Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien [1. Aufl.] 9783839417799

Mit der Digitalisierung haben sich normative und ritualisierte Erzählformen sowie Darstellungsweisen in den medienästhet

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Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien [1. Aufl.]
 9783839417799

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
INTERMEDIALITÄT UND DIGITALITÄT: INTERMEDIALE DISPOSITIVE
Auge, Blick und Bild. Zur Intermedialität der Blickregime
Memento. Zur Präsenz der Toten an der Schnittstelle zwischen Fotografie und Film
Narrative des Digitalen um die Jahrhundertwende. Programmatische und programmierte Imaginationen
DISPOSITIVE DER THEATRALITÄT
Robert Lepage ist (k)ein Zauberer! Intermedialität als theatraler Wahrnehmungsmodus
Intermediale Performances. Vom Umgang mit Medienkonvergenz 1966/2001
BLICKREGIME UND INTERMEDIALITÄT DES AUDIOVISUELLEN
Das Bild und das Sichtbare und das Serielle. Eine Bildtheorie des Fernsehens angesichts des Digitalen
Televisuelle Blickstrategien. Zur Ästhetik von Kulturmagazinen
Fernsehen als fortwährendes Experiment. Über die permanente Erneuerung eines alten Mediums
Von intermedialer Konvergenz zu ‚produsage‘ oder: Die neue Partizipationskultur im Musikvideo
Jenseits von Intermedialität. Rhetoriken des reinen und unreinen Films im Spiegel von Angela Schanelecs Orly (2010)
Audiovisuelle Medien und Intermedialität einst. Konstruktionen kultureller Identität in der ‚Schweizer Filmwochenschau‘
Der akustische Blick. Intermediale Strategien im Hörspiel der Gegenwart
INTERMEDIALITÄT DER SAG- UND SICHTBARKEIT
Von Eisbären, dem Patient Erde, Weltrettungsund Weltuntergangsszenarien. Eine Interdiskurs- und Dispositivanalyse des Medienereignisses ‚Klimagipfel Kopenhagen‘
Zur Politik medialer Dispositive
Mars-Viskurse. De- und Re-Kontextualisierungen von wissenschaftlichen Bildern
Autorinnen und Autoren

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Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber, Georg Christoph Tholen (Hg.) Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien

MedienAnalysen Herausgegeben von Georg Christoph Tholen | Band 13

Editorial Medien sind nicht nur Mittel der Kommunikation und Information, sondern auch und vor allem Vermittlungen kultureller Selbst- und Fremdbilder. Sie prägen und verändern Konfigurationen des Wahrnehmens und Wissens, des Vorstellens und Darstellens. Im Spannungsfeld von Kulturgeschichte und Mediengeschichte artikuliert sich Medialität als offener Zwischenraum, in dem sich die Formen des Begehrens, Überlieferns und Gestaltens verschieben und Spuren in den jeweiligen Konstellationen von Macht und Medien, Sprache und Sprechen, Diskursen und Dispositiven hinterlassen. Das Konzept der Reihe ist es, diese Spuren lesbar zu machen. Sie versammelt Fallanalysen und theoretische Studien – von den klassischen Bild-, Ton- und Textmedien bis zu den Formen und Formaten der zeitgenössischen Hybridkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Georg Christoph Tholen.

Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber, Georg Christoph Tholen (Hg.)

Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien

Publiziert mit Unterstützung des SNF zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Flügelwesen / photocase.com Lektorat: Laura Amstutz, Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber, Georg Christoph Tholen Satz: Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1779-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Nadja Elia-Borer, Samuel Sieber, Georg Christoph Tholen | 9

I NTERMEDIALITÄT UND DIGITALITÄT: INTERMEDIALE DISPOSITIVE Auge, Blick und Bild Zur Intermedialität der Blickregime Georg Christoph Tholen | 19 Memento Zur Präsenz der Toten an der Schnittstelle zwischen Fotografie und Film Michael Mayer | 31 Narrative des Digitalen um die Jahrhundertwende Programmatische und programmierte Imaginationen Irmela Schneider | 47

DISPOSITIVE DER T HEATRALITÄT Robert Lepage ist (k)ein Zauberer! Intermedialität als theatraler Wahrnehmungsmodus Julia Pfahl | 73 Intermediale Performances Vom Umgang mit Medienkonvergenz 1966/2001 Martina Leeker | 87

BLICKREGIME UND I NTERMEDIALITÄT DES AUDIOVISUELLEN Das Bild und das Sichtbare und das Serielle Eine Bildtheorie des Fernsehens angesichts des Digitalen Oliver Fahle | 111 Televisuelle Blickstrategien Zur Ästhetik von Kulturmagazinen Nadja Elia-Borer | 135 Fernsehen als fortwährendes Experiment Über die permanente Erneuerung eines alten Mediums Judith Keilbach, Markus Stauff | 155 Von intermedialer Konvergenz zu ‚produsage‘ oder: Die neue Partizipationskultur im Musikvideo Beate Ochsner | 183 Jenseits von Intermedialität Rhetoriken des reinen und unreinen Films im Spiegel von Angela Schanelecs Orly (2010) Sabine Nessel, Winfried Pauleit | 209 Audiovisuelle Medien und Intermedialität einst Konstruktionen kultureller Identität in der ‚Schweizer Filmwochenschau‘

Kornelia Imesch Oechslin, Mario Lüscher, Nadja Lutz | 223 Der akustische Blick Intermediale Strategien im Hörspiel der Gegenwart Bettina Anita Wodianka | 253

I NTERMEDIALITÄT DER S AG - UND SICHTBARKEIT Von Eisbären, dem Patient Erde, Weltrettungsund Weltuntergangsszenarien Eine Interdiskurs- und Dispositivanalyse des Medienereignisses ‚Klimagipfel Kopenhagen‘ Matthias Thiele | 267 Zur Politik medialer Dispositive Samuel Sieber | 295 Mars-Viskurse De- und Re-Kontextualisierungen von wissenschaftlichen Bildern Ralf Adelmann | 311 Autorinnen und Autoren | 337

Einleitung Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien N ADJA E LIA -B ORER /S AMUEL S IEBER / G EORG C HRISTOPH T HOLEN

Die Zäsur der Medien, deren markantes Beispiel in den 1980er Jahren die ubiquitäre Digitalisierung war, generiert auch in jüngster Zeit neue Dispositive in der Medienkultur. Vom digitalen Fernsehen bis zum ‚Web. 2.0‘ lassen sich neue Formen der Hybridisierung vormaliger Einzelmedien beobachten. Scheinbar stabile Dispositive, die insbesondere den audiovisuellen Medien innezuwohnen schienen, erfahren tiefgreifende Veränderungen, welche neue bzw. neu adaptierte Blickregime und diskursive Felder in einer so vielschichtigen Weise konfigurieren, dass man kaum von einem bloss additiven Zusammenwachsen der Medien, wohl aber von einer mannigfaltigen Zerstreuung und Re-Kombination innerhalb der Mikro- und Makrodispositive der Medien sprechen kann. Als heuristisches Denkbild mag hierfür die Metapher der Interferenz zweckdienlich sein, erlaubt sie es doch, sowohl raumzeitliche Divergenzen wie Konvergenzen in der Umgestaltung der Medienlandschaft zu beschreiben, ohne den allzu schroffen Gegensatz von ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien zu bemühen. Die transmedialen Neu- und Wieder(er)findungen, von denen die Beiträge in diesem Buch handeln, präsentieren sich ihrerseits in einer kaum überschaubaren Formenvielfalt (vgl. Leschke 2010), die das intermediale Zwischenspiel zwischen ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien re-inszeniert und die jeweiligen Modalitäten der Formfindung in den Vordergrund rückt. Mit der digitalen, d.h. gestaltungsoffenen Codierbarkeit verändern sich daher gleichermassen normative und ritualisierte Erzählweisen wie Darstellungsformen in den medienästhetischen Feldern des Fernsehens, der Fotografie, des Films, des Hörspiels und des Theaters (vgl. Paech 1994), aber auch der – zunehmend internetbasierten – audiovisuellen Kommunikation im alltagskulturellen Gebrauch. Doch diese In-Differenz-Setzung der Medientechniken (vgl. Tholen 1999) lässt die dank der Digitaltechnik möglichen „Disponibilität der medialen Verwendungen“ (Tholen 1997: 116, vgl. auch Jenkins

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2006) den Spielraum medialer Oberflächen und Verwendungen gegenüber den vormaligen Einzelmedien nur offensichtlicher werden. Kein Verstummen ehemals analoger Medien ist deshalb zu beklagen. Vielmehr gilt es, die Re-Konfigurationen und Re-Appropriationen des Medialen zu fokussieren. Medienwissenschaftliche Forschungsansätze zu den (audio-)visuellen Medien, welche die Reflexion des Inter-Medialen (vgl. u.a. Elleström 2010; Blättler et. al. 2010; Paech/Schröter 2008; Ochsner/Grivel 2001; Bolter/ Grusin 2000; Müller 1996) sowie die multimedialen Kommunikationsdispositive (vgl. Rajewsky 2002; Dorer 1993) zum Ausgangspunkt nehmen, erörterten die Dazwischenkunft des Medialen (vgl. Tholen 2002) am gegenwärtigen Übergang von ‚analogen‘ zu ‚digitalen‘ Medien. Aktuelle Phänomene der Medienästhetik und Medienkultur lassen sich dementsprechend in und ‚zwischen‘ audiovisuellen Medien beschreiben, d.h. an ihren Schnittstellen, die wiederum Effekt der Digitalisierung selbst sind. Der vorliegende Band schliesst an die Analysen der Verkreuzung medienspezifischer Formen, der Re- und Demontage bisheriger Erzählweisen sowie der Seh- und Hörgewohnheiten an und fokussiert den Prozess der Transformation der Blickregime und ihrer diskursiven Formationen (vgl. u.a. Schade/Wenk 2011; Mitchell 2008; Nancy 2006; Deleuze 2001; Lenger 2001; Derrida 1997). Die Dominanz der digitalen Codier- und Manipulierbarkeit von audiovisuellen Sag- und Sichtbarkeitsfeldern rückt dabei das ‚Re-‘ der Re-Konfiguration der immer schon medienvermittelten Blickstrategien (vgl. Mersch/Hessler 2009; Manovich 2001; Kravagna 1997; Silverman 1996) in den Vordergrund. Denn die ihrerseits einrahmenden, ausschnitthaften und fragmentarischen Darstellungsweisen (vgl. Nancy 1994) führen zur Modulation und Transformation medialer Dispositive und ihrer Diskurse – und damit zu veränderten Wahrheitsregimen, Wissensformationen und Machtbeziehungen (vgl. Foucault 1973; Foucault 1978; Deleuze 2001). Die Beiträge dieses Bandes analysieren aus unterschiedlichen methodologischen und theoretischen Perspektiven sowie anhand von Fallbeispielen die gegenwärtige digitale Zäsur der Medien. Im Blickfeld stehen die ‚sedimentären Überlagerungen‘ von medialen Sicht- und Sagbarkeiten, d.h. die (audio-)visuellen Erscheinungsformen und ihrer Re-Adjustierung zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘, zwischen ‚analog‘ und ‚digital‘. In seinem Beitrag Auge, Blick und Bild. Zur Intermedialität der Blickregime untersucht Georg Christoph Tholen vor dem Hintergrund von Jacques Lacans und Maurice Merleau-Pontys theoretischen Reflexionen über den Chiasmus zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem die Logik der intermedialen Blickverhältnisse. Michael Mayer befasst sich in seinem Beitrag Memento. Zur Präsenz der Toten an der Schnittstelle zwischen Fotografie und Film mit der Trennung und Beziehung zwischen Lebenden und Toten. Ausgehend von der Frage Deleuzes „Gehören die Toten uns, oder gehören wir den Toten?“ dekonstruiert Mayer die gängige Vorstellung, dass Tote nicht angesprochen werden können. Mit Hilfe des Begriffs der Diskonjunktion

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wird das von Deleuze angedeutete Entweder-Oder als prozessuale Verschränkung und Wechselseitigkeit denkbar, veranschaulicht an den Filmen Das grüne Zimmer (François Truffaut, Frankreich 1978) und Smoke (Wayne Wang, USA 1995). Daran wird deutlich, dass Tote uns sehr wohl ansprechen und wir nicht ausschliesslich über sie sprechen, sondern auch mit ihnen. Roland Barthes punctum kann daher als Anspruch der Toten bzw. Rede oder Anrede ihrerseits begriffen werden, was wiederum nicht ohne Konsequenzen für die Frage nach der Bildlichkeit des Bildes bleiben dürfte. Im Mittelpunkt des Beitrags Narrative des Digitalen um die Jahrhundertwende. Programmatische und programmierte Imaginationen von Irmela Schneider stehen die kulturellen Entwicklungen und Diversifizierungen, auf welchen die Narrative des Digitalen um die Jahrtausendwende gründen. Schneider geht hierbei der durch die Milleniums-Erzählungen implizierten ‚Wendezeit‘ anhand von Beispielen aus dem Bereich des Mediums des Drucks nach. Topoi wie die Sein/Schein-Differenz oder ‚next society‘ stehen im Zentrum der Studien „A Manifesto for the Organizations of the 21st Century“, „The Empathic Civilization“ oder der „Wikinomics“-Studie und diagnostizieren eine zunehmende Kluft zwischen „the ‚haves‘ and ‚have-nots‘“ bzw. eine zunehmend gewinnbringende Verknüpfung zwischen digitalen Technologien und dem Kapitalismus entsprechenden ökonomischen Prinzipien. Narrative des Digitalen fungieren dabei, so Schneider, vordergründig als ‚leeres Zentrum‘, in welchem Modellbildungen für zukünftige Gesellschaften entstehen. Als Grundlage dient die Annahme, dass soziale Transformationen und technologische Innovationen bzw. Prozesse der Digitalisierung in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen. Es ist nach Schneider die Asynchronität dieser beiden Modalitäten, die gegenwärtig den blinden Fleck von Narrativen markiert. Julia Pfahl beschreibt in ihrem Beitrag Robert Lepage ist (k)ein Zauberer! Intermedialität als theatraler Warhnehmungsmodus den besonderen Status des Theaters im Verhältnis zum Filmischen, Televisuellen aber auch zum World Wide Web. Das Theater – in seiner Funktion als Containermedium – integriert eine grosse Anzahl anderer Einzelmedien, welche in der Modalität der Performanz jedoch ihre medienspezifischen Qualitäten beibehalten. Indem sie Rahmen und Rahmung als Schlüsselbegriffe theatraler Inszenierungen begreift, zeigt Pfahl anhand von Produktionen Lepages auf, dass sich Theater nicht grundlegend durch den Einsatz fremdmedialer Darstellungsmittel konstituiert, sondern vielmehr durch deren Reflexion, welche jeweils mit Mitteln des Mediums Theater realisiert wird. Martina Leekers Beitrag Intermediale Performances. Vom Umgang mit Medienkonvergenz 1966/2001 erörtert das Konstrukt Intermedialität aus der Perspektive der wissens- und technikhistorischen Genese und der damit verbundenen Diskursivitäten im Hinblick auf intermediale Performances. Beispiele wie Alex Hays 9 Evenings oder Tristan und Isolde von Jo Fabian verdeutlichen, dass Intermedialität als Diskurs stets an je spezifische, wandelbare technikgeschichtliche wie soziokulturelle Momente geknüpft ist. Artikulationen des

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Intermedialen lassen sich gerade in Zusammenhang mit der digitalen Codierbarkeit als Re-Formulierung und Übersetzung von Medienspezifitäten, d.h. als Kulturtechnik der Übersetzung denken. In seinem Beitrag Das Bild und das Sichtbare und das Serielle. Eine Bildtheorie des Fernsehens angesichts des Digitalen entwickelt Oliver Fahle ein Gerüst für eine Bildtheorie der Television und zeigt dabei auf, dass und wie Fernseh- und Bildtheorie in einem engen und wechselseitigen Verhältnis stehen, da gerade im Fernsehen eine starke Reflexion der Bildlichkeit vorherrscht. Seit den 1980er Jahren zeigt das Fernsehen zunehmend eine Selbstreflexion von Bildformen sowie Aneinanderreihungen von Fragmenten, d.h. Meta-Bilder. Ist durch die Konvergenz des Fernsehens mit dem Internet und anderen Medien die Rede vom Ende des Fernsehens stark verbreitet, so zeigt sich an den gegenwärtigen exzessiven Bilddarstellungen und Re-Visualisierungsprozessen in Serien wie The Sopranos, Six Feet Under, Nip/Tuck u.a., dass Serialität als Konzept im Rahmen der Digitalisierung und Konvergenz eingesetzt und Intermedialität selbst immer schon als Serialität konzipiert wird. Die Digitalisierung des Fernsehens steht auch in Nadja Elia-Borers Beitrag Televisuelle Blickstrategien. Zur Ästhetik von Kulturmagazinen im Vordergrund, wobei die intermedialen Stilisierungsmomente televisueller Bildlichkeit anhand von Kulturmagazinbeiträgen aufgezeigt werden. Während andere Formate sich durch einen Exzess visueller Effekte auszeichnen, sind Magazinbeiträge durch einen ritualisierten und standardisierten Aufbau gekennzeichnet. In Fallbeispielen zeigt sich jedoch, dass es in den Beiträgen insbesondere auch um die Bearbeitung und Differenzierung von Bildformen geht. Kulturmagazine bedienen sich in ihrer Funktion als ‚Barde‘ des gesamten Bildervorrats der visuellen Kultur, appropriieren und re-inszenieren diesen. Verfahren der Re-Mediatisierung dienen dabei als Antizipation der windows aesthetic und reflektieren die Möglichkeiten des Bildschirms als Inferface. Judith Keilbach und Markus Stauff hinterfragen in ihrem Beitrag Fernsehen als fortwährendes Experiment. Über die permanente Erneuerung eines alten Mediums die gängige Annahme einer strikten Abgrenzung zwischen klassischem und neuem Fernsehen. Das klassische Fernsehen zeichnet sich in dieser Vorstellung durch eine eindeutige und stabile Identität aus, während die gegenwärtigen Transformationen das neue Fernsehen als komplex und heterogen umschreiben. Ein genauer Blick auf die historische Genese des Mediums verdeutlicht jedoch, dass die Television immer schon fortwährenden Veränderungen ausgesetzt war und Begriffe, welche in Beschreibungen des neuen Fernsehens Verwendung finden, seit jeher konstitutive Merkmale der Television darstellen. Keilbach und Stauff konzipieren das Fernsehen daher als Experimentalsystem, das es ermöglicht, die fortwährende Notwendigkeit einer Transformation des Fernsehens detailliert zu untersuchen. Im Mittelpunkt des Beitrags Von intermedialer Konvergenz zu ‚produsage‘ oder: Die neue Partizipationskultur im Musikvideo von Beate Ochsner stehen die neuen Interferenzen von Produktion, Distribution und Konsumation, welche sich durch die Prä-

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sentation von Musikvideos im Web 2.0 ergeben. Neben der durch die Internet-Portale gegebenen Deplatzierung und der damit einhergehenden Möglichkeit der kontinuierlichen Zirkulation weisen Musikvideos des produsage-Systems auf der ästhetischen Ebene explizit digitale Remediatisierungen auf. Ochsner zeigt anhand zahlreicher Beispiele auf, dass Produzenten in diesem System gleichermassen die Funktion von Produzent, Distribuent und Rezipient zukommt. Begriffe wie remediation oder hypermediacy vermögen diese Prozesse der expliziten Wiederverwendung nicht mehr zu beschreiben. Denn das Internet bringt insbesondere hybride Formen von MusikSpielAnimationMachinimaCommercialSelfmadekurzfilmen, so Ochsner, hervor, bei denen Momente des Ausprobierens, Handelns und der Eigenproduktion von medialen Artefakten im Vordergrund stehen. Sabine Nessel und Winfried Pauleit gehen in ihrem Beitrag Jenseits von Intermedialität: Rhetoriken des reinen und unreinen Films im Spiegel von Angela Schanelecs Orly (2010) den Imperativen des ‚Alten‘ und ‚Neuen‘ in den Medien, insbesondere im Film, nach. In Anlehnung an W. J. T. Mitchells Begriff des imagetext gehen sie davon aus, dass sämtliche Künste immer schon composite arts sowie Medien stets mixed media darstellen. Während zahlreiche Filme wie z.B. Terminator II (1991) oder King Kong (2005) Möglichkeiten der digitalen Technologie ausstellen, zeigt sich die Rhetorik von alt/neu sowie analog/digital in Schanelecs erstem digitalen Autorenfilm Orly (2010) auf gänzlich andere Art und Weise. Der Beitrag Audiovisuelle Medien und Intermedialität einst. Konstruktionen kultureller Identität in der ‚Schweizer Filmwochenschau‘ von Kornelia Imesch Oechslin, Mario Lüscher und Nadja Lutz untersucht die Vorgehensweisen und intermedialen Strategien der ‚gefilmten Zeitung‘ aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Schweizer Wochenschau (SFW), gegründet 1940, sollte authentisch ‚Schweizer Werte‘ vermitteln und im Sinne eines ‚Spiegel des Landes‘ zugleich als ‚Kamera gegen Hitler‘ fungieren. Die Verfasserinnen und der Verfasser reflektieren die Kunst- und Bildpolitik dieses Genres und verweisen auf Strategien der re-konstruierten Authentizität, die sich insbesondere an der Verknüpfung von inhärenten Modi des Spiel- und Dokumentarfilms aufzeigen lassen. Der blinde Fleck des intermedial konzipierten, audiovisuellen ‚Biopic der Schweiz zwischen 1940 und 1975‘ zeigt sich in den Diskursen sich unterscheidender Disziplinen (z.B. Filmwissenschaft oder Geschichtswissenschaft) sowie in seiner ‚imagologischen Bastelei‘ des Anderen. In dem Beitrag Der akustische Blick – Intermediale Strategien im Hörspiel der Gegenwart rückt Bettina Anita Wodianka das Akustische ins Zentrum der Aufmerksamkeit, insbesondere dramaturgische Strategien des Hörspiels und, weiter gefasst, der akustischen Kunst und den Eigenarten einer auditiven Ästhetik. Im Fokus stehen die Tonbandaufnahmen Wörter Sex Schnitt von Rolf Dieter Brinkmann, die sich – betrachtet man sein gesamtes Werk – als hochgradig intermedial erweisen. Dabei steht die Aufnahmesituation als pseudodokumentarischer Akt neben der Rezeption als ‚interplay of senses‘.

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Im Beitrag Von Eisbären, dem Patient Erde, Weltrettungs- und Weltuntergangsszenarien. Eine Interdiskurs- und Dispositivanalyse des Medienereignisses ‚Klimagipfel Kopenhagen‘ untersucht Matthias Thiele die vielschichtigen Aspekte der Televisualität von Fernsehnachrichten, die Bildästhetik und Dynamik des Fernsehbildes sowie die interdiskursive und kollektivsymbolische Strukturiertheit des Mediums. In der Berichterstattung über den Klimagipfel zeigen sich unter Berücksichtigung eines differenzierten Dispositivbegriffs – der sich nicht auf ein Einzel-Medium beschränkt – kollektivsymbolische Kodierungen wie regierungstechnologische Subjektivierungsformen der Television. Das Klimadispositiv präsentiert sich hiermit in Thieles (inter-)diskursiven Analyse gerade im Hinblick auf Kollektivsymbole als Set von Wiederholungsmodalitäten sowie als wiederkehrende Subjektivierungsverfahren, welche sich durch die Rückbindung an Alltagspraktiken der Zuschauer auszeichnen. Samuel Sieber fragt in seinem Beitrag nach der Politik medialer Dispositive. In ihren dispositiven Strukturen betrachtet, treten Medien dabei als politische Ordnungen von Sag- und Sichtbarkeiten hervor. Es ist die Ordnungsmacht einer medialen ‚Polizei‘, die im Feld des Politischen Aussagen und Sichtbarkeiten hervorbringt und regelt. Gleichzeitig werden Interventionen in diese Ordnungen, wie sie in medialen Störungen und Konvergenzbewegungen auszumachen sind, als Momente politischer ‚Teilhabe‘ interpretierbar. Zwischen ‚Polizei‘ und Politik der Mediendispositive zeichnen sich so intermediale Transformationen gerade als strategisch-disponierende Effekte der Mediendispositive aus. Der Beitrag MarsViskurse: De- und Re-Kontextualisierungen von wissenschaftlichen Bildern von Ralf Adelmann fokussiert das produktive Zusammenspiel der Kategorien Faszination und Erkenntnis. Am Beispiel eines Aufsatzes in Science (2007) sowie einem Beitrag aus der Tagesschau (2007) über neue Erkenntnisse des Planeten Mars zeigt Adelmann, dass allererst durch Bilder Wissensproduktion und Evidenz, die jeweils an ästhetische und erprobte Konzepte geknüpft sind, hergestellt werden. Im Rahmen der massenmedialen Verwendung werden die naturwissenschaftlichen Bilder und deren sprachliche Codierungen ihrem Kontext entrissen und viskursiv re-inszeniert. Die Planung, Redaktion, Finanzierung und Herausgabe eines Sammelbandes stellt in Zeiten, in denen Wissenschaft und Forschung vielleicht mehr denn je unter der fortlaufenden Ökonomisierung und Bürokratisierung der Universität leiden, eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Ohne zahlreiche, vielseitige und wohlwollende Unterstützung wäre die Realisierung des vorliegenden Bandes nicht möglich gewesen. Unser Dank gilt deshalb zunächst den Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Bandes, die selbigen der kurzen Bearbeitungszeit zum Trotz mit ihren Texten entscheidend bereichert und geprägt und der Herausgeberin wie den Herausgebern eine angenehme und konstruktive Zusammenarbeit ermöglicht haben. Zu grossem Dank sind wir unserer Mit-Lektorin Laura Amstutz verpflichtet; ihre höchst professionelle Unterstützung (trotz anderweitigen Verpflichtungen in stets hektischen Zeiten) war von unschätzbarem Wert. Beim SNF-Graduier-

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tenprogramm ProDoc: Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz und beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) bedanken wir uns für die Finanzierung der Druckkosten. Dem transcript-Verlag und insbesondere Herrn Gero Wierichs danken wir schliesslich für die freundliche Unterstützung und Betreuung unseres Buchprojekts.

L ITERATUR Blättler, Andreas/Gassert, Doris/Parikka-Hug, Susanna/Ronsdorf, Miriam (Hg.), Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung. Medientheoretische Analyse und ästhetische Konzepte, Bielefeld: transcript Verlag 2010. Bolter, Jay/Grusin, Richard, Remediation. Understanding New Media, Cambridge/Mass.: The MIT Press 2000. Deleuze, Gilles, Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Derrida, Jacques, Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen, Berlin: Merve Verlag 1997. Dorer, Johanna/Marschik, Matthias, Kommunikation und Macht. Public Relations – eine Annäherung, Wien: Verlag Turia & Kant 1993. Elleström, Lars (Hg.), Media Borders. Multimodality and Intermediality, Houndmills/Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Foucault, Michel, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978. Jenkins, Henry (Hg.), Convergence Culture. Where Old Media and New Media Collide, New York/London: New York University Press 2006. Kravagna, Christian (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997. Lenger, Hans-Joachim, Vom Abschied, Bielefeld: transcript Verlag 2001. Leschke, Rainer, Medien und Formen. Zu einer Morphologie der Medien, Konstanz: UVK 2010. Manovich, Lev, The Language of New Media, Cambridge/Mass./London: The MIT Press 2001. Mersch, Dieter/Hessler, Martina (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik ikonischer Vernunft, Bielefeld: transcript Verlag 2009. Mitchell, William J. T., Bildtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Müller, Jürgen E., Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, Münster: Nodus Publikationen 1996.

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Nancy, Jean-Luc: „Die Kunst – Ein Fragment“, in: Jean-Pierre Dubost (Hg.), Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig: Reclam Verlag 1994, S. 170-184. Nancy, Jean-Luc, Am Grund der Bilder, Zürich: Diaphenes 2006. Ochsner, Beate/Grivel, Charles (Hg.), Intermediale. Kommunikative Konstellationen zwischen Medien, Tübingen: Stauffenburg 2001. Paech, Joachim (Hg.), Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994. Paech, Joachim/Schröter, Jens (Hg.), Intermedialität. Analog/Digital. Theorien – Methoden – Analysen, München: Wilhelm Fink Verlag 2008. Rajewsky, Irina, Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002. Tholen, Georg Christoph: „Digitale Differenz. Zur Phantasmatik und Topik des Medialen“, in: Martin Warnke/Wolfgang Coy/ders. (Hg.), Hyperkult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld 1997, S. 99-116. Schade, Sigrid/Wenk, Silke, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript Verlag 2011. Silverman, Kaja, The Threshold of the Visible World, New York/London: Routledge 1996. Tholen, Georg Christoph/Schade, Sigrid (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Wilhelm Fink Verlag 1999. Tholen, Georg Christoph, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Tholen, Georg Christoph/Schade Sigrid/Sieber Thomas (Hg.), Schnittstellen. Basler Beiträge zur Medienwissenschaft. Band 1, Basel: Schwabe Verlag 2006.

Intermedialität und Digitalität: Intermediale Dispositive

Auge, Blick und Bild Zur Intermedialität der Blickregime G EORG C HRISTOPH T HOLEN

1. D IE S PALTUNG VON AUGE UND B LICK . Z UR T OPOLOGIE DES I MAGINÄREN Unzweifelhaft hat die langlebige logozentrische Tradition der Korrespondenz von Auge und Geist, von Denken und Sehen, im zeitgenössischen Denken jene Gewissheit verloren, die ihr im platonischen Diskurs verbürgt schien (vgl. Derrida 1994, 1997). Die antike Epistemologie der Idee als Eidos, der zufolge der bildhafte Schein an der Wesensschau teil hatte, insofern sich die imaginäre Ähnlichkeit von Urbild und Abbild von bloßen Trugbildern zu distanzieren können glaubte, erwies sich bereits nach Nietzsches dekonstruktiver Einsicht als ein phantasmatisches Trugbild, welches sich im Denken Platons jedoch als Bild noch nicht zu reflektieren vermochte. Es gibt mithin eine in der Tradition der Metaphysik unbefragt gebliebene Vorgabe, die ihr eigenes Schema der spiegelbildlichen Entsprechung von Schein und Wesen übersah: Der Schein – Widerpart und Doppelgänger der wahren Idee – störte die vermeintlich objektive Sicht der Wesensschau. Erst dann nämlich, so die platonische Annahme, wenn der Schein seinen illusionären Status, den beispielhaft die Kunst erzeuge bzw. bezeuge, eingestehe, löse sich seine Schattenexistenz auf – zugunsten der reinen Schau des Wesens. Aber auch die neuzeitliche Konstitution der Subjektivität, die seit der Renaissance dank und in der der Perspektive der geometralen Optik sich ihrer selbst zu versichern suchte, blieb diesem Dispositiv des Sehens verhaftet. Doch der so immer schon als gegeben angenommene bzw. hingenommene visuelle Raum, den der Sehstrahl einrahmt, sei er objektiv oder subjektiv bestimmt, ist nicht deckungsgleich mit dem Raum des Visuellen, mit den Dispositiven der Blickregime, die allererst zu sehen geben. Es sind also historische Dispositive eines jeweils medial eingerahmte Sehens, die sich als Simulakra unserer vermeintlich unmittelbaren Wahrnehmung so in uns einzubilden vermögen, dass wir im Akt unseres Wahrnehmens übersehen, dass

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unsere Sinne nicht im unverfälschten Rohzustand wahrnehmen, sondern vermittels apparativer Logistiken der Wahrnehmung. Die Sichtweise der Perspektive ist also nur eine, aber gleichwohl dominante Perspektive (Crary 1996; Schröter 2009). Doch die unser scheinbar originäres Wahrnehmen erzeugenden und historisch sich verschiebenden Felder der Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Hörbarkeit entziehen sich dem Schema von primärem Urbild und sekundärem Abbild. Mehr noch: da der Blick des Menschen als solcher ebenso losgelöst und abgelöst vom Körper des Menschen erscheint wie die artifiziellen Blickregime und Sichtweisen, derer habhaft zu werden unser Blick wiederum begehrt, muss eine medientheoretisch reflektierte Theorie der Einbildungskraft eben diese Distanz nehmende Loslösbarkeit der Blickregime als Wechselspiel von produktiver Imagination und imaginärer Antizipation zu verorten versuchen. Ein Bild, so die klassische Bestimmung, ist die Darstellung oder Vorstellung von etwas oder jemandem auf einer Fläche (Tafelbild, Zeichnung, Graphik, Photographie usw.) oder in plastischer Gestalt, mag diese Gestalt eine materielle (z.B. Marmorstatue) oder eine immaterielle Form (kinematographisches oder computergraphisches Bewegungsbild) aufweisen. Insofern das Bild als Bild etwas abbildet, also nicht die Sache selbst ist, auf die es verweist, ist das Bild ‚nur‘ ein Zeichen und hat in dieser seiner semiotischen Eigenschaft der Verweisung einen ontologisch prekären Status, insofern dieses im Sinne der platonischen Bestimmung onto-logisch bestimmt wird: wegen seiner scheinbaren bzw. vorgetäuschten Ähnlichkeit mit dem Urbild kann sich dieser Metaphysik des Seins zufolge das Bild als Simulakrum verselbständigen und eben dadurch sein eigentliches Nicht-Sein verbergen. Es ist diese – in der Begriffsgeschichte von der Antike über die Renaissance bis zur Moderne dominant gebliebene – Abbildtheorie visueller Repräsentation, deren Gültigkeit in der neueren Bild-Forschung ebenso in Frage gestellt wird wie der referentielle Status von Bildern überhaupt. Im begriffshistorischen Rückblick relativiert sich die perspektivische Sicht des Sehens in nur eine der möglichen symbolischen Formen. Das zweite Krisenmoment in der Reflexion über die Eigenart des Bildlichen verdankt sich der medien- wie kunsthistorischen Aufmerksamkeit auf die verschiedenen technischen Verfahren der Bildgebung: Dank der Computersimulation stehen nicht nur vormalige Techniken der Bilderzeugung und Bildrepräsentation zur Disposition. Vielmehr wird mit der Analyse der Bild-Technologien der – zugleich einrahmende wie entrahmende – Diskurs dessen deutlich, was man nach M. Foucault und G. Deleuze die jeweils normative Skulptur des Sichtbaren nennt. Der Fokus der zeitgenössischen Analysen liegt daher in der Analyse von Blickordnungen, Darstellungs- und Erzählweisen, welche die visuelle Kultur prägen (vgl. Schade/Wenk 2011). Die Spurensicherung der Theorie- und Mediengeschichte des bildvermittelten Sehens gelingt nur in einer dekonstruktiven Re-Lektüre jener Theorien des Sehens, in denen die eingangs erwähnte Kluft zwischen Urbild und Abbild, Idee und Se-

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hen, Eidos und Eidolon, dank der okular fixierten Lichtmetaphysik der philosophischen ‚theoria‘ als Antinomie in der Philosophie der reinen Erkenntnis rumorte und zugleich ausgeblendet wurde (Konersmann 1997). Erst an den Rändern der phänomenologischen Selbstreflexion der Philosophie tauchte in der Geschichte des Denkens der konstitutive Spalt von Auge und Blick auf, d.h. das unvordenkliche Chiaroscuro einer stets medial zäsurierten Wahrnehmung. Die Krise des Bildbewusstseins führte zu einem nichtokularen bzw. ab-okularen Begriff des Bildes.1 Das ‚sonnenähnliche Auge‘ – von Platon bis Descartes Werkzeug und Metapher der höheren Erkenntnis und der Sichtbarkeit des Seins – privilegierte das Sichtbare als Quellpunkt und Ziel des Wissens. Unwissenheit wurde mit Blindheit gleichgesetzt. Die Geschichte und Semantik der europäischen Idee verweist, wie Derrida zeigen konnte, auf diese metaphorische Gleichsetzung von Sehen und Wissen (Derrida 1997a). In der Geschichte des Denkens führt erst an der Schnittstelle von Phänomenologie und Psychoanalyse die Einsicht in das nicht-abbildbare Unsichtbare zu einer Kehre im Bild-Denken: Unser Sehen verdankt sich einem blinden Fleck, den wir notgedrungen übersehen, wenn wir etwas als etwas sehen. Sichtbares zeigt sich nur, wenn Unsichtbares entzogen bleibt. Dieses Paradox der unvollständigen Wahrnehmung verweist auf eine konstitutive Kluft zwischen Auge und Blick. Von dieser ausgehend lässt sich allererst die phantasmatische Figuration bestimmter Blickregime in historischer Perspektive verorten.2 Das Axiom der Phänomenologie, das die Topologie des Imaginären vorwegnimmt, lautet noch präziser: Das Sichtbare als Sichtbares kann einem Horizont nur entspringen, wenn sich Nichtsichtbares zugleich zurückgezogen hat, damit etwas Sichtbares als solches gegeben, d.h. hergestellt und vorgestellt werden kann. Schon hier wird also der Horizont jedweder Wahrnehmung als ein raumzeitlich unverfügbarer Einschnitt bestimmt. Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums, ergänzt durch seine Meditationen zur

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Vgl. hierzu meinen Kommentar zu den diesbezüglichen Schriften von Maurice Merleau-Ponty, Jacques Derrida und Jacques Lacan (Tholen 2002: 61-91). Das Phantasma als Bild-Schirm (in jedem Wortsinn) operiert als zugleich einrahmende wie entrahmende Unvollständigkeit der Wahrnehmung und bildet so den Rohstoff der Kunst, die nach dem Wechselspiel von Aisthesis und Medialität fragt. Von der nicht stillzustellenden Interferenz ebenso haltloser wie hartnäckiger Blickbeziehungen und Sichtweisen handelt die zeitgenössische Kunst, indem sie die intermedialen Tendenzen der Hybrid-Kultur zum Ausgangspunkt ihrer performativen bzw. perforierenden Distanznahmen nimmt. Video-, Theater- und multimediale Installationen reflektieren, auch und gerade in Bezug auf die digitale Codierbarkeit vormaliger Medienformen, die Bruchstellen in den Vorbildern und Selbstbildern, die sich uns bzw. wir uns eingebildet haben. Die memoriale Funktion der Künste besteht überdies darin, an die gedächtnisbildende Macht dieser Einbildungen zu erinnern und sie zugleich einer nicht besetzbaren Leerstelle auszusetzen.

