf den Körper der zu erfassenden Person gerichtet war, und daher bereits Elemente biometrischer Verfahren implementierte. Die Beamten der Erkennungsdienste etablierten einen Blick, der auf der Unverbundenheit ein-

12 Schweizerisches Bundesblatt, Jahrgang V. Band II. Nr. 31, Jahresbericht des eidg. Generalanwaltes über dessen Amtsführung während dem Jahre 1852, S. 698. 13 Vgl. Walter Mentzel: »Die Wiener Polizeifotografie zwischen 1870 und 1938. Die Einsatzgebiete der Fotografie im polizeilichen Erkennungs- und Sicherheitsdienst, der Musealisierung und Dokumentation«, in: Fotogeschichte 100 (2006), S. 51-65.

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zelner, körperlicher Merkmale basierte, die frei kombiniert werden konnten.14 Sich auf den Eindruck eines »Totalcharakters«15 zu verlassen, war den Zeugen und Zeuginnen, und damit den Laien, vorbehalten, denen die Bilder vorgelegt wurden. Die geschulten Experten der Sicherheitsbehörden konzentrierten sich wenn möglich auf das Ohr und das Profil auf den Bildern. Sie versuchten stabile Zeichen zu isolieren, die sich durch Wiederholung auszeichneten. Griffen sie auf eine Frontalaufnahme zurück, dann sollten sie sich zumindest nicht ablenken lassen und Teile des Gesichts mit einer Papiermaske abdecken.16 Vor der Interpretation der Fotografien spielte die Frage nach der Archivierung und Zugänglichmachung für die Polizeibehörden eine entscheidende Rolle. Die Konzentration auf einzelne, körperliche Details war kein wesentlicher Unterschied von erkennungsdienstlichen Verfahren im Vergleich zu kriminologischen oder anderen wissenschaftlichen Ansätzen. In beiden Fällen handelte es sich um einen Expertenblick auf Körperdetails. In ihrer Interpretation unterschieden sie sich jedoch fundamental voneinander, indem die Erkennungsdienste eine indexikale Lesart etablierten. Den Sicherheitsbehörden ging es nicht darum, »Charakteristische Verbrecherköpfe« zu sammeln, die erst durch die Sammlung sichtbar gemacht werden konnten. Projekte, bei denen in den Bildersammlungen nach verbrechertypischen Physiognomien gesucht wurde, sollten einen Beitrag zur Anthropologie oder verwandten wissenschaftlichen Disziplinen leisten. Eines davon war Francis Galtons »Composite Portraits«, bei dem er mehrere Porträtfotos übereinanderlegte.17 Im Gegensatz zum polizeilichen Erkenntnisinteresse sollten individuelle Merkmale auf diese Weise nivelliert werden. Gemeinsam war dem erkennungsdienstlichen und dem wissenschaftlichen Ansatz, dass das Archiv zum entscheidenden Ort der Erkenntnisgewinnung wurde. Doch das Ziel der Polizei-Experten in den Erkennungsdiensten war es nicht, Zeichen von Devianz am Körper potentieller Krimineller zu finden. Ihnen ging es darum, (körperliche) Merkmale verurteilter oder als verdächtig eingestufter Personen in den Registraturen auf eine Art und Weise zu speichern, dass ihr individueller Akt, ihre kriminelle Vorgeschichte jederzeit auffindbar war – unabhängig von

14 Vgl. Roland Meyer: »Detailfragen. Zur Lektüre erkennungsdienstlicher Bilder«, in: Ingeborg Reichle (Hg.), Verwandte Bilder, Berlin 2007, S. 191-208, hier S. 193. 15 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Leipzig 1775-1778, S. 158. 16 Vgl. Alphonse Bertillon: Die gerichtliche Photographie mit einem Anhange über die anthropometrische Classification und Identificirung, Halle 1895, S. 32f. 17 Vgl. Francis Galton: »Composite Portraits Made by Combining those of Many Different Persons into a Single Figure«, in: Nature 18 (1878), S. 97-100.

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ihren Aussagen und dem Erfahrungswissen einzelner Beamter. Das sollte ihre Identität gegenüber den Behörden stabilisieren, in dem der Körper als Bezugssystem die Zuordnung zwischen Akt und Person garantierte. Bisherige Ordnungssysteme, wie die alphabetische Sortierung der Akten nach den Namen der Personen, wurden damit nicht obsolet, sondern ergänzt. Die Idee, den Körper als entscheidende Referenz zur Wiedererkennung einer Person zu verwenden, war Ende des 19. Jahrhunderts nicht neu.18 Wenngleich es vorher Versuche gab, Personendaten merkmalsspezifisch zu sortieren, scheiterten derartige Umsetzungen an einem praktikablen Klassifizierungs- und Archivierungssystem. Das »Distinctive Marks Register«, das in den 1870er Jahren in Großbritannien eingeführt wurde, war ein solcher Ansatz. Körperinformationen verurteilter Straftäter wurden nicht alphabetisch, sondern anhand der erfassten körperlichen Merkmale sortiert. In dem Fall beruhte die Klassifizierung auf der Einteilung der Körper in neun Hauptklassen, die anschließend anhand bestimmter Merkmale noch unterteilt wurden. Das »Distinctive Marks Register« war aus erkennungsdienstlicher Sicht eine frühe Form einer biometrischen Registratur.19 Allerdings fehlte ein adäquates Zugriffsmodell auf die gesammelten Informationen, da das Register, das wiederum auf ein alphabetisches Register referenzierte, nicht in einem Karteikartensystem angelegt wurde. Es wurde laufend ergänzt und jährlich in gebundener Form gesammelt. Es gab vor Erfindung der Biometrie keine Maßnahmen mit dem Anspruch, Personen über Raum und Zeit mit einem universellen und objektivierbaren Verfahren zu identifizieren. Universell und objektivierbar bedeutet in diesem Fall, dass die Daktyloskopie gerichtsfeste Beweise lieferte. Das größte Problem der erkennungsdienstlichen Ordnungssysteme war die Erstellung überzeugender Referenzverfahren, die sich erst durch standardisierte Klassifizierungsstrategien mit Erfindung der Anthropometrie und Daktyloskopie verbreiteten. Biometrie heißt, dass der Körper selbst statt eines Ausweises zu einer Erkennungsmarke wurde.20 Sicherheitsbehörden notierten zwar »Besondere Merkmale« wie Narben oder Muttermale und fügten sie den Akten bei, jedoch konnten sie nicht die Registra-

18 Vgl. Jane Caplan und John Torpey (Hg.): Documenting Individual Identity: The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001. 19 Vgl. Simon Cole: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge 2002, S. 28. 20 Vgl. Edward Higgs: Identifying the English: A History of Personal Identification, 1500 to the Present, London und New York 2011, S. 14.

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tur anhand der »Besonderen Merkmale« durchsuchen.21 Als biometrische Daten werden seit Ende des 20. Jahrhunderts alle körpereigenen Merkmale oder Verhaltensstrukturen bezeichnet, die weder simuliert werden können, noch einer Veränderung unterliegen. Die Identifizierung von Individuen durch biometrische Merkmale basiert auf der Annahme, dass sie einen Menschen eindeutig und zweifelsfrei kennzeichnen.22 Den Sicherheitsbehörden fehlte vor Etablierung der Biometrie, ein Verfahren der Wahrheitsfestlegung, das auf den Punkt gerichtet war, an dem der Verdacht, ob eine Person mit einer anderen identisch ist, zu einer erkennungsdienstlichen Gewissheit wurde. Die Erkennungsdienste waren Orte, an denen im Zusammenspiel von Techniken und behördlichen Abläufen, Strategien zur Erzeugung von Wahrheit angewendet wurden, die sich als fragmentierter Prozess der Wissenserzeugung beschreiben lassen, der institutionell verstetigt war – und auf der Klassifizierung körperlicher Merkmale beruhte.23 Damit rückten die physischen Körper der zu erfassenden Personen in den Mittelpunkt der behördlichen Aufmerksamkeit. Sie wurden erkennungsdienstlichen Prozeduren unterzogen, um mediale Repräsentationen zu erzeugen, die anschließend klassifiziert und in eine Registratur abgelegt und durchsucht werden konnten. Befragungstechniken und verbale Kommunikation zwischen Beamten und zu erfassenden Individuen wurden damit, zumindest theoretisch, abgewertet.24 Kriminalität wurde in den Erkennungsdiensten nicht am Körper abgelesen, sondern Körper und ihr aufgezeichnetes Verhalten wurden zum Index für unterschiedliche Datensammlungen.25 Die Ablehnung, körperliche Merkmale als deviant zu interpretieren, lässt sich nicht für alle Polizeiexperten und Kriminalisten des 19. Jahrhunderts behaupten, aber es galt zumindest als eine »genügend bekannte Thatsache, dass Verbrecher keineswegs immer ausgesprochene Gaunerphysiognomien aufweisen«, wie Hans Gross betonte, weshalb diese »selbst

21 Zur Frage der Klassifizierung siehe Geoffrey Bowker und Susan Star: Sorting Things out. Classification and its Consequences, Cambridge 1999. 22 Vgl. Gottfried Vosgerau: »Was können wir messen? Zur Identifizierung von Personen«, in: Bernd Hartmann, Daniel Siemens und Gottfried Vosgerau (Hg.), Biometrie, Paderborn u.a. 2012, S. 79-100, hier: S. 84. 23 Zum Aspekt einer institutionalisierten Wissensproduktion: vgl. Karin Knorr-Cetina: Wissenskulturen, Frankfurt/Main 2002, S. 13. 24 Letztlich ergänzten sich in der polizeilichen Praxis unterschiedliche Techniken. Das zeigt sich beispielsweise bei der Verwendung des Fingerabdrucks, dessen Prozedur durch den sog. Kontrollfingerabdruck wesentlich abgekürzt werden konnte, wenn eine Person kooperativ war und Angaben zur Person machte. 25 Vgl. Jens Jäger: Polizeibilder und Verbrecherbilder, S. 456.

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der erfahrene Kriminalist keineswegs von denen des ehrlichsten Menschen unterscheiden kann«.26 Mit diesem Argument war ein Zweifel etabliert, der genügte, um keine generellen positivistischen Aussagen über das Verhältnis von Kriminalität und einzelnen Physiognomien zu erlauben. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass der kriminalistische Diskurs nicht ebenso von Degenerationstheorien oder sozialdarwinistischen Ansätzen geprägt war. Wie Christian Bachhiesl betont, wendete Gross das Degenerationsargument nicht biologisch, sondern kulturell.27 Viele Autoren waren sich zumindest darüber einig, dass sich das Problem der Kriminalitätserkennung nicht anthropologisch lösen ließ und daher niemand verurteilt werden konnte, weil er/sie ein »schlecht gebautes Kinn« oder »unregelmäßige Ohren« hatte.28 Dementsprechend äußerte sich auch Franz von Liszt gegen die Idee des »geborenen Verbrechers«, indem er betonte, dass »jede rein biologische Auffassung des Verbrechens, das heißt, seine ausschließliche Ableitung aus der körperlichen und geistigen Eigenart des Verbrechers verfehlt ist.« Daraus ergab sich für Liszt die »Unmöglichkeit eines einheitlichen anthropologischen Verbrechertypus«.29 Die Erkennungsdienste hatten dennoch eine klare Vorstellung von ihren Zielpersonen, nur machten sie diese nicht an körperlichen Merkmalen fest. Das Sicherheitsversprechen zur Stabilisierung von Ordnung durch den Einsatz von Registraturen beruhte auf der Idee, diejenigen Individuen, die sich der fixen Ortszuweisung im Stadtbild entzogen, stellvertretend im Archiv zu fixieren. Dieses Nicht-am-Ort-Sein ließ sie phantomhaft erscheinen und erzeugte einen Raum der Kontingenz. Die Sicherheitsbehörden füllten diese Leerstellen mit Imaginationen von extrem mobilen, intelligenten und wandelbaren Straftätern: den Gewohnheits- und Berufsverbre-

26 Hans Gross: »Besprechungen: Internationales Verbrecheralbum«, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 11 (1903), S. 291. 27 Vgl. Christian Bachhiesl: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft. Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung, Berlin u.a. 2012, S. 122. Auch Silviana Galassi hat in ihrer Studie über die Entwicklung der Kriminologie im deutschen Kaiserreich gezeigt, dass die Mehrheit der deutschen Kriminologen Lombrosos Theorien vom »geborenen Verbrecher« ablehnten und dennoch wesentliche Bestandteile der Theorie übernahmen: vgl. Silviana Galassi: Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004. 28 Vgl. Jacob Sacker: Der Rückfall. Eine kriminalpolitische und dogmatische Untersuchung, Berlin 1892, S. 17. 29 Franz von Liszt: Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Berlin 1900. Insbesondere das Kapitel: »Die Ursachen und Arten der Kriminalität«, S. 57-61.

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chern.30 Die Beschreibungskategorien waren nicht neu, sondern beruhten auf sicherheitspolizeilichen Debatten über das »Gaunerthum«, wie sie beispielsweise von Wilhelm Stieber geprägt wurden.31 Zunehmend verengte sich jedoch das Narrativ auf Wiederholungstäter, bei denen keine Pathologisierung erfolgte, sondern denen ein gewisses Arbeitsethos unterstellt wurde und die als intelligent, mobil und professionalisiert definiert wurden.32 Den Erkennungsdiensten gelang es mit der Ausbreitung biometrischer Identifizierungstechniken, diese als »Berufsverbrecher«33 bezeichneten Straftäter als gemeinsames Feindbild zu etablieren.

B ILDERORDNUNGEN – V ERBRECHERALBEN Spätestens mit Einführung der Polizeifotografie lässt sich zeigen, dass dem Optischen zwar bei der Identifizierung von Personen eine privilegierte Rolle zugeschrieben wurde, dass es aber nicht zum dominanten Sortierkriterium für die Bilder wurde. Das lag nicht zuletzt daran, weil die Frage wie Bilder nach Bildern sortiert werden können, unbeantwortet blieb.34 Bis in die 1880er Jahre gelang es den Sicherheitsbehörden nicht, konsistente Klassifikationssysteme für körperliche Merkmale zu entwickeln. Gleichzeitig wurde das Problem des Zugriffs auf die gespeicherten Informationen virulenter, schließlich nahm der Austausch von Informationen zwischen den einzelnen Polizeistationen und mit ausländischen Sicherheitsbehörden stetig zu.35 Infolge dessen reicherte sich lokales polizeili-

30 Vgl. Jens Jäger: Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperationen 1880-1933, Konstanz 2006, S. 170f. 31 Vgl. Wilhelm Stieber: Practisches Lehrbuch der Criminal-Polizei. Auf Grund eigener langjähriger Erfahrungen zur amtlichen Benutzung für Justiz- und Polizeibeamte und zur Warnung und Belehrung, Berlin 1860. 32 Vgl. Robert Heindl: Der Berufsverbrecher. Ein Beitrag zur Strafrechtsreform, Berlin 1928, S. 141. 33 Zur Entstehung des Begriffs: Patrick Wagner: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996, S. 75. 34 Vgl. Claus Pias: »Ordnen, was nicht zu sehen ist«, in: Wolfgang Ernst, Christoph Keller und Dirk Baecker (Hg.), Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin 2003, S. 99-108, hier: S. 104. 35 Vgl. Peter Becker: »The Standardized Gaze. The Standardization of the Search Warrant in Nineteenth-Century Germany«, in: Jane Caplan und John Torpey (Hg.):

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ches Wissen immer stärker mit Informationen aus Übersee oder anderen Teilen Europas über Kriminaldelikte und Straftäter bzw. Straftäterinnen an. Die Geschichte der biometrischen Identifizierungstechniken ist mit Blick auf die Kriminalbehörden vielmehr die Geschichte der Suche nach (eindeutigen) Klassifikationssystemen und Archivierungsstrategien als etwa die der Erfassung körperlicher Merkmale. Denn diese wurden vorher bereits durch Sicherheitsbehörden massenhaft in Umlauf gebracht. Simon Cole kommt daher zu dem Schluss: »The most acute problem facing the nineteenth-century police and penal bureaucracies was not recording information, but ordering it.«36 Die Frage nach dem effektiven Zugriff auf die verfügbaren Informationen stellte sich mit den wachsenden Bildersammlungen zunehmend dringlicher. Im Jahr 1880, zehn Jahre nach offizieller Einführung der Fotografie beim Wiener Sicherheitsbureau, einer Vorgängerinstitution der Kriminalpolizei, kam ein Beamter nach Evaluierung der Anwendung zu folgendem Ergebnis: »Wenn die Commissariate die Fotografien auch benützen wollen – und bei vielen ist der endliche Wille dazu vorhanden – so ist doch die Manipulation mit denselben zweifellos zu complizirt und der Nützlichkeit derselben abträglich, es ermüdet die Amtsorgane und die Partheien mehrere hundert Fotografien je einzeln in die Hand zu nehmen und durchzusuchen, die Leute werden schließlich irre.« Das Fazit des Berichts lautete dementsprechend: »Die Fotografien erweisen sich daher in dieser Form zimlich unnütz.«37 Wenn die biometrischen Registraturen für Anthropometrie und Daktyloskopie auch eine technische Lösung boten, indem sie die polizeiliche Informationsverarbeitung transformierten, haben die Fotosammlungen einen Sonderstatus. Die »Verbrecheralben« – wie die Polizeibildersammlungen bis in die 1920er Jahre genannt wurden – folgten noch nicht einer biometrischen Ordnung und verlangten dennoch nach neuen Zugriffsstrategien. Der Journalist Max Hyubensz besuchte 1876 die Wiener Polizeidirektion und veröffentlichte mit dem kurzen Bericht über das »Verbrecher-Album der Wiener Polizei« für eine Ausgabe des »Illustrirten Familienblattes« Die Gartenlaube eine der ersten Beschreibungen erkennungsdienstlicher Sammlungen außerhalb kriminalistischer und polizeilicher Schriften. Huybensz brachte in dem Beitrag nicht nur sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass manche der fotografierten Personen gar nicht wie

Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001, S. 139-163, hier: S. 159. 36 S. Cole: Suspect Identities, S. 29. 37 Lichtbildersammlung 1880, Vortrag vom 24. Oktober 1880, Archiv der Bundespolizeidirektion Wien, Schachtel 1880-1882/V.

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Straftäter aussehen würden, sondern bot ebenso einen Einblick in die Funktionsweise des »Verbrecheralbums«: »Rings in diesem Zimmer stehen mächtige Schränke, deren Schiebladen je mit einem der Buchstaben des Alphabets bezeichnet sind. In der Lade A sind beispielsweise alle Photographien von Verbrechern untergebracht, deren Zuname mit diesem Buchstaben beginnt. Diese Photographien sind in zwei Hauptabtheilungen geschieden, in die der Verbrecher von Wien und in jene der Verbrecher der Provinzen. Jede dieser Abtheilungen zerfällt wieder in Unterabtheilungen nach der Specialität der Verbrecher: die Einbrecher, Banknotenfälscher, Taschendiebe etc. werden in besonderen Fächern sortirt.«38

Die Aufbewahrung der Bilder war demnach von unterschiedlichen Sortierlogiken geprägt: Die Fotografien wurden alphabetisch und nach Art des Delikts geordnet. Jedes Bild wurde auf einem Karton aufgeklebt und erhielt eine Registernummer, die mit dem »schwarzen Buch der Polizeidirection correspondirte« und eine Art Generalindex darstellte, in den alle Personen eingetragen waren, über die das Sicherheitsbureau Informationen aufbewahrte. Die Größe des »Verbrecheralbums« schätzte Huybensz auf 7.000 bis 8.000 Bilder, von denen die Hälfte aus dem Ausland eingesendet wurden, da die Wiener Polizeidirektion mit »sämmtlichen Sicherheitsbehörden der europäischen Staaten und der nordamerikanischen Union in Correspondenz« stand.39 Für die Bildersammlung wurden keine körperlichen Merkmale typologisiert, die an den Fotografien abzulesen waren. Vielmehr bildete das Delikt, das zur Erfassung führte, eine entscheidende Kategorie. Auf diese Weise prägten die polizeilichen Debatten über Straftäter und Kriminalität die Sammlungen, schließlich beruhte die Idee der deliktspezifischen Sortierung auf der Annahme einer Perseveranz. Damit ist Festhalten eines Täters an einem bestimmten Deliktbereich gemeint. Für die »Verbrecheralben« lässt sich festhalten, dass sie insgesamt einer wesentlich komplexeren Ordnungslogik unterlagen, weil sie nicht nur nach Delikten gruppiert waren. Hyubensz’ Beschreibung des Wiener »Verbrecheralbums« zeigt, wie mehrere Sortierlogiken in einer taxonomischen Struktur ineinandergriffen: Die Bilder sind alphabetisch sortiert, innerhalb einer Buchstabenlade erfolgt eine Zweiteilung nach Herkunft und darauf eine Reihung nach Deliktgruppe. Die drei Zuschreibungen »Name«, »Herkunft«, »Delikt« sind in dem Fall hierarchisch gestaffelt und führen zu unterschiedlich vielen Ver-

38 Max Huybensz: »Das Verbrecher-Album der Wiener Polizei«, in: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 29 (1876), S. 492-495, hier: S. 492. 39 Ebd.

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zweigungen innerhalb der Sammlung. Das aus erkennungsdienstlicher Sicht validierteste Merkmal, das »Delikt«, stand hierbei erst am Ende der Kette. Eine Praxis, die oftmals kritisiert wurde. Wie zum Beispiel Friedrich Paul bemerkte, würde, sobald das betreffende Individuum das Metier wechseln würde oder nicht so artig wäre, seinen Namen zu nennen, lediglich die »Agnoszierung durch altgediente erfahrene Beamte helfen.«40 Aus dieser Perspektive ist die Fotografie in ihrer Anwendung für das »Verbrecheralbum« eine Identifizierungstechnik an der Schwelle zur Biometrie. Denn obwohl die Bilder als objektive Abbilder von Körpern interpretiert wurden und sie in ein Ordnungssystem integriert waren, stand kein Verfahren zur stabilen Verlinkung zwischen Individuen, Körper und Fotografie bereit. Eine andere Deliktgruppe oder die Angabe eines falschen Namens konnten genügen, um eine Wiedererkennung zu verhindern. Eine zweite journalistische Beschreibung des Wiener »Verbrecheralbums« findet sich in Emil Baders Beitrag »Wiener Verbrecher« für das Projekt der Großstadtdokumente.41 Zwischen den Beiträgen von Hyubensz und Bader fällt vor allem ein Unterschied auf. Sie differieren kaum in der Erklärung der Funktionsweise des »Verbrecheralbums«. Auch Bader berichtet von einem großen Raum, der bis zur Decke mit Regalen gefüllt war, die Bilder von Straftätern enthielten, zum einen »nach dem Alphabet der Namen geordnet« und »nach den Kategorien des Verbrechens eingeteilt.«42 Baders Erläuterungen waren jedoch eingebettet in eine anekdotische Erzählung, bei der ein Straftäter im Wiener Sicherheitsbureau wiedererkannt wurde. In seinem Beispiel entkoppelt er die Funktionsweise des Bilderarchivs von der Narration, denn am Ende war es nicht die Ordnung der Bilder, die zur Wiedererkennung eines gesuchten Taschendiebs führte, sondern schlichtweg die Merkfähigkeit eines Erkennungsdienstmitarbeiters, der sich an die »rote Narbe« einer verdächtigen Person erinnerte, nachdem ein Zeuge lediglich von einer »vernarbten Wunde an der Wange« zu berichten wusste. Die Neuerung biometrischer Verfahren beruhte aber genau darauf, spezifisches Erfahrungswissen von einzelnen Beamten zu entkoppeln. Die Idee biometrischer Identifizierung bestand in der Transformation des Erfahrungswissens in Informationen, die unabhängig vom Kontextwissen einzelner Beamter gegen

40 Friedrich Paul: Über Bedeutung und Anwendung der Photographie im Strafverfahren, Littau 1895, S. 25. 41 Zum Projekt »Großstadt-Dokumente« vgl. Scott Spectors Beitrag im vorliegenden Band und Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die »Großstadt-Dokumente«, 1904-1908, Köln u.a. 2006. 42 Emil Bader: Wiener Verbrecher, Berlin 1905 [=Großstadt-Dokumente, 16], S. 73.

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die Register durchsuchbar waren.43 Dies gelang über einen Dreischritt, der biometrische Verfahren prägte und der sich in behördlichen Anwendungspraktiken widerspiegelte: Zunächst wurden Informationen über eine Person dokumentiert, in standardisierte Form gebracht und anschließend in einem Register/Archiv abgelegt, um für einen späteren Vergleich abrufbar zu sein. Der Identifizierungsvorgang war dann der Abgleich zweier Datensätze, die zu unterschiedlichen Zeiten angelegt wurden.44 Im Falle der Daktyloskopie bedeutet das, dass nach der Fingerabdrucknahme die Papillarlinienmuster auf dem Formular von einem Erkennungsdienstmitarbeiter »verformelt« werden mussten. Das bedeutet, den einzelnen Mustern wurden Zahlenwerte zugeordnet, woraus sich eine Klassifikationsnummer berechnen ließ. Diese Nummer bestimmte das Ablagefach des Formulars in der daktyloskopischen Registratur.45 Ein wichtiger Aspekt bei der Identifizierung durch die Daktyloskopie ist, dass die Fingerabdruckformeln nicht eindeutig auf eine Person verwiesen, sondern nur auf einen Ort in der Registratur, an dem weitere Fingerabdruckformulare mit ähnlichen Mustern einsortiert waren. Die Identifizierung bestand dann im direkten Vergleich einzelner Fingerabdrücke. Daraus ergibt sich ein grundsätzliches Missverständnis, wenn es um die Frage der Eindeutigkeit in der Beurteilung von Biometrie als Technik zur Wiedererkennung von Personen geht. Denn trotz der Stabilisierung körperlicher Merkmale müssen die zu vergleichenden Informationen nicht vollständig übereinstimmen, um eine Identifizierung zu bestätigen. Das Gegenteil ist der Fall: Völlige Übereinstimmung deutet bei biometrischen Verfahren eher auf eine Kopie und damit auf einen Fälschungsversuch hin. Beim Fingerabdruckverfahren beispielsweise sehen Abdrücke aufgrund unterschiedlicher Oberflächen und Abdruckstärken nie vollständig gleich aus.46 Für jede biometrische Technik mussten und müssen Kriterien und Grenzwerte festgelegt werden, ab wann eine Übereinstimmung zwi-

43 In biometrischen Datenbanken ist diese Abfragemöglichkeit als verdachtsunabhängige Suche mittlerweile Standard. 44 Zur Frage des »pattern recognition« siehe: Lucas Introna und David Wood: »Picturing Algorithmic Surveillance. The Politics of Facial Recognition Systems«, in: Surveillance & Society 2,2/3 (2004), S. 177-198, hier: S. 185. 45 Vgl. Camillo Windt und Siegmund Kodiček: Daktyloskopie. Verwertung von Fingerabdrücken zu Identifizierungszwecken. Lehrbuch zum Selbstunterricht für Richter, Polizeiorgane, Strafanstaltsbeamte, Gendarmen etc., Leipzig und Wien 1904, S. 38. 46 Für jedes biometrische Verfahren lassen sich daher Werte für eine False Acceptance Rate (FAR), False Recognition Rate (FRR) und Equal Error Rate (EER) bestimmen.

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schen den gespeicherten und zu vergleichenden Körpermerkmalen vorliegt und wie viele Merkmale für eine Identifizierung übereinstimmen müssen.47 Die biometrische Identifizierung von Personen in den Erkennungsdiensten beruhte darauf, körperliche Zeichen herauszufiltern, zu fixieren und sie anschließend zu vergleichen. Neben der Konstruktion von Identitäten durch Narration erscheint daher Akkumulation als ein weiteres Prinzip. Katja Aas argumentiert, dass mit dem Einsatz von Datenbanken die (biografischen) Narrative flexibel austauschbaren und sammelbaren Informationseinheiten weichen mussten. Ein Argument, das sich auf biometrische Registraturen übertragen lässt: »Identity is deconstructed into separate factors that are then evaluated in order to acquire a ›score‹. [Identity] is composed of bricks of information that are quick to travel and easy to compare.«48. Ein zentraler Begriff infolge der zunehmend präventiv ausgerichteten kriminalpolizeilichen Tätigkeiten ist »Evidenz«. Das Wort stammt aus der österreichischen Amtssprache und heißt »auf dem Laufenden halten«, »registrieren« und meint soviel wie aufzeichnen, ordnen und verfügbar halten. Eine Information »in Evidenz halten« verweist auf die Bedeutung des Dokumentierens und Wiederfindens im Umgang mit Registern und Datenbeständen. Evidenzhaltung lässt sich nicht trennen von der Form des Speicherns in Gestalt eines Archivs und der Art des Zugriffs auf die jeweilige Sammlung. Die erkennungsdienstlichen Registraturen enthalten archivalische Ordnungsvisionen, die sich auf die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung durch Stabilisierung »krimineller« Identitäten zuspitzen lassen – umgesetzt mit Hilfe der Speicherung verdächtiger Individuen in speziellen Evidenzen. Gleichzeitig liegen den Archiven und Datensammlungen Versprechen größtmöglicher Extension und Produktivität zugrunde.49 Das erklärt aber noch nicht, warum die erkennungsdienstliche Archivpraxis keine charakterliche Deutung des gespeicherten Materials zuließ, schließlich beruhten kriminologische Bildstudien über »Verbrechermenschen« zum großen Teil auf demselben Material und auch hier bildete die Sammlung und Ordnung

47 Die Anzahl der geforderten Übereinstimmungen variiert im internationalen Vergleich teilweise erheblich: The Fingerprint Inquiry Report, APS Group Scotland 2011, S. 740, als Volltext unter: http://www.thefingerprintinquiryscotland.org.uk/ (Zugriff: November 2014). 48 Katja Aas: »From Narrative to Database. Technological Change and Penal Culture«, in: Punishment & Society 6 (2004), S. 379-393, hier: S. 387f. 49 Vgl. Jürgen Fohrmann: »Archivprozesse oder: Über den Umgang mit der Erforschung von ›Archiv‹«, in: Hedwig Pompe und Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 19-26, hier: S. 22f.

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ein zentrales Argument. Nicht zuletzt wird in beiden Fällen eine Wahrheitsproduktion basierend auf Archivierungspraktiken deutlich. Im Fall der Erkennungsdienste bestanden diese Wahrheiten aus indexikalen Zuordnungen zwischen Körpern und Archivbeständen, die durch Techniken und Praxisformen objektiviert wurden. Beamte der Kriminalpolizeien erzeugten aus gespeicherten Informationen vor Gericht verwertbare (forensische) Beweise. Trotz ihrer Nähe zur Kriminalistik etablierte sich in den Erkennungsdiensten keine Wissenschaftskultur, sondern es lässt sich eher von einer erkennungsdienstlichen Wissenskultur sprechen.50 Es lassen sich zahlreiche Überschneidungen ausmachen, etwa bei ästhetischen Elementen der Bildproduktion, jedoch waren die Erkenntnisse der Polizei-Experten für die akademischen Debatten nicht anschlussfähig, weil sie nicht an Theorie- und Typenbildungen aus dem Material heraus interessiert waren. Bei wissenschaftlichen Projekten zur Vermessung des Menschen stand die Bildung von Gruppen- und Typenidentitäten im Vordergrund. Im Unterschied dazu hatten die Sicherheitsbehörden die Gruppe, auf die sie mit dem Einsatz der Techniken zielten mit den »Wiederholungstätern« bzw. »Berufsverbrechern« bereits ausgemacht. Ihr Projekt galt der Individualisierung der einzelnen Mitglieder dieser Gruppe, von der sie erwarteten, dass sie in Zukunft weitere Straftaten begehen würden. Letztlich lässt sich feststellen, dass es keine gemeinsame Problemlage zwischen wissenschaftlichen und erkennungsdienstlichen Projekten gab. Das erkennungsdienstliche Material war als Ausgangsbasis für Forschungsfelder wie jenes der Anthropologie relevant, jedoch interessierten sich beide Seiten nicht für ihre Ergebnisse. In den Registern der Erkennungsdienste wurden zwar ebenfalls Aufzeichnungen über körperliche Merkmale gesammelt und verglichen und wurden in Sachregistern Täter nach Delikten sortiert, allerdings mit dem Ziel, Individuen auffindbar zu machen und nicht, um Typen zu bilden. Die Art der Aufbewahrung unterschied sich wesentlich zwischen anthropologischen und erkennungsdienstlichen Sammlungen. Während bei anthropologischen Sammlungen die Präsentation der Artefakte im Vordergrund stand, versprühten Erkennungsdienste eher den Charme eines »Bureaus«. Hier standen die Artefakte der Aufbewahrung im Vordergrund und nicht das gesammelte Material. Daher waren erkennungsdienstliche Sammlungen im Wesentlichen geprägt von der Ordnung des Bestandes. Für beide Lesearten lässt sich sagen, dass die Register institutionalisierte Formen von Wissen bildeten, die sich in konkreten Objekten vergegenständlichten und die von einer Theoriebildung geprägt waren. Die Register wa-

50 Vgl. Claus Zittel: »Wissenskulturen, Wissensgeschichte und Historische Epistemologie«, in: Rivista Internazionale di Filosofia e Psicologia 1 (2014), S. 29-42.

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ren Artefakte, die Wissensordnungen, gesellschaftliches Handeln und soziale Ordnungen repräsentierten.51 Biometrische Anwendungen ließen innerhalb der Sicherheitsbehörden ein gemeinsames Problembewusstsein entstehen, aus dem sich eine erkennungsdienstliche Wissenskultur ableiten lässt, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei den Kriminalpolizeien größerer Städte entstand und in deren Folge sich epistemische Praktiken institutionalisierten. Diese unterschieden sich nicht nur grundlegend von wissenschaftlichen Interpretationen körperlicher Merkmale, die gerade nicht auf Individualisierung ausgerichtet waren, sondern ebenso häufig von der popkulturellen und literarischen Verhandlung erkennungsdienstlicher Verfahren. Das lässt sich bis in die Gegenwart beobachten. Beispielsweise führte das Fehlen einer Forschungspraxis, die modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, 2011 zu einer viel beachteten und grundlegenden Kritik gegenüber den »pattern identification disciplines«. Diverse AutorInnen, darunter Simon Cole und Jennifer Mnookin, forderten darin eine wissenschaftliche Fundierung für die »non-DNA forensic sciences«.52 Die zunehmende Abstraktion der biometrischen Merkmale im Zuge der Verformelung während des Identifizierungsvorgangs führte dazu, dass die Nachvollziehbarkeit des Vergleichs für Nicht-Experten schwand. Gleichzeitig war es für die Glaubwürdigkeit des Identifizierungsverfahrens von eminenter Bedeutung, dass das Ergebnis nachvollziehbar war, um Zweifel am gutachterlichen Ergebnis vor Gericht auszuräumen. Die Erkennungsdienste etablierten Fingerabdruckgutachten als »facts«.53 Das konnte aber nur gelingen, weil ein Teil des daktyloskopischen Verfahrens für alltagstaugliche Interpretationen anschlussfähig war. Der Fingerabdruck konnte zum Symbol für Individualität werden, der das Versprechen einer universellen, individuellen Identifizierbarkeit enthielt, weil die Idee des Vergleichs zweier Fingerabdrücke als Bestätigung oder NichtBestätigung einer Identität auch in der Praxis mit Vergrößerungsglas und Druckerschwärze nachvollziehbar war.54 Dieser Teil des Verfahrens bezieht sich

51 Vgl. Allan Sekula: »The Body and the Archive«, in: October 39 (1986), S. 3-64, hier: S. 18. 52 Vgl. Jennifer Mnookin und Simon Cole: »The Need for a Research Culture in the Forensic Sciences«, in: UCLA Law Review 58 (2011), S. 725-779. 53 Vgl. Simon Cole: »The ›Opinionization‹ of Fingerprint Evidence«, in: BioSocieties 3,1 (2008), S. 105-113, hier: S. 107. 54 Daraus erklärt sich die Übertragung des Fingerabdrucks als Symbol für Individualität, etwa beim genetischen oder digitalen Fingerabdruck, weil durch die Daktyloskopie die Idee individueller Identifizierbarkeit etabliert werden konnte.

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aber auf den direkten Vergleich zweier Abdrücke, der visuell durch den Vergleich der graphischen Fingerabdruckmuster durchgeführt werden konnte. In der Frühphase der Daktyloskopie bemühten sich die Fingerabdruckgutachter, die Geschworenen effektvoll zu überzeugen und setzten häufig Diaprojektoren ein.55 Diese direkte Art der Nachvollziehbarkeit des Verfahrens blendet nicht nur die Interpretationsleistung beim Fingerabdruckvergleich aus, sondern steht zudem in diametralem Gegensatz zum eigentlichen Abstraktionsprozess, der dem Verfahren zugrunde lag und das Fingerabdruckverfahren erst zu einer Identifizierungstechnik machte: die Verformelung der Abdrücke und die Ablage in eine biometrische Registratur.

C ONCLUSIO Francis Galton bezeichnete Fingerabdruckmuster als »peculiarities entirely unconnected with other personal characteristics«56. Eine Aussage, die nicht unbedingt von Francis Galton zu erwarten wäre, mit Blick auf das Projekt der Kompositfotografie. Galton forschte an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Erkennungsdienst und entwickelte sowohl für die Fotografie als auch für die Daktyloskopie Verfahren, die sich am Ende für wissenschaftliche Praktiken als unbrauchbar erwiesen, im Fall des Fingerabdruckverfahrens aber im erkennungsdienstlichen Gebrauch etablierten.57 Häufig betonten die Kriminalisten, dass es sich bei der Verarbeitung von Fingerabdrücken um einen Übersetzungsprozess handle, der aus »reading the patterns and translating them into symbols«58 bestand. Aus den Fingerabdruckmustern sollten nicht nur keine Informa-

55 Vgl. Friedrich Paul: »Gerichtliche Photographie«, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1,19 (1899), S. 1-63, hier: S. 51. Siehe dazu auch eine frühe literarische Umsetzung des Gerichtsmotivs, das Kapitel »A Dying Man’s Confession« in Mark Twain: Life on the Mississippi, Boston 1883, S. 340-356. 56 Francis Galton: Finger Prints. With a New Introduction to the Da Capo Edition by Dr. Harold Cummins, New York 1965 [1892], S. 15. 57 Es gehört zur Ironie von Galton, dass er eigentlich auf der Suche nach körperlichen Zeichen für Typen war, allerdings gerade damit die Grundlage schafft für individuelle Identifizierbarkeit. Vgl. dazu Pamela Sankar: »DNA-Typing: Galton’s Eugenic Dream Realized?«, in: Jane Caplan und John Torpey (Hg.), Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001, S. 273-290. 58 Francis Galton: Fingerprint Directories, London 1895, S. 11.

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tionen über den Charakter einer Person ausgelesen werden können, sondern darüber hinaus keinerlei körperlichen Informationen, wie Geschlecht. Dadurch gelang es, Fingerabdruckvergleiche als Fakten zu etablieren: »By turning the fingerprint into an empty signifier – a sign devoid of information about a body’s race, ethnicity, heredity, character, or criminal propensity – fingerprint examiners made fingerprint identification seem less value-laden, more factual.«59 Es gab immer wieder Versuche, Fingerabdrücke nicht nur als Fakten zu deuten, nicht zuletzt deshalb, weil in den daktyloskopischen Registraturen deutlich wurde, dass sich die Muster nicht gleichmäßig verteilten. Beispielsweise äußerte Hans Schneickert, von 1914 bis 1927 Leiter des Berliner Erkennungsdienstes, die Hoffnung auf erbbiologische Auswertungen von Fingerabdrücken, sobald der »Schlüssel zur Entzifferung dieser Geheimschrift« gefunden wäre.60 Letztlich ist es den Behörden gelungen, nicht nur die Muster als neutrale Zeichen zu etablieren, sondern die Daktyloskopie als faktengenerierendes Verfahren. Das konnte nur durch Ausblendung des Entstehungskontextes gelingen, schließlich hat das Fingerabdruckverfahren einen kolonialen Hintergrund.61 Überhaupt lässt sich für die Biometrie eine »infrastructural calibration of whiteness«62 nachweisen. In der Übersetzung des Expertendiskurses wurde in literarischen oder journalistischen Beschreibungen weniger auf die verwaltungstechnischen Gebrauchsweisen der erkennungsdienstlichen Anwendungen Bezug genommen. Das Verdaten, Klassifizieren und Archivieren von biometrischen Informationen zeichnete sich durch die Verbindung und Adressierung von körperlichen Merkmalen sowie die Übersetzung in eine archivalische Organisationsstruktur aus. Mit Hilfe biometrischer Verfahren konnte Wissen, das zuvor als Erinnerungsund Erfahrungswissen an einzelne Sicherheitsbeamte gebunden war, in formalisiert verarbeitbare Informationsbausteine verwandelt werden, die sich unabhängig von Zeit und Raum austauschen und anwenden ließen. Damit war ein prozesshaftes, verdachtsunabhängiges Verwalten von Informationen möglich. Der Vorteil von biometrischen Informationssammlungen lag in der Möglichkeit, einzelne Datenbausteine miteinander verknüpfen zu können, um auf diese Weise

59 S. Cole: Suspect Identities, S. 100. 60 Vgl. Hans Schneickert: »Die Geheimnisse des Fingerabdrucks«, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 43 (1922), S. 679-683, hier: S. 683. 61 Siehe u.a. Uma Dhupelia-Mesthrie: »Cat and Mouse Games. The State, Indians in the Cape and the Permit-System, 1900s-1920s«, in: Ilsen About, James Brown und Gayle Lonergan (Hg.), Identification and Registration Practices in Transnational Perspective: People, Papers and Practices, New York 2013, S. 185-202. 62 J. Pugliese: Bodies, Technologies, Biopolitics, London 2012, S. 64.

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Verdachtsmomente verdichten zu können. Die Fähigkeit einer mehrdimensionalen Auswertung von gesammelten Informationen ist eine wesentliche Eigenschaft moderner Polizeiarbeit, die sich Ende des 19. Jahrhunderts etablierte. Forensik und Spurenanalyse wurden letztlich zur prägenden Aufklärungslogik bei Kriminalfällen und zum bestimmenden Faktor populärkultureller Figurationen von Verbrechensaufklärung. Es lässt sich zwar eine Traditionslinie ziehen im Umgang mit der Herstellung und Aufbewahrung von bzw. mit dem Zugriff auf Informationen in archivalischen Kontexten, allerdings zeigt sich mit Erfindung der Biometrie eine neue Dimension des Zugriffs und der Korrelationsmöglichkeiten: die Verbindung zwischen Körper und Archiv und die damit zusammenhängende Entstehung einer erkennungsdienstlichen Wissenskultur, die behördlich institutionalisiert und technisch begründet wurde. Biometrische Verfahren haben bis in die Gegenwart eine große Überzeugungskraft, was vor allem am Sicherheitsversprechen liegt, das ihrem kriminalpolizeilichen Entstehungshintergrund geschuldet ist. Im Unterschied zu anderen Interpretationen körperlicher Merkmale setzte sich bei den Erkennungsdiensten die Erkenntnis durch, dass Verbrecher nicht durch die Interpretation körperlicher Zeichen entdeckt werden, sondern durch indexierte, körperliche Merkmale in den kriminalpolizeilichen Registraturen.

L ITERATUR Aas, Katja: »From Narrative to Database. Technological Change and Penal Culture«, in: Punishment & Society 6 (2004), S. 379-393. Bachhiesl, Christian: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft. Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung, Berlin u.a. 2012. Bader, Emil: Wiener Verbrecher, Berlin 1905 [=Großstadt-Dokumente, 16]. Becker, Peter: »The Standardized Gaze. The Standardization of the Search Warrant in Nineteenth-Century Germany«, in: Jane Caplan und John Torpey (Hg.): Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001, S. 139-163 Becker, Peter: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002. Bertillon, Alphonse: Die gerichtliche Photographie mit einem Anhange über die anthropometrische Classification und Identificirung, Halle 1895. Bowker, Geoffrey und Susan Star: Sorting Things out. Classification and its Consequences, Cambridge 1999.

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Caplan, Jane und John Torpey (Hg.): Documenting Individual Identity: The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001. Cole, Simon: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge 2002. Cole, Simon: »The ›Opinionization‹ of Fingerprint Evidence«, in: BioSocieties 3,1 (2008), S. 105-113. Cole, Simon und Rachel Dioso-Villa: »Investigating the ›CSI Effect‹ Effect: Media and Litigation Crisis in Criminal Law«, in: Stanford Law Review 61,6 (2009), S. 1336-1374. Conan Doyle, Arthur: »The Adventure of the Empty House«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, hg. von Ruth Rendell, London 2009, S. 483-496. Dhupelia-Mesthrie, Uma: »Cat and Mouse Games. The State, Indians in the Cape and the Permit-System, 1900s-1920s«, in: Ilsen About, James Brown und Gayle Lonergan (Hg.), Identification and Registration Practices in Transnational Perspective: People, Papers and Practices, New York 2013, S. 185-202. Eberhardt, Friedrich: »Das Silhouettiren als Mittel zur Erleichterung der Sicherheitspflege«, in: Eberhardts Polizei-Anzeiger 4 (1837), S. 28. Fohrmann, Jürgen: »Archivprozesse oder: Über den Umgang mit der Erforschung von ›Archiv‹«, in: Hedwig Pompe und Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 19-26. Galassi, Silviana: Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004. Galton, Francis: »Composite portraits made by combining those of many different persons into a single figure«, in: Nature 18 (1878), S. 97-100. Galton, Francis: Finger Prints. With a New Introduction to the Da Capo Edition by Dr. Harold Cummins, New York 1965 [1892]. Galton, Francis: Fingerprint Directories, London 1895. Gross, Hans: »Besprechungen: Internationales Verbrecheralbum«, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 11 (1903), S. 291. Herrmann, Hans-Christian von: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, Paderborn und München 2004. Heindl, Robert: Der Berufsverbrecher. Ein Beitrag zur Strafrechtsreform, Berlin 1928. Higgs, Edward: Identifying the English: A History of Personal Identification, 1500 to the Present, London und New York 2011. Huybensz, Max: »Das Verbrecher-Album der Wiener Polizei«, in: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt 29 (1876), S. 492-495.

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Introna, Lucas und David Wood: »Picturing Algorithmic Surveillance. The Politics of Facial Recognition Systems«, in: Surveillance & Society 2,2/3 (2004), S. 177-198. Jäger, Jens: Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperationen 1880-1933, Konstanz 2006. Jäger, Jens: »Polizeibilder und Verbrecherbilder. Bemerkungen zur Visualisierung von Polizei und Verbrechern zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik«, in: Karl Härter, Gerhard Sälter und Eva Wiebel (Hg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit, Frankfurt/Main 2010, S. 455-485. Knorr-Cetina, Karin: Wissenskulturen, Frankfurt/Main 2002. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Leipzig 1775-1778. Liszt, Franz von: Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Berlin 1900. Lombroso, Cesare: L’uomo delinquente. In rapporto all’antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie, Turin 1876. Mentzel, Walter: »Die Wiener Polizeifotografie zwischen 1870 und 1938. Die Einsatzgebiete der Fotografie im polizeilichen Erkennungs- und Sicherheitsdienst, der Musealisierung und Dokumentation«, in: Fotogeschichte 100 (2006), S. 51-65. Meyer, Roland: »Detailfragen. Zur Lektüre erkennungsdienstlicher Bilder«, in: Ingeborg Reichle (Hg.), Verwandte Bilder, Berlin 2007, S. 191-208. Mnookin, Jennifer und Simon Cole: »The Need for a Research Culture in the Forensic Sciences«, in: UCLA Law Review 58 (2011), S. 725-779. Paul, Friedrich: Über Bedeutung und Anwendung der Photographie im Strafverfahren, Littau 1895. Paul, Friedrich: »Gerichtliche Photographie«, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1,19 (1899), S. 1-63. Pias, Claus: »Ordnen, was nicht zu sehen ist«, in: Wolfgang Ernst, Christoph Keller und Dirk Baecker (Hg.), Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin 2003, S. 99-108. Pugliese, Joseph: Bodies, Technologies, Biopolitics, London 2012. Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999. Sacker, Jacob: Der Rückfall. Eine kriminalpolitische und dogmatische Untersuchung, Berlin 1892. Sankar, Pamela: »DNA-Typing: Galton’s Eugenic Dream Realized?«, in: Jane Caplan und John Torpey (Hg.), Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001, S. 273-290.

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Schneickert, Hans: »Die Geheimnisse des Fingerabdrucks«, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 43 (1922), S. 679-683. Schweizerisches Bundesblatt, Jahrgang V. Band II. Nr. 31, Jahresbericht des eidg. Generalanwaltes über dessen Amtsführung während dem Jahre 1852. Sekula, Allan: »The Body and the Archive«, in: October 39 (1986), S. 3-64. Stieber, Wilhelm: Practisches Lehrbuch der Criminal-Polizei. Auf Grund eigener langjähriger Erfahrungen zur amtlichen Benutzung für Justiz- und Polizeibeamte und zur Warnung und Belehrung, Berlin 1860. The Fingerprint Inquiry Report, APS Group Scotland 2011, als Volltext unter: http://www.thefingerprintinquiryscotland.org.uk/ (Zugriff: November 2014). Thies, Ralf: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die »GroßstadtDokumente«, 1904-1908, Köln u.a. 2006. Twain, Mark: Life on the Mississippi, Boston 1883. Vosgerau, Gottfried: »Was können wir messen? Zur Identifizierung von Personen«, in: Bernd Hartmann, Daniel Siemens und Gottfried Vosgerau (Hg.), Biometrie, Paderborn u.a. 2012, S. 79–100. Wagner, Patrick: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996. Windt, Camillo und Siegmund Kodiček: Daktyloskopie. Verwertung von Fingerabdrücken zu Identifizierungszwecken. Lehrbuch zum Selbstunterricht für Richter, Polizeiorgane, Strafanstaltsbeamte, Gendarmen etc., Leipzig und Wien 1904. Zittel, Claus: »Wissenskulturen, Wissensgeschichte und Historische Epistemologie«, in: Rivista Internazionale di Filosofia e Psicologia 1 (2014), S. 29-42.

Eindeutigkeit und Ähnlichkeit, Bruch und Kontinuität Mark Twains Pudd’nhead Wilson F LORIAN S EDLMEIER (B ERLIN )

I. Nicht weniger als sechs Manuskripte und Typoskripte können gesichtet werden, um die Entstehungs- und Editionsgeschichte des Romans Pudd’nhead Wilson zu rekonstruieren.1 1892 beginnt Samuel Langhorne Clemens eine längere Erzählung, die später unter dem Titel Those Extraordinary Twins und wie üblich mit der Autorensignatur Mark Twain erscheinen wird. Die Diskrepanz zwischen bürgerlichem Namen und Künstlernamen bringt immer schon ein Spiel der Dopplung und Trennung in Gang, das sich in diversen literarischen Strategien und Tropen fortsetzt.2 Der als Farce deklarierte Text setzt siamesische Zwillinge ins erzählerische Zentrum und betont deren italienische Herkunft. Wie die Forschung festgehalten hat, ist damit Sir Francis Galtons Zwillingsforschung ebenso als wissensgeschichtlicher Kontext etabliert wie die sensationellen Zurschaustellungen von als deviant markierten Lebensformen. 1892, in dem Jahr also, da Twain seine Erzählung beginnt, publiziert Galton seine Abhandlung Finger

1

Vgl. hierzu Sidney E. Berger: »Pudd’nhead Wilson and Those Extraordinary Twins: Textual Introduction«, in: Mark Twain, Pudd’nhead Wilson and Those Extraordinary Twins, hg. von Sidney E. Berger, 2. überarb. Aufl., New York und London 2005, S. 189-198.

2

Zu den Semantiken und Poetiken der Dopplung und Imitation bei Twain vgl. etwa Susan Gillman: Dark Twins. Imposture and Identity in Mark Twain’s America, Chicago und London 1989.

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Prints. Twain, bereits mit Galtons früheren Zwillingsstudien vertraut, ist unter den ersten Lesern dieser Publikation, mit der die Identifizierungstechnik der Daktyloskopie in der sich etablierenden Sammeldisziplin der Kriminologie breite Resonanz erfährt. Kann der Einfluss von Galtons Arbeiten kaum geleugnet werden, bleiben deren konkrete Auswirkungen auf die Erzähl- und Wissenslogik des Textes umstritten. Galtons Publikation sollte Twain zumindest dazu bewegen, die Aufmerksamkeitsökonomie gegenüber den Figuren in seiner angefangenen Erzählung signifikant zu verändern, die literarischen Konventionen zu wechseln, die dargestellten Wissensordnungen zu erweitern und letztlich zwei unterschiedliche Prosatexte zu veröffentlichen. Die revidierte Fassung von Those Extraordinary Twins, die Twain nach der Veröffentlichung von Pudd’nhead Wilson fertiggestellt hat, kommentiert und legitimiert die kompositorischen Änderungen und die Entstehung der beiden Publikationen als eigenständige Texte. Derartige Reflexionen eröffnen das erste Kapitel; sie manifestieren sich in diversen Quer- und Rückverweisen, die dem Leser Handlungsstränge aus Pudd’nhead Wilson bei der Lektüre von Those Extraordinary Twins in Erinnerung rufen; sie finden sich in den »final remarks« der Erzählung; und sie sind Gegenstand eines mehrseitigen Vorwortes, in dem Twain schreibt: »›Pudd’nhead Wilson‹ […] was not one story, but two stories tangled together; and they obstructed and interrupted each other at every turn and created no end of confusion and annoyance. […] It took me months to make that discovery. I carried the manuscript back and forth across the Atlantic two or three times, and read it and studied over it on shipboard; and at last I saw where the difficulty lay. I had no further trouble. I pulled one of the stories out by the roots, and left the other one–a kind of literary Caesarean operation.«3

Die Einsicht, es handle sich um zwei miteinander verwobene Geschichten, die sich aber mit jeder Plot-Wendung wechselseitig an ihrer Entfaltung hinderten, wird im Modus der verzögerten Entdeckung präsentiert, wobei »discovery« die Register des Rechts, der Wissenschaftlichkeit und der Plot-Formation konnotiert. Die Entdeckung resultiert aus dem wiederholten Lesen und Studieren des Geschriebenen, das als sich verselbständigend präsentiert wird. Das Pendeln zwischen Europa und den USA ist biografisch verbürgt, und es mag vor allem die Bedrohung des Bankrottes gewesen sein, die Twain dazu bewogen hat, sich einmal mehr der Detektivgeschichte zuzuwenden, die mit dem 1891 gegründeten

3

Mark Twain: Pudd’nhead Wilson and Those Extraordinary Twins, hg. von Sidney E. Berger, 2. überarb. Aufl., New York und London 2005, S. 125.

E INDEUTIGKEIT UND Ä HNLICHKEIT , B RUCH UND K ONTINUITÄT

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Strand Magazine als Publikationsorgan gerade ihre erste große Blüte erlebte.4 Aber das Pendeln zwischen den Kontinenten allegorisiert ebenso den modifizierten Transfer der Zwillinge von einer Geschichte in die andere, und es versinnbildlicht die thematische Wendung von einer um Zwillinge zentrierten Geschichte hin zur dezidiert nordamerikanischen Kriminalerzählung: Die Entdeckung der Daktyloskopie als Ermittlungstechnik korreliert und kollidiert mit der Rassenepistemologie.5 Die Wendung hin zum kriminalistischen Plot, gerahmt durch das System der Sklaverei, das in der zitierten Passage nicht explizit benannt ist, wird selbst als Entdeckung eines Beweises durch detaillierte Wiederlektüre figuriert. Der Roman verhandelt die Rassenepistemologie über die Thematisierung der sanktionierten Phänomene der miscegenation und des passing, welche die literarischen Tropen des »tragic mulatto« bzw. der »tragic mulatta« hervorbringen. Er destabilisiert und bestätigt diese Epistemologie, indem er die gesellschaftsstrukturellen wie ökonomischen Konsequenzen offenlegt, die der Sklavin Roxana und ihrem Sohn Valet de Chambre drohen, den sie im Kindesalter mit Tom, dem Sohn des Richters Driscolls vertauscht – ein Tausch, der nur gelingen kann, weil beide Kinder ob ihrer Hautfarbe nicht eindeutig in die binäre Codierung von Schwarz und Weiß eingeordnet werden können, die David Wilson (unfreiwillig) mit Hilfe der Daktyloskopie wiederherstellt. Diese Verschiebung und Differenzierung manifestiert sich in obigem Zitat in einer dominanten Geste der Autorschaft, die zunächst im Register der Botanik gefasst wird (»I pulled one of the stories out by the roots«) – eine Naturalisierung, welche die elementare Notwendigkeit des auktorialen Eingriffs ausdrückt. Dieser Eingriff wird mit der operativen Technik des Kaiserschnitts (»Caesarean operation«) gleich gesetzt, die 1881 zum ersten Mal zur Anwendung kommt. Mit der Metaphorik der Geburtshilfe ist eine männliche Gebärfantasie etabliert: der Autor wird zum Chirurgen, der trennt, was nicht zusammengehört, und so die Texte in die Welt setzt. Allerdings bedeutet die Entfernung der einen Geschichte »mit den Wurzeln« nicht, dass die Zwillinge aus der verbliebenen Geschichte gänzlich verschwinden, denn bereits die ethnokulturelle Markierung als

4

Zu den biografischen Hintergründen vgl. Ron Powers, Mark Twain. A Life, New

5

Mit Rassenepistemologie sei hier ganz generell auf eine ab dem 18. Jahrhundert anth-

York u.a. 2005, bes. S. 534-551. ropologisch wie biologistisch begründete und hierarchisch klassifizierende Wissensordnung von rassischer Differenz verwiesen, über die sich ökonomische, politische und rechtliche Systeme legitimieren. Zu den wissensgeschichtlichen Transformationen vgl. etwa Lee D. Baker: From Savage to Negro. Anthropology and the Construction of Race, 1896-1854, Berkeley u.a. 1998.

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italienischstämmig bleibt in beiden Erzählungen verankert. Aufgetrennt wird ihre spezifische, zur Darstellung gebrachte Gestalt als zusammengewachsene Zwillinge. Mit Blick auf die im Vorwort zu Those Extraordinary Twins nachträglich legitimierte Entdeckung und Separation zweier Geschichten ist die literarisch-chirurgische Trennung der siamesischen Zwillinge auch ein Kommentar auf den künstlerischen Schaffensprozess. Die Bedeutung der Trennung erschließt sich sowohl darstellungskonventionell als auch wissensgeschichtlich: Das Primat der Differenzierung, der eindeutigen Identifizierbarkeit und Trennbarkeit, das mit der Hermeneutik des Evidenzparadigmas und der Technik der Daktyloskopie verbunden ist, rückt als Geste in den Blick, ohne jedoch von den poetisch durchgespielten Phänomenen der Ähnlichkeit, der Dopplung und der Imitation gänzlich separiert werden zu können. Charakteristische Darstellungskonzepte und Erzähltechniken des Romans sind also gattungshistorisch und wissensgeschichtlich relevant. Ein einflussreicher Forschungsstrang debattiert, ob der Roman Identitäten biologistisch naturalisiert oder als kulturell erlernbar markiert, ob Twain der Vererbungslehre aufsitzt oder diese ironisiert.6 Die Entscheidbarkeit der Diskussion sei hier dahingestellt; Indizien dürften sich für beide Auslegungen finden lassen. Zentraler ist, so denke ich, der grundlegende Umstand, dass der Roman in den Kategorien der Rassenepistemologie verfasst ist und diese ausstellt. Diese Vorannahme, so möchte ich weiter argumentieren, muss an Problemstellungen des politischen und ökonomischen Systems bzw. des gesellschaftlichen Wandels von der Sklaverei hin zur reformistischen Progressive Era rückgebunden werden, in denen es um Kontinuitäten und Brüche von Ordnungen geht. Pudd’nhead Wilson ist nämlich ein historischer Kriminalroman mit ganz bestimmten, teils parodistischen Bedingungen: Entstanden unter den Segregationsgesetzen, die jenes korrupte, kapitalistische Gilded Age mit ermöglichen, das Twain und Charles Dudley Warner im Titel ihrer gemeinsam verfassten Satire von 1873 identifizieren, blickt der Text auf die feudalistische Ordnung der Sklaverei vor dem Civil War zurück. Zugleich verlangt die experimentelle Verlagerung der Daktylosko-

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Vgl. zur Problematik von »nature and nurture«, einer Formel Galtons, exemplarisch die kontrastiven Sichten von Michael Rogin: »Francis Galton and Mark Twain. The Natal Autograph in Pudd’nhead Wilson«, und Susan Gillman: »›Sure Identifiers‹. Race, Science, and the Law in Pudd’nhead Wilson«, in: Susan Gillman und Forrest G. Robinson (Hg.), Mark Twain’s Pudd’nhead Wilson. Race, Conflict, and Culture, Durham und London 1990, S. 73-85 (Rogin), S. 86-104 (Gillman). Vgl. auch Lee Clark Mitchell: »›De Nigger in You‹: Race or Training in Pudd’nhead Wilson?«, in: Nineteenth-Century Literature 42,3 (1987): S. 295-312.

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pie in eine Zeit, die diese Technik noch nicht kannte, danach, den vermeintlichen Ordnungsbruch auf seine Kontinuitäten hin zu prüfen.7 Der vorliegende Aufsatz setzt sich erstens zum Ziel, die poetologische wie wissensgeschichtliche Spannung von Identifikation und Ähnlichkeit im Verhältnis zur historisch-systemischen Spannung von Bruch und Kontinuität genauer zu konturieren. Zweitens sind diese beiden Spannungen auch vor dem Hintergrund der metapoetischen Distanzgesten zu verstehen, die der Roman an Prinzipien der Gattung »Detektivgeschichte« heranträgt und die sich etwa in einer auktorialen Erzählhaltung mit wechselnden Fokalisierungen niederschlagen, welche die Leserin mit einem Informationsvorsprung ausstattet und die divergierenden Bewusstheitsgrade der Figuren gegeneinander ausspielt. Ein solcher Lektürefokus erlaubt es, die Frage nach dem kritischen Potential des Romans, die in der Forschung vorwiegend auf der Ebene des Dargestellten verhandelt wird, auf die Ebene der Erzähltechniken bzw. Darstellungskonventionen und der dazugehörigen Wissensgeschichten zu verschieben. Eine dritte Komponente der hier veranschlagten Untersuchungsperspektive markiert der konsistente Einbezug der Ambivalenz von Literatursoziologie und Marktökonomie, die in der Forschung zu diesem Roman bislang kaum Beachtung gefunden hat. Meine Grundthese in diesem Kontext ist, dass Pudd’nhead Wilson die Spannung von eindeutiger Identifizierung und Ähnlichkeit strategisch doppelt zum Einsatz bringt: um sich als distinktes, mit literarischem Kapital angereichertes Produkt im Massenmarkt der detektivischen Groschenromane zu positionieren, und um den elitären und entrückten Bereich der Hochkultur mit populären Wissensordnungen anzureichern.

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John Carlos Rowe kommt zu einer ähnlichen Einschätzung, indem er Pudd’nhead Wilson in den Kontext anderer »historical romances« stellt, die Twain verfasst habe, um zu suggerieren, dass »apparent [...] social changes merely have reinstated rigid social and class hierarchies«. Vgl. John Carlos Rowe, »Fatal Speculations: Murder, Money, and Manners in Pudd’nhead Wilson«, in: S. Gillman und F. G. Robinson (Hg.), Mark Twain’s Pudd’nhead Wilson, S. 137-154, hier S. 138. Dieser Aspekt bleibt erstaunlich wenig beachtet und aufgearbeitet. Shelley Fisher Fishkin etwa versteht Twains Manöver lediglich als poetische Lizenz, die es ihm gestatte »to explore contemporary issues that may have been too threatening to explore directly«. Vgl. Shelley Fisher Fishkin, »Race and Culture at the Century’s End: A Social Context for Pudd’nhead Wilson, in: Essays in Arts and Sciences 19 (1990), S. 1-27, hier S. 17.

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II. Im Rahmen von Mark Twains diversen Auseinandersetzungen mit den Konventionen der Detektivgeschichte nimmt Pudd’nhead Wilson eine besondere Position ein. Die Spielarten des Genres in Twains Oeuvre lassen sich unter variierenden Registern der Komik fassen, die von der beschwingten Parodie über die derb-komödiantische Burleske hin zur bissigen Satire reichen. Die Modi der Komik drücken eine doppelte Distanzierung von der angelsächsische Tradition im Zuge Arthur Conan Doyles und vom amerikanischen Groschenromanen im Sog Allan Pinkertons aus.8 Mit Pinkerton, dem schottisch-amerikanischen Detektiv, Spion und Autor, befinden wir uns bereits auf Terrain, das für Pudd’nhead Wilson nicht nur gattungsgeschichtlich, sondern auch wissensgeschichtlich bedeutsam ist. In seiner Einführung zu Twains unvollendetem Roman Simon Wheeler, Detective hält Franklin R. Rogers fest, dass der Text strategisch den Wahrheitsanspruch von Pinkertons Ermittlungsmethoden untergräbt, die in den 1870er und 1880er Jahren formbildend für die ökonomisch profitablen detektivischen Groschenromane wurden. Die operativ aufwändigen und kostspieligen Techniken der Pinkerton-Agenten – Beschattung, Fotografie, Infiltration, und Verkleidung; die Erstellung massiver Akten mit Detailberichten über kursierende Gerüchte um potentielle Verdächtige und mit Recherchen zu Familienhistorien; und als finaler Clou: das oft erpresserische und gewaltsame Abringen eines zur Überführung für notwendig erachteten Geständnisses – sind in Simon Wheeler, Detective parodistisch transponiert.9 Distanziert sich Twain vom Wahrheitsanspruch einer Wissensproduktion, die sich auf die exzessive Sammlung jedes noch so unbedeutenden Details gründet, bleiben sowohl die zur literarischen Konvention gewordenen Darstellungstechniken der Archivierung von Daten und der Vorgabe einer falschen Identität qua Verkleidung, als auch die Evidenzmodalität des Details oder die Kulturtechnik des Gerüchtes für Pudd’nhead Wilson relevant. Sie fungieren nun jedoch als Hintergrundfolie für die wissensgeschichtliche Intrusion des Fingerabdruckes und der Rassenepistemologie, auf die sich das System der Sklaverei gründet. Die Bedeutsamkeit Allan Pinkertons und seiner Methoden als Hintergrund für Twains Roman intensiviert sich, nimmt man hinzu, dass Pinkertons Aufstieg politisch wie ökonomisch eng mit dem amerikanischen Bürgerkrieg und der In-

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Vgl. hierzu Robert Rowlette: Mark Twain’s Pudd’nhead Wilson. The Development

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Vgl. hierzu Franklin R. Rogers: »Introduction«, in: Mark Twain, Simon Wheeler, De-

and Design, Bowling Green 1971, bes. S. 38-61. tective, hg. von Franklin R. Rogers, New York 1963, S. xi-xxxviii, bes. S. xxi-xxv.

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dustrialisierung verknüpft ist. Mit dem (vermutlich konstruierten) Bedrohungsszenario eines geplanten Attentates auf Abraham Lincoln, für den Pinkerton als Begleitschutz auf dem Weg zu dessen Amtseinführung nach Washington arbeitete, nimmt der rasante Aufstieg der 1850 gegründeten Pinkerton’s National Detective Agency eine neues Ausmaß an. Die resultierende politische Protektion steigert ihre Profitabilität im privaten Sektor. Pinkertons Agentur, für die später auch Dashiell Hammett arbeitete, bevor er seine Karriere als Kriminalautor beginnen sollte, verfolgt zunächst Eisenbahn- und Bankräuber, schützt also bereits die Interessen des Großkapitals. Ende des 19. Jahrhunderts engagieren diverse Unternehmen die Detektei, um die unionistische Organisation von Angestellten und Arbeitern ebenso wie die Proteste von politisch Radikalen, von Anarchisten und Kommunisten, vermittels Infiltration, Spionage und Mord systematisch zu torpedieren. Die Pinkertons avancieren zur größten privaten Miliz, zu einer schwer bewaffneten Sicherheitspolizei, die zum einen die Profitmargen des industriellen Monopolkapitalismus sichert und zum anderen das Gewaltmonopol des Staates untergräbt. Für Ward Churchill nimmt die Agentur ob ihrer Position an der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Sektor eine Vorreiterrolle für das 1908 gegründete Federal Bureau of Investigation ein, das die Vision der Agentur, ein zentrales, nationales Datenarchiv zu schaffen, endgültig zur Umsetzung bringen sollte. Zuvor war das Justizministerium Pinkerton bereits in der Übernahme der Bertillon-Methode und deren Ergänzung bzw. Ersetzung durch die Daktyloskopie gefolgt.10 Diese politisch-ökonomischen Hintergründe lassen sich an Franco Morettis Analogie zwischen Detektivroman und kapitalistischer Ordnung rückbinden. Moretti liest den Detektivroman als Vorbereitung einer Massenkultur qua Auslöschung einer hegemonialen Kultur. Zum einen ist die Gattung für ihn »an extreme example of liberal bourgeois ideology« und zwar insofern, als sich die Gesellschaft nun »on the basis of the impersonal and automatic mechanisms of the market economy« selbst zu regulieren hat, die in der rationellen, unpersönlichen Logik der Detektion ihre Entsprechung finden.11 Zum anderen wird der Detektivroman zu »liberalism’s executioner«, weil seine spezifische Hermeneutik eine Vorstellung von Kultur in Analogie zum Markt als »closed and self-referential

10 Zur Geschichte der Pinkerton-Agentur vgl. ausführlich Ward Churchill: »From the Pinkertons to the PATRIOT Act. The Trajectory of Political Policing in the United States, 1870 to the Present«, in: CR: The New Centennial Review 4,1 (2004), S. 1-72. 11 Franco Moretti: »Clues«, aus d. Ital. von Susan Fischer, in: ders., Signs Taken for Wonders. Essays in the Sociology of Literary Forms, London 1983, S. 130-156, hier S. 154.

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system« verkündet.12 Moretti leitet diese doppelte strukturelle Analogie aus seiner Lektüre Conan Doyles ab. Sherlock Holmes ist für ihn ein exemplarischer Intellektueller der fin-de-siècle Dekadenz, der selbst in einer Geste der Neutralität das Ethos des Individuums hinter sich lassen muss, um die Ordnung liberaler Individualität und klassifizierender Identifikation zu etablieren. Die Figur David »Pudd’nhead« Wilsons kann als nationalkultureller Transfer der Holmes-Figur begriffen werden, die 1887 zum ersten Mal in gedruckter Form zirkulierte. Die Unterschiede sind jedoch bemerkenswert. Auf der Ebene der Technik der Detektion ruft Ronald R. Thomas »Twain’s explicit disdain for the elitism of scientific methods like those practiced by Sherlock Holmes« in Erinnerung.13 Wilson ist denn auch kein Privatier und dekadenter Intellektueller. Er gewinnt seine ambivalente Intellektualität allenfalls durch den extremen Kontrast mit der volatilen und ignoranten Masse der Bevölkerung von Dawson’s Landing, die ihn als »Pudd’nhead« markiert, und die er in seiner triumphal und theatralisch inszenierten Lösung des Mordfalles vorführt. Seine Position kann eher als die eines exzentrischen Archivars beschrieben werden. Es ist jedoch wichtig, zu betonen, dass Wilson im Verlauf des Romans vom Neuankömmling und Außenseiter zum politisch und rechtlich machtvollen Regulator der Wissensordnungen avanciert. Im Kontrast zu den Sherlock-Holmes-Erzählungen beziehen diese Ordnungen ihre spezifische nationalkulturelle Färbung aus der strukturellen Kopplung eines feudalistischen wie kapitalistischen Klassennarratives an das rassenepistemologisch begründete Ausbeutungssystem der Sklaverei. Wenn Moretti den Detektiv, der noch den Habitus einer alten Ordnung mit verkörpert, zum paradigmatischen Repräsentanten des Kapitalismus erhebt, dann zeigt Twains Roman vermittels der Figur David Wilsons die Kontinuität des Systems der Sklaverei und der Rassenepistemologie über den Ordnungswechsel vom Feudalismus und zum Kapitalismus hinweg. Die unterschiedlichen Modi der Ironie, die Twain an die Gattung der Detektivgeschichte heranträgt, dienen zudem einer metatextuellen Distanzierung, deren Funktion im Kontext der Ökonomie des literarischen Marktes und mit Blick auf die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärfend etabliert, ambivalent bleibt.14

12 Ebd., S. 155. 13 Ronald R. Thomas, Detective Fiction and the Rise of Forensic Science, Cambridge u.a. 1999, S. 247. 14 Zur Herausbildung und Verfestigung kultureller Hierarchisierung vgl. etwa Lawrence W. Levine: Highbrow/Lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America, Cambridge und London 1988.

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Es bildet sich ein komplexer Spagat heraus. Auf der einen Seite steht ein Verständnis von Autorschaft als Unternehmertum, das Twain, William Dean Howells und andere Autoren der Zeit beschäftigt, und das in eine textuelle Aneignung von Gattungen mündet, die als populär markiert sind. Auf der anderen Seite erlaubt die ironische Distanzierung von der transponierten Konvention eine Anreicherung mit literarischem Kapital, um sich von den Massenproduktionen des Populären abzuheben. In diesem literatursoziologischen und marktökonomischen Spagat funktionieren gerade die wissensgeschichtlichen Reflexionen, die unter dem Sammelparadigma des Wissenschaftlichen gefasst werden können, als Bindemittel, das den Transfer zwischen den Kapitalsorten ermöglicht. Dieser Kontext erhellt ein in der Forschung viel bemühtes Statement aus einem Notizbucheintrag Twains von 1896. Twain schreibt: »What a curios thing a ›detective‹ story is. And was there ever one that the author needn’t be ashamed of, except ›The Murders in the Rue Morgue‹?«15 Folgt man dem Argument des Einleitungstextes zu dem vorliegenden Band, dass Edgar Allan Poes Erzählung die Logik des rationalen Kalküls, die gepaart mit dem Moment der genialen Intuition die Gattung konstituiert, nicht nur begründet und entfaltet, sondern bereits überschreitet, dann positioniert sich Twain hier, indem er sich in die Nachfolge Poes stellt, zugleich innerhalb und entgegen der Konvention der Detektivgeschichte. Die multiplen Konnotationen von »curious«, vom Neugierigen bis zum Sonderbaren, verweisen auf diese ambivalente Haltung. Wenn »detective« in Anführungsstrichen steht, untergräbt dies die Legitimation der Gattung und verschiebt das Moment der Aufdeckung implizit in die Kategorie der seriösen Hochliteratur. Twains Versuch, sich unter dem Druck des Marktes und des drohenden Bankrotts die Gattung anzueignen, ist unauflöslich mit einem Distinktionsnarrativ verknüpft, das die detektivische mit der literarischen Hermeneutik großer Autoren anzureichen sucht, aber auch elitäre Hochkultur mit dem Detektivischen anreichert und konfrontiert. Die Trennung zwischen Populär- und Hochliteratur wird einerseits affirmiert, andererseits aber auch untergraben: Schließlich kann die als nieder markierte Gattung in das symbolische Kapital »Literatur« konvertiert werden und dieses destabilisieren. Das Problem der eindeutigen Identifikation und Trennung, das Pudd’nhead Wilson im Verhältnis zu Ähnlichkeit und Verwechslung strukturiert, ist also auch in das Problem literatursoziologischer und marktökonomischer Verortung eingeschrieben.

15 Mark Twain, Typescript Notebook 30/II, Eintrag vom 1. Juni 1896, S. 32, in: The Mark Twain Papers, The General Library, University of California, Berkeley.

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III. So wenig die skizzierte gattungsgeschichtliche Spannung mit Blick auf Pudd’nhead Wilson bislang beforscht ist, so gewissenhaft ist die Aufarbeitung der wissensgeschichtlichen Hintergründe erfolgt. Anhand eines knappen Forschungsberichtes möchte ich in diesem Abschnitt einige Diskussionen zusammenfassen. Eine erste, eingangs angedeutete Debatte entfaltet sich mit Bezug auf die Trennung der beiden Erzählungen und die entsprechenden Wissensordnungen, die unter der Signatur Francis Galtons exemplarisch verhandelt werden können. In einer bekannt gewordenen Formulierung versuchte Galton, Fingerabdrücke als »the most important anthropological data« zu positionieren.16 Damit ist ein Evidenzparadigma reklamiert, das die positivistischen Techniken der Klassifikation und der Statistik aufruft, die eine datenepistemologische Subjektivität generieren. Wie Simon A. Cole zeigt, versprach sich Galton von den Fingerabdrücken vor allem zweierlei: die Identifikation von Verbrechern und einen körperlichen Abdruck, dessen Lektüre es erlauben würde, menschliche Charakteristika auf Vererbung zurückzuführen.17 In Galtons Imagination werden Fingerabdrücke zu Medien und Zeichen, an denen sich unter anderem Genealogie, Intelligenz, Krankheiten und Verbrechensneigung ablesen lassen – Zuschreibungen, die letztlich in sozialdarwinistische Diskurse der Degeneration und der Eugenik münden. Das Versprechen der eindeutigen Identifikation wird nicht nur auf die Konstruktion von Verbrechern projiziert, sondern auch auf die Konstruktion gesellschaftlicher und kultureller Anderer. Somit erlaubt es die Daktyloskopie, eine permanente Bedrohung sowohl der ökonomisch-sozialen als auch der ethnokulturell-nationalstaatlichen Ordnungen zu imaginieren bzw. potentiell stö-

16 Mit dem Fokus auf Galton soll keineswegs unterschlagen werden, dass die Erfindung des Fingerabdrucks weiter zurückreicht und mit einer Publikation von Henry Faulds aus dem Jahr 1880 im Magazin Nature ihren öffentlichen Anfang nimmt. In einer knapp vierzig Jahre währenden Debatte stritten William J. Herschel und Henry Faulds um das symbolische Urheberrecht auf den Fingerabdruck als Ermittlungs- und Identifikationstechnik. In jedem Fall ist die Technik im historischen Kontext des Kolonialismus und der Kriminologie zu begreifen. Vgl. exemplarisch und retrospektiv den Beitrag »The Permanence of Finger-Print Patterns«, in: Nature, 18. Januar 1917, S. 388-389, der zwei Briefe an die Herausgeber vereint, die von Henry Faulds und William Herschel verfasst sind. 17 Die Ausführungen in den folgenden beiden Absätzen basieren auf Simon A. Cole: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge und London 2001, bes. S. 97-139.

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rende Subjekte zu konstituieren und ihre bürokratische, polizeistaatliche Archivierung als aktenkundig Gewordene zu legitimieren. Wird die Daktyloskopie zu Beginn teils in Konkurrenz zur Anthropometrie und Fotografie, teils ergänzend zu diesen Techniken begriffen, hat ihr letztlicher Siegeszug mit dem anbrechenden 20. Jahrhundert nicht zuletzt damit zu tun, dass der Fingerabdruck – entgegen der Annahme Galtons und vieler Zeitgenossen – gerade eine neutrale, eindeutige Identifikation jenseits sozialer und ethnokultureller Zuschreibungen verspricht. Dies führt auf das Problem der Vererbung zurück, die zweite Projektion Galtons auf den Fingerabdruck. An dieser Stelle spielt seine Zwillingsforschung eine entscheidende Rolle. Galton, auf das Paradigma biologischer Vererbung so sehr fixiert, dass er es als conditio sine qua non seiner diversen Forschungen zu präsentieren sucht, schließt aus der schieren Ähnlichkeit der Fingerabdruckmuster von Zwillingen und Verwandten auf die Existenz von Vererbung.18 Die fehlende Übereinstimmung musste ihn in der Folge zu dem Eingeständnis bringen, dass seine Prämisse der Nachweisbarkeit von Vererbung über das Medium des Fingerabdruckes in letzter Konsequenz nicht haltbar ist. Eine fundamentale, vermutlich nicht aufzulösende Unsicherheit mit Bezug auf eine historisierende Lektüre von Mark Twains Roman besteht in diesem Kontext darin, zu bestimmen, wie genau sich der Text zu Galtons auf den Fingerabdruck projiziertem, doppeltem Wissen um Vererbung und singuläre Identifikation verhält. Welches Ausmaß hat das Bewusstsein des Textes und des historischen Lesers im Hinblick auf die Implikationen dieser Wissensordnungen? Eine zweite Forschungsproblematik speist sich aus der formalen Inkohärenz von Pudd’nhead Wilson, die Twains oben skizzierter retroaktiver Geste kontrollierter Autorschaft diametral gegenüber steht und die etwa Hershel Parker konstatiert, der den Roman für ästhetisch gescheitert, mithin als »patently unreadable« erachtet.19 Für Susan Gillman und Forrest G. Robinson ist eine solche

18 Für eine Sichtweise, die den in weiten Teilen der Forschung angenommenen, wenn auch unterschiedlich verstandenen Zusammenhang von Rassenepistemologie und Zwillingsdiskurs zurückweist, vgl. Shawn Salvant: »Mark Twain and the Nature of Twins«, in: Nineteenth-Century Literature 67,3 (2012), S. 366-396. 19 Vgl. Hershel Parker: Flawed Texts and Verbal Icons. Literary Authority in American Fiction, Evanston 1984, S. 142-144. Zu den einschlägigen Texten, die, unter der rückprojizierten, impliziten Vorannahme einer Erzählökonomie des modernistischen Formalismus, Twains Trennung der beiden Geschichten als narratives Scheitern verstehen, gehört auch Leslie Fiedler: »›As Free as Any Cretur ...‹«, in: The New Republic CXXXIII,7-8 (1955), S. 130-139.

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Einschätzung problematisch, verrät sie doch den Wunsch des formalistischen New Criticism, eine »hidden unifying structure« im Text aufzudecken.20 Demgegenüber reklamieren sie für sich und die anderen Beitragenden des einschlägigen Sammelbandes Mark Twain’s Pudd’nhead Wilson: Race, Conflict, and Culture: »We do thus share the earlier critical passion for detection, although we are not similarly inclined to dismiss evidence of authorial intention«.21 Es wird eine Fokusverlagerung vorgenommen vom formzentrierten New Criticism zum persistenten Interesse des New Historicism an der Rekonstruktion von Autorintention in einem ganz spezifischen Sinn: »to make the strata of Mark Twain’s political unconscious available for critical scrutiny«.22 Robert Moss bietet ein Korrektiv zu dieser dezidiert politischen und sozialkritischen Lesart an. Er zeigt, wie Twain Szenen und Materialien, welche die zeitgenössischen Kontroversen um die Rassenepistemologie vertiefen aus dem finalen, publizierten Text gestrichen hat, so etwa die Frage danach, ob Identität rassenbiologisch vererbt oder in einem soziokulturellen Sinn habituell sei. Moss stützt seine Argumentation nicht zuletzt auf Tagebucheinträge, in denen Twain den Roman nie explizit »in terms of racial issues« diskutierte, sondern vielmehr als »a murder mystery story« positionierte, von der er sich schlicht »popular appeal« und »the potential of being a big money-maker« erhoffte.23 So wichtig die

20 Susan Gillman und Forrest G. Robinson: »Introduction«, in: dies. (Hg.), Mark Twain’s Pudd’nhead Wilson. Race, Conflict, and Culture, Durham und London 1990, S. vii-xvii, hier: S. vii. 21 Ebd. 22 Ebd. Nebenbei bemerkt: Den rhetorischen Manövern der vorliegenden Zitate eignet eine Parallelführung unterschiedlicher Register und Vokabulare, die Carlo Ginzburgs These zur Emergenz eines auf der Produktion verborgener Details fußenden Evidenzparadigmas, das im 19. Jahrhundert die Wissensordnungen der Kriminalistik, der Hermeneutik und der Psychoanalyse unter der Technik der Detektion vereint, nachhaltig bekräftigen. Vgl. Carlo Ginzburg: Clues, Myths, and the Historical Method, aus d. Ital. von John und Anne C. Tedeschi, Baltimore 1989, S. 96-125. 23 Robert Moss: »Tracing Mark Twain’s Intentions. The Retreat From Issues of Race in Pudd’nhead Wilson«, in: American Literary Realism 30,2 (1988), S. 43-55, hier S. 53. Ross’ Einwand ist in einem anderen Kontext bedeutsam, denn Shelley Fisher Fishkin tendiert in einem entgegen gesetzten kritischen Manöver dazu, gerade die Streichungen in den Entwürfen Twains anzuführen, um dessen Position als Kritiker der Rassenepistemologie zu stärken. Vgl. etwa Shelley Fisher Fishkin: »Mark Twain and Race«, in: dies. (Hg.), A Historical Guide to Mark Twain, Oxford u.a. 2002, S. 127162, hier: S. 145f. Über die im vorliegenden Aufsatz eingeschlagene Verknüpfung

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Hinweise auf das ökonomische Kalkül und die Marktposition sind, in einem gewissen Sinn kann Moss’ Argument, entgegen seiner eigenen Intention, als Bestätigung des Ansatzes des New Historicism gelesen werden: Wären nicht die gelöschten Passagen, in denen der Rassendiskurs prominenter firmiert, schon Teil des politischen Unbewussten des späten 19. Jahrhunderts? Auf der anderen Seite ist Moss’ Hinweis relevant, Twains Hauptinteresse gelte dem Detektivplot – auch wenn dieser nicht von den diversen Wissensordnungen und den Sprachen der Wissenschaftlichkeit gelöst werden kann, die der Roman bemüht, und auch wenn mit Blick auf Twains Einstellung zur Gattungskonvention die bereits skizzierten qualifizierenden Anmerkungen anzubringen sind. Den Twain-Lektüren des New Historicism fehlt neben dem gattungskonventionellen Interesse zudem oft eine Sensibilität sowohl für die erzähltechnischen Besonderheiten, die für die Informationsverteilung im Roman zentral sind, als auch für das damit einhergehende Potential einer ironischen Distanzierung von der Konvention der Detektivgeschichte und den epistemologischen Modellen, die sie generiert.

IV. Das Vorwort zu Pudd’nhead Wilson ist mit »A Whisper to the Reader« überschrieben. Mit Blick auf die konventionellen Funktionen von Vorworten handelt es sich um eine intime und vertraute Ansprache des Lesers, bzw. um die potentielle Streuung eines Gerüchtes oder das Teilen eines Geheimnisses. Der Text eröffnet ein für Twains Erzählwerk charakteristisches Spiel: »A person who is ignorant of legal matters is always liable to make mistakes when he tries to photograph a court scene with his pen; and so, I was not willing to let the law-chapters in this book go to press without first subjecting them to rigid and exhausting revision and correction by a trained barrister – if that is what they are called. These chapters are right, now, in every detail, for they were re-written under the immediate eye of William Hicks, who studied law part of a while in southwest Missouri thirty-five years ago and then came over here to Florence […]. He was a little rusty on his law, but he rubbed up for this book, and those two or three legal chapters are right and straight, now. He told me so himself.«24

von Gattungs- und Wissensgeschichte lassen sich diese divergierenden Kritikmanöver relativieren. Im Zentrum steht vielmehr der Umstand, dass der Text die Kontinuität der Rassenepistemologie als Grundbedingung feudalistischer wie kapitalistischer Ordnung entblößt. 24 M. Twain: Pudd’nhead Wilson, S. 1-2.

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Diese Rahmung etabliert eine Distanzierung von der Validität rechtlicher Ordnungen und ihrer Verifizierungstechniken, die im Roman zur Darstellung gebracht werden. Die vorgegebene Ignoranz in Bezug auf Rechtsangelegenheiten hat allerdings nur eingeschränkte Geltung. Es ist entscheidend, dass sie sich auf »those two or three legal chapters« beschränkt. Damit sind die finalen Kapitel der Gerichtsverhandlung gemeint, in denen David Wilson unter Einsatz der Daktyloskopie Tom Driscolls/Valet de Chambres systemische Identität als Sklave enthüllt und ihn des Mordes an seinem vermeintlichen Onkel überführt. Wenn der fiktive Autor Twain jene Kapitel dem fiktiven Anwalt William Hicks zur »rigid and exhausting revision and correction« übergibt, um sicherzustellen, dass sie nun »in every detail« korrekt sind, entlarvt dies die kriminalistische Beweisführung als starren Akkumulationsprozess und entblößt somit eine Rechtsordnung, die über die Produktion von Details Evidenz erzeugt und kontextfrei das Verhältnis von Schuld und Unschuld regelt. Der Nachname Hicks ist nicht umsonst ein sprechender: »hick« bezeichnet einen Provinzler oder Tölpel, womit eine Analogie zu »puddinghead« hergestellt ist. Zwar ist der Spitzname »Pudd’nhead« in der Diegese des Romans eine Zuschreibung der volatilen und affektgesteuerten Bevölkerung von Dawson’s Landing, über die Wilson mit seinem rationalen Kalkül letztlich triumphiert. Aber die synonyme Anordnung »Pudd’nhead/Hicks« ist auch als metatextueller Kommentar und ironische Distanzierung lesbar. Sie unterläuft die politische und rechtliche Autorität, die Wilson mit seiner Rehabilitierung zum Ende der Diegese hin gewinnt. Damit ist eine Dopplung etabliert, die auch auf den Titel des Romans zurückwirkt. Die Frage, inwiefern und unter welchen Bedingungen Wilson (samt der Wissensordnung, die er repräsentiert) nun ein »Pudd’nhead« ist oder nicht, wird allein aufgrund dieser paratextuellen Prominenz zu einer der entscheidenden Fragen des Romans. Ein Blick auf die gattungsgeschichtliche Konvention verkompliziert diese Frage zusätzlich. Mit Poe und Conan Doyle etabliert sich eine Rezeptionserwartung, nach der Detektivgeschichten das entscheidende Detail, den Fall oder eines der Konzepte, die ihre Epistemologie steuern, im Titel tragen (marketingstrategisch ist diese Erwartung jedoch an die serielle Wiederkehr der Ermittlerfigur gekoppelt). Vor diesem Hintergrund wird die Erhebung des Namens des ermittelnden Anwaltes in den Titel zum gattungshistorischen Kommentar und markiert die kritische Ausstellung der Detektivfigur samt ihrer vernunftbasierten Wissensproduktion. Doch zurück zu einer Phrasierung aus dem ersten Satz des Zitates, die das poetische Programm des fiktiven Autors formuliert: »he tries to photograph a court scene with his pen«. Zwar war der Einsatz von Fotografien als gerichtliches Beweismittel zur Evidenzproduktion im späten 19. Jahrhundert durchaus

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umstritten,25 aber Twain lädt hier das Medium der Fotografie mit einer Abbildungs- und Verifizierungsfunktion auf, die er in ein knappes poetisches Programm transponiert. Dieses Programm entspringt zum einen der produktiven Konkurrenz zur Fotografie im medialen Wettstreit um Möglichkeiten der Erfassung und Codierungen der Verifizierung.26 Zum anderen hat das Programm gattungspoetische Relevanz und markiert eine weitere Abgrenzung zur Konvention der Detektivgeschichte. Die Ankündigung des Versuches, die Gerichtsszene abzubilden, bringt hier einen literarischen gegen einen populären und populistischen Realismus in Anschlag. Mit der Ankündigung fotografischen Schreibens wird also die Konvention einer detektivischen Evidenzproduktion, für die an dieser Stelle die fotografische Abbildung exemplarisch steht, als zweifelhafte Fiktion überführt. Der Autor avanciert zum besseren Gerichtszeichner und legt die Funktionsweisen der Rechtsordnungen protokollarisch offen. »A little rusty on his law«, so erfahren wir in obigem Zitat ebenfalls, hat William Hicks vor 35 Jahren in Missouri, also unmittelbar vor Anbruch des Bürgerkrieges, das Rechtswesen studiert. Damit sind die zentralen geopolitischen und zeitlichen Parameter des Romans etabliert. Die für Twain typische, biografisch motivierte Ansiedlung der Handlung in Missouri, einem sogenannten Grenzstaat, der während des Bürgerkrieges lange Zeit strategisch auf Seiten der Unionisten und der Konföderierten Soldaten ins Gefecht schickte, bringt die Gespaltenheit der föderalen Nation exemplarisch zum Ausdruck.27 Sie verweist aber noch vielmehr auf die Kontinuitäten zwischen Nordstaaten und Südstaaten in Bezug auf die ökonomische Profitabilität der Rassendiskriminierung. Ähnlich steht es um die Funktion der Retrospektive. Das suggerierte Zeitmodell einer überlegenen (oder gar nostalgischen) Rückschau auf die Rechtsordnung der Sklaverei vor dem Civil War, die in der Formulierung »rusty on his law« zitiert

25 Vgl. hierzu etwa den hypertextuellen Essay von Thomas Thurston: »Hearsay of the Sun: Photography, Identity, and the Law of Evidence in Nineteenth-Century American Courts«, Hypertext in American Studies, Roy Rosenzweig Center for History and New Media, George Mason University, 1996-2009. http://chnm.gmu.edu/aq/photos/index.htm (Zugriff: Januar 2015). 26 Zur kulturellen Funktion der Fotografie im 19. Jahrhundert als Technologie, die es ermöglicht, ein gemeinsamen Körperarchiv von Bürgern und Delinquenten zu erstellen, vgl. grundlegend Allan Sekula: »The Body and the Archive«, in: October 39 (1986), S. 3-64. 27 Zur komplexen Gemengelage in Missouri während des Bürgerkrieges vgl. etwa William E. Parrish: Turbulent Partnership. Missouri and the Union, 1861-1865, Columbia 1963.

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ist, weist der Roman meines Erachtens zurück. Der Moment des Gilded Age hat zwar die rassenepistemologisch begründete Leibeigenschaft überwunden, aber der Mythos des schöpferischen Kapitalismus gründet sich nun auf die Segregationsgesetze, die immer noch derselben biologistischen Epistemologie folgen und die nun wissensgeschichtlich anders legitimiert werden können. Auch wenn Hicks »a little rusty on his law« ist, so ist er in der Herausgeberfiktion schließlich doch in der Lage, die Passagen über den Einsatz der Daktyloskopie zu prüfen, womit die Kontinuität der Rassenepistemologie über die Wechsel der politischen Systeme hinweg angedeutet ist. Die retrospektive Zeitlichkeit ist gattungsgeschichtlich nicht weniger interessant, macht sie Pudd’nhead Wilson doch zu einem historischen Kriminalroman. Mit der Wahl eines Durchschnittshelden, der hier zunächst als Außenseiter und Exzentriker eingeführt wird und dann in eine politische und rechtliche Machtposition gelangt, bewegt sich Twain im Erzählmodell Sir Walter Scotts und James Fenimore Coopers. Den klassischen Vertretern des historischen Romans nicht unähnlich bringt Pudd’nhead Wilson retrospektiv eine politische Transformation zur Darstellung. Impliziert dies ein progressives Geschichtsmodell des fortschreitenden Verlaufes und der Veränderung, zeigt sich auch ein Unbehagen bezüglich der Errungenschaften der Moderne, die traditionelle Wertesysteme untergraben: Der Fingerabdruck steht als innovative Identifizierungsund Überführungstechnik dem »rusty law« des William Hicks gegenüber. Die mangelnde Nostalgie für das Traditionelle, das unweigerlich gleichermaßen an die Rassenepistemologie geknüpft wäre, scheidet Twain von Scott und Cooper. Noch deutlicher als bei Scott und Cooper geht es in Pudd’nhead Wilson um die Kontinuitäten hinter den Brüchen, die in der Produktion von Ähnlichkeiten, Dopplungen und Verwechslungen zum Ausdruck kommen und die Eindeutigkeiten unterlaufen.28

V. Das erste Kapitel des Romans etabliert zunächst das feudalistische Setting von Dawson’s Landing, Missouri, einer »slave-holding town«, die als »sleepy, com-

28 Einen konzisen Abriss zur Funktion des historischen Romans in den USA bietet Winfried Fluck: »The Nineteenth-Century Historical Novel«, in: Leonard Cassuto, Clare Virginia Eby und Benjamin Reiss (Hg.), The Cambridge History of the American Novel, Cambridge u.a. 2011, S. 117-134.

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fortable, and contented« umschrieben wird.29 Diese durch die Sklaverei gebrochene vormoderne Idylle, wird in der Folge weiter ausgehöhlt. Eingeführt als prominente und machtvolle Bürger mit »old Virginian ancestry«,30 sind Richter York Leicester Driscoll und der Anwalt Pembroke Howard bereits als Überreste einer kulturaristokratischen, auf Abstammung gegründeten Ordnung markiert, die sich in dieser Form nicht mehr fortpflanzt: Howard ist Junggeselle und Richter Driscoll kinderlos verheiratet. York Driscolls Bruder Percy, ein Landspekulant, war zwar verheiratet und Vater von Kindern, die aber, so erfahren wir, allesamt von diversen Krankheiten dahingerafft wurden. Seine Frau stirbt schließlich kurz nach der Geburt von Tom Driscoll, der am gleichen Tag wie Valet de Chambre geboren wird, dem Sohn der Sklavin Roxana, die beide Kinder aufzieht und ihre Identitäten vertauscht, um ihren leiblichen Sohn vor dem Verkauf zu schützen. Auch Percy Driscoll wird früh aus dem Roman eliminiert, nicht ohne zuvor Roxy zur freien Frau zu machen. Richter Driscoll schließlich adoptiert Tom, der eigentlich Valet de Chambre ist, und damit, ohne es zu wissen, einen Sklaven, der ihn schließlich ermorden wird, und letztlich doch mit dem Weiterverkauf als Ware im System der Sklaverei bestraft wird. Mit dem Forschungsfokus auf Roxy, Tom und die Debatte, ob der Roman Identität als erlernbar oder biologisch determiniert betrachtet, geht der strukturelle Aspekt der strategischen und sukzessiven Eliminierung der Repräsentanten der feudalistischen Ordnung gerne verloren, der sich bereits im ersten Kapitel abzeichnet. Dieser Aspekt ist zumindest in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Einerseits destabilisiert er die verschränkten Wissensformationen der Vererbung und Erbschaft von Grund auf, und erfordert somit eine andere Ordnung: diejenige der kapitalistischen Meritokratie, deren Repräsentant Wilson ist. Andererseits macht jedoch das graduelle Aufbrechen der auf Sklaverei gegründeten feudalistischen Ordnung die Stabilisierung der Rassentrennung umso dringlicher und prekärer. Der Plot der Vertauschung von Tom und Valet ist schließlich nur möglich, weil die Hautfarbe der beiden nicht eindeutig auf den binären visuellen Code von weiß und schwarz reduziert werden kann, was die Vermutung zulässt, dass Percy Driscoll der Vater beider Kinder ist.31 Das Problem des passing ist eine Rückprojektion Twains auf die Ordnung der Sklaverei, denn es wird erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einem literarischen Topos.32 Passing taucht

29 M. Twain: Pudd’nhead Wilson, S. 4. 30 Ebd. 31 Zu dieser Einschätzung vgl. auch J. C. Rowe: »Fatal Speculations«, S. 142f. 32 Die Darstellungstrope einer tragischen Zwischenfigur, die aufgrund heller Hautfarbe als weiß »durchgeht« aber gemäß der Vorstellung von Blutreinheit/-kontamination

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mit dem historischen Moment als veritable Trope auf, da die Freiheit und Gleichberechtigung von Afroamerikanern zur politischen Möglichkeit wird und da kulturelle Amalgamierung bzw. rassenbiologische Vermischung als gesellschaftliche Vision und Angst zugleich dargestellt werden können.33 David Wilson, »a young fellow of Scotch parentage«, »college-bred« und geboren im »State of New York«, wird als Gegenpol zur südstaatlichen Ordnung von Dawson’s Landing eingeführt.34 Die Identifizierung Wilsons über seine schottische Abstammung etabliert eine Ähnlichkeit zu Allan Pinkerton und Sherlock Holmes und destabilisiert Versuche, Wilson als progressive, vom Text affirmierte Gegenfigur zur Familie Driscoll und der Bevölkerung von Dawson’s Landing aufzubauen. Wilsons Plan, sein Auskommen als Anwalt zu bestreiten, scheitert auf grandiose Weise, als er einen grotesken Witz macht, der von der Bevölkerung missverstanden, weil wörtlich genommen wird. Dies bringt ihm den Spitznamen »Pudd’nhead« ein und unterminiert seinen sozialen und ökonomischen Status. Er kann fortan über Dekaden hinweg nicht als Anwalt praktizieren, sondern fungiert als »land surveyor and expert accountant« und verfolgt im Privaten diverse Experimente und Hobbies.35 Neben dem Handlesen wird hier auch die Technik des Fingerabdruckes eingeführt und als »the fad without a name« umschrieben.36 »Fad« kann »Modeerscheinung«, »Hobby«, »Tick«, aber auch »Wahn« heißen. Somit ist eine vielschichte Bewertung dieses Wissensme-

rechtlich als schwarz gilt, setzt in der afroamerikanischen Literaturgeschichte bereits mit William Wells Browns Roman Clotel; or, the President’s Daughter (1853) ein. Aber erst mit der flächendeckenden Einführung der Segregationsgesetze um die Jahrhundertwende wird die Trope bei Autoren wie Charles Wadell Chesnutt und James Weldon Johnson zahlreich, um dann mit Schriftstellerinnen wie Nella Larsen während der Harlem Renaissance der 1920er Jahre einen Höhepunkt zu erreichen. 33 Dafür spricht auch die komplexe Lage der unterschiedlichen miscegenation laws, die Heiraten über die Grenzen der Rassenepistemologie hinweg sanktionieren, und die, wie Werner Sollors festhält, mit dem späten 19. Jahrhundert »plot constitutive in American literature« werden. Vgl. Werner Sollors: »Introduction«, in: ders. (Hg.), Interracialism. Black-White Intermarriage in American History, Literature, and Law, Oxford u.a. 2000, S. 3-16, hier S. 11. Einen literaturgeschichtlichen Überblick zur Bedeutung der miscegenation im späten 19. Jahrhundert bietet William L. Andrews: »Miscegenation in the Late Nineteenth-Century Novel«, in W. Sollors (Hg.), Interracialism, S. 305-314. 34 M. Twain: Pudd’nhead Wilson, S. 5. 35 Ebd., S. 7. 36 Ebd., S. 8.

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diums geschaffen. Es ist als Spleen markiert, der sich erst zu einer professionalisierten, kriminalistischen Technologie entwickeln wird, womit die graduelle und konventionelle Entwicklung des Detektivs als Amateur hin zum überlegenen Verwalter der politischen Ordnung vorbereitet wird; und es ist an der Schnittstelle von Genialität und Wahnsinn angesiedelt, Signifikanten des Diskurses der Romantik, denen das Moment des Obsessiven gemein ist. Die Transformation der Wissensordnung und ihrer Techniken der Überführung entsteht im Roman im privaten Sektor, in Gestalt einer experimentellen Obsession und in Anlehnung an den historischen Detektiv Pinkerton und den literarischen Detektiv Holmes, um sich erst nach und nach politisch zu institutionalisieren. Über Jahrzehnte hinweg sammelt und datiert Wilson die Fingerabdrücke der Bevölkerung von Dawson’s Landing, die sich in bereitwilliger Unwissenheit ihrer Erfassung ergibt. Es ist wichtig zu sehen, wie der Roman die potentiellen Implikationen dieser Sammlung verhandelt, d.h. mit welchem Grad der Bewusstheit und Intentionalität die neue Identifizierungstechnik und ihr fiktionaler Erfinder aufgeladen sind, oder anders ausgedrückt: wie sich die prinzipiell auktoriale Erzählhaltung, die jedoch stetig die Fokalisierung wechselt und somit erzählperspektivisch die epistemologischen Brüche und Kontinuitäten mit produziert, zur Figur Wilsons positioniert. Folgende Passage gibt darüber ein wenig Aufschluss: »He often studied his records, examining and poring over them with absorbing interest until far into the night; but what he found there – if he found anything – he revealed to no one. Sometimes he copied on paper the involved and delicate pattern left by the ball of a finger, and then vastly enlarged it with a pantagraph so that he could examine its web of curving lines with ease and convenience.«37

Die Identifizierungstechnik der Daktyloskopie erfordert zunächst die Kulturtechniken des Studierens und des Lesens, im Sinn einer Absorption in die Musterungen der Abdrücke. Wenn es heißt, Wilson offenbarte nicht, was er beim Studium der Abdrücke entdeckte, dann gibt auch die auktoriale Erzählinstanz vor, nicht zu wissen, was genau Wilson entdecken könnte. Dieser Effekt mag nicht zuletzt der historischen Unsicherheit in Bezug auf die Funktionen des Fingerabdruckes geschuldet sein. Ist dem heutigen Leser schnell klar, dass es narratives Kalkül der Einführung dieser Technik sein wird, die Vertauschung von Tom Driscoll und Valet de Chambre aufzudecken, mögen viele der ersten historischen Leser am Ende ähnlich verblüfft wie die Bevölkerung von Dawson’s Landing

37 Ebd.

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auf Wilsons Enthüllung reagiert haben.38 Über die Erzählhaltung wird in dieser Passage auch eine kritische Distanzierung gegenüber der Figur Wilsons und seiner Methode der Evidenzproduktion deutlich: die konditionale Parenthese – »if he found anything« – erfüllt diese Funktion und stellt den Grad der Mystifizierung ironisch aus. Zugleich indiziert der Text mit dem Hinweis auf den Einsatz des Pantografen zur Nachzeichnung und Vergrößerung der Abdrücke bereits die verborgene Wirkungsmacht des Fingerabdruckes. Im Griechischen meint Pantograf schließlich so etwas wie »Allesschreiber«, eine universelle Zeichen- und Kopiermaschine, die hier eingesetzt wird, um das Miniaturzeichen des Fingerabdruckes nicht nur zu vergrößern, sondern auch als ein universelles Zeichen zu setzen, das andere Zeichen und Techniken der Identifizierung sowie deren Kombination überflüssig machen soll. Wilson, so heißt es im Text weiter, »liked to have a ›series‹ – two or three ›takings‹ at intervals during the period of childhood, these to be followed by others at intervals of several years«.39 Zum einen indiziert dies, dass er sich zu Beginn nicht sicher ist, ob die Musterung des Fingerabdruckes unveränderlich bliebt. Zum anderen erfüllt die serielle Wiederholung der Erfassung von Abdrücken eine narrative Funktion. Die erneute Erfassung der Fingerabdrücke von Tom Driscoll und Valet de Chambre produziert für Wilson, als er versucht, den Mörder von Richter Driscoll über sein Archiv an Abdrücken zu überführen, das irritierende Problem der Nicht-Übereinstimmung, weil Roxy die beiden Kinder, die visuell nicht in die dichotome Rassenepistemologie von schwarz und weiß eingeordnet werden können, im Fortgang der Erfassung vertauscht hat. Durch die Verbindung Wilsons zum Seriellen kann die zitierte Passage auch als Kommentar auf die Publikationsweise des späten 19. Jahrhunderts verstanden wer-

38 Diese Einschätzung ergibt sich aus den rapiden wissensgeschichtlichen Entwicklungen zur Entstehungszeit des Romans. Bei weitem nicht alle historischen Rezensenten erwähnen den Einsatz des Fingerabdruckes im Roman. Für eine repräsentative Auswahl vgl. Louis J. Budd (Hg.), Mark Twain. The Contemporary Reviews, Cambridge u.a. 1999, S. 359-373. Juan Vucetich, dem im heutigen Kroatien geborenen argentinischen Anthropologen, wird gewöhnlich der erste Einsatz von Fingerabdrücken zur Lösung eines Mordfalles im Jahr 1892 zugeschrieben, im selben Jahr also, als Galton seine Studie veröffentlichte und Twain die »Entdeckung« der trennbaren Erzählungen machte. Dass es sich in diesem Fall mit Francisca Rojas um eine Kindsmörderin handelt, ist eine nicht uninteressante historische Anekdote. Argentinien sollte aufgrund dieses Falles übrigens das erste Land werden, in dem der Fingerabdruck die Anthropometrie Bertillons ersetzte. 39 M. Twain: Pudd’nhead Wilson, S. 11.

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den. Werden Romantexte jeglichen Genres seriell publiziert, verabsolutiert die Detektivgeschichte das serielle Prinzip der Variation: erstens als Gestaltungsprinzip bewusst gesetzter Momente aufgeschobener Spannung; zweitens als Durchspielen eines hermeneutischen Modells in variierenden Fallstudien; und drittens als langfristiges Vermarktungsprinzip über den Wiedererkennungswert der Detektivfigur. Es zeigt sich hier also eine literatursoziologische, erzähl- wie marktökonomische Ambivalenz: Der Figur Wilsons und der Art und Weise, wie er seine Wissenstechnik erkundet und testet, sind sowohl das Prinzip variierender Wiederholung, das den ökonomischen Erfolg der Detektivgeschichte ermöglicht, als auch das Prinzip der Identifizierbarkeit eines singulären Textes eingeschrieben, das Grundbedingung für die Erlangung literarischen Kapitals ist.

VI. Es ist an der Zeit, die narrative Funktion der Zwillinge Luigi und Angelo Cappello zu beleuchten, von denen es heißt: »One was a little fairer than the other, but otherwise they were exact duplicates«40. Eindeutige Trennung und Ähnlichkeit liegen hier nahe beieinander, wobei die Tönung der Haut das Differenzierungskriterium ist, womit eine Ähnlichkeit zu Tom Driscoll und Valet de Chambre hergestellt wäre, die der Roman allerdings ironischerweise gerade nicht darüber differenziert. Die Analogie wird bekräftigt durch die Lebensgeschichte, die Luigi und Angelo Cappello erzählen. Aus finanzieller Not heraus inszenieren sie sich nach dem Tod ihrer Eltern als reisende Kuriositäten, in Situationen und Phasen, die sie als Formen der Sklaverei bezeichnen.41 Mit den Zwillingen bricht das Fremde – nach der Ankunft Wilsons – zum zweiten Mal in die Sozialstruktur von Dawson’s Landing ein. Wird Wilson als Exzentriker und Sonderling markiert, bekommen die Zwillinge neben dem Kuriositätenstatus auch denjenigen weit gereister Kosmopoliten und Künstler. Verkörpern sie in diesem Sinn zugleich exotisches Desiderat, ästhetische Hochkultur und nationalstaatliches Außen, etabliert ihre Herkunft von »old Florentine nobility«42 eine weitere Ähnlichkeit, zwischen europäischer und südstaatlicher Aristokratie. So viel sei schon festgehalten: in Anbetracht dieser Fülle an divergierenden Zuschreibungen firmieren die Zwillinge, die ein modifizierter erzählerischer Rest aus der von Twain zunächst begonnenen Erzählung sind, als eine Art Metafigu-

40 Ebd., S. 29. 41 Vgl. ebd., S. 31. 42 Ebd., S. 30.

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ration im narrativen Gefüge des Romans. Ihnen sind nahezu alle Wissensordnungen, und mithin deren Destabilisierungen, eingeschrieben, die Pudd’nhead Wilson verhandelt. Wenn es nach ihrem Klavierkonzert über die Bevölkerung von Dawson’s Landing heißt, »they realized that for once in their lives they were hearing masters«43, scheint es gar, als kommentierten Luigi und Angelo in diesem einzigen Moment der Inszenierung von Kunsterfahrung im Roman auf das »Zwillingspaar« Samuel Langhorne Clemens und Mark Twain vis-à-vis einem antizipierten Lesepublikum, das den vorliegenden Text vor dem Hintergrund der Gattungskonvention als einen außergewöhnlichen zu identifizieren mag (auch wenn es sich vielleicht über die Gründe nicht ganz im Klaren sein mag). Über die Cappellos wird auch die Verbrechensform des Mordes eingeführt. Dabei konstruiert der Roman über die Figur David Wilsons Körper als Texte.44 In einer Handlesesession, der auch Tom Driscoll beiwohnt, entziffert Wilson in Luigis Handlinien einen Mord, den jener begangen hat, um seinen Bruder und sich selbst zu retten. Luigis Mord aus Notwehr wird so zugleich zum »noble act«45 und zur Sicherung des eigenen Überlebens. Und auch wenn der Text den mehr affektiven als kalkulierten Mord, den Tom später an Richter Driscoll begeht, nicht explizit an diese Zuschreibungen koppelt, ist hier zumindest eine potentielle Vergleichbarkeit indiziert. Für den Moment wichtiger bleibt, dass der Roman nach Wilsons Identifizierung des Verbrechens qua Körperlektüre pikanterweise über einen Kommentar Tom Driscolls die wissensgeschichtliche Dimension der »palmistry«, die über Luigi als »science« aus dem »Orient«46 eingeführt wird, expliziert: »›Just think of that – a man’s own hand keeps a record of the deepest and fatalest secrets of his life, and is treacherously ready to expose him to any black-magic stranger that comes along‹«.47 Offensichtlich ist über die Technik des Handlesens die Daktyloskopie vorangekündigt, wenn hier die Hand selbst als Archiv der Lebensbiografie konstruiert ist. Die zugrunde liegende Vorstellung ist diejenige eines Delinquenten, der sich selbst verraten muss, weil in seine Körperoberfläche die Spuren des Verbrechens eingraviert sind. Zugleich markiert Tom die Überführung durch diese Technik als arbiträre Praktik, die sich jederzeit durch Unbekannte ereignen kann. Mehr noch, und dies ist der entschei-

43 Ebd., S. 33. 44 Zur Konstruktion des Körpers als Text und zur Nähe zwischen Handlesen und Daktyloskopie im Roman vgl. auch R. R. Thomas: Detective Fiction and the Rise of Forensic Science, S. 240-256. 45 M. Twain: Pudd’nhead Wilson, S. 57. 46 Ebd., S. 54. 47 Ebd., S. 57.

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dende Aspekt: Die indizierte Ähnlichkeit mit der Magie untergräbt die Validität der Technik, und zwar insofern als sie lediglich der eindeutigen Identifizierung des Täters dient, nicht aber der Kontextualisierung der Tat, die von Luigi und Angelo erzählt werden muss, um überhaupt den moralischen Stellenwert des Verbrechens klären zu können. Damit scheint der Roman mit Toms Kommentar schon anzukündigen, dass dessen eigene spätere Identifizierung als Mörder der Kontextualisierung bedarf. Die Entlarvung Luigis als Mörder über die als orientalisch markierte Wissenstechnik des Handlesens wird begleitet von der Einführung der Mordwaffe, eines ornamentalen Dolches, der aus Indien stammt, und den auch Tom Driscoll für seinen Mord benutzen wird. Die Verbrechensform des Mordes und die Tatwaffe werden also dezidiert über Figurationen des devianten und orientalischen Anderen eingeführt und sind somit als externalisierte Ängste der Ordnung von Dawson’s Landing lesbar. Tom Driscoll wird sukzessive in die Enge getrieben. Bereits vor der Handleseszene erfährt er von Roxy, dass er ihr leiblicher Sohn ist; sie droht strategisch damit, das Geheimnis zu lüften, um ihn dazu zu bewegen, für ihr Auskommen zu sorgen, nachdem sie ihr gesamtes Erspartes aufgrund einer Bankenpleite verloren hat. Er selbst hat immense Spielschulden angehäuft und sieht sich gezwungen, diese vermittels nächtlicher Raubzüge durch Dawson’s Landing zu begleichen. Zu den akuten ökonomischen Zwangslagen kommen die stetigen testamentarischen Änderungen des Richters, der Tom mal als Erben einsetzt, mal enterbt – je nachdem, wie gut sich dieser denn an den Ehrenkodex der Southern Aristocracy hält. Dieser Kodex umfasst für den »Richter« nicht zuletzt eine Zurückweisung der demokratischen Gerichtsbarkeit gegenüber einem Duell unter aristokratischen Ehrenmännern, zu dem er Luigi fordert, nachdem Tom diesen vor Gericht wegen eines tätlichen Angriffs verklagen wollte, was ihm der Richter als feige und unehrenhaft auslegt und woraufhin er ihn enterbt. Um dies rückgängig zu machen und die Gunst des Richters wieder zu erlangen, offenbart Tom ihm gegenüber das Geheimnis Luigis. Es ist ein übersehener doch relevanter Umstand, dass dies zu einem Zeitpunkt geschieht, da die Zwillinge sich auf dem Höhepunkt ihrer Popularität befinden, den Status von Bürgern erlangen und sogar gegen David Wilson, dessen Reputation mittlerweile ebenfalls gestiegen ist, um den Posten des Bürgermeisters kandidieren. Eine Tragik der Geschichte liegt also auch darin, dass Tom Driscoll, der gebürtige Sklave, am Ende aufgrund seiner eigenen Angst vor dem Fremden wieder versklavt wird, denn die Wahl der italienischen Zwillinge, die er selbst torpediert, hätte eine Änderung des Systems der Sklaverei bedeuten können. Stattdessen entwickelt sich ein xenophober Wahlkampf, in dem der Richter Driscoll sein Wissen um Luigis Mord strategisch einsetzt und ein Bedrohungsszenario um den von den Zwillingen als

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gestohlen deklarierten Dolch kreiert, den Roxy heimlich entwendet hat. So also gelangt David Wilson an die Macht: der Repräsentant der feudalistischen Ordnung der Sklaverei gewinnt für ihn die Wahl, indem er die Angst vor dem Fremden schürt. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass der Bruch mit der politischen Ordnung im Roman von der systemischen Kontinuität einer Wissensordnung abgekoppelt ist, die auf dem manipulativen Einsatz von Ängsten vor dem ethnokulturell Fremden beruht.

VII. Die strukturellen Grundspannungen des Romans kulminieren in der Konstruktion und Lösung des vermeintlich zentralen Verbrechens – Tom Driscolls Mord. Es ist erzählstrategisch bedeutsam, dass David Wilson, der in der Logik eindeutiger Identifikation denkt, lange Zeit braucht, um einen wichtigen clue zu entdecken, der Tom als Mörder entlarvt und den verdächtigten Luigi entlastet. In Kapitel sieben lesen wir: »Pudd’nhead was [...] puzzling over a thing which had come under his notice that morning«.48 Das Brüten und Rätseln betrifft eine Erscheinung, die er durch ein Fenster im Haus des Richters sieht, »a young woman where properly no young woman belonged; for she was in Judge Driscoll’s house, and in the bedroom over the Judge’s private study or sitting room. This was young Tom Driscoll’s bedroom«.49 Die durch Wilson fokalisierte Beschreibung suggeriert einen Code der Dezenz, nährt den Verdacht einer Affäre. Gleichzeitig wird bereits die Spur gelegt, dass es Tom Driscoll selbst ist, der hier in Frauenkleider schlüpft. Gegenüber dem Leser lüftet der Roman im zehnten Kapitel das Geheimnis. In einem Moment des wechselseitigen Wahrnehmens aber der einseitigen Erkennung realisiert Tom auf einem seiner Raubzüge »that Pudd’nhead had caught a glimpse of him. So he entertained Wilson with some airs and graces and attitudes for a while«50. Für den als Voyeur markierten Wilson ruft der verkleidete Driscoll hier ein Repertoire der Verführung auf, womit Erotik, Sensualität und das Theatrale dem rationalen Kalkül gegenübergestellt sind. Wichtig ist hierbei die Informationsverteilung: im Gegensatz zu Wilson weiß die Leserin nun, dass ein entscheidender clue in Toms Verkleidung als Frau besteht.