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Optik, hilft uns, die chiastische Verkreuzung von Auge und Blick, von imaginären und symbolischen Formen, genauer zu bestimmen: Der Spiegel, so Lacans Einführung zur Topologie des Imaginären, täuscht und enthüllt, verspricht und demontiert zugleich. Narziss, die mythische Figur, die der Faszination der Spiegelung entspringt, fällt dieser zum Opfer und – mit tödlichem Ausgang – in sich zusammen. Doch die Fallstricke und Manöver der Spiegelfechterei, deren unzählbare Beispiele die Kulturgeschichte bezeugt, widerstehen vorschneller Deutung. Denn die Macht der Bilder ist ebenso bestrickend für die Selbst-Setzung des Subjekts wie notwendig für dessen sich in den Bildern zugleich vor-bildlich artikulierende Sprachwerdung. Eben deshalb verzweigt sich Lacans Rückkehr zu Freud zunächst an Spiegel-Spielen, an denen sich der so lange übersehene Zwischenraum von Sprache und Bild, Signifikant und Signifikat, wiederfinden lässt – jenseits des ‚Totalisierungszwang des Spiegels‘, dessen Textur Lacan mikrologisch analysiert hat. Der Widerspruch, den das Imaginäre selbst ausgestaltet, besteht darin, dass der Wunsch, die Ähnlichkeit mit dem Spiegelbild zu gewähren, nur gelingt, wenn dessen Andersheit oder Fremdheit übergangen wird. Eben in diesem momenthaften Augenblick aber distanziert sich der Blick von sich selbst: denn er vollzieht sich nur als ein vor-weg-nehmender Akt, als eine gestaltfixierte, imaginäre Antizipation. Die Zeitlichkeit des Imaginären ist im Modus der vergangenen Zukunft aufgespalten, d.h. die imaginierte Anwesenheit differiert von sich selbst im zeitlichen Modus der Vorzukunft, da diese defintionsgemäß als das, was hinzukommt, stets offen und uneinholbar bleiben muss. Die jede Selbstpräsenz verstellende bzw. aufschiebende Alterität ist ein Auf-mich-Zukommen durch den Blick des Anderen, die mich von mir absehen lässt. Dies markiert die Paradoxie des Imaginären, in dem das Symbolische immer schon interveniert. Von diesem Horizont, den Lacan die Fuge zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären in der Konstitution des Realen nennt, handelt auch seine in verschiedenen Texten wiederkehrende Meditation über die Optik, die uns einen weiteren Aspekt der Topologie der Blickregime zu situieren hilft (vgl. Lacan 1978a; 1978b). Aus der Hypothese der mathematisch fundierten Optik folgt zunächst, so Lacan, dass zu jedem gegebenen Punkt eines realen Raums nur ein ihm entsprechender Punkt in einem anderen Raum korrespondiert, welcher der imaginäre Raum genannt wird. Wenngleich verschieden, so treten beide Räume doch zusammen auf. Aus dieser Koinzidenz wiederum ergibt sich der verschiedenartige Status optischer Bilder: Die rein subjektiven Bilder, wie etwa das Phänomen des Regenbogens, werden virtuell genannt, während die anderen Bilder, die sich wie Objekte verhalten und beschreiben lassen, im Diskurs der Optik reell genannt werden. Von diesen reellen Bildern als reellen Objekten wiederum können virtuelle Bilder gegeben werden. Hierzu müssen die beiden Abbildungen des von Lacan verwendeten Experiments mit dem umgekehrten Blumenstrauß, die für das Verständnis der Kategorie des Imaginären wichtig sind, erläutert werden:

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Abbildung 1: Das Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß

Quelle: Jacques Lacan, Das Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß, Abb. 1, in: ders., Freuds technische Schriften [Das Seminar von Jacques Lacan, Buch I], Olten und Freiburg i.Br. 1978a, S. 103.

Was zeigt diese erste Abbildung? Zunächst, so Lacan, ein Axiom der Optik: „Ein sphärischer Spiegel [= Halbkugel] produziert ein reelles Bild. Jedem Punkt eines Lichtstrahls, der von einem beliebigen Punkt eines in bestimmter Entfernung, am besten in der Zentralebene der Kugel aufgestellten Objekts ausgeht, entspricht auf derselben Ebene, durch Konvergenz der auf der Kugeloberfläche reflektierten Strahlen, ein anderer Lichtpunkt – was ein reelles Bild des Objekts ergibt.“ (Lacan 1978a: 102)

Wie bei allen optischen Instrumenten überschneiden sich die Strahlen nur näherungsweise – für Lacan schon ein erstes Gleichnis des Schwankens imaginärer Identifikationen und ihres Oszillierens zwischen hartnäckigem Haften und haltloser Beweglichkeit: „In diesem Augenblick, während Sie den realen Strauß, der versteckt ist, nicht sehen, sehen Sie, wenn Sie sich im richtigen Feld befinden, wie ein sehr seltsamer imaginärer Strauß erscheint, der sich genau über dem Hals der Vase bildet. Da sich Ihre Augen entlang derselben Linie verschieben können, haben Sie ein Gefühl von Realität, obgleich Sie spüren, dass irgendetwas sonderbar, verschwommen ist, weil sich die Strahlen nicht genau überschneiden. Je weiter Sie entfernt sind, desto mehr spielt die Parallaxe hinein, desto vollkommener wird die Illusion sein.“ (Lacan 1978a: 104)

Das Besondere nun an dieser ersten Abbildung und des ihr zugehörigen Apologs über die Funktion des Imaginären wird deutlich, wenn wir die linke Seite der zweiten Abbildung betrachten.

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Abbildung 2: Vereinfachtes Schema der zwei Spiegel

Quelle: Jacques Lacan, Vereinfachtes Schema der zwei Spiegel, Abb. 2, in: ders., Freuds technische Schriften [Das Seminar von Jacques Lacan, Buch I], Olten und Freiburg i.Br. 1978a, S. 103.

Da das Experiment es erlaubt, die realen und virtuellen Objekte zu vertauschen, also – beispielsweise – die verborgenen, realen Blumen durch eine Vase zu ersetzen, sehen wir im sichtbaren Feld eine imaginäre Vase: Metapher für das Ganzheit und Konsistenz versprechende Körperbild, Zeichen der verfrühten imaginären Beherrschung des Körpers gegenüber seiner körperlichen, motorischen Unvollkommenheit: Doch das „Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß“ metaphorisiert als Denkbild noch mehr: Das reelle, von dem hypothetischen Auge fixierte Bild in diesem Schema steht für die Prävalenz des gestaltgebenden Körperbildes als Ideal-Ich, dessen Versprechen von Dauerhaftigkeit und Identität die konstitutive Folie für die Wahrnehmung realer Objekte darstellt. Das Subjekt stellt Bilder neben reale Objekte und gibt den letzteren eine imaginäre Ordnung, indem es die Objekte in diese Ordnung einschließt oder ausschließt, kurzum: lokalisiert. Überdies symbolisiert das in der Abbildung oben ‚herumhängende‘ Auge den philosophischen Diskurs des transparenten bzw. transzendentalen Blicks: Das fixierte Auge steht hier für das statuarische Phantasma einer Wissenschaft, die, so Lacan, das Subjekt auf ein Auge reduziert. Doch da die imaginäre Funktion des Ideal-Ichs, sich seiner Realität als Bild zu vergewissern, sich nicht selbst genügt, sondern nur über das von ihm unterschiedene virtuelle Ich-Ideal im Spiegel auf sich zurückkommt, d.h. sich mit den in ihrer kulturellen Fragilität unausgeglichenen Vor-Bildern konfrontiert sieht, zeigt uns erst die zweite Abbildung genauer, was unter der virtuellen, verschiebbaren Struktur des imaginären Bildes und seiner Einbettung in die symbolische Ordnung zu verstehen ist.

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In der ersten Abbildung nämlich, in der das reelle Bild in seiner Konsistenz nur in einem bestimmten Feld des realen Raums vor dem sphärischen Spiegel zu sehen war, fehlten der ebene Spiegel und die virtuellen Bilder. Dieser ebene Spiegel nun vermischt reale und virtuelle Räume und markiert so die imaginäre Funktion beim Menschen. Da der Spiegel im zweiten Schema instabil, beweglich und verschiebbar ist, mithin die Bilder sich vom Rand her anamorphotisch verzerren lassen bzw. ganz verschwinden können, andere wiederum, je nach Winkeleinstellung, gar nicht erst auftauchen, zeigt uns diese Verschiebbarkeit als solche die Intervention des sprechenden Anderen, das Fort-Da-Spiel der Artikulation des Symbolischen, d.h. das Subjekt in seiner Konstitution als Dialektik wechselseitiger Anerkennung von in sich selbst endlos widersprüchlichen bzw. nomadisch ertastenden Ansprüchen und Vorlieben, die, da alle unsere Vorlieben eine virtuelle, d.h. eine (sich) versprechende Dimension haben, ungewiss und prekär bleiben: „Denn der Andere, in dem der Diskurs seinen Platz hat, der Andere, der stets latent da ist in der Distanz um Spiegel-Bild, ist dies [noch] nicht, solange er sich nicht bis in die Spiegelbeziehung in ihrem reinsten Moment hinein erstreckt: in der Geste, durch die das Kind vor dem Spiegel, indem es sich zu dem umwendet, der es hält, ihn mit dem Blick zum Zeugen beruft […].“ (Lacan 1966: 678)

Die Epoche bzw. Epoché dieser Einklammerung bzw. Ausklammerung des Blicks ist keine kurzlebige. Sie findet sich in der antiken Optik und Augenmetaphorik ebenso wie in der Perspektive der Renaissance. Erst in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wird deutlich, wie nachhaltig das Phantasma von Auge, Geist und Idee auch und gerade in der Theoriegeschichte der Medien war. Und dies mag auch erklären, warum erst mit der Kategorie des Imaginären ein diskursives Feld entsteht, welches erlaubt, nunmehr eine Geschichte kulturell unterschiedlicher Diskurse über das Sehen schreiben zu können. Denn das Fehlen der Imago als Kategorie in der antiken Erkenntnistheorie ist der phantasmatischen Abwehr des Auges geschuldet, das gleichsam seine Nicht-Begegnung mit dem Blick aufschiebt, indem es den Blick nur als organischen oder originären Teil seiner selbst imaginieren konnte. Die geometrale Perspektive ist, wie wir seit Foucault wissen, die imaginäre Bedingung der Dispositive der Macht, deren Materie die Sichtbarmachung darstellt: sie erzeugt Skulpturen der Sichtbarkeit und Sagbarkeit. Das panoptische Dispositiv des Bentham’schen Gefängnisses – Sehen, ohne gesehen zu werden – ist nur das berühmteste Beispiel im Register des Sehens (Deleuze 1987). Die Blickregime intervenieren als Vorgabe im Imaginären, welches seinerseits zwischen Gestaltgebung und Gestaltenzug oszilliert. Die im Imaginären selbst sich artikulierende Form des Auftauchens und Schwindens von Gestalten und Figurationen ist die an sich selbst unspiegelbare symbolische Ordnung, die sich als solche dem Modus spekulärer Identifikation entzieht. Diesen Entzug wiederum zu umschreiben motiviert die Frage der Einbil-

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dungskraft, die sich in das Geflecht des Sichtbaren, Hörbaren usw. einschneidet, Schnittstellen des Unsichtbaren im Sichtbaren usw. markiert. Denn es gibt keinen Inhaber oder Eigentümer des Blicks als dem immer schon verlorenen, genauer: verloren geglaubten Objekt. Es ist „das Spezifikum des Blicks, dass er, anders als alle anderen Objekte, in denen das Subjekt die Abhängigkeit erkennen kann, in der es im Register des Begehrens steht, unfassbar ist. Eben deshalb wird er, mehr als jedes andere Objekt, verkannt, und vielleicht aus genau diesem Grund auch gelingt es dem Subjekt auf so glückliche Weise, seinen eigenen schwindenden und punktförmigen Zug in der Bewusstseinsillusion zu symbolisieren, sich sich sehen zu sehen, in der der Blick elidiert ist [...].“ (Lacan 1978b: 90)

Der Blick gerät außer sich. Die Schwierigkeit, dieses unheimliche und unheimatliche Außer-sich-Geraten der Blickregime (vgl. Tholen 1995) zu akzeptieren, ließ im postmodernen Kontext nicht nur die Frage nach dem kategorialen Status des Unsichtbaren als Rand des Sichtbaren – innerhalb der medialen und performativen Künste – virulent werden. Grundlegender noch geht es um eine Rückbesinnung auf den epistemologischen Erkenntnishorizont der Einbildungskraft selbst, in der das Verhältnis zwischen Imaginärem und Imagination als Inbegriff der aisthetischen und ästhetischen Antizipation mittels der hier skizzierten Theorie der Blickregime präzisiert werden müsste. So verweist eine Neu-Bestimmung von Bildlichkeit, Imagination und Wissen, wie u.a. Lobsien (1990) in seiner an Kant und Husserl anschliessenden „Phänomenologie der Vorstellungsbildung“ gezeigt hat, auf eine konstitutive Ambiguität der Imagination in ihrem Verhältnis zur Wahrnehmung: Die Imagination als Vermögen der Antizipation und des Entwerfens erschließt allererst der Wahrnehmung bzw. dem Wahrnehmungswissen das Feld möglicher künftiger Hinsichten und Ansichten. Das Wahrnehmen hingegen – als unmittelbare, d.h. hier gegenwartsfixierte bzw. ko-präsente Einheit von Ausdruck und Sinn – weiß nichts von der produktiven Konstitution und Modifikation sinnaufschiebender Signifikanten. Wahrnehmen vollzieht sich als jeweils vergegenwärtigende Teilansicht. Die Funktion der Imagination ist also ähnlich derjenigen des Signifikanten, supplementär zu agieren zur Wahrnehmung. Das heißt: Imagination prozediert als antizipative und abstrahierende Re-Modifikation von Wahrnehmungsakten und -objekten. Dieser nur raumzeitlich und nicht zeiträumlich zu verstehende ‚Riss in der Gestaltung‘, den die Einbildungskraft ermöglicht (Heidegger 1980; 1987; Bahr 1994; Derrida 1992; 1997b) ist als Ethik des An-Ästhetischen, näherhin als vorgängiger Entzug im Ästhetischen selbst, zu verorten (Lyotard 1994). Der ‚modus aestheticus‘, der mit dem ‚modus logicus‘ der begrifflichen Erkenntnis in Kants Kritik der reinen Vernunft widerstreitet bzw. dieser gegenüber sekundär bleibt, wird mit der Kritik der Urteilskraft aufgewertet und als kritisches Reflexionsvermögen neu bewertet. Die Analytik

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des Erhabenen transformiert sich in der postmodernen Re-Lektüre der Schriften Kants zu einer Analytik des Undarstellbaren (Escoubas 1990; Lyotard 1994), welche die oben skizzierte Medialität der Imagination neu bestimmen lässt. Die Einbildungskraft ist also neu zu bestimmen nicht als unveränderliche ‚Topik‘ des Erkenntnis- und Reflexionsvermögens, sondern als tordierende ‚Tropik‘ im Spiel der Begriffs- und Gestaltbildung (Tordieren im Sinne von Drehen, Ver-Wenden, Verschwinden innerhalb des formenden Gestaltens), mithin als ungegenständlicher Entzug von Gegenständlichkeit zwischen Begriff und Anschauung (Escoubas 1990). Das ästhetische, reflektierende Urteil ist in diesem Sinne als intermediäre Schematisierung zu verstehen, als Spiel von Als-Ob-Simulationen im Prozess des Vor-Bildens und Nach-Bildens. Überdies ist es diese mimetische Eigenart der Imagination, die im digitalen und virtuellen Zeitalter in epistemologischer Hinsicht die neueren Konzepte der ‚Re-Mediation‘ (Bolter/Grusin 2001) sowie des ‚PostPhotographischen‘ (u.a. Mitchell 2001) und der ‚Metaphorologie der intermedialen Übersetzbarkeit‘ von Medienformen in begriffsgeschichtlicher Hinsicht ermöglicht bzw. freisetzt.

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Hybride Verkreuzungen und transmediale Überlagerungen von Blickregimen werden, wie Theoretiker der Intermedialität gezeigt haben, zu dem die Postmoderne von der Moderne unterscheidenden bzw. diese fortschreibenden Merkmal. Intermediale Performances verwenden intermediale Gattungspassagen, die sie der audiovisuellen Massenkultur entnehmen (Michael 2010) bzw. wegnehmen, in einer ästhetisch noch auslotenden Erkundung von möglichen Spiel-Räumen zwischen den Gattungen, Stilen und Darstellungsweisen. Jedoch ist nicht das additive Montieren oder gleichgültige Samplen von endlos archivierbaren Resten oder Fragmenten das innovative Moment. Vielmehr bedeutet Fragmentarisierung imerhalb der postmodernen Ästhetik die Demontage bisheriger Erzählformen, Seh- und Hörgewohnheiten und gleichzeitig die Erfindung ungewohnter Bilder, Töne und Texte. In diesem Sinne ist, wie Hans-Thies Lehmann (1999) gezeigt hat, die Theatralität des post-dramatischen Theaters und der anderen grenzgängerischen Künste genuin inter-medial zu nennen. In der Distanznahme zu sozialen wie ästhetischen Normen und Vorgaben kristallisiert sich – von den Videoinstallationen der 70er Jahre über die Tanzchoreographie der 80er Jahre bis hin zu den jüngsten Formen des „postspektakulären Theaters“ (Eiermann 2009) – eine Dezentrierung der kulturindustriellen Körper-Bilder heraus. Postmoderne Performanz operiert im Sinne der o.g. Bestimmung der Einbildungskraft als Vor-weg-nahme, d.h. als Kritik und Antizipation der medial geprägten Vorbilder und Selbstbilder, die in ihrer Re-Inszenierung und ReFlexion erst jene Dispositive der Blickregime, denen sie sich verdanken, zu

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ex-ponieren vermögen. Die bildgebende Möglichkeit, nach Belieben einrahmen, einschneiden und verschieben zu können, vermag damit auch die Vorläufigkeit und Haltlosigkeit der Bild- und Hörwelten der Massenkultur zu dezentrieren. Mit den neuen Medien wird also der konstitutive Ab-Ort der Einbildungskraft in den Künsten selbst thematisch. Die Machinationen der Künste konfigurieren mediale Einschnitte und hybride MedienInstallationen, dank derer sich die Fragwürdigkeit von Blickbeziehungen und Erzählweisen verorten lässt – als haltlose oder vorläufige Oszillationen zwischen Gestaltgebung und Gestaltentzug (Tholen/Duyvendak 2010). Unter digitalem Vorzeichen finden wir also eine genuin fragmentarisierende Ästhetik (Nancy 1994) vor, genauer: eine Verschiebung von Blickregimen dank ihrer genuin medialen Zitierbarkeit. ‚Dubitativ‘ (Lunenfeld 2002), d.h. zweifelnd und zugleich dem Zweifel anheim gegeben, werden auf diese Weise die Blickregime von der Photographie bis zum Film und zur Computergraphik, nicht zuletzt in den rein substitutiven bzw. kommutativen Eigenart der Programmierungsvielfalt des digitalen De- und Remorphing, welches die Erkenntnismittel der re-produktiven Einbildungskraft erweitert. Die Schnittstelle zwischen Mensch und Medium jedoch bleibt auch unter digitalem Vorzeichen eine, die nur in Gestalt imaginärer Interfaces zugänglich ist. Sie als Symbiose von Technik und Subjekt zu situieren, ist ein ebenso metaphorischer Kurzschluss wie das apokalyptische Bild, dass der Mensch sich durch elektronische Medien und Prothesen von sich, von seiner Zwischenleiblichkeit, entferne oder gar dieser verlustig ginge. Vielmehr passiert die metaphorische Unbeständigkeit im digitalen Medienverbund dergestalt, dass der intermediale Zwischenraum als projektive Oberfläche selbst sichtbar und manipulierbar wird: Peter Greenaways Filme (vgl. Spielmann 1998), um nur ein bekanntes Beispiel zu erwähnen, stellen diese Inter-Faces ebenso aus wie Video- und Performance-Installationen, die zur postdramatischen Ästhetik des Theaters geführt haben. Mit der digitalen und das heißt in einem präzisen Sinne ‚theatralen‘, platzverweisenden ReInszenierbarkeit von Blickregimen und Hörweisen zerstreuen und unterbrechen sich also selbst bestimmte narrative Formen der linearen bzw. geschlossenen Erzählung. So ermöglicht die postdramatische Dekonstruktion der durch geronnene Vorbilder verfestigten und normierten Figurationen eine nomadische bzw. heuristisch ertastende Offenheit für die Vorzeichen dessen, was anders sein könnte. Im Schwebezustand dieser Fluchtlinien sind wir nicht verloren, sondern gewinnen ein um vorläufige Haltepunkte gleichschwebend aufmerksames Gespür für neue Horizonte der Einbildungskraft.

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Lyotard, Jean-François, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München: Fink 1994. Michael, Joachim, Telenovelas und kulturelle Zäsur. Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika. Bielefeld: transcript Verlag 2010. Mitchell, William J. T., The Reconfigured Eye. Visual Truth in the PostPhotographic Era, Cambridge/Mass.: The MIT Press 2001. Nancy, Jean-Luc, „Die Kunst – ein Fragment“, in: Jean-Pierre Dubost (Hg.), Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig, Reclam 1994, S. 170-184. Schade, Sigrid/Wenk, Silke, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript Verlag 2011. Schröter, Jens, 3D: Zur Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes, München: Fink 2009. Spielmann, Yvonne, Intermedialität. Das System Peter Greenaway, München: Fink 1998. Tholen, Georg Christoph, „Der befremdliche Blick“, in: ders./Martin Sturm/ Rainer Zendron (Hg.), Phantsamen und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, Linz: Residenz 1995, S. 11-26. Tholen, Georg Christoph, „Verlust (in) der Wahrnehmung“, in: ders., Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 61-91. Tholen, Georg Christoph/Duyvendak, Jan, „Bilderwelten und Blickregime“, in: Bundesamt für Kultur (BAK), Schweizerische Eidgenossenschaft (Hg.), Broschüre des Bundesamtes für Kultur, Bern 2010, S. 74-95.

Memento Zur Präsenz der Toten an der Schnittstelle zwischen Fotografie und Film M ICHAEL M AYER „Die Toten leben ganz eigen Sie reden so still und klar.“ LIED

1. „Gehören die Toten uns, oder gehören wir den Toten?“ (Deleuze 1991: 102). Nicht weniger als die Plötzlichkeit dieser Frage, mit der Gilles Deleuze den Leser überfallartig konfrontiert, überrascht auch ihr Inhalt. Sie irritiert noch auf den zweiten Blick. Die Alternative, in die sie zwingt, scheint abwegig. Immerhin gilt doch die bloße Möglichkeit des ‚Gehörens‘ an den Begriff einer Person gebunden, einer natürlichen oder juristischen, der überhaupt etwas ‚gehören‘ kann. Ihre Existenz, ihre Präsenz und Repräsentierbarkeit müsse gegeben und vorgegeben sein, um von Besitz, Eigentum, der Zu- und Aneignung von Inventar, Objekten und Immobilien sprechen zu können. Begriff einer Person, die im System des Rechts und der zivilen Rechtsordnung abbildbar wäre. Die Toten jedenfalls scheinen kein Recht und keine Rechte zu haben, keine Menschen-Rechte und noch nicht einmal das, was Hannah Arendt einmal schlichtschön das „Recht, Rechte zu haben“ (Arendt 1966: 614) nannte. Deleuzes Frage scheint damit vorentschieden. Wenn überhaupt, gehören die Toten ‚uns‘, die wir alle Voraussetzungen erfüllen, um rechtsgültig im Besitz von Besitzrechten sein zu können. Und doch: Man spürt, die Dinge werden kompliziert. Denn Tote sind keine Dinge. Weder als physischer Rest, als Leichnam, dem all die Liturgien der Trauer und Bestattung, der Ehrerbietung gelten, noch als metaphysisches Substrat des kollektiven oder individuellen Gedächtnisses. Sie sind keine Gegenstände unter anderen, auch wenn der Tote, die „teure Leiche“, wie Freud einmal sagte (Freud 2000: 488), sich nicht wehren würde, der gegenständlichen Ordnung zuge-

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schlagen zu werden. Thomas Macho fand hierfür den glücklichen Ausdruck „Leichenparadox“ und sprach von jenen „Dingmenschen, die als Organe des sozialen Körpers versagen, indem sie nicht angesprochen und motiviert werden können, gleichwohl als Individuen aber lokalisierbar und identifizierbar bleiben“ (Macho 1995: 296). Doch wo steht eigentlich geschrieben, dass Tote nicht angesprochen werden können? Wer schreibt vor, dass wir nur über sie und nicht auch mit ihnen sprechen und zuweilen auch sprechen müssen? Sind sie, die „Dingmenschen“, nicht insoweit ‚Menschen‘, als sie die Anrede, den Anruf, das Flehen und Bitten gerade nicht verweigern? Und geben sie nicht manchmal sogar Antwort? Haben sie, die Toten, die schon gestorbenen Lebenden, nicht auch einen Anspruch an uns, die Lebenden, die noch lebenden Sterblichen (vgl. Derrida 1995: 183f, 275)? „Billig“, so Walter Benjamin, sei „dieser Anspruch nicht abzufertigen“ (Benjamin 1980: 694). „Gehören die Toten uns, oder gehören wir den Toten?“ Deleuzes Frage ist damit wieder offen, so verstörend wie zu Beginn. Doch was wäre, wenn die Frage gar nicht entschieden werden kann, wenn sie kein „entwederoder“ erzwänge, sondern als Frage die angezeigte Alternative gleichsam aussetzte und in der Schwebe ließe? Was, wenn die diskrete Initiative des „oder“ auf einen verborgenen Konnex anspielte? Wenn die grammatische auf eine semantische Konjunktion vorausdeutete, die die Trennung zwischen den Lebenden und den Toten als eine Beziehung ganz eigener Art ankündigte? Als eine Diskonjunktion (vgl. Mayer 2011a), die deren Trennung als Beziehung, ihre Beziehung als Trennung realisierte? Was dann „gehören“ überhaupt hieße? Halten wir vorab fest, dass die Frage Gilles Deleuzes ihre verstörende Energie aus einer Auseinandersetzung mit einem Film François Truffauts bezieht, der unter dem Titel La Chambre Verte (dt. Das grüne Zimmer) 1978 in die Kinos kam.1 Basierend auf vor allem einer Erzählung Henry James (James 1948), handelt er von dem Journalisten Julien Davenne – dargestellt von Truffaut selbst −, der das Verhältnis zu den Toten gegen das zu den Lebenden stellt. Der Film spielt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mit seinem massenhaften, durch die überkommenen Ritualformen nicht mehr zu bewältigenden Sterben in den Stellungsgräben. Der Vorspann deutet das an, indem er das Konterfei Davennes in Uniform mit dokumentarischem Bildmaterial von Kriegsschauplätzen unterlegt. Neben dem Tod von Freunden und Kameraden ist es vor allem aber das Ableben seiner Frau Julie, wodurch sich Davenne mehr und mehr dem Leben verweigert. Obwohl schriftstellerisch talentiert, gibt er sich obsessiv dem Verfassen von Nachrufen für eine kleine Provinzzeitschrift hin. Die sich schüchtern abzeichnende Liebe zu Cécilia Mandel (Nathalie Baye), in der er eine Geistesverwandte zu erkennen glaubt, scheitert an seiner Rigorosität.

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François Truffaut: Das grüne Zimmer, Frankreich 1978.

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Cut 1 – Truffaut: Das grüne Zimmer: In der ersten Sequenz des Films sieht man Davenne, wie er einem Freund, Gérard Mazet (Jean-Pierre Moulin), beisteht, der seinerseits gerade seine Frau Geneviève verlor und sich verzweifelt weigert, den Sarg schließen und den aufgebahrten Leichnam abholen zu lassen. Der seelsorgerische Zuspruch des anwesenden Priesters, der die Auferstehung von den Toten am Tag des Jüngsten Gerichts zum Trost feilbietet, erreichen den Trauernden nicht. Und er empört Davenne: Wer einen geliebten Menschen verlor, wünsche ihn „jetzt“ wiederzusehen und nicht erst am Ende aller Zeiten. Nachdem Davenne den Priester wie die anwesende Trauergemeinde kurzerhand aus dem Totenzimmer geworfen hat, wendet er sich direkt an Mazet: „Für die Gleichgültigen sind Genevièves Augen jetzt geschlossen. Aber für Sie, Gérard, bleiben sie für immer offen. Denken Sie nicht, Sie hätten sie verloren. Denken Sie vielmehr, dass Sie sie jetzt nicht mehr verlieren können. Widmen Sie ihr all ihre Gedanken, alles, was Sie tun, Ihre ganze Liebe, und Sie werden sehen, dass die Toten uns gehören, wenn wir bereit sind, ihnen zu gehören. Glauben Sie mir, Gérard, unsere Toten können weiterleben.“ Abbildung 1: François Truffaut: Das grüne Zimmer

Quelle: Filmstill

Eine Einlassung mit Folgen: Noch vor allem anderen arbeiten Davennes Worte am Sinn des ‚Gehörens‘ selbst, überführen das Entweder-Oder, das Deleuzes Initialfrage zu charakterisieren schien, in die Form einer Verschränkung, einer Wechselseitigkeit, die die Elemente ihrer Beziehung nicht als schon gegeben voraussetzen muss. Das ‚Gehören‘ als Besitzanzeige, dem die Beziehung zum Objekt nur mehr akzidentiell ist, wird substituiert durch ein ‚Gehören‘ als Zusammengehörigkeit, der die Beziehung zwischen den Momenten wesentlich wird. Wesentlich aber heißt hier: Dass die Le-

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benden ohne die Toten nicht sind und sein können, was sie zu sein haben, sowenig wie die Toten ohne die Lebenden. Wesentlich heißt hier: Dass der Riss, der die Lebenden und die Toten trennt, zugleich eine Beziehung ganz eigener Art anzeigt, die diese Trennung gerade nicht verdeckt, sondern als Beziehung realisiert. Wesentlich heißt hier: Dass das gegen Tod der Toten immunisierte Leben eine ‚Abstraktion‘ darstellt, mit Hegel zusprechen: eine „Unwahrheit“. Vom Gehören zur „Zusammengehörigkeit“ (Heidegger 1978: 20ff) also, vom Eigentum zu einem „Ereignis“,2 (Heidegger 1976: 46f) das Martin Heidegger als Grundwort seines späten Philosophierens einführte und dessen Logik die überlieferte einwertige Ontologie als eine Theorie einander gleichgültiger Momente radikal infragestellen sollte. Bezogen auf das Verhältnis zwischen den Lebenden und den Toten wird so das „und“ zum Medium, das die Ereignishaftigkeit ihrer Beziehung trägt. Sie nämlich lässt sich nicht aufkündigen oder auch nur marginalisieren, ohne das Leben und den Tod, die Lebenden und die Toten zu korrumpieren. Und vielleicht ist ihre Separation eine der unerschöpflichen Ressourcen des Inhumanen selbst. Die entscheidende Frage lautet deshalb nicht, wer hier über wen und über was Eigentümer ist und warum. Die entscheidende Frage lautet: „Halten wir unsere Liebe zu ihnen [den Toten (M.M.)] gegen die Lebenden aufrecht oder für und gemeinsam mit dem Leben?“ (Deleuze 1991: 102, Hervorh. M.M.). 2. Die Frage soll anhand einer Sequenz aus Wayne Wangs Film Smoke3 (1995) eingehender diskutiert werden. Der Film erzählt locker miteinander verwobene Geschichten mehrerer Menschen im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Hauptfigur ist Augustus Wren (Harvey Keitel), „Auggie“ genannt, in dessen Tabakladen die Fäden der verschiedenen Episoden zusammenlaufen. An einem Abend, als Auggie sein Geschäft gerade schließen will, kommt ein Stammkunde, Paul Benjamin (William Hurt), herangeeilt, um sich noch Zigaretten zu kaufen. Cut 2 – Wang: Smoke: Auggie öffnet nochmals den Laden und bittet Paul herein. Beim Anblick eines auf dem Tresen liegenden Fotoapparats kommen die Männer ins Gespräch. Paul erfährt, dass Auggie seit Jahren mit dieser Kamera jeden Morgen um die exakt gleiche Uhrzeit die exakt gleiche Straßenkreuzung vor seinem Laden ablichtet. Paul nimmt erstaunt zur Kenntnis, dass Auggie nicht nur jemand sei, „der einfach nur Zigaretten verkauft“. In der nächsten Einstellung sieht man Auggie, der Paul die Bilder im Hinterzimmer seines

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Zur werkgeschichtlichen Datierung des Ereignisses siehe auch: Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910-1976. Frankfurt a.M. 1990, S. 776f. Wayne Wang: Smoke, USA 1995. Drehbuch: Paul Auster nach einer Kurzgeschichte von ihm: Auggie Wren’s Christmas Story, London 2009.

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Ladens zeigt. Paul ist sichtlich beeindruckt, zugleich verstört. Er versteht das Anliegen nicht. Die Bilder seien doch alle gleich. „Sie sind alle gleich“, antwortet Auggie, „aber trotzdem unterscheiden sie sich. Es gibt die hellen Morgen und die dunklen Morgen, es gibt das Sommerlicht und das Herbstlicht, die Wochentage und die Wochenenden. Du siehst Leute in Mänteln und Gummistiefeln und welche in Shorts und T-Shirts. Manchmal sind es die gleichen Leute, manchmal andere und manchmal werden die neuen zu alten und die alten verschwinden. Die Erde dreht sich um die Sonne und jeden Tag trifft das Licht der Sonne in einem anderen Winkel auf die Erde auf. [...] Morgen und Morgen und wieder Morgen. So kriecht mit kleinem Schritt die Zeit voran.“ Paul solle sich beim Anschauen Zeit lassen. Während dieser die Aufnahmen nun geduldiger ansieht, stößt er plötzlich auf eine Fotografie seiner Frau Ellen, die vor Jahren (wie man erst in einer späteren Szene erfahren wird) bei einem Überfall zufällig getötet worden war. „Du liebe Güte! Sieh mal, das ist Ellen!“ Paul ist überwältigt und ringt mit den Tränen. Auggie, sichtlich berührt, legt einen Arm auf Pauls Schulter. In der letzten Einstellung der Sequenz sieht man Auggie, wie er am Morgen eine seiner Aufnahmen macht.

Abbildung 2: Wanye Wang: Smoke

Quelle: Filmstill

Auggie Wrens Beharren auf dem Rhythmus der Aufnahmen, der Hinweis auf das Spiel der Differenzen in der Duplizität der Bilder gibt sein ‚Lebenswerk‘ als ebenso unaufdringliche wie empfindliche Inszenierung einer Serialität zu erkennen, in der das Immergleiche als Immerneues wiederkehrt. Als Serie erkunden diese Bilder nicht nur das Wesen einer Zeitlichkeit, die linear progrediert und zyklisch geschlossen anmutet. Auggie Wrens Bilder geben die Zeit selbst, ihr Vergehen, die Vergänglichkeit als solche. „Morgen und Morgen und wieder Morgen. So kriecht mit kleinem Schritt die Zeit vo-

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ran.“4 Die Ungleichheit in der Gleichheit, die Gleichheit in der Ungleichheit aber offenbart sich der Gleichgültigkeit allein, dem maschinellen Auge, der Kamera. Ihre Unbestechlichkeit gegenüber Sensation und Situation, gegenüber Figur und Kulisse, Wesentlichem und Unwesentlichem arbeitet einer Ataraxie des Blicks vor, die Jean Baudrillard in seinem letzten Text als den Wunsch beschreibt, „nicht mehr da zu sein“; sprich: zu sehen ohne ein Ich, das sieht. „Das kann der Wunsch sein, zu sehen, wie die Welt in unserer Abwesenheit aussieht (Fotografie)“ (Baudrillard 2008: 13f). Dass dieser Wunsch nach der Abwesenheit des Betrachters bizarr anmuten mag, sagt nichts über seine Realisierbarkeit. Die letzte Einstellung der eben beschriebenen Szene aus Smoke verrät dessen technische Installationsbedingung: Auggie schaut erst nach der Aufnahme durch den Sucher der Kamera. Was in diesem ausgezeichneten Augenblick zu sehen ist, in dem er den Auslöser drückt, enthüllt sich dem menschlichen Auge in konstitutiver Nachträglichkeit. Ihr entspricht die grundlegende konstitutive Kontingenz des Motivs, die durch die exakte Fixierung des Aufnahmezeitpunkts wie der Kameraposition und -perspektive bedingt ist. So mag Baudrillard die Fotografie zwar als „Prototyp einer aus Menschenhand befreiten Buchstäblichkeit der Welt“ (Baudrillard 2008: 37f) preisen. Doch erweitert die strenge Regelhaftigkeit der Bilderserie Auggie Wrens deren Brauchbarkeit. Während das einzelne Foto im augenblickshaften Kontakt mit dem Referenten die Zeit gleichsam einfriert, realisiert die lineare Verkettung auch deren Verlauf. Jede Aufnahme ist singulär für sich und zugleich durch die Reihung aller anderen gleichen wie ungleichen Fotografien in ihrem Status modifiziert. Auggie Wrens Methode reichert die Fotografie mit einem filmischen Moment an. Sie dehnt deren Zeit des nunc stans im fotografischen Zeit-Bild der Serialität – im Film wohlgemerkt, der zugleich durch das Nebeneinander verschiedener, nur schwach verbundener Episoden fotografische Kontingenz zu imitieren scheint. Wenn, so Susan Sontag, Fotografien „Welt sammeln“ (Sontag 1989: 9), dann sammelt Auggie Wren die Zeit seiner Welt. Wobei die erklärtermaßen nichtkünstlerische Natur seines Projekts nicht zuletzt durch das Schwarzweiß der Aufnahmen ‚dokumentiert‘ wird, die mit der Farbe des Films, der sie thematisiert, kontrastieren. Ihr Anspruch auf Authentizität und Wahrhaftigkeit, ja Wahrheit wird darin kenntlich. Als wäre es die Wahrheit der Zeit selbst. Ihre Passage aber, das Passieren und Stattfinden eines dieser Tage spielt sich zwischen den Bildern ab, im leeren Zeitraum zweier Schnappschüsse zwischen acht Uhr morgens und acht Uhr morgens. Die einzelne Aufnahme verweist somit nicht nur auf die Positivität der anderen Bilder, sondern zugleich auf die Negativität dessen, was nicht gezeigt und dennoch und gerade deshalb offenbar wird: die Mög-

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Die Worte referieren auf ein Zitat aus Shakespeares Macbeth: „Tomorrow and tomorrow and tomorrow creeps in this petty pace from day to day to the last syllable of recorded time.“ 5. Akt, 5. Szene.