48 Ebd., S. 35. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 51.

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Es sei daran erinnert, dass für die Pinkerton-Agentur Kostümierung eine zentrale Ermittlungstechnik bedeutete. Wilsons vorgeführte Ahnungslosigkeit ist in diesem Kontext gattungs- und wissensgeschichtlich signifikant. Mit der Verkehrung einer Ermittlungstechnik der Pinkertons zum zentralen Indiz, das zur Lösung der Mordfalles entschlüsselt werden muss, parodiert Twains Roman die Konventionen des Genres und schreibt sich in die dramatische Form der Travestie ein. Die theatralische Ermittlungstechnik wird in ein poetologisches Programm übersetzt, das letztlich bezweckt, die Komplexität und Volatilität differentieller Identitätsmarker gegen das Wissen der eindeutigen Identifikation auszuspielen, das die Daktyloskopie generiert. Dieser Kontrast erhöht sich in der Nacht des Mordes, in der Tom Driscoll für seinen geplanten Raub nicht nur Frauenkleider anlegt; wir lesen auch: »Then he blacked his face with a burnt cork [...]«.51 Es lohnt zu beschreiben, was sich hier ereignet. Der Sklave Tom Driscoll, dem es aufgrund seiner nicht eindeutig in der visuell organisierten, dichotomen Rassenepistemologie klassifizierbaren Hautfarbe gelingt, unerkannt als potentieller Erbe der als Kaste markierten Klasse der Sklavenhalter aufzutreten, verkleidet sich nicht nur als Frau, um seine geschlechtliche Identität zu verdecken, sondern codiert in einer ironischen Pointe eine Maskierungspraxis des Einbrechers in die kulturelle Darstellungspraxis des blackfacing um. Diese Praxis kann im Kontext der Minstrel Shows als Auslagerung von das System der Sklaverei konstituierenden xenophoben Ängsten und sexuellen Begehren auf die afroamerikanischen Anderen begriffen werden.52 Für Eric Lott manifestiert sich in dieser Szene »the implicit argument in Pudd’nhead Wilson between social and genetic explanations for ›racial‹ behavior«:53 Indem rassische Herkunft theatralisch zur Inszenierung kommt, ist zwar der performative Charakter von Identität betont, aber da diese kulturelle Praxis auf der rassistischen Blutklassifikation beruht, gründet das Theatralisch-Performative bereits im Biologischen. Und sicherlich kann Tom Driscolls Auftritt als »a black man’s

51 Ebd., S. 99. 52 Wie Eric Lott schreibt, drücken Minstrel Shows »an anxiety over the fact of ›cultural borrowing‹« aus, indem sie die Paradigmen der miscenegation und der Sklaverei in einem Akt kultureller Aneignung Fantasien des kulturellen Anderen, die das rassenepistemologisch begründete System stabilisieren, zur Darstellung bringen. Vgl. Eric Lott: »Love and Theft: The Racial Unconscious of Blackface Minstrelsy«, in: Representations 39 (1992), S. 23-50, hier S. 39. 53 Eric Lott: »Mr. Clemens and Jim Crow: Twain, Race, and Blackface«, in: Forrest G. Robinson (Hg.), The Cambridge Companion to Mark Twain, Cambridge u.a. 1995, S. 129-152, hier S. 145.

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whiteface performance«54 markiert werden – eine Identifizierung, die Lotts Schlussfolgerung ermöglicht: »Twain in Pudd’nhead Wilson was so attuned to the racial complexities of his time as to be incapable of critical distance from them«.55 Diese Argumentation muss um die Praxis der Travestie ergänzt werden, die eine andere dramatische Darstellungstradition konnotiert. Über die Frauenkleider ist auch Toms Mutter Roxana implizit in die Szene eingeschrieben. Zwar mag die Kombination von blackfacing und Travestie die Rassenepistemologie auf dem Level des Theatralischen bestätigen, aber die doppelte symbolische Einschreibung von Roxana/Tom in den Mord an Richter Driscoll eliminiert zunächst einmal den letzten etablierten Repräsentanten der feudalistischen Ordnung der Sklaverei. Die eigentliche Tragik des Romans zeigt sich erst mit der Machtübernahme David Wilsons, der über die Identifizierungstechnik der Daktyloskopie, die der Roman vor den Beginn des Bürgerkrieges rückversetzt, die Rassenepistemologie unter den Bedingungen des Gilded Age fortschreibt. Die Entdeckung der Travestie als clue führt Wilson, der aufgrund der auktorialen Erzählhaltung diesbezüglich mit einem Informationsdefizit gegenüber dem Leser ausgestattet ist und mit Hilfe dieses Defizites im Roman vorgeführt wird, zu einem Eingeständnis: »›a man in girl’s clothes never occurred to me‹«.56 Maskerade als Strategie der Identitätsdestabilisierung kann diesem methodischen Sammler und Klassifizierer nicht ins Ordnungssystem passen. Die Entdeckung der Travestie bereitet den Moment der eigentlichen Epiphanie vor, der Erkenntnis, dass Roxana die beiden Kinder vertauscht haben muss. Diese Epiphanie hängt wiederum von einem Traum ab. Vom bis dahin ergebnislosen Vergleich des gesamten Archivs seiner Fingerabdrücke erschöpft, schläft Wilson in der Nacht vor dem entscheidenden Verhandlungstag ein: »He slept through a troubled and unrestful hour, then unconsciousness began to shred away and presently he rose drowsily to a sitting posture. ›Now what was that dream?‹ he said, trying to recall it; ›What was that dream? – it seemed to unravel that puz–‹«.57 Die Lösung des Falles wird in das Unbewusste verlagert, womit das vermeintlich rationale Kalkül der konventionellen Detektivfigur unterlaufen ist. Zitiert der Roman das genialische Moment jenseits kognitiver Hermeneutik, das dem Meisterdetektiv eignet, entschärft der Wissensvorsprung, den der Roman dem Leser gewährt, diese Konstruktion des Genialischen bereits. Aber das Unbewusste meint hier, so denke ich, auch ein gesellschaftliches, politisches Unbewusstes und kündigt die

54 Ebd. 55 Ebd., S. 149. 56 Ebd., S. 109. 57 M. Twain: Pudd’nhead Wilson, S. 110.

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brüchige Kontinuität der Rassenepistemologie über den Systemwechsel hinweg an, den David Wilson repräsentiert. Zudem fällt der Moment der Erkenntnis mit einem dargestellten Sprachversagen zusammen (»puz-«), womit das Rätsel, das mit dem Geheimnis der Vertauschung, der miscegenation und des passing, konstituiert wurde, als etwas Unaussprechliches markiert wird. Wilson spricht weiter: »It’s so! Heavens, what a revelation! And for twenty-three years no man has ever suspected!« Für die Leserin ist dies alles andere als eine genialische oder religiöse Offenbarung. Mit Blick auf die epistemologische Ordnung und den retrospektiv inszenierten Übergang zwischen Systemen allerdings gewinnen die 23 Jahre der erfolgreichen Vertauschung ein anderes Gewicht: die Rassenepistemologie der eindeutigen Trennung ist längst prekär geworden, und um sie aufrecht zu erhalten, ist ein umfangreicher Verifizierungsapparat notwendig. Wilson, der Dummkopf, erkennt hier freilich nicht, wie sehr ihn im Moment der Erkenntnis seine eigene Sprache verrät. Motiviert, den unschuldigen Luigi retten zu können, bringt er im großen Finale seine pantografisch vergrößerten Fingerabdrücke in den Gerichtssaal. Wilsons Beweisführung ist theatralisch inszeniert. Sein mehrere Seiten langer Monolog ist mit eingeklammerten Kommentaren über die Reaktionen des gebannten und sensationshungrigen Publikum versehen. Der Auftritt erinnert an eine Zaubershow. Führt der Roman das Handlesen als schwarze Magie und Wissenschaft ein, verfährt er bei der Öffentlichmachung der Daktyloskopie ähnlich, was eine profunde Skepsis des Textes ob des Nutzens dieser Technik der eindeutigen Identifizierung indiziert und eine Distanzierung von der Logik detektivischer Beweisführung bedeutet. In einer oft zitierten Passage erklärt Wilson dem Gericht und den Schaulustigen das Prinzip der Daktyloskopie: »Every human being carries with him from his cradle to his grave certain physical marks which do not change their character, and by which he can always be identified – and that without shade of doubt or question. These marks are his signature, his physiological autograph, so to speak, and this autograph cannot be counterfeited, nor can he disguise it or hide it away, nor can it become illegible by the wear and the mutations of time. This signature is not his face […] there is no duplicate of it among the swarming populations of the globe.«58

Die eindeutige Identifizierbarkeit ist in jeden Körper als Markierung eingeschrieben. In diesem Sinn fungiert der Körper als ein Zeichen, das entziffert werden kann. Wenn es heißt, die physischen Markierungen »do not change their

58 Ebd., S. 114.

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character« ist damit nicht unbedingt gemeint, der Charakter eines Individuums sei unveränderlich, aber zumindest, dass Gestalt und Struktur dieser Markierung einen unverwechselbaren Abdruck, ein eindeutiges Schriftbild abgeben. Der Vergleich mit der Signatur zitiert die kulturelle Vorstellung einer unverwechselbaren Handschrift auf, die oft als kondensiertes Zeichen von Charakter, Persönlichkeit und Identität verstanden wurde, und verlagert sie auf die Hand, also an die Oberfläche des Körpers. Als Autogramm ist der Fingerabdruck nicht nur fälschungssicher, er kann auch nicht verborgen oder verschleiert werden und widersteht den Mutationen der Zeit. All diese Signifikanten – »counterfeit«, »disguise«, »mutations« – sind vom Text bewusst gesetzte Echos der diversen Strategien der Fälschung, Verkleidung und Verwandlung, die der Roman bis dahin inszeniert hat. Am zentralsten ist jedoch das explizite Statement, die eindeutige und unverwechselbare Signatur sei nicht das Gesicht. Damit ist zum einen die romantische Vorstellung von den Augen als Spiegel der individuellen Seele zurückgewiesen; zum anderen wird hier die Rassenepistemologie, die sich teils visuell über die Klassifizierung der Hautfarbe manifestiert, als valider Marker der Identifikation, wenn auch nicht unbedingt der Identität, destabilisiert. Aus dem metapoetischen Blickwinkel auf das Verhältnis des Romans zur Gattungskonvention lässt sich eine weitere Lektüre der zitierten Passage ergänzen. Dann etabliert sich eine Analogie zwischen dem eindeutigen Fingerabdruck und einer Geste singulärer Autorschaft, die sich von den Massenproduktionen des Genres der Detektivgeschichte abzugrenzen sucht. In diesem Sinn reklamiert die Passage auch die Unverwechselbarkeit des Autors Twain, dessen Texte sich auf semiotischer wie semantischer Ebene permanent epistemischer Eindeutigkeit zu entziehen suchen, auch wenn sie unweigerlich mit den gegebenen Differentialen operieren.

VIII. David »Pudd’nhead« Wilson, diese seltsame Figur, über die Twain die Daktyloskopie experimentell in die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurückverlagert, steigert sich im Verlauf seiner Enthüllung in einen manipulativen Rausch, den der Text zugleich als bewusst dramatisiert und kontrolliert darstellt. Wenn Wilson in dem Augenblick, da er Tom Driscoll als Valet de Chambre identifiziert, Tom auffordert: »make upon the window the finger-prints that will hang you!«, 59 dann kann darin nicht nur eine bewusste Entblößung des sensationslüsternen Publikums ge-

59 Ebd., S. 120.

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sehen werden. Mit der drastischen Forderung nach dem Erhängen, die mit dem moderaten, technokratischen Kalkül der vermeintlich neuen Ordnung kontrastiert, deren Repräsentant Wilson ist, stellt der Text auch eine Parallele zwischen dem Feudalrecht der Sklaverei und der Lynchjustiz des Südens her, die unter den Segregationsgesetzen um 1890 einen neuen Höhepunkt erreicht. Doch Valet de Chambre wird weder gehängt, noch kommt er dazu, die lebenslängliche Haftstrafe anzutreten, die letztlich vom Gericht verhängt wird. In der Conclusion, die hier nicht zuletzt die Funktion hat, Wilsons Beweisführung und Schlussfolgerungen zu unterlaufen und mithin den Fortbestand des Systems der Sklaverei als das eigentliche Verbrechen auszuweisen, wird Valet de Chambre wieder zum Eigentum und zur ökonomischen Ware.60 Da Richter Driscoll mit seinem gerafft erzählten Tod eine substantielle Menge an Schulden hinterlassen hat, wird Valet »politisch« begnadigt, um als Teil der Erbschaft, die nun dem rechtmäßigen Tom auch nur teilweise zufällt, an die Gläubiger verkauft werden zu können. Gewährt der Roman ihm und seiner Mutter Roxana als einzigen Figuren eine substantielle Psychologisierung sowie zeitweise Verwandlungen und stattet sie so mit einer komplexen Identität aus,61 stellt Wilsons Identifikationstechnik des Fingerabdruckes das System der Sklaverei zumindest in Bezug auf Valet wieder her. Der retrospektive Roman verweist somit über die Verlagerung der Daktyloskopie in die Zeit vor dem Bürgerkrieg auf die Kontinuität zwischen feudalistischer und kapitalistischer Ordnung, entblößt deren wechselseitige Bedingtheit. In diesem Sinn entlarvt Mark Twains historischer Kriminalroman bereits am Ende des 19. Jahrhunderts jene Mythologien, die der Historiker Edward E. Baptist in einem kürzlich erschienen Buch als persistente Mythologien sowohl des kulturellen Gedächtnisses als auch der Forschung zur Sklaverei offengelegt hat. Baptist identifiziert und kritisiert drei prävalente Vorannahmen der Geschichtsschreibung und deren Implikationen. Erstens wendet er sich gegen ein Narrativ, das besagt »American slavery was fundamentally different from the

60 Der Umstand, dass der Roman mit einer Conclusio schließt, die – wenn auch in arg geraffter Form – erzählt, was sich nach der Überführung des Täters ereignet, indiziert einen weiteren Bruch mit der Konvention der Gattung. Mit der Form der Conclusio markiert der Roman die Rechtsordnung samt ihrer detektivischen Ermittlungstechniken als unzureichend, um die Epistemologien und sozialen Bedingungen zu verstehen, die den Fall als solchen überhaupt erst konstituieren. 61 Eine Deutung des Romans über die Figur Roxanas bietet Carolyn Porter: »Roxana’s Plot«, in: S. Gillman and F. G. Robinson (Hg.), Marx Twain’s Pudd’nhead Wilson, S. 121-136.

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rest of the modern economy and separate from it«.62 Diese Erzählung, so Baptist, bezweckt, die Industrialisierung als Schöpfungsgeschichte weißer Immigranten und cleverer Investoren zu imaginieren, lässt aber die Sklaven, die als Ressourcen für die Industrialisierung ausgebeutet werden, außen vor. Zweitens unterminiert Baptist die verbreitete Annahme, »that slavery was fundamentally in contradiction with the political and economic systems of the liberal republic, and that inevitably that contradiction would be resolved in favor of the free-labor North«.63 Die Sklaverei ist stattdessen der Grundstein dieses politischen und ökonomischen Systems, und das heroische, progressive Befreiungsnarrativ eines unweigerlichen Siegeszuges des Nordens übertüncht die historischen Bruchstellen ebenso wie die systemischen Kontinuitäten. Drittens wendet sich Baptist gegen ein Narrativ, das die schlimmste Auswirkung der Sklaverei darin sieht, Afroamerikanern »the liberal rights and liberal subjectivity of modern citizens«64 verweigert zu haben. Diese Erzählung tendiert dazu, die Tötungen, die Ausbeutungen und die Enteignungen von (ehemaligen) Sklaven zu unterschlagen. Auf dem systemischen Level der Sklaverei gewährt Twains Roman Roxy als einziger Figur eine Art Kompensation moralischer Schuld und ökonomischer Schulden. Der eigentliche Tom Driscoll, »the young fellow upon whom she had inflicted twenty-three years of slavery«65 und der mit dem vierten Kapitel aus dem Text verschwunden war, taucht in der Conclusio wieder auf. Er gewährt einer emotional gebrochenen Roxy die Fortzahlung der »pension of thirty-five dollars a month«,66 die sie sich in einem langwierigen Prozess von ihrem leiblichen Sohn und illegitimen Erben erkämpft hat, der sie, seit sie ihm seine Herkunft offenbarte, großenteils mit Verachtung gestraft hat. Dieser Moment der Versöhnung bezieht auf der charakterpsychologischen Ebene seine Motivation daraus, dass sich Tom, der über Dekaden als der versklavte Valet gelebt hat, nicht an die neu gewonnene Situation, nun »rich and free« zu sein, gewöhnen kann; er ist habituell zum Sklaven geworden, wobei der Text hier eine soziokulturelle Definition des Sklaven meint: »his manners were the manners of a slave«.67 Er lebt nun als Freier unter Sklaven. Auf der systemischen und symbolischen Ebene, so denke ich, suggeriert der Roman mit der Pensionszahlung an Roxy das vage Potenti-

62 Edward E. Baptist: The Half Has Never Been Told. Slavery and the Making of American Capitalism, New York 2014, S. xviii. 63 Ebd. 64 Ebd., S. xviii-xix. 65 M. Twain: Pudd’nhead Wilson, S. 120. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 121.

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al für eine moralische Aussöhnung, die jedoch nur dann erkannt werden und Gewicht erlangen kann, wenn sich eine neue Generation von weißen Machthabern und Erben auf die afroamerikanische Bevölkerung zubewegt und anerkennt, was dieser rechtlich, politisch und ökonomisch an Reparationen zusteht. Noch ein letzter, literaturhistorischer Punkt sei vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Lektüre gestattet. Pudd’nhead Wilson erlaubt die Versetzung jener institutionalisierten Ursprungserzählung der nordamerikanischen Kriminalliteraturgeschichte, die mit Edgar Allan Poe beginnt. Poe verschiebt in seiner Dupin-Trilogie die kulturellen und politischen Ängste der antebellum period nach Paris. Um die Dupin-Erzählungen an Amerika rückzubinden, bedarf es einer allegorischen Lektürestrategie. Die Wahl des Schauplatzes Paris und der nordtransatlantische Transfer lassen sich zum Teil wissenshistorisch erklären, denn die Institutionalisierung der Kriminalistik als interdisziplinäres Feld in Form spezieller Ermittlungsbehörden und -techniken nimmt in Europa ihren Anfang.68 Dies bedeutet allerdings auch, dass zwar die Positionierung Poes als Gründungsfigur, die die Gattung der Kriminalerzählung salonfähig gemacht hat, auf einer nordtransatlantischen Ebene zutrifft, jedoch im nationalkulturellen Kontext einer nordamerikanischen Literaturgeschichtsschreibung, die die historische Bedeutung der Kriminalerzählung im 19. Jahrhundert herausarbeiten will, revidiert werden kann. Genau hier lässt sich Mark Twains Pudd’nhead Wilson in

68 Das Berliner Criminalgericht, die französische Sûreté, dessen erster Direktor bezeichnenderweise der ehemalige Straftäter Eugène François Vidocq war, und die britische Scotland Yard wurden allesamt im frühen 19. Jahrhundert gegründet und können m. E. als Effekte rechtsreformistischer Bestrebungen im Übergang vom Feudalismus zu Formen moderner Vergesellschaftung verstanden werden, die mit Rechtsphilosophen des 18. Jahrhunderts wie Jeremy Bentham zu verbinden sind. Diese Institutionen der Exekutive sind der Sammeldisziplin der Kriminologie historisch vorgängig, die sich im Zuge des positivistischen Wissenschaftsparadigmas entwickelt und die mit den Signaturen Alphonse Bertillons, Havelock Ellis’ und Cesare Lombrosos verknüpft ist. Zur Differenzierung zwischen klassischer und positivistischer Kriminologie vgl. Clarence Ray Jeffrey: »The Historical Development of Criminology«, in: Journal of Criminal Law and Criminology 1 (1959): S. 3–19. In den USA geht, wie ich in den Abschnitten zu Pinkerton betont habe, eine private Miliz der institutionellen Entwicklung nationaler Strafverfolgungsbehörden voraus. 1865 wird zwar der Secret Service installiert, bleibt aber lange Zeit auf die Verfolgung von Falschgelddelikten beschränkt. Das F.B.I. entwickelt sich als binnennationale, zentrale Verbrechensbekämpfungsbehörde sukzessive aus dem erst 1908 gegründeten Bureau of Investigation.

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Form einer literaturhistorischen These ins Spiel bringen: Der Text markiert den geeigneteren Beginn einer Kriminalliteraturgeschichte Nordamerikas, weil in ihm die Bedingungen der Brüche und Kontinuitäten einer politischen, rechtlichen, sozialen und ökonomischen Ordnung verhandelt werden, in der unterschiedliche Wissensformationen auf dem Prüfstand stehen, die primär den Bürgerkrieg und mithin das System der Sklaverei betreffen und damit die graduelle nordtransatlantische Institutionalisierung einer positivistischen Kriminologie nationalkulturell rückbinden.

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Die Großstadt schreiben Zur literarischen Unterwelt der Städte um 19001 S COTT S PECTOR (A NN A RBOR )

Die Opposition von Licht und Dunkel bestimmt Hans Oswalds Buch Dunkle Winkel in Berlin (1904), wobei diese dunklen Winkel und Ecken farbenfroh gezeichnet werden. »Ein dunkelster Winkel Berlins, die Gegend am Oranienburger Tor, hat die hellste Beleuchtung, das bunteste Treiben.«2 Die Erkenntnis, dass »dunkle Taten das Licht nicht immer scheuen«, rechtfertigt es um so mehr, die Straßen in selbiges zu tauchen, was – wie der Verfasser hofft – sein Buch tun wird. »Unsere moderne Wissenschaft«, merkt Ostwald an, »unsere moderne Weltanschauung ist so weit gediehen, dass wir jetzt getrost vor manchen bisher verpönten Sachen die Augen öffnen dürfen.«3 Der Widerspruch, den die Faszination der »dunklen Großstadt« enthält, ist mit dem aufklärerischen Vertrauen in die Moderne, an die Durchsetzung von deren Wissen und Weltanschauung eng verknüpft. Dieses Vertrauen ermöglicht es, dass Dinge, die bislang zu fürchterlich waren, um sie anzusehen, in diesem Rahmen gelassen betrachtet werden können. Die Anfangssätze verbinden die Aufklärung ohne jedes Zögern mit der modernen Gegenwart (und mit diesem »wir«). Es ist eben dieses fehlende Zögern, das die Sicherheit, etwas in den Blick zu nehmen, das zuvor nicht offen betrachtet werden konnte, leitet. Ostwalds Buch war das erste einer Sammlung, die sich letztendlich auf 51 Studien belief, mit dem Titel Großstadt-Dokumente. Laut Ostwald (selbst Be-

1

Der Beitrag ist Teil des demnächst erscheinenden Buchs Violent Sensations: Sexuali-

2

Hans Ostwald: Dunkle Winkel in Berlin, Berlin und Leipzig 1904 [=Großstadt-

3

Hans Ostwald: »Vorwort«, in: ders., Dunkle Winkel in Berlin, S. 3-4, hier S. 4.

ty, Crime and Utopia in Vienna and Berlin, 1860-1914, Chicago 2015. Dokumente (GD), 1], S. 31.

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gründer und Herausgeber der Reihe) sollen sie sämtlich »Licht verbreiten« über diese dunklen Viertel und einen »Wegweiser durch dies Labyrinth der Metropole«4 bereitstellen, indem allerlei Experten den neugierigen Leser durch das Chaos der riesigen modernen Stadt führen würden. Aber dieses bis dahin unaussprechliche Chaos – die Welt der Prostitution und Kuppelei, von Perversion und aus dem Rahmen geratenen Geschlechterverhältnissen, von Glücksspiel, unanständigen Ablenkungen, Bohemiens und Kriminalität – schienen die »dunkeln Ecken« der Großstadt nicht nur ermöglicht, sondern überhaupt erst hervorgebracht zu haben. Das Tabu bestand dabei nicht in einem seit Urzeiten bestehenden Verbot, das ewig Unsagbare zu sagen, sondern schlicht in der Unmöglichkeit, die andere Seite der Zivilisation zu benennen. Diese ist gleichermaßen das Produkt der modernen Kultur wie es Wissenschaft und Kunst sind. Wie ein anderer Autor der Reihe es formulieren wird: »Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden, und Berlin ist nicht über Nacht zur Großstadt geworden.«5 Während Paris im neunzehnten Jahrhundert als die Stadt des Lichts galt, war man sich weltweit darüber einig, dass die Nächte nirgends so verlockend sein konnten wie in Berlin. Über den Vergleich mit Paris und London hinaus, der in solchen Texten üblich war, ruft dieser Autor das antike Rom stellvertretend für alle anderen Hauptstädte der Menschheit in Erinnerung, die von Berlins »Taumel der Sinnlichkeit« übertroffen wurden im Moment ihres hellsten Aufscheinens als Leitsterne der Weltkultur.6 Wenn die moderne Metropole also den Höhepunkt der Zivilisation darstellt, ist sie in demselben Maße Schauplatz neuer Arten von Schrecken für die Weltgeschichte. Das Nebeneinander vom Stolz auf den Fortschritt der Zivilisation und einer ausgeprägten Abscheu (vermutlich in Verbindung mit einem gehörigen Nervenkitzel) für die städtische Unterwelt ist bekannt: Im Wilhelminischen Deutschland und dem späten habsburgischen Österreich waren die beiden Positionen gleichrangige Stereotype, die nicht als Widerspruch aufgefasst wurden. Bei genauerer Betrachtung stellt sich diese Merkwürdigkeit allerdings als ein aufschlussreiches Paradox heraus: Der optimistische Anspruch, dass unsere fortgeschrittene Zivilisation nun in der Lage ist, sich ihrem eigenen degenerierten Zustand zu stellen. Denn die Blüte der Bilder und Texte, die den Niedergang der Epoche, der in der modernen Stadt seine Verkörperung findet, belegen, wurde von einer stattlichen

4

Ebd.

5

Satyr [=Richard Dietrich]: Lebeweltnächte der Friedrichstadt, Berlin 1906 [=GD 30],

6

Vgl. ebd., S. 7-8.

S. 7.

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Reihe anderer Gattungen, Instrumente, Disziplinen und Institutionen begleitet, die auf die Fähigkeit der Moderne vertrauten, diese von ihr selbst hervorgebrachten Wunden zu heilen.7 Die enge, doch komplizierte Beziehung zwischen diesen beiden Impulsen ist von einiger Bedeutung. Sie tritt allerdings erst dann hervor, wenn diese in ihrem Wechselspiel untersucht und nicht einfach abgetan werden. Dasselbe gilt von der impliziten Sensationslust in Ostwalds vorgeblich wissenschaftlichem Anliegen, die zwielichtige Schattenseite des Stadtlebens zu verstehen, die auch in dem obigen Zitat anklingt. Bei einer strikten Trennung positiver und negativer Beurteilungen der Großstadt um die Jahrhundertwende ist das Pittoreske der städtischen Unterwelt eine der Schwierigkeiten. Eine Darstellung der Großstadt ohne Verbrecher, Prostituierte und Perverse gleicht einer Vorstellung des Landlebens ohne Landschaft. Vor diesem Dilemma sah sich eine Wochenzeitung in Berlin, Illustrierte Wochenrundschau über das Berliner Leben, die es sich zu Aufgabe machte, ein positives Bild des florierenden Lebens der neuen Hauptstadt zu zeichnen.8 In der dritten Nummer wurde ein Artikel von einem gewissen A. von Zerbst über Kriminelle in der Stadt abgedruckt, in dem eher optimistisch als kohärent die Wahrnehmung von Kriminalität in der Stadt diskutiert wurde. Zunächst argumentiert Zerbst dafür, dass die Kriminalität in Wirklichkeit nicht in dem Maße zunehme wie es den Anschein habe, weil der scheinbare Anstieg in einem proportionalen Verhältnis zum schnellen Bevölkerungswachstum stehe. Im Weiteren dient das Zitat eines Wissenschaftlers als Beleg dafür, dass – wie natürliche ökonomische Zyklen beweisen – eine wachsende Kriminalität tatsächlich das Resultat eines finanziellen Aufschwungs nach der Gründung des geeinten Deutschlands sei (und somit Kriminalität zum Zeichen des Erfolgs werde). Schließlich wendet sich der Autor einer ausführlichen Beschreibung eines stark zunehmenden, neuen beliebten Genres zu: den »Hintertreppen-Romanen«, sensationslustige »Romane in Groschen-Lieferungen«, die »wimmeln von Verbrechen der tollsten, raffiniertesten, grausamsten Art«, und meist in Form von Fortsetzungen und über

7

Ein Bereich innerhalb der Bände füllenden Literatur über Stadt-Diskurse widmet sich der Dimension des Geschlechtes in diesen Diskursen: Die feminine Vorstellungswelt wird der Stadt des Mysteriösen, der Sexualität und des Verbrechens zugeordnet, sie steht den maskulinen Fantasien wissenschaftlicher Beherrschung gegenüber. Vgl. etwa Katharina von Ankum (Hg.): Women in the Metropolis: Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley 1997 und Rita Felski: The Gender of Modernity, Cambridge 1995.

8

Vgl. A. von Zerbst: »Berliner Verbrecher«, in: Illustrirte Wochenrundschau über das Berliner Leben 1,3 (1894), S. 20-22.

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persönliche Zustellung an die Abonnenten verbreitet wurden. Der Herausgeber schaltet sich mit einem »na-na« ein, um auf seine Missbilligung der Profitinteressen skrupelloser Autoren und Verleger hinzuweisen, deren Arbeit in offensichtlichem Zusammenhang mit dem Aufkommen eben solcher Verbrechen in der Stadt stand, die sie darstellten: »die Phantasie wird rege«.9 Zerbst springt ebenso mühelos von Darstellung zu eigener Imagination und weiter zu sozialer Wirklichkeit wie er seinen eigenen Ort innerhalb der neuen von ihm dargestellten Sensationsliteratur verbirgt. Dieser Stil der Reportage ist in der Tat typisch für Zerbsts Texte und etliche der neuen Gattungen in Kriminal-Journalen und Detektiv-Magazinen. Die moralisierende Stimme des aufgeklärten Reformers gibt den Rahmen für eine bunte oder sogar grelle Schilderung der heruntergekommenen Welt, die von der fehlgeleiteten Politik erzeugt wurde. Die Zunahme von sensationslustigen Texten über die Schattenseite der Stadt wurde allgemein anerkannt, häufig (wie in diesem Zitat) so, dass dasselbe brennende Interesse, von dem berichtet wurde, dabei zutage trat. Die Tendenz lässt sich überall beobachten, von der Schundliteratur bis zu Kriminal-Journalen, von Polizei-Rundschreiben bis zur kommerziellen Presse. Angesehene Zeitungen betrieben ihre Sensationspraxis lediglich subtiler als die Boulevardpresse, wo eine Schlagzeile wie »Mord? Ein mysteriöser Vorfall im dunkelsten Berlin« an den Titel eines Kriminalromans erinnert.10 Tatsächlich stellt der Artikel eine schematische Karte des betreffenden Stadtteils bereit, um seine Leser durch diesen einen dunklen Winkel zu führen. Die Unterwelt, die in diesen Texten dargestellt wurde, war reich und vielfältig, chaotisch zufällig mit ihrem Gewaltpotential und doch feinsäuberlich ausgemessen und geordnet. Sie war, wie in Zerbsts Vorstellung von Berliner Kriminellen impliziert, eine Widerspiegelung der modernen Großstadt selbst, wenn nicht eine Sphäre unvergleichlicher menschlicher Anstrengung und Produktivität: »Alle Verbrecher arbeiten an dem künstlichen Ausbau ihres Systems, welches grade dadurch so interessant und gemeingefährlich ist, dass niemals ein Verbrecher einer bestimmten Species allein zum Ziele gelangen kann, sondern sich des Beistandes von mehreren Spießgesellen versichern muß.«11

9

Ebd., S. 21f.

10 Der Reporter beschreibt in dramatischer Weise die Zuhälter und Prostituierten, die in diese Fälle verstrickt waren als »gefährliche Treiber der Zuhälter und Dirnen, die […] so oft bei Mordprozessen in Berlin die Hauptrolle gespielt haben«, in: Berliner Morgenpost, 16. Oktober 1900, S. 242. 11 A. von Zerbst: »Berliner Verbrecher«, S. 20f.

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Ein Bericht aus derselben illustrierten Zeitschrift bietet einen Rundgang durch Berlins verschiedene Strafinstitutionen und zu ihren Insassen. Das soziale System innerhalb der Mauern dieser Gefängnisse erinnert an die Hierarchien der Millionenstadt: Jede soziale Position wird von Delegierten repräsentiert, die für ein für ihre Funktion typisches Verbrechen bestraft wurden.12 So sind Beamte der Post und des Gerichts inhaftiert aufgrund von Unterschlagung, Lehrer wegen Sittlichkeitsvergehen oder Überschreitung des Züchtigungsrechtes, Kaufleute wegen Betrugs; am unteren Ende stehen Tischler und Schlachter, die anderen Körperverletzungen zufügten, spielende Bäcker, stehlende Laufburschen, Hausdiener und Kutscher und schließlich die Kellner, mit all den Verbrechen, die ihr Umgang mit der Öffentlichkeit ermöglicht. Der Gefängnisrundgang ist nicht untypisch für voyeuristische Texte über die Schattenseite der Stadt, die eine unbekannte Welt zur Schau stellt, genau so wie sie das kaum verborgene Wesen einer wohl bekannten bloßlegt: Korruption im ökonomischen und im Amtsleben, ein Bildungssystem voller Missbrauch, Gemeinheit, Lüsternheit und Gier, das die den Lesern bekannte Wirklichkeit ebenso prägte wie die außerhalb ihrer Erfahrungswelt. Darauf, dass Darstellungen der kriminellen Unterwelt in dieser Zeit ein Spiegelbild der bürgerlichen Gesellschaft sind, so wie der professionelle Gauner ein Gegenstück zum respektablen Bürger bildet, wurde bereits häufig hingewiesen.13 Es liegt nahe, dass Autoren und Leser der Zeit sich dieser narrativen Strukturen bewusst waren. Diese Beobachtung rechtfertigt allerdings nicht, die Bedeutung dieser Texte auf moralische Belehrungen zu reduzieren, die einer disziplinierenden Autorität zum Zweck der Formung einer gehorsamen und produktiven Bürgerschaft dienten. Was die Identifizierungs- und Distanzierungsstrategien der Leser waren und was diese – trotz allen Wiederholungen – komplexen Fantasien motivierte, sind bedeutsame Fragen. Anstelle voreiliger einfacher Antworten verlangen sie die sorgfältige Lektüre einer breiten Palette kultureller Erzeugnisse, angefangen mit den neuen Gattungen der Großstadtliteratur.14

12 Vgl. A. von Zerbst: »Ein Blick in die Berliner Gefängnisse«, in: Illustrirte Wochenrundschau über das Berliner Leben 1,6 (1894), S. 43-44. 13 Vgl. z. B. Richard J. Evans: Tales from the German Underworld, New Haven und London 1998, und Peter Becker: Verderbnis und Entartung: Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002, bes. S. 177-248. 14 Die literarischen Gattungen der Kriminalromane und Detektivgeschichten, der Groschenromane etc. sind aufs Engste mit den Werken verbunden, die hier thematisiert werden; vgl. die ausführliche Diskussion im ersten Kapitel meiner Monographie Vio-

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Eines der am breitesten angelegten Romanprojekte einer sensationsreichen Darstellung der städtischen Unterwelt ist die oben erwähnte Reihe von Studien, die Hans Ostwald herausgegeben hat. Ostwald, ein Autodidakt aus der Arbeiterklasse, ein umherziehender Handwerker, der zum Journalisten wurde, plante eine Folge von Studien, die diese unsichtbare, tabuisierte Welt ans Licht bringen würde: Großstadt-Dokumente.15 In einundfünfzig Bänden, die zwischen 1904 und 1908 veröffentlicht wurden, boten Insider-Experten ihrem neugierigen Publikum Einsichten vor allem aus Berlin und Wien, die gleichermaßen persönlich und wissenschaftlich waren. Die offizielle Haltung der Serie in Hinblick auf die moralische Ausgewogenheit der modernen Großstadt war ambivalent: »Die letzten Jahrzehnte haben diese imponierenden Menschenanhäufungen geschaffen, die wir Großstadt nennen. Selbst wer ihre abscheulichen Mängel erkennt und haßt, wird ihr doch einen gewissen Kulturwert nicht absprechen. Und wer ihren Kulturwert preist, wird ihre Mängel nicht übersehen dürfen.«16

Die Themen der ersten zehn Bände, die alle 1905 veröffentlicht wurden, führen aus, was Ostwald in dem eingangs zitierten Vorwort über Berlins dunkle Winkel und Ecken andeutet. Dem folgen die Studie über Berliner Bohemiens des Theaterratgebers und Kritikers Julius Bab, dann die bahnbrechende ethnografische Studie über Berlins »drittes Geschlecht«, Männer die das gleiche Geschlecht lieben, des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld. Im Weiteren erschienen eigene Studien über Tanzlokale und Zuhälter von Ostwald, gefolgt von Studien über religiöse Sekten, Kaffeehäuser, Banken, Untergrund-Anarchismus und Sport. Es folgte eine Reihe von Wien-Bänden, die ebenfalls Themen über die

lent Sensations: Sexuality, Crime and Utopia in Vienna and Berlin, 1860-1914, Chicago 2015 (im Erscheinen). Für eine Bibliographie der klassischen Standardliteratur bis 1978 vgl. z.B. Hans-Otto Hügel: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1978, S. 340-353. Eine hervorragende neuere Untersuchung zur Verbindung zwischen den Gattungen und deren Einfluss auf die Literatur gibt Todd Herzog: »Crime Stories: Criminal, Society, and the Modernist Case History«, in: Representations 80 (2002), S. 34-61. 15 Vgl. Peter Fritzsche: »Vagabond in the Fugitive City: Hans Ostwald, Imperial Berlin and the Grossstadt-Dokumente«, in: Journal of Contemporary History 29,3 (1994), S. 385-402 und Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die »Großstadt-Dokumente« (1904-1908), Köln u.a. 2006. 16 H. Ostwald: »Vorwort«, S. 3.

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Unterwelt der glitzernden bourgeoisen Stadt enthielten, insbesondere Verbrechen und Sexualität, aber auch die vielfältigen Erfahrungen der höheren Schichten. Diese Variationen betonen eine Spannung, die viele Selbstdarstellungen der neuen mitteleuropäischen Großstädte auszeichnet, wo der besondere Charakter der einzelnen Stadt mit dem allgemeinen Charakter der Großstadt als solcher nicht übereinstimmte. So war Berlin gleichermaßen das einzigartige Ergebnis seiner Geschichte und einer bestimmten Sorte von Typen wie es auf dem besten Weg war der Großstadt schlechthin, London, zu ähneln. Wien war gleichermaßen in seinen traditionelleren Hierarchien gefangen, wie es dabei war ein neues Berlin zu werden. Den zwanzigsten Band von 1906, ein Bericht über lesbisches Leben in Berlin, prüfte die Zensur, was zu einem Gerichtsverfahren führte und schließlich zur Ersetzung durch einen Band über Berliner Pädagogen. Meist scheinen Ostwald und sein Verleger allerdings darauf bedacht gewesen zu sein, sich keinen Ärger mit dem Staat einzuhandeln, selbst als sie bei ihrem Interesse für Beststeller neue Wege beschritten.17 Zwischen 1905 und 1907 gab Ostwald außerdem eine Serie von zehn Bänden – geplant waren zwanzig – über Prostitution in Berlin heraus, die stilistische ähnlich, wenn nicht identisch war mit den Großstadt-Dokumenten.18 Ostwald geriet an diese Serie (oder in die Position sie an einen Verleger zu vermarkten), nachdem er eine kritische Würdigung und einigen Erfolg mit seinem »autobiographischen Roman« unter dem Titel Vagabunden, der sein Leben als Wanderarbeiter darstellt, erreicht hatte.19 Das im Jahr 1900 veröffentlichte Werk ist in einem abwechslungsreichen, gut lesbaren Stil geschrieben. Es stieß unter anderem aufgrund seiner ethnografische Darstellung einer Gesellschaft der Obdachlosen und Armen auf Interesse, einer Welt mit ihren eigenen Arten der Kommunikation und Interaktion und natürlich eigenen Existenzweisen. Er hatte also die Rolle eines Beobachter-Teilnehmers, sowohl innerhalb als auch außerhalb der exotischen Welt, die er darstellte.20 Die Bände der Reihe gehörten explizit nicht zur Schönen Literatur, sondern waren eine Mischgattung: Kein Kunstwerk konnte »den gewaltigen Stoff bewältigen«, nur »dass dann immer

17 Vgl. R. Thies: Ethnograph des dunklen Berlin, S. 129-131. 18 Mit dem Titel »Das Berliner Dirnentum«. 19 Vgl. Hans Ostwald: Vagabunden. Ein autobiographischer Roman, hg. von Klaus Bergmann, Frankfurt/Main 1980, vgl. auch die Einleitung des Herausgebers, S. 5-33. 20 Auch in Hinblick auf den Topos der Metropole lässt sich für ihn eine Doppel-Rolle als In- und Außenseiter denken: Er wuchs im Norden von Berlin im Arbeitermilieu auf, ehe er in der zentralen Periode seiner Jugend in eine Kreisstadt im westlichen Mecklenburg-Vorpommern zog.

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noch manches unbeantwortet bleibt«. So hatte er die Idee das Material kurz und präzise darzustellen, ohne das Künstlerische ganz aufzugeben.21 Teilweise hat man den Eindruck, als wollte er nur das ›reine Material‹ der städtischen Unterwelt wiedergeben und die wissenschaftliche Analyse jenen mit einer entsprechenden Ausbildung überlassen. Allerdings war das reine Material natürlich nicht sonderlich rein – der erste Band bestand aus Episoden, welche die verschiedenen dunklen Winkel der Stadt hervorbrachten, wobei vorgeblich mitgehörte Gespräche (in einer stilisierten, leicht verständlichen Version des Berliner Dialekts bzw. in einem Fall auf Jiddisch) zu literarischen Skizzen von Obdachlosigkeit, Kriminalität, Prostitution und Kuppelei wurden. Gleichzeitig stellen diese Texte als Sammlung die umfassendste ethnografische Arbeit über die Stadt in dieser Zeit dar. Sie sind Teil einer Tradition, die sich sehr viel weiter zurückverfolgen lässt, was die Gattung nicht nur breiter und umfangreicher, sondern auch tiefer macht. Jeder Kommentar zu einem dieser dünnen Bände wird heute die merkwürdig anzüglichen und patriarchalen Register der Texte sowie deren Schaulust betonen, die überall offensichtlich sind. Und doch war es eine Konvention dieser Bücher, war es das, was erkennen ließ, dass sie zu jener Gattung gehören, die sich während des neunzehnten Jahrhunderts entwickelte und ihre Ursprünge spätestens im vorangegangenen Jahrhundert hatte.22 Aufgrund von Beobachtern, die einen Insider-Status haben (Julius Bab, Magnus Hirschfeld und andere), wie auch aufgrund der Verwendung von Berichten von der Straße, mitgehörten Gesprächen, langen Zitaten aus Interviews mit entsprechenden Personen oder Korrespondenten und anderen Berichten aus erster Hand, waren die Arbeiten der Publizisten, die an dieser Reihe beteiligt waren, späteren Texten der kulturellen Anthropologie und Stadtsoziologie recht ähnlich. Es handelt sich dabei immer wieder um einen montage-artige Effekt, der das fragmentarische Material zwischen anderen Texten, von Zeitungsausschnitten bis zu Visitenkarten, anordnet. Darin zeigt sich eine spezifische, unausge-

21 H. Ostwald: »Vorwort«, S. 3. 22 Am ausführlichsten ist die Diskussion der London-Studien, insbesondere H. Mayhews London Labour and the London Poor (1851), Andrew Mearns’ The Bitter Cry of Outcast London: An Inquiry into the Condition of the Abject Poor (1883), Charles Booths Life and Labour of the People in London (1889-1897), William Booths In Darkest England and the Way Out (1890). Vgl. auch Gareth Stedman Jones: Outcast London: A Study in the Relationship between Classes in Victorian Society, Oxford 1971; Raymond Williams: The Country and the City, Oxford 1973, S. 221f. und Judith Walkowitz: City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in LateVictorian London, Chicago 1992, S. 24-39.

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sprochene Methodologie, die sich zwischen naturalistischer Literatur, journalistischer Reportage und Stadtethnografie verortet. Die Bezeichnung Dokument sollte dokumentieren, beanspruchte also, das Material unverarbeitet zu präsentieren. So »enthält« Ostwald sich beispielsweise in der Einleitung zu einem der Bände, den Erinnerungen eines Gastarbeiters und Sträflings, »mit Absicht jedes weiteren Kommentars« und überlässt es »Psychologen, Kriminalisten, Soziologen, Politiker, Menschenfreunde[n] und Menschenfeinde[n]«, »dass sie sich den Kern aus der Schale herausschälen«.23 In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Bände deutlich von einander, und selbst wenn Ostwald selbst der Autor war, scheute er nicht immer vor Moralisierung oder der Aufstellung von Typologien zurück. Seine Darstellung der männlichen Prostitution in Berlin beinhaltet den Abdruck von sieben Erpresserbriefen homosexueller Prostituierter, denen eine kurze Charakterologie der »häufigsten Typen der männlichen Prostitution« folgt: »Den Intelligenten und Energischen, den zärtlich sich Gerberdenden, den fortwährend Obdachlosen, der nur droht und droht, den Stellensuchenden, den Vorsichtigen … und den, der immer mit einem zweiten zusammenarbeitet«.24 Niemand wird Peter Fritzsche widersprechen, dass der »fragmentarische«, »provisorische«, »karnevaleske«, »kaleidoskopische« und »flüchtige« Charakter von Ostwalds Metropole sie zu einem wesentlich modernen Erzeugnis macht.25 Die Darstellungen der Stadt in der Reihe kehren dennoch ständig zu Klassifizierungssystemen zurück: der funktionalen Schichten in den Berliner Cafés, den Charaktertypen der Prostituierten unter der regelhaften Überwachung der Berliner Polizei aufgrund ihrer Lebenswege, die lebensnahe Begegnung der Bedürftigen mit Wiens Wohlfahrtsorganisationen, den vierzehn Mädchen- und Frauentypen von Wien oder der ethnischen und nationalen Veranlagung krimineller Spezialisierungen in der imperialen Hauptstadt.26 Der Impuls der Texte zu

23 Hans Ostwald in Ernst Schuchardt: Sechs Monate Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin und Leipzig 1907 [=GD 33], S. 5. 24 Die Briefe wurden von Magnus Hirschfeld, Vorsitzender des »Wissenschaftlichhumanitären Komitees« (für die Entkriminalisierung der Homosexualität) zur Verfügung gestellt, der selbst für die Reihe schrieb. Hans Ostwald: Männliche Prostitution, Leipzig 1906 [=Das Berliner Dirnentum, 5], zitiert nach der Ausgabe Leipzig 1925, S. 50. 25 Vgl. P. Fritzsche: »Vagabond in the Fugitive City«, S. 385, 391, 394-395, 397-98. 26 Die Bände der »Großstadt-Dokumente«: Hans Ostwalds Berliner Kaffeehäuser (1905), Wilhelm Hammers Zehn Lebensläufe Berliner Kontrollmädchen und zehn Beiträge zur Behandlung der geschlechtlichen Frage (1905), Max Winters

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einer Systematik und ihre Sympathie mit der Vielfalt und Individualität der gelebten Erfahrung in der Stadt mögen in einem Widerspruch zu einander zu stehen scheinen (anders gesagt, dem Leser fallen die Schilderungen weder als analytisch noch als mitfühlend ins Auge). Dennoch sind beide Impulse so zentral für das Projekt wie der ihnen gemeinsame feuilletonistische Stil.27 Bis vor kurzem gab es kaum eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ostwald, doch nun gibt es einige Ansätze, eine Verwandtschaft zwischen den Großstadt-Dokumenten und der Chicago-Schule in der Stadtsoziologie zu sehen, wenn nicht ihnen eine unmittelbare Vorläufer-Rolle zuzuschreiben. Wirth bestätigt das insbesondere in seiner »Bibliography of the Urban Community«, selbst wenn sich ein direkter Einfluss auf die Chicago-Schule schwer festmachen lässt.28 Aber es dürfte nicht verwundern, dass ein solches Verständnis des Stadtlebens von wissenschaftlichen Forschern geschätzt wurde. Die Bände wurden in wissenschaftlichen Zeitschriften besprochen und ihr Erscheinen sowohl in den entstehenden Feldern der Sexualwissenschaft und Kriminologie als auch in den etablierteren Disziplinen Psychiatrie und Pönologie verfolgt. Und Ostwald behauptete sogar, dass ihm ein Ehrendoktor angeboten wurde sowie – von der Koryphäe des fortschrittlichen Strafrechts in Mitteleuropa, Franz von Liszt, – ei-

Das goldene Wiener Herz (1905), Alfred Deutsch-Germans Wiener Mädel (1906), Emil Baders Wiener Verbrecher (1905). 27 Eine interessante Parallele lässt sich zu einer konkurrierenden Reihe ziehen, die ebenso ab 1904 im Pan-Verlag veröffentlicht und von Hans Landsberg unter dem Titel »Moderne Zeitfragen« herausgegeben wurde. Wie Ostwalds Reihe erkundeten die etwa zehn Bände der Reihe eine kanonische Sammlung von Themen, die die moderne Welt betrafen, darunter städtische Technik, Strafgericht, Erziehung und Kirche, Prostitution, Gewerkschaften, das Proletariat, Perversion, Mode, Sex und Gender. 28 Die von Fritzsche nahegelegte Verwandtschaft ist weitreichender als die der distanzierteren und bevormundenden Behandlung von Charles Booth u.a., vgl. »Vagabond in the Fugitive City«, S. 396 und 401ff.; Ralf Thies und Dietmar Jazbinsek: »The Berlin ›Großstadt-Dokumente‹: A Forgotten Precursor of the Chicago School of Sociology«, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Discussion Paper FS II 01502, Berlin 2001, http://skylla.wz-berlin.de/pdf/2001/ii01-502.pdf (Zugriff: Januar 2015); dies., »Berlin – das europäische Chicago. Über ein Leitmotiv der Amerikanisierungsdebatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, in: Clemens Zimmermann und Jürgen Reulecke (Hg.), Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell?, Berlin 1999, S. 53-94; siehe auch R. Thies: Ethnograph, S. 210-213. Thies und Jazbinsek schreiben nahezu eine Genealogie von Ostwald zu Park und Wirth fest.

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ne akademische Stelle.29 Die Behauptung ist nicht belegt, doch die Möglichkeit, im wilhelminischen Kaiserreich mit seiner Obsession für Zeugnisse überhaupt eine solche Behauptung aufzustellen, weist auf die Macht dieses Bereiches hin, die etablierten Wissensgrenzen zu erschüttern. Es ist unmöglich, den wissenschaftlichen Wert der Reihe GroßstadtDokumente von der »anzüglichen Schaulust« zu trennen, so dass die wiederholt vorgenommene simplifizierende Bestimmung des Projekts wahlweise als populär oder als wissenschaftlich unsinnig ist. Die Bücher der Reihe brachten die städtische Unterwelt als Milieu in zweierlei Hinsicht in den Blick – das Leben in den Straßen und den Bordellen, die soziale Welt der Homosexuellen und ihre intimen Momente mit einander, die Sprache der Verbrechen und die Praktiken des Betrugs – und die Großstadt als eine Ansammlung von Persönlichkeiten, Charakteren oder Typen: die Dirne, ihr Zuhälter, der Stricher, der Hochstapler, der Homosexuelle, das süße Mädel, der Stadtstreicher, der Gauner, der Spieler. Das lässt sich entweder als die Weiterführung der Gattungen von Stadtliteratur betrachten, die es seit einiger Zeit gab, oder als deren Höhepunkt, der ihre Tendenzen so intensivierte, dass das Ergebnis als Neuerung betrachtet werden muss. Aber ob man nun das Milieu oder die Typen, die es bildeten, in den Mittelpunkt stellt, die Großstadt-Dokumente berichteten vom städtischen Leben am Boden der Gesellschaft. Mit dem Leben in der großen Stadt als ihrem Gegenstand wendeten sie sich den Akteuren dieses Stadtlebens zu. In dieser Hinsicht stehen die unterschiedlichen Register der Analyse in den Bänden – sensationslustig oder wissenschaftlich, naturalistisch oder charakterologisch – einander nicht so sehr entgegen, vielmehr bilden sie ein vielstimmiges Konzert. Die Großstadt zu schreiben bedeutete für die Beiträger, ihre Bewohner zu schreiben. (Übersetzung: Anja Burghardt)

L ITERATUR Ankum, Katharina von (Hg.): Women in the Metropolis: Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley 1997 [=Weimar and Now: German Cultural Criticism, 11]. Becker, Peter: Verderbnis und Entartung: Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002.

29 R. Thies: Ethnograph des dunklen Berlin, S. 114f. Ostwalds Bände wurden in den angesehensten wissenschaftlichen Zeitschriften besprochen.

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Evans, Richard J.: Tales from the German Underworld, New Haven und London 1998. Felski, Rita: The Gender of Modernity, Cambridge 1995. Fritzsche, Peter: »Vagabond in the Fugitive City: Hans Ostwald, Imperial Berlin and the Grossstadt-Dokumente«, in: Journal of Contemporary History 29,3 (1994), S. 385-402. Herzog, Todd: »Crime Stories: Criminal, Society, and the Modernist Case History«, in: Representations 80 (2002), S. 34-61. Hügel, Hans-Otto: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1978. Ostwald, Hans: Dunkle Winkel in Berlin, Berlin/Leipzig 1904 [=GroßstadtDokumente, 1]. Ostwald, Hans: Männliche Prostitution, Leipzig 1906 [=Das Berliner Dirnentum, 5]. Ostwald, Hans: Vagabunden. Ein autobiographischer Roman, hg. von Klaus Bergmann, Frankfurt/Main 1980. Satyr [=Richard Dietrich]: Lebeweltnächte der Friedrichstadt, Berlin 1906 [=Großstadt-Dokumente, 30]. Schuchardt, Ernst: Sechs Monate Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin und Leipzig 1907 [=Großstadt-Dokumente, 33]. Stedman Jones, Gareth: Outcast London: A Study in the Relationship between Classes in Victorian Society, Oxford 1971. Thies, Ralf und Dietmar Jazbinsek: »Berlin – das europäische Chicago. Über ein Leitmotiv der Amerikanisierungsdebatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, in: Clemens Zimmermann und Jürgen Reulecke (Hg.), Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell?, Berlin 1999, S. 53-94. Thies, Ralf und Dietmar Jazbinsek: »The Berlin ›Großstadt-Dokumente‹: A Forgotten Precursor of the Chicago School of Sociology«, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Discussion Paper FS II 01-502, Berlin 2001, http://skylla.wz-berlin.de/pdf/2001/ii01-502.pdf (Zugriff: Januar 2015). Thies, Ralf: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die »GroßstadtDokumente« (1904-1908), Köln u.a. 2006. Walkowitz, Judith: City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, Chicago 1992. Williams, Raymond: The Country and the City, Oxford 1973. Zerbst, A. von: »Berliner Verbrecher«, in: Illustrirte Wochenrundschau über das Berliner Leben 1,3 (1894), S. 20-22.

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Zerbst, A. von: »Ein Blick in die Berliner Gefängnisse«, in: Illustrirte Wochenrundschau über das Berliner Leben 1,6 (1894), S. 43-44.

Im Panikraum des Liberalismus Balduin Grollers Wiener Sherlock Holmes C LEMENS P ECK (S ALZBURG )

I. Franco Moretti schlüsselt in Graphs, Maps, Trees die Genealogie kriminalliterarischer Erzählverfahren im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert in Form eines Stammbaums auf.1 Wie Ernst Bloch,2 Carlo Ginzburg3 und Viktor Šklovskij bindet er den nachhaltigen Erfolg der vom schreibenden Arzt Arthur Conan Doyle verfassten Sherlock-Holmes-Geschichten an die Durchsetzung eines gattungsgeschichtlichen Paradigmas, das sich, so Šklovskij, über »Indizien« konstituiere, »die in der Erzählung angeführt werden«:4

1

Vgl. Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Litera-

2

Vgl. Ernst Bloch: »Philosophische Ansicht des Detektivromans«, in: Jochen Vogt

turgeschichte, Frankfurt/Main 2009, S. 82-114. (Hg.), Der Kriminalroman, Bd. 2, München 1971, S. 322-342, hier S. 323: »Weil erst das Indizienverfahren zureichende Hinweise verlangt, bereits für einen Haftbefehl, gar erst vor Gericht, und damit zum kriminalistischen Aufdeckenden, mit dem Detektiv im Vordergrund, erst den Auftrag gab. Zeichen jeder Art, Bodenspuren, unechte Alibis und die Schlüsse aus alldem sind nun so wichtig geworden wie selbst das alte, oft viel zu breite Cui bono.« 3

Vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7-57.

4

Viktor Šklovskij: »Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, Bd. 1, München 1971, S. 67-93, hier S. 93.

128 | C LEMENS P ECK »[Die] Vielfalt der Typen [Erzähltypen von Fällen, C.P.] bei Conan Doyle [ist] sehr eingeschränkt, und nach dem Welterfolg des Schriftstellers zu urteilen [sic] ist das offensichtlich auch nicht notwendig. Von der Technik her sind die Verfahren der Erzählungen Conan Doyles natürlich einfacher als die Verfahren des englischen Geheimnisromans, dafür jedoch sind sie konzentrierter. [...] Am wichtigsten sind zweitrangige Angaben, die so eingebaut sind, daß der Leser sie nicht zur Kenntnis nimmt. Hier eben wird das Material für eine falsche Lösung geboten. [...] Watson gibt den Indizien eine falsche Deutung.«5

Am Ende des von Moretti erstellten generischen Stammbaums ist nicht nur diese neue Erzählform etabliert, sondern auch ihr Autor: Conan Doyle gehe, so Moretti in einer etwas kruden Applikation des Darwin’schen Selektionsprinzips, als Sieger eines »Wettbewerbs der Formen«6 hervor und stifte ein durchschlagendes Genremodell. Morettis Modell wird dadurch bestätigt, dass sich jene vier Sherlock-Holmes-Geschichten, die es bis an die Spitze des ›Indizienstammbaums‹ schaffen, in sämtlichen Best-of-Kompilationen Conan Doyles wieder finden. Während andere kriminalliterarische Werke sowie ihre Autorinnen und Autoren, die der Stammbaum verzeichnet, in Vergessenheit gerieten, werden »The Red-Headed League«, »A Case of Identity«, »The Adventure of the Speckled Band« und »The Adventure of the Blue Carbuncle« immer noch gelesen. Ebenso wie der berühmte Detektiv aus der Baker-Street beinahe jedes Verbrechen aufzuklären und zu individualisieren vermag – »A typewriter has really quite as much individuality as a man’s handwriting«7 –, gelingt es dem Genrenarrativ universale Erreichbarkeit anzudeuten. Diese Disposition resultiert aus Conan Doyles narrativer Verschaltung von Serienfigur und Indizienparadigma. Dabei wird eine neue Form der Populärkultur etabliert, die sich in der erstaunlichen Ikonografie einer »hagere[n] Figur mit stechendem Blick und einer Vorliebe für Tabak und Kokain« manifestiert, in der sich alle späteren Detektivfiguren bereits spiegeln.8 Zu den Vergessenen von Morettis formengeschichtlicher, keineswegs chronologischer Reihe, an deren Ende vier Geschichten Conan Doyles stehen, zählt auch Balduin Groller, dessen Detektivgeschichte »Anonymous Letters« immer-

5

Ebd.

6

F. Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, S. 86.

7

Arthur Conan Doyle: »A Case of Identity«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, hg. von Ruth Rendell, London 2009, S. 190-201, hier S. 199.

8

Vgl. Sonja Osterwalder: Düstere Aufklärung. Die Detektivliteratur von Conan Doyle bis Cornwell, Wien u.a. 2011, S. 48.

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hin auf der vorletzten Stufe des Stammbaums zu liegen kommt.9 Grollers Geschichte ist 1910 unter dem deutschen Originaltitel »Anonyme Briefe« in der mehrbändigen Sammlung Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer erschienen. Moretti dürfte die englische Übersetzung der Erzählung der CosmopolitanCrimes-Anthologie Foreign Rivals of Sherlock Holmes entnommen haben.10 In diese Sammlung wiederum war Grollers Geschichte durch eine 1967 von Ludwig Plakolb herausgegebene Auswahl der Detektivgeschichten gelangt, die Plakolb gegenüber der ursprünglichen Reclamausgabe mit einer kleinen, aber entscheidenden Änderung im Titel versehen hat: Statt Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer. Ein Novellenzyklus heißt es nun Dagobert Trostler. Taten und Abenteuer des Wiener Sherlock Holmes.11 Die nachträgliche Bezeichnung als Wiener Sherlock Holmes hebt über den Bezug zum Meisterdetektiv einerseits die Zugehörigkeit zur gattungskonventionellen Universalität des Indizienparadigmas hervor, andererseits Dagobert Trostlers lokale Originalität: »Er ist Poseur aus Haltung und Tradition, Aktivist aus Leidenschaft und Gerechtigkeitssinn, Wahrheitsfinder aus Überzeugung und Ordnungsliebe; Mystifizierer aber ist er aus Etikette, Erzählerfreude und allgemein üblicher detektivischer Manier, die von Dagobert Trostler jedoch, dem Wiener Sherlock Holmes, als österreichische Charaktereigenschaft manifestiert wird, Leistung als Anekdote auszugeben.«12

Entgegen dieser Zurichtung des literarischen Detektivs im retrospektiven WienKlischee versuchen die folgenden Ausführungen die spezifische kultur-, sozialund wissensgeschichtliche Signatur des Wiener consulting detectives nachzuzeichnen. Dies erfolgt zunächst durch einen Vergleich der serialisierten Erzählmodelle Grollers und Conan Doyles, durch den sich auch Morphologie und Funktion des Wiener Sherlock Holmes näher bestimmen lassen. Detektiv Dagoberts »Abenteuer« können (noch deutlicher als jene des Londoner Vorbilds) als Expeditionen in die Geheimgänge der (Wiener) Gesellschaft um 1900 gelesen werden, die auf eine zweite Ebene des Investigationsplots verweisen: Es handelt sich dabei um Dagoberts Suche nach Dysfunktionen in der sozialen Grammatik des Wiener Fin de Siècle. Der Aufwand, den der Detektiv betreibt,

9

Vgl. F. Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, S. 86.

10 Vgl. Balduin Groller: »Anonymous Letters«, in: Hugh Greene (Hg.), Foreign Rivals of Sherlock Holmes: Cosmopolitan Crimes, London 1971, S. 232-262. 11 Siehe Balduin Groller: Dagobert Trostler. Taten und Abenteuer des Wiener Sherlock Holmes, hg. von Ludwig Plakolb, Stuttgart 1967. 12 Ludwig Plakolb: »Nachwort«, in: B. Groller: Dagobert Trostler, S. 335f.

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um die Spuren zu verwischen, die er bei dieser zweiten Spurensicherung hinterlassen hat, ist jenen Kräften geschuldet, die Fredric Jameson als »epistemological gravity«13 bezeichnet. Die hier als These vorausgeschickte zweite Ebene der Spurensicherung in der Detektivliteratur bezieht sich einerseits unmittelbar auf die Sozial- und Klassenstruktur, die der Detektiv überwacht und auf Durchlässigkeiten prüft. Andererseits lässt sie sich mit Luc Boltanski als spezifische sinnstiftende Codierung, als (imaginäre) Verfassung jener »Realität« markieren, die sich im Gegensatz zum »Realen« auf »eine Reihe von Regelmäßigkeiten stützen kann, die in jeder beliebigen Situation bestehen bleiben und jedes auch noch so singuläre Ereignis einrahmen.«14 Während die realistische Prosa in der imaginären Totalität auf ein Reales zu referieren versucht, gehört es gemäß Boltanski zur Gattungskonvention der Kriminalliteratur, sich grundsätzlich auf eine »Realität an sich« zu stützen, das heißt auf etwas, »das unabhängig von den dann jeweils subjektiv genannten Deutungen« und Figurationen existiert, welche »die Akteure entwickeln« – ein »Substrat der verschiedenen Situationen, mit denen die Handlung konfrontiert«, ein »stabiler Zusammenhang« als »kohärentes Ensemble«.15 Mit Blick auf die Gesellschaft – sowohl als handlungsorientiertes als auch symbolisches Feld – ist vor allem eine »soziale Realität« gemeint, deren kohärente Erzählung in der Kriminalliteratur spielerisch auf die Probe gestellt wird.16 Dem Detektiv kommt dabei die Rolle zu, diese Erzählung auf Mängel in der Kohärenz abzutasten: Der handlungstragende Decodierungsprozess durch Ermittlung und Aufdeckung verschleiert den Codierungsprozess des decorums. Die kulturelle Arbeit an der sozialen Realität verleiht der kriminalliterarischen Amalgamierung von Wissens- und Gattungsgeschichte ein konkretes Profil und privilegiert Detektivgeschichte und Kriminalroman selbst als Analyseinstrumente der historischen Epistemologie. Gleichzeitig sind es gerade die retrospektiv ›erfolgreichen‹, d.h. potentiell popularisierbaren sowie universal rezipierbaren Detektive und Erzählmodelle, denen das Verwischen der Spuren im besonderen Maße gelingt. Das trifft vor allem auf jene von Moretti angeführten Adventures of Sherlock Holmes (1892) zu, die abseits ihrer historischen Markierung über das sogenannte Indizienparadigma eine automatisierte Verkürzung, ei-

13 Fredric Jameson: Archaeologies of the Future. The Desire Called Utopia and Other Science Fictions, London und New York 2007, S. 57. 14 Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, Berlin 2013, S. 37. 15 Ebd. 16 Vgl. ebd., S. 38.

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ne Identifikation von Erzähltechnik, Figurencharakteristik und Ermittlungsverfahren etablieren und zu einer ihren Entstehungskontext überdauernden Leseerwartung ausbauen. Gerade weil Balduin Grollers Detektivgeschichten trotz mehrerer Rettungsversuche17 sicher nicht dazu zu rechnen sind und aus der historischen Distanz eher kurios anmuten,18 erleichtert es sein Wiener Sherlock Holmes, die unterschiedlichen Beziehungsverhältnisse um 1900 zu extrapolieren, die Genre, Wissen und Gesellschaft unterhalten. Umso deutlicher zeigt der Wiener Detektiv, dass die Figur des consulting detectives an der Schnittstelle moderner Subjektivität und Staatlichkeit antritt:19 Er verkörpert jene agency, welche die Widersprüche und Brüche der sozialen Realität des bürgerlichen Liberalismus auszugleichen und dessen bedrohte Definitionsmacht besonders im fragilen Staatsgebilde der Habsburgermonarchie zu stabilisieren und zu versichern vermag – wobei dem Begriff der Versicherung auch, aber nicht nur metaphorische Bedeutung zukommt: Der Wiener Sherlock Holmes operiert, so die These, tatsächlich als Sozialtechnologe und Sicherheitsberater.

II. Balduin Groller, unter dem Namen Adalbert Goldscheider 1848 im ungarischen Arad als Sohn einer jüdischen Bürgerfamilie geboren, gestorben 1916 in Wien, machte sich nach dem Studium der Philosophie und Rechtswissenschaften in den 1880er Jahren als Novellist und Feuilletonist einen Namen. So reüssierte er als Beiträger für die Familienblätter Die Gartenlaube und Über Land und Meer und gemeinsam mit Karl Emil Franzos als leitender Redakteur der Neuen Wiener

17 Vgl. Hans-Heinz Hahnl: Vergessene Literaten. Fünfzig österreichische Lebensschicksale, Wien 1984 und Adolf Haslinger: »Über einen Kriminalschriftsteller der Jahrhundertwende: Der Wiener Sherlock Holmes«, in: Salzburger Nachrichten, 8. Januar 1972, S. 18. 18 Die gemäß der heute gültigen kulturgeschichtlichen Kanonisierung »richtige« Figur zeichnet etwa Frank Tallis im freudianischen Wiener Amateur-Detektiv Max Liebermann. Vgl. Frank Tallis: Die Liebermann-Papiere, übers. von Lotta Rüegger und Holger Wolandt, München 2006. Bereits in Nicholas Meyers Holmes-Pastiche kommt es zu einem für beide Parteien folgenreichen Aufeinandertreffen von Sigmund Freud und Sherlock Holmes in der Wiener Berggasse. Vgl. Nicolas Meyers: The Seven-PerCent-Solution. Being a Reprint from the Reminiscences of John H. Watson, M.D, New York und London 1974. 19 Vgl. L. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 47ff.

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Illustrirten Zeitung. In den 1890er Jahren verfasste er Feuilletons für das Neue Wiener Journal und übernahm dort zur Jahrhundertwende die Redaktion des wöchentlichen »Sportblatts«. Darüber hinaus trat er durch sein Engagement im Feld der Lebensreformbewegungen, der Sozialmedizin und des Sports hervor, letzteres etwa als erster Präsident des Österreichischen Olympischen Komitees. Dementsprechend finden sich zwischen seinen Novellen, Prosastücken und Feuilletons auch Texte wie das Vorwort zum »Vademecum für Radfahrerinnen«20 oder ein in Theodor Herzls Zeitschrift Die Welt publizierter Artikel über physiologische »Mängel« und die Notwendigkeit der sportlichen Betätigung der zionistischen Jugend.21 Grollers Autorschaft ist nur im Rahmen einer umfassenden Ökonomisierung der Literatur in der Grauzone zwischen literarischer und journalistischer Öffentlichkeit zu verstehen, einem belletristischen Experimentierfeld für Liebesund Schauergeschichten, Science Fiction, Fortsetzungsromane, Reiseberichte, literarische Skizzen, humoristische Entrefilets und Ratgeberliteratur. Demgemäß wird er im vierten und letzten Band der ersten österreichischen Literaturgeschichte von Nagl/Zeidler/Castle geradezu zum Symbol des abgewerteten industriellen Schreibens zwischen Tendenz-Literatur und Feuilleton stilisiert, wobei der antisemitische Reflex nicht ausbleibt: »Seine [Balduin Grollers, C.P.] zahlreichen Romane und Erzählungen [...] sind journalistische Massenware in des Wortes übelstem Sinne. Er bietet Geschichten in der Art des französischen Sensationsromanes, und wenn er einem Stoff scheinbar ein heimatliches Kos-

20 Vgl. Balduin Groller: »Vorwort«, in: Redaktion der »Wiener Mode« (Hg.), Vademecum für Radfahrerinnen. Ein Hilfsbuch in Fragen der Fahrtechnik, der Gesundheit, der Etiquette und der Kleidung, Wien 1897, S. 2-4. 21 Vgl. Balduin Groller: »Die körperliche Minderwertigkeit der Juden«, in: Die Welt, 19. April 1901, S. 3-5: »Wieder etwas, was mir den Zionismus sympathisch macht: die lebendige Beflissenheit, Propaganda zu machen für die edle Turnerei und alle Zweige des Athletik-Sportes. Das ist mein Fall, und das ist eine Angelegenheit, für die ich seit langer Zeit schon meine geringe Kraft einsetze, so gut ich kann, in Schrift und Wort. Um es kurz zu sagen: ich bin der Meinung, dass es keine wichtigere Culturarbeit zu verrichten gibt, als die Pädagogik, weiters, dass der beste Theil der Erziehung des Volkes besorgt wird durch die Erziehung der Jugend, und endlich der Meinung, dass die körperliche Erziehung nicht minder Beachtung und Sorgfalt verdient, als die geistige.« (S. 3)

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tüme umhängt, geschieht es nur, um in banalen Liebes- und Kriminalaffären Zigeuner, Walachen und anderes seltsames Volk auftreten zu lassen.«22

Zwar ist diese Verortung nicht nur aufgrund ihres offensichtlich rassistischen Ressentiments prekär, sondern auch aufgrund der mehrschichtigen Lagen des literarischen Feldes um 1900: Balduin Groller tritt nicht ausschließlich am industriellen Pol der Produktion auf, wie eine Sammlung evoziert, die Novellen Grollers neben jenen Ludwig Anzengrubers und Wilhelm Jensens unter dem Titel »Meisternovellen neuerer Erzähler«23 zusammenführt. Gleichwohl trifft der Hinweis auf Eugène Sues epochemachende, in Zeitschriften erschienene Fortsetzungsromane Les mystères de Paris (1842-43) und Le juif errant (1845-46) – Inbegriff des oben monierten französischen »Sensationsromans« – Grollers beeindruckende Sensibilisierung für Formen seriellen Schreibens zwischen Belletristik, Zeitung und Zeitschrift.24 Demgemäß scheint es durchaus schlüssig, dass auch der Wiener Sherlock Holmes seine Initiation im industrialisierten Zeitschriften- und Zeitungsmarkt hat. Obwohl nicht alle jener schließlich in der sechs-bändigen Reclam-Sammlung enthaltenen Detektivgeschichten zuvor in Zeitschriften und Wochenendbeilagen Wiener Zeitungen veröffentlicht wurden – die meisten zwischen 1900 und 1908 in unregelmäßiger Serie in der Neuen Gartenlaube25 –, liegt die Vorbildwirkung von Arthur Conan Doyles Sherlock

22 Bela von Pukánzky, C.E. Schmidt und Eduard Castle: »Ungarn«, in: Deutschösterreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte deutscher Dichtung in Österreich-Ungarn, Bd. 4: Von 1890-1918, Wien 1937, S. 1421-1450, hier S. 1439. 23 Vgl. Ludwig Anzengruber, Balduin Groller und Wilhelm Jensen: Meisternovellen neuerer Erzähler, Leipzig 1910. Auf eine von Grollers Novellen verweist auch Sigmund Freud in »Über den Traum«. Vgl. Sigmund Freud: »Über den Traum«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2 und 3, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1999, S. 643-700, hier S. 692. Zum überraschenden Verhältnis des Bekanntheitsgrades von Freud und Groller (aus der zeitgenössischen Perspektive seiner Mutter, die bei Freud in Behandlung war und zeitlebens von einem Tanz mit Groller träumte) vgl. Arthur Koestler: Pfeil ins Blaue. Bericht eines Lebens 1905-1931, Wien u.a. 1953, S. 26. 24 Zu gattungsgeschichtlichen Genealogien zwischen »sensational novel« und Detektivgeschichte vgl. LeRoy Lad Panek: Before Sherlock Holmes. How Magazines and Newspapers Invented the Detective, Jefferson 2011. 25 So verzeichnet etwa der Jahrgang 1907 der Neuen Gartenlaube zwei »Detektivgeschichten« Grollers: »Der große Rubin«, 108-112 u. 126-129; »Dagoberts Ferienarbeit«, S. 661-666 u. S. 682-686.

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Holmes-Stories für das Strand Magazine auf der Hand: Auch Detektiv Dagoberts Abenteuer werden nach einer Ökonomie der Wiedererkennbarkeit26 im seriellen Rahmen gestaltet. Conan Doyle, der als ausgebildeter Arzt auch mit der medizinischen Kasuistik vertraut war, hat in seinen Memoires zur Entstehung des seriellen Narrativs im Kontext der neuen Distributionsbedingungen ausgeführt: »Clearly the ideal compromise was a character which carried through, and yet installments which were each complete in themselves, so that the purchaser was always sure that he could relish the whole contents of the magazine. I believe that I was the first to realize this and the Strand Magazine the first to put into practice.«27

Die von Boltanski für das Genre der Kriminalliteratur konstatierte Stabilität der sozialen Realität erhält ihre Organisation nicht zuletzt im Serienformat, das die Episteme der klinischen Medizin nun in die Unterhaltungsindustrie und den Zeitschriftenmarkt der Populärkultur überführt. Die Fälle des Detektivs werden vor allem über den äußeren seriellen Rahmen als singuläre Unordnung und Abweichung fassbar. Die Serialisierung im Strand Magazine (ab 1891) und das Indizienparadigma führen bei Holmes zur weiteren narrativen Differenzierung der »science of deduction«,28 die Conan Doyle erstmals in den Romanen A Study in Scarlet (1887) und The Sign of Four (1890) ausführt und explizit von Edgar Allan Poes C. Auguste Dupin sowie Émile Gaboriaus Monsieur Lecoq absetzt. Das trifft vor allem auf jene Erzählungen zu, die 1891 und 1892 in der Zeitschrift erscheinen und schließlich als Zyklus der berühmten Adventures of Sherlock Holmes, die alle eingangs genannten Geschichten am oberen Ende von Morettis Stammbaum enthalten, gesammelt veröffentlicht wurden. Die deutschsprachige Karriere von Conan Doyles Geschichten und Romanen begann übrigens 1894 mit den ersten Übersetzungen – A Study in Scarlet als Späte Rache – im Stuttgarter Lutz-Verlag und wurde 1906 mit einer eigenen Sherlock-Holmes-Reihe institutionalisiert.29

26 Vgl. Ulrich Suerbaum: »Intertextualität und Gattung. Beispielreihen und Hypothesen«, in: Manfred Pfister und Ulrich Broich (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 58-76, hier S. 65f. 27 Zit. nach ebd., S. 66. 28 Arthur Conan Doyle: »A Study in Scarlet«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, hg. von Ruth Rendell, London 2009, S. 19-25. 29 Vgl. Conan Doyle [sic]: Späte Rache. Sherlock Holmes-Serie, Bd. 1, Berlin 1906. Überhaupt ist der Lutz-Verlag für die Popularisierung der Kriminalliteratur nicht zu

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Das Genredispositiv der seriellen Figur ersetzt Exposition und Psychologisierung des Helden, wie Conan Doyles Erzähleinstiege nahelegen – z.B. in »A Case of Identity«: »›My dear fellow‹, said Sherlock Holmes as we sat on either side of the fire in his lodging at Baker Street, ›life is infinitely stranger than anything which the mind of man could invent.‹«30 Auch bei Groller genügt am Novellenbeginn ein kurzer Verweis auf Ort und Personenarrangement, der die Erkennbarkeit und Erwartungshaltung des detektivischen Plots gewährleistet: »Sie saßen wieder zu dritt im Raucherzimmer: der Hausherr Andreas Grumbach, seine Gattin Violet und Dagobert Trostler.«31 Oder an anderer Stelle, als Ironisierung der erwartbaren Wiederkehr im seriellen Narrativ: »Andreas Grumbach, seine Gattin, Frau Violet, hatten sich gerade zu Tische gesetzt, als Dagobert eintrat. War das eine Überraschung!« (DD II, 3) Obwohl Auguste Groners (erzählerisch und psychologisch komplexere) Romane und Novellen bereits früher mit Polizei-Kommissaren in Serie operieren – z.B. Joseph Müller – und im ReclamVerlag (teils fingierte) Memoiren von Untersuchungsrichtern, Polizeikommissären etc. erscheinen, die auf den populären Markt der Kriminalliteratur verweisen,32 ist Grollers Dagobert Trostler die erste investigative Seriengestalt eines

unterschätzen. Ab 1907 erschien darüber hinaus die erfolgreiche Groschenheft-Reihe »Sherlock Holmes. Aus den Geheimakten des Weltdetektivs« – mit ausschließlich anonymen Verfassern –, die der Lutz-Verlag gerichtlich verbieten ließ. Vgl. dazu Hans-Friedrich Foltin: »Vorwort«, in: ders. u.a. (Hg.), Sherlock Holmes. Aus den Geheimakten des Weltdetektivs. 15 Lieferungshefte in einem Band, Hildesheim und New York 1973. 30 A. Conan Doyle: »A Case of Identity«, S. 190. 31 Balduin Groller: Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer, 6 Bde., Stuttgart 19101912, hier Bd. 3, S. 63. Im Folgenden zitiert als DD mit Band- und Seitenangabe. 32 Vgl. etwa Auguste Groner: Zwei Kriminalnovellen, Leipzig 1893; Josef Erler: Aus dem Schwarzbuche eines Polizeibeamten. Federskizzen aus dem Leben. 2 Bde. Leipzig 1909; Leopold Florian Meißner: Aus den Papieren eines Polizeikommissärs. Wiener Sittenbilder. 5 Bde. Leipzig 1910. Des Weiteren ist auf ältere deutschsprachige Genrevorbilder wie Adolph Müllners »Kaliber. Aus den Papieren eines CriminalBeamten« (1828), Otto Ludwigs »Der Tote von der St. Annas-Kapelle. Ein CriminalFall« (1840) und Adolf Streckfuss’ »Der Sternkrug. Criminal-Novelle« (1870) zu verweisen. Zu den deutschsprachigen kriminalliterarischen Genres vor der breiten Sherlock-Holmes-Rezeption vgl. Hans-Otto Hügel: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1978, S. 173f. Zur Untersuchungsrichter-Serie Temmes vgl. Julia Menzels Beitrag in diesem Band.

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Privatiers und »Amateur-Detektiv[s]« (DD I, 65) im medialen und erzählerischen Format seines Vorbilds aus der Baker Street in der deutschsprachigen Literatur. Trostler wird im sparsamen Serienmodus an unterschiedlichen Stellen als Junggeselle, als »Lebemann mit stark gelichtetem Scheitel«, »PetrusKöpfchen« und »sokratische[m] Gesicht« vorgestellt. Zu seinen Passionen zählen wie bei Holmes »die Musik und die Kriminalistik«.33 Zwar werden seine Leistungen auf diesen Gebieten gewürdigt, gleichzeitig entscheidend im Sinne des Londoner consulting detectives relativiert: »Auf allen Tätigkeitsgebieten, auf denen er sich umtat, blieb er Amateur, passionierter Dilettant, gentleman-rider.« (DD I, 6) Trotz der Vorbildwirkung für Serienfigur und abgeschlossene Fallgeschichten lassen bereits die zitierten Novelleneinstiege eine wesentliche formale Abweichung erahnen. Denn die den Fall konstituierende erzählerische Organisation folgt nicht – gemäß Gérard Genettes Klassifikation – dem homodiegetischen Ich-Erzähler Dr. Watson, der in den dramatischen Dialogpassagen mit Holmes verschwindet,34 um sich in die den Lesern bestens bekannte Figur des »poor Watson« zu verwandeln.35 Die Erzählinstanz von Balduin Grollers Detektivgeschichten ist nicht in die Diegese verwickelt und hat grundsätzlich allwissendes Potential. Groller versucht suspense und Spannungsmomente der SherlockHolmes-Geschichten dadurch hervorzurufen, dass Watsons Erzählerfunktion als intradiegetisch angedeutete Instanz vom Detektiv selbst übernommen wird, wäh-

33 Vgl. zur »dual nature« (von Musik und Kriminalistik) des »singular character« Arthur Conan Doyle: »The Red-Headed League«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, hg. von Ruth Rendell, London 2009, S. 176-190, hier S. 185: »My friend was an enthusiastic musician, being himself not only very capable performer but a composer of no ordinary merit. All the afternoon he sat in the stalls wrapped in the most perfect happiness, gently waving his long, thin fingers in time to the music, while his gently smiling face and his languid, dreamy eyes were as unlike those of Holmes, the sleuth-hound, Holmes the relentless, keenwitted, ready-handed criminal agent, as it was possible to conceive. In his singular character the dual nature alternately asserted itself, and his extreme exactness and astuteness represented, as I have often thought, the reaction against the poetic and contemplative mood which occasionally predominated in him.« 34 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, 3. Aufl, übers. von Andreas Knop. Mit einem Nachw. von Jochen Vogt, München 2010, S. 159. 35 Vgl. V. Šklovskij: Die Kriminalerzählung, S. 78 und Franco Moretti: »Clues«, in: ders., Signs taken for Wonders. On the Sociology of Literary Forms, London und New York 2005, S. 130-156, hier S. 146.

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rend die erwähnte Gastgeberin Violet Grumbach Watsons dramatische Fragefunktion im Dialog trägt: »›Wer ist es, Dagobert?‹ drängte Frau Violet.« (DD III, 22) Diese Aufspaltung ist insofern nötig, als Violet im Gegensatz zu Watson nicht an den detektivischen Abenteuern beteiligt ist, und deshalb die erzählerischen Ausschweifungen ihres Hausgasts unterbinden muss: »Keine Philosophie mehr, Dagobert. Ich wünsche Tatsachen.« (DD II, 7) Jene narrativen Funktionen, die weder die Rahmenerzählung, noch die fragende Violet zu tragen vermag, übernimmt der berichtende Detektiv selbst. Dabei zeigt sich auch, wie nah die Wiener Version tatsächlich an Sherlock Holmes ist, muss doch auch Grollers »Gentleman-Detektiv« (DD II, 4) den »Dokument«-Charakter der Kriminalerzählung zum Diskurs der Erzählung machen – eine Rolle, die bei Conan Doyle Watson zufällt: »I walked down to the station with them, and then wandered through the streets of the little town, finally returning to the hotel, where I lay upon the sofa and tried to interest myself in a yellow-backed novel. The puny plot of the story was so thin, however, when compared to the deep mystery through which we were groping, and I found my attention wander so continually from the fiction to the fact, that I at last flung it across the room and gave myself up entirely to a consideration of the events of the day.«36

Bei Groller nimmt sich die fingierte Realität der Kriminalerzählung im Dialog mit Violet als die bessere, weil »erlebte« Literatur aus: »›Die tiefe Sehnsucht gilt immer dem Unerreichbaren, und am Liebsten möchte man gewöhnlich das tun, was man nicht kann.‹ ›Was möchten Sie denn also am allerliebsten tun?‹ ›Novellen schreiben.‹ ›Aber – Dagobert!‹ ›Da ich das aber nicht kann – leider! – so trachte ich wenigstens, meine Novellen zu erleben.‹ ›Erlebte Novellen – das ist auch schon etwas, vielleicht mehr und Besseres als geschriebene.‹« (DD II, 6)

Obwohl Groller die analytische Erzählperspektive, den Spannungsaufbau durch elliptische Darstellungsweisen und die szenisch-dialogisch vermittelte Auflösung des Rätsels von Conan Doyle übernimmt, stehen ausgehend von der skiz-

36 A. Conan Doyle: »The Boscombe Valley Mystery«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, hg. von Ruth Rendell, London 2009, S. 202-217, hier S. 209.

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zierten heterodiegetischen Erzählinstanz im Salon Grumbach die »erlebten Novellen« des erzählenden Detektivs im Zentrum.37 Diese metadiegetischen Retrospektiven werden entweder in Etappen (»Anonyme Briefe«, »Der große Schmuckdiebstahl«, »Der große Rubin«, »Der Falschspieler« etc.) oder durchgehend (»Eine Verhaftung«, »Eine unfreiwillige Reise« etc.) erzählt. Sofern – wie im Letzteren dieser zeitlichen Anordnung der Erzählung – Rätsel und Lösung ausschließlich durch den Detektiv vermittelt werden, simuliert der Detektiv durch seine Erzählfunktion noch einmal die analytische Struktur der Kriminalliteratur. Aufgrund dieser detektivischen Metadiegese erklärt sich mitunter auch, warum sich Grollers Detektivgeschichten auf der vorletzten Stufe in Morettis Baumdiagramm von Conan Doyles Sherlock-Holmes-Storys trennen: Zwar erscheinen auch in Grollers Geschichten wie in den »Anonymen Briefen« die Anhaltspunkte »funktional« eingesetzt, sie sind aber noch nicht bzw. nicht vollständig für den Leser in der Exposition des Verbrechens als Indizien »sichtbar« und potentiell rekonstruierbar.38 Dem Leser wird durch die fehlende erzählerische Vermittlungsinstanz Watsons, dem die Indizien vor Ort entgehen und der dabei durchwegs falsche Schlüsse zieht,39 somit auch die Lust genommen, Teil des Deduktions- und Kombinationsverfahrens zu sein. Nicht nur kann Violets Frageinstanz die Fehldeutung gegenüber dem Indizienverfahren erzählerisch nicht auskosten, darüber hinaus fehlen der nullfokalisierten Erzählinstanz die anthropologischen Rahmungen für Dr. Watsons »Studien über Holmes«, die Conan Doyles Detektivgeschichten letztlich auch sind.40 Wie Holmes wird auch Trostler mitunter in der Manier des Don Quijote in der Erzählung mit sich selbst als literarischer Figur konfrontiert. Während diese autoreflexive Konstruktion bei Holmes über den Erzähler-Autor Watson gewährleistet ist, liegt der Fall bei Trostler schwieriger. In »Dagoberts Ferienarbeit« liest der Amateurdetektiv im Raucherzimmer des Salons Grumbach folgenden Anfang eines Briefs vor:

37 Wenn Holmes wie in »The Adventure of the Blanched Soldier« selbst und ohne die Vermittlung Watsons erzählen muss, stößt er schnell an seine Grenzen: »[...] I do begin to realize that the matter must be presented in such a way as may interest the reader.« A. Conan Doyle: »The Adventure of the Blanched Soldier«, in: ders., The Penguin Complete Sherlock Holmes, hg. von Ruth Rendell, London 2009, S. 10001012, hier S. 1000. 38 Vgl. F. Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, S. 86f. 39 Vgl. etwa A. Conan Doyle: »A Case of Identity«, S. 196: »You did not know where to look, and so you missed all that was important.« 40 Vgl. S. Osterwalder: Düstere Aufklärung, S. 58.

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»[Dagobert, C.P.] ›Sehr geehrter Herr! Der ergebenst Unterzeichnete nimmt sich die Freiheit, Sie um gütige Auskunft zu bitten, ob der in Ihren Erzählungen vorkommende Herr Dagobert!‹ [Violet, C.P.] ›Ah, der Brief ist ja nicht an Sie gerichtet!‹ ›Habe ich auch nicht behauptet. Er wurde mir zur »verfassungsmäßigen Behandlung« von unserm gemeinschaftlichen Freunde zugewiesen, der, wie Sie wissen, von meinen kleinen Unternehmungen der Öffentlichkeit zu berichten, gelegentlich sich das Vergnügen und mir die Reklame macht. [...] Ich fahre also fort: , – ob der in Ihren Erzählungen vorkommende Herr Dagobert eine Romanfigur oder eine lebende Person ist. In letzterem Falle bitte ich Sie um gefällige Angabe der Adresse dieses Herrn, da ich in einen allerdings sehr dunklen Fall verwickelt bin [...]‹« (DD IV, 54f.)

Mit dem »gemeinschaftlichen Freunde« etabliert sich eine Autorschaft im Erzählrahmen, die sich nach der Verlesung des Briefes, der den »sehr dunklen Fall« kurz erläutert, in einer Fußnote als »D.[er] V.[erfasser]« und Adressat des Briefes zu erkennen gibt: »Der Brief ist authentisch; geändert wurden nur die Orts- und Personennamen.« (DD IV, 57).

III. Mit der zeitlichen und figuralen Anordnung der Diegese, die bislang in der Untersuchung von Interesse war, rückt auch deren räumliche Ordnung sowie deren wissens- und sozialgeschichtliche Implikation in den Fokus. Bis auf wenige Ausnahmen benötigen Detektiv Dagoberts Erzählanfänge dieselben Personen am selben Ort: Es sind dies, wie bereits angedeutet, neben dem Amateurdetektiv der in seinen frühen Fünfzigern stehende Großindustrielle und Bankpräsident Andreas Grumbach und dessen um 20 Jahre jüngere Gattin, die ehemalige Schauspielerin Violet Grumbach. Schauplatz dieser erzählten Erzählungen ist der »modern« (DD I, 1) eingerichtete Grumbach’sche Salon bzw. der Salon im Salon – denn wenn sich die drei nicht schon zu Beginn im Raucherzimmer befinden, heißt es wenig später: »Man begab sich also ins Raucherzimmer.« (DD I, 7) In der von Moretti in den Stammbaum aufgenommenen Novelle »Anonyme Briefe« werden die Hintergründe erläutert – als Trennung sozialer Räume: »Sie [Violet, C.P.] konnte es kaum erwarten, seinen Bericht zu vernehmen, aber sie wußte, daß er bei Tische von der Sache nichts reden würde, und sie konnte es auch mit Rücksicht

140 | C LEMENS P ECK auf die Dienerschaft nicht wünschen. Als sie sich’s aber nach dem Mahle im Rauchzimmer, Frau Violet auf ihrem Lieblingsplätzchen, bequem gemacht hatten, da erteilte sie ihm das Wort.« (DD I, 111)

Verweist schon Genette auf Watsons diskrete Indiskretion,41 wird dieses Erzählmodell im Raucherzimmer bei Groller auf die Spitze getrieben: »Seit zwei Monaten hatten sie ihn [Dagobert, C.P.] mit keinem Auge gesehen. Er war förmlich verschollen gewesen. ›Es ist schön von Ihnen, Dagobert, daß Sie wenigstens noch am Leben sind!‹ bewillkommnete ihn Frau Violet freudig erregt, während ihm Grumbach mit Herzlichkeit die Hand schüttelte. ›Ich gebe zu, es ist ein hübscher Zug von mir, aber es hätte wahrhaftig nicht viel gefehlt –‹ Er vollendete nicht, und man fragte nicht. Man wußte von früher schon, daß er bei Tische, solange die aufwartende Dienerschaft noch ab und zu [sic] ging, nicht zum Reden zu bringen sein werde, und so fragte man sich vorderhand nur gegenseitig das Befinden ab und erging sich sonst in allgemeinen und gleichgültigen Redensarten.« (DD II, 3)

Während also die Dienerschaft als potentielle Gefahr der gepflegten Salonkommunikation angesehen wird, konfiguriert das Raucherzimmer ein bürgerliches Phantasma der Sicherheit und der Diskretion: Dieser Salon im Salon fungiert als Panikraum, als Fluchtort, der innerhalb des privaten Raums bzw. – im Fall des Salons: – des halböffentlichen Raums,42 einen zweiten geschützten Raum eröffnet, von dem Ermittlung und Erzählung gleichermaßen ausgehen. Die diskrete Indiskretion resultiert nicht zuletzt daraus, dass sich, wie oben im autofiktionalen Spiel von Grollers Novellen-Zyklus zu sehen war, auch die anonyme Erzählinstanz der Rahmenhandlung (»ein gemeinschaftlicher Freund«) als Teil des geschützten Raumes zu erkennen gibt. Die Novelle »Eine Verhaftung« expliziert im Handlungsverlauf die Soziopoetik des gesamten Detektivzyklus: Das Rätsel verlässt das Raucherzimmer nicht, da es der Detektiv längst als solches erkannt und gelöst hat, während es im Salon unentdeckt bleibt. Der skizzierte Panikraum verdeutlicht mehrere Bedrohungsszenarios des Bürgertums und des niederen Adels, zuallererst den Rufmord als Skandal und Affäre. Trotz tatsächlich auftretender physischer Mordfälle (z.B. »Ein sonderbarer Fall«), hat es Dagobert in seinen »Abenteuern« größtenteils mit »gesell-

41 Vgl. G. Genette: Die Erzählung, S. 159. 42 Vgl. Karlheinz Rossbacher: Literatur und Bürgertum. Fünf Wiener jüdische Familien von der liberalen Ära zum Fin de Siècle, Wien u.a. 2003, S. 86.

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schaftlichen Todesurteil[en]« (DD I, 92) zu tun. Dem entspricht auch eine wesentliche Funktion des Amateurdetektivs: Er repariert, versichert und überwacht Reputationen.43 Der Salon im Salon verweist demgegenüber aber auch auf eine »Lücke«, die »in der liberalen Gesellschaft zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum« entsteht. Der diskrete Detektiv tritt wie der Arzt und der Rechtsanwalt auf, um diese Lücke zu füllen: »Im Privaten bringt er Angelegenheiten in Ordnung, die ohne sein Eingreifen Gefahr laufen würden, an die Öffentlichkeit zu gelangen.«44 Dieser Bereich der detektivischen Tätigkeit lässt sich zwar auch in den Sherlock-Holmes-Storys finden,45 avanciert allerdings bei seinem jüngeren Wiener Bruder zum umfassenden Prinzip. Massiv bedroht wird Violets Reputation durch die titelgebenden »Anonymen Briefe«, die sie kompromittieren: »Sie kam aus den Erregungen gar nicht mehr heraus, sie hatte keine frohe Stunde mehr und ihr Leben war geradezu zerstört.« (DD I, 80) Dagobert nimmt diesen Fall zunächst zum Anlass, um in trauter Atmosphäre im Raucherzimmer von einem früheren Fall in der Wiener Aristokratie zu erzählen, der glücklich erledigt werden konnte. Dann macht er sich an die Spurensicherung, die bei graphologischen Studien beginnt, diesmal allerdings mit gehörigen Schwierigkeiten: »Da geht Männliches und Weibliches durcheinander, daß man verrückt werden könnte [...]. Das ist entweder ein sehr männliches Frauenzimmer oder ein weibischer Mann.« (DD I, 83) Eine mikroskopische Untersuchung des Briefpapiers bringt schließlich die Aufklärung, welche durch das Stereotyp einer berufsmäßigen Effeminierung auch wieder die Geschlechterordnung herstellt: Die Spurensicherung führt über einen Tabakfaden der – orientalistisch einschlägigen – Marke »Sultan flor« zu einem ehemaligen Schauspielerkollegen Violets, einem ständigen Gast im Salon Grumbach, den der Detektiv schließlich persönlich aus der Intimität des Salons expediert. Damit ist ein zweites Bedrohungsszenario benannt, das in Grollers Detektivgeschichten mehrfach variiert wird: der unrechtmäßige Aufenthalt von Personen im Salon als sozialer Einbruch mit erpresserischen Absichten gegen Gastgeber und Gastrecht. Gleichzeitig wiederholt sich dieser Prozess wie in den »Anonymen Briefen« auf diskursiver Ebene: Kunst und Literatur, vertreten durch den mehrdeutigen, au-

43 Als dementsprechende Urszene kann Edgar Allan Poes »The Purloined Letter« (1844) gelesen werden. 44 L. Boltanski: Rätsel und Komplott, S. 130f. 45 Vgl. in den »Adventures of Sherlock Holmes« etwa »A Scandal in Bohemia« oder »A Case of Identity«.

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torschaftlich nicht fassbaren und hermaphroditischen Künstlerbrief,46 werden wirkmächtig aus dem Salon ausgetrieben und wieder in die Bahnen des historistischen Kommentars über Kunst gelenkt, den Detektiv Dagobert noch meisterhafter und vor allem ausholender beherrscht als die Kriminalistik.47 Es ist nicht zuletzt dieser Diskurs, der die Stabilität der Salonordnung, d.h. auch außerhalb des Raucherzimmers, widerspiegelt. Die imaginäre Dichte und symbolische Überformung der sozialen Realität, die Raum und Erzählung in Grollers Novellen disponiert, zeigt sich vor allem dort, wo der Amateurdetektiv fernab des Wiener Salons auf Abwege in den transleithanischen Teil der Monarchie gerät. »Eine unfreiwillige Reise« – so der Titel einer weiteren Novelle – treibt den Detektiv bewusstlos in einem kleinen Boot donauabwärts. Ihre Route lässt sich zwar, zurück im sicheren und diskreten Hafen des Raucherzimmers, nur lückenhaft rekonstruieren, gleichzeitig evozieren die geografischen Grenzüberschreitungen aus der Perspektive des Panikraums deutlich dessen ideologischen Rahmen: Dagoberts »unfreiwillige Reise« beginnt vorerst in jenen städtischen Regionen, die sich dem bürgerlichen Bewusstsein um 1900 zunehmend entziehen und gleichzeitig ›zu nahe‹ kommen. Damit sind Teile der Wiener Vorstadt gemeint, die durch das exorbitante Bevölkerungswachstum Wiens zu proletarischen Territorien werden. Namhafte Publizisten und Schriftsteller imaginierten diese Gegenden um 1900 als koloniale Ethno- und Topografien, denen man sich mitunter »stanleyartig«,48 d.h. wie auf einer Afrika-Expedition Henry Morgan Stanleys in neue, unbekannte Territorien nähern konnte. Ähnlich lässt sich nun Detektiv Dagoberts Übertritt in die neue Welt an:

46 Vgl. F. Moretti: Clues, S. 146: »Detective fiction [...] is literature that desires to exorcise literature.« Moretti meint damit im Anschluss an Jakobson vor allem die Mehrdeutigkeit der poetischen Funktion. 47 »Otto Wagners Kunstweise unterscheidet sich nämlich von den andern bisher gebräuchlichen Baustilen – Sie erlauben doch Gnädigste, daß ich Ihnen das auseinandersetze - ?«/»Nein, Dagobert, das erlaube ich durchaus nicht. Ästhetik und Kunstkritik kommen später [...], jetzt aber haben Sie bei der Stange zu bleiben.« (DD V, 25) 48 Im Reisetagebuch, das Theodor Herzl 1886 – freilich nicht während einer Afrika-, sondern Europareise führte –, imaginiert er sich in den Afrika-Forscher Henry Morgan Stanley. Dabei fällt ihm eine Feuilletonidee für Wien ein, die das koloniale Setting in den Bereich des Sozialen, in die Wiener Vorstadt, transferiert: »Reisebrief (aus Favoriten / Gegend, die selten eines Europäers Fuss betritt. Stanleyartig)« (Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher, Bd. 1, hg. von Alex Bein u.a., bearb. von Johannes Wachten und Chaya Harel, Berlin u.a. 1983, S. 692).

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»Für mich war es also klar, daß ich meinen Weg über die Brigittabrücke nehmen mußte, in die Brigittenau, den zwanzigsten Bezirk, in den ich früher äußerst selten gekommen war und den ich daher fast noch gar nicht kannte. Als Grillparzer in seinem ›Armen Spielmann‹ die Brigittenau schilderte, da war sie wirklich noch eine Art Au, jetzt ist sie eine Großstadt für sich mit einer allerdings verhältnismäßig recht armen Bevölkerung. Da konnte ich immerhin erwarten, Neues zu sehen und mancherlei Anregungen zu empfangen.« (DD II, 8f.)

Die Grillparzer-Referenz dient insofern zur Absetzung, als sie einerseits die Urbanisierung der Brigittenau von der literarischen Folie als »Großstadt für sich« abhebt, andererseits mit der »armen Bevölkerung« auf den Unterschied zwischen jenem noch romantisch nachhallenden »Volk«, das Grillparzer im Festgewühl schildert – »[d]a ist keine Möglichkeit der Absonderung«49 –, und dem seit den 1870er Jahren wachsenden großstädtischen Proletariat verweist. Im Gegensatz zu Grillparzers Erzählung beruht die Imagination des Proletariats als Masse gerade auf einer Absonderung, wie Frau Violet zur Brigittenau ausführt: »Ich bin in meinem Leben noch nicht dort gewesen, Dagobert.« (DD II, 9) Während die ungarischen Fischer, die den angeschlagenen Detektiv aus der Donau fischen, das Idyll habsburgischer Regionalfolklore aufrufen, figuriert der vermeintliche Handwerker und Dieb Max Glan (vulgo der »g’flickte Maxl«), durch den der Detektiv donauabwärts befördert wird und der in der Brigittenauer »Großstadt für sich« seinen Wohnsitz täglich ändert, als proletarisches Schreckensbild der Wiener Gesellschaft. Die kolonialistische Topografie, die in der oben genannten Novelle auf den schwarzen Marmortisch in der Mitte des Raucherzimmers projiziert wird, der an anderer Stelle (»Die feinen Zigarren«) selbst zum Evidenzmedium avanciert, lässt einen weiteren Vergleich zwischen Sherlock Holmes und Dagobert Trostler zu. Gegenüber den kolonialen Dingen, Personen und Diskursen, die Teil von Holmes’ London sind und solchermaßen auf die Weltkarte des Kolonialverkehrs verweisen,50 nimmt sich das »Herz der Finsternis«, das in Trostlers binnen- und

49 Franz Grillparzer: »Der arme Spielmann«, in: ders., Sämtliche Werke. Historischkritische Gesamtausgabe, 1. Abt., 13. Bd.: Prosaschriften I, hg. von August Sauer und Reinhold Backmann, Wien 1930, S. 37-81, hier S. 37. Noch expliziter heißt es dazu ebd.: »Der Unterschied der Stände ist verschwunden«. 50 Siehe u.a. »The Sign of Four«, »The Adventure of the Devils Foot« und »The Hound of the Baskervilles«. Neben Doyles Geschichten vor allem Wilkie Collins’ Roman The Moonstone.

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sozialkolonialistischen Abenteuern und Rufmord-Aufklärungen schlägt, doch eher klein aus. Davon ausgehend figurieren Holmes und Trostler auch zwei unterschiedliche Formen des Liberalismus: Die hochkapitalistische Commonwealth-Variante findet ihre Entsprechung im privaten Detektiv aus der Baker Street. Anders als bei Conan Doyle, dessen staatlicher Scotland Yard-Detektiv Lestrade eindeutig auf der Seite der fools zu finden ist, wird diese Instanz bei Groller aufgefächert: in den guten und mit dem Amateurdetektiv kooperierenden Polizeikommissar Weinlich und den Lestrade an institutioneller Beschränktheit übertreffenden Kommissar Ritter von Skrinsky. Während Skrinsky als adeliger Privilegienritter und Antiaufklärer ausgegeben wird, figuriert Weinlich als bürgerlicher Spätaufklärer in Josephinischer Tradition. Dabei tritt er nicht allein als Kompagnon des Meisterdetektivs in Erscheinung, sondern verbindet auf institutioneller Ebene auch den Staatsapparat mit dem Raucherzimmer. Dieser Salon im Salon erscheint also explizit als Panikraum des politischen und kulturellen Liberalismus, der zumindest politisch seit den 1890er Jahren in der Donaumonarchie durch die sozialistischen und die christlich-sozialen Bewegungen zunehmend in Bedrängnis geraten war. Sherlock Holmes’ Rückzugsort in der Baker Street, sein exzentrisches Denklabor – gleichzeitig Wohnzimmer, Bibliothek und Wunderkammer sowie häufig Schauplatz der Dialoge mit Watson und der Fallentwicklung – hat weder einen Panikraum, noch eine staatliche Vertretung nötig, wenngleich auch der Londoner Detektiv im Kampf gegen das geniale Verbrecher-Individuum den individuellen Pionier- und Abenteuergeist des Bürgertums übernimmt, dessen ökonomisches Ethos längst von der Angst vor der anonymen Masse in der Metropolis überlagert wird.51 Ein mit Holmes’ »spiegelverkehrte[m] Doppelgänger«52 Dr. Moriarty vergleichbarer genialer Verbrecher, der diese Angst als bürgerliche Anarchie konfiguriert, fehlt in Trostlers Verbrechersammlung.

IV. Die bisher genannten Intimitätsverletzungen der Wiener Bourgeoisie (und Adelsgesellschaft), gegen die Detektiv Dagobert ermittelt, massieren sich in der Novelle »Der Falschspieler« an jenem symbolischen Ort, an dem seit dem 18. Jahrhundert auf Theaterbühnen sowie in Bildungs- und Gesellschaftsromanen verstärkt soziale Grammatik und illusio des sozialen Spiels reflektiert werden:

51 Vgl. F. Moretti: Clues, S. 139ff. 52 L. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 102.

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am Spieltisch. Da Andreas Grumbach zum Vorsitzenden im »Klub der Industriellen« aufsteigt, erweitert sich der Grumbachsche Salon beträchtlich, ebenso wie Dagoberts Aufgaben als Reputationsdetektiv. Nach dem obligatorischen »dann begaben sie sich ins Rauchzimmer« lässt Dagobert die Bombe platzen: »Weißt du übrigens, mein lieber Grumbach, daß in deinem Klub falsch gespielt wird?« (DD I, 38) Grumbach ist außer sich, es steht wiederum sein gesellschaftlicher Ruf auf dem Spiel, der im Klub der Industriellen naturgemäß mit Geschäftsinteressen verknüpft ist: »Wessen Name wird mit der schmutzigen Geschichte in Zusammenhang gebracht werden? Der meinige! Das Regime Grumbach!« (DD I, 39) Detektiv Dagobert entdeckt bei einigen Spielkarten im Klub eine Markierung, die er der »Kunst« der Maquillage, französisch für Schminke, zuordnet und an dem Ehepaar Grumbach erprobt. Gegenüber der konsequenten semantischen Engführung von Karten- und sozialem Spiel erscheint eine Aussage Dagoberts (zum Kartenspiel) von besonderem Interesse, die sein »operative[s] Durchforsten der Realität«53 ausstellt. »Ich habe das Spieltalent. [...] Ich wäre also auch ohne Mogelei für jeden, geschweige denn für Ihr kindliches Gemüt, meine Gnädige, ein sehr gefährlicher Gegner. Weil dem aber so ist, und weil ich alles weiß und kenne, spiele ich selbst niemals, grundsätzlich nicht. Ich bin nur ein sehr geachteter Kiebitz, der im Zuschauen keine Fehler macht, und gelte bei allen Streitfragen als oberste und inappellable Instanz.« (DD I, 42)

Eindrücklicher könnte die Rolle des Gesellschaftsdetektivs nicht auf den Punkt gebracht werden – der Wiener Sherlock Holmes ›spielt‹ nicht mit, sondern operiert als Wächter in der sozialen Matrix.54 Diese Funktion ist in Anbetracht des Falschspielers Baron André nicht nur für die Reputation Grumbachs von Bedeutung, sondern auch für die junge Baronin von Eichstedt, die von Violet in die Salongesellschaft eingeführt wird und der eben jener galante Mann den Hof macht, den Dagobert schließlich als Falschspieler im Doppelsinn entlarvt. Natür-

53 Ebd., S. 43. 54 Dabei wird deutlich ausgesprochen, dass das Übertreten der Privatsphäre auf der einen Seite die Privatsphäre der anderen sichert: »Sie [Violet, C.P.] kannte die große Passion Dagoberts, sich als Amateur-Detektiv um Dinge zu kümmern, in Sachen hineinzumischen, die ihn eigentlich gar nichts angingen und sich dabei gelegentlich in recht bedenkliche und gefährliche Zwischenfälle verwickeln zu lassen. Sie erinnerte sich dabei dankbaren Gemütes, welch wichtige Dienste er mit seiner merkwürdigen Gabe scharfsinniger Kombinationskunst als Gentleman-Detektiv wiederholt ihrem auch ihrem Hause schon geleistet habe.« (DD II, 4)

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lich ist auch dessen Identität nur ›geschminkt‹. Der Detektiv liefert ihn allerdings nicht der Polizei aus, um den Skandal zu vermeiden, sondern behandelt ihn »privatim« (DD I, 52).55 Dieses falsche soziale Spiel korrespondiert der Raumordnung des Panikraums: Frau Violet ist zwar noch nie in der Brigittenau gewesen, dafür droht der unbekannte Stadtkontinent in der Figur des Hochstaplers und Aufsteigers unrechtmäßig in den Salon vorzudringen. Dabei wird das Bürgertum nicht nur in eigener Sache tätig, sondern übernimmt angesichts des dort mangelnden Selbstschutzes auch die Agenda der Aristokratie. Wie in den Sherlock-Holmes-Geschichten bleibt die Ebene der ökonomischen Produktion (ebenso wie jene einer Soziologie des Verbrechens) auch bei Grollers Novellen aus der Perspektive des Panikraums ausgeblendet.56 Die Kohärenz der sozialen Realität folgt dabei einerseits dem kapitalistischen Imperativ von Zirkulation und schöpferischer Zerstörung, andererseits der relativen Beständigkeit der sozialsymbolischen Transzendenz. Dass die freisinnige Salongesellschaft gerade hinsichtlich der Dialektik von Marktökonomie und sozialer Beständigkeit allerdings Regulative, Rücklagen und Versicherungen nötig hat, belegen Dagoberts kritische Bemerkungen zum Hasardspiel im Industriellen-Klub, das Grumbach schließlich abschafft: »Der Trieb, Hasard zu spielen, besteht einmal, ist vielleicht in der menschlichen Natur begründet, und da kann er, wenn er sich betätigt, leicht gefährlicher werden, wenn das gezwungenermaßen im geheimen geschieht, als im Lichte und unter der Kontrolle der Gesellschaft.« (DD I, 49) Im Fall »Der große Unterschleif« überführt Detektiv Dagobert den Generalsekretär jener Bank, der sein Freund Grumbach als Präsident vorsteht, des Betrugs. Es handelt sich dabei um eine der wenigen Novellen, die ohne das Raucherzimmer im Salon Grumbach und ohne Rahmenerzählung auskommen: Dagobert in seiner Funktion als Aufsichtsrat verwickelt den Generalsekretär in ein Gespräch, in dessen Verlauf er dem Mitarbeiter der Bank die Veruntreuung größerer Summen nachweist; jenes Geld, das zunächst in den USA vermutet

55 Die weibliche Variante dieses Falschspielers verkörpert die russische »dramatische Tänzerin« (DD II, 50) und vermeintliche Fürstin Feodorowna Obolinskaja in »Der große Rubin«. 56 Vgl. ebd. Wenn Arbeit und Produktivkräfte in den Rahmen der Detektivgeschichte geraten, dann als Zeichen falscher Realität wie der flüchtige Verbrecher in »Eine unfreiwillige Reise« als »Nußdorfer Hauerbube«: »Der Kavalier hatte jetzt hohe Stiefel an und einen Lodenrock; keine Spur mehr von der früheren Eleganz, aber das grobe Zeug stand ihm viel besser und natürlicher. Er sah nun genau so aus, wie die anderen Nußdorfer Hauerbuben.« (DD II, 17)

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worden war, sei immer in nächster Nähe gewesen. Dagobert erläutert dabei im Gespräch mit dem überführten Generaldirektor (beinahe in der Manier des Untersuchungsrichters bei Dostojewski oder des Fernsehkommissars Columbo) retrospektiv alle Schritte der Aufklärung. In diesem Rahmen hebt der Detektiv und Aufsichtsrat der Bank auch jene »Kontrolleinrichtungen« (DD I, 68) hervor, die er selbst nach dem Betrugsfall installiert hat, und die den Detektiv – wie auch der betrügerische Generalsekretär zu bestätigen weiß – zur »Seele unserer Verwaltung« (DD II, 67) machen. Die Imagination der bankinternen Regulation und der reibungslosen Zirkulation verweist wie im Fall des sozialen Spiels immer auch auf das Negativ eines falschen Spiels und einer korrumpierten Zirkulation bzw. einer ›zerstörerischen Zerstörung‹. Wenn mit den Kontrollmechanismen die Reorganisation der sozialen Realität als kohärente Erzählung erfolgt, erscheint der Detektiv sowohl als Figur der Regulierung wie auch der Deregulierung: Denn die Regulierung impliziert gemäß dieser Logik keine Behinderung der Ökonomie, sondern ein Phantasma der ›Reinigung‹. Damit versucht der Detektiv einen Widerspruch aufzulösen: Der Liberalismus steht vor dem Paradox, dass der moderne Nationalstaat um 1900 jene äußeren Grenzen und inneren Individualitätsrasterungen, die der Liberalismus selbst politisch konstituiert, gegenüber dem flüssigen und grenzüberschreitenden Kapital nicht aufrechterhalten kann.57 Verbrecher und Verbrechen erscheinen dabei als figurative Repräsentation jenes ›bösen Kapitals‹, das sich, obwohl es Teil einer selbst aufgesetzten Struktur ist, gemäß der Logik kapitalistischer Märkte schließlich gegen diese Struktur wendet. Der Detektiv avanciert so zum Übersetzer struktureller Selbstreferenz. Obwohl als Amateur eingeführt, ist Detektiv Dagobert mit dem zeitgenössischen Diskursfeld der Kriminalanthropologie und Kriminalpsychologie bestens vertraut. In der Geschichte »Eine Verhaftung« werden diesbezüglich zwei Namen genannt: »[E]s ist selbstverständlich, daß wir uns […] mit Lombrosos Theorie vom geborenen Verbrecher nicht minder eifrig beschäftigen als mit den mehr auf das Praktische gerichteten, wissenschaftlichen Werken von Prof. Dr. H. Groß u.a. Die Lombrososchen Folgerungen werden in unserer Zeit vielfach bekämpft und sogar ein wenig von oben herunter behandelt. Doch nicht mit Recht, wie ich nach meinen einschlägigen Beobachtungen und Erfahrungen behaupten möchte. Die Degenerationsmerkmale treten in der Verbrecherwelt so häufig auf, daß sie doch zu gewissen Schlüssen berechtigen.« (DD V, 33)

57 Vgl. L. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 72.

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Einerseits verweist die kriminalistische Praxis Hans Gross’ auf die offensichtliche Vorbildwirkung für die Figur Dr. Weinlichs. Als Untersuchungsrichter systematisierte Groß die Kriminalistik in den 1880er und 1890er Jahren maßgeblich, fasste seine Ergebnisse im berühmten Handbuch für Untersuchungsrichter (1893) zusammen und hatte nach Aufenthalten in Prag und Czernowitz einen Lehrstuhl für Kriminalistik in Graz inne. Andererseits bezieht Detektiv Dagobert mit dem Hinweis auf Cesare Lombrosos »Theorie im geborenen Verbrecher« auch auf dem theoretischen Feld Stellung – in einer gleichermaßen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatte der Kriminalanthropologie: Das Zauberwort heißt »Degeneration«, deren »Häufigkeit« bei Verbrechern den Detektiv doch zu bestimmten Schlüssen »berechtigt«. Identifikation wird wie im Werk des von Trostler genannten italienischen Mediziners und Kriminalanthropologen zu einer Kategorie der (Sozial-)Biologie und (Psycho-)Pathologie. In Lombrosos epochemachendem Werk l’uomo delinquente (1876) wird das deviante und potentiell delinquente Individuum sowohl äußerlich – als Medium dienen Hinterhauptmulde und fliehende Stirn des ›geborenen Verbrechers‹ – als auch innerlich durch pathologische Abweichungen wieder zum anthropologischen Sonderfall bzw. in einer Serie von Regelmäßigkeiten typisiert.58 Die Verlagerung der Perspektive sowie die daraus erwachsenden Regress- und Abweichungserzählungen stellen die Kehrseite des liberalen Fortschrittsdiskurses dar: Die Detektiverzählung im Inneren des Salons gewährleistet den hektisch taxierenden pathologischen und physiognomischen Blick in und auf den delinquenten Körper. Neben der französischen Schule der Kriminalanthropologie, die von Anfang an eine Nähe zur entstehenden Soziologie verfolgte, war das diskursive Feld vor allem in der Donaumonarchie ein umkämpftes. So kommt bereits der an der Polyklinik von Arthur Schnitzlers Vater tätige Neurologe Moriz Benedikt, der den jungen Sigmund Freud mit einem Empfehlungsschreiben für JeanMartin Charcot ausstattete, in Anatomische Studien an Verbrecher-Gehirnen (1879) zum Schluss, dass es zwar eine anthropologische Abweichung bei Delinquenten gebe, diese sich allerdings im größeren Bereich der Pathologie verlieren. Die Hirntopografie mehrerer Raubmörder weise ähnliche Indizien auf wie die eines Epileptikers.59 Gesteigert wurde diese epistemische Unsicherheit noch

58 Vgl. Cesare Lombroso: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, in dt. Bearbeit. von M. O. Fraenkel, Hamburg 1887. Zum Einsatz von Lombrosos Theorie bei Conan Doyle vgl. S. Osterwalder: Düstere Aufklärung, S. 80ff. 59 Vgl. Moriz Benedikt: Anatomische Studien an Verbrecher-Gehirnen. Für Anthropologen, Mediciner, Juristen und Psychologen, Wien 1879, S. 25.