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lichkeit der einzelnen Tage, die sich so oder so abgespielt haben können. Sie sind längst vergangen und ihre unendlich vielen Möglichkeiten, die sich im jeweiligen Augenblick der Aufnahme als Möglichkeiten auszeichneten, werden gleichsam eingefroren, stillgestellt, sind unmögliche Möglichkeiten. So tritt zum sichtbar gewordenen Verlauf der Zeit die Unsichtbarkeit des Zwischen, das als reine, stillgestellte, geblockte Möglichkeit, als Possibilität (Mayer 2011b)5, erst das Ganze der Zeit selbst zu enthüllen scheint. Die Anforderungen an den Betrachter liegen damit auf der Hand. Auggies Ratschlag an Paul, sich beim Betrachten Zeit zu lassen: „Du kommst nie dahinter, wenn Du nicht langsamer machst, mein Freund.“ (vgl. Kutzner 2004), zielen auf deren Wahrnehmungsbedingung, auf Lang- und auf Gleichmut und gleichmütige Rhythmisierung. Die sachte Einspielung von Klaviermusik6 in dem Augenblick, in dem Paul sich hierauf einzulassen beginnt, akzentuiert das zusätzlich. Doch er wird jäh unterbrochen. Es kommt zum Eklat, zum Zerplatzen der Zeit. „Du liebe Güte! Sieh mal, das ist Ellen!“ Indem Paul auf einer der Aufnahmen seine Frau plötzlich wiedererkennt (die, wie erst eine spätere Szene verrät, bei einem Raubüberfall zufälligerweise getötet worden ist), entblößt sich eine andere, eine meist verborgene, geheime Seite der Fotografie: die eines Traumas und einer Zeit, die aus den Fugen gerät, die aus der linearen Ordnung der Sukzession, des Hintereinander herausbricht. 3. Im Jahr 1980 erscheint postum ein Buch Roland Barthes mit dem Titel „Die helle Kammer“ (Barthes 1996), das als eine Art Kommentar zu dieser Szene gelesen werden kann. Was Barthes darin unter dem Stichwort „punctum der Zeit“ ausführt, scheint für Paul Benjamin wirklich geworden zu sein. Lautet doch der stumme Bescheid, den das Foto ihm erteilt, in nuce: „Sie ist tot und sie wird sterben.“ Genau mit dieser Formel untertitelt Barthes eine Fotografie Alexander Gardners des zum Tode Verurteilten Lewis Paynes (1865) vor dessen Hinrichtung: „Er ist tot und er wird sterben“ (Barthes 1996: 107). Was Paul auf dem Foto erblickt; genauer: was ihm aus dem Foto schlagartig entgegenschießt, ihn fassungslos macht, angreift, ist genau dieses Paradox; ist Ellen selbst, die zum Zeitpunkt der Aufnahme noch lebte und zum Zeitpunkt der Aufnahme bald sterben wird und die zum Zeitpunkt, wo er die Aufnahme ansieht, schon tot ist. In die Situation der zwei Männer, die entspannt eine Fotosammlung betrachten, bricht unvermutet die Tote ein – als Tote, deren Präsenz nichts als der Hohlraum ihrer absoluten Abwesenheit ist. Die Tote wird als Tote Gegenwart. Bekanntlich unterscheidet Roland Barthes’ „Die helle Kammer“, die rasch zu einem der großen kanonischen Texte zur Theorie der Fotografie avancieren sollte, generell zwei Kategorien ihrer Bestimmbarkeit: erstens das „studium“, das den Bereich der visuell konnotierten Informationsver-

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Darin insbesondere das Kapitel „Zeit-Bild 3: Zeit (Gesang)“ et passim. Die Filmmusik stammt von der britischen Komponistin Rachel Portman.

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mittlung umschreibt, den kulturellen Code, mithin das Gesamte all dessen, was durch das Foto in Erfahrung gebracht werden kann (Barthes 1996: 3143); zweitens das „punctum“, bei dem ein Detail blitzartig aus dem Zusammenhang heraus- und den Betrachter gleichsam anspringt, attackiert, ja verletzt. Nicht mehr das „Ich“ des Betrachters, sondern das „Mich“ der Wahrnehmung (vgl. Wiesing 2009) rückt in den Fokus. Seltsamer und in seinen Konsequenzen höchst folgenreicher Transfer von Subjekt – Objekt, Aktiv – Passiv, Nominativ – Akkusativ. Zu diesem punctum-des-Details, dessen Konturen Barthes vor allem im ersten Teil seines Buchs entwickelt, tritt aber im zweiten jenes punctum-derZeit, das als punctum zugleich eine wesentliche Modifikation erfährt. Wie sich beide Konzepte zueinander verhalten, bleibt seltsam unklar und wird es vielleicht bleiben. Entscheidend aber ist, dass Barthes’ letztes Buch sein Initial, sein Fanal und seinen Fluchtpunkt in einer Situation hat, die es eigens thematisiert: den Tod der Mutter Roland Barthes’ (vgl. Barthes 2010). Sie war zum Zeitpunkt der Abfassung des Buches gerade erst verstorben. Ihr Tod ist der konkrete Anlass seines Entstehens. Weshalb es theoretisch – wie schon oft behauptet − im Abgleich mit früheren Versuchen zur Fotografie kaum Neues offeriere. Doch lebensgeschichtlich ist das Neue, das dieses Buch in sich birgt, ein absolutes Datum, das unannehmbar ist und doch nicht zurückgewiesen werden kann: der Tod selbst; die rohe Erfahrung jenes Schnitts, der die Lebenden von den Toten trennt. Nicht phänomenologisch, sondern narrativ (vgl. Wolf 2002), nicht strukturell, sondern prozessual, nicht theoretisch, sondern praktisch ist das punctum-der-Zeit das entscheidende Ereignis, um das die „helle Kammer“ kreist, ihr Delirium und ihr Abgrund. In dem Moment, in dem Barthes auf eine alte Fotografie seiner Mutter stößt, die sie ihm in ihrem absoluten Entzug gibt (und die als einzige Aufnahme der im Buch erörterten nicht abgebildet wird), beginnt sich das punctum stillschweigend zu verwandeln: von einem Begriff zu einer Bestimmung, einem Schicksal, dem gegenüber die Position des Theoretikos nicht aufrechterhalten werden kann. Das Buch birgt einen Referenten, der jegliche Inklusion sabotiert. Das punctum-der-Zeit ist das Thema wie die Kondition seiner Thematisierbarkeit. Die Geschichte dieses Fotos seiner Mutter als Kind leitet so zwar erst den zweiten Teil der „Hellen Kammer“ ein, doch markiert sie das Ereignis, von dem das Buch seinen Ausgang nahm und auf das es wie auf ein unabwendbares Desaster zusteuert, sein Alpha und Omega. „An einem Novemberabend, kurz nach dem Tod meiner Mutter, ordnete ich Fotos“ (Barthes 1996: 73). Die Lakonie dieses Incipit steht umgekehrt proportional zu dessen Status und Bedeutung. Die in ihrem Verlust und als Verlust wiedergefundene Mutter aber scheint die wiedergefundene Zeit selbst zu sein, die gefundene Zeit, die hier und im Gegensatz zur Temps retrouvée Prousts,7 als fototechnisch realisierte noch den Horizont der eigenen Lebensspanne überschreitet. Und als dieses

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Worauf Barthes sich ausdrücklich bezieht (Barthes 1996: 80).

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punctum-der-Zeit beherrscht es die Szene aus Smoke. Auch für Paul Benjamin ist es das Bild der Toten als Lebende, das ihn verletzt – und nur ihn −, das seine Zeit und Gegenwart „punktiert“ (Barthes 1996: 83); weil das Foto hier nicht, wie ansonsten üblich, die Tote einfach nur vor- und darstellt und dem Spiel wehmütiger Reminiszenzen überlässt, sondern weil das Foto die Tote gibt. Denn nur im Sinne des studiums repräsentiert das Foto das Vergangene als gewesene Gegenwart; im Sinne des punctums präsentiert es die Vergangenheit in der und als Gegenwart, präsentiert es eine Vergangenheit, die nie Gegenwart gewesen ist. Es zeigt und es gibt „etwas Wirkliches, das man nicht mehr berühren kann“ (Barthes 1996: 97). Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, das „So ist es gewesen!“, das dem Betrachter aus der Aufnahme entgegenschlägt, unterläuft aber nicht nur die vermeintlich natürliche Allianz zwischen Gegenwart und Wirklichkeit, zwischen Sein und der Präsenz des Präsens. Indem das Apräsente präsent, indem das Abwesende anwesend wird, verliert das jeweils Aktuelle, Präsente und Anwesende seine meist unhinterfragte, seine ontologische Dominanz. In die Gegenwärtigkeit lebendiger Gegenwart bricht etwas ein, etwas ‚Unlebendiges‘, etwas Totes, das mit den überkommenen repräsentationslogischen Mustern nicht mehr erfasst und verarbeitet werden kann. Die Zeit faltet sich und das Bild ist die Praxis dieser Faltung. Sein privilegiertes Sujet aber (und das ist die These hier, die mit und wohl ein wenig auch gegen Barthes entwickelt werden soll) ist nicht der ‚Tod im Allgemeinen‘. Sein privilegiertes Sujet sind die Toten: ihr Tod, die irreduzible Alterität ihres Todes, seine „Veranderung“ (vgl. Theunissen 1977: 84ff; 1980: 237ff). 4. Die Episode aus Smoke zeigt also zweierlei in gegenläufiger Richtung: Wie zum einen durch Auggie Wrens Bilderserien die Fotografie im Film filmisch arrangiert und mit der Zeit als vergehende Gegenwart Vergänglichkeit überhaupt thematisch wird, wird zum anderen der Film im Film durch Paul Benjamins unerwartete Konfrontation mit der Aufnahme seiner Frau mit einem genuin fotografischen Ereignis infiziert. Als punctum-der-Zeit unterbricht es den Zirkel der Lebenden, stört die Zirkularität ihres Austauschs untereinander, öffnet ihn auf ein Anderes, das sich als anwesende Abwesenheit der Assimilation radikal verweigert. Als punctum-der-Toten greift es endlich auf den Film selbst über – und könnte so ein Potential wachrufen, das Roland Barthes ihm erklärtermaßen abspricht und (nicht nur) in Smoke nicht nur diegetisch bedeutsam sein könnte. Die Ununterscheidbarkeit in Truffauts Das grüne Zimmer beispielsweise (in dem die Fotografie gleichfalls eine wesentliche Rolle spielt) zwischen Julien Davenne, der von Truffaut gespielt wird und François Truffaut, der Davenne spielt, wird es auf immer unmöglich machen, dieses Spiel vom Ernstfall eines Todes zu trennen, der im Bild und als Bild Davennes/Truffauts stets von neuem eintreten kann und eintreten wird. Ernstfall eines Todes, eines Toten, der ‚uns‘ betrifft, angeht, der ‚uns‘ bittet. Aber um was?

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In einem Text wiederum aus dem Jahr 1980, der Roland Barthes, seinem Tod und seinem letzten Buch gewidmet ist, sollte Jacques Derrida daraus ein ethisches Regulativ machen: „Man muss den Umgang der Überlebenden unterbrechen, den Schleier zum Anderen zerreißen, dem toten Anderen, der in uns ist, aber als Anderer“ (Derrida 1987: 32). Als Anderer in uns wäre der Andere als Toter Adressat einer Anrede, die, so Derrida, in der Praxis der „Grabrede“ exemplarisch gewesen sei, da sie ihn noch unmittelbar anzusprechen ermöglichte (Derrida 1987: 31f). Rund 15 Jahre nach dieser Notiz verdichtet sich dieses Regulativ zum moralischen Gesetz. Als Derrida am 27. Dezember 1995 auf dem Friedhof von Pantin seine Grabrede auf Emmanuel Lévinas hielt, sprach er vom „Gesetz der Redlichkeit“: „[…] geradeheraus reden, sich direkt an den Anderen wenden und für den Anderen reden, den man geliebt und bewundert hat, noch bevor man von ihm spricht“ (Derrida 1999: 10). Wer also hat gesagt, dass Tote nicht angesprochen werden können? Wer also schreibt vor, dass wir nur über sie und nicht auch mit ihnen sprechen und zuweilen auch sprechen müssen? Der Einwand jedenfalls, den wir gegen Thomas Macho andeuteten, wendet sich grundsätzlicher noch gegen die These, die seinem eingangs zitierten Text als Titel dient: „Wir erfahren Tote, keinen Tod“ (Macho 1995). Tatsächlich steht und fällt dieses Konstativum mit einer Entscheidung, die womöglich so alt ist wie die Philosophie selbst: den Tod und den Begriff des Todes exklusiv aus der Perspektive der ersten Person singular zu thematisieren. So, als realisierte ich den Tod immer nur als meinen Tod. Der Tod des Anderen gilt allenfalls als Anwendungsfall, als empirischer, abgeleiteter Modus dieses einen Todes, dessen eigentlicher Sinn sich ausschließlich aus der Binnenperspektive des Ich, das ihn zu sterben hat, erschließen soll. Von Sokrates über Heidegger und darüber hinaus scheint es eine stillschweigende Vorentscheidung zu geben, ein „ego-thanato-logisches Vorurteil“ (vgl. Mayer 2001), das die Geschichte der Metaphysik zu dominieren scheint: die apriorische Verengung des Fragesinns nach dem Tod überhaupt auf die Jemeinigkeit je meines Todes. Schematisieren wir: Wenn der Andere nicht nur ein anderes Ich ist (Ebene der transzendentalen Allgemeinheit und Universalität), sondern immer auch anders als ich (Ebene der quasi-transzendentalen Differenz und Singularität), dann ist sein Tod nicht nur der Tod eines Anderen (anderes Ich), sondern ein anderer Tod (anders als Ich). Und dieser andere Tod des Anderen ist der Tod selbst, der mich zwar anders als mein eigener betrifft. Doch er trifft mich, er verwundet mich, sticht mir mitten ins Herz. Er ist tödlich und er tötet mich, ohne mich zu töten. ‚Ich‘ ist der Überlebende dieses Todes. Dass es schrecklicher ist, wenn der Mensch, den ich liebe, stirbt als wenn ich selber stürbe, offenbart so die Urszene des Ethischen überhaupt. Und wenn Lévinas in einer Vorlesung aus dem Jahre 1975 seine Ethik radikaler Alterität ausdrücklich auf den Anderen als den Toten ausdehnt, tut er das unter dem Geleit eines der ungeheuerlichsten Sätze in der

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Geschichte der abendländischen Philosophie: „Der Tod des Anderen ist der erste Tod“ (Lévinas 1996: 53). Und wenn er dieser erste Tod ist, die Primarität des Todes überhaupt im Ausgang des Anderen, dann erfahren wir seinen Tod als Tod selbst. Wir erfahren Tote, und wir erfahren Tode – selbst wenn wir sie auf eine Weise ‚erfahren‘, die mit den gebräuchlichen Schemata der Erfahrung, der Wahrnehmung und Wirklichkeit nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Selbst wenn das, was hier ‚Erfahrung‘ heißt, eher einem Trauma gleicht, genauer: ein Trauma ist. In einem Gespräch von 1977 sagte Roland Barthes das so: „Will man wirklich auf ernster Ebene von der Fotografie sprechen, so muss man sie zum Tod in Beziehung bringen. Es stimmt, das Foto ist ein Zeuge, aber ein Zeuge dessen, was nicht mehr ist. Selbst wenn das Subjekt noch lebt, wurde dennoch ein Moment des Subjekts fotografiert, und dieser Moment ist nicht mehr. Und das ist ein gewaltiges Trauma für die Menschheit, ein Trauma, das sich ständig erneuert. Jeder Akt der Lektüre eines Fotos […] ist implizit und in verdrängter Form ein Kontakt mit dem, was nicht mehr ist, das heißt mit dem Tod. Ich glaube, so müsste man an das Rätsel der Fotografie herangehen, so jedenfalls erlebe ich die Fotografie: als ein faszinierendes und trauervolles Rätsel.“ (Barthes, in: Wolf 2002: 85)

5. Wer also hat gesagt, dass Tote nicht angesprochen werden können; dass wir nur über sie und nicht auch mit ihnen zu sprechen haben? Und geben sie nicht manchmal sogar Antwort? Sprechen sie nicht manchmal mit uns? Das punctum-der-Zeit wäre genau diese Anrede, dieser Anspruch der Toten, den sie manchmal, plötzlich und ohne dass wir es erwartet hätten oder auch nur hätten erwarten können, an uns adressieren – unvermittelt und mit einer Wucht, die die chronologische Ordnung der Zeit schlagartig außer Kraft setzt. Aber ist das Medium dieser Rede und Anrede, dieser vermittelten Unmittelbarkeit allein die Fotografie, wie Roland Barthes mehr als einmal festhält, oder auch der Film, die Skulptur und Literatur, das Gemälde, zuletzt das Bild überhaupt? Vielleicht steht und fällt das Privileg der Fotografie, mit dem Barthes sie gegenüber anderen Aufzeichnungsmedien adelt, mit der Frage der Referenz (vgl. Laner/Zeillinger 2010) und Indexikalität (vgl. Wittmann 2010); eine Frage, die nicht schon mit der Umstellung von einem analogen zu einem digitalen fotografischen Medium als erledigt abgetan werden müsste (vgl. Bruder 2010). Dass aber das Moment des Fiktionalen, des Diskursiven, dies Privileg höhlte und die Frage der Trauer, ihre Kraft, außer Kraft setzte, gilt nur dem als gesetzt, der sein Argument mit einem Realitätsbegriff erkauft, den man andernorts ‚vulgär‘ nennen dürfte. Und vielleicht hat Barthes’ Phantasie fotografischer Authentizität dem unglückseligerweise vorgearbeitet. Ein (gezeichnetes, gemaltes, gefilmtes, fotografiertes oder wie auch immer aufgezeichnetes) Portrait beispielsweise (und was für ein ‚Beispiel‘ wäre das!) wird immer auch fiktionalen Charakter haben. Doch der Kontakt, von dem das Bild zeugt und den es verspricht, den es verwirklicht und ima-

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giniert, den es einholt und den es verschiebt, schafft man damit nicht aus der Welt. „Das Porträt ist nicht eine Fiktion oder eine Figur unter anderen. Nicht allein, weil sie sowohl den Blick, der uns anschaut, als auch den Kopf, der den Körper beherrscht, und das Oberhaupt, das den Sozialkörper regiert, repräsentiert [...]; sondern vor allem, da − wie beim fotografischen Porträt − sein Bezug zum Referenten zumindest irreduzibel scheint (und dieser Schein ist es, was zählt, selbst wenn man darauf nicht vertraut). Diese Fiktion des Gesichts gibt sich als nicht fiktiv, als das Wesentliche, und sie gibt vor – Barthes hat viel, vielleicht ein bisschen zuviel, mit diesem Vorgeben gerechnet −, uns das zu liefern, was gewesen ist und nicht nicht vor dem Blick oder dem Objektiv präsent gewesen sein kann.“ (Derrida 1994: 26)

Der Schein zählt und er zählt doppelt, wenn es einmal unmöglich geworden sein sollte, ein Sein jenseits des Scheins festzuhalten und zu validieren; wenn es unmöglich geworden sein wird, ein Jenseits des Fiktionalen zu identifizieren, zu lokalisieren und zu sichern; wenn es unmöglich ist, beide Bereiche in ihrer Unterschiedenheit entschieden voneinander zu unterscheiden, so dass ihr vis-à-vis eine „Zone der Unbestimmbarkeit“ markiert, in der ihr Unterschied ihre Ununterscheidbarkeit tückischerweise impliziert (Deleuze 1991: 96f).8 Somit glauben wir nicht an das Privileg der Fotografie, sondern an das der Bilder im Allgemeinen, wie unmöglich es auch immer sein und vielleicht auch bleiben wird, von Bildern im Allgemeinen auch nur sprechen zu können. Das Bild denken, im Bild und durch das Bild denken heisst immer auch und zuallererst, den Toten denken und einen Tod, der anders ist als der je meine, einen anderen, veranderten Tod. Das Schicksal des Referenten in der technischen Moderne (und wohl auch das des Produzenten und Rezipienten) ist keineswegs schon entschieden, auch wenn und gerade weil die Referentialität dieses Referenten die Frage der Präsenz des Anderen – und damit die seiner Repräsentation und Repräsentierbarkeit − auf nachgerade gespenstische Weise heimsucht und zerrüttet. Der Andere, der mich in Augenschein nimmt, ist vor allem mehr und anders als präsent (oder apräsent), und dieses Mehr und Anders als präsent (oder apräsent), diese „Plusquampräsenz“ (Derrida 1990: 28) ist es, was die Frage der Referenz aufrechterhält und zu reformulieren zwingt: „Es wendet sich an mich die absolute Singularität des Anderen, der REFERENT, den ich auf seinem Abbild selbst nicht mehr aufgeben kann, während seine ‚Präsenz‘ sich

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Für Deleuze beispielsweise löscht das Motiv einer Unbestimmbarkeit und Ununterscheidbarkeit der Terme deren Unterscheidung und Verschiedenartigkeit gerade nicht aus, sondern setzt sie voraus. Bei Beispiel: Die Unterscheidung zwischen Julien Davenne und François Truffaut ist ebenso unhintergehbar wie deren Ununterscheidbarkeit im Bild (s. Abb. 1) das Verhältnis von Fiktionalität und Realität ad infinitum in der Schwebe lässt.

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auf ewig entzieht (deshalb könnte das Wort ‚REFERENT‘ störend sein, wenn der Kontext es nicht neu formieren würde), da er bereits in der Vergangenheit versunken ist. Es wendet sich an mich die Einsamkeit, die den Gang des Gleichen, die Netze oder die Listen der Ökonomie zerreißt. Aber es handelt sich immer um die Singularität des Anderen, insofern sie mich erreicht, ohne an mich gerichtet zu sein, ohne für mich präsent zu sein [...].“ (Derrida 1987: 13, Übersetzung geändert, M.M.)

Die Fiktionalität des Fotos ist kein Argument mehr gegen Motiv und Möglichkeit jedweder Referentialität im Allgemeinen, sondern sein gleichsam transzendentales Initial. Und das gilt, ist gültig und bedeutsam für die Idee und Praxis von Bildlichkeit als solcher: „Eben in diesem Moment in diesem Bild findest du mich.“ Und du findest mich nur, um mich zu verlieren. Denn ich bin tot. Hörst du! Ich bin, der ich bin, dein Toter, versprochen! „Anders gesprochen: es gäbe nicht Bilder, eine Typologie der Bilder, unter denen sich eine Klasse von Bildern spezifizieren ließe, die Tote oder den Tod darstellen. Erst ausgehend vom Tod, von dem, was man den Gesichtspunkt des Todes nennen könnte, genauer des Toten oder der Toten, genauer vom Gesichtspunkt des Antlitzes des Toten oder der Toten als Porträt, gibt ein Bild zu sehen: gibt es nicht einfach sich zu sehen, sondern gibt es zu sehen, als ob es ebenso sehend wie sichtbar wäre.“ (Derrida 1994: 18)

Müsste man von hier aus nicht die Bildlichkeit des Bildes im Allgemeinen nochmals befragen? Die Bildlichkeit des Bildes und die des Porträts im Besonderen? Und die seines Porträts im Einzelnen, das in seiner Singularität exemplarisch, in seiner Exemplarität singulär werden sollte für das Porträt im Besonderen und vielleicht auch für das Bild im Allgemeinen, das Bild als Bild? Und was heisst das, „für das Bild im Allgemeinen“, „für das Bild als Bild“? Was hat das für Konsequenzen für den Begriff und die Praxis des material Bildhaften überhaupt; was wartet darauf, gesehen zu werden und sehend zu sein? Was heisst das für das Bild; für sein Bild, wenn man sagt: „Das Bild ist mehr sehend als sichtbar“ (Derrida 1994: 30)? Und wenn man das sagt: Was, vor allem wer blickt uns denn an, entgegen, seit so vielen Jahren schon, mit geschlossenen Augen himmelweit? Eyes wide shut: Wer ist das, dieser Tote da, „auferstanden von den Toten“, um – unser Toter zu sein?9

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Die letzten drei Seiten dieses Textes stellen einen überarbeiteten Auszug aus dem Buch „Zone. Medienphilosophische Exkursionen“ (Mayer 2012) dar.

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Abbildung 3: Hans Holbein d.J.: Toter Christus (1521-1522)

Quelle: Ausschnitt (http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Holbein+d.+J.,+ Hans%3A+Toter+Christus (letzter Zugriff am 1.6.2011)

L ITERATUR Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München/Zürich: Piper Verlag 1966. Auster, Paul: Auggie Wren’s Christmas Story, London: Faber & Faber 2009. Baudrillard, Jean: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, übers. v. Markus Sedlaczek, Berlin: Verlag Matthes & Seitz 2008. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1996. Barthes: Tagebuch der Trauer, Übers. v. Horst Brühmann, München: Carl Hanser Verlag 2010. Barthes, Roland: „Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz (1977) und Guy Mandery (1979)“, in: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2002, S. 82-88. Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Gesammelte Schriften, Werkausgabe, Bd. 2., Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1980, S. 691-704. Bruder, Johannes: „Die Kultur der Komputation. Digitale Bilder als Index?“, in: Kunsttexte.de, E-Journal für Kunst- und Bildgeschichte, Nr. 1, 2010, http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010-1/bruder-johannes-5/PDF/ bruder.pdf, (letzter Zugriff am 1.6.2011).

M EMENTO

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F ILME Truffaut, François: Das grüne Zimmer, Frankreich 1978. Wang, Wayne: Smoke, USA 1995.

Narrative des Digitalen um die Jahrtausendwende Programmatische und programmierte Imaginationen I RMELA S CHNEIDER

Die Zukunft der Kommunikationstechnologien und die Beziehungen zwischen Mensch und Maschine werden im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem beherrschenden Thema. Am Ende des Jahrhunderts versammeln sich Aussagen zu diesem Problemfeld, die häufig auch Prognostisches für das neue Jahrtausend enthalten, unter dem Begriff der Digitalisierung. Wie die Zukunft aussehen könnte, wie man sich in der Welt orientieren und Sinn erzeugen kann, ist Gegenstand von Narrativen (vgl. Schönert 2006)1, in denen Digitalisierung die treibende Kraft ist. Wie ist diese treibende Kraft beschaffen? Auf welchen kulturellen Entwicklungen und Diversifizierungen bauen diese Narrative auf? Das sind Fragen, mit denen sich der folgende Beitrag befasst. Digitale Narrative erzählen nicht einfach etwas über einen Sachverhalt. Es geht nicht bzw. nicht nur um Narrative über das Digitale und seine Definitionen und Bestimmungen, sondern gleichermaßen um Narrative, die daran beteiligt sind, das Digitale hervorzubringen, zu gestalten oder diese Leerformel narrativ ‚einzukleiden‘ und zu rahmen. Es gibt weder einfach das Digitale, über das sich eine Erzählung wölbt, noch sind es die Narrative allein und in ihrer ganzen Macht, die das Digitale hervorbringen. Auszugehen ist vielmehr von einem komplexen und vielfach aufeinander verwiesenen und ineinander verschalteten Miteinander – das Digitale als ein technisch induzierter Vorgang, der durch Algorithmen definiert ist, sowie als ein symbolisch-kulturelles Gefüge. Das Interessante ist das Ineinander, die Untrennbarkeit zwischen der Sphäre des Technischen und der des Symbolisch-

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Eine ‚Seinsweise‘ („being“) bilden Narrative des Digitalen als semiotische Objekte, die produziert werden „with the intent of evoking a narrative script in the mind of the audience“ (Ryan 2004: 7).

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Kulturellen. Dieses Ineinander generiert in der Zeit der Jahrtausendwende, die hier im Zentrum steht, Narrative, Imaginationen und Denkfiguren.2 Narrative des Digitalen erzählen also nicht nur von einem Umbau der Gesellschaft, sondern sie entwerfen selbst solche Umbauten und geben ihnen ein Profil. Sie stellen „Imagines der Gesellschaft“ bereit, „die im gesellschaftlichen Feld performative Kraft entfalten und so zur Selbstkonstitution der Gesellschaft beitragen“ (Lüdemann 2004: 109). Sie gehören zu den „Fiktionen“ (kursiv. i. O.), die „realitätskonstituierende Wirkung entfalten“ (ebd.). Narrative des Digitalen greifen, soweit sich beides überhaupt unterscheiden lässt, in materielle wie in imaginierte Prozesse ein. Sie arbeiten zugleich an den Interdependenzen zwischen beiden. Als Faktor sozialer Transformationen und des sozialen Imaginären sind sie geeignet, Legitimationsstrategien zu entwickeln und Wahrheitspolitiken zu formulieren. Die folgenden Hinweise begrenzen sich, wie bereits angezeigt, auf einen eng gefassten Zeitraum: Im Blickfeld steht die Jahrtausendwende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Dieser Zeitraum lässt sich nicht kalendarisch eng fassen, sondern bezieht sich auf Narrative, die die Erzählung von einer zu erwartenden, sich abzeichnenden, bereits begonnenen oder zu erhoffenden ‚Wendezeit‘ rückkoppeln an die Formel vom neuen Millenium. Der Beitrag folgt allerdings keiner Chronologie. Leitend ist nicht das Ziel, eine möglichst vollständige Zahl der Narrative jener Jahrzehnte zu erfassen. Mein Interesse richtet sich auf Milleniums-Erzählungen. Bereits an dieser Stelle sei vermerkt, dass diese Erzählungen entweder vor dem Crash der New Economy, vor dem Platzen der so genannten Dot.com-Blase erzählt worden sind oder aber, wie sich zeigen wird, als Milleniums-Erzählung dieses Ereignis bereits wieder ausblenden, es offensichtlich vergessen haben oder als Störfaktor ihrer Narrative ‚entsorgen‘. Die zweite Einschränkung, die ich vorgenommen habe, betrifft das Medium der Narrative. Von wenigen Ausnahmen und Randbemerkungen zu diesen Ausnahmen abgesehen kommen hier Narrative in den Blick, die im ‚alten‘ Medium des Drucks erschienen sind, sei es als Bücher oder als Beiträge für Zeitungen. Narrative, die in sozialen Netzen, als Blogs etwa oder als Videobeiträge Verbreitung finden, werden in diesem Beitrag nicht verhandelt. Sie bilden ein eigenes Thema, das die hier zusammengetragenen Überlegungen erweitert und ergänzt.

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Ein ähnliches Konzept formulieren David Knights, Faith Noble, Theo Vurdubakis und Hugh Willmott: „‚Technological trajectories‘ are [...] best viewed as the institutionalization of particular sets of (self-fulfilling) social expectations regarding technical development, (mis-)use, obsolescence, and so on. It is not then a question of simply distinguishing between (‚cyber-)hype‘ and reality, between what is envisaged and what is being delivered. Rather we need to draw attention to the ways particular social expectations (forged in part through the workings of ‚hype‘) are (or fail to be) enacted in technological artefacts“ (Knights/Noble/ Vurdubakis/Willmott 2002: 107).

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I. J AHRHUNDERTENDE /J AHRHUNDERTWENDE Vorangestellt seien ein paar wenige Hinweise zur diskursiven Besetzung von Jahrhundertwenden. Als das erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung beendet wurde und ein neues, das zweite Jahrtausend begann, war die abstrakte Jahreszählung eine Sache von Experten, von Urkundenschreibern und Kalenderrechnern (vgl. Brendecke 1999: 33). Wenn Historiker später von den „Schrecken des Jahres 1000“ berichten, so beziehen sie sich auf Erfindungen des späten 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts (vgl. Brendecke 1999: 32). Jetzt erst gewann der Wechsel vom ersten zum zweiten Jahrtausend ein breiteres Interesse. Bis zur Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert wechselte das Jahr oder Jahrhundert mehr oder weniger unbeachtet, nebenher. Es gab wichtigere Daten und Kalenderzeiten. Mit der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert fand dieses Datum dann größere Beachtung, und in der Folgezeit gibt jeder Jahreswechsel Anlass zu einem Fest. Von nun an hat das Datum des Jahresendes einen Symbolwert, der das Kontingente der Zählung überlagert. Der Schritt von einem Jahrhundert ins nächste steigert den Symbolwert. Wie schwer wird da erst das Gewicht bei einem Jahrtausendwechsel! Als am Ende des 20. Jahrhunderts das neue Jahrtausend näher rückte, entstanden zwei Narrative, die ganz unterschiedlich ausfielen: Zum einen sind die Schrecken des Jahres 1000, die für den ersten Jahrtausendwechsel Jahrhunderte später erfunden worden waren, als Schrecken des Jahres 2000 wieder auferstanden. Die Hauptgestalt in diesen Schreckens-Szenarien war der Computer. Das Problem hieß „2000“, und diese Zahl war in den Augen von Computer-Fachleuten gleichbedeutend mit einer neuen Zeitrechnung, von der man nicht wusste, was der Computer daraus machen würde. Diese Narrative sollen an zweiter Stelle skizziert werden. An erster Stelle gebe ich einen Einblick in Milleniums-Narrative, die – zugespitzt formuliert – die ‚Schrecken‘ des 20. Jahrhunderts aufrufen, um Rettungswege für das 21. Jahrhundert aufzuzeigen. Denn unabhängig von der Sorge um die Zahl 2000 gab es im Laufe der 1990er Jahre zahlreiche Initiativen, die den anstehenden Jahrtausendwechsel als Herausforderung sahen, um über die Zukunft des Planeten nachzudenken. Es war das Jahrzehnt von Entwicklungsprogrammen und Entwürfen für die Zukunft und zwar einer Zukunft, die unmittelbar vor der Tür steht. Das Motto lautete: Die Zeit ist reif für das Neue. Exemplarisch aufgegriffen sei hier die Forschungsinitiative des Massachusetts Institute of Technology (MIT), die unter dem programmatischen Titel „Inventing the Organization of the 21st Century“ 1994 gestartet und im November 1999, auf der Schwelle zum neuen Jahrtausend, ebenso programmatisch mit einer gleichnamigen Konferenz beendet wurde. Zur Konferenz im November 1999 haben die Initiatoren „A Manifesto for the Organiza-

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tions of the 21st Century“ veröffentlicht, dessen Titelfrage lautet: „What do we really want?“ (MIT 1999).3 Das Manifest beginnt mit Schäden des 20. Jahrhunderts. Diese Schäden sind nicht jene Schrecken, die in den Kriegen dieses Jahrhunderts identifiziert werden und ins neue Jahrtausend hineinreichen, oder die Atomkraft, deren ‚Entsorgungs‘-Problem ungelöst ist. Die Verfasser konzentrieren sich vielmehr auf gravierende Fehlentwicklungen, die das soziale Wohlbefinden der Gesellschaft, der Welt und ihres Ökosystems beschädigen. Die Schrecken der beiden Weltkriege, die Schrecken des Holocaust und des Abwurfs der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die im 20. Jahrhundert häufig als die Schrecken dieses Jahrhunderts beschrieben worden sind, stehen an seinem Ende, wenn das neue Jahrtausend in den Blick genommen wird, nicht mehr im Zentrum. Jetzt bedrängen die Verfasser andere, gleichwohl gewichtige Schäden. Sie im neuen Jahrtausend zu beheben, ist für das Überleben des Planeten, so die Ausgangsüberlegung, unabdingbar. Die Tücke dieser Schäden liegt darin, dass sie bislang nicht als Schäden erkannt worden sind. Notwendig, so die Verfasser, sind Korrekturen an dem, was als ‚gesund‘ erscheint. Denn der Eindruck von Gesundheit täuscht. Das zeigt sich exemplarisch an Institutionen und Organisationen, die als die ‚gesündesten‘ der Gesellschaft eingeschätzt werden. Was das alte Jahrhundert als ‚gesund‘ annimmt, mag in mancher Hinsicht als effizient erscheinen; aber verfehlt wird damit in den Augen der Verfasser die Idee von Organisationen und Institutionen, ihr eigentliches Potential, da sie gegenwärtig „far short of their potential to contribute broadly to societal well being“ operieren. Die Bilanz des Manifests lautet: Die effizientesten Organisationen „are not achieving what we humans really want“. Was als ‚gesund‘ eingeschätzt wird, erreicht nicht, was die Menschen ‚wirklich wollen‘. Drei Fragen stehen damit auf der Agenda des neuen Jahrtausends: Erstens dürfen ‚wir‘ dem nicht länger trauen, was das alte Jahrhundert als ‚gesund‘ unterstellt hat. Zweitens muss im neuen Jahrhundert ein Wissen darüber gebildet werden, was ‚wir‘ wirklich wollen. Drittens müssen die Organisationen und Institutionen so ausgerichtet sein, dass sie diesem Willen folgen. Das inkludierende „wir“ ruft den begründeten Verdacht auf, dass damit ‚Anderes‘ eingeschlossen ist, das auf diesem Wege ausgeschlossen wird (vgl. Agamben 2002: 17). Außerdem erzählt dieses Milleniums-Narrativ aufs Neue die alte Geschichte von ‚Sein und Schein‘. Vergleicht man die jetzt erzählte Version mit der, die im 20. Jahrhundert präsent war, so zeigt sich eine signifikante Differenz. Im 20. Jahrhundert brachte der Topos der Sein/Schein-Differenz zwei Meistererzählungen hervor: Die erste beklagte den Schein, den technische Medien herstellen, und forderte dazu auf, das Sein der ‚wirklichen Wirklichkeit‘, des ‚wirklichen Lebens‘, des ‚real life‘ zu erkennen. Die zweite Version sah die Differenz von Schein und Sein

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Die folgenden Zitate ohne Seitenangabe stammen aus dieser Fassung des Manifests (vgl. auch: Malone/Scott 2003).

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nicht nur gefährdet, sondern aufgehoben in einem Simulakrum, das weder als Schein noch als Sein definierbar ist. Zur Jahrtausendwende richtet sich der Appell zum einen darauf, das ‚Sein‘ dessen zu suchen, was wir ‚wirklich wollen‘. Auf der anderen Seite fordert das Manifest, die ‚Realität‘ der Systeme, ihrer Institutionen und Organisationen, als Schein des „societal well being“ zu erkennen. Die Jahrhunderte alte Denkfigur von ‚Sein und Schein‘ erhält also zur Jahrtausendwende eine neue Variante. Die Verfasser des Manifests diagnostizieren in der Folge dieser ersten Bilanz weitere Schäden des vergangenen Jahrhunderts, die Folgekosten der eingangs diagnostizierten Fehlentwicklung darstellen. Dazu gehört erstens die zunehmende Kluft zwischen „the ‚haves‘ and ‚have-nots‘“, die zu großen sozialen Unruhen führen könnten; zweitens ist das Ökosystem betroffen: „We believe that the energy-intensive patterns of production and consumption fostered by the current organization of economic activity cannot be sustained without significant breakdowns in our natural environment.“ (MIT 1999)

Diese beiden zentralen Probleme lassen sich, so heißt es weiter, nicht allein technisch lösen. Das Vertrauen in den technischen Fortschritt bzw. in die Technik als Motor für Problemlösungen, das aus dem 19. ins 20. Jahrhundert hinüber gewachsen war, dort allerdings seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts brüchig wurde, ist am Ende des Jahrhunderts endgültig aufgebraucht. Für die Verfasser ist die Lösung dieser Frage „at its root, a question of value“. Auch der Rekurs auf die Werte-Frage lässt sich in seiner jahrhundertelangen Spur zurückverfolgen. Als Korrektur des nahe liegenden Vorwurfs, das Manifest zitiere hohle Werte-Phrasen, mag man den Hinweis auffassen, dass die Werte-Problematik nur dann adäquat begriffen werde, wenn zugleich neue Möglichkeiten erkundet würden, wie die Werte auch erreicht werden können. Werte allein reichen also nicht; die Pragmatik der Realisierbarkeit wird zwar erwähnt, verbleibt aber im Rahmen der Appellstruktur dieses Manifests. Diese Doppelstruktur wird besonders deutlich im Fazit, das lautet: Der Jahrtausendwechsel symbolisiert eine Zeit des Wechsels, und eine solche Zeit „presents a historical window of opportunity“. Der Symbolwert der Jahreszahl heißt „change“ – ein Motto, das den US-amerikanischen Wahlkampf am Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends prägen wird. Das Manifest sieht Chancen für den Wechsel, der die Schäden des alten Jahrhunderts im neuen beheben soll, in grundlegend neuen Organisationsformen. Neu definiert werden müssen für diese Organisationsformen, so die Forderung der Initiatoren, die Kriterien ihrer Effizienz. Ein zentraler Faktor einer solchen Neu-Bestimmung von Effizienz muss sein, die sozialen und ökologischen Folgen von Organisationen einzukalkulieren.