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durch eine 1902 vom Gefängnispriester Johannes Jaeger herausgegebene und vom erwähnten Hans Gross mit einem Vor- und Nachwort versehene Sammlung Hinter Kerker-Mauern. Autobiographien und Selbstbekenntnisse von Verbrechern. Die Herausgeber gelangen anhand der »Sträflingsemanationen« zur Gewissheit, »daß der Verbrecher in keiner Weise eine typische Varietät des genus humanum darstellt«.60 Vielmehr seien die »den Verbrechern gemeinsamen Merkmale lediglich als Folgewirkungen des Milieu [sic] anzusehen«.61 Gerade Gross, der in seinem Handbuch für Untersuchungsrichter Lombrosos anthropologische Theorien breit referiert, zeigt aber, dass es dabei nicht allein um Unsicherheiten und widerstreitende Konzepte, sondern auch um unterschiedliche Wissensordnungen geht. Praxis und Archiv der erkennungsdienstlichen Erfassung verfolgen keine Typisierung, sondern umgekehrt eine Individualisierung.62 Die angedeutete Differenz spielt auch in Grollers Detektivnovelle »Eine Verhaftung« eine Rolle, ja wird darin geradezu offen ausagiert. Dagoberts Fall kommt dadurch in Gang, dass im Beisein des Detektivs auf einer Gartenparty eines eben geadelten Großindustriellen eine Zigarettendose gestohlen wird. Unter Verdacht gerät – tatsächlich: – der Gärtner, den der consulting detective schließlich mittels Fingerabdruck als den seit längerer Zeit gesuchten Raubmörder Riederbauer entlarvt und vom herbeigeeilten Polizeikommissar Weinlich verhaften lässt; und all das, ohne die Festgesellschaft zu stören. In Bezug auf die von Lombroso festgesetzten Degenerationsmerkmale führt Dagobert aus: »Riederbauer bildet in dieser Hinsicht eine glänzende Ausnahme, die ebendeshalb doch noch nichts gegen die Regel beweist. Als solche aber ist sie besonders beachtenswert. Sein Körper ist durchaus ebenmäßig und wohlgebildet, und sein Kopf bietet den tadellosen Typus eines Cäsarenkopfes dar. Man müßte höchstens, was doch wohl nicht angeht, diesen Typus selbst schon als ein verdächtiges Merkmal ansehen.« (DD V, 33)

Wiederum erhält die Bedrohlichkeit des Szenarios vor der Folie der Intimität des Raucherzimmers Kontur, auch weil das makellose Aussehen des Raubmörders Riederbauer und die Figur des sozialen Falschspielers und unverhältnismäßigen Aufsteigers korrespondieren. Zwar kann der Detektiv diese Bedrohung abwen-

60 Johannes Jaeger: »Vorwort des Herausgebers«, in: ders. (Hg.), Hinter Kerkermauern. Autobiographien und Selbstbekenntnisse, Aufsätze und Gedichte von Verbrechern. Ein Beitrag zur Kriminalpsychologie, mit einer Einbegl. und einem Nachw. von Hans Gross, Berlin 1906, S. 6. 61 Hans Gross: »Einbegleitung«, in: ders. (Hg.), Hinter Kerkermauern, S. 1. 62 Vgl. dazu den Beitrag von Daniel Meßner im vorliegenden Band.

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den, gleichzeitig deckt seine Handlung in der Erzählung aus dem Raucherzimmer überhaupt erst die kriminelle Unterwanderung des ›ehrenwerten‹ Hauses auf, von welcher der Eigentümer, ein nervöser, um sein Leben fürchtender und frisch geadelter Industrieller, bis zum Schluss nichts weiß. Die Dringlichkeit von Dagoberts Einsatz, der zunächst auf einem paranoiden Impuls inklusive einer vagen bildlichen Erinnerung des Meisterdetektivs beruht, lässt sich daran ablesen, dass der später überführte Raubmörder vom Industriellen aus Sicherheitsgründen – der Angst vor Einbrechern – zum Schlafzimmergenossen ernannt wird. Wenn Leib und Besitz im intimsten Bereich des privaten Lebens bedroht sind, darf auch Lombrosos Theorie nicht zur Gänze aufgegeben werden: Die Abweichung dient als Bestätigung der Degenerationsregel und wird vom virtuosen Privatdetektiv wieder in das Archiv der Degeneration überführt, indem die körperliche Makellosigkeit (wenn auch ironisierend) selbst zum Unterscheidungsmerkmal ernannt wird. Damit tilgt der Wiener Amateurdetektiv die epistemische Ambiguität, die sich als anthropologische Indifferenz manifestiert hatte, und konfiguriert die differenten Wissensordnungen: Detektiv Dagobert agiert dabei nicht nur als Agent des liberalen Salonbürgertums, sondern auch der liberalen Wissensordnung, indem er die imaginäre Offenheit, die diese Ordnung (wie im Fall der kriminalpsychologischen Reflexion Hans Gross’) selbst hervorgebracht hat, überschminkt. Diese Signatur erhält ihre Dopplung in der Novelle »Eine unfreiwillige Reise«, in welcher der Detektiv vom »physiognomischen Blick« (DD II, 18) besten Gebrauch macht. Gemäß der von Groß im Handbuch für Untersuchungsrichter systematisierten und etablierten kriminalistischen Praxis gelangt dieser Blick im Verbund mit dem fotografischen »Verbrecheralbum« (DD II, 18) und der Daktyloskopie zur vollen Wirkung. Anthropologie, Pathologie und Sozialtechnologie auf der einen und Ermittlungs- und Identifizierungstechnik auf der anderen Seite fallen dabei idealtypisch zusammen und erhalten im Amateurdetektiv ihre mythisch-transzendente Entsprechung. Die Meisterschaft des Amateurs liegt nicht zuletzt darin, dass Detektiv Dagobert bei Riederbauer ebenso wie im Fall des Rufmords und der Hochstapelei Rätsel und Problemfelder behandelt, die der Staat und seine Organe grundsätzlich zwar aufwerfen und zu lösen vermögen, die sich aber gleichzeitig den institutionalisierten Rasterungen von Legalität und Normalität entziehen. Der Detektiv, vor allem dessen Wiener Ausprägung bei Balduin Groller, hilft dabei, den Abstand zwischen »gelebter und instituierter Realität, zwischen Subjektivitäten und den

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objektiven Dispositiven, die ihnen als Rahmen dienen«,63 zu verringern. Er wird so – mit Boltanski (nach Giorgio Agamben) – zum »alltäglichen Ausnahmezustand« des Staats.64 Der Fall Riederbauer gewinnt seine Brisanz nicht zuletzt im Kontext der schwierigen Verfasstheit der habsburgischen Donaumonarchie, ihrer doppelbödigen Gesellschaft(en) und Institutionen.

V. Abschließend lohnt sich ein Blick in einen kleinen, aber umso bemerkenswerteren Salon des österreichischen Liberalismus. In ihren Memoiren schreibt Bertha von Suttner: »[E]inen sehr lieben Umgang besaßen wir an Balduin Groller […]. Humor und Herz: das sind die Eigenschaften, die Balduin Groller als Feuilletonisten und Menschen charakterisieren. Daher man in seiner Gesellschaft sich vortrefflich amüsiert und so wohlig fühlt dabei; man lacht über den trockenen Witz und labt sich an dem warmen Gemüt. Daß er ein hübscher, dunkelhäutiger, eleganter und sportgewandter Mann war, verdarb nichts. […] Manchmal gesellte sich Theodor Herzl zu uns. Auch dieser sprühte vor Witz. Und dieser Kopf: wie ein assyrischer König! Der hätte wirklich König des neuen Zion werden sollen, dessen Erwecker er ja gewesen ist und das vielleicht, wenn er nicht so frühzeitig gestorben wäre, heute schon existierte.«65

Balduin Groller ist also mit Bertha von Suttner und Theodor Herzl um 1900 in der Mitte zweier Autoren und Intellektuellen zu finden, die maßgeblich an der Renaissance politisch-utopischen Denkens und Schreibens in Wien um 1900 – Versuchslabor nicht nur für den Weltuntergang, sondern auch der Arbeit an der

63 L. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 47. Vgl. dazu auch Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège des France 1977-1978, hg. von Michel Sennelart, aus d. Franz. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2004, und ders.: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, hg. von Michel Sennelart, aus d. Franz. von Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2004. 64 Vgl. L. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 149. 65 Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart 1909, S. 185f.

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Zukunft – verantwortlich waren.66 Diese Konstellation ermöglicht auch eine kulturgeschichtliche Erweiterung des Gesichtsfelds, aus dem Detektiv Dagoberts Erzählungen aus dem Panikraum heraus hier bislang betrachtet wurden. Denn Bertha von Suttners Der Menschheit Hochgedanken (1911) und Theodor Herzls Altneuland (1902), zwei utopische Romane, weisen Ähnlichkeiten mit Grollers Detektivgeschichten auf. Gegenüber den Kräften der epistemologischen Gravität erscheint der utopische Riss, der räumlich oder zeitlich vollzogen wird, auf einer Strukturebene mit der erzählerischen Verlagerung in den Panikraum: Herzls Romanhandlung setzt mit der Szenerie eines korrumpierten Börsensalons um 1900 ein, die mitverantwortlich für eine über Umwege ins zionistisch kolonisierte Palästina des Jahres 1923 führende Flucht aus Wien ist. Das Ende versammelt die Protagonisten schließlich in einem freigeistigen bürgerlichen Salon ohne Antisemitismus, jüdischen Selbsthass und kapitalistische Profitgier in Palästina. Suttners Roman inszeniert die Rettung der Welt vor dem Krieg aus dem intellektuellen Kreis illustrer Bürger, Industrieller und Adeliger. Das gelingt vor allem durch eine Zusammenführung der Wissensbestände von Ethik, Kunst, Literatur, Technik und Ökonomie, die schließlich für die friedliche Nutzung lenkbarer Luftschiffe – Sinnbild liberaler Phantasmagorien im ausgehenden 19. Jahrhundert – sorgen. Umso weiter der Roman in die Zukunft voraus schreitet, desto erfolgreicher gelingt es, die ethische Durchsetzung der Salonöffentlichkeit zwischen technischem und moralisch-kulturellem Fortschritt zu vermitteln. Angesichts dieser Zukunftsprojektionen des liberalen Erbes zeigt sich, was der Salon um und nach 1900 nicht mehr ist: ein Raum, der die bürgerliche Privatsphäre mit der politisch-ökonomischen, kulturellen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit des Liberalismus kongruieren lässt und solchermaßen als Vermittler – oft widerstrebender Felder, Logiken und Interessen – zwischengeschaltet wird. Dieser Raum konnte vormals als Grundlage des emanzipatorischen Selbstverständnisses deutsch-jüdischer Bürger der Habsburgermonarchie fungieren.67 Suttners und Herzls single issue-Utopien verlagern den durch Antisemitismus, Nationalismus, Sozialismus, Krieg und Börsencrash bedrohten freisinnigen, deutsch-jüdischen Salon inklusive seiner bürgerlichen »Theorie der Geselligkeit«68 in die pazifistische Zukunft bzw. in die Zukunft eines zionistischen Palästina. In diesen Zukunftsgesellschaften erscheint der Salon wieder als Nukleus der Definitionsmacht über die soziale Realität, die in die Lage versetzt wird,

66 Vgl. Clemens Peck: Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das »Altneuland«Projekt, Berlin 2012, S. 308-327, 400-403. 67 Vgl. dazu grundlegend K. Rossbacher: Literatur und Bürgertum, S. 84-103. 68 Ebd., S. 86.

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den Fortschritt ethisch zu kanalisieren. Bei Herzl und Suttner kommt es zu einer Vermählung von Utopie und Fortschritt, welche die Zukunft selbst dem kolonialistischen Zugriff öffnet: Der Fortschrittdiskurs wird dabei als ein Labor verstanden, in dem die Zukunft selbst »kolonisiert« werden kann.69 Grollers Novellenzyklus projektiert und verschiebt nicht in die kolonisierte Zukunft bzw. in koloniale Räume, sondern verlagert nach innen, um dort eine neue Handlungs- und Deutungsinstanz zu etablieren: Seine Detektivgeschichten ziehen mit dem Salon im Salon einen heterotopen Schutzraum ein, in dem jene sozialen Regulierungen erzählt werden, die der Detektiv an der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum vornimmt. Während die genannten utopischen Romane Liberalismus und bürgerliche Kultur zeitlich (bzw. zeiträumlich) transferieren, rettet bei Groller die mythisch detektivische Serienfigur die Wirklichkeit des Liberalismus. Es bleibt die Kuriosität des Namens: Detektiv Dagobert. Einerseits mag damit auf Grollers Geburtsnamen Adalbert angespielt werden, andererseits führt die Spur noch einmal zum Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen, zu den für Groller maßgeblichen Romanen Eugène Sues. Wenn der Wiener Sherlock Holmes, wie hier zu zeigen versucht wurde, als Türhüter und Gesellschaftsdetektiv fungiert, dann rekurriert er – im Gegensatz zum Londoner Vorbild – auch auf die Beschützer-Figur des ehemaligen napoleonischrepublikanischen Soldaten Dagobert aus Sues Juif errant (1844-1845), dem berüchtigten Nachfolger des ersten modernen Kolportage- und Sozialromans Mystères de Paris (1842-1843). Dieser Dagobert begleitet die beiden Mädchen Rose und Blanche – die Dritte könnte Violet heißen – auf ihrem Weg aus Sibirien nach Paris, beide Abkömmlinge der Schwester des Ewigen Juden Ahasver und der Familie Rennepont, die Dagobert letztlich vergeblich vor einem jesuitischen Komplott zu schützen trachtet. Mit der Übernahme dieses Vornamens, der durch den sprechenden Familienamen Trostler weiter bestärkt wird, rücken jene, die von den Dagoberts zu beschützen sind, in den Mittelpunkt, obwohl sie auf den ersten Blick zwischen den bürgerlichen und adeligen Auftraggebern nicht explizit ausgewiesen werden: die deutsch-jüdische Bevölkerung, die zusehen musste, wie sich die liberalen Verheißungen der Gründerzeit-Generation in der eigenen Lebenswirklichkeit um 1900 immer mehr auflösten. Der Wiener Detektiv, den Balduin Groller ab der Jahrhundertwende ermitteln lässt, wird dabei von einer ähnlichen – wenngleich weniger elegischen – Energie angetrieben, wie sie später bei Stefan Zweig im

69 Vgl. F. Jameson: Archaeologies of the Future, S. 228.

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Angesicht des Exils gegenüber dem Wiener »Zeitalter der Sicherheit« und der »Versicherung« zu finden ist: »[E]s war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Die Rechte, die er seinen Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit. [...] / Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, die sich dieses Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran; das Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens.«70

Der Wiener Detektiv taucht dort auf, wo die Versicherungsprämien in Gefahr sind und die institutionelle Fortschreibung der »Beständigkeit« zwar noch gewährleistet ist, aber als illusio nicht mehr geteilt wird; wo der Liberalismus entweder zu zerbrechen droht bzw. selbst zerstörerische Formen annimmt, oder die größtenteils verbündete Aristokratie sich dem Antisemitismus, Klerikalismus und – so wie Skrinsky – der Gegenaufklärung anbietet und die zarten Bande mit dem deutsch-jüdischen Bürgertum wieder kappt. Nach Bertha von Suttners Tod 1914 – die pazifistische Schriftstellerin und Friedensnobelpreisträgerin stirbt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs – lässt Groller seinen Detektiv nach mehrjähriger Pause noch einmal auftreten, als Retter der Habsburgermonarchie. Im nun offenen Ausnahmezustand wird die Detektiv- zur Spionagegeschichte umgebaut: Die nur als Nachlassmanuskript erhaltene und im ersten Kriegsjahr angesiedelte Novelle »Dagobert auf dem Kriegspfad. Eine Novelle aus den Herbsttagen des Weltkriegs 1914« führt den Wiener Sherlock Holmes hinter die Kampflinien der östlichen Front in Galizien, um einen gegen den Kaiser gerichteten Spionagefall aufzuklären.71 In Galizien wird

70 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/Main 1991, S. 14f. 71 Vgl. Balduin Groller: Dagobert auf dem Kriegspfad, Ms., Wien-Bibliothek, H.I.N.101109.

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noch einmal die k.u.k.-Kolonialtopografie der östlichen »Kulturbilder«72 ausgebreitet, die den Detektiv fernab des Rauchersalons unter der mehrheitlich »jüdischen Bevölkerung« zeigen, die zwar »wenig gesellschaftliche Anregung« bietet, dafür aber von einer »demüthigen Ergebenheit«73 ist. Schließlich wird eine im zeitgenössisch stereotypen jiddischen Idiom sprechende Gemüsehändlerin zur Verbündeten des Detektivs und übernimmt die Rolle Violets in den szenischdramatischen Passagen. Balduin Groller, geboren im Jahr der Krönung Kaiser Franz Josephs (1848), starb im Todesjahr des Kaisers (1916) und sollte die Auflösung jener Ordnung (liberale Öffentlichkeit, jüdische Emanzipation und Kaisertreue), der sein Amateurdetektiv verpflichtet ist, nicht mehr erleben. Während Groller seinen Wiener Sherlock Holmes für die Donaumonarchie in den Krieg schickt, wartet Sigmund Freud übrigens in der Wiener Berggasse auf das durch die kriegsbedingte Kontinentalsperre ausbleibende Strand Magazine.74

L ITERATUR Anzengruber, Ludwig, Groller, Balduin und Jensen, Wilhelm: Meisternovellen neuerer Erzähler, Leipzig 1910. Benedikt, Moriz: Anatomische Studien an Verbrecher-Gehirnen. Für Anthropologen, Mediciner, Juristen und Psychologen, Wien 1879 Bloch, Ernst: »Philosophische Ansicht des Detektivromans«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, Bd. 2, München 1971, S. 322-342. Boltanski, Luc: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, Berlin 2013. Conan Doyle, Arthur: The Penguin Complete Sherlock Holmes, hg. von Ruth Rendell, London 2009. Conan Doyle, [sic]: Späte Rache. Sherlock Holmes-Serie, Bd. 1, Berlin 1906. Foltin, Hans-Friedrich: »Vorwort«, in: ders. u.a. (Hg.), Sherlock Holmes. Aus den Geheimakten des Weltdetektivs. 15 Lieferungshefte in einem Band, Hildesheim und New York 1973.

72 Vgl. vor allem Karl Emil Franzos’ »Culturbilder«, etwa: Karl Emil Franzos: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus der Bukowina, Südrußland und Rumänien, 2 Bde., Leipzig 1876. 73 B. Groller: Dagobert auf dem Kriegspfad, Bl. 18. 74 Vgl. Michael Rohrwasser: Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler, Gießen 2005, S. 52.

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Franzos, Karl Emil: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus der Bukowina, Südrußland und Rumänien, 2 Bde., Leipzig 1876. Freud, Sigmund: »Über den Traum«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2 und 3, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1999, S. 643-700. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège des France 1977-1978, hg. von Michel Sennelart, aus d. Franz. von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2004. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, hg. von Michel Sennelart, aus d. Franz. von Jürgen Schröder, Frankfurt/Main 2004. Genette, Gérard: Die Erzählung, 3. Aufl, übers. von Andreas Knop. Mit einem Nachw. von Jochen Vogt, München 2010. Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002. Grillparzer, Franz: »Der arme Spielmann«, in: ders., Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., 13. Bd.: Prosaschriften I, hg. von August Sauer und Reinhold Backmann, Wien 1930, S. 37-81. Groller, Balduin: »Vorwort«, in: Redaktion der »Wiener Mode« (Hg.), Vademecum für Radfahrerinnen. Ein Hilfsbuch in Fragen der Fahrtechnik, der Gesundheit, der Etiquette und der Kleidung, Wien 1897, S. 2-4. Groller, Balduin: »Die körperliche Minderwertigkeit der Juden«, in: Die Welt, 19. April 1901, S. 3-5. Groller, Balduin: Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer, 6 Bde., Stuttgart 1910-1912. Groller, Balduin: Dagobert Trostler. Taten und Abenteuer des Wiener Sherlock Holmes, hg. von Ludwig Plakolb, Stuttgart 1967. Groller, Balduin: »Anonymous Letters«, in: Hugh Greene (Hg.), Foreign Rivals of Sherlock Holmes: Cosmopolitan Crimes, London 1971, S. 232-262. Hahnl, Hans-Heinz: Vergessene Literaten. Fünfzig österreichische Lebensschicksale, Wien 1984. Haslinger, Adolf: »Über einen Kriminalschriftsteller der Jahrhundertwende: Der Wiener Sherlock Holmes«, in: Salzburger Nachrichten, 8. Januar 1972, S. 18. Herzl, Theodor: Briefe und Tagebücher, Bd. 1, hg. von Alex Bein u.a., bearb. von Johannes Wachten und Chaya Harel, Berlin u.a. 1983. Hügel, Hans-Otto: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1978.

I M P ANIKRAUM DES L IBERALISMUS

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Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/Main 1991.

II. Spiegelungen und Brüche im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart

»Guess again«1 Aufklärung in den hard-boiled Romanen S ONJA O STERWALDER (Z ÜRICH )

T HERE

MUST BE A CORPSE

Die Geschichte des Kriminalromans ist, trotz der unüberschaubaren Schwemme von Büchern, eine eher übersichtliche. Sie passt, wie vielleicht Chandler es ausdrücken würde, zwar nicht auf ein »Mückenauge«2, aber sie fällt, mit dem gängigen Maßstab der Literaturgeschichtsschreibung gemessen, eher bescheiden aus. Der Grund für diese Schlichtheit ist weniger im Alter des Genres zu finden, das mit seinen hundertsiebzig Jahren zu den jungen gehört, sondern vielmehr im steilen Hang der Literaturhistoriographen, die Innovation zum höchsten und wichtigsten Gut zu erklären. Im Spiegel einer solchen Werteskala macht der Kriminalroman keine gute Figur. Zu augenfällig ist die Verwandtschaft zwischen den Handlungen der Stories und den Romanen, zu groß und stets durch alle Auswüchse hindurch sichtbar, die Familienähnlichkeit der Figuren. Tatsächlich, so scheint es, wird immer wieder dieselbe Geschichte erzählt: Jemand ist ermordet worden, und ein anderer Jemand macht sich auf die Suche und findet den Täter. Manchmal, freilich, geschieht kein Mord, ein andermal will die Überführung des Mörders nicht ganz gelingen, ein drittes Mal wiederum schafft es der Detektiv, einer unansehnlichen Leiche gleich zwölf Täter anzudichten.3 In dieser viel zu kurzen Auflistung zeigt sich die Quelle, aus der der Kriminalroman fast sein gesamtes Leben schöpft, sie heißt nicht Innovation, sondern Variation. Entlang einer stets in die gleiche Richtung gespannten Plotschnur

1

Raymond Chandler: The High Window, Harmondsworth 1977, S. 41.

2

Vgl. ebd., S. 121.

3

Etwa in Agatha Christies Murder on the Orient Express (1934).

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werden fröhlich Veränderungen und Abwandlungen vorgenommen.4 Jene Dekaden, in denen das Variationsbemühen eine geradezu mechanische Qualität erreicht, nennt man das Goldene Zeitalter, das 1920 mit Agatha Christies erstem Poirot-Roman beginnt und mit dem Zweiten Weltkrieg endet. Vom strammen Strickmuster der Geschichten und dem engen Spielraum der Möglichkeiten, die die ausgeklügelten Extravaganzen umso mehr ins Kraut schießen lassen, legen nicht zuletzt die von Ronald Knox und S. S. Van Dine verfassten Regelkataloge Zeugnis ab, in denen Verbote und Weisungen ausformuliert sind: Um dem Leser bei der Lösung des Falls die gleichen Chancen zuzubilligen wie dem Detektiv, müsse der Täter in der Romanhandlung eine prominente Rolle spielen; nie dürfe ein Diener in die Rolle des Mörders schlüpfen oder der Zufall dem Ermittler bei der Aufklärung zu Hilfe eilen; stets sollen Rückgriffe auf seltene und unbekannte Gifte vermieden, professionelle Kriminelle und höhere Gewalten aus den Romanen verbannt werden usw.5 Selbstverständlich sind die angeführten Gesetze, wie in der Welt des Verbrechens üblich, dazu da, gebrochen zu werden. Eine Forderung allerdings bleibt von nun an in Stein gemeißelt. »There simply must be a corpse in a detective novel«, schreibt S. S. Van Dine mit gehörigem Snobismus in seinen Twenty Rules for Writing Detective Stories, »and the deader the corpse is the better. No lesser crime than murder will suffice. Three hundred pages is far too much pother for a crime other than murder. After all, the reader’s trouble and expenditure of energy must be rewarded.«6 Das goldene Zeitalter der Kriminalliteratur vergoldet den Mord; kamen die meisten der Sherlock-Holmes-

4

Und doch sind es gerade die Formelhaftigkeit und ewige Schlichtheit des Genres, die zu bestechenden kultur- und literaturwissenschaftlichen Studien anreizten, vgl. etwa Siegfried Kracauers vernunftkritischen Essay von 1925: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat, Frankfurt/Main 1979; Viktor Šklovskijs formalistischstrukturalistische Studie von 1929: »Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, Bd. 1, München 1971, S. 67-93; Franco Morettis »Clues«, in: ders., Signs Taken for Wonders. Essays in the Sociology of Literary Forms, aus d. Ital. von Susan Fischer, London 1983, S. 130-156. Moretti analysiert hier die gesellschaftlichen Phantasmen, die die Detektivgeschichten in die ewige Wiederholungsschleife schicken.

5

Vgl. S. S. Van Dine: »Twenty Rules for Writing Detective Stories«, in: Howard Haycraft (Hg.), The Art of the Mystery Story, New York 1992, S. 189-193; Ronald A. Knox: »Detective Story Decalogue«, in: H. Haycraft, The Art of the Mystery Story, S. 194-196.

6

S. S. Van Dine: Twenty Rules, S. 190.

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Geschichten noch ohne Tote aus, liegen die Leichen fortan in den Romanen herum wie auf Friedhöfen. 7 In dem 1927 erschienenen Roman Unnatural Death von Dorothy Sayers, einer der bekanntesten Vertreterinnen des Golden Age, findet sich, im Wald drapiert, eben eine solche Leiche, weiter entfernt steht ein Wagen, den der Detektiv, Lord Wimsey, mit Adleraugen untersucht, um schließlich hinter einem Sitzpolster ein amerikanisches Magazin hervorzuziehen. Die Zeitschrift trägt den Titel The Black Mask, sie sei, so heißt es, eine monatliche Zusammenstellung von Rätsel- und Sensationsgeschichten, »a monthly collection of mystery and sensational fiction«.8 »Light reading for the masses«,9 lautet das nasenrümpfende Urteil des Polizisten Charles Parker, der die Lordschaft bei der Ermittlungsarbeit begleitet. Auf der Ebene der Handlung stellt sich das triviale Fundstück in Unnatural Death zwar rasch als falsche Fährte heraus, doch, auf einer weiteren Ebene, winkt mit dem Magazin, durchaus ironisch, die Wirklichkeit in Sayers Roman hinein, und das gleich in doppelter Weise. Denn die vielgelesene amerikanische Zeitschrift dient der Autorin nicht nur als billiger Realitätseffekt ihrer konstruierten Romanwelt, sondern bricht auch als eine literarhistorische Wirklichkeit in den Text hinein: Schon bald werden einige der Autoren, die für das billige Blatt schreiben, von der Kritik für das geadelt werden, was Sayers selbst als ehrgeiziger unerreichter Plan vorschwebte: nämlich den Kriminalroman in die Nähe des Gesellschaftsromans hochzuwuchten.

D AS M ORGENGRAUEN

EINES REGENNASSEN

T AGES

Das Black Mask Magazine, 1920 in San Francisco gegründet, wurde von seinen Herausgebern als Goldgrube konzipiert, die helfen sollte, die seriöse Literaturzeitschrift The Smart Set zu finanzieren. Während The Smart Set einen schnellen Tod starb, gelang Black Mask der Aufstieg zu einem der beliebtesten PulpMagazine der Zeit. Als 1926, also etwa zu der Zeit, als Sayers die leichte Lektüre für die amerikanischen Massen belächelte, Captain Joseph Shaw die Heraus-

7

Im Golden Age vollzieht sich auch der Wechsel von Detektivstory zum Roman. In den ersten Dutzend Holmes-Geschichten ist kaum eine Leiche zu finden. Der wohl eindrücklichste Roman der Golden Age-Ära, verfasst von einer eher unkonventionellen Autorin der Zeit, kommt jedoch ohne Todesfall aus, vgl. Josephine Tey: The Franchise Affair (1948).

8

Dorothy Sayers: Unnatural Death, London 2003, S. 247.

9

Ebd., S. 248.

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geberschaft übernahm, wurde mit Nachdruck jene Ausformung der Detektivgeschichte gefördert, die vor allem mit dem Namen Dashiell Hammett und unter der Bezeichnung hard-boiled school zum großen Karrieresprung ansetzte. Mag es tatsächlich die Variation sein, die die Entwicklung der Kriminalliteratur bestimmt, so wurde in der Rezeption der hard-boiled school mit Fleiß die Innovation herausgestrichen, sodass das Nebeneinander von Golden Age und Hardboiled wie die gröbste Gegensätzlichkeit erscheinen muss. Eine solch strenge Sichtweise folgt streberhaft Raymond Chandlers berühmtem Essay The Simple Art of Murder (1944), in dem der bekannteste hard-boiled Autor mit dem klassischen Kriminalroman eloquent ein Ende macht.10 Auf wenigen Seiten türmt Chandler eine Welt aus schärfsten Kontrasten auf. Dort, vom Schreibpult des Schriftstellers aus gesehen, stehen die Vertreter des klassischen Kriminalromans mit ihren komischen Detektivfiguren: der alten Jungfer, die zur rechten Zeit an der richtigen Tür horcht, dem fröhlichen Amateur, »der immer zur Stelle ist, wenn die Ortgendarmerie ihr Notizbuch verliert«11, dem eierköpfigen Belgier mit seinen kleinen grauen Zellen, dem hochnäsigen Lord, der sich im Angesicht einer Leiche, vom Jagdfieber gepackt, die Hände reibt und sein Spezialwissen ungefragt zum besten gibt. Dort stehen auch die alten Landhäuser mit frischen, auf Schuhabdrücke wartenden Blumenbeeten unter jedem Fenster, und dort auch liegen die Leichen in düsteren Bibliotheken und in von innen verriegelten Räumen. Und dort, schließlich, stapeln sich jene Mordmethoden, die so gesucht und raffiniert sind, dass, wie Chandler schreibt, nur ein Trottel auf die richtige Lösung eines Falles verfallen könne.12 Hier, auf der amerikanischen Seite des großen Teichs, steht Dashiell Hammett mit seinen Ermittlerfiguren, harten, zynischen Berufsdetektiven, die ein schmutziges Geschäft betreiben, Berufsverbrechern das Handwerk legen und ebenso zynisch mit Kugeln wie mit Worten feuern. »Hammett«, lautet eine der berühmtesten Behauptungen des Essays, »gave murder back to the kind of people that commit it for reasons, not just to provide a corpse; and with all means at hand, not with handwrought duelling pistols, curare, and tropical fish. He put these people down on paper as they are, and he made them talk and think in the

10 Vgl. Stephen Knight: Crime Fiction 1800-2000. Detection, Death, Diversity, New York 2004, S. 111. 11 Raymond Chandler: »The Simple Art of Murder«, in: ders., Pearls Are a Nuisance, Harmondsworth 1977, S. 181-199, hier S. 188: »[...] is always available when the local gendarmerie loses its notebook«. 12 Vgl. ebd., S. 189: »Only a halfwit could guess it«.

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language they customarily used for these purposes.«13 Das Fallbeil, das Chandler niedersausen lässt, ist jenes des sehr persönlichen realistischen Anspruchs: Hammett, der Amerikaner, erfüllt ihn, die britische Schule hingegen büßt blutig mit der Kopfstrafe.14 Der Kriminalroman oder, in diesem Fall, der Detektivroman, folgt nicht nur der stets gleichen Plotlinie, sondern ist, ganz ähnlich wie das Märchen, auch stets aus simplen Gegensätzen gebaut, die, aus reichlicher Entfernung betrachtet, sich als Entsprechungen zeigen: Der exzentrische Ermittler verlangt, als Gegenpart, einen raffinierten Verbrecher, und der gewiefte Detektiv benötigt, um sein riesiges deduktives Wissen zu verbreiten, einen bornierten Begleiter und eine dümmliche Polizei; die detektivische Vorgehensweise wiederum, die wie ein unsichtbares Band Ermittler, Tat und Täter aneinanderknüpft, schreit nach einer Welt, deren Ausstattung die Anwendung der Methode großzügig erlaubt.15 In der hard-boiled school werden, ganz im Sinne von Chandlers realistischem Programm, die harmonischen Gegensätze zusammengestrichen, der Detektiv gleicht dem Polizisten, der Polizist dem Verbrecher, die Millionärsgattin dem leichten Mädchen, der Ganove dem schwerreichen Ölmagnaten.16 In vielen Geschichten Hammetts ist, mit bloßem Auge, kein Unterschied zwischen dem gewalttätigen Privatdetektiv und dem schießwütigen Gauner auszumachen. (Auf dem bunten Gebiet der Geschlechterstereotypen werden die Oppositionen freilich verstärkt: Männlichkeit und Weiblichkeit siedeln, getrennt durch klischeehafte Übertreibungen, an unterschiedlichen Polen.) Mit seiner eigenen Ermittlerfigur lehnt sich Chandler so weit über den bei Hammett gepriesenen Realismus hinaus, bis er das schöne Reich des Idealismus erblickt. Philip Marlowe erweckt den Eindruck eines Ritters der Großstadt oder, in seinen eigenen Worten, eines »heruntergekommenen Galahads«17; weil der Held ein Herz18 besitzt und ein me-

13 Ebd., S. 195. 14 Zur dezidierten Aversion Chandlers gegen die Romane Sayers’, vgl. Selected Letters of Raymond Chandler, hg. von Frank MacShane, New York 1987, S. 169f. 15 Vgl. hierzu Sonja Osterwalder: Düstere Aufklärung. Die Detektivliteratur von Conan Doyle bis Cornwell, Wien u.a. 2011, S. 14; S. 43 (für Poe); S. 67ff. (für Conan Doyle); allgemein zu Chandler und zur hard-boiled school, vgl. S. 120-156. 16 Die Beschreibung des hartgesottenen Kaliforniens gleicht mit all ihren Schattenseiten der grellen Welt des Second Empire, vgl. hierzu etwa die Schilderungen Friedells: Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 2, München 2004, S. 1123ff. 17 R. Chandler: The High Window, S. 174: »The shop-soiled Galahad«.

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lancholisches dazu, darf auch der Mörder über ein Gefühlsleben verfügen und der Ganove über ein Stück Moral, während die wehrhafte Ironie und Traurigkeit, die beiden Tonlagen von Marlowes Stimme, ihre Arme ausstrecken, um ihre Entsprechung in den Tragödien der Verbrechen, in den verzweifelten und kranken Mördern zu finden. Der Abbau der Extreme führt jedoch zu Unübersichtlichkeit, die scharfen Konturen verlieren sich, die hellen Farben verschwinden, und die Aufklärung hat nichts mehr zu tun mit einem geistigen Scheinwerfer, dessen Licht die Szene erleuchtet, sondern gleicht, selbst im sonnigen Kalifornien, mehr dem Morgengrauen eines regennassen Tages. Auf der formalen Ebene schenkt die Wahl der Ich-Perspektive, die den Überblick verunmöglicht und das Sichtfeld schmerzlich einschränkt, der Verdüsterung der Welt weitere Beglaubigung. Ohne die geistige Erhöhung, aus der die Meisterdetektive auf die Verbrechen herunterblicken, verstrickt sich der Ermittler in den Fall und wird, anstatt souverän die klugen Schachzüge anzubringen, selbst zum Teil des Spiels. Nie ist es, wie es in der Baker Street 221B so oft geschieht, die verzweifelte Unschuld, die in Marlowes Büro vorspricht und um Unterstützung bittet – allzu häufig erweist sich der Auftrag als Camouflage, die hilft, die eigentlichen Absichten der Klienten zu verdecken. Aus diesem Grund bedeutet für den Detektiv, einen Fall aufzuklären, immer auch herauszufinden, »wer ihn für dumm verkaufen möchte«.19 Seine Methode, der Weg zur Lösung des Verbrechens, widerspiegelt, ganz der Harmoniesucht des Genres gemäß, das Unwissen über den genauen Frontverlauf sowie die beschränkte Lesbarkeit der Welt. Das Zickzack der Fahrten, die Marlowe in seinem Wagen durch die Valleys von Los Angeles unternimmt, die Lügenhappen der Befragten, die ihm serviert werden, die Todesstille, die ihm begegnet, wenn er, wo er frische Informationen erhofft und auf frische Leichen trifft – all dies stellt die Sackgassen nach, die ins Leere gehen und die langen Umwege, die irgendwann zum Ziel führen. Der Undurchschaubarkeit arbeitet auch Chandlers Vorliebe entgegen, die Stringenz der Handlung der Ausweidung einzelner Szenen zu opfern, um sie tief in Atmosphäre zu tauchen; man mixt einen Drink, raucht eine Zigarette, wechselt

18 Vgl. zu einem möglichen Zusammenhang von hard-boiled Literatur und Empfindsamkeit Leonard Cassuto: Hard-Boiled Sentimentality. The Secret History of American Crime Stories, New York 2008. 19 In Slavoj Žižeks Worten: »[A]ll of a sudden it becomes evident that he has been ›played for a sucker‹. What looked at first like an easy job turns into an intricate game of criss-cross, and all his effort is directed toward clarifying the contours of the trap into which he has fallen«. Slavoj Žižek: Looking Awry. An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, Cambridge 1991, S. 62f.

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ein paar Worte und macht sich an das nächste Glas; und die Handlung, von Rauch behangen und Eiswürfelgeklimper begleitet, steht still.20 Am häufigsten jedoch tritt der Alkohol in seiner banalsten Funktion in Erscheinung: Er ist da, damit man sich betrinke, zuweilen bis zur Bewusstlosigkeit. Mit der Benebelung des Geistes, dem Ausknipsen des Verstandes ist die Verbindung zu Holmes’ Kokain- und Opiumsucht und damit zur der klassischen Detektivgeschichte gezogen, die Totschläger freilich, die, gern von korrupten Polizisten geschwungen, Marlowes Hinterkopf treffen, markieren gewaltsam den Abstand zur britischen Schule. »A pool of darkness«, so das Sprechen vor dem Sturz in die Bewusstlosigkeit, »opened at my feet and was far, far deeper than the blackest night. I dived into it. It had no bottom.«21 Die Ohnmacht illustriert jedoch nicht nur den Niedergang der Ratio, sondern ist gleichsam der kraftlose Beweis, dass Marlowe sich mit seinen Ermittlungen auf dem richtigen Weg befindet.

U NKENNTLICH ,

UNVERSTÄNDLICH

Berühmt sind im Kriminalroman die Tatortuntersuchungen mit einem Detektiv, der sich über die Leiche beugt und seinen Blick von Zeichen zu Zeichen und von Hinweis zu Hinweis gleiten lässt. Er liest dann, so scheint es, wie in einem offenen Buch. Mag die Leiche auch ein wenig entstellt, von Fliegen bedeckt sein, stets bleibt die Lesbarkeit gewährleistet und das deduktive Denken des Betrachters unbeschädigt. Lord Wimsey etwa findet beim Anblick eines zertrümmerten Schädels noch Zeit, sich über das Versmaß eines Zweizeilers Gedanken zu machen, Fäulnis und Verwesung erreichen die kühlen Höhen des Verstandes nicht.22 Im Reich des Hard-boiled stösst die Lesbarkeit der Welt hingegen immer wieder an ihre engen Grenzen. In The Lady in the Lake (1943) erwartet Marlowe am Ufer eines Sees eine monströse Entdeckung. Erst sieht er im trüben Wasser einen Arm, dann eine riesenhaft geschwollene Hand, schließlich Beine. Als sich die torkelnden trägen Glieder weiter bewegen, wird auch der Kopf sichtbar. »Then the face came«, heißt es im Modus des Grauens. »A swollen pulpy grey white mass without features, without eyes, without mouth. A blotch with grey

20 Vgl. Sonja Osterwalder: »›Alcohol is like love‹. Chandler, Marlowe und ›The Long Good-bye‹«, in: Thomas Strässle und Simon Zumsteg (Hg.), Trunkenheit. Kulturen des Rausches, Amsterdam und New York 2008, S. 205-221. 21 Raymond Chandler: Farewell, My Lovely. Harmondsworth 1975, S. 144. 22 Vgl. D. Sayers: Unnatural Death, S. 242.

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dough, a nightmare with human hair on it.«23 Der Blick des Detektivs schlittert, ohne Halt, auf der breiigen Oberfläche entlang, und die Trägheit, mit der sich der Körper im Wasser bewegt, findet ihren Zwilling in der Trägheit des Kopfes des Betrachters, der nicht fassen kann, was er sieht: Die Wasserleiche ist aus dem Reich der Zeichen ausgetreten. Zusammen mit der Erfahrung der Ohnmacht und des Ekels lässt sich in den hard-boiled Romanen, so die wohlmeinende Rezeption, auch die Psychologie nieder.24 Holmes und Dupin schließen gern von Physiognomik und Gesichtsausdruck auf das Seelenleben ihrer Studienobjekte. »Human nature«, verkündet Miss Marple in jedem Roman mit wissender Stimme, »is very much the same anywhere.«25 Mit dieser Behauptung im leichten Gepäck löst sie die Verbrechen, indem sie die Verdächtigen, wie Schablonen, mit den Bewohnern ihres Heimatdorfes St. Mary Mead vergleicht. In den Romanen Chandlers hingegen schlägt die Psychologie in Richtung Unverständlichkeit aus. Zum einen wird, umschreibend, das Vokabular der Psychopathologie bemüht, das gewisse Handlungen und Hoffnungen mit einem Namensetikett versieht, hinter dem die Konturen der Mordmotive jedoch wieder verschwimmen. Zum anderen bleiben die Beweggründe der Täter, aus großer Nähe betrachtet, ohnehin stets von Vermutungen umwölkt und letztendlich unverständlich. »A murderer«, sagt Marlowe, »is always unreal once you know he is a murderer.«26 Der Abbau der Gewissheiten macht auch vor kriminalistischen Methoden nicht halt. »Proof«, heißt es an die Adresse von Polizisten aus Marlowes Mund, »is always a relative thing.«27 Die Identifizierung der bis zur Unkenntlichkeit verquollenen Wasserleiche etwa wird anhand einer Halskette zwar erreicht, stellt sich am Ende des Romans jedoch als falsch heraus ebenso wie die Verhaftung eines Mörders, obwohl eine dicke Akte über ihn angelegt ist. Auch der Augenzeugenbericht, eine der Krücken der Polizeiarbeit, wird demontiert. Bei einem Besuch auf dem Kommissariat hört Marlowe die Durchsagen des Polizeifunks, der den Raubüberfall auf einen Restaurantbesitzer meldet. Der Täter, so wird gemeldet, sei ein Mann mittleren Al-

23 Raymond Chandler: The Lady in the Lake, Harmondsworth 1976, S. 48. 24 Was »psychologisch« auf dem Feld der Literatur genau bedeutet, bleibt freilich seit jeher umstritten; Nachvollziehbarkeit der Handlungen und Motive ist eine Möglichkeit der psychologischen Darstellung, Undurchschaubarkeit, Widersprüchlichkeit des Seelenlebens, das der Verständlichkeit zuwiderläuft, eine andere. 25 Als ein Beispiel von vielen vgl. Agatha Christie: The Body in the Library, London 2005, S. 80. 26 Raymond Chandler: The Long Good-Bye, Harmondsworth 1976, S. 269. 27 R. Chandler, Farewell, My Lovely, S. 243.

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ters, er trage einen dunkelgrauen Anzug und einen grauen Filzhut und sei schwer bewaffnet. »It turned out later«, fügt Marlowe mit einem Lächeln an, »that he was a fourteen-year-old Mexican armed with a water-pistol. So much for eyewitnesses.«28 Die lustvolle Demontage der Polizeiarbeit hat nichts gemein mit der lachhaften Bloßstellung der beamteten Ermittler, wie sie Poe, Conan Doyle und die Autoren des Golden Age praktizierten. In den hard-boiled Romanen verliert die Polizei die demütigende Aura der Beschränktheit und, weil unter den vielen grauen Schafen auch einige schwarze zu finden sind, sogleich ihre Unschuld. Die Verwerfung der kriminalistischen Methoden gehört zum programmatischen Misstrauen gegenüber einfachen Gewissheiten und geschieht auch unter dem Zwang, der eigenen Vorgehensweise, die sich allzu oft auf Zufälle und Glückstreffer verlassen muss, zum Sieg zu verhelfen. »His influence on events«, schreibt Russell Davies über Chandlers Detektiv, »is not often great, despite his talent for being on the spot when they occur.«29 Das schlichte Geheimnis seines Erfolges liegt darin, dass er die trockene Deduktion durch sinnliche Intuition ersetzt und das Jagdfieber der Ermittler des Golden Age in ritterlichen Idealismus verwandelt. Durch das Scheitern der kriminalpolizeilichen Bemühungen erhalten Marlowes Methoden, die keine sind, eine Wirklichkeitsspende, die selbst die Fragwürdigkeit von vergifteten Zigarren oder mit unsichtbarer Schrift beschriebenen Geschäftskarten, die zuweilen in den Geschichten umgehen, gnädig zum Verschwinden bringt.

28 Ebd., S. 186. Woher dieser Abbau der (kriminalistischen) Gewissheiten rührt, ist schwierig zu beantworten. Wissensgeschichtlich lassen sich zwei mögliche Modelle anführen. Zum einen Sean McCanns Studie Gumshoe America. Hard-Boiled Fiction and the Rise and Fall of New Deal Liberalism, Durham und London 2000, in der die hartgesottene Literatur auf Abdrücke der New-Deal-Politik mit all ihren Idealen und Enttäuschungen hin untersucht wird. Zum anderen bietet der ungeheure Einfluss der Psychoanalyse auf die amerikanische Kultur einen nachvollziehbaren Erklärungsansatz. Die Gesellschaft der hard-boiled Romane wird als eine kranke gezeichnet, für die es keine Heilung gibt; der Detektiv, mit einigen therapeutischen Fähigkeiten ausgestattet, unternimmt seine Aufklärungsarbeit, die so viele Fragen und Motivationen offen lässt, mehr im Zeichen der Konstruktion als Rekonstruktion, vgl. hierzu Sigmund Freuds späten Aufsatz »Konstruktionen in der Analyse«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 23,4 (1937): S. 459-469. 29 Russell Davies: »Omnes me impune lacessunt«, in: Miriam Gross (Hg.), The World of Raymond Chandler, New York 1978, S. 31-42, hier S. 33.

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S CHWARZER N ACHTRAG Zur gleichen Zeit, als Chandler seine Romane schreibt, arbeitet eine weitere Schriftstellerriege an Geschichten über Verbrechen und Tod. Man schmückt diese Autoren und ihre Romane gern mit der dunklen Farbe »noir«.30 Von dieser trüben Seite aus betrachtet, erscheinen die mageren grauen Gewissheiten, die die hard-boiled school übrig lässt, fast wie die hellen Sonnen einer Märchenwelt. Horace McCoy, James M. Cain, David Goodis, Jim Thompson und Cornell Woolrich zählen zu den bekanntesten Vertretern des Noir, mit Büchern wie They Shoot Horses, Don’t they? (1935), The Postman Always Rings Twice (1934), Down There (Shoot the Piano Player, 1956), The Killer Inside Me (1952) und It Had to Be Murder (Rear Window, 1954) – Romane und Erzählungen, die ihren Ruhmesschweif fast ausschließlich Verfilmungen verdanken. Es sind Geschichten voller Angst und Begehren, erzählt aus der Perspektive von Opfern oder Tätern, getragen von der dramatischen Tonart der Ausweglosigkeit. Ermittlerfiguren tauchen nur mehr an den Rändern des alptraumhaften Narrativs auf, in dem Normalbürger zu Mördern und Unschuldige zu Gejagten werden. Als letztes Glied in einer Kette von Schrecknissen besitzt die Aufklärung am Ende fast keine kriminalistische Dimension mehr, sondern vielmehr die Aura der Erlösung, die oft genug mit dem Tod zusammenfällt. Nicht die üblichen, vom Genre vorgegebenen Fragen (»Wer war es?« »Und: Warum?«) kommen zur Verhandlung, sondern verstörendere, die das verzweifelte Unwissen und den schieren Unglauben über das eigene Ich und die Nächsten zum Ausdruck bringen: »Who are you?« Und: »What are you doing there?«31 Frank Townsend, der in Woolrichs The Black Curtain (1941) eines Tages nach einem kleinen Zwischenfall zu seiner Frau zurückkehrt, muss erfahren, dass in der kurzen Zeit dreieinhalb Jahre vergangen sind, an die er sich nicht zu erinnern vermag, und nichts mehr so ist, wie es war: er wird von der Polizei als Mörder gejagt, von Verbrechern bedroht und bringt auf der Flucht Unschuldigen den Tod. Auch für Frank Chambers, den Protagonisten von Cains The Postman Always Rings Twice, fallen die schicksalshaften Antworten bitter aus: Er begeht einen Mord, der unentdeckt bleibt, um schließlich für einen Mord, den er nicht begangen hat, zum Tode verurteilt zu

30 Tatsächlich besitzen Noir und Hard-boiled dasselbe Herkommen: sie entstammen grellen amerikanischen Pulpmagazinen. Geoffrey O’Brien etwa versteht Noir eher als Variante innerhalb der hartgesottenen Schule; vgl. Geoffrey O’Brien: Hardboiled America. Lurid Paperbacks and the Masters of Noir, erw. Ausgabe, New York 1997. 31 Cornell Woolrich: I Married a Dead Man, in: Crime Novels. American Noirs of the 1930s & 40s, hg. von Robert Polito, New York 1997, S. 797-973, hier S. 879ff.

A UFKLÄRUNG IN DEN HARD - BOILED R OMANEN

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werden. Blickt man von diesem menschlichen Grauen auf die Fälle der hardboiled Detektive, sind leicht die konventionellen Gewissheiten zu erkennen, die sie verströmen: der gebeutelte Ermittler meistert alle Gefahren, die Mörder sind überführt, und die Welt, mag sie auch nicht besser sein, ist am Ende nicht schlechter als zuvor. Neben den Landhäusern des Golden Age und seinen übereifrigen Detektiven erhält Chandlers Realismus eine strahlende Leuchtkraft, um in der unmittelbaren Nachbarschaft zum düsteren Noir jedoch wieder langsam zu verglimmen.

L ITERATUR Cassuto, Leonard: Hard-Boiled Sentimentality. The Secret History of American Crime Stories, New York 2009. Chandler, Raymond: Farewell, My Lovely. Harmondsworth 1975. Chandler, Raymond: The Long Good-Bye, Harmondsworth 1976. Chandler, Raymond: The High Window, Harmondsworth 1977. Chandler, Raymond: The Lady in the Lake, Harmondsworth 1976. Chandler, Raymond: »The Simple Art of Murder«, in: ders., Pearls Are a Nuisance, Harmondsworth 1977, S. 181-199. Chandler, Raymond: Selected Letters of Raymond Chandler, hg. von Frank MacShane, New York 1987. Christie, Agatha: The Body in the Library, London 2005. Davies, Russell: »Omnes me impune lacessunt«, in: Miriam Gross (Hg.), The World of Raymond Chandler, New York 1978, S. 31-42. Dine, S. S. Van: »Twenty Rules for Writing Detective Stories«, in: Howard Haycraft (Hg.), The Art of the Mystery Story, New York 1992, S. 189-193. Freud, Sigmund: »Konstruktionen in der Analyse«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 23,4 (1937): S. 459-469. Friedell, Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 2, München 2004. Knight, Stephen: Crime Fiction 1800-2000. Detection, Death, Diversity, New York 2004. Knox, Ronald A.: »Detective Story Decalogue«, in: Howard Haycraft, The Art of the Mystery Story, S. 194-196. Kracauer, Siegfried: Der Detektiv-Roman. Ein Philosophischer Traktat, Frankfurt/Main 1979. McCann, Sean: Gumshoe America. Hard-Boiled Fiction and the Rise and Fall of New Deal Liberalism, Durham und London 2000.

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Moretti, Franco: »Clues«, in: ders., Signs Taken for Wonders. Essays in the Sociology of Literary Forms, aus d. Ital. von Susan Fischer, London 1983, S. 130-156. O’Brien, Geoffrey: Hardboiled America. Lurid Paperbacks and the Masters of Noir, erw. Ausgabe, New York 1997. Osterwalder, Sonja: »›Alcohol is like love‹. Chandler, Marlowe und ›The Long Good-bye‹«, in: Thomas Strässle und Simon Zumsteg (Hg.), Trunkenheit. Kulturen des Rausches, Amsterdam, New York 2008, S. 205-221. Osterwalder, Sonja: Düstere Aufklärung. Die Detektivliteratur von Conan Doyle bis Cornwell, Wien u.a. 2011. Sayers, Dorothy: Unnatural Death, London 2003. Šklovskij, Viktor: »Die Kriminalerzählung bei Conan Doyle«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, Bd. 1, München 1971, S. 67-93. Woolrich, Cornell: I Married a Dead Man, in: Crime Novels. American Noirs of the 1930s & 40s, hg. von Robert Polito, New York 1997, S. 797-973, Žižek, Slavoj: Looking Awry. An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, Cambridge 1991.

»Wahnsinn als Methode« Friedrich Dürrenmatts Der Verdacht als Kriminalroman nach der Shoah C ASPAR B ATTEGAY (L AUSANNE )

I. »[…] ein Verdacht sei etwas Schreckliches und komme vom Teufel.«1 So äußert sich der todkranke Kommissär Bärlach gegenüber seinem Freund und Arzt Doktor Hugentobler im Dezember 1948 in einem Berner Krankenhaus. Als Bärlach dort ein Life-Magazin mit Fotografien aus Konzentrationslagern durchblättert, meint Hugentobler plötzlich, in einer Aufnahme eines ohne Narkose operierenden SS-Arztes einen Berner Studienfreund und bekannten Schweizer Arzt wiederzuerkennen. Dieser ist nach einem vermeintlichen Chile-Aufenthalt während des Zweiten Weltkriegs unterdessen zum Leiter und Besitzer einer Privatklinik am noblen Zürichberg aufgestiegen, die öfters ihre reichen Patienten beerbt. Ist der Arzt identisch mit dem Folterknecht? Der sofort gehegte Verdacht lässt sich nicht wieder loswerden; und Friedrich Dürrenmatts früher Roman Der Verdacht wäre kein Kriminalroman, wenn der Verdacht nicht zutreffen würde. Zuerst als Fortsetzungsgeschichte zwischen 1951 und 1952 erschienen, stellt Der Verdacht nach Der Richter und sein Henker den zweiten und letzten Band der Kommissär Bärlach-Reihe dar. Als Charakter ist Bärlach deutlich Friedrich Glausers Wachtmeister Studer nachempfunden, doch sind die Verbrecher, gegen die Bärlach antritt, nicht einfache Mörder, sondern absolute Bösewichte. Ist bereits Der Richter und sein Henker im Innersten mehr philosophisches Traktat als Er-

1

Friedrich Dürrenmatt: Gesammelte Werke in sieben Bänden, Zürich 19962, Band IV, 129. Im Folgenden mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern zitiert.

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zählung eines realistischen Verbrechens, wird diese Abstraktionstendenz im Verdacht noch zugespitzt. Im vorliegenden Beitrag argumentiere ich dafür, dass in Der Verdacht nicht in erster Linie von einer Enttarnung eines Verbrechers erzählt wird. Denn: Nach Auschwitz lässt sich kein Kriminalroman mehr schreiben.2 Der Text ist natürlich weder Zeugnis noch Aufzeichnung, weder Dokumentation noch ein auf Tatsachen beruhender Roman (was auch immer das bedeuten würde). Lange bevor die moralischen und ästhetischen Implikationen einer solchen Textsorte kontrovers diskutiert werden sollten,3 entfaltet Dürrenmatt ein vollständig fiktives ShoahNarrativ. Indem er dies tut, reflektiert der Text, wie die für den Kriminalroman zentralen Diskurse der Medizin und der Kriminalistik vom Ereignis der Shoah affiziert und durchkreuzt werden.4 Im Kern, so meine These, erzählt Der Verdacht von der »Widerlegung einer Zivilisation, deren Denken und Handeln einer Rationalität folgt, die ein Mindestmaß antizipatorischen Verhaltens voraussetzt.«5 Die Klinik im Verdacht ist wie das Lager ein Ort, an dem die antizipatorische und die moralische Vernunft ausgehebelt werden. Dürrenmatt führt mit seinem Kriminalfall über diesen (Un-)Ort eine Welt nach dem »Zivilisationsbruch«6 des durch deutsche Behörden organisierten Massenmordes vor. Diese

2

Natürlich entstanden und entstehen seit 1945 tausende von Kriminalromanen. Mit dem Satz, nach Auschwitz ließe sich kein Kriminalroman schreiben, möchte ich auf Theodor W. Adornos wirkungsmächtige Festlegung dieses Datums für die Lyrik anschließen, das auch für die epische und dramatische Literatur sowie für darstellende Kunst und Film die Vermittlung von Bedeutung und die Bewältigung des Traumas in Frage stellt, vgl. Geoffrey Hartmann: »Holocaust-Zeugnis, Kunst und Trauma«, in: ders., Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, aus d. Engl. von Axel Henrici, Berlin 1999, S. 216-238.

3

Möglicherweise ist Der Verdacht die erste fiktive Holocaust-Erzählung eines nicht persönlich betroffenen (und nicht-jüdischen) Autors, der sich in die Gedanken von Mörder oder Täter versetzt. Zu diesem seit einigen Jahren florierenden Genre vgl. Omer Bartov: »›Sitrah Akhrah‹ (The Other Side): What is the Purpose of Holocaust Fiction? Reflections in the Wake of Two Historical Novels by Jonathan Litell and Steve Sem-Sanderg«, in: Yad Vashem Studies 40,1 (2012), S. 233-246.

4

Zur Gattung des Kriminalromans und seiner Bezugnahme auf die Shoah vgl. Claire Gorrara: »Reflections on Crime and Punishment. Memories of the Holocaust in Recent French Crime Fiction«, in: Yale French Studies 108 (2005), S. 131-145.

5

Dan Diner: »Vorwort des Herausgebers«, in: ders. (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken

6

Ebd.

nach Auschwitz, Frankfurt/Main 1989, S. 7-14. hier S. 7.

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Welt ist insgesamt verdächtig: »Das ganze deutsche Volk war zu einer kriminellen Affäre geworden.« (IV, 154) So äußert sich die im Buch vorkommende jüdische Figur Gulliver, Überlebender mehrerer Konzentrationslager und Opfer des besagten Folter-Arztes, der sich als offiziell Toter in einen ahasverischen Rächer verwandelt hat, der ohne Pass und ohne verbürgte Identität in ganz Europa nach untergetauchten Nazis sucht.7 Der Überlebende ist ein Untoter,8 der sich der staatlichen Ordnung und ihrer Gesetze entzieht, weil diese noch der Vorkriegszivilisation entstammen. Dürrenmatt geht es in seinem Krimi denn auch nicht um den einzelnen, die gesellschaftliche Ordnung punktuell aufhebenden und dafür sanktionierten Verbrecher. Vielmehr zeigt er, wie der Diskurs des Kriminellen diese Ordnung längst ausgehöhlt und ersetzt hat, auch wenn ihre Instanzen und Institutionen noch funktional weiterbestehen. Bärlach scheint zunächst Einsicht in diese doppelte Verschiebung zu haben. Am Anfang des Romans freut er sich aus diesem Grund, den Staatsdienst als Polizist zu verlassen: »Nicht gerade, weil er jetzt wohl mehr Zeit habe, Molière zu lesen und Balzac, was sicher auch schön sei, aber der Hauptgrund bleibe doch, daß die bürgerliche Weltordnung auch nicht mehr das Wahre sei.« (IV 136)

7

Dürrenmatts Gulliver-Figur könnte von Simon Wiesenthal angeregt sein, geht jedoch in der Stilisierung weit über die historische Persönlichkeit hinaus. Wiesenthal hat als Überlebender mehrerer Lager 1947 in Linz das Jüdische Historische Dokumentationszentrum gegründet (1954 wieder geschlossen) und war zu Beginn der 1950er-Jahre im öffentlichen Diskurs bereits als »Nazi-Jäger« bekannt; vgl. Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, hg. von Eberhard Jäckel, Peter Longerich, Julius H. Schoeps, Berlin 1993.