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Die zentrale Rolle, die Organisationen in diesem Manifest spielen, zeigt sich schließlich bei der Behandlung der Titelfrage. An Organisationen manifestiert sich, was wir wirklich wollen und was wir – so muss man das Manifest ergänzen – nicht wollen sollen. Denn die Appellstruktur des Textes beinhaltet zugleich die Formel von „command and control“. Der Grundfehler bestehender Organisationen – so wird unterstellt – besteht darin, in ein zu enges Korsett von Zielen eingebunden zu sein. So sei das Wirtschaftssystem allein an der Maximierung des ökonomischen Ertrags interessiert, ohne die ‚wahren‘ und unerwünschten Konsequenzen für die Gesellschaft, für die Beschäftigten sowie für die physische Umwelt ins Kalkül zu nehmen. Eine weitere Diagnose der Gegenwart heißt: Mehr und mehr Menschen ‚gehören‘ nicht mehr einer Organisation an, sondern sind „independent contractors in fluid project-based ‚virtual‘ organizations“. Diese Ausgangssituation führt zu der Frage: „[...] where will they go to satisfy many of the human needs that are satisfied today by large organizations?“ Der Vorschlag des Manifests lautet: Man solle Gilden gründen, wie es sie im Mittelalter gab. Solche Gilden böten „a stable ‚home‘ for their members“. Folgt man diesem Vorschlag, so führt der Weg ins neue Jahrtausend in früh-moderne Zeiten. Das erinnert an Bruno Latours Bemerkung, er habe am Beginn des neuen Jahrtausends „das Gefühl – und zwar jeden Tag mehr –, dass wir eigentlich dem 16. Jahrhundert näher sind als dem 20.“ (Latour 2010). Eine Fülle von Indizien sowohl für Nähe wie auch für Distanz zwischen der ‚Spätmoderne‘ des 21. Jahrhunderts und der ‚frühen Moderne‘ des 16. Jahrhunderts liefern die Milleniums-Narrative des Digitalen. Besonders aber stützen sie den Eindruck, dass das 20. Jahrhundert in weiter Vergangenheit zurückliegt. Die kalendarische Nähe hat der Zahlen-Sprung fürs erste kassiert. Die hier am Beispiel des „Manifesto for the Organizations of the 21st Century“ skizzierte Version eines Milleniums-Narrativs fand weniger öffentliche Aufmerksamkeit als die im Folgenden, ebenfalls nur kurz dargestellte, zweite Erzählung. Die größere Aufmerksamkeit, die diese Erzählung fand, überrascht nicht, denn sie enthält Sensationelles und Katastrophisches: Apokalyptik pur. Je näher das Jahrtausendende rückte, um so mehr beschäftigten sich insbesondere die Tageszeitungen mit der drängenden Frage, wie die Computer den Wechsel bewältigen würden. Zum konkreten Anlass für die Befürchtungen der 1990er Jahre ein paar wenige Hinweise: In der ComputerFrühzeit, im „Pleistozän des Computer-Zeitalters“ (Illinger 2000: 15), wurde die Jahreszahl nur mit zwei Stellen angegeben – also 99 für 1999. Was aber macht der Computer, wenn er weiterzählen muss? Er weiß ja einfach nicht bzw. kann nicht wissen, welches Jahr am 1. Januar beginnt. Wie wird der Computer, der wichtigste Akteur in dieser Geschichte, dieses Wissensproblem bewältigen? Eine Möglichkeit ist, dass er „verrückt spielt“ (Ludsteck 1999: 26). Konkret: Der Computer schaltet auf das Jahr 1900. In Tests standen „Fahrstühle [...] still, weil der Computer annahm, die Wartung sei nicht

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erfolgt; die Auslieferung von Lebensmitteln wurde annulliert, weil deren Verfallsdatum als überschritten angesehen wurde“ (ebd.). Das ist Anlass für die Imagination von Pannen und Katastrophen wie „Ausfall der Strom- und Wasserversorgung“, „Unfälle in den Kernkraftwerken bis hin zum versehentlichen Start von Atomraketen“ (ebd.). Alle Auswirkungen hätten eine globale Dimension, beträfen den Einzelnen und zugleich die ganze Welt, den gesamten Kosmos. „Initiative 2000“, „Gemeinschaftsaktion Jahr 2000“, die Einrichtung eines „Jahr-2000-Stabs“ im Bundesinnenministerium sollten, wie die Serie „2000 Problem“ der „Süddeutschen Zeitung“ berichtete, den „Tag X“ vorbereiten (Bauchmüller 1999: 24). Im Beraterstab von Bill Clinton erhielt das Jahr-2000-Problem die Kurzformel „Y2K“ („Year 2 Kilo“). In dieses Problem investierte die Regierung, so wird berichtet, 450 Milliarden Mark (Illinger 2000: 15). Im Januar dann, als der Jahrtausendwechsel ohne größere Zwischenfälle überstanden war, wurde aus Y2K das „kassandrische Y2KGerede“ (Illinger 2000: 15). Vor dem Jahreswechsel wurde das 2000Problem mit einem Gen-Defekt im Organismus einer biologischen Lebensform verglichen und als „Fehler im Erbgut der weltweiten digitalen Netze“ diagnostiziert (Illinger 2000: 15). Im Januar heißt es dann: „Die vorläufige, aber unbefriedigende Diagnose lautet nicht Herz-Kreislauf-Kollaps, sondern Akne vulgaris“ (Illinger 2000: 15). Solche Aussagen referieren auf ein bekanntes Diskurs-Muster, nämlich die Pathologisierung der Technosphäre. Strategien der Pathologisierung gehören, folgt man Foucault, zu den wirksamen Teilungspraktiken, mit denen das Gesunde vom Kranken, das Normale vom Anormalen geschieden wird (Foucault 1996: 14f). Der diskursive Rückgriff auf solche Praktiken zeigt allerdings, wenn es um Computer und Digitalisierung in der Jahrtausendwende geht, nicht mehr die gewünschten Effekte. Denn die Ungewissheiten vom Dezember lassen sich nicht ‚wegsperren‘; sie mäandern auch im neuen Jahrtausend. Die Zeit unmittelbar um die Jahrtausendwende ist durch eine „quälende Unbestimmtheit“ bestimmt, denn „[d]as digitale Geflecht, das sich spätestens seit dem Ausbau des Internets zum World Wide Web wie ein dichter Daten-Kokon um den Erdball spannt, hat sich der Kontrolle durch die Menschheit endgültig entzogen“ (Illinger 2000: 15). Die Handlungsmacht liegt offensichtlich nicht allein in den Händen der Menschen. Das ist keine neue Einsicht am Beginn des dritten Jahrtausends, aber diese Einsicht gewinnt eine neue Dimension. Denn sie bleibt nicht länger eine Sache von Experten, die ausschließlich in Expertenkreisen verhandelt wird. Die Diversifizierung von Handlungsmacht zeigt sich in vielen Praktiken und bei vielen Akteuren. Sie ist damit definitiv und unabweisbar. Als weit verbreitete Erfahrung wird sie zum Code des Populären und gehört damit zum inklusiven und nicht länger zum exklusiven Wissen. Spätestens seit den 1940er Jahren ist mit der Kybernetik und ihren Rekursions- und Feedback-Theorien das Problem angezeigt, wie in Zeiten der ‚generalisierten Kontrolle‘ Kontrolle noch kontrolliert werden kann (vgl.

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Beniger 1986: 362f). Dieses Problemfeld war in den Kriegszeiten des 20. Jahrhunderts Geheimwissen, danach eine Angelegenheit von Experten. Am Ende des Jahrhunderts wurde dieses Problem zum Anlass, sowohl von Pannen und Katastrophen, die unmittelbar bevorstehen, zu erzählen wie auch davon, dass sie – auf für manche banale, für andere wundersame Weise – nicht eingetreten sind. Beide Versionen fassten in populäre Narrative das weiterhin ungelöste Kontroll-Problem. Die erste Version, die am Ende des Jahrtausends verbreitet wurde, koppelt das Kontroll-Thema an die Umstellung des Datums von 99 auf 2000. Die Handlungsmacht, das Kontrollproblem zu lösen, liegt – so der Tenor der Erzählungen weder bei den Menschen, noch gibt es die Gewissheit, dass der Computer dieses Problem löst. Es herrschte Ungewissheit in der Frage, wie die Digitalmedien handeln werden. Und das rief die Frage auf, wie Experten ermitteln können, wie Digitalmedien handeln werden. Es ging nicht nur um die Erkenntnis verteilter Handlungsmacht, sondern um die Frage, wie die zwischen Mensch und Maschine aufgeteilte Handlungsmacht zu kontrollieren und zu steuern sei. Die Krise der Kontrolle der Kontrolle wird zur Krise der Experten. Der Übergang vom Experten zum Amateur, die Grenze zwischen Wissen und Nicht-Wissen werden fließend. Dafür ist der bereits zitierte Bericht in der Süddeutschen Zeitung ein Beispiel, wenn er mit vertrauten Metaphern die Lage beschreibt: „Die Unkenntnis der genauen Wechselwirkungen zwischen den unzähligen Maschen der globalen Virtualität führt nun dazu, dass niemand mit Sicherheit weiß, ob die Prophylaxe der letzten Monate gewirkt hat. Womöglich sind nur die oberflächlichen Symptome unterdrückt, und der digitale Kosmos vollführt derzeit einen unsichtbaren Kampf mit seinem Immunsystem.“ (Illinger 2000: 15)

Der digitale Kosmos lässt sich zwar noch als Organismus und Körper umschreiben, aber es handelt sich nicht länger um einen mechanischen Körper, der gemäß einer bekannten und erlernbaren Sachlogik funktioniert. Der Körper ist nun vielmehr durch ein Immunsystem definiert, durch einen Code, der unbekannt, der nicht oder zumindest noch nicht entschlüsselt ist. Nicht Lesbares aber schafft Unsicherheit und dies um so mehr in einer Gesellschaft, die am Modell der Buchkultur und an deren Ordnungsprinzipien ausgerichtet ist. In den Sorgen und Befürchtungen, die sich im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts darauf richten, wie die Computer den Wechsel ins Jahr 2000 bewältigen würden, ist der Computer die „Medienmaschine“ (Coy 2003: 196) der Gesellschaft schlechthin. Wenn Computer nicht mehr funktionieren, so die Sorge, dann ist das Immunsystem, also das Überleben der Gesellschaft betroffen und zwar der Weltgesellschaft. In diesen Erzählungen wird das „polymorphe Bündel“ (Sassen 2008: 524) von Zusammenhängen, in dem Prozesse der Digitalisierung zu suchen sind, in das Grundmuster gefasst, wonach Digitalisierung die Determinante ist, die alles verändert. Der

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Umbau der Gesellschaft, der mit dem Prozess der Digitalisierung einsetzt, ist, so das Narrativ, durch Digitalisierung vorgezeichnet. Die Narrative bauen ein Profil des Digitalen auf, das dann als Determinante bezeichnet wird. Diese zirkuläre Figur konstituiert die performative Kraft von Narrativen. Narrative des Digitalen bilden in der Jahrtausendwende ein ‚leeres Zentrum‘, in dem sich ein Bündel von narrativen Skripten, von Sinnspuren und Mustern der Orientierung versammelt. Sie werden zu einem „Magma“ (Castoriadis 1997: 564), zu einer „imaginäre[n] Form, die die Gesellschaft insgesamt durchdringt, die sie vereinheitlicht“ (Illouz 2004: 160)4. Anders als Erzählungen der Mediengesellschaft des 20. Jahrhunderts bilden in Narrativen des Digitalen nicht mehr soziale Systeme oder Teilsysteme ein Ensemble von Akteuren, sondern ‚die‘ Gesellschaft bzw. ‚die Weltgesellschaft‘ ist der Akteur. Die Veränderungen, die mit der Digitalisierung auf den Weg gebracht werden, sind, folgt man diesen Narrativen, nicht mehr systemisch verrechenbar; sie können nicht für einzelne soziale Systeme durchdekliniert werden. Diese Vorgehensweise war (und ist zum Teil immer noch) ein Verfahren, das für analoge Verbreitungsmedien funktioniert. Fragen danach, welche Auswirkungen ‚die Medien‘, also Presse, Radio oder Fernsehen, auf die Politik oder die Wirtschaft, auf die Kunst oder die Wissenschaft haben, welche Irritationen sie in diesen Systemen auslösen, gehören zu den zentralen Themen seit Beginn des 20. Jahrhunderts. An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert befinden wir uns im Vergleich dazu, wie ein Buchtitel behauptet, in „postmedialen Wirklichkeiten“ (vgl. Selke/Dittler 2009). Nicht die Realität der (Massen-)Medien und die Realität der Systeme, sondern die Digitalisierung der (Welt-)Gesellschaft ‚programmiert‘ die Erzählungen (und die Erzählungen programmieren die Digitalisierung der (Welt-)Gesellschaft). Dass solche Narrative am Ende des 20. Jahrhunderts zu Bestsellern werden, ist ein Indikator dafür, dass die „kybernetische Transformation des Humanen“ mittlerweile eine gewisse „alltagskulturelle Sedimentierung“ erfahren hat (vgl. Hagner/Hörl 2008: 18). Kevin Kelly, der Herausgeber der Zeitschrift Wired, greift den Gestus des allumfassenden Wechsels auf, wenn er den Prozess der Digitalisierung nicht nur, wie der Publizist und große Vereinfacher Nicholas Carr, als „big switch“, sondern als „zweite Schöpfung“ bezeichnet (vgl. Kelly 1999). In beiden Bezeichnungen deutet sich der Konflikt an, der – dies sei am Rande erwähnt – nicht nur die Digitalisierungs-Diskurse durchzieht und der durch „vessels of quasi-religious longing“ genährt wird, die Medieninnovationen hervorrufen (Carr 2005). Im 15. Jahrhundert nannten manche Gutenbergs Erfindung ein Gottesgeschenk. Am Beginn des 21. Jahrhunderts bringen Erfindungen aus dem Hause Apple den „iGod“ (vgl. Carr 2009) und den „iKult“ (Titelgeschichte des Spiegel: 26. April 2010) hervor. Götter-Kulte

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Für Illouz ist die „kulturelle Bilderwelt der Psychologie [...] unser gegenwärtiges ‚Magma‘“. Es wäre ein eigenes Thema zu untersuchen, inwiefern diese Bilderwelt in die des Digitalen transformiert und durch dieses modifiziert wird.

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und Gottesgeschenke bringen ihrerseits Kult-Zerstörer und Gotteskritiker hervor. Diese Rolle hat in jüngster Zeit Jaron Lanier übernommen. Ihn erinnert die Praxis, die „menschliche Autorschaft eines Textes“ zu verdrängen, um einem Text „eine übermenschliche Wertigkeit“ zuzusprechen, an den einstigen Umgang mit den heiligen Schriften. Diese Praxis gehört zu den Gründen, warum Lanier „die totalitäre kybernetische Kultur manchmal wie eine neue Religion vorkommt“ (Lanier 2010). Für all das, was bislang und auch im Folgenden dargestellt wird, gibt es eine lange und breite archäologische Spur. Viele Akteure der hier erwähnten Narrative lassen sich für die westliche Welt bis in die frühe Neuzeit zurückverfolgen. In der jüngeren Geschichte ist die Kybernetik des 20. Jahrhunderts in vielem die Blaupause für das, was an der Jahrtausendwende in Variationen, vor allem aber mit zunehmender publizistischer Präsenz erzählt wird. Erzählungen um die Kybernetik hat N. Katherine Hayles erforscht (vgl. Hayles 1999). Protagonisten ihrer Erzählungen, wie etwa Alan Turing, Norbert Wiener oder Ross Ashby wirken im Blick auf die bevorstehende Jahrtausendwende wie Propheten des Alten Testaments. Doch jetzt ist die Zeit des Neuen Testaments angebrochen (vgl. Dyson 2010). Narrative des Digitalen imaginieren ein neues Zeitalter, in dem sich die Logik der Ordnung und Organisationen, der Zeichen und Symbole verändern. Viele Narrative rufen die Mediengesellschaft des 20. Jahrhunderts in Erinnerung, um vor diesem Hintergrund das prinzipiell Neue, das ganz Andere zu betonen, das mit der Digitalisierung kommen wird. Dabei haben „Weisen der Welterzeugung“ (Nelson Goodman) eine Renaissance, die seit seinem Beginn das kybernetische Denken geprägt haben: Auch jetzt wieder sind Programmierung und Codierung, Steuerung und Kontrolle die zentralen Kategorien, wenn das Soziale, das Politische und das Ökonomische verhandelt und imaginiert werden.

II. E RZÄHLUNGEN VOM W ANDEL UND DER „ NEXT SOCIETY “ Einer der einflussreichen Topoi in Erzählungen vom Wandel ist die Formel von der nächsten Gesellschaft („next society“), die kommen würde. Die Formulierung hat Peter F. Drucker in seinen Schriften der letzten Jahrzehnte geprägt. Einige zentrale Elemente des Narrativs, das Drucker in seinen Studien formuliert, seien im Folgenden skizziert. Im 19. Jahrhundert, so Drucker, brachte die Einführung und der Ausbau der Eisenbahn eine Revolution des Transportwesens hervor, die zu einer Veränderung der „mental geography“ führte (Drucker 2002: 9). Am Ende des 20. Jahrhunderts vollzieht sich eine Informations-Revolution, die in eine Revolution des Wissens („knowledge revolution“) münden wird, die „a drastic change in the social mind-set“ notwendig macht (Drucker 2002: 22). Dieser Wandel stellt sich allerdings nicht automatisch ein, sondern muss

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geplant und organisatorisch eingerichtet werden. Ideen zur Ausbildung der Wissens-Industrien („knowledge industries“), der Wissens-Arbeit („knowledge work“) und des Wissens-Arbeiters („knowledge worker“) entstanden bereits in den 1960er Jahren. Mittlerweile, so Drucker, sind diese Bezeichnungen zwar weit verbreitet, aber es gibt nach wie vor kaum jemanden, der die Implikationen dieser Veränderungen im ganzen Ausmaß einzuschätzen vermag. Drucker nimmt einen Anlauf und projektiert eine Wissensgesellschaft, die durch drei Merkmale charakterisiert ist: 1. Grenzenlosigkeit, da Wissen noch effektiver als Geld die Grenzen überschreitet; 2. eine allgemeine Aufstiegs-Mobilität, da formale Bildung leicht zu erwerben sei; 3. Inklusion/Erfolg versus Exklusion/Versagen, da jeder das für Erfolg notwendige Wissen erwerben kann; gleichermaßen gilt jedoch: „not everyone can win“ (Drucker 2002: 238). Das Projekt der nächsten Gesellschaft, das Drucker entwirft, impliziert, dass sowohl neue Institutionen und Organisationen aufgebaut werden als auch neue Theorien, neue Ideologien und neue Probleme (vgl. Drucker 2002: 299). Die Notwendigkeit neuer Institutionen und Organisationen weist zurück auf das am Anfang skizzierte „Manifesto“, in dem die Neu-Definition der Aufgaben von Organisationen zu den zentralen Forderungen gehörte. Es kennzeichnet Druckers „next society“, dass er keine präzisen Konturen entwickelt, sondern offen lässt, wie das Neue im Einzelnen beschaffen sein könnte, welche Szenarien denkbar sind. Diese Offenheit der Erzählung ist signifikant, da das Narrativ damit weder eine Geschichte der großen Hoffnungen und Verheißungen noch eine der großen Ängste und Hoffnungslosigkeiten ist. Es handelt sich, wenn man die bekannte Lyotardsche Unterscheidung noch einmal zitieren will, um eine sowohl große wie auch kleine Erzählung – groß im Programmatischen, klein im Auf- und Ausbau dieses Großen oder, anders formuliert: Das Projekt der „next society“ durchbricht die Lyotardʼsche Unterscheidung zwischen großer und kleiner Erzählung. Druckers Erzählungen verfolgen weder ein großes Menschheitsziel noch sind sie durch Brüche und Fragmentarisches definiert. Das Narrativ lenkt den Blick auf eine Kontinuität des Wandels und Umbaus, die auf den großen Bruch folgt. Auch hier zeigt sich eine Strukturähnlichkeit zum „Manifesto“. Auch dort geht es um einen Bruch, für den symbolisch die Jahrtausendwende steht und dem sich eine lange Phase des Umbaus anschließt. Im Anschluss an Drucker hat Dirk Baecker „Studien zur nächsten Gesellschaft“ veröffentlicht (vgl. Baecker 2007)5. Auch für Baecker ist der ent-

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Von Drucker und Baecker ausgehend, wäre es eine genauere Betrachtung wert, Bezüge und Differenzen zwischen Druckers Entwürfen der „next society“, Baeckers „Studien zur nächsten Gesellschaft“ und den Diskussionen um die „great society“ nachzuspüren, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geführt worden sind. 1914 veröffentlichte der britische Politikwissenschaftler

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scheidende Anstoß zum Projekt der nächsten Gesellschaft eine ‚Informations-Revolution‘, die er mit dem Begriff der Digitalisierung erfassen will. Im Prozess der Digitalisierung verliert in den Augen von Baecker der Buchdruck seinen in der Moderne gültigen Modellcharakter für den Aufbau der Gesellschaft. Die neue Herausforderung sieht er in der „instantanen Vernetzung der Vielen und des Verschiedenen, die mit den kulturellen Mitteln der modernen Gesellschaft nicht mehr bewältigt werden können“ (Baecker 2009: 33). Für Baecker beginnen diese Veränderungen bereits mit der Verbreitung der Elektrizität und des Films. Doch diese Vorgeschichte erwähnt er nur, denn eigentlich wichtig ist für Baecker: Diese Vorzeit ist jetzt vorüber. Am Beginn des neuen Jahrtausends gilt: So geht es nicht weiter (vgl. Baecker 2009: 33). Der Symbolwert der Jahreszahl schärft den Blick für das, was auch ohne dieses Datum auf der Agenda steht: der Umbau der Gesellschaft. Anzeichen für einen solchen Umbau sieht Baecker darin gegeben, dass sich die Gesellschaft auf einen „neuen Eigenwert“ umstellt. Für die Moderne, so Baecker im Anschluss an Luhmann, war Kontingenz der Eigenwert, der die Gesellschaft zusammengehalten, auf den sie gesetzt hat und zwar unabhängig davon, ob und wie träge oder turbulent sie verlaufen sein mag und unabhängig davon, ob sie sich als geordnet oder als chaotisch beschrieben hat. Den neuen Eigenwert vermutet Baecker in der „Kontroverse“, da diese Differenzen in den Perspektiven der Beobachter voraussetzt. Die Leistung der Kontroversen schätzt Baecker hoch ein, denn in der nächsten Gesellschaft sind sie „der Königsweg zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft“ (Baecker 2009: 34). Baecker bezieht sich mit seiner Relevanzbestimmung von Kontroversen für die Gesellschaft auf Latours „neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“ (vgl. Latour 2007: 41ff), in der Kontroversen gleichermaßen einen zentralen Stellenwert einnehmen. Allerdings bezieht sich Latour nicht wie Baecker auf Heinz von Foersters Konzept des Eigenwerts. Wenn die nächste Gesellschaft auf einem veränderten Eigenwert beruht, so folgt daraus in der Konsequenz des Baeckerschen Theoriegebäudes, dass die Gesellschaft nicht länger durch die funktionale Differenzierung der Moderne und deren Sachordnung definiert wird. Konstitutiv ist jetzt vielmehr der „Konnektionismus“, das „Netzwerk“ (Baecker 2009: 33, 2007: 21f). Wie ein solches Netzwerk aufgebaut wird, wie es operiert, wie es programmiert ist und wen es programmiert – all diese Fragen gehören zu den zentralen Kontroversen am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Graham Wallas eine Studie mit dem Titel „The Great Society“, die er Walter Lippman gewidmet hat. John Dewey greift die Bezeichnung in seinen Überlegungen zur „Suche nach der Großen Gemeinschaft“ wieder auf (vgl. Dewey 1927: 125ff). Manche Konstellationen aus dem frühen 20. Jahrhundert können am Beginn des 21. Jahrhunderts den Blick für Kontinuitäten, aber besonders für Verschiebungen oder Brüche, für Irritierendes wie Faszinierendes schärfen.

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Gemeinsam ist einer ganzen Reihe von Narrativen die Vorstellung, dass die Netz-Metapher geeignet sei, die Veränderungen zu erfassen. So heißt es in einem kurzen Text von Serres, der am Beginn des 21. Jahrhunderts in deutscher Übersetzung erschienen ist, programmatisch: „Netze ersetzen Konzentration durch Distribution“ (Serres 2007: 80).6 Dieser Umschlag, so Serres, macht es notwendig, die Welterzählung grundlegend umzuschreiben. Serres sieht die Existenzweise des Menschen, die mit dem Heideggerschen Begriff des Daseins bezeichnet wird, „im Verschwinden begriffen“. „Der theologische Begriff der ubiquitas, der göttlichen Allgegenwart, beschreibt unsere Möglichkeiten besser als das an Gräber gemahnende ‚hier ruht‘“ (Serres 2007: 80). Als Motor dieses Wandels bestimmt Serres die Trägermedien: „Die Geschichte der Philosophie wie auch die Geschichte schlechthin, beide abhängig von der Geschichte der Erkenntnis, folgen der Geschichte der Trägermedien“ (Serres 2007: 85). In den Augen Serres’ führt das Projekt einer nächsten Gesellschaft in eine zweite Renaissance. Aus dieser zweiten Renaissance schöpft Serres die Hoffnung auf „mehr Gleichheit in einer noch nicht existierenden weltweiten Demokratie“ (Serres 2007: 87). Es verbindet die Narrative des Digitalen, die sich Texten von Drucker, Baecker und auch Serres entnehmen lassen, dass mit der Jahrtausendwende das Projekt einer anderen Gesellschaft unabweisbar ist. Dieses Projekt hatte eine lange Vorgeschichte, eine lange Phase der Latenz, die jetzt, zu Beginn des neuen Jahrtausends, beendet ist. Die Gegenwart ist in diesen Erzählungen eine Zeit des Übergangs, eine Phase der Bewegungen, Wandlungen und Verhandlungen, deren Ende offen ist wie die Jahrtausendwende, die zur Zeitenwende wird. Diese Offenheit unterscheidet diese Gruppe von den folgenden Narrativen.

III. N ARRATIVE

DIGITALER

G EWINNE

Jeremy Rifkin, der durch eine ganze Reihe von Studien bekannt gewordene US-amerikanische Soziologe, Ökonom und Politikberater, kann, ähnlich wie

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Michel Serres Text ist zuerst erschienen in: Transit 22 (2001/02): 193-206. Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den Serres unter dem Titel „Les nouvelles technologies“ im Februar 2001 am „Institut für die Wissenschaften vom Menschen“ (IWM) gehalten hat. Serres hat das Manuskript der Redaktion Transit überlassen, und dieses Manuskript wurde übersetzt. Unter diesem Titel hat Serres eine ganze Reihe von Vorträgen gehalten. Laut Auskunft der Redaktion Transit vom 20. September 2010 dürfte der Text auch mehrfach in französischer Sprache erschienen sein. Was davon ‚Original‘ ist, lässt sich nicht ermitteln. Es kann sogar sein, dass die deutsche Übersetzung vor einer französischen Fassung erschienen ist. Die Stellung, die dieser Vortrag im Oeuvres Serres’ einnimmt, kann in diesem Rahmen nicht diskutiert werden.

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Carr, als ein großer Vereinfacher bezeichnet werden. Seine Schriften reizen zu Widerspruch und ideologiekritischen Einwänden. Doch weder die Vereinfachungen sind hier Thema, noch geht es um Ideologiekritik. Rifkins Schriften interessieren in diesem Zusammenhang, da sie programmatische und programmierte Imaginationen des Digitalen popularisieren und somit zum Medium sozialer Inklusion in die wissenschaftliche Kommunikation werden (vgl. Stichweh 2003). Es ist charakteristisch für Schriften, die wissenschaftliche Kommunikation popularisieren, dass sie eine Rhetorik radikaler Innovation vertreten und in der Regel Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen kombinieren, und zwar in einer Weise, die in mancher Hinsicht als durchaus gewagt bezeichnet werden muss. Es gehört ebenso zur Popularisierung, mit einer Stimme zu sprechen, „which is much more assertive than it normally would be accepted in scientific communication“ (Stichweh 2003: 215). Beides, die Kombination unterschiedlicher Disziplinen und ein selbstgewisser Duktus, zeichnet Rifkins Schriften aus. In der 2009 erschienenen Studie „The Empathic Civilization“, die 2010 auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, enthält bereits der Titel den Begriff, der um 2000 herum ins Zentrum der Diskurse gerückt ist und in dem manche „ein neues Paradigma der zwischenmenschlichen Beziehungen“ entdecken (Breger/Breithaupt 2008: 351). Rifkin liefert mit seiner Studie also einen Beitrag zu einem aktuell breit verhandelten Thema. Dieses Thema kleidet er in eine Erzählung der Menschheitsgeschichte, die von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert reicht. Auffallend ist nun, dass Rifkins Epochengliederung der Menschheitsgeschichte durch eine jeweilige Veränderung von Bewusstseinszuständen definiert ist. Diese eigenwillige Fokussierung von Bewusstseinszuständen und ihren Wandlungen (die nicht verwechselt werden sollte mit traditionellen ideengeschichtlichen Ansätzen) wird nur unter der Voraussetzung nachvollziehbar, dass der Leser sich auf Rifkins These einlässt, wonach die „einzig wahre Lösung“, um „Chaos und Verwüstung“ sowie den „atomaren Weltuntergang“ zu verhindern, in einer neuerlichen Veränderung des menschlichen Bewusstseins liegt. Das menschliche Bewusstsein, so Rifkin, muss sich „im Verlauf des nächsten Jahrhunderts [...] so verändern, dass die Menschheit lernen kann, wie man gemeinsam auf dem Planeten Erde lebt“ (Rifkin 2010: 363). Ob diese „einzig wahre Lösung“ tatsächlich den erhofften Erfolg bringen wird, das schätzt Rifkin an dieser Stelle eher skeptisch ein: „Auch wenn man sich nur schwer vorstellen kann, dass dieses Ziel erreichbar ist, so ist es dennoch nicht völlig unmöglich“ (Rifkin 2010: 363). Im Gesamtduktus jedoch ist er optimistischer und projektiert eine „empathische Zivilisation“ für das 21. Jahrhundert. Rifkin erzählt die ‚große‘ Erzählung vom Weg in die „empathische Zivilisation“. Auf diesem Weg gibt es Kämpfe, die ausgetragen, Hindernisse, die überwunden, Gefahren, die beseitigt und Risiken, die vermieden werden müssen. Eines der Hindernisse stellt das „ideologische Denken“ dar, das im Zuge der ersten industriellen Revolution entstanden ist und zur Ausbildung

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der modernen Marktwirtschaft gehört (vgl. Rifkin 2010: 235ff). Dieses ideologische Denken wird in den Augen Rifkins abgelöst durch das „psychologische Bewusstsein“, das das letzte Hindernis auf dem Weg in die empathische Zivilisation bildet (vgl. Rifkin 2010: 276ff). Auf den ersten Blick erinnern Rifkins Ausführungen zum psychologischen Bewusstsein an Eva Illouz’ Adorno-Vorlesungen; genauer besehen aber lenken die Differenzen zwischen beiden Positionen auf zwei völlig verschieden gegründete Denkfiguren: Nach Illouz ist im Laufe des 20. Jahrhunderts die Psychologie zu einem „autoritäre[n] Wissenssystem“ geworden, das eine „neue emotionale Hierarchie“ entwarf, „die zwischen selbstverwirklichten Individuen und denen, die mit allen möglichen Problemen kämpften, unterschied“ (Illouz 2006: 72). Das Narrativ der Selbstverwirklichung produziert, so Illouz „ein sisyphoshaftes Spiel Derridascher Differenzen“ (Illouz 2006: 76). Zur Hegemonie dieses Narrativs gehört – und darin liegt für lllouz eines der „paradoxesten Phänomene der Jahre nach 1980“ – die „Aufforderung, das eigene Leiden auszudrücken und auszuleben“ (Illouz 2006: 88). Diese narrative Kopplung führt zu dem, was Illouz „emotionalen Kapitalismus“ nennt, in dem das Gebot der Selbstverwirklichung Praktiken des permanenten Selbstmanagements und der Selbstveränderung ebenso ausbildet, wie es „ein leidendes Selbst“ schafft, „also eine Identität, die durch ihre psychischen Fehler und Mängel definiert wird“ (Illouz 2006: 161). Rifkin konzentriert seine Bestimmung des psychologischen Bewusstseins auf Praktiken des Selbstmanagements und der Selbstveränderung, die zugleich „eine zunehmend individualisierte Gesellschaft“ und die Fähigkeit ausbilden, „in einer technisch und wirtschaftlich vernetzten, aber gleichzeitig entfremdeten Welt die universelle Empathie zu stärken, die einer im Zusammenwachsen begriffenen globalen Gesellschaft angemessen ist“ (Rifkin 2010: 311). Folgt man Illouz, so schließt die „Technologie des SelbstManagements“ einen „Imperativ der Kooperation“ ein (Illouz 2006: 40). Das Projekt einer empathischen Zivilisation, das in den Augen Rifkins die Zukunft der Menschheit entscheidet, wird in der Zeit der Jahrtausendwende ‚geboren‘. Denn jetzt gibt die „Milleniumsgeneration“ (Rifkin 2010: 413ff) den Ton an, und diese Generation ist mit vernetzter Kommunikationstechnologie aufgewachsen. Sie definiert soziale Netzwerke als ihren Kommunikationsraum. Damit vollzieht sich, nach einer Phase des Übergangs, die endgültige Transformation vom psychologischen zum empathischen Denken. Der Begriff der Empathie spielt in diesem Zusammenhang eine doppelte Rolle. Vernetzte Kommunikation, so Rifkin, fördert Empathie; zugleich ist vernetzte Kommunikation ohne Empathie nicht denkbar. Empathie ist sowohl Ursache wie Folge vernetzter Kommunikation. Mit der Möglichkeit vernetzter Kommunikation entfaltet der Mensch seine ‚wahre Natur‘, die er im Laufe der Zivilisationsgeschichte in manchem beschädigt hat, die in der Latenz verharrte, aber als ‚die Natur des Menschen‘ nie ganz verloren gegangen ist. Das stellt auf sinnfällige Weise die in der Zeit der Jahrtausend-

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wende erfolgte Entdeckung der Spiegelneuronen unter Beweis (vgl. Rifkin 2010: 68ff). Diese Entdeckung besagt, kurz gefasst, dass Menschen und bestimmte Tiere präreflexiv auf Bewegungen und starke Emotionen ihrer Artgenossen mit sympathetischen Gehirnreaktionen reagieren. Rifkin formt daraus das Narrativ, wonach die wechselseitige Stützung von Empathie und vernetzter Kommunikation eine Gesellschaft der Kooperation und Partizipation ermöglicht – die „empathische Zivilisation“. Hier vermischen sich zwei Narrative: zum einen das Narrativ von den Spiegelneuronen, das zur anschwellenden Neuro-Gläubigkeit der letzten Jahrzehnte gehört; zum zweiten das Narrativ vernetzter Kommunikation. Die Verbindung beider führt zum Zusammenschluss von Neurowissenschaften und kybernetischem Denken, zu einem Kurzschluss zwischen der ‚Natur‘ des Menschen und Prozessen der Programmierung und Codierung, der Steuerung und Kontrolle. Rifkins Narrativ ist nicht nur in Neuro-Gläubigkeit eingebettet, sondern gleichermaßen von „Softwaregläubigkeit“ getragen – einem weit verbreiteten Glauben, der, mit David Gelernter gesprochen, in eine „lähmende Abhängigkeit“ führt, in ein „neues Zeitalter intellektueller Knechtschaft“ (Gelernter 2010, vgl. auch 1996). Die Herrschaft dieses Glaubens lässt keine Wahl mehr zwischen „Programm werden oder programmiert werden“ (vgl. Rushkoff 2010: 13). Rifkins Narrativ nimmt einen anderen Fortgang; er erzählt von digitalen Gewinnen. Das deutet sich an, wenn er Zusammenhänge zwischen Informationsströmen und der „empathische[n] Deutung der Evolution“ herstellt (Rifkin 2010: 69ff), und das wird in seinen Augen in der Tatsache evident, dass die neuen Informationsströme das Wirtschaftssystem revolutionieren. Damit ist Rifkin bei seinem eigentlichen Thema. Der bislang gültige Eigentums-Begriff, so seine These, entspricht dem Marktprinzip, das „linear, separat und diskontinuierlich“ definiert ist (Rifkin 2010: 391). Die digitalen Kommunikationsmedien hingegen operieren „kybernetisch, nicht linear“ (Rifkin 2010: 391). Dieser Operationsweise entsprechen die neuen ökonomischen Praktiken und Verfahren, die Rifkin in der Bezeichnung „Wikinomics“ gebündelt sieht. Der Neologismus „Wikinomics“ bezeichnet, wie die gleichnamige Studie von 2006 erläutert, „eine neue Kunst und Wissenschaft der Zusammenarbeit“ (Tapscott/Williams 2007: 3). Don Tapscott und Anthony D. Williams, die beiden Verfasser, schildern in dieser Studie, welche Erlebnisse und Einsichten sie gewonnen haben, als sie zwischen 2000 und 2005 eine Reihe von Projekten zum Thema „IT & Competetive Advantage“ durchführten. Es ging in diesen Projekten erstens um „die Entwicklung eines zunehmend mobilen und alles durchdringenden Web und seine Auswirkungen auf Geschäftsmodelle“; zweitens darum zu ermitteln, „wie das Web neue Transparenz erzeugt, die sich als neue Kraft etabliert, um starke vernetzte Unternehmensstrukturen und Vertrauen voranzubringen“; drittens um die Frage, „wie neue Technologien und Modelle der Zusammenarbeit Unternehmensauftritte und die Dynamik des Wettbewerbs verändern“ (Tapscott/Williams 2007: 2).