8

Gulliver erzählt: »Als unsere Freunde von der SS mich an einem schönen Maientag des Jahres fünfundvierzig bei angenehmster Witterung […] inmitten fünfzig erschossener Männer meines armen Volkes aus Versehen liegen ließen, und als ich mich nach Stunden blutüberströmt unter den Flieder verkriechen konnte, der nicht weit davon blühte, so daß mich das Kommando, welches das Ganze zuschaufelte, übersah, habe ich geschworen, von nun an immer diese armselige Existenz eines geschändeten und geprügelten Stück Viehs zu führen, wenn es schon Gott gefalle, daß wir in diesem Jahrhundert oft wie die Tiere zu leben haben. […] Die Deutschen haben mich getötet, und ich habe bei meiner ehemaligen arischen Frau […] meinen Totenschein gesehen, den sie per Reichspost bekam, er war gründlich ausgeführt und machte den guten Schulen alle Ehre, in denen man dieses Volk zur Zivilisation erzieht. Tot ist tot, das gilt für Jude und Christ […]. Für einen Toten gibt es keine Papiere, das mußt du zugeben, und keine Grenzen; er kommt in jedes Land, wo es noch verfolgte und gemarterte Juden gibt.« (IV, 150-151).

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Bärlach tritt also von Anfang an mit dem Wissen um die Entleerung bürgerlicher – moralischer und wissenstheoretischer – Kategorien und mit dem Wissen um die grundsätzliche Verdächtigkeit des Bürgers und dessen aufgeklärter »Weltordnung« an. Paradoxerweise bedeutet das aber keineswegs die Absage an das ethisch und epistemologisch »Wahre«. Bärlach bleibt ein »Mann einer sittlichen Weltordnung« (IV 159), wie Gulliver ihn sarkastisch bezeichnet. Seine misslingende Jagd auf den Naziverbrecher stellt den drastisch scheiternden Versuch dar, diese Ordnung und ihre Institutionen wie Polizei und Justiz noch einmal mit dem Wahren der Aufklärung zu versöhnen, indem gerade ein Protagonist dieses Bruches von ihm eingeholt, mit seiner Verantwortung konfrontiert werden soll. Die Figur Bärlach verkörpert die Implosion von Aufklärung und Kriminalroman nach der Shoah. Seine methodische und rational angelegte Suche nach der Auflösung des Kriminalfalls, die er wider besseres Wissen mit einem moralischen Furor verfolgt, muss am Ende scheitern. Er lässt sich, bereits außer Dienst und tatsächlich unheilbar an Magenkrebs erkrankt, unter einem falschen Namen in die unheimliche Privatklinik am Zürichberg einliefern. Durch eine Zeitungsmeldung, welche die Pensionierung des Kommissärs ankündigt, wird er zufälligerweise als Polizist erkannt und seinerseits Opfer des SS-Arztes, den er überführen möchte. Wie etwa Peter Gasser erkannt hat, wird der Detektiv als Hüter der sittlichen Weltordnung und der Zivilisation somit »endgültig zu einer apokalyptischen Figur«9 – und wie anzufügen bleibt, selbst zu einer verdächtigen Gestalt. Denn nach dem »Zivilisationsbruch« wird die Zivilisation selbst verdächtig, nur die Tarnung für die Unmenschlichkeit abzugeben.

II. Meine Lektüre von Der Verdacht soll zeigen, dass »Verdacht« in diesem Buch mehr als den konkreten kriminalistischen Verdacht meint, den er auf der Handlungsebene zunächst als Leitmotiv für die Erzählung bedeutet. In der Wissensform des Verdachts kristallisieren sich mindestens drei verschiedene, unter-

9

Peter Gasser: »›…unsere Kunst setzt sich aus etwas Mathematik zusammen und aus sehr viel Phantasie.‹ Zu Friedrich Dürrenmatts Kriminalromanen«, in: Peter Gasser, Elio Pellin und Ulrich Weber (Hg.), »Es gibt kein größeres Verbrechen als die Unschuld«. Zu den Kriminalromanen von Glauser, Dürrenmatt, Highsmith und Schneider, hg. vom Schweizerischen Literaturarchiv, Bd. 1, Göttingen und Zürich 2009, S. 53-76, hier S. 57.

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schiedlich gelagerte Diskurse, die eine Deutung des Textes anleiten und strukturieren können. Literaturgeschichtlich gesehen findet sich in Dürrenmatts Krimi erstens eine in der deutschen Nachkriegsliteratur bisher weder historisch noch theoretisch gewürdigte sehr frühe, radikale Auseinandersetzung mit der Shoah. Dass diese überhaupt möglich ist, liegt einerseits daran, dass der 1921 geborene Schweizer Autor in seiner privilegierten Position durch eine »Nicht-Teilhabe an der kollektiven Erfahrung der Mehrheit der Deutschen zwischen 1933 und 1945«10 gekennzeichnet wird, die der Position der Opfer des Holocausts diametral entgegensetzt ist. Biographisch wird Dürrenmatt andererseits während der 1940erJahre durch enge Kontakte zu deutsch-jüdischen Exilanten in der Schweiz und zu jüdischen Schweizern schon bei seinen Eltern geprägt. Die Pfarrersfamilie Dürrenmatt führt zeitweise ein offenes Haus für Emigranten. Später ergeben sich wichtige Begegnungen etwa zu den Theaterleuten Ernst Ginsberg und Kurt Horwitz oder zum Kunsthistoriker Wilhelm Stein und vor allem zum Maler Hans Jonas,11 der als »wichtigster Wahl- und Gegenvater«12 den jungen Dürrenmatt mit dem Expressionismus bekannt macht. Diese prägenden Beziehungen sensibilisieren Dürrenmatt auch für spezifisch jüdische Wahrnehmungen, die jüdische Geschichte und das Judentum als Religion und Traditionszusammenhang. Diese Sozialisation unterscheidet Dürrenmatt beträchtlich von anderen deutschsprachigen Autoren seiner Generation. Im späteren Werk zeigt sich dies im großen und immer wieder umgeschriebenen Essay über den Staat Israel (der auf einer Vortragsreise in Israel 1974 basiert) und den weit ausgreifenden Reflexionen über das Judentum.13 Die Figur des riesenhaften Juden Gulliver im Verdacht ist zwar durch und durch stereotyp angelegt, wie weiter unten gezeigt werden soll, dennoch lässt der Erzähler ihn ein Credo artikulieren, das sich gänzlich der jüdischen Erfahrung verdankt, gerade weil es von ihr zu abstrahieren sucht. Die Shoah ist kein der jüdischen oder vielleicht noch der deutschen Geschichte zugehöriges partikulares Ereignis, sondern ein Ereignis, das die Menschheit insgesamt affiziert:

10 Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Berlin und Wien: 2001, S. 30. 11 Vgl. Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen, Zürich 2011, S. 139142. 12 Ebd., S. 177. 13 Zur Frage des Judentums bei Dürrenmatt und zu seinem Engagement für Israel vgl. vor allem das zweite Kapitel bei Annette Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform, Köln u.a. 2003, S. 109-348.

178 | C ASPAR B ATTEGAY »Man solle diese Dinge endlich vergessen, sagt man, und dies nicht nur in Deutschland […], aber ich will nichts vergessen, und dies nicht nur, weil ich ein Jude bin – sechs Millionen meines Volkes haben die Deutschen getötet, sechs Millionen! –; nein, weil ich immer noch ein Mensch bin, auch wenn ich in meinen Kellerlöchern mit den Ratten lebe! Ich weigere mich, einen Unterschied zwischen den Völkern zu machen und von guten und schlechten Nationen zu sprechen; aber einen Unterschied zwischen den Menschen muss ich machen, das ist mir eingeprügelt worden, und vom ersten Hieb an, der in mein Fleisch fuhr, habe ich zwischen Peinigern und Gepeinigten unterschieden.« (IV, 158)

Die bis jetzt kaum gewürdigte Bedeutung des Verdachts liegt darin, dass der Autor in der Krimihandlung und der Verschiebung in die vom Krieg unversehrte Schweiz genau die universale Bedeutung der Shoah demonstriert, die seine Figur einfordert. Trotz dieser literaturgeschichtlichen Singularität, entfaltet der Text ein für sein jegliche Repräsentation in Frage stellendes Thema typisches Narrativ: »[…] literature of the Holocaust works by indirection. Rather than plunge readers in the dark heart of atrocity, it presents narratives that spiral around and towards moments of horror that are not fully narrated, or layers together fragments of imagery and narrative that suggest the whole, without claiming to fully represent it.«14 Indem Dürrenmatt von einer Klinik in der Schweiz erzählt, in der jedoch in nuce ähnliche Mechanismen im Gang sind wie im Todeslager, deutet er den Moment des absoluten Horrors an, ohne ein Geschehen schildern zu müssen, das sich der Repräsentation und der Vorstellbarkeit von vorneherein entziehen muss. Zweitens ist damit – historisch-politisch gesehen – auch eine in der Schweiz nie vollumfänglich akzeptierte Re-Perspektivierung der Rolle der Neutralität im Zweiten Weltkrieg verbunden. Im Schatten des Kriminalgenres und seines vermeintlich behäbigen Berner Kommissärs (der auch einmal sturzbetrunken den Berner Marsch singt, in dessen Text die ›freie Schweiz‹ gefeiert wird) führt Dürrenmatt die sogenannte geistige Landesverteidigung ad absurdum. »In seiner forcierten Betonung des Schweizerischen unterstellt der Diskurs der geistigen Landesverteidigung ein Fremdes, das als ›Nicht-Schweizerisches‹ oft nur in vagen Umrissen erkennbar wird.«15 Wie Ursula Amrein gezeigt hat, wird dabei das Eigene/Schweizerische zunächst als Abgrenzung gegenüber dem

14 Sara R. Horowitz: »Literature«, in: Peter Hayes und John K. Roth (Hg.), The Oxford Handbook of Holocaust Studies, Oxford u.a. 2010, S. 428-443, hier S. 430. 15 Ursula Amrein: »Geistige Landesverteidigung. Die Anfänge der Schweizerischen Kulturpolitik«, in: dies., Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880-1950, Zürich 2007, S. 105-124, hier S. 105.

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nationalsozialistischen Deutschland, nach 1945 aber als strikter Antikommunismus inszeniert. Als Schweizerisch gilt immer das vermeintlich Ländliche und Alpine verbunden mit der Idee der wehrhaften Willensnation gleicher Männer im Gegensatz zur Idee des hierarchisch organisierten und »rassisch« geeinten Führerstaates. Dass dabei aber in Wirklichkeit gerade die oft jüdischen Exilanten und später die Vertreter der ästhetischen und politischen Moderne als ›unschweizerisch‹ und fremd diffamiert werden, bildet die nie eingestandene Komplizenschaft mit der völkischen Ideologie, die bis heute meistens mit dem Verweis auf die »Humanitäre Tradition« kaschiert wird. Während Max Frisch in den 1960er-Jahren als pointierter Kritiker dieses unseligen Identitätsdiskurses auftritt und sich damit wirksam ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit schreibt,16 wird Dürrenmatts Subversion des Schweizerischen in der Figur des Schweizer Täters bis heute kaum zur Kenntnis genommen. Dabei ist ein Verdacht, den man nach der Lektüre dieses Buches zumindest im Hinterkopf haben muss, dass die Shoah sich auch in der Schweiz hätte ereignen können – was erst Adolf Muschg nach den Debatten während der 1990er Jahren um die vielfältigen ökonomischen und politischen Verstrickungen der Schweiz in das Nazi-System explizit artikuliert hat: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt.17 Im Hinblick auf diese zeitgeschichtlichen Diskussionen sticht im Verdacht ein Detail ins Auge: Ausgerechnet der Name des Naziverbrechers und absoluten Bösewichts, Fritz Emmenberger, spiegelt den Namen des Autors, was auf eine instabile Dialektik von Eigenem und Fremden hinweist. Der aus dem Emmental stammende Friedrich Dürrenmatt wurde von seinen Freunden bekanntlich Fritz genannt. Reto Sorg hat dieses Skandalon des Textes mit Bezug auf Dürrenmatts Geburtsort prägnant gedeutet: »Selbst wenn es unmöglich ist, so ist es doch vorstellbar: Auch die Züge aus Konolfingen fahren nach Auschwitz […].«18 Zwar ist das Motiv der unheimlichen Heimat unterdessen für Kriminalromane geradezu konstitutiv geworden. Doch geht Dürrenmatt historisch noch vor dieser gattungsinternen Entwicklung weiter – nicht nur in der politischen Konsequenz. Gerade die Kategorie des Verdachts wird ihm, so möchte ich zeigen, zur Signatur eines Zeitalters, und vielleicht, um es mit einer bekannten Wendung

16 Vgl. ebd., S. 119-120. 17 Adolf Muschg: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt: fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation, Frankfurt/Main 1997. 18 Reto Sorg: »Von Konolfingen nach Auschwitz. Topographie und Poetologie in den Stoffen Friedrich Dürrenmatts«, in: Text + Kritik 50/51: Friedrich Dürrenmatt, hg. von Heinz Ludwig Arnold, 3. überarb. Aufl., München 2003, S. 36-46, hier S. 45.

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Giorgio Agambens zu sagen, zum »nómos des Planeten«19. Drittens kann Der Verdacht nämlich als theologisch-philosophische Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der Shoah an sich gelesen werden, die bisher ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen wurde. Der Krimi als Genre, das Moral und Erkenntnistheorie gleichermaßen beschäftigt, ist für eine solche Auseinandersetzung prädestiniert. Denn die »Annullierung des Warum«20 im grundlosen Massenmord führt zu einer umfassenden Neubeurteilung der westlichen Zivilisation und des Humanismus – also der »bürgerliche[n] Weltordnung« –, die Hannah Arendt im berühmten Gespräch mit Günther Gaus 1964 denkbar einfach formuliert: »Dies hätte nicht geschehen dürfen.«21 In diesem Dürfen ist einerseits die ethische Dimension enthalten, die auch das Krimi-Narrativ affiziert, das wenigstens in seiner klassischen Struktur auf die Wiederherstellung der moralischen Gesellschafts- und Staatsordnung durch die Ergreifung des Täters abzielt. Das fehlende Warum impliziert andererseits auch ein fehlendes Verstehen, ein fehlendes rationales Nachvollziehen-Können, also die wissens- oder erkenntnistheoretische Dimension des Völkermords. Der Detektiv gilt seit Edgar Allan Poes genreprägenden Erzählungen mit C. Auguste Dupin als die Figur des logischen Deduzierens und Antizipierens. Die Verabschiedung dieser Figur in den BärlachRomanen und vor allem im Verdacht ist nicht von den Ereignissen der Shoah zu trennen. Dürrenmatt zeigt nämlich, wie diese Ereignisse die Beschaffenheit der Moderne vorführen, für die der Holocaust mehr bedeutet als nur der Tiefpunkt einer historischen Epoche. Wenn Der Verdacht als Kriminalroman nach Auschwitz gelesen wird, dann ist mit dieser historischen Angabe gemeint, dass

19 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus d. Ital. von Hubert Thüring, Frankfurt/Main 2002, S. 186. Der berühmte Satz lautet bei Agamben so: »Das Lager, das sich mittlerweile fest in seinem Innern eingelassen hat, ist der neue biopolitische nómos des Planeten.« (ebd.) Der Verdacht und das Lager gehören zusammen, denn er führt in Der Verdacht dazu, dass der Staat und seine Ordnung durch die Struktur des Lagers ersetzt werden. Im Lager ist grundsätzlich jeder verdächtig. 20 Dan Diner: »Über die Poetik der Fassungslosigkeit«, in: Norbert Frei und Wulf Kansteiner (Hg.), Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität, Göttingen 2013, S. 101-106, hier S. 104. 21 Das gesamte Gespräch ist im Internet zu sehen und zu hören: http://www.youtube. com /watch?v=Ts4IQ2gQ4TQ (Zugriff: September 2014).

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er die »Modernität als unwiderruflicher Zusammenbruch einer ganzen Welt« 22 begreift. Im Verdacht wird anhand der Klinik am Zürichberg ein »geradezu ontologischer Ausnahmezustand der nunmehr bodenlosen Kontingenz«23 dargestellt. Im zweiten Teil meines Aufsatzes soll erläutert werden, inwiefern das Lager der Ort ist, von dem diese umfassende Kontingenz ausgeht, und wie der Roman diese als Aushebelung der von Bärlach verkörperten Werteordnung fasst. Zunächst jedoch muss danach gefragt werden, inwiefern eigentlich die Kategorie des Verdachts mit dieser Diagnose der Moderne als Zeitalter der bodenlosen Kontingenz verwandt ist und wie das Schlagwort der Kontingenz überhaupt zu verstehen ist.

III. Für die Kriminologie und das Straf- und Prozessrecht ist der Verdacht eine zentrale Kategorie. Juristisch gesehen, ist der Verdacht »ein unbestimmter Rechtsbegriff«, der institutionell sowie logisch von der Polizei und dem Gericht in verschiedenen Schritten formalisiert werden muss.24 Der Verdacht ist dabei »nicht nur das stigmatisierende Etikett, das im Ermittlungsverfahren arbiträr zugeschrieben wird.«25 Zwar ist er ein Konstrukt von komplexen Zuschreibungsprozessen, soll jedoch durchaus die Richtigkeit des Urteils gewährleisten. Dem Strafprozess geht es gerade darum, durch die umständliche Arbeit am Verdacht (Indizien, Beobachtungen, Geständnisse etc.) die Kontingenz des Urteils auszuschließen. Nicht unterdrücken kann die Rechtsprechung jedoch eine grundsätzliche Ambivalenz des Verdachts, auf die Dürrenmatts Roman, so möchte ich im Folgenden ausführen, eindringlich hinweist. Epistemologisch betrachtet ist der Verdacht nämlich ein Wissen, das gleichermaßen auch ein Nicht-Wissen ist. Er ist gemäß Grimm’schem Wörterbuch entweder ein »nicht auf hinreichenden gründen beruhendes urtheil« oder

22 Vgl. Michael Makropoulos: »Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzeptes«, in: Gerhard von Graevenitz und Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. 55-80, hier S. 77. 23 Ebd., S. 77-78. 24 Vgl. Lorenz Schulz: Normiertes Misstrauen. Der Verdacht im Strafverfahren, Frankfurt/Main 2001. 25 Ebd., S. 473.

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eine »unsichere vermutung«.26 Ein Verdacht bezeichnet also eine These, die auf Indizien oder auf reiner Intuition beruhen kann, in seiner negativen Konnotation als Argwohn jedoch etwas Bedrängendes, kaum Abwendbares an sich hat. Deshalb heißt es auch, dass an einem Verdacht immer »etwas dran« sei oder »etwas hängenbleibe« – als käme ein Verdacht aus der Substanz des Verdächtigten selbst. Darin ist er seinem positiven Gegenbild, dem Glauben verwandt, in den ein Verdacht übergehen kann, und auch dem Irr- oder Wahnsinn, dem von einem Verdacht Besessene oder auch Gläubige schließlich verfallen können. Wenn man einer natürlich falschen Etymologie folgen möchte, so könnte man das Wort Verdacht von ›ver-denken‹ herleiten, das analog zum Verlaufen eine Art von (geistigem) Abirren bezeichnen könnte. Dieses Schicksal des Verirrens ereilt trotz zutreffendem Verdacht beispielsweise den genialen Detektiv Matthäi in Dürrenmatts späterem und sehr viel bekannterem Text Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman (1958).27 Matthäi wird dort am Ende als »verblödet, erloschen« beschrieben, »das Gesicht verklärt von einem unermesslichen Glauben.« (IV, 428) Der Verdacht bezeichnet einen ambivalenten Zustand. Das Wissen des Verdachts stellt ein Wissen um etwas dar, von dem man weiß, dass es auch anders sein könnte. Dieses Es-könnte-auch-anders-sein des Verdachts verweist auf eine Definition von Kontingenz, die von Luhmann so formuliert wird: »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist.«28 Der Verdacht denkt also das irgendwie Mögliche in der Welt, aber, so Kommissär Bärlach zu seinem Freund Hugentobler mit Verweis auf eine weitere epistemologische Kategorie: »Das Mögliche und das Wahrscheinliche sind nicht dasselbe; das Mögliche braucht noch lange nicht das Wahrscheinliche zu sein.« (IV, 169) Und später: »Aber das Wahrscheinliche ist

26 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854-1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971, Lemma »Verdacht«. 27 Das Versprechen entstand als Vorlage zum Film Es geschah am helllichten Tage (1958 unter der Regie von Ladislao Vajda mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle verfilmt) und wurde 2001 als The Pledge von Sean Penn mit Jack Nicholson noch einmal, dieses Mal auf Basis der Romanhandlung, verfilmt. 28 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt/Main 1984, S. 152.

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noch nicht das Wirkliche.« (IV, 176) Ein Verdacht ist in diesem Sinn eine voreilige Annahme, dass eine Möglichkeit, die das Bewusstsein für Kontingenz nahe legt, auch das tatsächlich Wirkliche sei. Und manchmal reicht die reine Möglichkeit um einen Verdacht aufkommen zu lassen. Die Epistemologie des Verdachts ist die Paranoia, dass eine noch so unwahrscheinliche Möglichkeit wirklich sei, dass alles auf einmal in den »Horizont möglicher Abwandlungen« gerät und folglich nichts mehr so scheint, wie es ist. Man kann das aber auch umkehren: Das tatsächlich Seiende, das Wirkliche ist meistens vollkommen unwahrscheinlich. Es ist im alltäglichen Leben der meisten Menschen zum Beispiel sehr unwahrscheinlich, dass eine Person einen Mord begeht. Ein Mord ist aber durchaus eine menschliche Möglichkeit, eine Möglichkeit, die bekanntlich auch immer wieder realisiert wird. Es ist ein typisch Dürrenmattscher Gedanke, dass die ganze Welt eine solche unwahrscheinliche, aber wirklich gewordene Möglichkeit darstellt. Dürrenmatts Poetik gleicht jener »Methodik des Zweifels [soupçon=Verdacht, C.B.]«,29 die Paul Ricœur grundsätzlich für die Moderne bei Marx, Nietzsche und Freud am Werk sieht. Gemeint ist damit eine Ideologiekritik, die jeglicher Unmittelbarkeit misstraut und Methoden der Entschlüsselung und Deutung erarbeitet: »Das Wesentliche ist, daß alle drei [Marx, Nietzsche, Freud] mit den verfügbaren Mitteln, d.h. mit den Vorurteilen ihrer Epoche und gegen sie, eine mittelbare Wissenschaft des Sinnes schaffen, die nicht auf das unmittelbare Bewusstsein des Sinnes zurückführbar ist.«30 Diese Hermeneutik des Verdachts trifft auf verschiedenartige Widerstände – gerade die Psychoanalyse rechnet von vorneherein damit –, denn ihre Verdachtsmomente erscheinen dem Bewusstsein zunächst unwahrscheinlich. Es ist daher obsolet, Dürrenmatts frühem Roman gerade den Vorwurf der Unwahrscheinlichkeit der Handlung zu machen. Diese besteht ohne Zweifel; sie liegt auch darin, dass sich Täter und Opfer mit philosophischer Prägnanz und Präzision über ihre Taten und ihre Situation äußern können. Diese mehrfache Unwahrscheinlichkeit ist konstitutiv für die Anlage des Romans. Am auffallendsten wird die Unwahrscheinlichkeit in einer Szene gegen Schluss. Bärlach soll auf seine zu einer festgesetzten Stunde angekündigte Ermordung durch Emmenberger warten, immer mit dem quälenden Blick auf eine Uhr an der Wand. Die von Emmenberger dort in sadistischer Absicht installierte Uhr ist in plakativer Symbolik auch die Zeit, die für den Kommissär und seine humanistischen Überzeugungen abläuft. Der völlig irre gewordene Polizist wird jedoch

29 Paul Ricœur: Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II, München 1974, S. 68. 30 Ebd., S. 69.

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vom allwissenden31 Juden Gulliver und einem monströsen Zwerg, der zuvor als Mörder in Emmenbergers Diensten tätig war (wie sich herausstellt ebenfalls ein KZ-Überlebender) gerettet. Diese Szene der Rettung, die beiden mythischsatirischen Figuren, aber auch die morphiumsüchtige, ehemalige KZ-Insassin und jetzige Gehilfin des Bösewichts, die Ärztin Marlok, würden besser in einen Frank Miller-Comic passen als in die deutschsprachige Literaturszene der 1950er Jahre. Peter Rüedi vermutet eine Reminiszenz des offensichtlich »kinobesessenen Gymnasiasten F.D. an zahlreiche Horrorfilme in der Nachfolge des Dr. Mabuse oder des Dr. Caligari?«32 Dieser Schluss in seiner merkwürdigen – vielleicht neobarocken, vielleicht postmodernen – symbolischen Überfrachtung sprengt jedes realistische Erzählen. Rüedi hat schon bemerkt, dass die Klinik ein Ort zwischen Realität und Tod ist, »der die Realität (und den Realismus) ausschließt.«33 Die Irrealität ist für den Text konstitutiv, sie dient der Satire auf eine Welt, in der immer noch so getan wird, als ob das Wirkliche auch das Vernünftige sei, obwohl es längst zu einer tödlichen Travestie geworden ist. Der Text zeigt damit auch, dass er nicht bloß eine Dekonstruktion des Kriminalromans darstellt,34 sondern insgesamt als Buch des Verdachts zu lesen ist. Im Sinne Ricœurs zeigt es den Verdacht gegenüber einer Welt, in der buchstäblich alles, auch das eigene Bewusstsein, anders sein könnte, als es erscheint.

IV. In einem Aufsatz »zur Theorie des Kriminalromans« von 1973 hat Dieter Wellershoff festgehalten: »Mord ist die blutige Rückkehr des Verdrängten. […] Der Detektivroman thematisiert [den] Zusammenbruch des Vertrauens. Er schafft durch den unaufgeklärten Mord eine Atmosphäre allseitigen Verdachts. Der für den Zusammenhalt ruinöse Gedanke breitet sich aus, daß jeder es gewe-

31 Damit verliert der Detektiv jenen »Schein der Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit«, den prominent Siegfried Kracauer ihm attestiert hatte, vgl. P. Gasser: Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane, S. 55. 32 P. Rüedi: Dürrenmatt, S. 386. 33 Ebd., 385. 34 Nicht viel weiter geht etwa Jochen Ritter: »›Um ehrlich zu sein, ich habe nie viel von Kriminalromanen gehalten.‹ Über die Detektivromane Friedrich Dürrenmatts«, in: Wolfgang Düsing (Hg.), Experimente mit dem Kriminalroman. Ein Erzählmodell in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main u.a. 1993, S. 141-154.

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sen sein könnte […].«35 Weiter schreibt Wellershoff: »Alles ist möglich, das scheinbar Abwegige und, noch abwegiger, das Erwartete; denn man befindet sich ja in einer gemachten, einer trickhaften Welt, in der die Psychologie der Personen keine eigene Wahrscheinlichkeit hat, sondern sich aus den Täuschungsmanövern des Autors ergibt.«36 Diese Sätze erscheinen befremdlich. Ihrem Autor müsste doch unmittelbar vor Augen gestanden sein,37 dass »die blutige Rückkehr des Verdrängten« und »die Atmosphäre allseitigen Verdachts« nicht nur in der Imagination von Krimiautoren vorkommen, sondern dass die »trickhafte Welt« Wirklichkeit werden kann, ja wider jede Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit geworden war. Dieses Blindsein vor der eigenen Zeit impliziert denn auch ein völliges Verkennen von Dürrenmatts Krimis. Gemäß Wellershoff ersetze Dürrenmatt in »krypto-religiöser Absicht« bloß das rationalistische Klischee des klassischen Detektivromans durch ein irrationales, das durch den Zufall bestimmt sei. Nun trifft zwar zu, dass Dürrenmatt dem Zufall in seinen Erzählungen gerecht zu werden versucht, oder um es mit den Worten des Erzählers in Das Versprechen zu sagen, »das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable« (IV, 439) in seine Fälle einbaut. Dürrenmatt hat jedoch die ruinierte Welt, in der »jeder es gewesen sein könnte« und die Wellershoff als spießbürgerliches Schreckbild zeichnet, als Realität begriffen. Der Detektivroman entsteht ja, wie Luc Boltanski ausführt, aus den moralischen und wissenschaftlichen Zumutungen der Moderne: Der Detektiv kann als säkularer Rationalist die staatlich verbürgte Ordnung wieder herstellen, die ein einzelner Bösewicht ins Wanken gebracht hat. Der Spionageroman dagegen geht gemäß Boltanski weiter. Der Staat ist kein friedlicher Staat, sondern einer im dauernden Kriegszustand, der gegen innere und unsichtbare Feinde vorgehen muss. Der Ausnahmezustand wird als neue Norm erkannt: »Der Verdacht, aus dem sich der Kriminalroman speist, wird hier an seine äußerste Grenze getrieben. Dass jeder beliebige fragwürdig werden und alles Mögliche geschehen kann, ist nicht mehr örtlich auf ein bestimmtes Viertel oder ein bestimmtes Dorf im Umfeld dieses oder jenes Verbre-

35 Dieter Wellershoff: »Vorübergehende Entwirklichung. Zur Theorie des Kriminalromans«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998, S. 499-522, hier S. 504. 36 Ebd., S. 505. 37 Wellershoff ist mit siebzehn Jahren Mitglied der NSDAP geworden – ohne sich freilich daran erinnern zu können; vgl. Malte Herwig: »Als wir jung waren«, in: ZEIT Magazin, 22. Juni 2009, http://www.zeit.de/2009/25/Schriftsteller-25 (Zugriff: September 2013).

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chens beschränkt. Etwas kann sich überall und jederzeit als Verbrechen erweisen oder nicht. Im Spionageroman nimmt das Rätsel keinen zentralen Platz ein, weil die Möglichkeit des Verbrechens hier bereits konstitutiv für die Realität ist.« 38 Diese Beobachtung anhand von Literaturgenres trifft mit einer politischen Diagnose Kommissär Bärlachs zusammen: »Was in Deutschland geschah, geschieht in jedem Land, wenn gewisse Bedingungen eintreten. Diese Bedingungen mögen verschieden sein. Kein Mensch, kein Volk ist eine Ausnahme.« (IV, 203) Dürrenmatt erzählt zwar keinen Spionageroman, doch schildert er sehr genau den Staat im Ausnahmezustand, für den die Möglichkeit zum Verbrechen konstitutiv ist. Darüber was es heißt, wenn jeder es gewesen sein könnte, was es heißt, wenn es keine Ausnahme gibt, was die Verfassung des Lagers bedeutet, was die Geschehnisse der Shoah für das Menschsein und das menschliche Denken bedeuten, hat Dürrenmatt Zeit seines Lebens nachgedacht. Die eindringlichste Reflexion über diese Fragen findet sich im letzten Text des letzten zu Lebzeiten erscheinenden Buchs, in Das Hirn, das den zweiten Stoffe-Band Der Turmbau abschließt. Von diesem späten, jedes Genre sprengenden Text bietet sich auch ein erhellender Blick auf den frühen Roman an. Der Ausgangspunkt von Das Hirn ist die Fiktion eines einzelnen, isolierten und einsam im Universum schwebenden menschlichen Hirns. Dieses Organ ist sozusagen ein »reines Hirn«, das nur als einzelner Punkt vergleichbar zum Primärpunkt des Urknalls existiert und das unendlich viel Zeit zur Verfügung hat. Und weil das Hirn ein menschliches Hirn ist, fängt es aus Angst vor dem Nichts an zu fühlen und zu denken und neben allen Emotionen auch die Naturgesetze und die Grundlagen der Wissenschaften zu erfinden, die Musik, die Kunst und die Literatur samt allen möglichen Werken der Menschheit. In einer irrwitzigen Miniaturphänomenologie des Geistes denkt das Hirn die Entstehung des Universums, das Sonnensystem, die geologischen Prozesse auf der Erde, die Naturgeschichte, die Evolution, das Auftauchen des Menschen und die Weltgeschichte durch. Dabei hat sich das Hirn »eine Welt ausgedacht, ohne sie zu begreifen. Das Hirn wird von einer unbändigen Spielleidenschaft erfasst, unersättlich und hemmungslos durchspielt es das Leben als eine ungeheuerliche Groteske.« (VI, 547) Der Text kann als Parodie von Leibniz’ berühmtem Konzept der besten aller möglichen Welten verstanden werden, die Gott aus seinem unbeschränkten Fundus in die Wirklichkeit überführt. Das Hirn aber hat die Fähigkeit zur Verwirklichung nicht und es ist schon gar nicht am Besten interessiert.

38 Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, aus d. Franz. von Christine Preis, Frankfurt/Main 2013, S. 239.

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Vielmehr permutiert es in den Jahrmillionen seiner unbeschränkten Existenz alle denkbaren Möglichkeiten, die Wirklichkeit hätten werden können. Lustvoll spekuliert Dürrenmatt mit diesen Möglichkeiten. Ein Sklavenaufstand verhindert etwa den Bau der Pyramiden, Luther gründet den Wotankult und die Weltkriege werden von China und dem amerikanischen Inkareich geführt. Doch weil auch die wirklich gewordenen Möglichkeiten möglich sind, werden auch sie vom Hirn erdacht. Das Hirn in Dürrenmatts Text muss auch die reale Welt- und Geistesgeschichte denken, es muss irgendwann sogar Friedrich Dürrenmatt und als eine seiner Möglichkeiten dessen Text Das Hirn selbst denken. Damit ist die Fiktion bei ihrem paradoxen Scheitelpunkt angelangt und der Erzähler gerät in eine fragwürdige Position: »Ist Das Hirn meine Fiktion, die ich schreibe, oder bin ich die Fiktion des Hirns, die Das Hirn schreibt? Bin ich jedoch nur fiktiv, ist auch Das Hirn, das ich schreibe, fiktiv, aber auch wer Das Hirn liest und der Kritiker, der Das Hirn rezensiert, sind nur Fiktionen. Wer hat wen erfunden, gibt es mich überhaupt [?] […] Aber auch das Hirn steht vor den gleichen Fragen und Antinomien. Vor dem gleichen Entweder-Oder. Was ist wirklich? […] ob das Hirn mich denkt, Das Hirn schreibend, oder ob ich Das Hirn schreibe, das mich denkt, gehört zum Unentscheidbaren aber Denkbaren. Es ist entweder möglich oder wirklich und nur nicht zu entscheiden, ob es möglich oder wirklich ist.« (VI, 563)

Mit dieser etwas kinderhaften philosophischen Spekulation endet der Text jedoch nicht. Plötzlich, mitten im Abschnitt und zuerst kaum merklich, ändert Dürrenmatt nämlich Genre und Erzählhaltung. Er beginnt, von einer Reise in Polen zu erzählen (die biographisch verbürgt ist, im Frühsommer 1990 tatsächlich stattgefunden hat). »Wirklich oder möglich war auch die Straße, die von Krakau hinaus führte.« (VI, 566) Der Erzähler schildert nun einen Besuch auf dem Gelände der ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz und AuschwitzBirkenau. Es folgt eine genau Beschreibung der Anlage und der Gefühle, die der Ort im Erzähler auslösen. Der Text endet mit folgenden Sätzen: »Der Ort wurde weder von meinem fingierten Hirn ausgedacht oder geträumt […] und auch ich habe ihn nicht erdacht oder geträumt. Er ist undenkbar, und was undenkbar ist, kann auch nicht möglich sein, weil es keinen Sinn hat. Es ist, als ob der Ort sich selbst erdacht hätte. Er ist nur, sinnlos wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und ohne Grund.« (VI, 568) Auschwitz hebt also die ganze über dutzende von Seiten laufende Überlegung, ob wir von einem Gott erdacht wurden oder ob nicht vielmehr wir Gott erfunden haben, auf. Man könnte Dürrenmatts Bestimmung des Lagers als Ort, der nur ist, »sinnlos wie die Wirklichkeit« und der sich damit nicht rational antizipieren lässt, analog zu Agambens wirkungsmäch-

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tigen Formulierungen zum so genannten »nackten Leben« lesen, das in den Lagern als »das reine Leben ohne jegliche Vermittelbarkeit« produziert wurde. Denn in Auschwitz und in anderen Orten der Vernichtung waren die Menschen vollständig ihres politischen Status, ihres Status als Menschen unter Menschen, beraubt. Agambens nacktes Leben ist das, was der Nihilist Emmenberger im Verdacht die Materie nennt: »Es ist unsinnig in einer Welt, die ihrer Struktur nach einer Lotterie ist, nach dem Wohle der Menschen zu trachten […]. Es ist Unsinn, an die Materie zu glauben und zugleich an einen Humanismus, man kann nur an die Materie glauben und an das Ich. Es gibt keine Gerechtigkeit – wie könnte die Materie gerecht sein –, es gibt nur die Freiheit […].« (IV, 252) Während der Mörder für sich die absolute Freiheit reklamiert, wird der Gefolterte auf sein bloßes Leben zurückgeworfen, eine zufällige Existenz. Das Lager ist damit dort, wo die materiale Realität ihrer moralischen Gesetze und kausalen Strukturen entkleidet wird und das Leben jegliche inhärente Bedeutung verliert. Es wird von Überlebenden der Shoah oft berichtet, dass ein Zufall, ein zufälliges Wegsehen, eine Willkür oder irgendetwas konkret Läppisches über Leben und Tod entscheiden konnte.39 Es ist diese totale und unbegreifliche Inkommensurabilität, das per se Grundlose, das nach Dürrenmatt überhaupt den inneren Kern der Realität ausmacht und sie von der bloßen Möglichkeit scheidet. Mit anderen Worten zeigt der Extremfall des Vernichtungslagers in seiner radikalen Kontingenz, dass es einen Ort gibt, der nur wirklich sein kann. Die Rede vom Bruch der Zivilisation meint daher nicht nur einen Ordnungswandel, sondern eine dramatische Krise des Ordnungsgefüges an sich – der Ordnung ein Mensch zu sein, die in der grundlosen Ermordung von Millionen Individuen negiert wird. Obwohl Bärlach im Verdacht um das unwahr Gewordene der menschlichen Ordnung und ihrer Gesetze weiß, wendet er genau diese moralischen und logischen Gesetze an. Er ist ein Vertreter derjenigen Gerechtigkeit, die im zynischen Rekurs auf Freiheit negiert wird.

39 Ruth Klüger erzählt etwa von einer Rettung, als sie als Dreizehnjährige im Lager bereits zum Tod verurteilt ist, durch den Einsatz einer jüdischen Schreiberin und der Willkür eines deutschen SS-Mannes aber als älter vermerkt und doch zur Zwangsarbeit eingeteilt wird. »Fast jeder Überlebende hat seinen ›Zufall‹, das Besondere, Spezifische, das ihn oder sie unvermutet am Leben erhalten hat.« Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, München 199419, S. 134. Auch Primo Levi berichtet von der völligen Zufälligkeit (»ein einfaches Versehen«; »Irrtum«), der die »Selektionen« in Auschwitz prägte; Primo Levi: Ist das ein Mensch. Ein autobiographischer Bericht, aus d. Ital. von Heinz Riedt, München 199210 [1958], S. 155.

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V. Dürrenmatts Detektive scheitern. Der Grund dieses Scheiterns ist, dass sowohl Bärlach im Verdacht wie Matthäi im Versprechen streng rational vorgehen, obwohl die beiden Figuren im Prinzip um die Sinnlosigkeit der Verbrechen wissen, die sie aufklären sollen. Bärlachs Ermittlung führt ihn direkt in das dunkle Herz des Sinns überhaupt, an den Ort, der die Irreduzibilität des Lebens offenbart, sei es das Lager oder die moderne Krebs-Klinik. An diesen Orten ist das Leben ohne seine moralische und ohne seine rationale Verfassung nur Leben, von der Vermittlung durch die sinnstiftenden Ordnungsdiskurse von Religion oder Naturwissenschaft vollkommen abgetrennt. Die modernen Leitdiskurse der Kriminalistik und der Medizin werden somit durch ihren Nullpunkt geführt, der ihre alltäglichen Ordnungen des Verstehens mit negativen Vorzeichen versieht. Im Verdacht wendet der KZ-Arzt eine besonders perfide Strategie an: Er verspricht den Häftlingen des Konzentrationslagers die Freiheit, wenn sie die Operation überleben würden, worauf sie sich den grässlichen Torturen unterziehen. Ob diese Entscheidung freiwillig oder gezwungenermaßen geschieht, lässt sich kaum sagen, vielmehr unterläuft die durch den Arzt installierte Struktur des »Ausnahmezustandes«40 diese Unterscheidung, weil es in ihm gar kein Subjekt mehr gibt, das einen freien Willen haben und das eine rationale Entscheidung treffen könnte. Konsequenterweise ist Gulliver, der einzige Überlebende einer solchen Operation, zur Ausnahmefigur geworden, die sich als Ewiger Jude selbst der Differenz von Leben und Tod entzieht. Eine Pointe des Romans ist, dass Emmenberger die sterbenden Millionäre mit der gleichen Taktik zu einer Operation bewegt wie als KZ-Doktor die Häftlinge. Er gibt den Krebskranken die unwahrscheinliche Hoffnung auf ein längeres Leben, wenn sie sich ohne Narkose operieren lassen wollen. Der reine Überlebenstrieb führt die Patienten damit paradoxerweise in den sicheren Tod. Die grotesk reichen Millionäre vom Zürich-

40 Zunächst ist der Ausnahmezustand das juristisch-politische Mittel, das Recht partiell und provisorisch zu suspendieren, um es insgesamt zum Wohl der Allgemeinheit zu schützen, aber auch um die Macht des Souveräns zu erhalten, die er gerade in der Installation des Ausnahmezustands zementiert. Basierend auf Carl Schmitts Ausführungen zum Souverän als demjenigen, der über den Ausnahmezustand bestimmt, fasst Agamben diesen »als Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen, Ausschließung und Einschließung.« G. Agamben: Homo Sacer, S. 190. Für eine Geschichte des Ausnahmezustands und eine Analyse der ihn begleitenden Diskurses im politischen Denken vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.I), aus d. Ital. von Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt/Main 2004.

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berg werden vor Emmenbergers Skalpell zu obszönen Spiegelfiguren der KZHäftlinge, zwei Versionen des nackten Lebens. Emmenberger tötet, ohne im klassischen Sinn ein Verbrechen zu begehen. Reine Materie kann man im strengen Sinn nicht ermorden. Dieser Verbrecher setzt die moralischen Gesetze der Gesellschaft vorher außer Kraft, er nutzt einen Ausnahmezustand aus, heißt dieser nun Holocaust oder Krebs: Das Töten und das Getötet-Werden sind zu unpersönlichen Angelegenheiten und zu einem normalen Teil der menschlichen Beziehungen geworden.41 Die Klinik als Ort des Ausnahmezustandes unterläuft auch die geographische Unterscheidung von Heimat und Fremde. Denn wenn kein Land eine Ausnahme darstellt, wie Bärlach weiß, kann sich die Ausnahme als neuer Normalzustand überall ereignen. Diese Nichtunterscheidbarkeit von Schweizerischem und Nichtschweizerischem wird unter anderem sprachlich demonstriert. Als Bärlach unter falschem Namen in die Klinik eingeliefert wird, spricht er »auf Hochdeutsch, denn er hatte sich als Auslandschweizer anmelden lassen.« (IV, 199) Umso beruhigter ist er, als Schwester Kläri »ein schweizerisch gefärbtes Hochdeutsch« spricht und er erkennt, dass »sie eine Bernerin war.« (Ebd.) Mit dem verdächtigen Arzt unterhält sich Bärlach dann sogleich im berndeutschen Dialekt: »›Grüeßech‹, sagte er, sein Hochdeutsch fallenlassend, das er eben noch mit Schwester Kläri gesprochen hatte, es freue ihn, einen so berühmten Arzt kennenzulernen. Er spreche ja Berndeutsch, antwortetet der Arzt ebenfalls im Dialekt. Als Auslandberner werde er sein Miuchmäuchterli wohl noch können, brummte der Alte. Nun, das habe er festgestellt, lachte Emmenberger. Die kunstgerechte Aussprache des Miuchmäuchterli sei immer noch das Kennwort der Berner.« (IV, 200)

Das schwer auszusprechende berndeutsche Wort »Miuchmäuchterli« [=Milcheimer] erscheint als ein sinnlos gewordenes Schibboleth. Das »Kennwort der Berner« hat keine Passwortfunktion mehr, die das Fremde vom Eigenen scheiden könnte, sondern dient allein der gegenseitigen Verdächtigung. Umso trügerischer ist auch Bärlachs Ruhe angesichts von Schwester Kläris berndeutscher Sprachfärbung. Die Krankenschwester, deren buchstabengläubiger Evangelikalismus mit Emmenbergers Nihilismus gut zusammengeht, entpuppt sich bald als banale Gehilfin des Bösen. Die scheiternde Methode Bärlachs ist es zunächst, mit Anspielungen den Arzt verunsichern zu wollen, also auch im Arzt einen Verdacht über ihn selbst

41 Vgl. L. Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 239.

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zu erzeugen. Der Kommissär erzählt, einen bestimmten in die Schweiz geflüchteten Kriegsverbrecher zu suchen, von dem er kaum etwas weiß. »Wie wollen Sie vorgehen? Ich bin gespannt.« fragt der Arzt. »Der Verfolgte weiß nicht, daß Sie ihn verfolgen, wenigstens sind dies Ihre eigenen Worte.« »›Er ahnt es, ohne es genau zu wissen, und das ist gefährlich für ihn‹, antwortete Bärlach. ›Er weiß, daß ich einen Kriegsverbrecher suche. Er wird seinen Verdacht beschwichtigen und sich immer wieder beteuern, daß ich einen anderen suche und nicht ihn. Denn durch eine meisterhafte Maßnahme hatte er sich gesichert und aus der Welt des schrankenlosen Verbrechens in die Schweiz gerettet, […]. Ein großes Geheimnis. Aber in der dunkelsten Kammer seines Herzens wird er ahnen, daß ich ihn suche und niemand anders, nur ihn, immer nur ihn. Und er wird Furcht haben, immer größere Furcht, je unwahrscheinlicher es für seinen Verstand sein wird, daß ich ihn suche, während ich, Doktor, in diesem Spital in meinem Bett liege mit meiner Krankheit, mit meiner Ohnmacht.‹ Er schwieg.« (IV, 205206)

Doch die Untersuchung und die Erzeugung der Furcht sind gegenseitig. Die kriminalistische Analyse spiegelt sich in der medizinischen und umgekehrt. Auch der Arzt besieht Bärlach, in dem er erstaunt einen »hoffnungsfrohen Optimisten« erkennt, also einen Aufklärer in einer Zeit, in der die »Welt des schrankenlosen Verbrechens« und das vermeintlich neutrale Territorium der Schweiz längst identisch sind. Deshalb ist dieser Optimismus zum Tode verurteilt: »Ihre Krankheit ist ernst. Das wissen Sie. Der Verdacht, sie könnte lebensgefährlich sein, ist nicht behoben. Ich habe nach unserem Gespräch leider diesen Eindruck. Offenheit verdient Offenheit. Die Untersuchung wird nicht eben leicht sein, da sie einen gewissen Eingriff verlangt. […] Die Hauptsache ist, daß ich Sie vorerst in Obhut genommen habe.« (IV, 206) Diese »Obhut« entpuppt sich schnell als tödliche Falle, es ist der innere Ort der Klinik, an dem die Unterschiede zwischen Heilung und Mord, Arzt und Mörder aufgehoben werden.

VI. In der Gewalt Emmenbergers muss der Detektiv am eigenen Leib seine »Ohnmacht« erfahren. Kommissär Bärlach hat durch seine Erkrankung das ausgemergelte Aussehen eines KZ-Häftlings angenommen und liegt »zusammengekrümmt, ein verendendes Tier, auf seinem weißen Laken liegend wie am Rande einer endlosen, gleichgültigen Straße.« (IV, 252) Während Bärlach alles Menschliche verloren hat, als »verendendes Tier« aus der menschlichen Ord-

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nung ausgeschieden ist, entzieht sich auch Emmenberger dieser Ordnung, jedoch auf der entgegengesetzten Seite in der Gestalt des über den Ausnahmezustand bestimmenden Souveräns: »[…] denn wenn ich einen anderen Menschen töte […], wenn ich mich außerhalb jeder Menschenordnung stelle, die unsere Schwäche errichtete, werde ich frei, werde ich nichts als ein Augenblick, aber was für ein Augenblick! An Intensität gleich ungeheuer wie die Materie […].« (IV, 252)

Emmenberger sieht sich in seiner jede »Menschenordnung« überschreitenden Amoral am »Punkt des Archimedes«, an dem ihm buchstäblich alles erlaubt ist. Er will den Kommissär freilassen und seinen eigenen Tod in Kauf nehmen, wenn dieser ihm einen seinen Nihilismus ausschließenden und aufhebenden Glauben entgegensetzen kann. Doch Bärlach, zum »Tier« geworden, ist aus seiner Position heraus nicht in der Lage, einen solchen Glauben aufzubringen und damit die »Menschenordnung« wieder herzustellen beziehungsweise den Ausnahmezustand aus eigener Kraft aufzuheben. Schließlich wird Emmenberger vom plötzlich auftauchenden Juden Gulliver umgebracht und Bärlach befreit. Gulliver, der »riesenhafte Ahasver« (IV, 156), ist ein philosemitisches Stereotyp: »Sein Kopf war kahl und mächtig, die Hände edel, aber alles mit fürchterlichen Narben bedeckt, die von unmenschlichen Misshandlungen zeugten, doch hatte nichts vermocht, die Majestät dieses Gesichts und dieses Menschen zu zerstören. […] geisterhaft lag sein Schatten an der Wand und an den Vorhängen, die wimpernlosen, diamantenen Augen blickten mit einer unerschütterlichen Klarheit nach dem Alten.« (IV, 147) Es ist bezeichnend, dass der Erzähler nicht den Detektiven die philosophische Quintessenz der Handlung – quasi die Moral von der Geschichte – äußern lässt, sondern Gulliver, der den eigentlichen Gegenpol zum SS-Arzt darstellt: »Wir können als einzelne die Welt nicht retten, das wäre eine ebenso hoffnungslose Arbeit wie die des armen Sisyphos; sie ist nicht in unsere Hand gelegt, auch nicht in die Hand eines Mächtigen oder eines Volkes oder in die des Teufels, der doch am mächtigsten ist, sondern in Gottes Hand, der seine Entscheide allein fällt. Wir können nur im einzelnen helfen, nicht im gesamten, die Begrenzung des armen Juden Gulliver, die Begrenzung aller Menschen. So sollen wir die Welt nicht zu retten suchen, sondern zu bestehen, das einzig wahrhafte Abenteuer, das uns in dieser späten Zeit noch bleibt.« (IV, 246)

Nur Gott scheint den Verdacht (der vom Teufel kommt) aufheben und die Welt retten zu können. Im gottesfernen Zustand »dieser späten Zeit« bleibt dem Ein-

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zelnen jedoch nur, die Welt »zu bestehen«, die nach dem »Zivilisationsbruch« unrettbar ist. Die Welt bestehen heißt, mit dem Nicht-zu-Antizipierenden, dem Unwahrscheinlichen und absolut Kontingenten umzugehen und es gestützt auf die historische Erfahrung als Möglichkeit der Welt zu betrachten. Dass der Schweizer Polizist Bärlach vom jüdischen Überlebenden der Shoah befreit wird, stellt nicht nur angesichts der verheerenden Flüchtlingspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs eine bittere Ironie dar. »Sollte ich dich allein ins Verderben rennen lassen?« fragt Gulliver den Kommissär; und mit einer Anspielung auf Kierkegaards objektiv wahnsinnigen »Glaubensritter«42 fährt er fort: »Man kann heute nicht mehr das Böse allein bekämpfen, wie Ritter einst allein gegen einen Drachen ins Feld zogen. Die Zeiten sind vorüber, wo es genügt, etwas scharfsinnig zu sein, um die Verbrecher, mit denen wir es heute zu tun haben, zu stellen.« (IV, 260) Weder Glauben noch Scharfsinn reichen aus, um vor dem Wahnsinn zu bestehen. Der scharfsinnige Verdacht Bärlachs gegen den Arzt trifft zwar zu. Doch angesichts der Shoah erscheint Bärlachs logische und moralische Position in gleichem Maß antiquiert und leer wie die Position des glaubensfesten Ritters. Was Bärlach mit diesem scharfen Sinn nämlich nicht denken kann, um das nur der Jude mit seiner historischen Erfahrung im Nachhinein weiß, ist der »Punkt des Archimedes«, der jegliche »Menschenordnung« in absolute Kontingenz überführt und an dem sich unvermittelte Freiheit und nacktes Leben gegenüberstehen und bedingen. Es ist der Ort, an den sich der SSArzt mit seinen Opfern gestellt hat, der Ort, der unmöglich und somit undenkbar ist, »sinnlos wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und ohne Grund«, wie Dürrenmatt Auschwitz in Das Hirn beschreibt. Dieser Ort, an dem der Wahnsinn zur Methode wird, begründet zwar den Verdacht, lässt ihn aber auch ins absolute Leere laufen, weil die Inkommensurabilität dieses Ortes und dieses Verbrechers jeden Verdacht übersteigt. Auch in Das Versprechen trifft der realistisch betrachtet äußerst unwahrscheinliche Verdacht zu, was aber auch dort dem Detektiven nichts nützt. Der Detektiv Matthäi hat durch seine Intuition einem Kindermörder zwar genau die richtige Falle gestellt. Zufällig und unbekannterweise stirbt der Mörder jedoch an einem Verkehrsunfall, bevor Matthäi ihn ergreifen und verhaften kann. Der nie bestätigte Verdacht führt ihn schließlich in den Wahnsinn, wovor ihn wiederum ein Arzt, ein Psychiater dieses Mal, vorausblickend warnt: »Dass Sie den Wahnsinn als Methode wählen, mag mutig sein, das will ich gerne anerkennen, extreme Haltungen imponieren ja heute, aber wenn diese Methode nicht zum

42 Vgl. A. Mingels: Dürrenmatt und Kierkegaard, S. 106.

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Ziele führt, fürchte ich, daß Ihnen dann einmal nur noch der Wahnsinn bleibt.« (IV, 514) Folgerichtig hat Dürrenmatt eines seiner berühmtesten Dramen, das bekanntlich auch als Kriminalhandlung beginnt, nämlich mit der Erdrosselung einer Krankenschwester, Die Physiker, in einer psychiatrischen Anstalt handeln lassen. Auch diese Klinik beherbergt die Aufhebung der »Menschenordnung«: Der Physiker Möbius hat die jede Ordnung potentiell aufhebende Weltformel entdeckt, doch er fürchtet deren Missbrauch durch politische Machtgelüste und gibt sich als geisteskrank aus. Mit dieser immer noch logisch-moralischen Strategie läuft er wie die Detektive in die Sackgasse eines absolut unlogischen und amoralischen Souveräns, der immer schon den »Wahnsinn als Methode« einkalkuliert. Das bedeutet, dass dieser Souverän das Nicht-Planbare bereits in seinen Plan aufgenommen, ja diese Aufnahme des Kontingenten zur Methode gemacht hat. Der Detektiv kann also wie das singuläre Hirn noch so »unersättlich und hemmungslos« seine Deduktionen betreiben und seinen Verdacht beweisen wollen, angesichts des methodisch eingesetzten Undenkbaren führt jede Methode, jedes Methodische selbst in den nackten Wahnsinn. Im Versprechen bleibt der Verdacht bis zuletzt nicht gänzlich aufgelöst. Die Erzählung weist die bedrängende Ambivalenz von Wissen und NichtWissen als Signatur des Zeitalters aus, ohne dass der Text sich historisch genau situieren ließe. Der Verdacht dagegen ist jener Text Dürrenmatts, der die Uneinholbarkeit des Verdachts im Ausnahmezustand konkret auf das historische Datum nach der Shoah zurückführt. Zwar bestätigt sich Kommissär Bärlachs Verdacht zur Identität von Emmenberger mit dem Nazi-Verbrecher. Doch gerade diese Identität bewirkt auch die vollkommene Nutzlosigkeit der Bestätigung im kriminalistischen Sinn. Gerechtigkeit lässt sich nicht wieder herstellen. Nur Gulliver, der als Opfer spiegelverkehrt die Erfahrung des Täters teilt und zum Untoten geworden ist, kann den Souverän aushebeln, weil er durch seine Erfahrung für immer aus der »Menschenordnung« ausgeschieden ist, die auch Emmenberger in die andere Richtung überschritten hat. Dürrenmatts Kriminalroman zeigt damit exemplarisch, dass es keine Methode gibt, mit der die Beschädigung dieser Ordnung einfach rückgängig gemacht werden könnte.

L ITERATUR Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus d. Ital. von Hubert Thüring, Frankfurt/Main 2002.

D ÜRRENMATTS D ER V ERDACHT ALS K RIMINALROMAN NACH DER S HOAH

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»Look at this tangle of thorns« Vladimir Nabokovs Lolita und die Appellstruktur des Geständnisses D USTIN B REITENWISCHER (F REIBURG )

für E.K.P.

I. Obwohl sich wahrscheinlich immer ein Grund finden ließe, Vladimir Nabokovs Roman Lolita (1955) einer eingehenden Lektüre zu unterziehen,1 gibt es gegenwärtig drei mehr oder weniger dringliche, zum Teil sogar erschütternde und ineinander verschränkte Diskurse, die einen auf besondere Weise dazu ermuntern: (1) Im Februar 2014 legte ein Abgeordneter der SPD-Bundestagsfraktion sein Mandat nieder, weil ihm aufgrund des möglichen Besitzes kinderpornografischen Bildmaterials eine disziplinarische und juristische Untersuchung bevorstand. Der Politiker gestand den Besitz, begründete ihn aber mit der seit der Antike vorherrschenden kunst- und kulturgeschichtlichen Praxis der Inszenierung von kindlichen Körpern und seiner ästhetischen Vorliebe für eben diese Kunsttradition. (2) Im September 2014 widmete sich die Zeitschrift Texte zur Kunst in ihrer 95. Ausgabe dem momentan in der Kunstwissenschaft intensiv diskutierten Verhältnis von Bild und Kunst, wobei genauer noch der Frage nachgegangen wird, wie innerhalb und außerhalb der Kunst mit Oberflächenphänomenen und deren Produktions- und Rezeptionsbedingungen umzugehen ist. Auch der Fall

1

Ich werde mich in meinen Ausführung auf folgende Ausgabe beziehen: Vladimir Nabokov: The Annotaded Lolita, hg. von Alfred Appel, Jr., New York 1991.