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Die Projekte, so zeigt die Studie anschaulich, nehmen Evaluationen vor, deren Verfahren allein an Ergebnissen ausgerichtet sind. Es ist dabei nicht so sehr von Interesse, ob und inwiefern diese Techniken dem Kapitalismus und seinen ökonomischen Prinzipien entsprechen. Wichtiger als ideologiekritische Hinweise ist vielmehr – und darin liegt die Symptomatik dieser Evaluationen für Selbstbeschreibungen der Gesellschaft –, dass auf diese Weise neue Formen der Abstraktion emergieren. Solche Evaluationen bringen dekontextualisierte Ergebnisse hervor und produzieren dekontextualisierte Maßnahmen. So treffen sie z.B. Aussagen über Effekte von sozialen Prozessen, ohne sich mit diesen Prozessen selbst befasst zu haben (vgl. Strathern 2002: 306). Die beiden Autoren der „Wikinomics“-Studie fixieren ihren Blick auf die Ergebnisse und nehmen jene Prozesse und Faktoren gar nicht zur Kenntnis, von denen sie in den Verfahren und Techniken, die ihre Erhebungen leiteten, abstrahiert haben. Ihr Interesse gilt den Resultaten dieser Evaluationen, die, so Tapscott und Williams, „erstaunlich und überaus positiv“ sind und die sie voller Enthusiasmus schildern: „Milliarden vernetzter Individuen können heute aktiv an Innovation, Wertschöpfung und sozialer Entwicklung partizipieren in Formen, von denen wir früher nur träumen konnten. Und wenn diese vielen Menschen zusammenarbeiten, können sie gemeinsam Kunst, Kultur, Wissenschaft, Bildung, Politik und die Wirtschaft in überraschender, letztlich aber nützlicher Weise voranbringen. Firmen, die sich mit diesen explodierenden, durch das Web möglich gewordenen Communities einlassen, entdecken nach und nach die echte Dividende kollektiver Fähigkeiten und kollektiven Einfallsreichtums“. (Tapscott/Williams 2007: 2f)

Diese Erzählung spielt, so könnte man mit Tony Judt sagen, „die marxistische Platte“ wieder ab, „digital aufbereitet und frei von kommunistischen Kratzern“ (Judt 2010: 150). Dass die marxistische Platte nicht die analytischen Einsichten der Marx’schen Philosophie reproduziert, gehört zu den von Judt unausgesprochenen, da selbstverständlichen Prämissen. In der Studie von Tapscott und Williams ebenso wie in dem Denkmuster, das Rifkin leitet, geht es nicht in erster Linie um die Funktionen und Leistungen der ökonomischen Sphäre oder des Wirtschaftssystems. Die ökonomische Sphäre bildet vielmehr eine Projektionsfläche für narrative Skripte, die dann als Projektionsfläche ihrerseits Spuren in die narrativen Skripte einzeichnet. Die ökonomische Sphäre, verstanden als Projektionsfläche, ist also nicht durch anderes austauschbar, sondern sie definiert die Konturen der Strukturen und Kulturformen, die auf dieser Folie mit Narrativen entworfen werden. Die ökonomische Sphäre als eine Projektionsfläche narrativer Skripte programmiert die Funktionsweise der Gesellschaft. Dafür bieten die Ausführungen von Tapscott und Williams ein signifikantes Exempel. Das „Zeitalter der Partizipation“, das für die Autoren begonnen hat, charakterisieren sie als eine „neue Welt“, „in der Wissen, Macht

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und Produktionsfähigkeit stärker verteilt sein werden als jemals zuvor in unserer Geschichte [...] – eine Welt, in der nur überlebt, wer online ist“ (Tapscott/Williams 2007: 13). Partizipation und Kooperation, so zeigt sich damit deutlich, sind nicht länger, wie einst in den 1960er und 1970er Jahren, zentrale Berufungsinstanzen einer Theorie der Gegenöffentlichkeit. Sie definieren vielmehr in vernetzter Kommunikation eine „harte neue Geschäftsregel“, die lautet: „Nutze die neue Zusammenarbeit aus, oder du wirst untergehen“ (Tapscott/Williams 2007: 13). Der „Imperativ der Kooperation“ (Illouz 2006) reguliert Inklusion und Exklusion. Das Zeitalter der Partizipation ist immer auch ein Zeitalter des Ausgeschlossenseins, der Exklusion. Regulierungs-Techniken für Praktiken der Inklusion und Exklusion enthält die ‚neue Geschäftsregel‘. ‚Darwinistisch‘ formuliert: „[…] [t]he new e-economy [...] appears to offer a straightforward Darwinian choice between adaptation and dinosaur-like extinction“ (Knights/Noble/Vurdubakis/Willmott 2002: 102). Die Spuren des darwinistischen Denkens weisen in die Herkunfts- oder Vorgeschichte der Geschäftsregel des Digitalen. Ihr zentrales Gebot fasste Vannevar Bush am Ende der 1960er Jahre in die Worte: „The great digital machines of today have had their exciting proliferation because they could vitally aid business, because they could increase profits“ (Bush 2006: 88). Eine weitere Etappe der Vorgeschichte bilden kybernetische Utopien, die in Konzepten sozialistischer Planwirtschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts entworfen wurden. Diese Konzepte wiederum weisen zurück auf die „socialist calculation debate“ der 1920er Jahre (vgl. Hagner/Hörl 2008: 34).7

IV. E RZÄHLUNGEN VOM DER S CHÖPFUNG

ZWEITEN

AKT

Das zentrale Narrativ, das in allen hier vorgestellten Narrativen, wenn auch in ganz unterschiedlichen Varianten, auftaucht, bildet, wie bereits erwähnt, die Netzwerk-Idee. Diese Idee wird in der Zeit der Jahrtausendwende modellhaft am System der Wirtschaft erläutert. Hier gilt nicht mehr der Code von Haben/Nicht-Haben, also das Konkurrenz-Prinzip, sondern leitend ist, so Kevin Kelly in seiner Studie „Out of Control“, ein Netzwerk-Modell, das durch verteilte Zentren definiert ist, die anpassungsfähig sind und flexible Produktionsprozesse erlauben (vgl. Kelly 1994)8. Wenn diese Grundlage

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Es wäre lohnend, Bezüge zwischen den Ideen zur Planwirtschaft und zu Partizipation und Empathie genauer zu verfolgen. Diese Ausgabe erschien 1997 unter dem Titel „Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft“ im Bollmann Verlag. Als Fischer Taschenbuch erschien sie 1999 unter dem Titel „Der zweite Akt der Schöpfung: Natur und Technik im neuen Jahrtausend“.

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gegeben ist und das Netzwerk erfolgreich funktioniert, dann steht für Kelly fest: Die in digitalem Geld bezifferbaren Erträge fließen nicht nur kontinuierlich, sondern sie steigen auch stetig. Diese digitale Ökonomie soll das Modell für die gesamte Organisation der Gesellschaft werden, und daraus folgt für Kelly: „Das bestimmende Ereignis des kommenden Zeitalters ist die Verbindung von allem mit allem. Alle Dinge, groß und klein, werden auf vielen Ebenen an riesige Netze von Netzwerken angeschlossen sein. Ohne große Netzwerke gibt es kein Leben, keine Intelligenz und keine Evolution; mit Netzwerken gibt es all das und mehr“. (Kelly 1999: 285)

In der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Kybernetik die „Chiffre für den technischen Traum totaler Kontrolle“ (Hagner/Hörl 2008: 35). Am Ende des 20. Jahrhunderts lebt diese Chiffre in den Netzwerken, die Narrative des Digitalen entwerfen, wieder auf und wird zugleich variiert, da in Netzwerken keine präzise Grenze zwischen „out of control“ und „in control“ besteht; Netzwerke ermöglichen höchst effektive Prozeduren von Kontrolle durch „the connecting power of connections“ (Strathern 2002: 311). Prozesse der Vernetzung bilden die Machttechniken der Netzwerke, die Deleuze in seinem „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ genauer beschrieben hat (vgl. Deleuze 1993: 254-262). Das Netzwerk als Modell und Motor eines neuen Zeitalters ist für Kelly mit einer neuen, nämlich künstlichen Stufe der Evolution verknüpft. Er bezieht sich dabei auf Forschungen, die gezeigt hätten, dass „von Menschen programmierte Computer eine Lamarckistische Evolution in Gang setzen können“ (Kelly 1999: 500). Der Lamarckistische Glaube ist bekanntlich mit dem wachsenden Unbehagen an der Kultur abhanden gekommen. Folgt man Kelly, dann gibt es Gründe für eine neuerliche Renaissance dieses Glaubens. Denn Evolution ist nicht länger, wie im 19. Jahrhundert, ein „biologischer Vorgang“, sondern „ein gebündelter, technologischer, mathematischer, informatischer und biologischer Prozess“ (Kelly 1999: 500). Das Netzwerk wird, so zeigen diese Ausführungen, als Modell der Wirtschaft zugleich das der Evolution von Natur und Technik, die in wechselseitigem Bezug agieren. Das Programm zielt auf die „Biologisierung von Maschinen“ und die „Verschmelzung der Natur mit der Maschine“ (Kelly 1999: 601), um ein „Zusammenkommen biologischer Prinzipien und digitaler Technologien“ zu realisieren (Kelly 1999: 602). Kellys Prognose lautet: „Die Zukunft der Maschinen heißt Biologie; die Zukunft der Wirtschaft heißt Netzwerk“ (Kelly 1999: 603). Beides, die Biologie der Maschinen und das Netzwerk der Wirtschaft stehen in einem wechselseitigen Bezug zueinander. Auch für dieses Narrativ lassen sich Vorgeschichten ermitteln, die ich hier ausblenden muss, um mit Ray Kurzweil eine weitere und weit verbreitete Variante der Narrative wenigstens zu erwähnen, die vom zweiten Akt der Schöpfung erzählen.

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Kurzweils in relativ kurzer Zeit mit jeweils großem Umfang erschienene Schriften (vgl. Kurzweil 2000/1999/1990) sind beherrscht von der „geschichtsphilosophische[n] Matrix“, die Michael Hagner für die Kybernetik der Mitte des 20. Jahrhunderts charakterisiert hat und „die das weitere Schicksal des Menschen unwiderruflich an die Denkfähigkeit der Maschinen“ knüpft (Hagner 2008: 38). Kurzweils Schriften bekräftigen auf markante Weise, dass die anthropologischen Fragen, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Hochphase der Kybernetik, aufgekommen sind, auch am Beginn des 21. Jahrhunderts unerledigt sind. Kurzweil imaginiert, darin Narrative der 1960er Jahre fortschreibend, dass der Mensch sich, wie Gotthard Günther es damals formuliert hat, „in einer technischen Nachbildung wiederholt“ (Günther 1979: 123). Wie die meisten Narrative des Digitalen, so ist auch und in besonderem Maße diese letzte Version von der Vorstellung geleitet, „dass wir in einer beispiellosen Zeit leben, Neues und Unwiderrufliches erleben und dass die Vergangenheit uns nichts zu sagen hat“ (Judt 2010: 28). Tony Judt bezeichnet diese Vorstellung als die „gefährlichste Illusion“ am Beginn des 21. Jahrhunderts. Gefährlich ist diese Illusion, so Judt, da sie angesichts der rasanten Umwälzungen den Blick auf die sozialen Transformationen, die mit diesen Umwälzungen ausgelöst werden, verschließt. Dieser blinde Fleck hat gravierende Folgen, da Umwälzungen in Folge von Digitalisierungs-Prozessen und soziale Transformationen sich nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo vollziehen. Die damit einhergehende Asynchronität enthält Konfliktpotential. Darin liegt aber nur ein Trugschluss der Judtschen „Illusion“. Ebenso gefährlich ist für Judt diese Illusion, weil sie das Neue der Zeit „mit ausschließlich ökonomischen Begriffen“ beschreibt und zwar in einem Duktus, „als wären es nicht bloß Instrumente für bestimmte soziale oder politische Zwecke, sondern notwendige und hinreichende Ziele an sich“ (Judt 2010: 28). Hier wird ein grundlegender Bruch im Denken sichtbar, der zwischen Judt und den hier vorgestellten Narrativen des Digitalen – insbesondere von Rifkin, Kelly und Kurzweil – auszumachen ist. Denn das, was in den Augen dieser Autoren modellbildend für die neue Gesellschaft ist, hält Judt für ‚bloße Instrumente‘. Die Mittel/Zweck-Relation hat sich grundlegend verändert. Ökonomische Prozesse sind, so Judts Prämisse, Mittel, um soziale und politische Zwecke zu erreichen. Mittel und Zweck sind hingegen zumindest in den zuletzt skizzierten Narrativen identisch. Der Zweck ist den Mitteln inhärent. Die bekannte Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt, ist damit obsolet geworden. Judt argumentiert mit einem ideologiekritischen Impetus. Er charakterisiert den Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur als eine Zeit grundlegender Umwälzungen und Transformationen, sondern gleichermaßen als ein „Zeitalter des Vergessens“ (Judt 2010: 9). Narrative des Digitalen stützen in manchem Judts Einschätzung. Am Ende des 20. Jahrhunderts, im November 1999, plädierten die Verfasser des „Manifesto for the Organizations of the 21st Century“ dafür, die günstige Stunde des Jahrtausendwechsels zu nut-

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zen, um die notwendigen Strukturveränderungen auf den Weg zu bringen. Sie riefen dazu auf, die Gefahr der zunehmenden Kluft zwischen den „haves“ und den „have-nots“, die mit diesen Veränderungen einhergehe, zu mildern. Judt hat diese Kluft im Blick, wenn er auf die Asynchronität zwischen sozialen Transformationen und Prozessen der Digitalisierung aufmerksam macht. Narrative des Digitalen am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts haben diesen Appell weithin vergessen.

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Dispositive der Theatralität

Robert Lepage ist (k)ein Zauberer! Intermedialität als theatraler Wahrnehmungsmodus J ULIA P FAHL

„Der frankokanadische Regisseur Robert Lepage ist der beste Geschichtenerzähler des Welttheaters“ (Kralicek 2010: 29), schreibt der Wiener Falter anlässlich der Europapremiere der jüngsten Lepage-Produktion Lipsynch im Rahmen der Wiener Festwochen 2010. Lipsynch sei, so Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „das erste große Oberflächendrama des Internetzeitalters: eine Komödie der Wahnsinns- und Zufallsverknüpfungen, eine Tragödie der Menschenverlorenheit, und natürlich eine Soap-Opera der Slapstick-Schicksalsklicks“ (Stadelmaier 2010: 33) – eine Handlung hingegen vermag er in seiner Rezension kaum zu umreißen. Tatsächlich ist eine episch weit verzweigte und damit oftmals komplexe Handlungsstruktur eines der Markenzeichen der Mammutproduktionen Lepages, die den Zuschauer gemeinsam mit den Figuren des Stücks auf eine lange Theaterreise entführen. Lipsynch erzählt über neun Stunden und in neun Bildern neun verschiedene Geschichten, in deren Zentrum die Figur Jeremy steht, der als Säugling von der Opernsängerin Ada adoptiert wird. Diese sitzt im Flugzeug von Frankfurt nach Montréal, als nur wenige Sitzreihen hinter ihr Jeremys Mutter Lupe stirbt. Während ihrer Recherchen nach dem Verbleib des Kindes lernt sie den Medizinstudenten Thomas kennen, den sie viele Jahre später in London wieder trifft und heiratet. Noch später wird sie von ihm verlassen, weil er sich in seine Patientin Marie verliebt, die nach einem Gehirntumor die Erinnerung an den Klang der Stimme ihres Vaters verloren hat und diese mit Hilfe von alten Stummfilmen rekonstruieren lassen möchte. Das Tonstudio, in dem ihr Wunsch realisiert werden soll, gehört Sebastian, dessen Partner früher im Hamburger Rotlichtmilieu zugange war, wohin Lupe – Jeremys leibliche Mutter – von ihrem Onkel aus Nicaragua verkauft worden war. Als dieser schließlich mit ihrem Kind die Flucht in die Heimat gelingt, stirbt sie im Flugzeug, Jeremy wird Adas Stiefsohn – und hier beginnt Lepages Geschichte. Neben dieser Hauptachse des Plots entwickeln sich viele weitere Handlungsstränge: Je-

74 | J ULIA PFAHL remy versucht als junger Mann im Rahmen zahlreicher Reisen, die Biographie seiner Mutter zu rekonstruieren und die Fragmente seiner Recherche schließlich in einem Film zu dokumentieren. Die Figuren vagabundieren zwischen Nicaragua, London, Los Angeles, Wien und Montréal; immer wieder ergeben sich überraschende Zusammenhänge – nicht alle sind dramaturgisch stringent, aber sie bündeln sich zu einem typisch lepagesken Handlungsgefüge, das das Publikum in einem nicht enden wollenden Sog mit sich reißt. „Wie immer bei Robert Lepage wird die Familiengeschichte nicht linear erzählt, sondern setzt sich aus vielen Vor- und Rückblenden, Abschweifungen und Querverweisen zusammen, wie immer zerspringt sie in viele Geschichten, die alle miteinander zu tun haben und die Figuren über Kontinente hinweg verbindet. Wie im Leben folgt sie dabei einer launischen Dramaturgie aus Zufall und Fügung, anders als im Leben ist sie nie langweilig, und sie vermag es, das Publikum in eine Theaterwelt zu verlocken, in der alles möglich ist und folglich auch geschieht. […] Die Aufführung zeigt nur die Splitter, zusammensetzen muss sie der Zuschauer selbst – und das Mosaik, das daraus entsteht, kann bei jedem anders aussehen. Das hat manchmal etwas von der erzählerischen Willkür einer Telenovela, nur dass es hier viel überraschender, poetischer, auch: erbarmungsloser zugeht.“ (Klett 2010: 3-4)

Weniger positive Rezensionen bemängeln genau diese komplexen Verflechtungen der Handlung, weil sie einen „Mangel an Tiefe“ (Tholl 2010: 12) verschleierten und der Theatermacher auch vor „großem Kitsch“ (Jandel 2010: 36) nicht zurückschrecke. „Konzentration ist […] nicht die Stärke von Lepage, das Ausufernde ist sein Konzept“, attestiert ihm so auch Renate Wagner im Neuen Merker, bescheinigt Lepage abschließend aber eine „hohe Kunstfertigkeit, Theater zu machen, […] die am Ende kaum jemand missen wolle“ (Wagner 2010). Diese höchst unterschiedlichen Bewertungen der Inszenierung Lepages durch die Fachpresse rücken zwei Aspekte seiner Bühnenästhetik in den Fokus: Zum einen bescheinigt die Theaterkritik Lepage immer wieder „ein Magier der Bilder“ (Jandel 2010: 36), bzw. seinem Theater eine „Wunderkammer“ (Affenzeller 2010) zu sein, dessen „Zauber […] zwischen poetischer Leichtigkeit und dramatischer Wucht […] süchtig machen“ könne (Strobl 2010: 10). Offensichtlich in Ermangelung geeigneter Beschreibungskategorien bedient sich das Feuilleton hier eines Vokabulars aus dem Bereich des Irrealen, Unbeschreibbaren und Wundersamen – die Bühnenästhetik des Frankokanadiers scheint den gewohnten Rezeptionsrahmen der Theaterkritik zu sprengen. Andererseits bemängeln die meisten Rezensionen gleichzeitig die dramaturgische Konzeption der Inszenierung: Der ausufernden Story mit ihren weitverzweigten Handlungssträngen fehle es vielfach an Stringenz, was die Vorstellungsdauer des transnationalen Familienepos unnötigerweise zu einer Dauer von neun Stunden ausdehne. Neben diesen Moneta in Bezug auf die Komposition des Plots diagnostizieren fast alle

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Kritiker eine formale Nähe zur Dramaturgie anderer Medienformate wie des Films oder des Fernsehens. „Am Ende [kann die Geschichte] jeder SoapOpera des Privatfernsehens den Rang streitig machen“, urteilt Renate Wagner (Wagner 2010), wobei am Schluss „trotzdem […] alles Theater“ (Villiger-Heilig 2010: 49) bleibe. Die Reaktionen der Rezensenten lassen sich also einerseits als eine allgemeine Faszination in Bezug auf die Bildästhetik dieses Theaters zusammenfassen, wobei allerdings ein differenziertes Vokabular zur Beschreibung dieser Wahrnehmungseindrücke fehlt, zum anderen als Kritik an der dramaturgischen Qualität des Plots, die jedoch mit Verweis auf formale narrative Kriterien anderer Medien relativiert wird. Das Theater Robert Lepages ist also scheinbar in zweierlei Hinsicht nicht typisch theaterhaft: Sowohl in seinen Darstellungsmitteln als auch in der formalen Strategie seines Plots sucht es Anleihen bei anderen Medien und diese ästhetische Intermedialität führt zu einer Krise habitualisierter Beschreibungs- und Bewertungsmaßstäbe. Dabei handelt es sich hier aber nicht um ein Defizit der Theaterkritik, dem die wissenschaftliche Theoriebildung weit voraus wäre. Im Gegenteil: Zwar hat der Begriff der Intermedialität seit geraumer Zeit in die theaterwissenschaftliche Debatte Eingang gefunden, die Formulierung geeigneter und allgemeingültiger Analysekategorien für medial-hybride Inszenierungen ist aber bisher – wie die ebenso eloquenten wie nebulösen Beschreibungsversuche des Feuilletons angesichts der Theaterästhetik Lepages belegen – nicht erfolgt.

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Die Schwierigkeit der Theaterwissenschaft, ähnlich den anderen Medienfächern an die Intermedialitätsdebatte anzuschließen, gründet in der Uneinigkeit der Fachvertreter über den Medienstatus ihres Gegenstands. Anders als etwa beim Film handelt es sich beim Theater um eine Kunstform, die in der raum-zeitlichen leiblichen Kopräsenz von Akteuren und Rezipienten gründet, also in der Tatsache, dass das Theaterereignis überhaupt erst durch die gleichzeitige Anwesenheit von Darstellenden und Zuschauenden zustande kommt. Dabei ist der theatrale Akt, der sich zwischen Bühne und Zuschauerraum vollzieht, ein Ereignis, das sich durch seine Unmittelbarkeit auszeichnet, also gerade nicht auf die Vermittlung durch etwas Drittes, etwa ein Medium, angewiesen ist. Dementsprechend argumentiert der Berliner Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach gegen eine Konzeption des Theaters als Medium: „Das Theater-Ereignis ist […] eine grundsätzlich andere Realität als ein MedienEreignis. […] Die gleichsam erdverhaftete Körperlichkeit, die Tätigkeit im Theater bestimmt, schafft eine wesentlich andere kommunikative Situation und vermittelt andere Erfahrungen als Mediatisierung.“ (Fiebach 1998: 167)

76 | J ULIA PFAHL „Da das ein Vorgang ist, in dem die Produktion [von] Körper[n] und deren Wahrnehmung, Erfahrung, daher Aufnahme durch andere (Zuschauer) gleichzeitig, in einer gemeinsam gestalteten und erfahrenen Raum-Zeit verläuft, ohne dass etwas dazwischen geschaltet ist, habe ich Schwierigkeiten, hier insgesamt von einem medialen Ereignis zu sprechen.“ (Fiebach 2001: 493)

Fiebachs Haltung gründet in seinem rein technikorientierten Medienverständnis und kann damit als paradigmatisch für das Problem der Positionierung des Fachs innerhalb der Intermedialitätsdebatte gelten. Denn unabhängig davon, ob unter dem Begriff des Mediums der Aspekt seiner Übertragungsfunktion oder der Mechanismus der dem Medium zugrunde liegenden Technik verstanden wird, birgt jeder Medienbegriff Eigenschaften, die mit dem Theater nur schwer vereinbar sind. Ebenso wie aber das Theater nur theoretisch auf die formelhafte Definition A verkörpert B während C dabei zusieht zu verkürzen ist, „wird es immer schwierig sein, Theater […] in Reinform als Medium zu definieren“ (Balme 2001 zit. nach Leeker 2001: 407), argumentiert Christopher Balme und plädiert stattdessen für eine Perspektivenverschiebung hin zu einer Betrachtung der historischen und gegenwärtigen Interaktionen des Theaters mit anderen Medien. Andererseits jedoch scheint die Definition eines operablen Medienbegriffs Voraussetzung für die Formulierung eines Intermedialitätsbegriffs aus theaterwissenschaftlicher Perspektive zu sein – und dieser Medienbegriff muss nicht nur der Unmittelbarkeit der theatralen Kommunikationssituation gerecht werden, sondern auch der Tatsache Rechnung tragen, dass das Theater, wie Petra Maria Meyer es definiert, ein ‚Plurimedium‘ ist, das viele verschiedene Einzelmedien in sich vereint. „Im Gegensatz zu den Medien ‚Photographie‘ und ‚Film‘ nehmen ins ‚Medium‘ Theater transformierte Zeichen oder Texte anderer Medien nicht eine gleiche materielle Oberfläche ein, so dass im Medium ‚Theater‘ die Differenzen der Medien und materiellen Zeichenträger betont werden […].“ (Meyer 1997: 120)

Der besondere Status des Theaters im intermedialen Gefüge resultiert also nicht nur aus der spezifischen theatralen Kommunikationssituation, sondern manifestiert sich auch in der Tatsache, dass das Theater als Medium eine Reihe von Einzelmedien in sich integriert, die dabei ihre jeweiligen medienspezifischen Qualitäten nicht verlieren. Für die Definition eines Medienbegriffs stellt sich demnach also auch die Frage, inwiefern hier zwischen den Einzelmedien und dem Apparat Theater als Ganzem zu unterscheiden wäre. Mit Rückgriff auf die eingangs konstatierte Beobachtung, dass die Theatersprache Lepages offensichtlich nach wie vor die Wahrnehmungsgewohnheiten der Theaterkritiker irritiert und dementsprechend auch die Beschreibungsparameter für solche intermedialen Theaterprodukte fehlen, muss es das Ziel eines zu etablierenden theaterwissenschaftlichen Medienverständnisses als auch des daran anschließenden Intermedialitätsbegriffs sein, diese

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Lücke zu füllen. Wie kann also der besondere mediale Status des Theaters erfasst werden und dabei das Phänomen der Wahrnehmung (von Intermedialität) fokussiert werden? Die Berliner Medienwissenschaftlerin Sybille Krämer entwickelt in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive einen Medienbegriff, der Medien als Vermittler von etwas begreift, das sie zwar selbst nicht erzeugen, im Vollzug der Übertragung aber gleichwohl mitkonstituieren. Damit konzipiert sie Medien nicht als rein sekundäre Übertragungsvehikel, sondern denkt sie performativ in dem Sinne, dass sie das, was sie hervorbringen, auch materiell und ästhetisch prägen. Weiter unterscheidet Krämer zwischen technischen Instrumenten im Sinne von ‚Werkzeugen‘, die der von ihnen vermittelten Botschaft äußerlich bleiben, und technischen Medien als ‚Apparate‘, die „nicht einfach das [effektivieren], was Menschen auch ohne Apparate schon tun, sondern [etwas] erschließen, für das es im menschlichen Tun kein Vorbild gibt […]. Nicht Leistungssteigerung, sondern Welterzeugung ist der produktive Sinn von Medientechnologie“ (Krämer 1998: 83ff). Die Wirkungslatenz von Medien, die Tatsache also, dass wir den Medieneinsatz oftmals gar nicht wahrnehmen, erklärt Krämer durch die scheinbare Neutralität der Medien, die als „blinder Fleck in unserem Wahrnehmen und Kommunizieren“ (Krämer 2003: 81) meist unterhalb der Schwelle unserer Aufmerksamkeit verharren. In Abwandlung des McLuhan’schen Diktums ‚the medium is the message‘ kommt sie zu dem Schluss, dass das Medium zwar nicht die Botschaft ist, dass sich an der Botschaft aber die „Spur des Mediums“ bewahrt (Krämer 1998: 81). Habitualisierte Wahrnehmungsmuster führen demnach dazu, dass uns oftmals Art und Weise medialer Vermittlung nicht bewusst wird. Wird unsere Perzeption aber irritiert und damit die Aufmerksamkeit unserer Wahrnehmung geschärft – etwa wenn wir im Theater etwas sehen, das den gewohnten ästhetischen Rahmen der Bühne zu überschreiten scheint – dann rückt automatisch die spezifische Materialität des Mediums – oder mit Krämer gesprochen: seine Spur – in den Fokus. Im Theater nehmen wir eine Filmeinspielung anders wahr, als wir Film im Kino sehen, eben weil im Kino die Art der Darstellung medienkonform erfolgt, im Theater hingegen Film als ein ästhetisch fremdes Element wahrgenommen und somit unsere Aufmerksamkeit auf diese Störung der Sehgewohnheit gelenkt wird. Mit Verweis auf den performativen, also welterzeugenden Charakter des Medialen, plädiert Krämer für ein Medienverständnis, das nicht nur den Inhalt der Botschaft fokussiert, sondern auch die jeweilige Art und Weise der Hervorbringung, seine spezifische Materialität und damit auch die dem Medium anhaftende Spur ins Blickfeld rückt. Damit akzentuiert sie die Funktion des Mediums als Ver-Mittler und seine Elementarfunktion der Aisthetisierung, also das ‚Sinnlich-Wahrnehmbar-Machen‘ und das zu Gesichtbzw. zu Gehör-Bringen. Krämer verwendet ‚Aisthetisierung‘ hier in der ursprünglichen griechischen Bedeutung des Terminus ‚aisthesis‘ (άίσθησις) als ‚sinnlich vermittelte Wahrnehmung‘. In einem postmodernen Verständ-

78 | J ULIA PFAHL nis des Begriffs verweist sie damit auf eine prozessorientierte Konzeption von Aisthetisierung in der Einsicht, dass „Erkennen und Wirklichkeit ihrer Seinsart nach ästhetisch sind”, dass es sich also beim Ästhetischen nicht um „sekundäre, nachträgliche Realitäten” handelt, sondern „dass das Ästhetische schon zur Grundschicht von Erkenntnis und Wirklichkeit gehört” (Barck 2000: 309, 316). „Das Schwellenphänomen, um das es hier geht, ist der Sachverhalt der Aisthesis, verstanden als der bipolar strukturierte Vollzug eines Ereignisses und seiner Wahrnehmung, das auf ein (symbolisches) Ausdrucksgeschehen gerade nicht reduzierbar ist. [...] Dabei geht in den Begriff der ‚Aisthetisierung‘ ein, dass es sich im Wechselverhältnis von Ereignis und Wahrnehmung um ein ‚in Szene gesetztes‘ Geschehen handelt, welches Akteur- und Betrachterrollen einschließt.“ (Krämer 2004: 14)

Interessanterweise entwickelt Krämer ihr Medienverständnis unter Verwendung von Begrifflichkeiten, die dem Bereich des Theaters entstammen bzw. analog auf den theatralen Kommunikationsprozess und das reziproke Verhältnis zwischen Produzierenden und Wahrnehmenden übertragbar sind. Theater kann so mit Krämer gesprochen als Apparatur zur künstlichen Welterzeugung beschrieben werden, die performativ das, was sie vermittelt und wahrnehmbar macht, auch mitkonstituiert, wobei ihren Botschaften die materiellen Spuren der verwendeten Einzelmedien anhaften. Die Formgebung des Medialen vollzieht sich dabei im Rahmen kultureller Praktiken auf einer Skala zwischen Kunst- und Kulturtechnik. Unter Kulturtechniken fallen all jene Phänomene, die routinisierte Gewohnheit sind, während Kunsttechniken innovativ sind und für Überraschungen und den Bruch mit Vertrautem stehen (vgl. Krämer 2003: 86). Weil das Theater als Kunst- und Kulturtechnik gleichermaßen zu beschreiben ist, manifestieren sich in den medialen Prozessen von Theater differente Phänomene intermedialer Interaktion, die auf den spezifischen Darstellungskonventionen des Mediums Theater basieren: Die Wahrnehmung der Spuren der Medien bleibt dann solange unbewusst, wie diese bestimmte Rezeptionskonventionen nicht tangieren, also als Kulturtechniken zum Einsatz kommen. In Momenten aber, in denen im Theater Medien wirken, die der Konvention nach keine Theatermedien sind, ästhetisch also als Innovation bezeichnet werden können, tritt die Spur des Medialen umso deutlicher ins Bewusstsein des Rezipienten. Das mit Krämer skizzierte Medienverständnis kann also einerseits als Basis für einen theaterwissenschaftlichen Medienbegriff nutzbar gemacht werden, es zeigt sich in dieser Konzeption des Medialen aber ebenso, inwiefern auch Intermedialität als ein vor allem wahrnehmungsästhetisches Phänomen von Theater beschrieben werden muss. Ähnlich der von Krämer beschriebenen Aisthetisierungsfunktion von Medien und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass eine intermediale Bühnenästhetik beim Publikum zu einer Irritation gewohnter Rezeptionsmuster führt, muss eben die Katego-

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rie der Wahrnehmung für die Beschreibung von Intermedialität im Theater fruchtbar gemacht werden.

I NTERMEDIALITÄT

ALS

W AHRNEHMUNGSKATEGORIE

Um der eingangs problematisierten Tatsache Rechnung zu tragen, dass dem Theater als Medium deswegen ein besonderer Status zukommt, weil es quasi als Containermedium viele Einzelmedien in sich vereinen kann, die dabei gleichwohl ihre spezifische Materialität nicht verlieren, hat Christopher Balme den Begriff des Rahmenmediums vorgeschlagen (Balme 2001: 480f). Balme versteht Intermedialität als den „Versuch, in einem Medium die ästhetischen Konventionen und/oder Seh- und Hörgewohnheiten eines anderen Mediums zu realisieren“ (Balme 1999: 135), wobei – wie Jürgen E. Müller es formuliert – die dadurch entstehenden „(ästhetische[n]) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen“ (Müller 1998: 32). Intermedialität wird hier also implizit als eine Wahrnehmungserfahrung beschrieben, die bestehende Perzeptionsgewohnheiten irritiert. Als ästhetische Brechungen werden demnach solche Momente wahrgenommen, in denen die Grenzen bestimmter Medienkonventionen außer Kraft gesetzt werden, etwa wenn das Theater eine Erzählweise des Fernsehens adaptiert oder die Bildästhetik des Kinos imitiert. Mit dem Begriff des Rahmens wählt Balme in Anlehnung an die soziologische Rahmentheorie Erving Goffmans (Goffman 1993) einen Terminus, der sowohl auf die besondere mediale Disposition des Theaters als ein viele andere Medien in sich integrierendes Medium bezogen werden kann, als er auch das Theater als ästhetische Bezugskategorie für die intermedialen Wahrnehmungsphänomene bestimmt. So wie Goffman Rahmensetzung als eine soziokulturell bedingte kognitive Aktivität beschreibt, die soziale Interaktion durch Bereitstellung bestimmter sozialer Parameter reguliert und so Verhalten bzw. Handeln ‚rahmenkonform‘ organisiert (Goffman 1993: 31ff), bestimmt der ästhetische Rahmen des Theaters die in ihm wirksamen formalen und/oder narrativen Regeln, auf deren Basis sich Darstellung vollzieht. „Die metakommunikative Setzung des Rahmens ermöglicht, […] dass für die Wahrnehmung von Handlungen innerhalb eines Rahmens immer zuerst die Regeln des jeweiligen Spiels gelten. […] Die Idee der visuellen Präsentation bzw. Ostension des Rahmens erfüllt die Funktion eines medienästhetischen, den Aspekt der medialen Reflexivität bezeichnenden Metakommentars.“ (Balme 2001: 482)

Der Begriff der Rahmung dient Balme zur Erforschung des Verhältnisses von Theater und neueren Medien wie Film und Fernsehen oder Internet sowie der Frage, wie der Akt der Rahmung und damit die Apparatur der ästhetischen Perzeption herausgestellt wird. Mit der Adaption der Rahmentheorie sieht er eine „wahrnehmungsstrukturierende Kategorie“ begründet, die den

80 | J ULIA PFAHL Rahmen als Schlüsselbegriff für intermediale Austauschprozesse im Theater identifiziert. Das Theater und seine ihm eigenen Regeln für die Herstellung und Rezeption von Wirklichkeit dienen als Apparatur ästhetischer Perzeption, durch die die in seinem Rahmen repräsentierten, thematisierten oder simulierten fremdmedialen Konventionen wahrgenommen werden. Die dabei als Irritation erfahrenen Perzeptioneindrücke machen sowohl den Akt des Betrachtens als auch die intermediale Interaktion bewusst. In der Form des Theaters als einem Wahrnehmungs- bzw. Schauraum offenbart sich seine metareflexive Funktion sowohl in Bezug auf seine Ontologie als Medium und als Rahmenmedium als auch hinsichtlich seiner Sonderstellung in intermedialen Wechselbeziehungen. Das Theater zeigt, und zwar nicht nur das Was, sondern auch das Wie, und das nicht nur in Bezug auf seine eigenen Mittel, sondern auch auf die in ihm zur Anwendung kommenden Fremdmedien. Wenn Sybille Krämer Medialität als Performativität konzipiert, dann lässt sich das Theater als ein paradigmatischer Ort medialer Performanz kennzeichnen, der im Moment der (inter-)medialen Interaktion die Art der Hervorbringung besonders herausstellen kann und so die unsichtbare Seite der Medialität bzw. die der Botschaft anhaftenden Spuren des Mediums in den Fokus rückt.

L IPSYNCH : ‚M OVIE -S OAP ‘, ‚I NTERNET -D RAMA ‘, ‚T HEATER -E POS ‘ Die Bühnenästhetik Robert Lepages lässt sich als künstlerische Umsetzung dieser Idee von Theater als einem selbstreferentiellen Rahmenmedium kennzeichnen. Viele seiner Inszenierungen thematisieren unterschiedliche visuelle Darstellungsmedien – und zwar sowohl auf narrativer Ebene als auch formal-ästhetisch, indem sie mit den jeweiligen Codes der Fremdmedien spielen, sie repräsentieren, simulieren oder mit Theatermitteln realisieren. Am nachdrücklichsten ist Lepages intermediale Theatersprache durch die visuellen Unterhaltungsmedien Film und Fernsehen geprägt. Immer wieder betont der Theatermacher die produktive Wechselwirkung zwischen elektronischen bzw. digitalen audiovisuellen Medien und seiner Bühnenästhetik, die er ganz grundsätzlich als wegweisend für die Entwicklung einer Theaterkunst der Zukunft erachtet: „Il est évident que les médias ont changé notre façon de penser, autant sur le plan de la forme que du contenu. Le public auquel on s’adresse aujourd’hui voit beaucoup de cinéma et de télévision où se développe un langage qui l’habitue à superposer les informations. Le public ne perçoit plus les choses de la même façon, on peut donc lui raconter une histoire de manière différente. Les artisans du théâtre résistent encore à cela parce qu’ils veulent préserver une certaine intégrité, une certaine façon de faire alors que les gens désirent se faire conter des histoires avec le vocabulaire qu’ils ont et qu’ils comprennent.“ (Hébert/Perelli-Contos 1994: 64)

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Die intermediale Ästhetik der Produktion Lipsynch spiegelt sich bereits in den eingangs zitierten Pressestimmen, die die Inszenierung mit Unterhaltungformaten wie Soap-Operas oder Fernsehserien vergleichen und ihre Erzählweise anlog der Durchklicktechniken von Onlineangeboten beschreiben. Tatsächlich sind diese Labels unter analytischen Gesichtspunkten vollkommen korrekt gewählt. Schon strukturell erweist sich die Dramaturgie der Inszenierung Lipsynch als eher filmisch denn dramatisch konzipiert. Die neun Teile oder Akte der Inszenierung, die jeweils eine Figur des Epos und deren Geschichte in den Fokus nehmen, sind wie ein Episodenfilm aufgebaut. Dieser Struktur entsprechend ist auch die Erzählweise der Inszenierung filmisch in dem Sinne, dass die neun Bilder Schlaglichter auf einzelne, zunächst scheinbar unzusammenhängende Situationen und Konstellationen werfen, die Narration sprunghaft fortschreitet, dabei auch achronologisch mit Rückblenden gearbeitet wird und immer wieder Verknüpfungen zu den vorangegangen Teilen der Erzählung hergestellt werden. „Völlig anders als Repertoiretheater“ durchbricht Lepage die konventionelle, lineare und chronologische Erzählform des Theaters – „das Ganze erinnert an eine Fernsehserie, deren Folgen ohne Unterbrechung aneinander gereiht werden“ (Villiger-Heilig 2010: 49). Die ästhetische Nähe Lepages zum Film zeigt sich außerdem immer wieder in den vielfachen Rahmungen seiner Theaterbilder. Damit zitiert er einerseits das klassische Filmbild, aber die rechteckigen Kästen, in denen sich viele der Bühnenhandlungen abspielen, verweisen auch auf den Theaterguckkasten als einem gerahmten Illusionsraum. Ergänzt werden diese Bild-Kästen in vielen Inszenierungen durch die Projektion von Über- oder Untertiteln (Abb. 1), mittels derer die international tourenden Inszenierungen in die jeweilige Landessprache des Aufführungsorts übersetzt werden. Hier handelt es sich um ein formales Mittel, das zwar über die Oper auch Eingang auf die Theaterbühne gefunden hat, ursprünglich aber eine filmische Konvention ist. Ebenfalls ein formales Merkmal des Films ist die Projektion der Credits (Abb. 2), also die Einblendung der Namen des künstlerischen Produktionsteams, der Darsteller sowie der technischen Mannschaft der Produktion zu Beginn oder am Ende der Vorstellung. Abbildungen 1 und 2: Lipsynch (Teil1 / Prolog)

Quelle: Photos © Érick Labbé

82 | J ULIA PFAHL Im Fall der Produktion Lipsynch zeigt sich dem Zuschauer vor Beginn der ersten Szene ein hybrides Bild: Man blickt auf einen wallenden, roten Theatervorhang – und hier handelt es sich nicht um eine Projektion – über dem wie im Kino die Credits eingeblendet werden. Obgleich ob der Materialität des Vorhangs hier zunächst die Assoziation Theater entsteht, verweisen Größe und Format des Vorhangs sowie die geringe Tiefe des Bühnenstreifens, in dem anschließend der Prolog stattfindet, auch auf das Medium Film. Neben diesen formalen Zitaten werden der Film als Medium und Kunstform sowie die Arbeitsbedingungen an einem Filmset in Lipsynch vielfach intradiegetisch thematisiert. Marie, die Tumorpatientin, die ihre Erinnerung verloren hat, versucht mit Hilfe alter Stummfilme, die Stimme ihres Vaters rekonstruieren zu lassen. Wir sehen Sequenzen, in denen Filmszenen synchronisiert werden, oder den jugendlichen Jeremy mit einer Videokamera in der U-Bahn, der später als Erwachsener einen Film über das Leben und Schicksal seiner Mutter dreht. Intermedialität manifestiert sich im Theater Lepages also nicht primär durch den Einsatz fremder medialer Darstellungsmittel, sondern vielmehr durch ihre Thematisierung oder ihre Realisierung mit den Mitteln des Theaters. Die Wahrnehmungsirritation beruht also auf einer Adaption der Darstellungsmodi des Films oder des Fernsehens. Das Theater erzeugt durch die Imitation filmischer Darstellungsweisen eine Wahrnehmungserfahrung, die der Zuschauer aus dem Kino kennt, im Rahmen des Theaters aber nicht erwartet. Ein bereits klassisch gewordenes Beispiel für die theatrale Simulation filmischen Sehens ist die Inszenierung eines Telefongesprächs. Als Ada nach ihrer Landung in Montréal Nachforschungen über den Verbleib des Säuglings anstellt, dessen Mutter während des Flugs gestorben war, telefoniert sie mit unterschiedlichen Ansprechpartnern ihrer Fluggesellschaft sowie der Verwaltung des Flughafens in Montréal. Während Ada an ihrem Schreibtisch innerhalb des Bühnenkastens sitzt und das Telefon bedient, befindet sich ihr jeweiliger Gesprächspartner auf dem äußeren Rand des Kastens. Der Bühnenraum bleibt dabei dunkel, lediglich die beiden Telefonierenden werden durch einen Lichtkegel fokussiert. Der Zuschauer verfolgt das Gespräch vergleichbar einem parallel geschalteten Filmbild; sein Blick scheint wie durch die Kameraführung gelenkt, seine Wahrnehmung und Aufmerksamkeit konzentrieren sich auf den jeweils Sprechenden und blenden den Rest der Szenerie fast vollständig aus. Auch die Wahrnehmung einer U-Bahnfahrt aus der Perspektive der sich im Zug befindenden Reisenden imitiert die Effekte des Films. Jeremy und seine Freundin sitzen in einem Waggon, in den an einer späteren Station auch Ada, Jeremys Mutter zusteigt (Abb. 3 und 4). Für den Zuschauer entsteht der Eindruck, er befinde sich mit den Figuren im Zug, der durch die dunklen Tunnel fährt und in verschiedenen U-Bahnhöfen anhält. Aber nicht der Waggon auf der Bühne wird in Bewegung gesetzt, sondern die hinter dem Kasten angeordneten Laufbänder transportieren Kulissen und wartende

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Fahrgäste entgegen der Fahrtrichtung des Zuges auf die Bühne und wieder in die Kulissengasse hinein. Abbildungen 3 und 4: Lipsynch (Teil 1)

Quelle: Photos © Érick Labbé

Der „Theaterzauber“ (Stadelmaier 2010) der Inszenierungen Lepages erweist sich also bei genauerem Hinsehen sehr viel weniger als hochtechnisiertes multimediales Potpourri, dessen Faszination allein den ästhetischen Potentialen des Medieneinsatzes geschuldet wäre. Die intermediale Ästhetik seines Theater ist weder reiner Selbstzweck noch der Versuch, das Theater mittels einer Technisierung der Bühne ins Medienzeitalter zu retten. Gleichwohl ist Lepage aber überzeugt, dass sich das Theater den durch Film, Fernsehen und Internet veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten anpassen muss, wenn es auch zukünftige Zuschauergenerationen für sich gewinnen will. Mit feinem Gespür für die unterschiedlichen medialen Codes kreiert er in seinen Inszenierungen heterogene Bildeindrücke, die sein Publikum gleichermaßen faszinieren und irritieren. Sein Theater wird so zu einem „Trainingscenter der Wahrnehmung“ (Boenisch 2003: 453), in dem er gleichsam mit einem Augenzwinkern mit den Mitteln des Theaters die Illusionspotentiale verschiedenster Medien vorführt. Die „Magie“ (Strobl 2010) gründet dabei in seinem tiefen Bewusstsein, dass das Theater schon in seinen Ursprüngen ein Ort magisch-rituellen Geschichtenerzählens war und für ihn auch immer bleiben wird. „Wenn wir nichts zu sagen haben, bleibt die Form einfach nur die Form und das Medium nur das Medium“, so zitiert ihn Wolfgang Kralicek anlässlich seiner Rezension von Lipsynch im Wiener Falter, „[a]ber wenn wir etwas zu sagen haben, wird das Medium zur Message“ (vgl. Kralicek 2010: 29).

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L ITERATUR Affenzeller, Margarete, „Wunderkammern für ein Meer von Stimmen“, in: Der Standard (14.5.2010); vgl. auch http://derstandard.at/1271376625 146/Premierenkritik-Wunderkammern-fuer-ein-Meer-von-Stimmen (letzter Zugriff am 5.6.2011). Balme, Christopher, „Robert Lepage und die Zukunft des Theaters im Medienzeitalter“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, 133-146. Balme, Christopher, „Pierrot encadré. Zur Kategorie der Rahmung als Bestimmungsfaktor medialer Reflexivität“, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin: Alexander Verlag 2001, 480-492. Barck, Karl-Heinz, „Zur Aktualität des Ästhetischen“, in: ders. et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB): Historisches Wörterbuch in sieben Bänden (Bd. 1), Stuttgart: Metzler 2000, 308-317. Boenisch, Peter M., „Theater als Medium der Moderne? Zum Verhältnis von Medientechnologie und Bühne im 20. Jahrhundert“, in: Christopher Balme/Erika Fischer-Lichte/Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen/Basel: Francke 2003, 447-456. Egbert Tholl, „Funktion folgt der Form. Robert Lepage enttäuscht bei den Wiener Festwochen”, in: Süddeutsche Zeitung (14.5.2010), S. 12. Fiebach, Joachim, „Kommunikation und Theater. Diskurse zur Situation im 20. Jahrhundert“, in: ders., Keine Hoffnung, keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität, Berlin: Vistas 1998, 85-181. Fiebach, Joachim, „Ausstellen des tätigen Darstellerkörpers als Keimzelle von Theater oder Warum Theater kein Medium ist“, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin: Alexander Verlag 2001, 493-499. Goffman, Erving, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Hébert, Chantal/Perelli-Contos, Irène, „La tempête Robert Lepage“, in: Nuit blanche 55 (1994), S. 63-66. Jandl, Paul, „Neun Stunden im Halbdunkel“, in: Die Welt (15.5.2010), S. 36. Klett, Renate, „Die menschliche Stimme“, in: Lypsynch, Programmheft der Wiener Festwochen 2010, S. 1-4. Krämer, Sybille, „Das Medium als Spur und als Apparat“, in: dies. (Hg.), Medien, Computer, Realität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 73-94. Krämer, Sybille, „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren“, in:

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Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie: Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M.: Fischer 2003, 78-90. Krämer, Sybille, „Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‚Aisthetisierung‘ gründende Konzeption des Performativen“, in: dies. (Hg.), Performativität und Medialität, München: Fink 2004, 13-32. Kralicek, Wolfgang, „Monsieur Marathon“, in: Falter (5.5.2010), S. 29. Leeker, Martina, „Hellerauer Gespräche: Theater als Medienästhetik oder Ästhetik mit Medien und Theater?“, in: dies (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin: Alexander Verlag 2001, 405-433. Meyer, Petra Maria, „Theaterwissenschaft als Medienwissenschaft“, in: Forum Modernes Theater 12/2 (1997), S. 115-131. Müller, Jürgen E., „Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept“, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt 1998, 31-40. Stadelmaier, Gerhard, „Neun Stunden, neun Leben, neun Schauspieler“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.5.2010), S. 33. Strobl, Ernst P., „Ein Flug ins Land des Staunens“, in: Salzburger Nachrichten (14.5.2010), S. 10. Villiger-Heilig, Barbara, „Neun mal Leben, drei Mal Tod“, in: Neue Zürcher Zeitung (19.5.2010), S. 49. Wagner, Renate, „Verworrener Theaterzauber“, in: http://www.der-neuemerker.eu/mod,criticism/id_menuitem,15/id_criticism,2945 (letzter Zugriff am 6.5.2011).

Intermediale Performances Vom Umgang mit Medienkonvergenz 1966/2001 M ARTINA L EEKER

I NTERMEDIALITÄT

ALS DISKURS

Intermedialität ist heutzutage ein nicht mehr wegzudenkendes Theorem in den Medien-, Literatur- und Kulturwissenschaften.1 Sie steht für die Annahme, dass Medialität statt aus den kulturellen Aprioris von Einzelmedien aus intermedialen Beziehungen und Übertragungen zwischen Medien sowie aus transformierenden und damit Mediengrenzen überschreitenden Handhabungen von Medien („Ver-Wendungen“, Mersch 2010) zu bestimmen sei. Insbesondere in Theater, Tanz und Performance würde Intermedialität regelrecht zum Paradigma, da sie aus der Verbindung, Übertragung und Anwendung (Performance) unterschiedlichster Medien entstünden (Balme 2004; Mersch 2006). Während Intermedialität in der beschriebenen Weise als gleichsam ontologische Gegebenheit entworfen wird, soll hier allerdings vorgeschlagen werden, sie aus ihrer wissens- und technikgeschichtlichen Herkunft als Diskurs zu erschließen. Intermedialität als Praxis sowie als theoretische Unternehmung wird, so die These, mit der Konvergenz von Medien2 in der uni-

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Interesse an der Intermedialität zeigt sich zunächst in den 1980er Jahren in den Philologien, die sich mit der Verfilmung literarischer Stoffe befassen und derart den Absprung in die Medienwissenschaften markieren. Die These von der Konvergenz der Medien in den diskreten Operationen des Computers (ausschlaggebend: Kittler 1986; 1993) wird kontrovers diskutiert (u.a. Tholen 2002; Schröter 2004; Mersch 2010). Pointiert sind Dieter Merschs Überlegungen, dass in Auseinandersetzung mit Kittlers Diktum vom kulturellen Apriori der Medientechnik (Kittler 1986; 1993), nach dem es mit dem Computer zu einer umfänglichen Diskretisierung, auch von Sprache und Konzeption des Anthropologischen komme (z.B. Lacans vermeintlich binäre Strukturierung der Psyche), technische Materialität im Sinne algorithmischer Rekursion und symboli-

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versellen Codierung des Computers nötig, um durch sie verschwindende Einzelmedien, Vermittlungen und Greifbarkeiten von Welt – und seien sie noch so prekär und unwahrscheinlich − zu re-organisieren sowie ausgeschlossene Menschen zu re-integrieren.3 Intermedialität erscheint somit als strategisches Konstrukt. Probater Gegenstand, um diese Sicht sowie die Diskursivität von Intermedialität zu veranschaulichen, sind intermediale Performances. Sie werden hier als Ereignisse vorgestellt, mit denen diskursiv voneinander unterscheidbare Medien erzeugt und deren Übersetzungen organisiert werden. Die Modellierung dieser Übersetzbarkeit ist historisch äußerst variabel. Die Unterschiedlichkeit in der Auslegung von Intermedialität erklärt sich aus der diskontinuierlichen Entwicklung der Konvergenz von Medien, wie nun anhand der Performances der 9 Evenings4 (1966, New York) sowie von Tristan und Isolde, ein Ausstellungsstück5 von Jo Fabian (2001, Berlin) skizziert wird.

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sche Iterabilität zu unterscheiden seien. Diese Unterscheidung ist zu unterstützen. Hier wird allerdings davon ausgegangen, dass mit symbolischer Iterabilität die technische Konvergenz im Diskreten überschrieben wird. Vgl. hierzu anders gewichtet Jens Schröter: „Mit der beginnenden Metaphorisierung und Funktionalisierung des Computers als ‚Universalmedium’ wird es möglich, die Spezifika der Medien unabhängig von ihrer technologischen Materialität zu beobachten. Die materiellen bzw. technologischen Strukturen verdampfen zu Formen, die performativ das digitale Medium koppeln. So werden auch die scheinbar klar fixierten ‚Monomedien‘ retrospektiv als temporäre, performativ, diskursiv und damit politisch erzeugte Eingrenzungen eines vorgängigen intermedialen Spektrums denkbar. Es wäre sicher falsch anzunehmen, dass Intermedialität allererst mit Computern entsteht, schon weil transmediale Beziehungen zwischen Medien auf der Ebene (relativ) medienunspezifischer Strukturen wie Rhythmus, Serialität, Narration etc. schon immer existiert und die ‚reine’ und ‚spezifische’ Selbstidentität eines gegebenen Medium subvertiert haben. Wenigstens muss aber eingeräumt werden, dass Intermedialität sich historisch verändert, dass mit dem Computer eine neue, virtuelle Art derselben und in deren Gefolge erst der Begriff ‚Intermedialität’ auftaucht.“ (Schröter 2004: 405-407) Vgl. einführend die Dokumentation 9 Evenings: Theatre and Engineering der Fondation Langlois: http://www.fondation-langlois.org/html/e/selection.php? Selection=9EVO (letzter Zugriff am 2.6.2011). Siehe zum Stück: http://www.nofishnochese.de/Seiten/Gallery/Pieces/Jahrgaen ge/2001/tristan/tristan_start.html (letzter Zugriff am 30.9.2010).

I NTERMEDIALE P ERFORMANCES

INTERMEDIALE PERFORMANCES

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1966

1960er Jahre. Computer zwischen Rechenmaschine und interaktivem Medium und die Ankunft von Intermedia Wird Intermedialität als Diskurs angenommen, um mit der Konvergenz von Medien in der universellen Codierung des Computers umzugehen, dann lassen sich dessen Wissens- und Technikgeschichte in dieser Perspektive neu lesen. Als Beginn der Konjunktur von Intermedialität in Kunst und Wissenschaft kommt nun die in den 1960er Jahren einsetzende Interaktivierung des Computers in den Blick. Mit ihr sollte er von einer Rechenmaschine für Experten zu einem interaktiven, den Menschen in seine Operationen integrierenden Medium umgestaltet werden.6 Dazu wurde es nötig, eine Weise zu finden, die Konvergenz der Medien in der universellen Codierung des Computers zu unterlaufen, denn sie schließt den Menschen ob ihrer Selbstbezüglichkeit aus. Als interaktives Medium aber sollte er gerade auf die Nutzung insbesondere von Laien im Hinblick auf Kommunikation sowie auf den Zugang zu Welt hin ausgelegt werden. Um diesen Gebrauch zu ermöglichen, wurden Ein- und Ausgabegeräte entwickelt, die die unverständliche Maschinensprache bzw. universelle diskrete Codierung in akustische oder visuelle Erscheinungen übersetzten (Turner 2006; Friedewald 2007a; 2007b; 2009; Ceruzzi 2003). Mit dieser Gestaltung wurden Oberflächen und algorithmische Verrechnungen voneinander getrennt. Das heißt, die bei der Erzeugung der multimedialen Oberflächen stattfindende Übersetzung anderer Medien in diskrete Codierungen wird im Erscheinen bekannter medialer Effekte und Modi unsichtbar und damit der Computer im Zuge seiner Interaktivierung zu einer metaphorischen Technik sowie zu einer Illusionierung der Wahrnehmung. Die Konvergenz von Medien in der universellen Codierung des Computers wird so zu einer interaktiven Kooperation umgedeutet.

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Beispiele sind u.a.: SAGE, Luftabwehrcomputeranlage mit Radarmonitor und Lightpen (1963 betriebsbereit), Ivan Sutherlands Graphikprogramm Sketchpad (1963), Douglas Engelbart, oN Line System zum verteilten computergestützten Arbeiten mit u.a. Maus und Monitor (1968), Michael Nolls Choreografie- und Graphikprogramme (1968). Michael Friedewald schreibt hierzu: „So waren bis in die 1970er Jahre weitaus die meisten Computer von ihrem Charakter her Rechenautomaten, die nach einem festgelegten Schema umfangreiche numerische Operationen durchführten. Der Mensch spielte bei solchen ‚Datenverarbeitungsanlagen‘ eine eher periphere Rolle als Programmierer oder ‚Operator‘. Das Leitbild des Computers als ‚Werkzeug und Medium‘ stellte hingegen den Menschen in das Zentrum und basiert dabei auf Konzepten aus der klassischen Kybernetik.“ (Friedewald 2007b: 2)

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Dass eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine trotz der Schwierigkeit, Mensch zu diskretisieren, als möglich erachtet werden konnte, hängt u.a. zusammen mit der Umdeutung tradierter Konzeptionalisierungen des Anthropologischen, die die Kybernetik seit den 1940er Jahren vornahm (Wiener 1963). Mit ihr wurden Mensch und Maschine gleichermaßen zu informationsverarbeitenden Systemen erklärt (Pias 2004: 295-310).7 Technik wird damit nicht länger als Prothese des Menschen gesehen, sondern beide lösen sich zu einer Ununterscheidbarkeit auf (Pias 2003). An die Stelle eines menschlichen Subjektes tritt ein System der Steuerung und Regelung in diskreten Schaltkreisen, in dem Verhalten und Denken als ein IstSoll-Abgleich bei der Verfolgung von Zielvorgaben sowie bei Problemlösungen aufgefasst wird. Dieses System kann sich selbst, im Zweifelsfall ohne Zutun des Menschen, organisieren. Die kybernetische Utopie und Epistemologie (Pias 2003) lösen ‚den‘ Menschen mithin in einen Regelungskreislauf auf. Im Dunstkreis dieser kybernetischen Konvergenz von Technischem, Medialem und Anthropologischem, in der Intermedialität ob der universellen und nivellierenden Regelungsprozesse technisch nicht, bzw. als eine universelle, unspezifische Übersetzbarkeit (aus der diskreten Codierung kann Alles, zumindest Vieles werden [vgl. Tholen 2002]) vorkommt, lanciert der amerikanische Fluxuskünstler und Verleger Dick Higgins das Modell Intermedia. Es dient der Beschreibung von für Higgins zeitgenössische Kunstformen8, die im Gegensatz zu einem mixed media-Sammelsurium aus einem Zusammenspiel von Medien wie Musik, Malerei, Text, Tanz oder Bildern ein hybrides Ganzes entstehen ließen (Higgins 1966), das sich aus einer wechselseitigen Durchdringung und Reflexion der beteiligten Medien sowie von Kunst und Leben konstituiere. Intermedia versteht Higgins somit als Format der Verbindung von Medien sowie von Mensch und Medium, mit dem der diskreten Informationsverarbeitung und Regelungs-Epistemologie die Vorstellung einer Existenz von unterscheidbaren, spezifischen Einzelmedien sowie von Menschen und von deren Übersetzbarkeit entgegengesetzt wird.9 Er überführt Intermedia schließlich in eine Medien- und Gesellschaftstheorie medialer Hybridität, in der intermediale Übersetzbarkeit verantwortlich sein soll für eine demokratische Kontinuität zwischen Medien, Leben, sozialen Gruppen, Modi der Wahrnehmung sowie Denkweisen, die an die Stelle der tradierten Epistemologie der Hierarchisierung und Kategorisierung durch Monomedialität seit

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John von Neumann bezweifelt in Auseinandersetzung mit Norbert Wiener diese Übersetzungsmöglichkeit (Hagen 2002a). Beispiele sind für Higgins u.a. Marcel Duchamps Ready Made, John HeartFields Foto-Collagen oder Kaprows reflexive Verbindung unterschiedlicher Medien sowie die Integration von Besuchern in seinen Enviroments. Dies gälte, obwohl das Gesamte nicht mehr auf die Einzelmedien zurückführbar sei.

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der Renaissance trete (Higgins 1966). Entscheidend ist also an Intermedia, dass in ihm entgegen der Kybernetik und trotz der medialen Konvergenz Einzelmedien konstitutiv sind und in ihrem Kontinuum im Gegensatz zu kybernetischen, diskret getakteten Regelungskreisläufen, Menschen integriert sind, statt substituiert zu werden. 9 Evenings. In McLuhans Global Village Dass dem diskreten, diskontinuierlichen Signaltransport Kontinuität entgegengesetzt werden kann, die zugleich, wie sich nunmehr zeigen wird, Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Anthropologischen ist, erklärt sich aus Marshall McLuhans elektrischer Medienlehre des Computers (de Kerckhove/Leeker/Schmidt 2008). McLuhan hat nämlich ein Konkurrenzmodell zum kybernetischen Schaltuniversalismus vorgeschlagen, in dem sich im Topos des Computers als Extension des auf kontinuierlichen elektrischen Vorgängen beruhenden Nervensystems die Denkfigur von Medien als Prothesen des Menschen und damit das Anthropologische aufrechterhalten (Leeker 2008a). Statt diskreter Schaltung und Informationsverarbeitung wird damit zugleich das kontinuierliche Leiten von Signalen zur technischen Basis des Computers erklärt. Auf dieser Basis gelingen nun eine besondere Weise der Kommunikation von Mensch und Computer sowie der Integration des Menschen. Im elektronischen Environment kommt es nämlich nach McLuhan zu einem Zusammensein der Menschen im alle Sinne anregenden und das Bewusstsein entgrenzenden global village (McLuhan 1968), in dem elektrische Resonanz und para-physikalische Zustände (McLuhan 1969) Existenz und Kommunikation bestimmen. Diese Beziehung von Mensch und Technik zu behaupten, gelingt McLuhan allerdings nur, indem er mit seiner elektromagnetischen Sicht den mit dem Computer einhergehenden Wechsel von Energie zu Information nicht zur Kenntnis nimmt (Leeker/Schmidt 2008: 19-45; Firyn 2008: 394-407). Es kommt mithin zu einer Umdeutung des Computers, die über seine technische Konstitution hinwegtäuscht und sich dazu durchaus hypnotischer Mittel bedient, etwa psychedelischer Performances. Solche Performances des elektrisierenden und bewusstseinserweiternden universellen Miteinanders realisierten Künstler der Neo-Avantgarden in den 1960er Jahren in den USA in direktem Bezug auf McLuhan (Leeker 2008a; Turner 2006).10 In diesem Kontext stehen auch die Performances der 9 Evenings, Theatre and Engineering (Fondation Langlois 2006; Bardiot 2006a), deren Macher, u.a. John Cage, David Tudor, Robert Rauschenberg, Yvonne Rainer und Alex Hay, sich explizit auf McLuhan beziehen (Wolfe 1965). 1966 im Armory, einer Militärhalle in New York, aufgeführt, können sie als die ers-

10 Nicht umsonst werden sie von ihm als die Antennen für das Erfassen der verborgenen Wirkungen von Technologie bezeichnet (McLuhan 1964: 49).

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ten intermedialen Performances im Dunstkreis des Computers und der Konvergenz der Medien in seinen diskreten Operationen gelten. Im Fokus der Performances steht die Verbindung und Übersetzung unterschiedlicher Medien sowie der Akteure zu einem klingenden und schwingenden Gesamten. Von besonderem Interesse ist nun, dass die Performances das dabei nötige diskrete Schalten als kontinuierlichen flow der Übersetzungen unterschiedlicher Medien inszenierten (Leeker 2008a: 345-375).11 Der flow gründete auf dem Konzept einer besonderen Art der All-Übersetzbarkeit. Es wurde nämlich der Anschein erweckt, dass diverse Outputs von Menschen, elektronischen Geräten oder Musikinstrumenten sowie so unterschiedliche physikalische Phänomene wie Töne, Film, Licht in elektrische Signale als kleinstem gemeinsamen Nenner umgewandelt und über elektromagnetische Wellen transportiert werden könnten. Mit Hilfe des technischen und konzeptuellen Supports von dreißig Ingenieuren der Bell Telephone Laboratories wurde ein entsprechendes Übertragungsenvironment gebaut, das TEEM (Theater Electronic Environmental Module), mit dem der materielle, analoge Transport von Signalen mit Hilfe von deren Verstärkung sowie der Modulation von Wellenfrequenzen und Wellenphasen bewerkstelligt wurde (Bardiot 2006a). Auch Formen der Schaltung und Taktung sowie devices, die auf einem codierten und diskreten Signaltransport beruhten, wurden auf analoge und leitende Vorgänge umfunktioniert (Leeker 2008a).12 Die Ingenieure, die bei den Bell Labs an der Diskretisierung von Sprache in der PulscodeModulation arbeiteten, überschrieben dieses Tun in den 9 Evenings mithin konsequent materiell-elektrotechnisch. Es geht also um eine neue Kunstform fürs global village, die sich aus der Herstellung einer Intermedialität als erzwungene und technische Verfahrensweisen verdeckende Medienkon-

11 Während Clarisse Bardiot davon ausgeht, dass die 9 Evenings ein Scharnier sind zu einer informationstechnischen Philosophie und deren technische Implementierung vorwegnehmen, wird gerade das diskrete Schalten aus meiner Sicht unterminiert. (Bardiot 2006b: Section 7, 18:00-19:25). Von besonderem Interesse ist die Analyse der 9 Evenings von Fred Turner (Turner 2008). Er entfaltet den Gedanken, dass u.a. mit diesen Performances Vorstellungen von Subjektivität und Dingen modifiziert wurden, so dass der Mensch nicht länger ein intentionaler Künstler ist und technischen Dingen Agency zugesprochen wird. Dies ermöglicht eine Kooperation von Mensch und Computer und leistet einer positiven Bewertung von Automation als kreativen Freiraum und damit ihrer Durchsetzung Vorschub. 12 Paradigmatisch wird dies deutlich an David Tudors Performance Bandoneon! (a combine). Das von Robert Kieronski gebaute Vochrome (http://www.lumion. net/pages/vochrome.php, http://www.fondation-langlois.org/html/e/page.php? NumPage=599 [letzte Zugriffe am 2.6.2011]), ein Gerät zur Analyse von Frequenzen und deren Zuordnung zu Noten, kann als ein diskreter Schaltapparat gelten. Diesen nutzt Tudor allerdings als einen elektrischen Leiter (Leeker: 2008a).

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vergenz im Elektrischen und als umfängliche Medien-Existenz in einer resonanten, mit dem Menschen schwingenden Medien-Umwelt konstituiert. Alex Hay. Grass Field Abbildung 1: Alex Hay. 9 Evenings. Grass Field, Foto: Peter Moore, 1966

Quelle: http://www.medienkunstnetz.de/ ausstellungen/9evenings/bilder/4/, http://www. medienkunstnetz.de/assets/img/data/617/bild.jpg

Paradigmatisch für diese Medienkonvergenz in den 9 Evenings ist die Performance Grass Field von Alex Hay.13 In ihr entstand ein technisches BioSound-Environment, in dem unsichtbare physiologische Vorgänge in elektronischen Apparaten wie Video oder Soundsysteme wahrnehmbar gemacht und Mensch und Medien in diesem Prozess der Veräußerung, Erweiterung und Interaktion scheinbar in ein Feedback gemeinsamer Schwingungen versetzt wurden. Dazu ließ Hay mit Elektroden Gehirnwellen und Muskelspannungen abnehmen, die gewonnenen elektrischen Signale verstärken und durch den Raum durch Modulationen zu elektronischen Geräten transportieren, so dass sie für die Steuerung von Lautsprechern und Sounds eingesetzt werden konnten. Der Klang des Gehirns oder von Hautspannungen wurden so vermeintlich hörbar gemacht. Wenn die elektrischen Signale von Hays Körper und Bewegungen mit den Sinuswellen einer Tonlage interferierten, entstand zudem der Eindruck, dass die den Raum füllenden elektromagneti-

13 Siehe zu Grass Field: http://www.fondation-langlois.org/html/e/page.php?Num Page=662 (letzter Zugriff am 2.6.2011).

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schen Wellen wahrnehmbar wurden. Unsichtbare körperliche Ereignisse wie Augen-, Muskel- und Schluckbewegungen wurden schließlich mit Hilfe einer Kamera erfasst und als Nahaufnahmen projiziert, so dass körperliche Ereignisse auf der Mikroebene weithin sichtbar waren. An die Stelle von narrativen Strängen treten in Hays Arbeit so die Performance und Assemblage von Handlungen, die sich selbst genügen. Die Assemblage erscheint auf den ersten Blick als Metapher für ein kybernetisches Environment, als ein Steuerungs- und Regelungssystem, in dem alles mit allem verbunden ist. Damit verleiht die Performativierung den Zeichen auf einer metaphorischen Ebene den Status von Information im informationstechnischen Sinne, da sie semantisch leer sind und eher als Schaltstellen der Weiterleitung und Organisation von Handlungsketten und Regelungskreisläufen dienen.14 Es kommt aber vor allem ein anderes Dispositiv bzw. eine andere Wissensgeschichte zum Tragen. Indem Hay nämlich eine für den Betrachter nachvollziehbare Beziehung zwischen Bewegung und Sound herstellt, wird der Körper als Medium im Sinne eines Signale sendenden, empfangenden und übersetzenden elektromagnetischen Resonanzraumes inszeniert. Aufgerufen werden damit eine Wissens- und Technikgeschichte und eine Bildlichkeit der Übertragung von Energie aus Medienspiritismus (Hagen 2002b; Hahn/Schüttpelz 2009; Leeker 2008b) sowie neurophysiologischer Experimentalanordnungen des 19. Jahrhunderts (Dierig/Geimer/Schmidgen 2004). Grundlage der „Medien-Performances“ von 1900 und 1966 ist dabei die Annahme, dass Körper und Medien gleichermaßen auf elektrischen Vorgängen beruhen würden und sogar para-physikalische Ereignisse wie Geistererscheinungen oder Gedankenübertragungen in ihnen transportiert würden (Hagen 2002b; Hahn/Schüttpelz 2009; Leeker 2008b). In dieser resonanten Verkopplung affiziert und transformiert das Medium ‚Körper‘ die anderen an der Performance partizipierenden Geräte und Medien mit einer Übersetzung in elektrische Signale und Vorstellungswelten. Damit kommt es in der Performance von Hay zu einer Ko-Existenz von kybernetischen und elektromagnetischen Konzepten. Mit dieser erst wird der Mensch exemplarisch in Gestalt des Akteurs als Steuerelement und zugleich als energetische Einheit in die Konvergenz der Medien integriert. Ein un-/mögliches kybernetisch-elektromagnetisches Environment Die elektromagnetische Re-Konfiguration von Computer und medialer Konvergenz im Diskreten weist also zurück in die „Geistergeschichte des Computers“ aus der Ätherphysik um 1900 (Hagen 2002b; Leeker 2008b;

14 Performativität könnte mithin eine wissensgeschichtliche Genese in der Kybernetik der 1960er Jahre haben.

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2009). Es wird ein spiritistischer Denk- und Vorstellungshorizont aufgerufen, der zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts bis etwa 1920 nicht nur ein paar Verirrte, sondern eine ganze historische Phase quer durch alle Bereiche von Kultur und Wissenschaft antrieb (Hagen 2002b; Siegert 2005; Leeker 2008b; Hahn/Schüttpelz 2009). Diese Verbindung von Geistern, Kunst, Wissenschaft und technischen Medien wie Telegrafie, Telefonie, Fotografie, Kinematografie oder Phonografie kommt um 1900 im Moment einer medientechnischen und wissensgeschichtlichen Zäsur auf. Als nämlich durch die Entedeckung des Elektromagnetismus der Äther als übertragende, mediale Instanz auszufallen drohte, sollte er in von Geistern besessenen menschlichen und technischen Medien sowie in Gedankenübertragungen noch einmal manifest werden. So kommt es in der spiritistisch-okkulten Epistemologie und Bezugnahme auf Technologie zu einer telepathischen und psychedelischen Bindung an Medien und Technik. Mit dieser wird über Ungereimtheiten und Übersetzungsprobleme im okkulten Intermedialen hinweggetäuscht und aus Brüchen, Abtastungen und Taktungen eine Kontinuität, ein flow des Leitens erzeugt. Dieser ätherische Rückgriff garantiert zugleich den Anschluss des Menschen an technische Medien, indem er selbst diskursiv und metaphorisch als ein technisches, elektrisches sowie okkultes Medium erzeugt und erprobt wird (Hahn/Schüttpelz 2009; Leeker 2009). Damit wird abgewendet, dass in einem Moment, in dem Medien von der Signalübertragung auf das Schalten von Information umstellen, das bis dahin auf Elektrizität und Übertragung beruhende menschliche Wesen verloren geht. Die Hoffnungen auf eine materielle Sicherung von Übertragungen werden in den 1960er Jahren in den intermedialen Performances aufgenommen, allerdings nunmehr in den technischen und epistemologischen Kontext kybernetischer Regelungen gesetzt. Dieser ist ihnen fremd, denn an die Stelle von Materialität sind mit der Kybernetisierung von Technik und Erkenntnis die mathematische Modellierung von Mensch und Welt sowie das Operieren von Kommunikation und Interaktion als Schaltung von sinnferner Information getreten. Mit der okkulten Reminiszenz aber kann in den 1960er Jahren der Computer als informationsverarbeitende Maschine camoufliert sowie als elektrisches Medium umgedeutet und damit seine Kompatibilität mit dem Menschen ermöglicht werden. Erst auf dieser Grundlage kann dann die ob der nötigen Analog/Digital-Wandlung unmögliche Kommunikation zwischen Computer und Mensch im Elektromagnetischen realisiert werden. Der elektromagnetische Leitungs- und Modulationsraum als Intermedia nimmt nunmehr den Platz des alles transportierenden und konvergierenden Äthers ein. In den 9 Evenings wird so analoges Leiten und Modellieren und diskretes Schalten kompatibel gemacht. Es entsteht ein un-/mögliches Übertragungsenvironment, das technisch nicht einlösbar ist, aber doch theatral inszeniert werden kann und so über Jahrzehnte die Interaktion von Mensch und Computer rahmte.

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I NTERMEDIALE P ERFORMANCES 2001 Tristan und Isolde. Jo Fabian Abbildung 2: Jo Fabian. Tristan und Isolde, 2001.

Quelle: http://www.nofishnocheese.de/Seiten/Gallery/Pieces/ Jahrgaenge/2001/tristan/fotos.html, http://www.nofishnochese.de/ Seiten/Gallery/Pieces/Jahrgaenge/2001/tristan/bilder/bild15.jpg

Abbildung 3: Jo Fabian. Tristan und Isolde, 2001.