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des Abgeordneten wird in einem der Beiträge, auf den im Folgenden noch näher eingegangen wird, beispielhaft in die Debatte miteinbezogen. (3) Jenseits des Kinderpornografie- und (vornehmlich kunstkritischen) Bilddiskurses beschloss im November 2014 eine aus juristischen Laien bestehende Grand Jury in Ferguson, Missouri, dass der weiße Polizist Darren Wilson, der im August desselben Jahres den 18-jährigen Afroamerikaner Michael Brown erschossen hat, nicht angeklagt wird. Diese Entscheidung löste in den USA antirassistische Proteste aus, führte aber auch dazu, dass die Urteilsfähigkeit einer aus ›Normalbürgern‹ zusammengesetzten Geschworenenjury neuerlich in Frage gestellt wurde. Bei Betrachtung dieser drei Diskurse will man sich am besten nicht ausmalen, wie eine Geschworenenjury (möglicherweise auch noch in einem System, das die Todesstrafe zulässt) das Geständnis eines des Kindesmissbrauchs überführten Pädophilen und Mörders bewerten und zu welchem ethisch-moralischen und vor allen Dingen juristischen Urteil sie kommen würde. Aber genau solch ein Gedankenexperiment nimmt Nabokovs Roman vor, in dem er das Geständnis seiner Hauptfigur zentral setzt und dem Leser immer wieder direkt die performative Position eines (in vielerlei Hinsicht zum Urteil verpflichteten) Geschworenen überträgt. Diese Rezipientenrolle will der folgende Aufsatz besonders ernst nehmen und nach ihrer wirkungsästhetischen Funktion fragen. Dabei wird zu klären sein, was für eine Erfahrungsmatrix insbesondere die Missbrauchserzählung freilegt und bespielt. So löste zwar die Veröffentlichung des Romans in den konservativen Vereinigten Staaten der 1950er Jahre einen, wie man sich vorstellen kann, mittelschweren Skandal aus. Seither wird der Missbrauch jedoch viel zu oft als naive, aber nicht minder leidenschaftliche Liebesgeschichte ausgewiesen, in der das junge Opfer schlechterdings zum verführerischen Luder avanciert.2 Im Folgenden soll gewiss nicht auf die jeweiligen Publikations- und Interpretationsskandale eingegangen werden. Doch möchte ich im Kontext der drei oben skizzierten Diskurse eine kriminalgeschichtlich relevante und rezeptionsästhetisch begründete Lesart des Romans anbieten, in der nun also die wirkungsäs-

2

Denn obwohl Lionel Trilling in seiner viel zitierten Aussage »Lolita is not about sex« sicherlich zuzustimmen ist, stellt sich doch ernsthaft die Frage, ob der Roman deshalb als eine Erzählung »about love« gelten muss. (Siehe hierzu Lionel Trilling: »The Last Lover. Vladimir Nabokov’s Lolita«, in: Encounter 11,4 (1958), S. 9-19, hier: S. 15). Zur Darstellung von Lolita als Verführerin vgl. u.a. James L. O’Rourke: Sex, Lies, and Autobiography. The Ethics of Confession, Charlottesville 2006, S. 167ff. Ein guter Einblick in diesen z.T. verstörenden Diskurs findet sich u.a. in Susanne Rohr: Die Wahrheit der Täuschung. Wirklichkeitskonstitution im amerikanischen Roman 18891989, München 2004, S. 211ff.

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thetische Bedeutung der Geschworenenrolle und die Appellstruktur des Geständnisses neuerlich und als untrennbar voneinander reflektiert werden.

II. Wenn sich eine Studie dem schwierigen Thema einer künstlerisch dargestellten Straftat zuwendet, dann stellt sich natürlich die berühmte Frage, auf welcher Grundlage zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterschieden werden muss. In ihrem bereits erwähnten Aufsatz mit dem sinnbildlichen Titel »Jenseits von Schwarz und Weiß« widmet sich die Kunsthistorikerin Charlotte Klonk einem interessanten zeitgenössischen Kunstphänomen: Im Herbst 2013 eröffnete im New Yorker Metropolitan Museum of Art eine Ausstellung mit Arbeiten des 2001 verstorbenen Malers Balthus. Zu sehen waren einige der Gemälde, die seine minderjährige Muse Thérèse in teilweise aufreizenden, wenn nicht sogar grenzpornografischen Posen zeigen. Zur selben Zeit wurden in der New Yorker Gagosian Gallery späte Vorarbeiten Balthus’ gezeigt. Diese Studien wurden vom Künstler nicht, wie üblich, gezeichnet. Vielmehr hatte Balthus in einer bestimmten Schaffensphase als Vorlage für seine Gemälde Polaroidfotos von seinen jungen Mädchenmodellen angefertigt. So präsentierten sich dem Betrachter Aufnahmen, die von vielen Kritikern moralisch verurteilt und kurzerhand zum kinderpornografischen Material stilisiert wurden. Nun widmet sich Klonk in ihrem Aufsatz – auch mit Bezug auf die vom erwähnten Bundestagsabgeordneten abgegebene Erklärung, er wäre geleitet gewesen von seinem kunsthistorischen und ästhetischen Interesse – der simplen wie inspirierenden Frage: Worin liegt der Unterschied zwischen dem vermeintlich pornografischen und in diesem Sinne amoralischen und kriminellen Fotobild und dem in Ölfarben gemalten und als Meisterwerk der Kunst geachteten Gemälde? Worauf gründet der Unterschied in den zu fällenden Urteilen, wenn doch beide Repräsentationsmedien, Foto und Gemälde, dasselbe Motiv eines in unangemessenen Posen sich räkelnden und daher womöglich sexuelle Phantasien anregenden Mädchens zeigen? Warum und wie muss hier also zwischen den bildlichen Verfahrensweisen und ihren kulturellen und ästhetischen Bedeutungen unterschieden werden? Auch die Antwort, die Klonk im Verlauf ihres Essays erarbeitet, regt zum Nachdenken an. So schreibt sie: »Die Frage nach der Differenz von Kunst und Bild lässt sich nicht prinzipiell und kategorial klären, schon gar nicht aufgrund unterschiedlicher ästhetischer Erfahrungsweisen. Entscheidend ist das Wo, Wann und Wie ihrer

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Wahrnehmung.«3 Es geht also um den Rezeptionsrahmen und unsere raumzeitliche und diskursive Einbettung im Prozess unseres Erfahrens. Es geht um die Bedingungen unseres Erfahrens und die Einstellung, mit der wir der sich uns präsentierenden Welt begegnen. Nun muss aber mit Bezug auf Produktionsbedingung, Darstellung und Wirkung zwischen Foto und literarischem Text genauso unterschieden werden wie zwischen dem kleinen Skandal in der Gagosian Gallery und dem lauten Aufschrei nach Lolitas Veröffentlichung. So richtete sich doch Letzterer nicht an die dokumentierte Wirklichkeit kinderpornografischen Bildmaterials und somit an eine wenn auch triebgesteuerte, so doch vorsätzliche Verletzung der kindlichen Würde, sondern er betraf die alle sexualmoralischen Konventionen der bürgerlichen Zensur sprengenden und für unangemessen befundenen Vorstellungsbilder, die Nabokovs Roman befeuerte. Nabokov, so lässt sich die hier vollzogene Unterscheidung auch ausdrücken, mochte zwar ein heikles, bis abgründiges Thema verhandelt haben, er musste sich dafür aber nicht an ein unschuldiges Vorbild wenden und mehr oder weniger gewaltsam in dessen schutzlose Lebenswelt eingreifen. Als Leser haben wir (möglicherweise im Unterschied zum Betrachter von Balthus’ fotografischen Vorentwürfen) die Freiheit, aus der literarischen Fiktion die von ihr selbst fingierten und in die Welt geworfenen ethischmoralischen Schatten zu ergründen, ohne aufgrund jedweder Vorverurteilungen vom Kunstwerk und unserer Freiheit absehen zu müssen.

III. Nabokovs Roman, so viel ist bekannt, wendet sich vornehmlich an die Form eines schriftlich verfassten Geständnisses, dem ein fiktives (pseudo-) wissenschaftliches Vorwort voran- und (seit 1956) ein vom Autor selbst verfasstes Nachwort hintangestellt sind. Dabei erzählt der Roman die (Lebens-) Geschichte des gebildeten Europäers Humbert Humbert, der als junger Mann seine Leidenschaft für Mädchen im Alter von neun bis vierzehn Jahren, den so-

3

Charlotte Klonk: »Jenseits von Schwarz und Weiß: Rezeptionsästhetische Überlegungen zur Unterscheidung von Bild und Kunst / Beyond Black and White: Receptionaesthetic Reflections on the Distinction between Image and Art«, in: Texte zur Kunst 24 (2014), S. 141-155, hier: S. 153.

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genannten ›Nymphchen‹, entdeckt.4 Dieser Humbert Humbert verliebt sich, mittlerweile in den USA lebend, in seine Stieftochter Dolores oder, wie er sie nennt, Lolita. Nach dem plötzlichen Unfalltod der Mutter zieht er, von der Panik getrieben, Lolita zu verlieren, mit ihr durch das Land. Er wird dann aber doch von ihr verlassen und tötet in der Folge (möglicherweise) seinen Nebenbuhler, um dann wegen eines unbedeutenden Verkehrsdelikts verhaftet zu werden. Der Verwalter des Geständnisses – das aufgrund des plötzlichen Todes des Geständigen nur noch als Dokument, nicht aber mehr als Beweisstück in einem Prozess herangezogen werden kann –, ist der Wissenschaftler John Ray, Jr., Ph.D., der im einleitenden Vorwort auf einen für das anbrechende Lektüreerlebnis bemerkenswerten Umstand hinweist: So macht er deutlich, dass im Falle des LolitaManuskripts nicht zwischen der Integrität des Kunstwerks und der amoralischen Bekenntnisschrift unterschieden werden kann und soll.5 Um diesen Punkt zu verdeutlichen, bezieht sich John Ray, Jr. in einer kurzen Passage, die sich zwischen der Nennung der beiden Lolita betreffenden Textsorten »novel« und »case history« entspinnt, auf die Erzählerfigur Humbert Humbert. Er beteuert dem Leser: »No doubt, he [Humbert Humbert, D.B.] is horrible, he is abject, he is a shining example of moral leprosy [...] Many of his casual opinions on the people and scenery of this country are ludicrous. A desperate honesty that throbs through his confession does not absolve him from sins of diabolical cunning. He is abnormal. He is not a gentleman.« Dann aber muss Ray, Jr. zugeben: »But how magically his singing violin can conjure up a tendresse, a compassion for Lolita that makes us entranced with the book while abhorring its author!«6 Es wäre verknappt, würde man meinen, Letzteres entkräfte die Schwere der vorher genannten Verurteilungen. Auch muss hier meines Erachtens differenziert werden zwischen dem Schwelgen in der Lektüre (dem erwähnten entrancement) und der (Un-)Möglichkeit einer wahrhaftigen und moralisch unbedenklichen Liebesgeschichte. In dieser vom Verfasser vorgenommenen Gegenüberstellung der innertextlichen Antagonismen – vom Autor und der ästhetischen Ausnahmeerscheinung seines Werkes, vom Geständnisbericht und dem Roman – zeigt sich, so meine ich, dass die verschiedenen und in ihrem Grund wesentlich verschiedenen Funktionen des Textes keinesfalls radikal voneinander getrennt werden kön-

4

Humbert Humbert schreibt: »I would have the reader see ›nine‹ and ›fourteen‹ as the boundaries – the mirrory beaches and rosy rocks – of an enchanted island haunted by those nymphets of mine« (V. Nabokov: Lolita, S. 16).

5

Vgl. hierzu auch James L. McDonald: »John Ray, Jr., Critic and Artist. The Foreword

6

V. Nabokov: Lolita, S. 5.

to Lolita«, in: Studies in the Novel 5,3 (1973), S. 352-357, hier: S. 353.

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nen, sondern dass sie in einem komplexen und mithin verstörend anmutenden Ineinander begriffen werden müssen. Gleichzeitig bedeutet bereits das Vorwort selbst die Inszenierung einer unmissverständlichen Distanznahme – sowohl auf Seiten des Fiktionalen zum Faktualen, als auch auf Seiten des Lesers zur Erzählung (und dessen vermeintlichem Schöpfer). Im Sinne dieser dynamischen Dopplung fungiert das Vorwort noch vor Beginn der eigentlichen Erzählung als ein Lektürefilter, weil es den Leser, wie Humbert Humbert es auch tun wird, als einen Geschworenen anspricht, dem es obliegt, ein moralisch und juristisch abgesichertes Urteil zu fällen, um gleichzeitig als Leser einer Romanerzählung die Urteilskraft auf das ästhetische Wirkungspotential des Textes zu lenken. Und auf dieses Potential, so erfahren wir nach Humbert Humberts Bericht, zielt der sich selbst inszenierende und insofern fiktionalisierende Autor Nabokov im bereits erwähnten Nachwort ebenso ab. Dort schreibt er: »For me a work of fiction exists only insofar as it affords me what I shall bluntly call aesthetic bliss, that is a sense of being somehow, somewhere, connected with other states of being where art (curiosity, tenderness, kindness, ecstasy) is the norm.«7 Nabokov formuliert hier einen wirkungsästhetischen Anspruch, der im Nachhinein nicht nur in der poetischen Struktur des Romans erkennbar ist, sondern, darüberhinaus, als poetologisches und wahrnehmungsphilosophisches Programm instrumentalisiert wird. Dieser Anspruch ist das Darüberhinaus, denn es geht immer schon irgendwo und irgendwie darum, verbunden zu sein mit Zuständen, in denen Kunst die Norm ist. Und diese Verbindung, so will es die zirkelhafte und ständig in neue Bereiche vordringende Bewegung unserer Erfahrung, stellt sich her in der Erfahrung selbst – im ins Offene gerichteten Versprechen des ästhetischen Glücks. In Lolita überträgt sich dieser Erfahrungsprozess nun in den Modus des Erzählens selbst, so dass der Geständnistext die Möglichkeiten der kriminalistisch relevanten Bekenntnis zu Tat und Motivation von Beginn an in die Wirkungsweisen eines autonomen und grundsätzlich zweckfreien Romanwerks einbindet und unauflöslich mit ihm vereint. Hierin mag dann auch gerade die poetologische Sprengkraft dieses Romans liegen, denn geht Nabokov nicht grundsätzlich davon aus, dass das Geständnis (und somit natürlich auch das in diesem Gestandene) dergestalt an die ästhetische Erfahrung gebunden ist, dass es ohne diese Erfahrung bedeutungslos bliebe?

7

Ebd., S. 315.

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IV. Das Geständnis als solches ist einer der großen Wissensproduzenten in den Bereichen des Kriminalistischen und Juristischen und wird als ein solcher eingesetzt, um die raumzeitliche Kluft zwischen der eigentlichen Tat und ihrer Aufklärung zu schließen. Das Geständnis ist das vom Täter in Szene gesetzte Bekenntnis zu seiner Tat, in dem er sich zur Hauptfigur seiner eigenen und eigens erzählten Geschichte macht. Und es ist niemand anderem möglich, ein Geständnis zu formulieren als dem Geständigen selbst. Das Geständnis kennt insofern nur den Ich-Erzähler und es dient aufgrund seiner oftmals strafmindernden Funktion dem Täter als Mittel zur Läuterung, Erklärung und Rechtfertigung und den Strafverfolgern als direktester Weg zur Festsetzung des Täters. Jenseits des juristischen Diskurses hat bekanntermaßen auch die Literatur von Rousseau über Goethe bis hin zu Max Frisch und dem hier diskutierten Nabokov immer wieder autobiografische und fiktionale Bekenntnisschriften hervorgebracht. In diesem Produktionszusammenhang wurde das Geständnis nicht nur seinem streng juristisch-kriminalistischen Rahmen enthoben und in den Bereich der Erzählkunst überführt, sondern es wurde nachgerade gezeigt, dass jedwedes Geständnis in sich ein vorrangig erzählkünstlerischer Akt ist, der auf die bisweilen unmögliche Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen aufmerksam macht und der ob seiner Textlichkeit nur den Rezeptionsmodus der Lektüre, also den Akt des Lesens, kennt. Und dies hat natürlich, darauf will der eben gesetzte Einschub hinaus, noch näher zu klärende wirkungsästhetische Konsequenzen. Doch während nun zunächst Dichter wie Rousseau und Goethe das Selbstbekenntnis zur Überhöhung der eigenen biografischen Bedeutsamkeit nutzten, überführten Schriftsteller wie Frisch und Nabokov die Bekenntnisschrift in die Form des Romans und damit in den deutungsoffenen Horizont (postmoderner) Textspiele, in denen immer wieder deutlich gemacht wird, dass Wahrheiten nicht verbürgt, sondern konzentrisch aufgeworfen, revidiert und wieder neu formuliert werden.8

8

Die Frage, welche Wahrheiten das (die Sexualität betreffende) Geständnis produzieren oder eben nicht produzieren kann, spielt im Übrigen auch in Foucaults Geschichte der Sexualität eine wesentliche Rolle. Hier wendet sich der Autor dezidiert gegen eine quasi-Freudianische Annahme diskursiver Repression und ein Verständnis des Geständnisses als Träger einer ihm inhärenten Wahrheit, die vom Gesprächspartner entborgen wird. Vielmehr akzentuiert er die machtproduzierende Wirkung des Diskurses als Erzeuger von diesen Diskurs stabilisierenden Wahrheiten. Foucault geht es darum, die sog. »Repressionshypothese« zu widerlegen und zu zeigen, dass »die Ausweitung

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So soll uns die Form des Geständnisses hier nicht nur »nicht stören«, wie Ulla Haselstein bemerkt.9 Vielmehr soll sie uns bedeuten, welches Wirkungspotential in ihr steckt. Zeigt sich doch im Falle von Lolita auf erzählpraktischer Ebene, dass es gerade dem Geständnis möglich ist, den Leser zu einer doppelten Rollenübernahme zu drängen. Das heißt, dass er als der eigentliche Leser des Romans innerhalb seiner Lektüre die Rolle eines das Manuskript lesenden Geschworenen übernimmt. Er wird also vom Erzähler (und in Lolita heißt das: auch von der Textstruktur) in die Lage versetzt, von sich absehen zu müssen, um wiederum und davon ausgehend über sich hinaus weisen zu können. Es ist erneut Haselstein, die schreibt, dass »jede Lesart des Romans [...] in die Irre geht, wenn sie sich auf den Text einläßt.«10 Die Autorin weist hier auf ein lektüreimmanentes Dilemma hin, das darin besteht, dass der Leser aufgrund des heiklen Themas auf der einen Seite seine Distanz zum Erzählten verliert, er aber in der Rolle des Geschworenen diese Distanz wieder herstellt, um dann wiederum »jene Textstrategien zu übersehen, die eine Metaebene des Romans konstituieren.«11 Diesbezüglich stellt sich mir allerdings die Frage, ob das permanente Hin-und-Her aus Distanzgewinn und Distanzverlust tatsächlich zu einem Übersehen führt, oder ob sich dieses Hin-und-Her nicht vielmehr in einem Modus der Gleichzeitigkeit vollzieht, der seinerseits eine Weise des Einlassens in den Text bedeutet, die eben nicht »in die Irre geht«, sondern immer wieder öffnend in den Möglichkeitsraum der Lektüre weist. Dass der Leser eines fiktionalen Textes immer schon die Rolle eines über sich hinausweisenden Schauspielers übernimmt, wird dann besonders deutlich, wenn wir uns, Wolfgang Iser folgend, den Rezeptionsakt grundsätzlich als einen performativen Akt denken. Dann nämlich gilt: »[T]he required activity of the recipient resembles that of an actor, who in order to perform his role must use his thoughts, his feelings, and even his body as an analogue for representing something he is not.«12 Als Rezipienten sind wir in diesem Moment »both ourselves

des Geständnisses« nicht aufzuhalten sei. (Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main 1983, S. 29f.). Vgl. hierzu auch Anm. 22 in diesem Aufsatz. 9

Ulla Haselstein: »A Cryptogrammic Paper-Chase. Auf Schnitzeljagd in Vladimir Nabokovs Roman Lolita«, in: Fragmente 7/8 (1983), S. 188-195, hier: S. 194.

10 Ebd., S. 188. 11 Ebd. 12 Wolfgang Iser: »Representation. A Performative Act«, in: ders., Prospecting. From Reader Response to Literary Anthropology, Baltimore 1989, S. 236-248, hier: S. 244.

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and someone else.«13 Wenn wir also in unserem Alltag in gewisser Weise festgelegt sind auf die jeweilige Rolle, die wir in dieser oder jener Situation zu erfüllen haben, dann erlaubt uns die Leseerfahrung jene alltäglichen Rollenfestschreibungen (zumindest teilweise) abzulegen, um uns einzulassen auf das Rollenangebot und die Lebenswelt, die uns vom Text angeboten werden. Dabei ist das Sowohl-als-auch der ästhetischen Erfahrung des Textes aber nicht gleichzusetzen mit einem naiven Identifikationsakt. Die partielle Aufgabe und Annahme bestimmter Rollen gründet nämlich nicht allein in der Einfühlung in bestimmte, uns aus den unterschiedlichsten Gründen ›nahen‹ Figuren, sondern in der Aktualisierung aller im Text bereitgestellten Dimensionen. Nun kommt es aber, und darauf zielte dieser Exkurs ab, äußerst selten vor, dass dem Leser vom Erzähler eine bestimmte, intradiegetische Rolle zugewiesen wird.

V. »Ladies and gentleman of the jury«, schreibt Humbert Humbert, »Look at this tangle of thorns.«14 Diesem Satz mag die Forschung zwar bisher wenig Beachtung geschenkt haben, doch halte ich ihn für eine der zentralen Aussagen des Romans. Schauen Sie sich dieses Dornengewirr an! Dieses Gewirr ist das Protokoll seines Lebens, die Erzählung seiner Obsession, die Geschichte seiner sexuellen Perversion und des Verlusts seines begehrten Lustobjekts. Um diesen Satz entspinnt sich ein Erzähltext, der sich nicht entweder an einen (moralisch und juristisch urteilenden) Geschworenen oder an den Leser eines künstlerischliterarischen Textes wendet. Der Blick in das Dornengewirr bedeutet nicht nur den Blick auf das in der Erzählung Folgende, sondern das prekäre Erlebnis, als das sich der Akt des Lesens immer wieder neu und dynamisch zu erkennen gibt. Im Look! ist die Appellstruktur des Textes gesetzt, und so zeigt sich dieser Imperativ im Verlauf des Romans als ein immer schon ausgewiesener, aber gleichermaßen undurchsichtiger Blick in die Korridore der eigenen Lektüreerfahrung. Das Dornengewirr zeigt sich als Sinnbild für die in Lolita unmöglich gewordene Differenzierung, also als das Ineinanderfallen, von Text und Erzählung, von Lektüre und Verstehen, von Kunst und Verbrechen. Und überall dort, wo der Blick in die Leerstellen der netzartigen Verästelung, in die Zwischenräume des Gewirrs fällt, tun sich Abgründe auf, in denen der Leser auf die Haltlosigkeit seiner eigenen in eine vage Offenheit sich entgrenzenden Erfahrung trifft – er ist

13 Ebd. 14 V. Nabokov: Lolita, S. 9.

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dazwischen. Und spürbar ortlos ist dieses Dazwischen, das der Text ihm bietet, was bedeutet, dass es, wie Karlheinz Stierle so passend formuliert, »aus seiner symbolischen Ortlosigkeit allererst in eine Situation des symbolischen Handelns zurückgestellt werden [muss].«15 Ohne eigene Grenzen, sondern umschlossen von einem ihm nicht zugehörigen Außen ist dieses Dazwischen jener Raum, in dem das Erfahren haltlos waltet. Dementsprechend ist der hier beschriebene Zwischenraum das Erscheinen eines in sich ortlosen Ortes. Der Appell des Erzählers, man müsse auf (und insofern in) dieses Gewirr schauen, wird also zum Gestaltungsangebot für eben jenen Relationsraum, in dem das Imaginäre des Lesers Gestalt gewinnt. Die Inszenierung des Dazwischen bedeutet dabei das Selbst-Wiederfinden von Nabokovs Poetologie in der Matrix ästhetischer Reflexion. Das Dornengewirr bezieht sich dann auch nicht allein auf die Komplexität der Erzählung und die moralischen Irrungen der Erzählerfigur, sondern es wird außerdem zum quasi-organischen Statthalter dessen, was die Faszination der Lektüre im Allgemeinen und der Kriminalliteraturlektüre im Besonderen ausmacht, nämlich des Blicks in den aufscheinendzurückblickenden Abgrund. Der Blick in die Dornen offenbart kurzum einen Riss und weist dabei aber nicht in die Tiefen einer unveränderlichen Vergangenheit, sondern in eine vom Geständnis ausgehende Offenheit, in der das Gewirr des Vergangenen als reine Möglichkeit erscheint. In seiner Studie Das Fiktive und das Imaginäre macht sich Wolfgang Iser Heideggers Begriffe des Risses und der Gegenwendigkeit zu Nutze, um zu zeigen, wie der fiktionale Text den ihm inhärenten Riss »zum Zeichen dessen [macht], was seiner Natur nach unversöhnlich ist: das Seiende und das NichtSeiende.«16 Der Riss ist also die dem Text eigene Öffnung, um das, was uns zur Erfahrung bereitstehen soll, freizulegen und in eine wirklichkeitskonstituierende Spannung zu versetzen. Das heißt, der Riss bedeutet gerade nicht das Ende einer vermeintlich produktiv wirkenden Spannung, sondern er erscheint als das Schaffende selbst. Weil der Riss nun aber entgegen seiner Natur nicht die Auflösung einer Spannung meint, sondern deren In-Szene-Setzen, erkennt Heidegger in seinem Essay »Der Ursprung des Kunstwerkes« einen sich im Riss vollziehenden Streit. Allein, »[d]er Streit ist kein Riß als das Aufreißen einer bloßen Kluft,

15 Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997, S. 197. 16 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/Main 1993, S. 498.

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sondern der Streit ist die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden.«17 Und dieses Sichzugehören, so folgert nun Iser mit Bezug auf den literarischen Text, »gelingt durch ein vom Fiktiven zur Gegenwendigkeit gebrachtes Imaginäres, das sich immer anders zu realisieren vermag. Inszenierung wäre dann die transzendentale Bedingung dafür, einer Sache ansichtig zu werden, die ihrer Natur nach gegenstandsunfähig ist, und sie wäre zugleich auch ein Ersatz dafür, etwas zu erfahren, wovon es kein Wissen gibt.« So entstehe ein Hin-und-Her »zwischen dem, was in den Text eingegangen ist, und der Referenzialität, aus der es herausgebrochen wurde.«18 Der Blick ins Gewirr produziert meines Erachtens ein ihm eigenes Wissen darüber, dass der Grund dieses Gewirrs die Erkenntnis ist, dass es im ausgestellten Blicken (diesem Look!) kein Außerhalb des ästhetischen Erfahrens gibt. Auf den Kriminalroman übertragen mag dies bedeuten, dass jedwede erzählerische und performative Rekonstruktion der Tat und die Deutung der Motivation gebunden sind an die Öffnung eines hermeneutischen Zwischenraums, der wiederum nur darüber als (Deutungs-)Offenes erscheint, weil er das Erscheinen einer ästhetischen Raumproduktion ist. Der Riss ist dann also das Ergebnis einer im Text liegenden (und wesentlich ästhetischen) Spannung, in der das Gesetzte und das Mögliche aufeinandertreffen und sich aktiv zueinander verhalten; in der das Fiktive und das Imaginäre gegenwendig zueinander stehen. Weil nun aber oben festgestellt wurde, dass Lolita insbesondere davon gekennzeichnet ist, dass Text und Erzählung untrennbar ineinander verschränkt sind, zeigt sich der Riss auch auf narrativer Ebene als Schlüsselelement. So stellt Susanne Rohr in überzeugender Weise fest, dass Humbert Humberts Erzählung davon motiviert ist, dass seine Biografie von einem nicht mehr zu schließenden, aber dadurch ungemein potenten Riss gekennzeichnet ist. Dieser tut sich, so Rohr, just in dem Moment auf, in dem Humbert Humbert seine Leidenschaft für die ›Nymphchen‹ entdeckt und sich erstmals dem schöpferischen Akt einer auf seiner Begierde basierten Objektivierung junger Mädchen hingibt. Dieser Riss »fungiert als wesentliches strukturelles Element des Textes, als fundamentale Unbestimmtheitszone der narrativen Struktur.«19 Humbert Humberts kriminelles und in besonderem Maße unmoralisches Verhalten entspringt demnach einem

17 Martin Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders., Holzwege. Frankfurt/Main 2003, S 1-74, hier: S. 51. 18 W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 406. 19 S. Rohr: Die Wahrheit der Täuschung, S. 200.

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sich plötzlich auftuenden Dazwischen, das im Kontext des Erzählens selbst »einen düsteren, diffusen Ort, eigentlich einen Abgrund [öffnet].«20 Dass dieser Riss seinerseits in einem gegenwendigen Verhältnis zum strukturellen Riss des künstlerischen Textes steht, hat nun wiederum vornehmlich mit der strukturellen Deutungsoffenheit des Textes zu tun. So schreibt Heinz Ickstadt, Nabokov benutze das Geständnis zwar als Dokument, »allerdings nicht um die Wahrheit des Erzählten zu garantieren, sondern um den Status der erzählten Welt zu unterlaufen. Das als wirklich Erfahrene gibt sich immer wieder als das mögliche Erfundene (oder Gelesene) zu erkennen, bis am Ende Wirklichkeit offen umschlägt in Text [...].«21Von diesem Spiel völlig verunsichert muss sich der Leser nun also nicht so sehr zum Erzählten, sondern sich auf besonders performative Weise von Beginn an auch und gerade zu sich selbst verhalten. Immer deutlicher wird ihm, dass das Geständnis nicht das Ende der Repression ist, das in eine Freudsche Wahrheitsenthüllung führt, sondern dass sich der Text unter dem Vorurteil hermeneutischer Wissensproduktion zu immer neu und revidiert erscheinenden Horizonten verhält. Nicht zuletzt der parodistische Auftritt John Ray, Jr.s und Nabokovs im Nachwort verfasste Abrechnung mit ihm fördern diese Erkenntnis zu Tage.22

20 Ebd. 21 Heinz Ickstadt: Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert. Transformation des Mimetischen, Darmstadt 1998, S. 131. 22 Und so spricht dann auch Nabokov, das sei kurz erwähnt, mit Bezug auf die zum Scheitern verurteilte Interpretation von Symbolen und Allegorien – im Übrigen eine Praxis, mit der wohl gerade auch Leser von Kriminalromanen vertraut sein dürften – von seiner alten Fehde mit einem »Freudian voodooism« (V. Nabokov: Lolita, S. 314). Auch in Forschung und Kritik wurde Nabokovs Ablehnung von Freuds psychoanalytischer Theorie immer wieder besprochen, nicht selten aber mit dem Tenor, dass Nabokovs Antipathie eigentlich eher als Hassliebe zu beschreiben ist. So schreibt beispielsweise Michael Wood, es wäre doch deutlich »that Nabokov’s making Humbert a sort of Freudian malgré lui deepens the apparently silly contest. Nabokov, let’s say, would be the skeptic Humbert can’t manage to be; a skeptic who knows there is something to be disbelieved: a false or ludicrous view of serious things. Freud is more of a rival than he looks and needs to be caricatured as the fool who rushes in where Nabokov plans delicately to tread. The ground is not empty, but sacred; that is why the angels and the slightly less fearful novelist are going softly« (Michael Wood: »Lolita Revisited«, in: New England Review 17,3 (1995), S. 15-43, hier: S. 28). Und Richard Rorty bemerkt zu dieser ›Rivalität‹: »Freud was the one person Nabokov resented in the same obsessive and intense way that Heidegger resented Nietzsche. In

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VI. Mit dem Riss als ästhetischem Strukturelement korrespondiert also auf fast schon untrennbare Weise der Riss als Modus narrativer Motivation. Als Letzterer gewährt er dem Leser nun Einblicke in sein Wesen, in dem das ästhetische Spiel zur Matrix für die abgründigen Eskapaden der eigentlichen Missbrauchserzählung wird. In diesem Zusammenhang offenbart sich also der Riss als jener Zwischenraum, in dem sich das ästhetische Potential der künstlerisch anmutenden Objektkonstitution aus der den Roman treibendenden Kraft der Grausamkeit schält. Richard Rorty bringt dies auf bemerkenswerte Weise auf den Punkt, wenn er schreibt: »Nabokov wrote about cruelty from the inside, helping us see the way in which the private pursuit of aesthetic bliss produces cruelty. [...] He helps us get inside cruelty, and thereby helps articulate the dimly felt connection between art and torture.«23 Der Akt des Lesens, so möchte ich Rorty hier verstehen, geht uns an, weil er aus seinem tiefsten Abgrund gegenwendig ins Licht gekehrt wird. Er erschüttert uns, weil er sich in seinem Innern zur Kumpanei mit der Grausamkeit bekennt. Daher kann dann auch Michael Wood die These formulieren: »Humbert’s theory of his art merges with his theory of his perversion, and asks for the same sort of reading.«24 Diese These belegt Humbert Humbert bereits im ersten Drittel seines Geständnisses: »The passion I had developed for that nymphet [Lolita, D.B.] – for the first nymphet in my life that could be reached at last by my awkward, aching, timid claws – would have certainly landed me again in a sanatorium, had not the devil realized that I was to be granted some relief if he wanted to have me as a plaything for some time longer.«25 Die von Wood diagnostizierte Verschmelzung von Kunst und Perversion ist also Humbert Humberts fast schon faustisch zu nennender Pakt mit dem Teufel. Dass er nun »endlich« erfolgreich seine

both cases, it was resentment of the precursor who may already have written all one’s best lines« (Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge und New York 1989, S. 154). Vgl. hierzu auch J. L. O’Rourke: Sex, Lies, and Autobiography, S. 168f. 23 R. Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, S. 146. Vgl. hierzu auch Susanne Rohr: »Patterns in a World of Passion. Epistemological Structures of Object Formation in Vladimir Nabokov’s Lolita«, in: Susanne Rohr, Peter Schneck und Sabine Sielke (Hg.), Making America. The Cultural Work of Literature, Heidelberg 2000, S. 33-51, hier: S. 43. 24 M. Wood: »Lolita Revisited«, S. 28. 25 V. Nabokov: Lolita, S. 56.

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Klauen nach dem Nymphchen ausstrecken kann, verdankt er einem gönnerhaften Zugeständnis aus der Unterwelt. Und es ist Humbert Humbert selbst, der in diesem Zusammenhang auf einen bedeutsamen Zwischenraum verweist: »In this space between the nymphet and other little girls, meaning is produced.«26 Das Dazwischen erscheint hier als semantische Leerstelle, in der das Nymphchen selbst, wie Philipp Schweighauser feststellt, bereits in eine todesähnliche Abwesenheit versetzt ist.27 Es wurde ausgelöscht von Humbert Humberts obsessiver und abgründiger Objektkonstitution. Das diabolische Spiel, das Humbert Humbert spielt, vollzieht sich also in gewisser Weise unmittelbar vor unseren Augen. In einer sich dezidiert an die Vorstellung weiblicher Leserschaft richtenden Ansprache schreibt er: »Gentlewomen of the jury! Bear with me!«28 Haben Sie Nachsicht, haben Sie Geduld! Humbert Humbert verlangt hier im Moment der Schilderung des ersten mit Lolita vorgenommenen Geschlechtsverkehrs, also der ersten Vergewaltigung, das maximal Strapaziöse: Er bittet die angesprochene Leserin, dass sie aushält. Dieses Aushalten ist natürlich ein innerhalb der Erzählung brillanter Schachzug und ein für die Leseerfahrung bemerkenswerter Modus. Denn so bedeuten das gleichzeitige Ausstellen des Lesers durch die Ansprache und der Appell, geduldig zu sein, zwar einen verstörenden Moment der Isolation, aber gleichzeitig offenbart sich auf wirkungsästhetischer Ebene eine paradox anmutende ›beklemmende Freisetzung‹. Diese entlastet aber weniger, als dass sie einen in die Position versetzt, Humbert Humberts Darstellung seines auf ewig gespeicherten mentalen Blicks auf das Mädchen in Unterhose als eine verzerrte Spiegelung des eigenen Erfahrens zu erleben. Er schreibt: »This, then, was the hermetic vision of her which I had locked in«,29 und trotz allen Unbehagens – hier kommen wir zurück zu den Möglichkeiten des Wo, Wie und Wann unserer Wahrnehmung – schlägt die Hermetik seines Blickes beim Leser um in den deutungsoffenen Horizont seines hermeneutischen Trachtens.

26 Ebd., S. 24. 27 Philipp Schweighauser: »Discursive Killings. Intertextuality, Aestheticization, and Death in Nabokov’s Lolita«, in: Amerikastudien / American Studies 44,2 (1999), S. 255-267, hier: S. 256f. Zum Topos der Absenz vgl. auch David Packman: Vladimir Nabokov. The Structure of Literary Desire, Columbia und London 1982, S. 48ff. 28 V. Nabokov: Lolita, S. 123. 29 Ebd.

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VII. Wenn wir hier abschließend zum Beginn dieses Aufsatzes zurückkommen wollen, war es wohl gerade die beklemmende Hermetik und die damit einhergehende Heraufbeschwörung eines fleischlichen Realismus in den Balthusschen Polaroids, die das Unbehagen der Betrachter evozierte. Der Unterschied zwischen dem daraus resultierenden Ölgemälde und einem künstlerisch derart anspruchsvollen Roman wie Lolita besteht nun darin, dass Letzterer seine Kraft aus dem imaginär Abstrahierenden zieht. Dann nämlich wird das hermetisch Beengende derart durchdrungen, dass es seinerseits ins in sich Offene zu weisen vermag. Und demzufolge findet das Hermetische seinen spiegelnden Counterpart in jenem Deutungshorizont, den es als sein Außen (jenseits der Kunst) niemals würde erkennen können. Selbstbeschränkung führt dadurch konsequent in die Selbstermächtigung – die Rolle des Geschworenen in das freie Spiel des semantischen Urteils. Wahrheit muss dann auch nicht garantiert werden, weil der Text ohnehin, wie Renate Hof bemerkt, »von dem Leser eine Haltung des willing suspension of disbelief erfordert.«30 Die oben erwähnte Isolation bedeutet also eine momentane Loslösung von der Umwelt, was in bemerkenswerte Weise zur Annahme der ästhetischen Lebenswelt führt. Wenn wir dies auf die Problematik des Kindesmissbrauchs zurückführen wollen, dann zeigt sich in der Isolation des Lesers, dass der Roman, wie Suanne Rohr feststellt, in der Tat »viel zu subtil [ist], um nur ein schlichtes, explizites Statement gegen Kindesmißbrauch abzusondern – er ist vielmehr auf vielschichtige Weise ein solches Statement.«31 Die Konfrontation mit dem eigenen Unglauben und der immer wieder performierte Blick in das Dornengewirr bedeuten die ästhetische und narrative Vergegenständlichung des in sich Undenkbaren. Sie produzieren einen imaginären Überschuss, der auch den Missbrauch in den bedeutungsträchtigen Bereich des Gegenstandslosen überstellt und darin überführt. Das Wissen Lolitas gründet im (mitunter kriminalistischen, aber wesentlich ethischen) Aufdecken einer Abgründigkeit, die sich im Riss des Kunstvollen zu formieren weiß, um sich in der Performanz des Leseakts deutungsoffen ins Erscheinen zu setzen. Die Inszenierung und Festlegung des Lesers als Geschworenem ist demnach nicht nur ein äußerst gerissener, wirkungsästhetisch bedeutsamer und grundsätzlich manipulativer Akt des Erzählers und Textes, sondern die Öffnung eines Möglichkeitsraums, der nicht gegeben ist, son-

30 Renate Hof: Das Spiel des »unreliable narrator«. Aspekte unglaubwürdigen Erzählens im Werk von Vladimir Nabokov, München 1984, S. 147. 31 S. Rohr: Die Wahrheit der Täuschung, S. 209.

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dern sich je eigens in der bedrohlichen Enge eines eingeschränkten Handlungsspielraums produziert. Hier werden wir eingeladen, Lolita immer neuen Lektüren zu unterziehen.

L ITERATUR Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/Main 1983. Haselstein, Ulla: »A Cryptogrammic Paper-Chase. Auf Schnitzeljagd in Vladimir Nabokovs Roman Lolita«, in: Fragmente 7/8 (1983), S. 188-195. Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders.: Holzwege. Frankfurt/Main 2003, S 1-74. Hof, Renate: Das Spiel des »unreliable narrator«. Aspekte unglaubwürdigen Erzählens im Werk von Vladimir Nabokov, München 1984. Ickstadt, Heinz: Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert. Transformation des Mimetischen, Darmstadt 1998. Iser, Wolfgang: »Representation. A Performative Act«, in: ders.: Prospecting. From Reader Response to Literary Anthropology, Baltimore 1989, S. 236248. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/Main 1993. Klonk, Charlotte: »Jenseits von Schwarz und Weiß: Rezeptionsästhetische Überlegungen zur Unterscheidung von Bild und Kunst / Beyond Black and White: Reception-aesthetic Reflections on the Distinction between Image and Art«, in: Texte zur Kunst 24 (2014), S. 141-155. McDonald, James L.: »John Ray, Jr., Critic and Artist. The Foreword to Lolita«, in: Studies in the Novel 5,3 (1973), S. 352-357. Nabokov, Vladimir: The Annotaded Lolita, hg. von Alfred Appel, Jr., New York 1991. Packman, David: Vladimir Nabokov. The Structure of Literary Desire, Columbia und London 1982. Rohr, Susanne: »Patterns in a World of Passion. Epistemological Structures of Object Formation in Vladimir Nabokov’s Lolita«, in: Susanne Rohr, Peter Schneck und Sabine Sielke (Hg.), Making America. The Cultural Work of Literature, Heidelberg 2000, S. 33-51. Rohr, Susanne: Die Wahrheit der Täuschung. Wirklichkeitskonstitution im amerikanischen Roman 1889-1989, München 2004.

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Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge und New York 1989. Schweighauser, Philipp: »Discursive Killings. Intertextuality, Aestheticization, and Death in Nabokov’s Lolita«, in: Amerikastudien / American Studies 44,2 (1999), S. 255-267. Stierle, Karlheinz: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997. Trilling, Lionel: »The Last Lover. Vladimir Nabokov’s Lolita«, in: Encounter 11,4 (1958), S. 9-19. Wood, Michael: »Lolita Revisited«, in: New England Review 17,3 (1995), S. 15-43.

Die Evidenz des Hörens Über Blinde in Carlo Lucarellis Almost Blue P ETER K UON (S ALZBURG )

»Brigadiere Carrone kniete in der Mitte des Zimmers, seine Lederhandschuhe klebten am Fußboden. Als er sich umblickte, musste er würgen, ein heiserer Laut, fast ein Rülpsen. Er wollte aufstehen, rutschte aber mit den Absätzen aus und fiel mit einem schmatzenden Geräusch erst auf den Hintern und dann auf die Seite. Er versuchte, sich mit der Hand aufzustützen, aber sein Arm glitt seitwärts weg und hinterließ einen hellen Streifen auf den roten Fliesen. Der Brigadiere schlug auf den Rücken, er schaffte es einfach nicht aufzustehen, ein Albtraum. Da kniff er die Augen zu, und während er auf dem Rücken lag, verzweifelt nach Luft schnappte und hilflos mit Armen und Beinen strampelte wie ein schwarzer Kakerlak, außer klebrigem Gepolter und dickflüssigen Spritzern aber nichts zu Wege brachte, riss er den Mund auf und begann zu schreien.«1

1

Carlo Lucarelli: Der grüne Leguan, aus d. Ital. von Peter Klöss, München 2001, S. 5. »In ginocchio sul pavimento, al centro della stanza, la pelle dei guanti incollata al pavimento appiccicoso, il brigadiere Carrone si guardò attorno e gli sfuggí un singhiozzo roco, quasi un rutto. Provò ad alzarsi, ma scivolò sui tacchi, cadendo indietro sul sedere e poi su un fianco con uno schiocco umido e vischioso. Cercò di appoggiare la mano ma il braccio gli scappò di lato, lasciando una strisciata piú chiara sulle mattonelle rosse. Finí con la schiena a terra, senza riuscire a sollevarsi, come in un incubo. / Allora serrò gli occhi e mentre annaspava impazzito, sbattendo gambe e braccia come uno scarafaggio nero rovesciato sul dorso, tra schizzi densi e tonfi appiccicosi, spalancò la bocca e cominciò a urlare.« (Carlo Lucarelli: Almost Blue, Torino 1997, S. 1) Das Original wird im Folgenden als AB mit Seitenangaben zitiert, die Übersetzung als GL mit Seitenangaben.

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Was Carabiniere Carrone sieht, bleibt in diesem – filmischen – Vorspann zu dem 1997 erschienenen Thriller Almost Blue des italienischen Autors Carlo Lucarelli ausgespart. Keine der – am Ende: vierzehn – schrecklich zugerichteten Leichen, deren Anblick selbst noch auf polizeilichen Fotos Entsetzen hervorruft, wird je beschrieben. Die Bilder entstehen im Kopf des Lesers.2 Die Ermittlungen, die das Mordopfer auslöst, kommen erst in Fahrt, als Hauptkommissar Vittorio Poletto von der AAGV in Rom, der Abteilung für die Aufklärung von Gewaltverbrechen, die Bologneser Polizei mit den Ergebnissen eines elektronischen Datenabgleichs im Zentralen Informationssystem des Erkennungsdienstes konfrontiert: Sie deuten auf einen Serienmörder hin. Poletto, der den Fall an sich ziehen will, um die Leistungsfähigkeit neuer statistischer Methoden nach dem Vorbild des FBI unter Beweis zu stellen, erreicht, dass die gerade 26 Jahre alte Inspektorin Grazia Negro aus seiner Abteilung mit den Ermittlungen beauftragt wird.3 Die Ermittlungen laufen zunächst nach dem klassischen Indizienparadigma, unter Mithilfe von Kommissar Zufall, ab.4 Die Vermieterin des Opfers gibt an, dass sie wenige Tage vor dem Mord einen Freund ihres Mieters auf eine Tasse Kaffee zu sich eingeladen habe. Als Grazia Negro eines der Glastiere, die der Verdächtige in die Hand genommen hat, zur Spurensicherung in ihrer Handtasche verschwinden lässt, stellt sie sich so ungeschickt an, dass sich der ganze Inhalt auf den Boden entleert und die Vermieterin auf einem der Fotos, die die Inspektorin mit sich führt, ihren Besucher erkennt: Maurizio Assirelli, ermordet im Dezember 1996. Die Auswertung des Fingerab-

2

Vgl. Stefanie Neu: Carlo Lucarelli. Farben des Kriminalromans: Giallo, Nero, Blue.

3

Die Figur des – letztlich erfolglosen – Vittorio Poletto, der die Bologneser Polizei

Frankfurt/Main 2005, S. 67. nach US-amerikanischem Vorbild zu professionalisieren sucht, weist Almost Blue als einen ironisch, ja parodistisch gebrochenen »(Serienmord-)Thriller amerikanischer Provenienz« aus (Marina Mariani: »Carlo Lucarelli: ›Almost Blue‹. Metamorphosen des Kriminalromans«, in: Hans Felten und David Nelting (Hg.), ...una veritade ascosa sotto

bella

menzogna....

Zur

italienischen

Erzählliteratur

der

Gegenwart,

Frankfurt/Main 2000, S. 159-173, hier: S. 169). 4

Abgesehen von Elena Past: Methods of Murder. Beccarian Introspection and Lombrosian Vivisection in Italian Crime Fiction, Toronto 2012, S. 238-268, haben die wenigen eingehenderen Untersuchungen des Romans ihr Augenmerk weniger auf seine epistemologische Anlage als vielmehr auf seine komplexe Intertextualität bzw. Intermedialität und seine verrätselnde Erzählstruktur gelegt, vgl. M. Mariani: »Metamorphosen des Kriminalromans«, S. 159-173, Elisabetta Bacchereti: Carlo Lucarelli, Firenze 2004, S. 136-151, sowie S. Neu: Farben des Kriminalromans, S. 53-114.

D IE E VIDENZ DES H ÖRENS

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drucks auf dem Glastier führt ebenfalls zu einem Toten: Alessio Crotti, verstorben am 30.12.1989. Nach weiteren Nachforschungen erläutert Grazia Negro ihrem Vorgesetzten ein rätselhaftes Schema der Morde: »›Wenn du die Zusammenhänge überprüfst, wirst Du etwas Eigenartiges feststellen. Der Homosexuelle stirbt, und sie finden ihn nackt in der Landschaft, aber bald darauf taucht er bei dem Fixer wieder auf, als dieser ermordet wird, und er hat einen Kopfhörer auf. Der Fixer erwacht wieder zum Leben, ebenfalls mit Kopfhörer, und ist in Castenaso, als dort das Pärchen massakriert wird, und in der Wohnung des Studenten, der heute gefunden wurde, hört Maurizio Assirelli über Kopfhörer Musik, obwohl er schon eine ganze Weile tot ist. [...] Und ich verwette meine nicht vorhandenen Eier, das Paolo Miserocchi, der seit einer Woche tot ist, in diesem Augenblick durch Bologna läuft, und zwar höchstwahrscheinlich ebenfalls mit so einem verdammten Kopfhörer.‹ [...] ›Willst du wissen, was ich davon halte, mein lieber Vittorio? Da ich nun mal nicht an Zombies, Vampire und Werwölfe glaube und da ein Toter wie Assirelli und die anderen tot ist, und zwar ein für alle Mal, muss es also eine rationale Erklärung für dieses ganze Durcheinander geben, und der Schlüssel zu dieser Erklärung muss bei Alessio Crotti liegen.‹« (GL, 69-70)5

Alessio Crotti wurde nach einem Brand in der Geschlossenen Abteilung der Psychiatrischen Klinik in Bologna, in die er drei Jahre zuvor, nach einem bestialischen Mord, eingeliefert worden war, für tot erklärt. Falls er aber den Brand selbst gelegt haben sollte, um seine alte Identität abzustreifen, hätte die Mordserie die gewünschte rationale Erklärung: Die Person mit Kopfhörer und Walkman, die bei fast jedem Mord gesehen wurde und dem jeweils letzten Opfer zum Verwechseln ähnlich sah, wäre dann Alessio Crotti. Dieser würde sich, wie ein

5

»›Se controlli le connessioni scoprirai una cosa strana. L’omosessuale muore e lo ritrovano nudo in campagna ma qualche tempo dopo è assieme al tossico quando questo viene ammazzato e porta un paio di cuffie in testa. Il tossico resuscita, pure lui con le cuffie e compare a Castenaso quando massacrano la coppia e Maurizio Assirelli, già morto da un pezzo, è ad ascoltare musica in cuffia a casa dello studente che hanno trovato oggi. [...] E mi gioco le palle che non ho che in questo momento c’è in giro per Bologna Paolo Miserocchi, morto da una settimana e magari pure lui con queste cazzo di cuffie in testa.‹ / [...] / ›Sai cosa ti dico, Vittorio caro? Che dal momento che a zombie, vampiri e lupi mannari io non ci credo e che quando uno è morto come Assirelli e gli altri è morto e basta, allora ci deve essere una spiegazione razionale a tutto questo casino e deve azzeccarsi con questo Alessio Crotti.‹« (AB, 69-70)

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Leguan, so der deutsche Titel, von Zeit zu Zeit häuten und nähme nach jedem Mord das Aussehen seines Opfers an. Die Morelli-Methode,6 die Ende des 19. Jahrhunderts in der Kunstgeschichte entwickelt wurde, um die Zuschreibung von Gemälden auf eine verlässlichere Grundlage zu stellen, indem die Manier eines Malers an nebensächlichen Details wie, beispielsweise, einem Ohrläppchen, festgemacht wird, bildet von Sherlock Holmes bis zu seinen jüngsten Nachfolgern das Paradigma einer Evidenz, die auf dem Sehsinn basiert. In der kriminalistischen Praxis ist diese Evidenz mit der Daktyloskopie als erkennungsdienstlichem Identifizierungssystem verbunden. Der Fingerabdruck steht metonymisch für die Person, die er eindeutig identifiziert. Ein durch seinen Fingerabdruck überführter Täter kann zur Fahndung ausgeschrieben werden und wird von jedem, der das Fahndungsfoto sieht, erkannt werden, vorausgesetzt das Foto ist dem Täter ähnlich, was wiederum von der Qualität des Fotos und den Veränderungen im Aussehen des Täters (von Verkleidungen bis zu chirurgischen Operationen) abhängt. Im Fall von Lucarellis Serienmörder kommt das auf den Sehsinn gestützte Identifizierungsparadigma an seine Grenzen, da ein Täter, der – bis zum Fingerabdruck – nach jedem Mord sein Aussehen verändert, nur in der Zeitspanne bis zum nächsten Mord erkannt und ergriffen werden kann.7 Hauptkommissar Poletto mahnt denn auch zur Eile: »So schnell es geht ins Präsidium, Fahndungsfotos und über Funk Suchmeldungen nach einem Typ mit dem Gesicht von Paolo Miserocchi rausschicken. Vorausgesetzt, in der Zwischenzeit bringt unser Leguan nicht noch einen um die Ecke. Wenn er sich ein anderes Gesicht zulegt, nützen Fotos und Beschreibungen gar nichts mehr. Dann sind wir quasi blind.« (GL, 73)8

6

Siehe Carlo Ginzburg: »Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes«, in: Umberto Eco und Thomas A. Sebeok (Hg.), Der Zirkel oder im Zeichen der Drei: Dupin, Holmes, Peirce, München 1985, S. 125-179, hier: S. 125-127.

7

Mit der Betonung des Gehörs als signifikantem Wahrnehmungsregister, das die wissenshistorisch etablierte Priorität visueller Identifizierbarkeit unterläuft, schließt Lucarelli auch an einen der Gründungstexte des Detektivgenres an: Edgar Allan Poes »The Murders in the Rue Morgue« (1945). Vgl. hierzu die Einleitung zu dem vorliegenden Band.

8

»›Di corsa in questura a far partire foto segnaletiche e fonogrammi di ricerca per un tipo con la faccia di Paolo Miserocchi. Sempre che nel frattempo il nostro Iguana non ne faccia fuori un altro. Se cambia faccia, foto e descrizioni non servono piú a niente. Per noi è come essere ciechi.‹« (AB, 73)

D IE E VIDENZ DES H ÖRENS

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Damit gibt der Kommissar einen Hinweis auf ein neues Ermittlungsparadigma, das Negro zunächst abwehrt. Sie hat kurz zuvor einen Anruf erhalten, offenbar von einem Blinden, der hastig Wörter aneinanderreihte und dann auflegte: »Scanner. Kopfhörer. Stimmen der Stadt. Grüne Stimme, seine Stimme. Er hat mit dem Mädchen gechattet, er hat sie nach ihrer Adresse gefragt...« (GL, 71)9 Während die Inspektorin die Befürchtung Polettos nicht ernst nimmt (»Dann sind wir quasi blind. Ach, Unsinn« [GL, 73]10), weiß der Leser schon, wer der Blinde ist, dass dieser den Chat des Mörders mit seinem nächsten Opfer, der Studentin Rita, abgehört hat und dass dieses Gespräch über den PC des letzten Opfers, Paolo Miserocchi, geführt wurde. Es ist an der Zeit, die raffinierte Erzähltechnik des Romans zu erläutern. Bisher argumentierte ich im Rahmen der Kapitel, in denen ein unpersönlicher Erzähler in der dritten Person die polizeilichen Ermittlungen nachzeichnet, wobei die Erzählhaltung zwischen einer neutralen Nullfokalisierung und einer internen Fokalisierung auf Grazia Negro wechselt. Diese Kapitel werden in unregelmäßigen Abständen von zwei weiteren Serien unterbrochen, die in der ersten Person Singular das Erleben eines anonymen Psychopathen, des Mörders, und eines namentlich genannten Blinden, Simone Martini, darstellen, ohne dass der Leser die beiden Ichs immer klar unterscheiden könnte. In einigen Kapiteln, in denen sich die Protagonisten des Romans begegnen, werden die IchPerspektiven des Blinden und des Mörders in einer filmischen SchussGegenschuss-Technik gegenüber gestellt und mit der auf die Inspektorin fokalisierten Erzählperspektive verbunden. Der aufmerksame Krimileser, der die in allen drei Serien ausgelegten Indizien miteinander verknüpft, hat gegenüber den Protagonisten – Grazia, Simone und Alessio – einen Wissensvorsprung; der unaufmerksame Leser, der sich von der Rätselstruktur des Textes verwirren lässt, ist genauso blind wie die im wörtlichen und im übertragenen Sinne blinden Ermittler. Das Thema der Wahrnehmung eines von Geburt an Blinden wird, lange bevor Simone Martini in die Ermittlungen eingreift, schon im ersten Kapitel des Romans eingeführt: »Mit einem kurzen Seufzen, das nach Staub riecht, fällt die Schallplatte auf den Teller. Der Tonarm löst sich leise knackend aus der Halterung, es klingt wie ein Schnalzen mit der Zunge, aber trocken, nicht feucht. Eine Zunge aus Plastik. Leise rauschend fährt die

9

»Scanner. Cuffie. Voci della città. Voce verde, la sua voce. Era in chat con la ragazza, le ha chiesto l’indirizzo...« (AB, 71)

10 »Come essere ciechi. Ma no, dài.« (AB, 73)

220 | P ETER K UON Nadel durch die Rille, ein-, zweimal knistert es. Dann setzt das Klavier ein, tröpfelnd, wie aus einem undichten Wasserhahn, der Kontrabass, wie eine Schmeißfliege, die gegen ein Fenster brummt, und schließlich die verschleierte Stimme von Chet Baker mit Almost Blue. Wenn man genau Acht gibt, sehr genau, kann man sogar hören, wie er Luft holt und die Lippen beim ersten A von Almost öffnet, ein A, das so geschlossen und moduliert ist, dass es wie ein gedehntes O klingt. Al-most-blue... dazwischen zwei Pausen, zwei verhaltene Atemzüge, an denen man merkt, an denen man hört, dass seine Augen geschlossen sind.« (GL, 9)11

Das melancholische Blue seines Lieblingssongs ist für Simone nicht Farbe, sondern Klang. Da Farben für ihn nicht sichtbar und daher nicht vorstellbar sind, muss er die erlernten Farbwörter, falls sie keine bloßen Leerformeln bleiben sollen, neu motivieren und mit Signifikaten versehen, die an seine vorhandenen Sinne – Tasten, Riechen, Schmecken, Hören – anschließbar sind:12 »Manche Farben bedeuten mir etwas wegen der Vorstellung, die damit verbunden ist. Wegen des Geräuschs der Vorstellung, die damit verbunden ist. Grün zum Beispiel mit diesem reibenden R, das mittendrin kratzt und reizt und die Haut abschürft, ist etwas Brennendes wie die Sonne. Dagegen sind alle Farben, die mit B anfangen, bildschön. Wie blass oder blond. Oder blau, blau ist wunderschön. Deshalb müsste zum Beispiel ein schönes Mädchen, wenn es wirklich schön sein soll, blasse Haut und blondes Haar haben. Ein bildschönes Mädchen aber hätte blaues Haar.« (GL, 10)13

11 »Il suono del disco che cade sul piatto è un sospiro veloce, che sa appena un po’ di polvere. Quello del braccio che si stacca dalla forcella è un singhiozzo trattenuto, come uno schioccare di lingua, ma non umido, secco. Una lingua di plastica. La puntina, strisciando nel solco, sibila pianissimo e scricchiola, una o due volte. Poi arriva il piano e sembrano le gocce di un rubinetto chiuso male e il contrabbasso, come il ronzio di un moscone contro il vetro chiuso di una finestra, e dopo la voce velata di Chet Baker, che inizia a cantare Almost Blue. / A starci attenti, molto attenti, si può sentire anche quando prende fiato e stacca le labbra sulla prima a di almost, cosí chiusa e modulata da sembrare una lunga o. Al-most-blue... con due pause in mezzo, due respiri sospesi da cui si capisce, si sente che sta tenendo gli occhi chiusi.« (AB, 7) 12 Vgl. E. Bacchereti: Carlo Lucarelli, S. 138. 13 »Ci sono colori che per me significano qualcosa per l’idea che contengono. Per il rumore dell’idea che contengono. Il verde, per esempio, con quella erre raschiante, che gratta in mezzo e prude e scortica la pelle, è il colore di una cosa che brucia, come il sole. Tutti i colori che iniziano con la b, invece, sono belli. Come il bianco o il biondo.