Quelle: http://www.nofishnocheese.de/Seiten/Gallery/Pieces/ Jahrgaenge/2001/tristan/fotos.html, http://www.nofishnochese.de/ Seiten/Gallery/Pieces/Jahrgaenge/2001/tristan/bilder/bild2.jpg

Gänzlich anders als in den 9 Evenings ist Intermedialität in Tristan und Isolde, ein Ausstellungsstück von Jo Fabian angelegt (Fabian 2001). Intermedia-

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lität wird bei Fabian zu einer scheinbar endlos transformierenden Übersetzung zwischen Medien sowie zwischen Mensch und Medien, die nie auf ein Medium oder auf Wirklichkeit bzw. immer nur auf die widerständige Materialität eines Mediums stößt. Damit wird eine Ästhetik des Scheiterns, der Unterbrechung sowie der Verschiebung hervorgebracht und behauptet. Das heißt aber nicht, dass die Übersetzung und damit Intermedialität obsolet wären. Im Gegenteil. Sie werden prekär, aber nicht unmöglich. In Tristan und Isolde befinden sich zwei Akteure in einer Glasvitrine. Sie kommen in Bewegung, wenn die Zuschauer Buchstaben oder Sätze in eine Computertastatur eingeben, die an die Akteure vermittelt werden. Grundlage ihrer Bewegungen ist Fabians Alphasystem des Tanzes (Fabian 1999), in dem jedem Buchstaben des Alphabetes eine Bewegungsfolge zugeordnet ist. Die Glasvitrine steht in der Mitte eines großen Raumes, in dem die Zuschauer umherwandeln. Der Raum ist mit Sand ausgelegt, so dass die Besucher Spuren ihres Tuns hinterlassen. Über eine Tafel wird angezeigt, wann die Tastatur offen ist, so dass die Besucher interagieren können. Wurde sie gesperrt, worauf ein schriller, alarmierender Ton hinweist, können keine Buchstaben mehr eingegeben werden. Der Besucher hat also keine Kontrolle über die Interaktion und ist einer nicht einsehbaren Macht ausgeliefert, die über Öffnung und Sperrung des Eingabegerätes entscheidet. Die Interaktion ist zudem dadurch begrenzt, dass die Akteure eine Auswahl über die Eingaben der Besucher treffen. Sie entscheiden, welche Buchstaben sie tanzen. Die Crux dieser interaktiven Performance ist nun, dass die Glaswände der Vitrine immer mehr beschlagen, je mehr Eingaben die Besucher machen, je mehr also die Akteure tanzen. Man gerät in ein Dilemma. Würde man keine Eingaben machen, würde nichts geschehen und nichts zu sehen sein, denn die Akteure würden sich nicht bewegen. Je mehr man eingibt, desto mehr wird die Performance unsichtbar. Theater hebt sich in seiner Performance selbst auf. Die in den 1990er Jahren viel gepriesene Interaktivität gerät zudem zur Auflösung von Theatralität. Die Performance endet, wenn der Glaskasten gänzlich beschlagen ist. Die Zuschauer werden gebeten, den Ausstellungsraum zu verlassen. Prekäre, eigensinnige Übersetzungen Fabians Ausstellungsstück, der Name ist hier Programm, ist ganz im Sinne Higgins intermedial, da es sich als wechselseitig sich durchdringendes Zusammenspiel von Theater und Bildender Kunst konstituiert, aus dem ein eigenes Genre entsteht: ein Ausstellungsstück, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Es markiert aber zugleich deutlich eine Zäsur in der Hybridisierung der Medien zur Ganzheitlichkeit, die Higgins noch vorschwebte, denn Zusammenspiel und Übersetzung von Licht, Sand, Glaswänden, Notationssystem (Alphasystem), Computer, Musik oder Film sind nunmehr erheblich

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gestört bzw. sie scheitern. Mediale Vorgänge und Grenzen werden markiert, statt ineinander übersetzt. Es bleiben Fremdheit und Inkongruenz zwischen den Medien. Medialität mutiert zu einer nicht enden wollenden Verschiebung und unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Ereignishaftigkeit. Medien werden in Fabians Ausstellungsstück auf unterschiedliche Weise in diesen prekären Status versetzt. Grundlegend ist, dass sie nicht länger als Mittel der Kommunikation und Interaktion erscheinen, sondern vielmehr als ein ‚Zwischen‘, eine Mitte. Denn sie vermitteln nicht, sondern sie unterscheiden und trennen, so dass Mitteilen, etwa die Eingabe von Buchstaben und deren Übersetzung in Tanz, zur Mit-Teilung werden (Tholen 2002). Die Glaswände der Vitrine, die Luft in ihr sowie die Tastatur oder das Alphasystem stehen mithin zwischen den Zuschauern und Akteuren. Sie ermöglichen einen Transfer und verunmöglichen ihn zugleich, machen etwa wie die beschlagenen Glaswände das Geschehen unsichtbar. Sie hinterlassen als Spur ihrer Existenz die Unsichtbarkeit oder Unmöglichkeit dessen, was sie vermitteln sollten sowie von sich selbst. Die Glaswand zeigt zudem einen weiteren Aspekt der Konstitution von Medien. Sie ist unsichtbar und fällt als Medium erst dann auf, wenn sie stört, nämlich beschlägt. Medien erscheinen derart als ein Drittes, das dazwischenkommt, als Parasiten, die das, was sie transportieren, zugleich okkupieren, unter ihre Bedingungen stellen. Im Zusammenspiel von Sand und Füssen erscheinen Medien schließlich als Spur, in der Etwas nur als Hinweis auf ein Abwesendes, aber nicht mehr selbst präsent wird. Medialität wird zum Unmarked Space, der für den Zwischenraum des Vermittelns selbst steht als ein Jenseits von Repräsentation, als Abstraktum symbolischer Ordnung. In ihm bricht das Reale ein als Bewegung, nämlich als Flüchtigkeit, Zeitlichkeit und uneinholbare Transformation. Mit dieser Konstitution von Medien wird Intermedialität als Beziehung und Übersetzbarkeit der Medien untereinander sowie zwischen Mensch und Medium anders konfiguriert als in den 9 Evenings. Sie zeigt sich vor allem als eigene Dynamik der Uneinholbarkeit. So ist das Alphasystem des Tanzes keine Abbildung von Buchstaben in Bewegung, sondern deren Übersetzung in eine eigene Logik. In dieser gibt es keine Vermittlung mehr, sondern nur Veränderung, Transformation, in der man nicht mehr auf das Übermittelte stößt, sondern immer nur auf ein neues Medium. Diese prekäre Übersetzung als Transformation sowie deren Haltlosigkeit im Sinne einer unausgesetzten Abwesenheit eines Vermittelten oder Vermittelnden werden da zu einer Ästhetik des produktiven Scheiterns, wo Übersetzungen und Verflechtungen Intermedialität zu einem ständigen Werden machen, zu einer Vermutung, die im Erscheinen schon verschwindet, sich entzieht. Übrig bleiben Teile und medialer Eigensinn, denen allerdings immer das Versprechen einer verborgenen, wenn auch imaginären Kooperation und Translation anhaftet. Medialität und Intermedialität werden so als Ästhetik der Lücke und der Leere zu einer unhintergehbaren Verheißung von Transformation und Werdung sowie von nur mehr wahrscheinlicher Existenz.

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Bei Fabian wird Intermedialität, die Übersetzung von Welt und Medien somit zu einem dauerhaft prekären Unterfangen der Verschiebungen von Sinn, Wahrnehmung und Weltbezug. Die Dinge bleiben unvermittelt nebeneinander stehen und der Mensch kann nicht mehr in sie eingreifen, wie an der nicht nachvollziehbaren Sperrung der Tastatur deutlich wird. Intermediale Performances werden zu einer Kette des Nichtsagbaren und Nichtsichtbaren, der Imagination und Konstruktion sowie der medialen Begrenzungen. Immerhin noch Aktanten-Netzwerke Mit diesem Modell von Intermedialität endet das Epistem der elektrisch fundierten Resonanz von Mensch und Medien. An seine Stelle tritt eine Epistemologie der Transformation sowie der Verschiebung, mit denen nur noch künstliche Welten möglich sind, die keinen Zugang mehr zur Wirklichkeit erlauben, weil sie vielmehr selbst eine schaffen (Küppers/Lenhard 2006; Krämer 2009). Damit wird die Vermittlung des Menschen und zum Menschen unterminiert. Gleichwohl ist diese Form der Intermedialität mit einem Modell der Übersetzung sowie der Bezugnahme von Medien und Menschen verbunden. Die These ist, dass Intermedialität als ein „Akteurnetzwerk“ re-konfiguriert wird (Belliger/Krieger 2006; Latour 2007). Mit ihm werden Menschen, Dinge und technische Medien in einem Kollektiv von gleichberechtigten Handlungsträgern verbunden. Entitäten wie ‚Mensch‘ oder ‚Medium‘ sind prekär, nie vorgängig, konstituieren sie sich doch erst in der gegenseitigen Übersetzung (Latour 2007). In diesem Modell von Intermedialität löst sich, anders als im Elektrischen, ‚Mensch‘ als intentionales Subjekt auf, bleibt aber zumindest, nun im Gegensatz zur Kybernetik, noch als ein ‚Etwas‘ erhalten, mit dem man in seiner temporären Konstitution im Netzwerk rechnen muss und das man so identifizieren kann. In Fabians Ausstellungsstück stellt sich ein Netzwerk der Agentenschaft insofern her, als die Bestandteile in Operationsketten verwickelt werden. Dazu ist es zunächst nötig, den Dingen und Medien Handlungsmacht zu geben, was sich in Form der gesperrten oder offenen Tastatur sowie der sich beschlagenden Glasscheiben materialisiert. Gleichzeitig ist die Intentionalität der Zuschauer zu relativieren, was eintritt, da seine Handlungen auf einige wenige Bereiche reduziert werden, in denen er sich in Abhängigkeit von den Operationen der eigenwilligen Medien verhalten kann, was wiederum auf die Medien zurückwirkt. Im Dispositiv der Medienkonvergenz erscheinen Entwürfe zur Medialität als Agency (Engell/Siegert 2010a) im Topos der Medien als Boten (Krämer 2008) oder als Spuren, die Transformation und Ver-Wendung (Mersch 2010) auslösen, als Versuche, schwindende Medialität zu rekonstruieren und als Flüchtige und als Transformation immerhin noch zu erhalten. Denn indem Medialität als ein „Zwischen“, eine Mitte erhalten bleibt und eine „performative“, auf medialen Eigensinn sowie auf Anwendungen

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beruhende Theorie von Medien gedacht wird (Mersch 2010), bleibt auch die Option, ausgehend von der Mitte zu vermittelnde Parameter und mit Bezug auf mediale Agency greifbare Medien zu entwerfen, darunter gegebenenfalls die Instanz eines menschlichen Agenten. Sie sind Illusionen und Konzepte, mit denen sich der Mensch erfindet und in einen Austausch mit Medien einbringt. Im Grunde aber steht er außen vor. Denn das Modell der operativen Handlungsnetzwerke als Paradigma von Intermedialität taucht in einer technischen Situation auf, die für die menschlichen Agenten äußerst problematisch ist. Es steht nämlich im Kontext der umfänglichen Durchsetzung von Welt mit Computerminiaturen und einer Umstellung der Kulturtechnik Programmieren (Firyn/Klüppel/ Leeker/Schlömer 2011; Koubek/Leeker 2011). Mit dieser wird auf Oberflächen durch das Re-Mixen und die Re-Kombination von Modulen programmiert, in die die Nutzer nicht mehr eingreifen können. Technik organisiert sich mithin zunehmend selbst in einer Szenerie, die nicht mehr verstehbar oder kontrollierbar ist. In dieser Situation, in der Menschen von den Operationen ausgeschlossen sind und eher als Datengeber denn als Nutzer oder Inhalte fungieren, ist die Auflösung des Subjektes in einen Aktanten irritierend. Könnte mit ihr nicht die Verabschiedung des Menschen im Aktantenstatus verschleiert, zumindest nobilitiert werden (Firyn/Klüppel/Leeker/Schlömer 2011)?

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MEDIENKONVERGENZ

Intermedialität Die Analysen der Performances sollen abschließend im Hinblick auf Intermedialität ausgewertet werden. So zeigte sich an den Beispielen, dass – im Gegensatz zur Annahme eines bloß diskursiven Status technischer Materialität in den gängigen Intermedialitätstheorien − das Zusammenspiel von technischer Spezifizität und metaphorischen Überschreibungen von Technik für Medialität, Kultur sowie für Wissen und Epistemologie wichtig ist, da mit ihm Technisches überdeckt oder umgedeutet wird. Die metaphorischen Überschreibungen sind allerdings nicht nur Blendwerk, hinter dem insgeheim die technische Verfasstheit wirkt, wie Friedrich Kittler nahelegte (Kittler 1986; 1993: 225-242)15, sondern sie sind vielmehr selbst produktiv. Es

15 Computer existieren nach Kittler vor allem als Hardware, als Operieren auf der Ebene der Maschinensprache, und ihre kulturellen Wirkungen, wie die Ausgrenzung des Menschen aus diesen Verrechnungen, entstehen aus eben dieser. Da sich Hardware schlechterdings nie selbst, sondern nur in der Gestalt von Software oder Oberflächen zeige, würden sich Computer durch eine Struktur der Verdeckung konstituieren.

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ist mithin entgegen der Ansätze der systematisch-ontologisch orientierten Intermedialitätstheorie16 maßgeblich, die technisch unübersetzbare Materialität oder Spezifizität eines Mediums17 bzw. Medienverbunds zu ermitteln, sollen die Überschreibungen des Intermedialen entdeckt und in ihren Wirkungen als Dispositive18 sowie als epistemologische Konfigurationen wahrgenommen werden. Die technische Verfasstheit eines Mediums ist gleichwohl schwer zu ermitteln, da sie selbst ein metaphorisches Gebilde ist. Medien können nämlich anders ausbuchstabiert werden als ihre technischen Möglichkeiten es nahe legen.19 Der Computer etwa hätte eine Rechenmaschine bleiben kön-

16 Diese Ansätze haben mit einer Widersprüchlichkeit in der Konzeptualisierung von Intermedialität zu tun. Denn es wird angenommen, dass es eine mediale Spezifität gäbe – die Übersetzung der Medien würde ja erst am ‚Filmischen‘ oder ‚Fotografischen‘ erkennbar −, die aber zugleich dann aufgehoben wird, wenn ein Medium problemlos in ein anderes übersetzt werden kann oder in einem Medium ein anderes präsent ist. Die letzt genannte Vorstellung geht auf McLuhan zurück (McLuhan 1992). Dieser Gedanke wird prominent aufgenommen im Konzept der „Remediation“ (Bolter/Grusin 1999). Das Konzept der Re-Mediation ist allerdings problematisch, wie sich z.B. anhand einer Analyse von YouTube-Filmen zeigt. Hier wird nicht „Film“ fortgesetzt, sondern es entsteht in medialer Rekursion ein eigenes „Dispositiv des Gaffens“, in dem die funktionale Einheit von Spiel und Wirklichkeit aufgehoben ist, die Theater und auch Film konstituierte (Leeker/Wassermann 2010: 89-121). 17 Von einer technischen Spezifizität, die nicht in ein anderes Medium übersetzbar ist, auszugehen, heißt nicht, dass der Dominanz eines technischen Materialismus als kulturellem Apriori (Kittler 1993: 225-242) das Wort geredet wird und die sozialen oder diskursiven (Winkler 1997) Einflussnahmen vernachlässigt würden. Es ist selbstverständlich die Einsicht zu Grunde zu legen, dass unterschiedliche Faktoren Medienkultur konfigurieren und Medien in einem System der wechselseitigen Beeinflussung entstehen und stehen (Schröter 1998; 2004). Unterschiedliche Faktoren sowie deren Wechselverhältnisse zu beachten heißt aber auch nicht, technische Materialität zu ignorieren (Engell/Siegert 2010b: 5-9). 18 Wird z.B. eine Kontinuität in der Tele-Kommunikation vom Telefon bis zum Handy behauptet, weil der Topos der Fernwirkung intermedial fortgeschrieben würde, kann erst eine technische Analyse das diskursive und dispositive Potenzial dieser behaupteten Intermedialität zeigen. Mit ihr wird nämlich die technikund wissensgeschichtliche Genese des Handys aus der Geschichte zellulärer Ortungssysteme übersehen und damit seine Funktionen in der Überwachung (Hagen 2008). 19 Jens Schröter hat z.B. anhand der digitalen Fotografie ausgeführt, dass sie weniger ihre technischen Möglichkeiten entwickele als vielmehr alles tut, um fotorealistische Fotografie zu imitieren und zu simulieren (Schröter 2004).

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nen und nicht Medium werden müssen.20 In Technik kann sich zudem wie z.B. in der Programmierung des Computers eine wissensgeschichtliche Tradition niederschlagen, die nicht nur der diskret schaltenden Maschinensprache entspringt (Hagen 1997; Pflüger 1994: 161-182; 2004: 275-320). Um die technische Spezifität eines Mediums oder Medienverbundes dennoch zu entziffern, kann und muss auf deren wissensgeschichtliche Genese zurückgegriffen werden.21 Medienkonvergenz Die Beispiele zeigten, dass Intermedialität als Diskurs in technikgeschichtlich konkret benennbaren Situationen entsteht und historisch äußerst wandelbar ist. Sie tauchte in den Performances als Praxis sowie als wissenschaftliches Erklärungsmodell in den Phasen auf, in denen die Konvergenz der Medien im Computer entsteht bzw. modifiziert wird. Markante Ereignisse waren seine Interaktivierung in den 1960er und seine Multimedialisierung und Minituriarisierung sowie die Modularisierung von Software seit den 1990er Jahren. Diese historische Verortung der Performances wies nach, dass Intermedialität mit der Konvergenz der Medien in den diskreten Operationen des Computers22 aufkommt. Computer konstituieren sich nämlich ob ihrer unspezifischen, universellen Codierung auf der technischen Ebene als Metaphorizität (Tholen 2002), d.h. aus der Codierung kann alles Mögliche werden. Mit der Konvergenz der Medien werden somit Einzelmedien zunehmend aufgelöst, da sie auf der Grundlage eines universellen Codes nunmehr digital erzeugt werden können. Auf dieser technischen Grundlage erscheinen spezifische Medien nur noch auf der Oberfläche des Computers bzw. werden Schnittstellen ausgebildet, mit denen verschiedenste Medien an seine Verrechnungen angeschlossen werden können. Schließlich wandert derzeit der PC regelrecht in kleine Geräte aus, die nur noch entfernt an einen klobigen Rechner erinnern, aber dennoch auf Diskretisierung und damit auf

20 Werden Computer als Rechenmaschine in den Blick genommen, stehen Operationen mit Daten im Vordergrund. Wird er als Medium ausgelegt, dann werden vermittelnde Potenziale ausgearbeitet (wie Kommunikation, Multimedia, Simulation) und damit die Medialität der Konvergenz der Medien. 21 Zur Problematik, die technische Spezifität eines Mediums zu bestimmen, vgl. Schröter 1998. Medien ließen sich nur in der Abgrenzung von Medium spezifizieren und existieren also als „Displacment“ in einem Setting von „umlagernden Bezugspunkten“,(ebd. S. 13). Hier wird allerdings vorgeschlagen, dass die Wissensgeschichte eines Mediums auch Hinweise geben kann auf seine kulturell wirksame technische Spezifität. 22 Friedrich Kittler sah in den 1980er Jahren in der medialen Konvergenz im Computer das Ende der Medien (Kittler 1986).

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einem universellen Code beruhen. Diese technisch grundierte Metaphorizität ist also zugleich die Ausgangslage für eine Konvergenz der Medien in diskreten Operationen sowie für metaphorische und diskursive Intermedialität als Gegenmittel zu dieser.23 Intermedialität kann daher als Diskurs gesehen werden, der auftaucht, um mit Auswirkungen medialer Konvergenz umzugehen. Denn er ermöglicht es, in Zeiten medialer Konvergenz die mit ihr verbundene Ausgrenzung des Menschen sowie die Auflösung von Einzelmedien zu unterminieren. Intermediale Performances sind hierfür ein probates Beispiel, da in ihnen der Mensch und seine Beziehung zur Technik eine zentrale Rolle spielen. In ihnen werden unterschiedliche Modelle durchgespielt, wie mit dem Riss zwischen Mensch und Medium sowie mit dem Ausfallen von Medien umgegangen werden kann. Intermedialität ermöglicht es zudem, trotz der Konvergenz der Medien auf Oberflächen der Computer sowie in einem Meer von Input- und OutputGeräten und Miniaturen ubiquitären Computings, Einzelmedien zu markieren und in Abgrenzung voneinander zu konsolidieren. Die Konvergenz der Medien im Digitalen wird mithin umgangen, indem sie im Intermedialen als Übersetzung von Medienspezifitäten reformuliert wird. Intermedialisierung entspricht demnach einer Kulturtechnik der Übersetzung, mit der in Situationen technik- und wissensgeschichtlicher Zäsuren Modelle zur Übersetzung zwischen Medien sowie zwischen Menschen und Medien entworfen und erprobt werden. Damit wird zugleich das Problem der unsichtbaren und damit nicht überprüfbaren Übersetzungen in der Architektur des Computers von der Maschinensprache über Assembler und Compiler (Hagen 1997) auf die Unbillen einer schon bekannten und kontrollierbaren Übersetzbarkeit von Einzelmedien verlagert. Ohne diesen Eingriff sähe man sich einer Mediosphäre gegenüber, in der sich mediale Spezifität auflöst und alles in alles übersetzbar ist, ohne dass Übersetzbarkeit noch garantiert und ein Einblick in die Übersetzungen möglich wäre. Die Notwendigkeit des intermedialen Diskurses zeigt sich schließlich an den epistemischen Botschaften der Konvergenz der Medien. Denn mit dem Computer rückt Welt in eine modellhafte Ferne, da die universelle Codierung sie nicht ab-, sondern neu bildet (Küppers/Lenhard 2006; Krämer

23 Jens Schröter schreibt in Abgrenzung zu Kittlers (Kittler 1986) Universalmedialität: „Vielmehr existieren durch Sampling und Simulation die Spezifika der verschiedenen Medien abgelöst von ihrer technischen Materialität als virtuelle Form auf derselben Basis des digitalen Codes. […] Die ‚Neuen Medien‘ sind temporäre Programmierungen und Verschaltungen einer digitalen Elektronik mit keineswegs rein zusätzlichen, sondern jeweils wesentlichen ‚intermedialen‘ Peripherien – so wie es den Computer als Bildmedium eben nur mit den gerade verfügbaren Grafikkarten, Monitoren, Scannern, Printern gibt.“ (Schröter 2004: 398399)

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2009). Die entstehenden Modelle müssen nicht mehr an Wirklichkeit gemessen werden, sondern nur noch an interner Folgerichtigkeit und Beweisbarkeit. Es entsteht mithin eine Lücke zwischen Welt, Mensch und Modell, zwischen Berechnung und Erfahrung, da die Speicherung, Verarbeitung und Präsentation von Daten aufgespaltet wurden. Intermedialisierung ist vor diesem Hintergrund als Versuch zu lesen, diese Lücken und Risse zu schließen und sei es mit einer Theorie der Intermedialität des Scheiterns, der Lücken und Spuren. Im Computer-Modell ist der Mensch schon nicht mehr vorgesehen und man versucht ihn als Spur, in der immerhin ein Abwesendes etwas hinterlässt, wieder ins Spiel zu bringen.

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Blickregime und Intermedialität des Audiovisuellen

Das Bild und das Sichtbare und das Serielle Eine Bildtheorie des Fernsehens angesichts des Digitalen O LIVER F AHLE

1. M ODERNISIERUNG Wenn vom Fernsehen in theoretischer oder gar philosophischer Absicht gesprochen wird, dann steht selten das Bild im Mittelpunkt. Meistens geht es um den Zuschauer oder das Zuschauen, um semiotische Prozesse, um Populärkultur, um Produktions- und Sendebedingungen. Es scheint, als hätten die Theorien des Bildes das Fernsehen übersprungen, seien von Malerei, Fotografie und Film und Video direkt ins Digitale gewechselt. Deshalb ist das Ziel der folgenden Überlegungen, ein Gerüst für eine Bildtheorie des Fernsehens zu entwerfen. Dabei sollen nicht nur einige interdisziplinäre Verflechtungen aufgezeigt, sondern es soll möglichst deutlich werden, wie Fernseh- und Bildtheorie sich gegenseitig erklären, fortentwickeln und vielleicht sogar in bestimmter medientheoretischer Sicht aufeinander angewiesen sind. Eine Bildtheorie des Fernsehens formuliert einen wechselseitigen Anspruch, der die Entwicklung des Fernsehens mit der Entwicklung des Bildes erklärt, aber ebenso umgekehrt: Auch Bildtheorie kann nicht auf Fernsehen verzichten, weil es einer der privilegierten Entwicklungsorte des Bildes ist. Eine der Herausforderungen, der sich die Theorie von Bildmedien stellt, liegt darin, dass diese sich in stetem Wandel befinden. Deshalb ist es sinnvoll, die historische Veränderung der Bildmedien auch als theoretischen Wandel zu begreifen, den systematischen Blick an den historischen zu koppeln. Dieses Hin und Her von analytischer Erfassung des konkreten Gegenstands und historischer Ausdifferenzierung visueller Konzepte hat, allerdings in eher unsystematischer Form, David Bordwell vorgeführt, indem er die Entwicklung des visuellen Stils im Film in verschiedenen Epochen beschreibt (vgl. Bordwell 2001). In ähnlicher Weise, allerdings makrotheoretisch ausgreifender und anspruchsvoller, hat Gilles Deleuze dies für den

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Film geleistet (Deleuze 1989; 1991). Die Engführung historischer und begrifflicher Aspekte in beiden Ansätzen kann als Evolution bezeichnet werden. Mit den Worten von Niklas Luhmann richtet sich diese „auf Bedingungen von Strukturänderung und, dadurch eingeschränkt, auf die Erklärung des Entstehens struktureller und semantischer Komplexität“ (Luhmann 1995: 344). Die zunehmende, vor allem visuelle Komplexität der technischen Bildmedien, aber auch schon der Malerei, ist in ästhetischer Hinsicht vor allem durch Modernisierungsschübe beschreibbar. Modernisierung ist immer mit der Neubildung von ästhetischen Konzepten und Begriffen verbunden. Für Malerei, Fotografie und Film sind diese Modernisierungsformen bereits vielseitig dargelegt worden1, besonders der modernen Malerei wird dabei auch eine philosophische Neufundierung des Bildbegriffs zugetraut. Daran anschliessend wäre jedoch zu prüfen, inwiefern nicht auch die anderen Bildmedien an der philosophischen Reflexion des Bildes mitwirken und im Anschluss daran wiederum, was konkret das Fernsehen dazu beiträgt. Bildmedien und Bild hängen eng zusammen. Die Evolution der Bildmedien impliziert eine Evolution des Bildes. Wenn sich Bildmedien modernisieren, so meine These, dann modernisieren sich auch die Bilder. Das Bild ist demnach an einen doppelten Entwicklungsschritt gekoppelt: Zum einen an den Übergang von einem Medium zum anderen, also etwa von Malerei zu Fotografie, von Fotografie zu Film, von Film zu Fernsehen. Zum anderen aber definiert sich das Bild nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der jeweiligen Bildmedien, eben durch Modernisierungsbewegungen. Anders gesagt: Technische oder dispositive Perspektiven, das heisst medienexterne Schwellen, wirken also mit ästhetisch-poetischen, das heisst medieninternen Schwellen, zusammen. Beide bestimmen die Evolution des Bildes. Daher soll zunächst eine Perspektive der Modernisierung des Fernsehens entworfen werden. Wann und in welchen Schritten ist diese für das Fernsehen beschreibbar (Kap. 2)? Um Fernsehen überhaupt als Bildmedium zu begreifen, möchte ich es dann in den Zusammenhang mit anderen Bildmedien stellen. Deshalb soll der durch die Modernisierung des Fernsehens aufgeworfene Bildbegriff historisch und theoretisch situiert und aus der Evolution der anderen Bildmedien hergeleitet werden. Dies möchte ich anhand eines Schemas verdeutlichen, das als Modell zur Beschreibung des Bildes als Element der Bildmedien begriffen werden soll. Es markiert nicht den Endpunkt der Untersuchung, sondern dient als Orientierung für künftige Forschungen. Dabei wird sich zeigen, dass vor allem das Fernsehen (im Anschluss an moderne Bildmedien) verdeutlicht, dass der Bildbegriff zu verknappt ist und zu viel aufladen muss und daher andere Begriffe der fortschreitenden Visuali-

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Für den Film etwa liegen inzwischen einige Abhandlungen vor, die diesen zwischen 1940 und 1960 als Modernisierungsphase genau konturieren. So bezeichnet etwa Youssef Ishaghpour die Filme von Orson Welles als „kopernikanische Revolution“ in der Geschichte des Films (vgl. Ishaghpour 2001: 11).

D AS B ILD UND DAS S ICHTBARE UND DAS S ERIELLE

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sierung zu finden wären. Dazu entwickele ich den Terminus des Sichtbaren aus gegenwärtigen Bildtheorien, die aber ihrerseits das Fernsehen nicht im Blick haben (Kap. 3). Dann soll dieses Begriffspaar – das Bild und das Sichtbare – in Hinblick auf das Fernsehen eine schärfere bildtheoretische Kontur erhalten (Kap. 4). Kapitel 5 bespricht die Folgen der Digitalisierung des Fernsehens, allerdings weniger aus technischer Sicht, sondern entlang der ästhetischen Entfaltung der gegenwärtigen Fernsehserie, die nicht nur ein Ausweis des Zusammenspiels verschiedener Medien ist, sondern – und darum soll es hier gehen – eine Entwicklung des Bildes des Fernsehens unter gegenwärtigen Medienbedingungen darstellt. Dabei erfährt insbesondere der Begriff des Seriellen – auch hier hat das Fernsehen Entscheidendes beizutragen – eine Neubewertung2. Die Bildtheorie hat (noch) nicht so viel zum Fernsehen zu sagen. Aber Modernisierung der Bildmedien heisst auch Modernisierung des Bildes. Wandel des Fernsehens impliziert dann gleichzeitig auch einen Wandel des Bildes und umgekehrt. Merkwürdigerweise wird Bildtheorie bislang immer noch weitgehend unabhängig von den verschiedenen medialen Veränderungen und dem Zusammenhang der verschiedenen Medien betrieben (vgl. u.a. Böhm 1994; Böhme 1999; Wiesing 1997; Brandt 1999; Debray 1992).3 Wenn es aber gelingt, eine Perspektive zu entwickeln, die das Bild in seiner Evolution innerhalb der verschiedenen modernen Bildmedien von der modernen Malerei bis zum Fernsehen darstellt, und dies mit Modernisierungsbewegungen der verschiedenen Einzelmedien zu verknüpfen, dann sind Bild- und Medientheorie, insofern diese von konkreten Medien ausgeht, unauflöslich miteinander verzahnt. Dieser Text versucht das.

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Dieser Text ist eine überarbeitete und vor allem deutlich erweiterte Fassung des Textes „Das Bild und das Sichtbare. Eine Bildtheorie des Fernsehens“, der 2006 in dem Band Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens, München (Fink) 2006 erschien. Mit freundlicher Genehmigung des FinkVerlags. Die Kunstgeschichte und die Philosophie hat sich der Bildtheorie konkret zugewandt, allerdings meistens ohne die technischen Bildmedien Film und Fernsehen weitergehend zu berücksichtigen. Eine Ausnahme bildet vielleicht Debrays „Vie et mort de l’image“, das die Evolution des Bildes allerdings aus einer mehr als makroskopischen Perspektive einfängt (vgl. Debray 1992).

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2. K LASSISCHES

UND MODERNES

F ERNSEHEN

Fernsehtheorie ist in der Beschreibung von Modernisierungsschüben, wie sie für die anderen Medien zahlreich vorliegen, noch zurück. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass Fernsehtheorie immer noch eine vergleichsweise junge Disziplin ist, sondern auch mit Systematisierungsschwierigkeiten, die das Medium mit sich bringt. So ist der Werk- und Autorbegriff, der in anderen Medien eine erste Klassifikationsmöglichkeit erschliesst, im Fernsehen kaum bedeutsam. Kann man sich etwa hinsichtlich der Modernisierung des Films auf entscheidende Autoren und Filme berufen (Orson Welles, Jean-Luc Godard, Alain Resnais, Wim Wenders etc.), so ist das für das Fernsehen ungleich schwieriger, dessen Spezifität ja gerade das Genre-Autoren- und Gattungsübergreifende ist. Dennoch gibt es Ansätze, die ästhetischen Brüche des Fernsehens zum Thema nehmen. So sind sich Teile der Fernsehtheorie darin einig, dass in den 1980er Jahren ein entscheidender Bruch in der Fernsehästhetik stattgefunden hat. Im Anschluss an Umberto Eco (1985)4 haben Francesco Casetti und Roger Odin mit einem entschiedenen, aber auch umstrittenen Aufsatz einige markante Transformationen zwischen dem so genannten Paläound dem Neofernsehen vorgelegt (2001: 311-334). Sie werden bestätigt von John Caldwells kenntnisreicher und fast monumentaler Detailstudie „Televisuality“ (1995), welche die europäische um eine amerikanische Perspektive ergänzt und, ebenso wie Casetti und Odin, von einem weitreichenden Bruch im Fernsehen der 1980er Jahre ausgeht. Er erweitert das Feld der ästhetischen Untersuchung zwar um technische, ökonomische und produktionsbedingte Faktoren, versucht aber letztlich markante stilistische Veränderungen des Fernsehens in Begriffe zu fassen (vgl. Adelmann/Stauff 2006). Die Ausweitung der empirischen Untersuchungsperspektiven führt allerdings auch dazu, dass die begriffliche und konzeptionelle Schärfe von Caldwells Ansatz leidet. Dennoch: Caldwell gelingt es, den Bruch im Fernsehen der 1980er Jahre, den er nicht in den Begriffen von Eco bzw. Casetti und Odin fasst, sondern als Übergang vom zero-degree-television zum style-television (Caldwell 1995: 55-67), einzurahmen und diese theoretische Perspektive mit einer Fülle historischen Materials zu belegen. Betrachten wir also zunächst etwas genauer den bislang wichtigsten Modernisierungsschub des Fernsehens Westeuropas und Nordamerikas, den Übergang vom Paläo- zum Neofernsehen in den 1980er Jahren; einen Bruch, der auch als Brücke zwischen klassischem und modernem Fernsehen begriffen werden kann und der sich nicht nur technisch, ökonomisch und institutionell vollzieht, sondern sich vor allem ästhetisch manifestiert. Casetti und Odin (die Eco in ihrem Aufsatz überraschenderweise gar nicht erwähnen, obwohl doch die Begriffe Paläo- und Neofernsehen von ihm zu stammen scheinen) sehen folgende wesentliche Verschiebungen im Fernse-

4

Ecos Text ist nicht ins Deutsche übersetzt und liegt in Französisch vor.

D AS B ILD UND DAS S ICHTBARE UND DAS S ERIELLE

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hen: Das Paläo-Fernsehen war Repräsentant eines hierarchischen Kommunikationsverhältnisses zwischen Programmmachern und Nutzern, während das Neofernsehen eine Beziehung der Nähe und des scheinbar enthierarchisierten Austausches darstellt. Das Paläofernsehen war demgemäss ein Bildungsraum und kein Ereignisraum wie das Neofernsehen, es hatte eine eigene Zeitlichkeit, während das Neofernsehen sich der Alltagszeit, das heisst dem 24Stundentag anpasst. Das Paläofernsehen entsprach einem strukturierten Programm, das Neofernsehen verweigert jede vektorisierte Form der Kommunikation und sucht Formen der Interaktion. Das Paläofernsehen richtet sich an ein Kollektiv, das Neofernsehen höchstens noch an eine Ansammlung von Individuen. Das Paläofernsehen besass einen, wenigstens unausgesprochenen Kommunikationsvertrag, das Neofernsehen hat den Kontrakt durch den blossen Kontakt ersetzt. Diese Punkte sind, wie angedeutet, umstritten. So haben etwa Jerôme Bourdon und François Jost (vgl. Bourdon 1998: 19; Jost/Leblanc 1994: 45) Kritik an dieser Unterteilung geübt, die ihnen zu radikal erscheint. Sie gehen eher von einer kontinuierlichen Evolution der Fernsehästhetik aus, weniger von einem Bruch. Die Argumentation von Bourdon und Jost läuft allerdings in folgende Richtung: Alles was Casetti und Odin für das Neofernsehen beschreiben, gab es auch schon im Paläofernsehen. Das können sie teilweise am Material nachweisen. Dies kann aber nur ein entscheidender Einwand sein, wenn nachweisbar ist, dass diese ästhetischen Entwicklungen auch zum Paradigma von Fernsehästhetik geworden sind. So ist etwa Das Millionenspiel (ZDF) aus dem Jahre 1972 eine Sendung, die auf die Ästhetik des Neofernsehens verweist. Dennoch kann man deshalb nicht davon sprechen, dass das Neofernsehen bereits 1972 verwirklicht war. Daher ist die von Casetti und Odin konstatierte (und von Caldwell flankierte) Beschreibung von Phänomenen, die einen ästhetischen Bruch der Fernsehästhetik beschreiben, aus meiner Sicht überzeugend. Unbestritten ist ohnehin wohl der letzte Punkt ihres Textes, der die neuen Dimensionen des Bildes im Neofernsehen beschreibt und der für uns besonders interessant ist. Das Bild, so die Autoren, war im Paläofernsehen noch eine bestimmbare Grösse, im Neofernsehen wird es aber zugunsten eines Meta-Bildes ersetzt. Das heisst, wenn eine Bilderfolge immer mehr einer Aneinanderreihung von Fragmenten entspricht, wie es etwa im MTVFormat vorkommt, wenn also eine Reihung von Bildern vorliegt, diese sich aber nicht mehr semantisch kontextualisieren lassen, dann, so Casetti und Odin, haben wir es mit der Indifferenz des Bildes zu tun und mit einem Meta-Bild. Die Autoren orientieren sich dabei an einer Klassifikation von Christian Metz, der die Unterbrechung einer Bilderfolge von aussen als Einschub bezeichnet hat. Dieser Einschub ist eine offensichtliche Unterbrechung der – zum Beispiel – diegetischen Welt. Wenn nun, so Casetti und Odin, die Bilderreihe selbst nur noch aus Einschüben besteht, dann liegen Meta-Bilder vor. Den prozesshaften Charakter dieses Vorgangs bezeichnen sie als „mise-en-phase énergetique“ (Casetti/Odin 2001: 326).