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Ein Mädchen mit blauen Haaren wäre für Simone ein Mädchen, dessen Stimme dem positiv konnotierten Klang von Blue in Chet Bakers Version von Almost Blue entspricht. Im Verlauf des Romans wird Simone die Stimme von Grazia Negro als blau identifizieren und die Stimme des Mörders als grün: »›Kalt, verstellt, gepresst... als ob er sie zurückhalten müsste, damit sie ihm nicht von der Zunge rutscht. Als wäre da noch etwas, das sich darunter bewegt.‹ ›Und warum grün?‹ ›Wegen dem R. Weil es ein reibendes Wort ist und ich Dinge, die reiben, nicht mag. Es war eine hässliche Stimme. Eine grüne Stimme.‹« (GL, 117-118)14

Sein fein entwickeltes Gehör eröffnet Simone einen anderen Zugang zu einer Welt, die für die Sehenden unlesbar geworden ist. Bologna, so erfährt die aus Apulien stammende Inspektorin von ihrem einheimischen Kollegen Matera, ist eine Stadt, die anders ist, als sie scheint: »Diese Stadt, hatte Matera gesagt, ist nicht wie die anderen. Wissen Sie, Inspektor, Sie sagen: ›Die Universität, sehen wir uns mal in der Uni um, suchen wir unter den Studenten, durchstöbern wir ihre Bars, die Wohnheime, die Mensen‹... die Universität, Inspektor Negro? Die Universität? Das ist eine Parallelstadt, über die man noch weniger weiß. Studenten, die aus ganz Italien kommen und gehen, die Seminare schmeißen und plötzlich wieder hingehen, die bei Freunden und Verwandten schlafen, die untervermieten, aber immer schwarz und ohne Quittung und Ausweis. Wissen Sie eigentlich, dass es hier in den Siebzigerjahren von Terroristen nur so wimmelte, die haben sich alle in Bologna versteckt, und wissen Sie warum? Weil in jeder x-beliebigen Stadt ein komischer Typ mit komischem Akzent, der zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten im Haus ein- und ausgeht und den man nicht kennt, bei dem man nicht weiß, was er macht und wovon er lebt, und der mal verschwindet und mal wieder auftaucht, weil so ein Typ in jeder anderen

O il blu, che è bellissimo. Ecco, ad esempio, per me una bella ragazza, per essere davvero bella, dovrebbe avere la pelle bianca e i capelli biondi. / Ma se fosse veramente bella, allora avrebbe i capelli blu.« (AB, 8-9) 14 »›Fredda, finta, stretta... come se dovesse trattenerla per non farsela scappare dalla lingua. Come se ci fosse qualcos’altro che si muoveva sotto.‹ / ›E perché verde?‹ / ›Perché c’è la erre. Perché è una parola raschiante e le cose che raschiano non mi piacciono. Quella era una brutta voce. Una voce verde.‹« (AB, 119)

222 | P ETER K UON Stadt auffallen würde, in jeder Stadt, nur nicht in Bologna. In Bologna gehört das zum Steckbrief des Durchschnittsstudenten.« (GL, 102)15

Vordergründig ist Bologna mit seinen Plätzen und Arkaden eine übersichtliche Provinzstadt, in Wirklichkeit tun sich hinter dieser Fassade undurchdringliche, labyrinthische Paralleluniversen auf.16 Kein Wunder, dass Grazia Negro, die im klaren Licht Süditaliens aufgewachsen ist, die typischen Arkadengänge missfallen, in deren Schatten sich Farben und Umrisse auflösen, Identität zu Anonymität wird. Der blinde Simone Martini nimmt diese in der sichtbaren Stadt verborgene unsichtbare Stadt über die Geräusche wahr, die von ihr und in ihr produziert werden. Sein Gehirn, meint er, funktioniere, »[...] wie ein Scanner, ein elektronisches Gerät, das auf der Jagd nach Tönen und Stimmen den Äther durchforstet und sich automatisch auf die belegten Frequenzen einstellt.« (GL, 9)17 Im täglichen Leben benutzt er tatsächlich ein solches Abhörgerät, das ihm, nicht ganz legal, ermöglicht, den CB-Funk der Lastwagen- oder Taxifahrer anzupeilen, den Polizeifunk der Streifenwagen, den GMS-Funk der Mobiltelefone oder das Chatten im Computer, das er über einen Dekoder hörbar macht oder live mitverfolgt. Beim Abhören einer Chatline fällt Simone die unangenehme

15 »Questa città, aveva detto Matera, non è come le altre città. Perché lei dice l’Università, ispettore, battiamo l’Università, cerchiamo tra gli studenti, frughiamo nei loro bar, negli appartamenti, alle mense... l’Università, ispettore Negro? L’Università? Quella è una città parallela, di cui si sa ancora meno. Studenti che vanno e che vengono da tutta l’Italia, che lasciano i corsi e poi li riprendono, che dormono da amici e parenti, che subaffittano, sempre in nero e senza ricevute e documenti. Mai lei lo sa che negli anni Settanta stavano tutti qui i terroristi, tutti nascosti a Bologna e lo sa perché? Perché in qualunque città un raggazo strano, con un accento strano, che entra ed esce di casa a tutte le ore del giorno e della notte e non si sa chi è, cosa fa e di che vive e a volte sparisce e poi torna, in qualunque città sarebbe stato notato da qualcuno, ma a Bologna no. A Bologna questo è l’identikit dello studente medio.« (AB, 103-104) 16 Laura E. Tudoras: »Bologna en la Postmodernidad: un laberinto urbano de imágenes sonoras«, in: Revista de Filología Románica 6 (2008), S. 197-205, und Lucia Rinaldi: »Bologna’s Noir Identity: Narrating the City in Carlo Lucarelli’s Crime Fiction«, in: Italian Studies 64 (2009), S. 120-133, hier: S. 129-131, weisen mit Recht darauf hin, dass Lucarelli, in Almost Blue, Bologna zum Paradigma der unzugänglichen Metropole der Postmoderne macht. 17 »[...] come uno scanner, uno di quegli apparecchi elettronici che spazzano l’etere a caccia di suoni e di voci e si sintonizzano automaticamente sulle frequenze occupate« (AB, 7-8).

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grüne Stimme eines jungen Mannes auf, der offenbar Kopfhörer trägt und ein Mädchen nach ihrer Adresse fragt. Wie er auf die Idee kommt, die grüne Stimme auf den gesuchten Mörder zu beziehen und Inspektorin Negro anzurufen, wird nicht gesagt. Simone, der sich in Grazias blaue Stimme verliebt hat, dürfte die Handy-Gespräche der Inspektorin mit ihrem Vorgesetzten abgehört haben, um ihr dann, in einem Moment, da die Ermittlungen in die Sackgasse geraten, zu Hilfe zu eilen. Es wird ihm tatsächlich gelingen, die grüne Stimme erneut anzupeilen, zunächst im Äther, dann in einem autonomen Studentenclub. Allerdings scheitert der Zugriff auf Alessio Crotti, weil Grazia, als Simone im überfüllten Teatro Alternativo die grüne Stimme hört, blindlings drei Verdächtigen folgt, ohne daran zu denken, dass ohne Simone eine Identifizierung nicht möglich ist. Sie verhaftet denn auch den Falschen. Grazia Negro muss sich die Vorwürfe ihres Vorgesetzten Vittorio Poletto anhören, der die langweilige Routine des polizeilichen Zugriffs an seine Untergebene delegierte, um sich selbst der eigentlichen Aufklärung des Falls zu widmen. Hauptkommissar Poletto hat nämlich neben seiner kriminologischen eine psychiatrische Ausbildung genossen. Damit bringt Lucarelli die freudianische Symptomatologie ins Spiel, die Carlo Ginzburg in seinem berühmten IndizienAufsatz mit dem Morelli-Verfahren, der detektivischen Methode eines Sherlock Holmes und der erkennungsdienstlichen Technik der Daktyloskopie zum konjekturalen Paradigma verbunden hatte.18 In der auf den Mörder fokalisierten Kapitelserie wird der Leser mit einem männlichen Ich konfrontiert, das aus seinen psychotischen Schüben heraus spricht, kurz vor oder kurz nach den Morden. Bei seinem ersten Auftreten sitzt das Ich nackt auf einem Bett, verbirgt sein Gesicht hinter einer afrikanischen Maske und spiegelt sich in einer blutroten Pfütze. Es sieht, wie ein kleines Tier, ein Leguan, unter seiner Haut läuft und dröhnt sich über Kopfhörer mit Hard-Rock voll, um, wie er sagt, »die Glocken der Hölle« (GL, 16; »le campane dell’Inferno« [AB, 14]) nicht zu hören, die ihn Tag und Nacht verfolgen. Die Musik, u.a. Reptile von Nine Inch Nails und Hell’s Bells von AC/DC,19 drückt, wie schon im Fall von Simone, die innere Befindlichkeit des gesellschaftlichen Außenseiters aus. Die geschilderten Empfindungen begleiten das Ich »[j]edes Mal, wenn ich in einen neuen Körper schlüpfe.« (GL, 18; »Tutte le volte che mi reincarno.« [AB, 17]) Poletto, der, anders als der Leser, die Innensicht des Täters nicht kennt, versucht sein Psychogramm aus den Akten zu rekonstruieren. Alessio Crotti wurde im Vorschulalter von seiner Mut-

18 Siehe C. Ginzburg: »Indizien«, S. 129-133. 19 Zur Generierung der Serienmörderhandlung aus Hard-Rock-Titeln vgl. M. Mariani: Metamorphosen des Kriminalromans, S. 163.

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ter in eine kirchliches Internat gegeben, da sein leiblicher Vater das Kind nicht anerkennen und der neue Lebensgefährte es nicht im Haus behalten wollte. Im Alter von fünf bis sechs Jahren beginnt er von einem Drachen zu träumen, der sein Gesicht frisst, was die Patres auf einen Dokumentarfilm über GalapagosLeguane zurückführen. Eines Abends wird er aufgefunden, wie er sich, völlig nackt, vor einem Spiegel bunte Kreise aufs Gesicht malt. Als er 14 Jahre alt ist, beklagen sich Mitbewohner über die laute Musik, die aus seinen Kopfhörern dringt. Der Internatspsychologe sieht sich genötigt, ihm diese Musik zu verbieten, weil, wie er meint, »[...] zahlreiche Studien belegen, das der sogenannte ›satanic rock‹ ein Werk des Teufels ist.« (GL, 94)20 Ein Jahr später findet die Polizei in einem Studentenwohnheim eine übel zugerichtete Leiche, einen traumatisierten Studenten und den nackten Alessio Crotti mit einer Kriegsbemalung aus Senf. Der nicht strafmündige Fünfzehnjährige wird in die Psychiatrie eingewiesen. Drei Jahre später verschwindet er bei einem Brand. Bevor im Dezember 1994 die Mordserie beginnt, treibt er sich, in esoterischen und satanistischen Sekten herum, weil er, wie die Recherchen ergeben, Satan bitten wollte, die Glocken nicht mehr zu läuten. Poletto versteht, gut freudianisch, die Glocken als Sexualsymbol: Alessio Crotti verweigere die sexuelle Reifung und flüchte stattdessen in die Endlosschleife seiner Reinkarnationen. Diese Hypothese liefert die nachträgliche Erklärung eines Verhaltens, das der Leser bislang nur aus der Innensicht des Mörders kannte; sie bringt aber die Ermittlungen in keiner Weise voran. Poletto agiert nicht als Kommissar, sondern als Psychiater. Als der nackte Alessio Crotti aus dem Schatten eines Arkadengangs auf ihn zutritt, agiert er völlig panisch und bietet dem Täter, statt ihn auf Distanz zu halten, die Nähe eines therapeutischen Gesprächs an. In dieser, wiederum aus der Innensicht des Täters geschilderten, Begegnung verheddert sich das Band der Kassette und die Musik, die die Glocken der Hölle übertönt (ironischerweise der Song »Hell’s Bells«), reißt ab. Aus Crotti bricht mit einem Mal das frühkindliche Trauma heraus, das seine Krankheit auslöste: »Der Mann schreit meine Mama an. Ich liege in meinem Zimmer im Bett, aber von dort aus kann man trotzdem alles hören. Der Mann schreit meine Mama an. Er sagt, dieser Junge raubt mir den letzten Nerv, Agata! Dauernd muss ich mir anhören: leise, sonst hört er uns, leise, sonst hört er uns! Du musst dich von ihm freimachen, Agata, entweder er oder ich! Er sagt, weißt du noch, neulich Nacht! Weißt du noch, als wir gerade gebumst haben und plötzlich die Schlafzimmertür aufgeht und dieser Junge in Unterhosen und Un-

20 »[...] esistono numerosi studi al riguardo che evidenziano perfino l’ispirazione demoniaca di certo cosiddetto ›rock satanico‹« (AB, 95).

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terhemd reinkommt und MAMA, MAMA! ICH HÖRE DIE GLOCKEN schreit? Bei dem Jungen krieg ich eine Gänsehaut, Agata! Er macht mir Angst! Dieses winzige Kind mit den Händen auf den Ohren, das weint und wie wahnsinnig MAMAAAAA kreischt!« (GL, 169-170)21

Poletto nimmt die psychiatrische Lösung des Falls mit in den Tod. Doch auch die kriminalistische Lösung scheitert. Denn als Crotti in Polettos Uniform in dem Hotel auftaucht, in das der blinde Simone in Sicherheit gebracht wurde, nimmt Grazia Negro zwar den Nahkampf auf, wird aber niedergeschlagen und bekommt den dramatischen show-down gar nicht mit. Crotti zeigt dem blinden Simone die Symptome seiner Psychose, den Leguan, der aus seinem Mund zischelt, die Glocken, die in seinen Ohren dröhnen, doch dieser scheint durch ihn hindurch zu schauen. Simone wiederum hört, wie die grüne Stimme ihn umkreist und sagt »›Ich will auch so sein wie du.‹« (GL, 187; »›Anch’io voglio essere come te.‹« [AB, 187]) Gegen die Lesererwartung sticht Crotti mit seinem Cutter nicht auf Simone ein, sondern schlitzt sich – Buñuel lässt grüßen – beide Augen auf. Der Roman endet, wie er begonnen hat, nur spiegelverkehrt, mit der Innensicht der beiden männlichen Protagonisten: Der Blinde, der im vorletzten Kapitel Jazz hört, Bebop, Chet Baker, Almost Blue, ist nicht Simone, sondern Alessio, der in der Geschlossenen Psychiatrie behandelt wird und die Glocken der Hölle nicht mehr hört; der Blinde, der im letzten Kapitel die Stimme von Chet Baker leiser dreht, um die eine andere Musik zu hören, Summertime, die er in seinem Kopf mit Grazia Negro assoziiert, mit der ihn mittlerweile ein Liebesverhältnis verbindet und die gerade die Treppe herauf schleicht..., dieser Blinde ist Simone.22 Dieses happy end eines Psychothrillers könnte kitschig wirken. Vielleicht aber auch Anlass geben, einen Krimi zu hinterfragen, der auf der Handlungsebe-

21 »›L’uomo grida con la mamma. Io sono a letto nella mia stanza ma di là si sente sempre tutto lo stesso. L’uomo grida con la mamma. Dice quel bambino rompe il cazzo, Àgata! E sempre fai piano se no ci sente, fai piano se no ci sente! Te ne devi liberare, Agata, o me o lui! Dice te la ricordi l’altra notte? Te lo ricordi quando stavamo scopando e all’improvviso si spalanca la porta della camera ed entra questo bambino in mutandine e canottiera che urla MAMMA, MAMMA! SENTO LE CAMPANE! Mi mette i brividi, Agata! Mi fa paura! Questo bambinetto piccolo piccolo, con le mani schiacciate sulle orecchie, che piange e strilla allucinato MAMMAAAAA!‹« (AB, 170) 22 Auf die spiegelbildliche Konzeption der männlichen Hauptfiguren Simone Martini und Alessio Crotti weist S. Neu: Farben des Kriminalromans, S. 82, hin.

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ne sowohl den polizeilichen Zugriff auf den Täter als auch die psychiatrische Aufklärung des Falles scheitern lässt.23 Die Welt, in der die Romanfiguren handeln, entzieht sich ihrem Zugriff. Nicht nur weil sie komplex, sondern auch weil sie feindlich ist. Am Ende haben Simone, Grazia und Alessio, alle Mitte zwanzig, aber dennoch zu sich selbst gefunden; ja, auch Alessio, über den Kommissar Poletto sagte: »Vielleicht versucht er auch nur, auf andere Art und Weise erwachsen zu werden.« (GL, 110; »O forse, cerca soltanto di diventare grande in un altro modo.« [AB, 111]). Ist der vermeintliche Krimi ein verkappter Bildungsroman? Im Falle von Alessio Crotti ist die Schwierigkeit erwachsen zu werden pathologische Evidenz. Die beiden anderen, scheinbar normalen Personen haben aber auch ein Problem. Simone Martini kapselt sich nach dem Tod seines Vaters von seiner Umgebung ab, verweigert Kontakte und Gespräche und hört das Leben der anderen ab, statt es mit ihnen zu leben. Erst Grazia lockt ihn aus seiner Reserve und geht mit ihm aus. Ist es ein Zufall, dass die ihn behütende Mutter einem Mord zum Opfer fallen muss, bevor er seine erste sexuelle Erfahrung machen kann? Und warum fühlt sich Grazia in der Anwesenheit eines Blinden wohl? »Weil sie«, so denkt sie, »mit jemandem zusammen sein konnte, ohne dass dieser sie anstarrte, ironisch oder väterlich, aber immer mit einer Forderung im Blick, zieh dich doch mal an wie eine Frau, bleib bei mir und hilf mir in der Bar, schnapp ihn, Kleines.« (GL, 121).24 In der Gegenwart Simones entgeht sie dem männlichen Blick, der die junge Frau im Alltag stört. Zu Beginn des Romans ist sie in ihren attraktiven Vorgesetzten Vittorio verliebt, ohne zu merken, dass sie nur eine Figur in seinem Karrierespiel ist. Sie freut sich, wenn er gönnerhaft ihre Arbeit lobt: »brava bambina. Bel lavoro«, sie fühlt sich von seinen Forderungen unter Druck gesetzt: »prendilo, bambina«, sie ist am Boden zerstört, wenn er sie tadelt: »Hai combinato un bel casino, bambina«. In dem

23 Wenn E. Past: Methods of Murder, S. 240-254, Carlo Lucarelli vorwirft, das epistemologische Paradigma des Begründers der anthropologischen Kriminologie, Cesare Lombroso (1835-1909), ungebrochen in seine postmodernen Krimis zu übertragen und den Serienkiller in Almost Blue – biologistisch – auf seine Bestialität festzulegen, unterschätzt sie die Ironie einer narrativen Konstruktion, die Alessio Crotti dem polizeilichen Zugriff und der kriminologischen Erklärung entzieht. Lucarelli schreibt keine »Lombrosian Fiction« (Ebd., S. 268) im Geist der Biopolitik, vielmehr zeichnen sich seine Krimis, insbesondere Almost Blue, durch ihren parodistischen Umgang mit tradierten Erkennungsverfahren aus. 24 »Perché poteva stare in un posto con qualcuno senza che questo la fissasse, ironico o paterno, ma sempre per chiederle qualcosa, e vistiti da donna, e resta con me a lavorare al bar, e prendilo bambina.« (AB, 122)

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Augenblick, da sie sich verbittet, »bambina« genannt zu werden, vollzieht Grazia den symbolischen Vatermord, den Alessio dann konkret ausführt. Grazias Emanzipationsprozess25 hilft den Sinn der Selbstblendung Alessios zu verstehen. Indem sich Alessio zum Blinden macht, entgeht er ein für allemal den Blicken, die die Anderen auf ihn richten. In diesen Blicken kehrt der Blick des Mannes wieder, der ihm die Mutter genommen und ihn als Monster definiert hat. Mit seinen Morden vernichtet Alessio immer aufs Neue den Anderen, der ihn ausgrenzt. Die Welt, in der die Figuren handeln, bleibt bis zum Schluss unlesbar. Wenn der Täter am Ende doch ergriffen wird, so nur, weil er sich, in einem Akt halbbewusster Selbsttherapie, zum Blinden macht. Allein der Leser verfügt über die Informationen, die ihm, auf die Ebene die Fiktion, die Welt lesbar werden lassen. Im Vollzug der Lektüre erschließt sich ihm ein Wissen von der Ordnung der Welt, das ihn an die Stelle Gottes setzt. Vielleicht macht dieser Moment illusorischer Rettung im Angesicht der unaufhebbaren Kontingenz des Daseins die epistemologische Faszination des Krimi-Paradigmas aus.

L ITERATUR Bacchereti, Elisabetta: Carlo Lucarelli, Firenze 2004. Ginzburg, Carlo: »Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes«, in: Umberto Eco und Thomas A. Sebeok (Hg.), Der Zirkel oder im Zeichen der Drei: Dupin, Holmes, Peirce, München 1985, S. 125-179. Lucarelli, Carlo: Almost Blue, Torino 1997. Lucarelli, Carlo: Der grüne Leguan, aus d. Ital. von Peter Klöss, München 2001. Mariani, Marina: »Carlo Lucarelli: ›Almost Blue‹. Metamorphosen des Kriminalromans«, in: Hans Felten/David Nelting (Hg.), ...una veritade ascosa sotto bella menzogna.... Zur italienischen Erzählliteratur der Gegenwart, Frankfurt/Main 2000, S. 159-173. Neu, Stefanie: Carlo Lucarelli. Farben des Kriminalromans: Giallo, Nero, Blue. Frankfurt/Main 2005. Past, Elena: Methods of Murder. Beccarian Introspection and Lombrosian Vivisection in Italian Crime Fiction, Toronto 2012. Rinaldi, Lucia: »Bologna’s Noir Identity: Narrating the City in Carlo Lucarelli’s Crime Fiction«, in: Italian Studies 64 (2009), S. 120-133.

25 Siehe S. Neu: Farben des Kriminalromans, S. 96.

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Tudoras, Laura E.: »Bologna en la Postmodernidad: un laberinto urbano de imágenes sonoras«, in: Revista de Filología Románica 6 (2008), S. 197-205.

Genrewissen ›spielerisch‹ erwerben Heinrich Steinfests Kriminalroman Die feine Nase der Lilli Steinbeck im Literaturunterricht M ATTHIAS P AULDRACH (S ALZBURG )

D AS S PIEL

IM S PIEL – EIN SELBSTREFERENTIELLES

M OTIV

Die Struktur von Krimis ist verwandt mit der von Spielen, zumindest auf der Handlungsebene: Es treten zwei Spieler oder Teams gegeneinander an, Verbrecher und Ermittler, beide haben ein klar definiertes Ziel: den/die anderen zu besiegen oder ihnen zu entkommen. Auf diesem Weg gibt es Hindernisse (Regeln, Gesetze oder das Verhalten des Gegners), die Überwindung dieser Hindernisse erfordert Strategie und Taktik, manchmal auch die Täuschung des anderen. Trotz des klar definierten Ziels ist der Ausgang sowohl des Krimis als auch des Spiels ungewiss: Das Moment der Kontingenz ist neben der Regelhaftigkeit ein entscheidendes Merkmal, das sowohl die Faszination von Spielen als auch von Kriminalromanen ausmacht.1

1

Die Ähnlichkeit von Kriminalromanen und Detektivgeschichten mit Spielen wurde bereits einige Male untersucht, wenn auch mit unterschiedlichen Spielkonzepten. Vgl. dazu zum Beispiel Bernard Suits: »Die Detektivgeschichte: Eine Fallstudie über Spiele in der Literatur«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, München 1998, S. 255-273, und Roger Callois: »Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch Probleme der Gesellschaft behandelt werden«, in: J. Vogt (Hg.), Der Kriminalroman, S. 157-180.

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Unter den genannten Gesichtspunkten erscheint das Spiel beinahe wie ein poetologisches Programm des Kriminalromans und Heinrich Steinfests Roman Die feine Nase der Lilli Steinbeck liest sich wie eine Allegorie dieses Programms: Es gibt zwei Teams, die ein Spiel um Menschenleben spielen. Jede Runde dieses Spiels läuft so ab: Ein Mensch wird ausgewählt, betäubt und an einem weit entfernten Ort irgendwo auf der Welt ausgesetzt. Die eine Partei muss diesen Menschen lebend an seinen Heimatort zurückbringen, während die andere Partei ihn finden und töten muss, um einen Punkt zu bekommen. Dabei sind alle gewaltsamen Mittel erlaubt: Helfer und Gegner des Entführten dürfen/müssen sich gegenseitig umbringen. Doch auch sie sind ›Spielsteine‹, angeheuerte Söldner, die im Dienste mächtiger und finanzkräftiger Hintermänner agieren. Diese Hintermänner, ein griechischer Industrieller und eine rumänische Mafiapatin, sind die eigentlichen Spieler dieses Spiels. Insgesamt gibt es zehn Runden: Wenn es dem ›Beschützer‹, eben jenem Griechen, gelingt, auch nur einen seiner ›Spielsteine‹ wohlbehalten nach Hause zu bringen, hat er gewonnen. Lilli Steinbeck, die Wiener Kommissarin, und ihr Co-Ermittler, der griechische Privatdetektiv Spiridon Kallimachos, geraten zwischen die Fronten dieses tödlichen Wettkampfs, weil sie gemäß ihrem polizeilichen Auftrag versuchen, das Leben der aktuell bedrohten ›Spielfigur‹ Georg Stransky zu retten, indem sie diesen im Jemen aufspüren und sicher nach Hause begleiten. Antigonis (sic!), der griechische Industrielle und (Mit-)Initiator des Spiels, erklärt Lilli Steinbeck dessen Funktionsweise: »›Es ist ein Spiel, weil alles ein Spiel ist. Das wird gerne übersehen.‹ ›Welches Spiel genau?‹ ›Die Hintergründe brauchen Sie nicht zu interessieren. Worauf es ankommt, ist das folgende: 1995 habe ich zehn Personen ausgesucht. Im Grunde hätte ich genauso gut im Telefon auf irgendwelche Namen zeigen können. Aber das wäre der Sache nicht angemessen gewesen. Auch im Hinblick auf die Arbeit der Polizei, auf Ihre Arbeit, Frau Steinbeck. Die Polizei verlangt Strukturen, das ist ihr gutes Recht. Und weil ich kein Angsthase bin, gab ich meiner Auswahl eine solche Struktur. Ich nahm, wie gesagt, nur Deutsche, nur Männer, keine Urlauber, sondern Personen, die geschäftlich in Athen zu tun hatten, und vor allem normale Leute. Und ich nahm mir Zeit, praktisch ein dreiviertel Jahr, in dem ich einen jeden von ihnen ansprach, um am Ende eines stets gemütlichen Abends meinen Gast mit einer kleinen Batman-Figur zu überraschen.‹ ›Eine solche wurde bei keiner der Leichen gefunden‹, wandte Steinbeck ein. ‚Natürlich nicht. Obwohl jeder sie bei sich hatte, als er starb. Aber diese Figuren sind natürlich jene Spielsteine, welche – sollten sie einmal alle zehn im Besitz meines Gegners sein – bedeuten, dass ich verloren habe. Und nicht nur ich.‹

D ER K RIMINALROMAN IM L ITERATURUNTERRICHT

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›Klingt nach einem Brettspiel.‹ ›Es ist ein Brettspiel‹, sagte Antigonis. ‚Ich bräuchte nur einen einzigen dieser zehn Männer zu retten, dann hätte ich gewonnen. Oder sagen wir, ich hätte ihn nicht verloren, was ja manchmal im Leben das gleiche ist.‹ […] ›Zur Sache‹, mahnte Steinbeck. ›Was kann ich tun?‹ Stransky finden, bevor jemand anders ihn findet. Stransky nach Hause bringen, bevor man ihn tötet.‹ ›Das möchte ich gerne tun, wenn auch nicht für Sie.‹ ›Sie werden es aber ein klein wenig auch für mich tun müssen, ob sie wollen oder nicht. Also wie entscheiden Sie?‹«2

D IE L EGITIMATION

DES

K RIMIS

IM

L ITERATURUNTERRICHT

Das Spiel fungiert in Steinfests Roman als selbstreferentielles Element und Verweis auf die metatextuelle Ebene: Die Hintermänner der beiden Teams, die die ›Spielfiguren‹ in Steinfests Roman lenken, stehen zugleich für den Krimiautor als Initiator und Konstrukteur des literarischen Spiels und für den Leser, der sich an dessen Spannung weidet. Steinfest betreibt ein Stück Dekonstruktion des Genres, indem er die Verbrecherjagd als literarisches Spiel demaskiert, das allein dem Vergnügen des Autors und Lesers dient. Natürlich ist diese Erkenntnis nicht neu und hat dem Krimigenre seit jeher den Ruf der Trivialität und Sensationslust eingetragen. Um dieses relativ oberflächliche Urteil ein Stück weit zu differenzieren, hilft auch hier die Spielmetapher weiter: Man kann sowohl den Kriminalroman als auch das Kampf- und Wettbewerbsspiel als inszenierte Gewalt betrachten, die eine bestimmte Funktion für den Zuschauer/Leser hat: »Jede Epoche und Kultur kennt bestimmte Inszenierungsmuster, in denen Gewalt unter kontrollierten Bedingungen ausgeübt wird, um dem ›Anderen‹ Freiräume zu schaffen. Im Mittelalter waren das Hinrichtungen, Martyrien und extreme Askesen, heute erfüllen etwa bestimmte Sportarten diese Funktion. Konstitutive Elemente solcher ›Spiele‹ sind eine bestimmte Dramaturgie, bestimmte Regeln, separate Räume und vom Alltag abweichende 3

Rollen beziehungsweise Identitäten.«

2

Heinrich Steinfest: Die feine Nase der Lilli Steinbeck, München 2007, S. 80-81.

3

Matthias Pauldrach: Die (De-)Konstruktion von Identität in den Romanen Helmut Kraussers, Würzburg 2010, S. 124. Vgl. auch Thomas A. Wetzstein, Linda Steinmetz,

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Krimis bieten, ähnlich wie Kampf- oder Wettbewerbsspiele, dem Leser die Möglichkeit, Angstlust, Spannung und Kontingenz ›unter kontrollierten Bedingungen‹, im sicheren Lese- oder Fernsehsessel, zu erleben. Kriminalliteratur übt unter diesem Aspekt nicht nur eine wichtige individuelle Funktion zur Kanalisierung des »Anderen«4 aus; ihre enorme Beliebtheit wirft auch ein kritisches Licht auf die Lebensbedingungen in einer hochrationalisierten Gesellschaft, in der ein immer höheres Maß an Selbstkontrolle und Vorhersehbarkeit des eigenen Tuns verlangt wird. Noch in den 1970er Jahren stellte der Krimi die Fachdidaktik vor erhebliche Probleme: Diese betrachtete das Genre in dieser Zeit vorwiegend unter politischen Vorzeichen als Erscheinungsform der Trivialliteratur und Kommerzialisierung des Literaturbetriebs. Doch die Grenze zwischen Hoch- und Trivialliteratur ist inzwischen durchlässiger geworden. Das ideologiekritische Paradigma in der Fachdidaktik ist mittlerweile einer Subjekt- und Kompetenzorientierung gewichen, die literarischer und ästhetischer Bildung einen autonomen Stellenwert zumisst. In diesem Zusammenhang kommt dem Krimi nun neuerdings sogar eine Schlüsselfunktion bei der Vermittlung von Einsicht in narrative Strukturen zu. Man hat offenbar das didaktische Potential dieser Gattung erkannt, von der Elisabeth Paefgen schreibt, sie eigne sich – wohl gerade wegen ihrer Regelhaftigkeit und Orientierung an überkommenen Schemata – ideal als »poetologisches Propädeutikum«.5 Ein Indiz: Die meisten Schulbücher räumen dem Krimi einen gebührenden Platz ein.6 Dennoch ist es nötig, im Literaturunterricht die Mechanismen des Krimis, die einen ›erregenden Schauer‹ erzeugen, im Einzel-

Christa Reis und Roland Eckert: Sadomasochismus: Szenen und Rituale, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 172 und 178. 4

Vgl. zum Begriff des »Anderen« Jacques Lacan, der von einer Spaltung des Subjekts in das Ich und sein »Anderes« ausgeht. Das »Andere« steht dabei für den ins Unterbewusstsein verdrängten Teil der Persönlichkeit, der sich nach Ansicht von Lacans Schülerin Julia Kristeva im gesellschaftlich tabuisierten »Abjekt« manifestiert: Gewalt, Kriminalität, Tod, sexuelle Perversion etc. Vgl. dazu Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 1954-1955, Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, Weinheim und Basel 1991, und Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1983.

5

Elisabeth Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, Stuttgart und Weimar 1999,

6

Vgl. Reinhard Wilczek: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. Kriminallitera-

S. 73. tur im Deutschunterricht, Seelze 2007, S. 51ff.

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nen einer näheren Reflexion zu unterziehen, um dem legitimen Bedürfnis nach einem Ausleben des »Anderen« bei der Krimilektüre ein rationales Korrektiv an die Seite zu stellen. Gerade dafür eignen sich die Krimis Heinrich Steinfests besonders gut, da sie immer eines oder mehrere genreprägende Stereotype dekonstruieren.

D IE D EKONSTRUKTION GÄNGIGER K RIMISTEREOTYPE D IE FEINE N ASE DER L ILLI S TEINBECK

IN

Spiel und Ernst Die Unterscheidung zwischen Spiel und Ernst mag zunächst fragwürdig klingen, da Spiele oft mit großem Ernst betrieben werden, man denke nur an die Leidenschaft von Sportlern oder Fußballfans. Dennoch ist ein Spiel stets etwas im Grunde Überflüssiges, zum reinen Vergnügen Betriebenes, und genau das ist auch der Krimi in erster Linie. Indem er den Krimi als Spiel demaskiert, ironisiert Steinfest die sicher ehrenwerten Versuche vieler Genrekollegen, der Unterhaltungsfunktion des Krimis ein ernstes, aufklärerisches Anliegen an die Seite zu stellen, dadurch, dass sie in ihren Werken allerlei gewichtige Probleme des ›wirklichen Lebens‹ behandeln (man denke nur an viele ARD-Tatorte, die sich an thematischer Aktualität und Gesellschaftskritik gegenseitig überbieten). Vielfach ist es jedoch so, dass reale Verbrechen und Ermittlungen in aller Regel relativ banal sind und die Darstellung realer Verbrechensaufklärung im Einzelnen wenig unterhaltsam wäre. Alltägliche Polizeiarbeit unterscheidet sich grundlegend von einer Detektivgeschichte: Während in der Wirklichkeit Ermittlungserfolge meistens eine Teamleistung sind und sich der Fleißarbeit vieler, technischen Innovationen oder schlicht dem Zufall verdanken, klärt im Detektivroman meistens ein einzelner Ermittler den Fall auf, der ›Great Detective‹,7 einer der letzten Superhelden der Literatur. Dadurch, dass Heinrich Steinfest in Die feine Nase der Lilli Steinbeck den Krimi als Spiel enttarnt, das mit großem Ernst daherkommt, dekonstruiert er auch das gängige Ermittler-Klischee des ›Great Detective‹. Seine Ermittlerin Lilli Steinbeck, die sich vom ›Beschützerteam‹ des Spiels anheuern lässt und aus reiner Philanthropie versucht, eine der menschlichen Spielfiguren sicher in die Heimat zu bringen, um ihr damit das Leben zu retten, ›verliert‹ am Ende: Kurz vor dem Ziel wird die ›Spielfigur‹, der Ornithologe Georg Stransky, doch noch

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Vgl. Peter Nusser: Der Kriminalroman, 3. Aufl., Stuttgart und Weimar 2003, S. 60.

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von der gegnerischen Partei erschossen. Doch Lilli Steinbeck nimmt die Niederlage ›sportlich‹. Das unterstreicht den Grundtenor des Romans, dass alles nur Spiel ist, und zwar sowohl innerhalb der textuellen Realität als auch auf der metatextuellen Ebene zwischen Autor und Leser. Der Kriminalroman gibt zwar vor, die Wirklichkeit (möglichst detailgetreu) darzustellen, da er aber vor allem anderen unterhalten will, wird letztlich die Darstellung der Wirklichkeit immer den Regeln des Genres untergeordnet. Dies gilt auch für die Darstellung von Gewalt und von Gut und Böse – und das ist für die Literaturdidaktik nicht ganz unproblematisch, wie im Folgenden gezeigt wird. Gewalt Um der Ästhetik des Krimigenres gerecht zu werden, ist es hilfreich, Gewalt zunächst als rein ästhetisches Phänomen zu begreifen, das eine konstitutive Funktion für den Krimi hat. Der Mord ist einerseits auslösendes Moment, ohne den die Handlung gar nicht in Gang käme, andererseits erzeugt der durch Gewalt verursachte Tod als Inbegriff des »Anderen« und Fremden8 gleichzeitig Angst und Faszination, eben ›Angstlust‹. Was die Analyse von Gewaltdarstellungen im Krimi betrifft, gerät die Literaturdidaktik – wie sooft – zwischen zwei Fronten: Die der Literaturwissenschaft, die eine Ästhetisierung von Gewalt wertfrei untersucht und die der Pädagogik, die die Darstellungen von Gewalt in Literatur und Medien unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung auf Kinder und Jugendliche betrachten muss. Möglicherweise gibt es jedoch einen Ausweg aus diesem Dilemma: Texte, deren Gewaltdarstellungen ein dekonstruktives Moment beinhalten, das von den Schülern selbst erkannt und reflektiert wird, tragen einerseits zur Problematisierung von Gewalt bei, ermöglichen aber andererseits auch ein ästhetisches Erleben sowohl von Gewaltdarstellungen als auch von deren Dekonstruktion. Steinfests Roman Die feine Nase der Lilli Steinbeck ist so ein Text, der Problematisierung und Ästhetisierung von Gewalt gleichermaßen betreibt. Er eignet sich deshalb gut für einen Literaturunterricht, der der Erfahrung des »Anderen« bei der Literaturrezeption eine wichtige Rolle zuweist, nicht ohne diese Erfahrung kritisch zu reflektieren. Steinfests Gewaltdarstellungen gehen nämlich über die oben beschriebene Funktionalisierung von Gewalt innerhalb des Genres hinaus, indem sie ein spielerisches Element aufweisen:

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Vgl. J. Kristeva: Pouvoirs de l’horreur.

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»Ein Schuß löste sich. Die Flugbahn des nun austretenden Projektils kann man durchaus als ideal bezeichnen. Da nämlich im Zuge von Steinbecks Attacke der Kopf des Batmanmannes ein Stück vorrückte und der Lauf der Waffe beinahe vertikal nach oben wies, drang die abgefeuerte Kugel auf der Kinnunterseite in den Mann ein, querte den Rachenraum, durchflog exakt den kleinen Bereich der Keilbeinhöhle und drehte sich sodann in das Großhirn, wo sie einigen Schaden anrichtete, bevor sie über das rechte Scheitelbein wieder austrat, den freien Raum passierte und in der Weiße eines verputzten Plafonds steckenblieb.«9

Allein dass in Die feine Nase der Lilli Steinbeck Menschen wie Spielfiguren eliminiert werden, zeigt, dass Gewalt hier beiläufig, spielerisch, grotesk bis komisch inszeniert wird. Komische Effekte durch hypertrophe und sinnlose Gewalt sind nicht neu und spätestens seit Quentin Tarantinos Gangsterfilm Pulp Fiction innerhalb des Genres stilprägend. Neben ihrer reinen Unterhaltungsfunktion haben sie jedoch auch einen ernsten Hintergrund, der die moralischen Einwände gegenüber solchen Darstellungen weitgehend entkräftet und eben jenes dekonstruktive Moment darstellt, von dem oben die Rede war: Die Verfremdung von Gewalt zum Grotesken und Absurden hin scheint im Zeitalter der Massenmedien die letzte Strategie zu sein, um auf ihre mediale Hypertrophie und Banalisierung hinzuweisen. Dies im Unterricht herauszuarbeiten, ist bei der Lektüre von Steinfests Krimis lohnend und kann einen wertvollen Beitrag zur Reflexion von Gewaltdarstellungen auch in anderen Medien und Gattungen leisten. Das dekonstruktive Potential des Textes erweist sich hier als wirkungsvoller als der bewahrpädagogisch erhobene Zeigefinger. Gut und Böse Ein weiteres Problemfeld innerhalb der Krimididaktik, auf dem moralische und genreästhetische Ansprüche kollidieren, ist die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Wie bereits gesagt, gehört es zu den Konventionen des Kriminalromans, die ›Wahrheit‹ zu erzählen, obwohl er eigentlich doch nur ein Spiel spielt. Er suggeriert dem Leser, was richtig und was falsch ist, obwohl diese Kategorien eigentlich nur funktionale Kategorien innerhalb einer ludischen Dynamik sind. Genauso könnte ein Krimiautor behaupten: Der 1. FC Nürnberg ist die gute, Bayern München die böse Mannschaft und mit Sicherheit würde es der Leser auch glauben, wenn die Geschichte handwerklich solide erzählt wäre. Eine Möglichkeit, die Schwarz-Weiß-Färbung der im Krimi erzählten Welt in Frage zu

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H. Steinfest: Die feine Nase der Lilli Steinbeck, S. 310-311.

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stellen, besteht darin, den Bösewicht zum Sympathieträger zu machen. Ein berühmtes Beispiel aus der Literaturgeschichte sind Patricia Highsmiths RipleyRomane. Es ist vor allem der Rezeptionssteuerung des Autors überlassen, wer in den Augen der Leser gut und böse ist. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob die betreffende Figur moralisch handelt. Steinfest wählt in seinem Roman Die feine Nase der Lilli Steinbeck eine Doppelstrategie, um die klare Trennlinie zwischen Gut und Böse zu verwischen: Die ›Bösen‹, die das menschenverachtende Spiel initiiert haben, sind in gewisser Weise auch die Guten, die die ›Spielfigur‹ beschützen und lebend nach Hause bringen wollen. Das bringt den Leser dazu, sich zumindest ein Stück weit mit dieser Partei zu identifizieren. Gleichzeitig erscheint die Ermittlerin, die im Krimi normalerweise (trotz möglicher Gesetzesverstöße) über jeden moralischen Zweifel erhaben ist, suspekt, weil sie beim Versuch, den Entführten zu retten, erhebliche ›Kollateralschäden‹ verursacht, weil sie sich für die Zwecke des ›Beschützerteams‹ einspannen lässt und weil sie infolgedessen zu sehr mit einem der Drahtzieher des Spiels, dem zwielichtigen Griechen Antigonis, fraternisiert. Obwohl sie die erste ›Spielfigur‹ Stransky nicht retten kann, will der Grieche Antigonis sie deshalb bei der ›nächsten Runde‹ wieder dabei haben: »›Wir wären sehr froh, Frau Steinbeck, wenn Sie und Herr Kallimachos weiter für uns tätig sein könnten. Sie wissen ja, demnächst wird wieder ein Mann erwachen und verwundert feststellen, nicht in seinem Bett zu liegen. Es wäre sehr zu wünschen, wenn wir ihn dann rasch finden und wohlbehalten nach Hause bringen.‹ […] ›Die Sache mit Stransky war erregend genug.‹ ›Aber sie ist schlecht ausgegangen‹, erinnerte Zoe [Antigonis’ Gattin und Spielpartnerin, Anm. d. Verf. ]. Zeit also, dass es einmal gut ausgeht.‹ ›Apropos Zeit‹, sagte Lilli, ›meine Vorgesetzten rufen nach mir. Vergessen Sie nicht, ich bin nicht frei wie Herr Kallimachos, sondern Polizistin.‹ ›Ich glaube kaum, dass ihre Polizei-Leute wissen, was sie an Ihnen haben. Wir schon.‹ […] ›Würde es etwas nutzen, erkundigte sich Frau Antigonis mit einem kleinen, dünnen Lächeln von der Art einer Injektion, wenn wir von der Bezahlung sprechen?‹ Üblicherweise in solchen Geschichten hätte die Heldin jetzt klar ablehnen müssen und eigentlich wollte Lilli das auch. Aber sie überlegte. Wie hatte sie doch in der letzten Nacht zu sich selbst gesagt: dass ihr eigentlich nur noch übrigbliebe, einen reichen Mann zu heiraten. Lilli setzte sich zurecht, als gehe sie daran, einen Vertrag zu zerreißen. Tat aber im Grunde genau das Gegenteil, indem sie jetzt verkündete: ›Ich hätte gerne einen reichen Mann.‹

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[…] ›Wenn ich Ihnen verspreche, das für Sie in die Hand zu nehmen, werden Sie uns dann helfen, Nummer neun sicher in seinen Stall zurückzubringen?‹ ›Das wäre dann ja wohl der Deal, wobei eines klar sein muss: keine Erfolgsgarantie. Und nach Nummer neun, wie sie das nennen, ist Schluss. Für mich wird es eine zehnte Runde nicht geben.‹«10

In Die feine Nase der Lilli Steinbeck gibt es – mitunter zur Verwirrung des Lesers – kaum Figuren, die sich eindeutig Gut und Böse zuordnen ließen. Auch etliche der ›Guten‹ scheinen ein dunkles Geheimnis zu hüten, das allenfalls angedeutet wird: So steht zum Beispiel Spiridon Kallimachos, Steinbecks CoErmittler, im Verdacht, früher für die griechische Militärdiktatur gefoltert zu haben. Symbolfigur des Hybriden, das vielen Figuren des Romans anhaftet, ist Batman, eine Kippfigur zwischen Gut und Böse, Tag und Nacht: Jede ›Spielfigur‹ bekommt vom Initiator des Spiels, Antigonis, eine kleine Batman-Figur geschenkt, bevor er Jahre später entführt und gejagt wird. Auch dem Leser ein ›Happy End‹ vorzuenthalten, das heißt, Georg Stransky, die ›Spielfigur‹, kurz vor Ende des Romans sterben und die beiden Ermittler, Steinbeck und Kallimachos, scheitern zu lassen, ist Teil von Heinrich Steinfests Dekonstruktionsstrategie bezüglich der Kategorien Gut und Böse. Außerdem ist es ein Verstoß gegen die Genrekonventionen: In aller Regel siegen im Kriminalroman ›Recht und Ordnung‹, und wenn nicht – wie etwa im amerikanischen Hard-Boilded-Roman – so fühlt der Leser als Gratifikation seiner Lektüre zumindest mit dem ›sympathischen Verlierer‹, identifiziert sich beispielsweise mit dem melancholischen Blick eines Philipp Marlowe auf die Unabänderlichkeit der Dinge nach Abschluss eines Falls: »›It was night. I went home and put my old house clothes on and set the chessmen out and mixed a drink and played over another Capablanca. It went fifty-nine moves. Beautiful cold remorseless chess, almost creepy in its silent implacability. When it was done, I listened at the open window for a while and smelled the night. Then I carried my glass out to the kitchen and rinsed it and filled it with ice water and stood at the sink sipping it and looking at my face in the mirror. ›You and Capablanca‹, I said.«11

In Die feine Nase der Lilli Steinbeck ist der Leser jedoch irritiert bis enttäuscht. Doch genau das ist Steinfests Absicht: den latenten Spielcharakter des Krimi, der

10 Ebd., S. 330-331. 11 Raymond Chandler: The High Window, New York 1976, S. 204.

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sich hinter der fiktionsontologischen Wirklichkeitsfassade verbirgt, erneut zu betonen (neben dem ohnehin schon rezeptionssteuernden dekonstruktiven Motiv des Spiels im Spiel). Denn der Leser ist ja nicht deshalb vor den Kopf gestoßen, weil das Böse triumphiert und ein Mensch stirbt, sondern vor allem deshalb, weil seine euphorische Erwartungshaltung enttäuscht wird, die der eines Spielers beim Kreisen der Roulettekugel gleicht. Alles andere würde den Erfordernissen der Gattung zuwiderlaufen, eine zu starke Empathie oder Identifikation des Lesers mit dem Opfer das (intellektuelle) Spiel und den Unterhaltungscharakter des Krimis gefährden.12 Entscheidend ist also das Moment der Kontingenz, das sowohl das Spiel als auch den Krimi entscheidend prägt. Moralische Wertungen werden hier den ›Spielregeln‹ des Genres untergeordnet. Deshalb sind sie in jedem Krimi grundsätzlich zu hinterfragen.

F AZIT : L ITERARISCHES S PIEL UND D EKONSTRUKTION ALS W EG ZUR R EFLEXION IMPLIZITEN G ENREWISSENS In Die feine Nase der Lilli Steinbeck geht es, nachdem die erste ›Spielfigur‹, Georg Stransky, tot ist, in die nächste Runde. Auch hier übernimmt Steinbeck wieder den Auftrag, das Leben der nächsten ›Spielfigur‹ zu schützen. Ob es ihr gelingt, wird nicht erzählt. Ebenso wird offengelassen, wie das Spiel ausgeht, wer gewinnt. Damit stellt sich der Roman in die Tradition des seriellen Krimis, doch eine Fortsetzung gibt es nicht. Lilli Steinbecks nächster Fall ist ein ganz anderer (Die Haischwimmerin, München 2011). Indem Steinfest mit Hilfe des selbstreferentiellen Spiel-im-Spiel-Motivs den genretypischen Krimi als Spiel entlarvt und zugleich dessen Regeln bricht, führt er den Leser auf eine Ebene der Metareflexion. Darin liegt der ›pädagogische Wert‹ der Dekonstruktionsmomente dieses Romans. Denn auch Schüler sind in der Regel bereits geübte Krimiund Thriller-Rezipienten. Verstöße gegen die Genregesetze registrieren sie sofort und entdecken somit selbsttätig die Regeln der Gattung, die sie ohnehin bereits unbewusst verinnerlicht haben. Wie bereits erwähnt, befriedigt der Krimi tiefe Sehnsüchte nach dem Ausleben jener un-/teilbewussten Energien, die Jacques Lacan das »Andere« nennt. Es ist jedoch auch wichtig, die Mechanismen und Stereotype der Gattung, die diese Faszination erzeugen, zu reflektieren, sei es aus soziokulturellen Erwägungen heraus, um den Schülern eine Teilhabe am »Handlungsfeld Literatur« zu

12 Vgl. Victor Žmegač: Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans, Frankfurt/Main 1971, S. 20.

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ermöglichen,13 auf dem der Krimi allein aufgrund seiner Verbreitung eine eminent wichtige Rolle spielt, sei es aus pädagogischen Gründen: Kinder und Jugendliche versuchen, während der Adoleszenz eine stabile Ich-Identität zu entwickeln und nutzen zu diesem Zweck auch mediale Angebote, die ihnen das Ausleben ›anderer‹, nicht gesellschaftskonformer Teilidentitäten ermöglichen. Die Gefahr eskapistischen Abdriftens in virtuelle Welten ist dabei jedoch auch gegeben. Gerade vor dem Hintergrund der ästhetischen Verschmelzung verschiedener Mediencodes, z.B. des Kriminalromans, des entsprechenden Genrefilms und des Computerspiels, ist eine reflektiert-distanzierte Auseinandersetzung, insbesondere mit Gewaltphänomenen, wie sie zum ästhetischen Repertoire des Krimi gehören, vonnöten. Den Krimi im Unterricht als Spiel zu betrachten und zu analysieren, wozu sich Heinrich Steinfests Roman besonders anbietet, stellt hier eine Möglichkeit dar, Gewalt und bestimmte Konstellationen und Kodierungen von Gut und Böse zunächst als ästhetisch-funktionale Elemente zu untersuchen und sie in einem zweiten Schritt unter ontologischen, das heißt moralischen und pädagogischen Gesichtspunkten zu betrachten. Zu Beginn wurde bereits festgestellt: Kaum ein Genre ist so streng an Regeln gebunden wie der Krimi und kaum eines lebt gleichzeitig so sehr von den Phänomenen Spannung und Kontingenz. Diese merkwürdige Paradoxie prägt auch das Spiel und genau das kann und sollte sich der Literaturunterricht zunutze machen. Denn Kinder und Jugendliche spielen gern und was läge näher, als nach den zuvor gelernten Regeln des Genres diese selbst spielerisch in Form von eigenen Texten zu erproben, vor allem, wenn es sich dabei um eine spannende, von den Schülern auch in ihrer Freizeit oft rezipierte Textsorte handelt.

L ITERATUR Abraham, Ulf und Matthis Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung, 3. Aufl., Berlin 2009. Callois, Roger: »Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch Probleme der Gesellschaft behandelt werden«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, München 1998, S. 157-180. Chandler, Raymond: The High Window, New York 1976.

13 Vgl. Ulf Abraham und Matthis Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung, 3. Aufl., Berlin 2009, S. 13ff.

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Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1983. Lacan, Jacques: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, 1954-55, Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, Weinheim und Basel 1991. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, 3. Aufl., Stuttgart und Weimar 2003. Paefgen, Elisabeth: Einführung in die Literaturdidaktik, Stuttgart und Weimar 1999. Pauldrach, Matthias: Die (De-)Konstruktion von Identität in den Romanen Helmut Kraussers, Würzburg 2010. Steinfest, Heinrich: Die feine Nase der Lilli Steinbeck, München 2007. Suits, Bernard: »Die Detektivgeschichte: Eine Fallstudie über Spiele in der Literatur«, in: Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, München 1998, S. 255-273. Wetzstein, Thomas A., Linda Stenmetz, Christa Reis und Roland Eckert: Sadomasochismus: Szenen und Rituale, Reinbek bei Hamburg 1993. Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya. Kriminalliteratur im Deutschunterricht, Seelze 2007. Žmegač, Victor: Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans, Frankfurt/Main 1971.

Autorinnen und Autoren

Caspar Battegay ist seit 2014 »Ambizione«-Research Fellow des Schweizerischen Nationalfonds an der Section d’allemand der Universität Lausanne. Von 1998 bis 2005 hat er Deutsche Philologie, Philosophie und Jüdische Studien in Basel studiert. Von 2005 bis 2009 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. 2010 erhielt er einen Lehrauftrag an der Karl-Franzens-Universität Graz. Danach war er bis 2014 Assistent am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel. Ausgewählte Publikationen: der Sammelband Schrift und Zeit in Franz Kafkas Oktavheften (Göttingen 2010), herausgegeben mit Felix Christen und Wolfram Groddeck; die Monografie Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830-1930 (Köln u.a. 2011) sowie Judentum und Popkultur. Ein Essay (Bielefeld 2012). Momentan arbeitet er an einem Forschungsprojekt mit dem Arbeitstitel Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und ›jüdische Frage‹. Dustin Breitenwischer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Nordamerikastudien am Englischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er studierte Nordamerikastudien und Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und der University of Minnesota in Minneapolis. Er hat an der Freien Universität promoviert und war Gastwissenschaftler an der Columbia University in New York. Seine Dissertation Die Kunst dazwischen zu sein. Zur Verräumung und Entgrenzung ästhetischer Erfahrung in der amerikanischen Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie es Kunstwerken gelingt, ästhetisches Erfahren ins Erscheinen zu setzen und für den Rezipienten ansichtig werden zu lassen. Gemeinsam mit Claudia Lillge, Jörn Glasenapp und Elisabeth K. Paefgen hat er den Band Die neue amerikanische Fernsehserie. Von Twin Peaks bis Mad Men (München 2014) herausgegeben und dem Band einen Beitrag zu den ästhetischen Prämissen der HBO-Serie Deadwood gewidmet. Des Weiteren veröffentlichte er zur prometheischen Selbstästhetisierung im Rap und zum Möglichkeitsraum des Konflikts in Henry James’ Roman What Maisie Knew. Sein gegenwärtiges Forschungsprojekt unter-

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sucht das poetische und philosophische Potential der Emergenz in der amerikanischen Romantik. Peter Kuon ist Professor für Romanische Philologie (französische und italienische Literaturwissenschaft) an der Universität Salzburg. Er hat in Tübingen und Lyon Romanistik und Germanistik studiert, an der Universität Tübingen promoviert und an der Universität Erlangen-Nürnberg habilitiert. Neben seinen Monografien Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung (Heidelberg 1986), »lo mio maestro e ’l mio autore«. Die produktive Rezeption der »Divina Commedia« in der Erzählliteratur der Moderne (Frankfurt/Main 1993), L’aura dantesca. Metamorfosi intertestuali nei »Rerum vulgarium fragmenta« (Florenz 2004) und L’écriture des revenants. Lectures de témoignages de la déportation politique (Paris 2013) hat er zahlreiche Sammelbände und Aufsätze zu den Forschungsschwerpunkten Holocaust- und Shoah-Literatur, Intertextualität und Intermedialität, zeitgenössische italienische und französische Literatur, kreative Rezeption der Divina Commedia und literarische Utopie veröffentlicht. Julia Menzel ist Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Zuvor studierte sie Germanistik und Rechtswissenschaften sowie Literatur im kulturellen Kontext. Sie arbeitet derzeit an einem Promotionsprojekt zur Verhandlung von Kriminalität in der Illustrierten Familienzeitschrift Die Gartenlaube. Daniel Meßner ist IFK-Junior Fellow Abroad am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Er hat in Regensburg und Wien Geschichte und Kulturwissenschaften/Cultural Studies studiert und war von 2010 bis 2013 Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC-team) mit dem Projekt »Verdaten. Klassifizieren. Archivieren. Identifizierungstechniken zwischen Praxis und Vision« (http://identifizierung.org). In seiner Promotion untersucht er die Erfindung und Einführung von biometrischen Identifizierungstechniken um 1900. Sonja Osterwalder ist zurzeit Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie studierte in Wien und Zürich Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik und promovierte 2008 mit der Studie Düstere Aufklärung. Die Detektivliteratur von Conan Doyle bis Cornwell (Wien 2011). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Kriminalliteratur, die Geschichte der Psychoanalyse und die Schweizer Literatur. Momentan arbeitet sie an einem Projekt über Conrad Ferdinand Meyer und die realistische Literatur. Matthias Pauldrach ist Assistenzprofessor für Fachdidaktik am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. Er hat Germanistik und Katholische Theologie in Bamberg, Passau und Wien studiert und als Gymnasiallehrer gearbeitet. Nach der Promotion mit der Studie Die (De-)Konstruktion von Identitäten in den Romanen Helmut Kraussers (Würzburg 2010) war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gegenwartsliteratur, Medien- und Literaturdidaktik, dabei insbes. Identität und Medien, Kriminalliteratur, Paratexte, Autorschaft und (auto-)biografische Texte im Literatur- und Medienunterricht sowie Dokumentarfilm im Deutschunterricht. Clemens Peck ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg. Er hat in Wien, Salzburg und Berlin Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert, war Junior Fellow und Research Fellow am IFK in Wien und hat mit der Studie Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das »Altneuland«-Projekt (Berlin 2012) promoviert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören literarische Utopien und Utopiediskurse, die deutsch-jüdische Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Literatur und Kultur des Wiener Fin de Siècle sowie Dramatik und Dramentheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. Zur Zeit beschäftigt er sich mit Konfigurationen diplomatischer Dramatik. Florian Sedlmeier ist Juniorprofessor für Nordamerikanische Literaturgeschichte am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin. Er studierte in München Amerikanische und Neuerer Deutscher Literatur und promovierte an den Universitäten Konstanz und Salzburg. Seine Monografie The Postethnic Literary: Reading Paratexts and Transpositions around 2000 (Berlin 2014) untersucht die diskursiven und poetischen Bedingungen einer Vorstellung des postethnisch Literarischen vor dem Hintergrund institutionalisierter Gesichtsschreibungen multikultureller und postkolonialer Literaturen. Er ist Mitherausgeber der Bandes Rereading the Machine in the Garden: Nature and Technology in American Culture (Frankfurt/Main 2014), der die historische und zeitgenössische Relevanz der Dialektik von Technologie und Pastorale in der amerikanischen Kultur diskutiert. Er hat u.a. Aufsätze zum Problem der Historisierung von Ralph Ellisons posthum veröffentlichten Romanmanuskript sowie zum Wechsel-

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spiel von Theatralität und Absorption in Gertrude Steins Essay »Plays« publiziert. Scott Spector ist Professor für Geschichte, German und Judaic Studies am German Department der University of Michigan sowie am Frankel Center for Judaic Studies. 2001/2002 war er Senior Fellow, 2013/2014 Fulbright Visiting Fellow am IFK in Wien. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Kulturgeschichte der zentraleuropäischen Moderne, Fragen deutsch-jüdischer Identität und Kultur sowie die Geschichte der Sexualität. Neben seiner Monografie Prague Territories: National Conflict and Cultural Innovation in Kafka’s Fin de Siècle (Berkeley und Los Angeles 2000) hat er mit Dagmar Herzog und Helmut Puff den Band After the History of Sexuality: German Genealogies with and beyond Foucault (New York und Oxford 2012) herausgegeben. Demnächst erscheint die Studie Violent Sensations: Sexuality, Crime, and Utopia in Vienna and Berlin, 1860– 1914 (Chicago 2015).

Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 September 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie August 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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