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Der Begriff des Meta-Bildes kennzeichnet also einen neuartigen Zustand des Bildes, der im Fernsehen ab den 1980er Jahren zunehmend beobachtet wird. Er unterscheidet sich offenbar von den Meta-Bildern, die als selbstreflexive Bildformen oder als mise-en-abyme in zahlreichen künstlerischen Werken der Moderne zu beobachten sind, kann aber durchaus als Hinweis auf eine zunehmende Eigenbedeutung, gerade auch der massenmedialen Bilder verstanden werden, wie sie William J. T. Mitchell ausgemacht hat (2008). Darunter fallen die technischen Deformationen des Bildes, die erst seit dieser Zeit stark ausgespielt werden, ebenso wie die ästhetischen Veränderungen in MTV (vgl. Kaplan 1987), Werbung, Trailern, Sport und in einzelnen Sendungen des Pop-Fernsehens (hier kann besonders an die Serien Miami Vice und Hill Street Blues erinnert werden; Caldwell hält selbst Dallas stellenweise für bildästhetisch innovativ (Caldwell 1995: 63) sowie die multimedialen Bildschichtungen einzelner Nachrichtensender, in denen sich mehrere Informations-Bildund Graphikebenen überlagern. Darunter fällt im Übrigen auch die Orientierung des Rezipienten, der durch die Fernbedienung an seiner eigenen ständigen De- und Rekontextualisierung mitarbeitet. Die Bewegung des Neofernsehens geht jedoch in zwei Richtungen. Auf der einen Seite eine Vertechnisierung der Bilder, für die beispielhaft die Clip-Formate stehen. Auf der anderen Seite entfaltet das Neofernsehen eine Ausweitung des Dokumentarischen, nicht nur in Form der klassischen Reportage, sondern in allen möglichen Formen von Reality- und Life-Formaten, die kaum noch einen räumlichen oder lebensweltlichen Winkel unbeleuchtet lassen. Doch stützen sich gerade auch diese Formate auf die Möglichkeiten der Entgrenzung des Bildes, die von Casetti und Odin beschrieben werden, da das ‚Dokumentarische‘ ständig durch andere Bild- und Tonformationen durchkreuzt wird (Kommentare, Werbeunterbrechungen, technische Spielereien, kleine Clips). Daher produzieren auch diese ein MetaBild im Sinne der Autoren, da sie mögliche Narrationen ständig durch audiovisuelle Diskontinuitäten unterbrechen und letztendlich überformen. Es handelt sich hierbei um alles andere als ein zuschauendes, höchstens passiv modulierendes Bild, wie es in klassischen Dokumentarfilmen entfaltet wird, sondern um eine aufdringliche ständige Modulierung von Sicht- und Hörbarem, die sich längst ausserhalb eines einzigen Kontextes bewegen.5 Wenn wir den Blick etwas genauer auf das Meta-Bild werfen, wird daher schnell deutlich, dass selbst dieser Begriff zu kurz greift. Denn das Konzept des Einschubs, das sich Casetti und Odin von Metz geliehen haben, überzeugt beim Fernsehen nicht mehr in gleicher Weise, weil der Einschub ja selbst noch ein funktionierendes Ganzes vorausgesetzt hat. Der Einschub war insofern ein Meta-Bild, als er von aussen in einen bestehenden Zusammenhang einbricht. Diese Form der Repräsentation, sei sie nun narrativ oder

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Ein wichtiger Weg, diese Bildformationen zu beschreiben, liegt darin, sie im weitesten Sinne als Kontrollräume zu konzipieren, was hier allerdings nicht weiter verfolgt wird (vgl. u.a. Holert 2008).

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diegetisch, ist aber in der sich ständig dekontextualisierenden Reihung der Bilder gar nicht mehr in gleicher Weise auszumachen. Die Repräsentation, deren Basiseinheit von Bildern gebildet wird, wird nun im Neofernsehen nicht mehr von aussen gestört, sondern ist schon seit jeher gestört. Diesen Aspekt, der das Bild gleichsam a priori immer über sich hinausführt, erfordert eine andere Begriffskonstellation, die das Fernsehen in den Kontext der modernen Bildmedien einordnet, es aber zugleich über diese hinausführt, weil es eine neue Idee des Bildes eröffnet. Der Begriff des Bildes also, so mein Vorschlag, bedarf einer Erweiterung um den des Sichtbaren. Die Unterscheidung oder besser Trennung von Bild und Sichtbarem wird im Fernsehen der 1980er Jahre thematisiert und eingeholt. Sie taucht aber nicht erst im Fernsehen auf, sondern steht am Fusse des modernen Bildes, ja ist eine Voraussetzung, um überhaupt vom modernen Bild in ästhetischer Hinsicht zu sprechen. Aus bildtheoretischer oder bildphilosophischer Perspektive können für diese Unterscheidung Anschlüsse gefunden werden, die dann vom modernen Bild bis zum Fernsehen auf eine gewisse Kontinuität weisen und Bild- und Medientheorie zusammenführen. Deshalb muss zunächst geklärt werden: Was ist das Bild, was ist das Sichtbare?

3. D AS B ILD

UND DAS

S ICHTBARE

Die Unterscheidung von Bild und Sichtbarem ist besonders von Maurice Merleau-Ponty entwickelt worden, dessen Phänomenologie ohnehin eng mit Konzepten des Sehens und der visuellen Wahrnehmung verknüpft ist. Ausserdem greift er explizit auf ein visuelles Medium, die Malerei, zurück, um seine Theorien überhaupt erst zu erklären (Merleau-Ponty 1986; 1995: 3959). Merleau-Ponty erkennt, dass das Bild als alleinige Bestimmungsgrösse der visuellen Welt nicht mehr ausreicht. Das Bild ist nämlich die Manifestation eines Sehens – und damit eines Sichtbaren – das „immer schon aus den Dingen heraus geschieht“ (Merleau-Ponty 1984: 17).6 Das heisst, das Bild ist gleichsam eingelassen in eine es umfassende Sichtbarkeit, oder anders gesagt: Bild und Sichtbares stehen in einem engen Austauschverhältnis, das eine ist ohne das andere nicht zu denken. In „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ schreibt Merleau-Ponty: „Das Sichtbare um uns scheint in sich selbst zu ruhen. Es ist so, als bildete sich unser Sehen inmitten des Sichtbaren, oder so, als gäbe es zwischen ihm und uns eine so enge Verbindung wie zwischen dem Meere und dem Strand.“ (Merleau-Ponty 1986: 172)

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Nicht unerwähnt bleiben soll, dass diese Formulierung an Henri Bergson anschliesst, der das in Materie und Gedächtnis bereits ähnlich konzipierte. Gilles Deleuze hat dies dann filmtheoretisch, besonders hinsichtlich des Films der 1920er Jahre (Vertov, Epstein) beschrieben (vgl. Deleuze 1989: 84ff).

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Merleau-Ponty beseitigt also zunächst jede qualitative Differenz zwischen Bild und Sichtbarem und definiert nebenbei den Begriff des Sichtbaren für die philosophische Ästhetik. Gewinnen kann er seine Definition aber nur über die Analyse der Malerei. Besonders die Bilder von Paul Cézanne sind in diesem Kontext wichtig. Cézanne bringt nämlich, so Merleau-Ponty, genau die Oszillation zwischen Bild und Sichtbarem ins Bild. Seine Bilder sind zum einen noch figürlich und durch die Abstimmung der Linien in sich stabil, anders als etwa bei den Impressionisten. Zum anderen sind sie aber bereits wie eine Art Momentaufnahme destabilisiert, zum Beispiel durch die leichte Vibration der Farbe, durch die nur leicht verschobenen Perspektiven, die das Bild, so die Argumentation von Merleau-Ponty, als Teil eines übergreifenden Sichtbaren ausweisen: „Cézanne glaubte nicht, dass er zwischen der Empfindung und dem Denken wählen müsste, wie zwischen dem Chaos und der Ordnung. Er will die festen Dinge, die in unserem Sehfeld erscheinen, nicht von der flüchtigen Weise ihres Erscheinens trennen, er will die Materie malen, wie sie im Begriff ist, sich eine Form zu geben, will die durch eine spontane Organisation entstehenden Dinge malen. Er zieht die Grenze nicht zwischen den ‚Sinnen‘ und dem ‚Verstand‘, sondern zwischen der spontanen Ordnung der wahrgenommenen Dinge und der menschlichen Ordnung der Ideen und Wissenschaften. Diese primordiale Welt wollte Cézanne malen, und deshalb erwecken seine Bilder den Eindruck einer Natur im Urzustand, während Photographien derselben Landschaft stets an den Menschen denken lassen, der sich bald in ihr niederlassen und sie bearbeiten wird.“ (Merleau-Ponty 1995: 40)

Das Beispiel Cézanne ist nicht zufällig gewählt, denn dieser dokumentiert eine wichtige Umbruchphase des Bildverständnisses. Er vereinigt zwei Auffassungen des Visuellen. Zum einen die klassische, in der das Bild figürlich, räumlich und begrenzt ist. Zum anderen die moderne, in der das Bild nicht figürlich, zeitlich und unbegrenzt ist. Vor Cézanne war das Bild die dominierende Grösse, die das Sichtbare als sein Aussen mit ins Bild genommen und damit im visuellen und begrifflichen Sinne gerahmt und begrenzt hatte. Nach Cézanne, etwa in allen Bewegungen der abstrakten Malerei, ist das multiple Relationengefüge des Sichtbaren selbst Teil der Darstellung. Insofern steht Cézanne an einem Wendepunkt nicht nur der modernen Malerei, sondern auch in der Evolution des Bildes. Von diesem Ansatz her lässt sich nun eine Neubestimmung des Bildes und des Sichtbaren angehen, die medienphilosophisch präziser werden und eine Evolution des Bildes anhand der Bildmedien der Moderne verdeutlichen kann. Noch einmal also die Frage: Was ist ein Bild und was ist das Sichtbare? Ein Bild ist ein kadriertes und komponiertes Visuelles, es hat einen bestimmbaren historischen und medialen Ort, es ist ein Dokument und eine Repräsentation, es ist innerhalb von Raum- und Zeitbegriffen bestimmbar, es ist eine Verdichtung des Sichtbaren, es entsteht in enger Korrelation mit dem Sagbaren. Das Sichtbare dagegen ist multipel und variabel, es ist ein

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Feld des Möglichen und des Simultanen, es ist das Feld, aus dem die Bilder kommen und in das sie vielleicht zurückkehren. Es ist das Aussen des modernen Bildes. Die Unterscheidung von Bild und Sichtbarem wird historisch und theoretisch genau dann wichtig, wenn das Bild sein eigenes Aussen thematisiert und nur in Bezug auf dieses Aussen begriffen werden kann. Es geht allerdings nicht um irgendein Aussen, eine Aussenwelt etwa, sondern es geht ganz präzise um das Aussen des Bildes selbst. Diese Thematisierung findet vor allem in der Moderne statt und wird damit Teil der Anordnung des Bildes. Durch Thematisierung des Bildrahmens, durch Blickkonstellationen, durch innerbildliche Schachtelungen, durch visuelle Kontingenzerfahrungen und Reihenbilder, etwa bei Claude Monet, wird deutlich, dass das Bild kein in sich abgegrenzter Bereich mehr ist, sondern nur in Bezug auf ein variables und ungeformtes Sichtbares begriffen werden kann. Das Bild wird also von einem Sichtbaren durchzogen, das über es hinausweist. Dennoch ist das Bild Teil des Sichtbaren. Das Sichtbare ist also im Bild anwesend und zugleich das Aussen des Bildes, es hat eine Dezentrierungsfunktion. Es verweist das Bild darauf, dass es nur ein ephemer gestrickter Knotenpunkt eines vielfältig gesponnenen Netzes von sichtbaren Konstellationen ist. Diese Relation ist von mehreren Ansätzen aufgegriffen worden, vor allem in Bezug auf die Arbeiten von Edouard Manet. Besonders hinweisen möchte ich auf Michel Foucaults präzise Beschreibungen der Konstruktion von Unsichtbarkeit. In Hinblick auf La serveuse de bocks (1879) schreibt er: „Die Leinwand zeigt und benennt im Grunde nur das Unsichtbare, es gibt durch die entgegengesetzten Blickrichtungen lediglich einen Hinweis auf etwas Unsichtbares – sowohl vor als auch hinter der Leinwand. Zu beiden Seiten der Leinwand spielen sich Szenen ab, denen die beiden Figuren zusehen, die das Bild jedoch verbirgt und dem Blick entzieht. Die Bildfläche mit ihren beiden Seiten, der Vorder- und Rückseite, ist kein Ort, an dem sich eine Sichtbarkeit manifestiert; sie ist im Gegenteil der Ort, der die Unsichtbarkeit dessen garantiert, was von den Figuren auf der Ebene des Gemäldes gesehen wird.“ (Foucault 1999: 27)

Das von Foucault so bezeichnete Unsichtbare bezeichne ich als Aussen, weil es jenseits der Grenze agiert, die von der Malerei eingeholt werden kann. Anders gesagt: Das Bild thematisiert das Aussen, bleibt aber auch immer von diesem getrennt. Mit Manet wird das Bild über sich selbst – ins Sichtbare, das es definiert und übersteigt – hinausgetrieben. Folgt man Deleuze, dann spielt das Aussen nicht nur in der Malerei, sondern auch im modernen Film eine entscheidende Rolle. Dort bezeichnet es das zwischenbildliche Intervall, das von der Zeit ausgefüllt wird. Doch bereits in der modernen Malerei wird das Bild auf eine Zwischenzone hin konzipiert, auf eine Unsichtbarkeit (Foucault), womit die Malerei an ihre Grenzen stösst (es sei denn, man begreift die Reihenbilder Monets als erste Versuche Relationen zwischen Bildern herzustellen, das Bild um das Sichtbare zu erweitern). Der

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Begriff des Aussen, der sowohl bei Foucault als auch bei Deleuze im epistemischen und philosophischen Verständnis eine entscheidende Rolle spielt, wird damit von den Bildmedien selbst bildtheoretisch fundiert und, so könnte sich abzeichnen, als wesentliche Kategorie der visuellen Moderne begriffen (vgl. Foucault 1993: 46-68; Deleuze 1991: 229-243; Schaub 2003: 235288; Fahle 2009). Es verwundert daher nicht, dass die Bildtheorie seit dem iconic oder pictorial turn, also etwa seit 1995, das Unsichtbare als eine wesentliche Kategorie des Bildes hervorhebt und dabei fast immer explizit an Merleau-Ponty anschliesst. Das Denken des Bildes geht mal von Unbestimmbarkeit (vgl. Boehm 2008), mal von der Negation (vgl. Didi-Huberman 2000), mal von der Abwesenheit (vgl. Nancy 2006) aus. Damit operiert besonders das moderne Bild, so scheint es, immer davon ausgehend, dass das von ihm Eingegrenzte auf das Ausgegrenzte verweist und umgekehrt. Aber betrachtet man dies nun nicht nur vor dem Hintergrund ‚des Bildes‘, sondern der technischen Bewegtbildmedien, dann gewinnt die Entgrenzung des Bildes zusätzlich zur philosophischen und ästhetischen auch eine apparative und technische Dimension, die allerdings nicht getrennt von den beiden anderen operiert. Was also von der modernen Malerei ästhetisch bereits vollzogen wird, wird von den technischen Bildmedien weiter geführt. Merleau-Ponty hat dies nur im Ansatz gesehen oder sehen können und dennoch das theoretische Gerüst der modernen Bildmedien entworfen (Fahle 2010). Das Verhältnis von Bild und Sichtbarem, das von der modernen Malerei aufgeworfen wird, bleibt daher, so meine These, nicht stabil, sondern unterliegt einer Evolution, die sich an den verschiedenen Bildmedien orientiert. Diese Evolution ist in einem graphischen Modell zusammengefasst, das den Anfang einer differenzierten Darstellung der Basis einer Bildtheorie des Fernsehens markiert (Abb. 1).

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Abbildung 1: Die Entwicklung des Bildes und des Sichtbaren in der Moderne

Quelle: Oliver Fahle

Ich unterscheide darin zwischen dem Bildbegriff der Neuzeit und dem der Moderne einerseits, zwischen den verschiedenen Medien der Moderne andererseits. Im neuzeitlichen Bild – das Leitmedium ist die Malerei und ich meine die Zeit zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert – gibt es das Sichtbare als Aussen nicht. Alles was sichtbar ist, befindet sich im Bild. Zentrales Paradigma dieser Darstellungsform ist die Zentralperspektive, auch die camera obscura, und die von ihnen abgeleiteten Bildformen, etwa die ekstatische Darstellungsweise des Barock oder die deskriptive Form der niederländischen Malerei (vgl. Jay 1988: 3-27). In der Moderne wird nun das Aussen ins Bild aufgenommen. Dabei fasse ich Fotografie und moderne Malerei zusammen, weil beide zum Dispositiv des feststehenden Bildes gehören, andererseits aber das Aussen thematisieren. Dies wird vor allem daran deutlich, dass beide Kontingenz in die Darstellung bzw. ins Dispositiv aufnehmen und damit auf die eigene zufällige Raumstruktur und Temporalität aufmerksam machen. Man könnte behaupten, Fotografie und moderne Malerei entdecken das hors-champ, das aber erst im Film zum ästhetischen Konzept wird. Der Film geht insofern über die Fotografie hinaus, weil er ein Bewegungsbild und kein feststehendes Bild mehr ist. Dem Bild im Film ist Bewegung bereits inhärent, es bleibt immer auf ein dieses übersteigendes Sichtbares bezogen (vgl. u.a. Schefer 1997). Die wesentlichen technischen und sprachlichen Figuren dieser ständigen Variation sind Montage und Kamerabewegung. Der klassische Film versucht allerdings, das Bild abzu-

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schliessen und keine Überschüsse des Sichtbaren zu produzieren. Erst im modernen Film durchdringt das Sichtbare das Bild, der Austausch zwischen beiden wird selbst zum ästhetischen Programm. Der berühmte Satz Godards „Ce n’est pas une image juste, c’est juste une image“ bringt das treffend zum Ausdruck: kein richtiges Bild, sondern nur eine Möglichkeit, nicht nur Bild, sondern auch Sichtbares. Das Fernsehen bildet einen vorläufigen Endpunkt dieser Verknüpfung und Verschachtelung von Bild und Sichtbarem. Von Bild kann nur noch in Formen der Annäherung gesprochen werden, es ist lediglich eine asymptotische Grösse, die sich kaum noch manifestiert. Der Austausch zwischen Bild und Sichtbarem ist so unmittelbar geworden, dass eine Unterscheidung mitunter nur noch theoretisch möglich ist, die Nachprüfbarkeit der Differenz am konkreten Objekt sich teilweise sogar entzieht. Das Bild und das Sichtbare sind daher keine Kategorien des Seins, sondern des Werdens. Das Verhältnis von Bild und Sichtbarem ist also eigentlich ein Doppeltes. Zunächst verliert das Bild seine Stellung als begrenztes, räumliches und repräsentatives und verdankt sich selbst einem Aussen. Das heisst, es ist ein zufälliger Blick, eine arbiträre Komposition. Es ist eine Manifestation des Visuellen, die auch anders hätte ausfallen können. Dann, in einem zweiten Schritt, geht das Verhältnis von Bild und Sichtbarem selbst in das Bild mit ein. Der erste Schritt ist in diesem Schema dokumentiert, der zweite müsste für jedes Medium noch einmal gesondert eine Evolution von Bild und Sichtbarem erfassen und als jeweils verschiedene Modernisierungsschübe beschrieben werden. Das Schema definiert also nur die medienexternen Schwellen, nicht aber die medieninternen. Jedes Medium hat damit eine doppelte Funktion hinsichtlich der Evolution des Bildes. Es bestimmt interne, aber auch externe, intermediale Schwellen, die das Bild medienspezifisch, aber auch medienübergreifend konturieren. Wenn also Cézanne den Wendepunkt von der Dominanz des Bildes innerhalb des Verhältnisses von Bild und Sichtbarem hin zur Dominanz des Sichtbaren verschiebt, so gilt das vor allem für die Malerei, aber auch für die visuelle Evolution über die Malerei hinaus. Das gleiche gilt für den Film, der sein Verhältnis von Bild und Sichtbarem im modernen Film reformuliert und eben auch für das Fernsehen, das seinen entscheidenden Bruch im Übergang vom Paläo- zum Neofernsehen vollzieht. Medienexterne und medieninterne Schwellen stehen in einem Wechselverhältnis.

4. B ILDTHEORIE

DES MODERNEN

F ERNSEHENS

Ausgehend von diesem allgemeinen Rahmen, der einen Vorschlag zur Evolution des Visuellen darstellt, möchte ich nun versuchen, einige Vorschläge zu machen, wie eine weitere Ausdifferenzierung dieses Konzepts innerhalb des Neofernsehens aussehen könnte. Innerhalb des Schemas von Bild und Sichtbarem steht der Begriff des Bildes eher für die Rezentrierung, der des

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Sichtbaren eher für die Dezentrierung. Die Evolution der Bildmedien hat dahin geführt, dass sich beide Instanzen, Bild und Sichtbares, immer weniger voneinander trennen lassen, Re- und Dezentrierung also in einem unauflösbaren Wechselverhältnis zueinander stehen. Eine ähnliche Systematisierung hat Stanley Cavell bereits vor längerer Zeit vorgeschlagen, indem er das Bild des Fernsehens vom Bild des Films trennte und entsprechend zwischen „viewing“ (teilweise als ‚Betrachten‘ übersetzt) und „monitoring“ unterschied (Cavell 2001: 144). Film funktioniert im Modus des „viewing“, Fernsehen im Modus des „monitoring“. Film bezeichnet Cavell als Aufeinanderfolge „automatischer Welt-Projektionen“, während Fernsehen ein „Strom simultaner Ereignisrezeption“ darstellt (ebd.: 143). Hier treffen gleich mehrere Begriffe zusammen, vor allem die Trias „viewing“, Sukzession und Welt auf der Filmseite, sowie „monitoring“, Simultaneität und Ereignis auf der anderen Seite, derjenigen des Fernsehens. Betrachten wir zunächst den Unterschied zwischen „viewing“ und „monitoring“. „Viewing“ meint einen Modus des Sehens, der von einer Fokussierung des Blicks getragen ist. Auf die Entstehung eines Bildes bezogen, meint Fokussierung die Konkretion des Blicks, die sich vor allem über Kadrierung und Komposition herstellt. Der Film ist also eine Sukzession von Fokussierungen, die in ihrem Zusammenspiel eine Welt darstellen, womit in diesem Zusammenhang gemeint ist, dass eine Beziehung zwischen den Bildern entsteht und die Welt damit selbst endlich und begrenzt ist – durch die Grenzen nämlich, die der Film mit Anfang und Ende immer selbst setzt. „Monitoring“ dagegen ist ein kaum kadriertes und komponiertes Sehen und damit eigentlich gar kein Blick und auch kein Bild, sondern ein offenes Sichtbares, das zugleich für mehrere Vorgänge offen ist, da es nicht einen einzigen allein fokussiert. Es ist also ein Simultanraum, der nicht eine begrenzte Welt sichtbar macht, sondern offen ist, ein Ereignisraum also. Vorgänge können hier auch und vor allem an beliebigen Punkten wahrgenommen werden oder auch nicht. Fernsehen ist nun, folgt man Cavell, ein solcher Ereignisraum oder eine Zusammenballung vieler Ereignisräume, während der Film immer eine Mikrowelt herstellt, in der es nicht beliebig ist, wo sich die Wahrnehmung einschaltet, sondern der umgekehrt die Rezeption einer bestimmten Struktur unterwirft. So einleuchtend die Unterscheidungspaare „viewing“ und Film auf der einen Seite und „monitoring“ und Fernsehen auf der anderen Seite sind, so müsste doch noch ein wichtiger Unterschied präzisiert werden. Anders als „viewing“ enthält nämlich „monitoring“ selbst wieder die Unterscheidung von „viewing“ und „monitoring“. Denn in dem offenen Ereignisraum des „monitoring“ sind disseminierende Wahrnehmungspunkte ebenso denkbar wie klar komponierte und kadrierte Bilder. Anders gesagt: Bilder des „viewing“, das heisst sukzessiv-lineare Mikrowelten, sind im Fernsehen ebenso aufgehoben wie das Sichtbare des „monitoring“, also simultane Ereignis-

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räume.7 Beide stehen nämlich im ständigen Austausch miteinander und es ist genau dieser Konflikt, der an den von De- und Rezentrierung, an den von Sichtbarem und Bild anknüpft. Betrachtet man neben dem „monitoring“ eine weitere Möglichkeit, Reund Dezentrierung, Bild und Sichtbares im Fernsehen zusammenzudenken, dann stösst man auf den Begriff der Serie. Philosophisch ist es der Verdienst von Gilles Deleuze, den Begriff der Serialität von dem der Repräsentation gelöst zu haben (vgl. Deleuze 1992; 1969), auch wenn Deleuze dabei weniger an das Fernsehen denkt, es sei denn, Samuel Beckett hat es gemacht (Deleuze 1996: 49-101). Dennoch spricht nichts dagegen, den Serialitätsbegriff von Deleuze in den Möglichkeiten des Fernsehens zu suchen. Deleuze setzt Repräsentation und Repetition, also Wiederholung, gegeneinander: „Die Repetition steht der Repräsentation gegenüber, das Präfix hat eine andere Bedeutung angenommen, denn in einem Fall sagt sich die Differenz nur im Verhältnis zum Identischen aus, im anderen Fall aber ist es das univoke Sein, das sich im Verhältnis zum Differenten aussagt.“ (Deleuze 1992: 84)

Im Anschluss an Cavell und den Begriff des „monitoring“ scheint diese Auffassung von Reihung oder Serialität besonders triftig, denn, wie Jürgen Trinks ausführt, bedeutet der nicht-identifizierende Blick – also der Blick der Wiederholung im Gegensatz zu demjenigen der Repräsentation – die Möglichkeit, dass Neues auftaucht, ohne sich im Namen eines anderen zu rechtfertigen (Trinks 2000: 77). Im Fernsehen sind seit den 1980er Jahren genau diese Ent-Kontextualisierungen am Werk. Mit der Loslösung des Bildes aus den Formen der Repräsentation, die zumindest in einem Teil des Fernsehens anzutreffen ist, zum Beispiel bei MTV und verwandten Formen, aber auch in den Serialisierungsprozessen, die jedes Thema im Fernsehen erfährt, in Talkshows, Nachrichten, Berichten und Dokumentationen, finden ständige Dezentrierungen oder simultane Ereignisproduktionen statt. Dies lässt sich nicht nur auf der Seite der Bildbeschleunigung finden (MTV), sondern auch im Gegenteil, in den potentiell unendlichen Schleifen des Realitätsfernsehens, das die Identität von Personen, Dingen, Landschaften und Ereignissen immer nur vor dem Hintergrund ihres Unterlaufens in visuellen Selbstferentialisierungsprozesse fortführen kann. Das haben Ralf Adelmann und Markus Stauff in einem sehr instruktivem Text als Re-Visualisierungspraxis des Fernsehens gekennzeichnet und als „picture effect“ benannt: „Die Bezeichnung picture effect weist darauf hin, dass die stilisierende Arbeit zur Sichtbarkeit und Reflexion von Bildern führt. Neben ‚Realität‘ und ‚Fiktionalität‘ (bzw. Diegese) als Wahrnehmungs- und Referenzmodi werden im Fernsehen schlicht

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Der moderne Film wiederum öffnet sich für den Modus des „monitoring“, wenn er – in den Grenzen des Films – Zeitbilder konstruiert, also Simultaneität privilegiert.

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Bilder sichtbar gemacht, oder, insofern es eben keine Bilder, sondern Visualisierungsprozesse sind: Oberflächentexturen, gestaltbare Bildflächen und ästhetische Formen. Durch technisch-stilistische Bearbeitung erhalten die Visualisierungen das, was dem Fernsehen immer wieder abgesprochen wird: Materialität, Räumlichkeit, Brillanz und subtile Differenzierung. Bildflächen überlagern sich und bewegen sich in die Tiefe des Bildraums; Schrifttafeln werden halbtransparent über andere Bilder geblendet; die Farbflächen blitzen metallisch etc. Dies sind keineswegs ästhetische Spielereien, sondern entscheidende Scharnierpunkte der medialen Zirkulationsprozesse.“ (Adelmann/Stauff 2006: 65)

Vielleicht müsste man den „picture effect“ mit Blick auf das Fernsehen der Gegenwart sogar dem „viewing“ und „monitoring“ als weitere Operation hinzufügen, unterscheidet er sich doch von diesen beiden Modi. Das Bild jedenfalls als Instanz der Rezentrierung, mithin der Repräsentation, verflüchtigt sich im Möglichkeitsraum des Sichtbaren, wird gleichsam durchkreuzt von der transversalen Bewegung des Visuellen. Jede Wiederholung produziert dann eine Divergenz ihrer selbst. Daher kann der Begriff der Serie, den Deleuze entwirft, nicht bruchlos für das Fernsehen übernommen werden. Denn besonders im Fernsehen ist jede Wiederholung nicht nur Divergenz, sondern auch Manifestation des Repräsentativen. Ein Beispiel wäre die ritualisierte Wiederholung, die sich etwa im Programm ausdrückt. Den Begriff der Serialisierung gilt es aber besonders in Hinblick auf die Digitalisierung genauer zu fokussieren, was im folgenden Kapitel geschehen soll. Doch fassen wir bis hierhin zunächst zusammen: Fernsehen bewegt sich entlang verschiedener Dichotomien, die wesentlich für die Moderne des Bildes und der Bildmedien sind, vom Neofernsehen allerdings auf neue Weise konturiert werden: Bild und Sichtbares, Rezentrierung und Dezentrierung, „viewing“ und „monitoring“ sowie Re-Visualisierung, Sukzession und Simultaneität, Sagbarkeit und Sichtbarkeit. Fernsehen, so meine These, ist das Medium, das den ständigen Konflikt zwischen diesen dichotomischen Tendenzen austrägt. Die Kritik und der Gebrauch des Fernsehens spielen sich genau an dieser Grenze ab. Einerseits ist Fernsehen Repräsentationsinstanz, in der Machtverhältnisse entscheidend sind, etwa die Frage, wer das Wort und das Bild wie lange bekommt, welche Bilder gezeigt und welche ausgeschlossen werden. Andererseits ist das Fernsehen Dezentrierung und radikale Entfesselung und Entgrenzung der Repräsentationsverhältnisse. Die Ästhetik des Fernsehens findet ihre Formen oder ihre Poetik offenbar in dieser Tendenz zur Ununterscheidbarkeit von Re- und Dezentrierungen, die sich quer zu den Genres ereignen und sich innerhalb einer einzigen Sendung, aber auch zwischen den Formaten abspielen können und schliesslich durch das Zappen ein Pendant auf der Seite der Rezipienten haben. Das heisst, dass im Ausgang dieser These nun ein Ansatz weiterzuverfolgen wäre: Wenn es stimmt, dass Fernsehen den Konflikt zwischen Re- und Dezentrierung oder zwischen Sinnkonstruktion und -dissolution im Medium des Visuellen austrägt, dann stellt es eine Differenz auf Dauer, die in den moder-

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nen Bildmedien selbst zum Thema wurde, dort allerdings nur im Rahmen eines abgeschlossenen Werks zum Thema geworden ist. Die Ästhetik des Fernsehens ist in Analysen einzelner Sendungen allein nicht zu erfassen, sondern nur in Ergänzung durch transversale Interpretationen, die nur einen Teil der Vielfalt der Konstellationen von Bild und Sichtbarem aufdecken können wird. Es müsste sich zeigen lassen, inwiefern sich im Neofernsehen die Differenz von Bild und Sichtbarem entfaltet und sich auf diese Weise neue Möglichkeiten des Bildes erschliessen. Die gegenwärtige Fernsehserie bietet dafür Anschlüsse.

5. S ERIEN UND S ERIALISIERUNG : D AS F ERNSEHEN DER G EGENWART UNTER B EDINGUNGEN DER D IGITALISIERUNG Bisher war vor allem vom Neofernsehen die Rede. Inzwischen wird eine entscheidende Veränderung des Fernsehens diskutiert, die teilweise als Postfernsehen oder gar Ende des Fernsehens (vgl. Missika 2006) gefasst wird. Darunter versteht man vor allem die Konvergenz des Fernsehens mit dem Internet, also das Ende des Ersteren als klassisches Massenmedium. TV on demand, Verschmelzung von Fernseh- und Computerbildschirm, Fernsehen als riesige Datenbank audiovisueller Texte, aus denen der Zuschauer wählen kann, lassen diesen teilweise zum Nutzer werden, der nicht mehr der Rede des Mediums gegenüber steht, dem also die Antwort untersagt wird, wie es Jean Baudrillard einst als Charakteristikum des Fernsehens begriffen hat (Baudrillard 1978: 83-118). Hinzu kommt die Verwertungsbreite zahlreicher Sendeformen, in denen Fernsehen nur eine Schleife in einer Kette von Nutzungsangeboten darstellt, die von Internet und DVD erweitert werden. Unter diesen neuen Bedingungen bietet sich die gegenwärtige Fernsehserie (The Sopranos, 24, Six feet Under, Lost, Nip/Tuck, The Wire, Mad Men etc.) aus verschiedenen Gründen als besonders aufschlussreiches Material zur Analyse des Fernsehens unter den Bedingungen der Digitalisierung an. Erstens schliessen die Serien an ein Format an, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Fernsehen seinen prägenden Ort hatte. Zweitens unterliegen gerade die gegenwärtigen Serien den neuen Rezeptions- und Verwertungsstrukturen, denn sie werden nicht nur für den Fernseher, sondern von Beginn an auch für die Auswertung auf DVD produziert und werden weitgehend im Internet rezipiert. Drittens produzieren sie nicht zuletzt deswegen eine ganz eigene Fankultur, die sich von der klassischen Fernsehgemeinschaft längst abgekoppelt hat. Viertens sind gerade sie die weit über das Fernsehen und auch das Internet hinausweisenden künstlerischen Manifestationen, an denen sich in vielfältiger Weise das Selbstverständnis der gegenwärtigen Kultur festmacht, betrachtet man nur die zahlreichen Kommentare in den Feuilletons der deutschen und amerikanischen Tageszeitungen. Es steht ausser Frage, dass wir es mit neuen aufregenden Formaten zu tun ha-

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ben, die aber, so möchte ich vertreten, in besonderer Weise der Fernsehästhetik entspringen und diese durch Digitalisierung weiter entwickeln. Digitalisierung fasse ich aber hier als eine ästhetische Perspektive und weniger auf die konkreten Verwertungs- und Nutzungsmedien bezogen, also auf DVD und Internet, sondern als Prozess der Fernsehästhetik, der sich anhand der Serien herausbildet und als Serialitätsereignis so nur dem Fernsehen entspringen kann. Mit anderen Worten: Die Serien sind nicht nur Objekte des Fernsehens, sondern verweisen auf eine neue Form der Serialität, die das Fernsehen als Denkform bereitstellt, die wiederum als topologische Serialität nur unter digitalen Bedingungen entstehen kann. Um das genau zu erläutern, möchte ich die zweite grössere Abhandlung zur Serialität von Gilles Deleuze heranziehen, die er in „Logik des Sinns“ (Deleuze 1969) entwickelt hat. Deleuze unterscheidet dort zwei Zeitformen. Die chronologische und die äonische (ich etikettiere sie gleich um und nenne diese zweite Zeit die heterochrone). Die beiden Formen sind eigentlich untrennbar voneinander und entstehen gleichzeitig als Serien. Serie besteht also immer aus zwei Bewegungen: Eine, die die Zeit chronologisch vereint und eine, die Zeit äonisch/heterochron aufspaltet. Während die eine Form der Serialität Identität herstellt, behauptet und fortführt und bei allen Elementen des Wandels auch stabilisiert, treibt die zweite Form der Serialität die Identität in die Paradoxie, untergräbt und hinterfragt sie und verbindet Wandel nicht mit Stabilität, sondern mit Destabilisierung oder Transformation oder, wie Deleuze das nennt, mit Werden. Gerade diese zweite Form verwendet Deleuze, um die die moderne Kunst im weitesten Sinne zu beschreiben: moderner Film, moderne Literatur vor allem. Besonders die Filme Godards behandelt er als serielle Formatierungen. So entwirft Godard etwa Serien von Farbgebungen oder Serien von Genrezuschreibungen oder Serien von Klischees, wie etwa in „Les Carabiniers“ (Deleuze 1991). Während also die erste Form der Serie der stabilen Konstruktion einer klassischen Zeitauffassung gehorcht, bearbeitet die zweite die Paradoxien des modernen Kunstwerks, das Deleuze auch mit dem Werden gleichsetzt. In „Logik des Sinns“ schreibt er: „Darin besteht die Gleichzeitigkeit eines Werdens, dessen Eigenheit es ist, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen. Insofern es sich dem Gegenwärtigen entzieht, verträgt dieses Werden weder die Trennung noch die Unterscheidung von Vorher und Nachher, von Vergangenem und Künftigem. Es gehört vielmehr zum Wesen des Werdens, in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen, zu streben: Alice wächst nicht, ohne zu schrumpfen, und umgekehrt. Der gesunde Menschenverstand besteht in der Behauptung, dass es in allem eine genau bestimmbare Richtung, einen genau bestimmbaren Sinn gibt; das Paradox jedoch besteht in der Bejahung zweier Richtungen, zweier Sinnprägungen zugleich.“ (Deleuze 1969: 15).

Damit bereitet Deleuze sein Konzept von Serialität vor, das darin besteht, dass zwei serielle Ordnungen paradox aneinander gebunden sind, also nicht

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gleichzeitig vorkommen können, aber auch nicht unabhängig voneinander begriffen werden können. Es ist im Grossen und Ganzen anschliessbar an die Konzepte des modernen Films, die ebenfalls verschiedene Serien – etwa Erinnerungen verschiedener Gedächtnisse – miteinander koaleszieren lassen, also miteinander verschweissen. Inwiefern kann die Fernsehserie mit diesen beiden Konzepten beschrieben werden? Die Fernsehserie hat das Konzept der zweiten – heterochronen – Serialität eher schwach ausgebildet, sondern ist im Grossen und Ganzen bis heute dem Aktionsbild verpflichtet, also der ersten Form der Serialität, der chronologischen, mit ihren Aspektierungen von Differenz und Wiederholung, Offenheit und Geschlossenheit, Kontinuität und Diskontinuität, Teil und Ganzem, auch wenn es hier und da Ausnahmen gibt. Die aktuelle Fernsehserie hingegen entwirft einen eigenen Typ von Serialität, der auf dem ersten aufbaut und unter weitgehender Umgehung des zweiten eine eigene Ästhetik, nicht aber der Heterochronie wie im modernen Film, sondern der Post-Heterochronie oder gar der Post-Heterogenität bereitstellt. Während Deleuze darlegt, es gäbe im reinen Werden die Bejahung zweier Richtungen, zweier Sinnprägungen zugleich (das von ihm so genannte äonische), würde ich behaupten, es gibt in der Fernsehserie bestenfalls eine Ko-Präsenz zweier oder mehrerer Richtungen, die aber nicht mehr paradox aneinander vermittelt werden, sondern hermetisch. Die hermetischen Serien verweisen nicht auf Anbindung, sondern eher auf Verschliessung und Abdichtung. Mit anderen Worten: Die Serien entwerfen verschiedene Welten, die nicht mehr aneinander vermittelt werden, weder narrativ-chronologisch noch paradoxheterochron. Dies lässt sich gerade an dem Aspekt zeigen, der den Zusammenhalt aller Teile in amerikanischen Bildfiktionen garantiert: der Narration. Ich habe bereits dargelegt, dass die Serien zwar auf dem Aktionsbild beruhen, jedoch die damit verbundene Narration vielfach variieren und strecken. Narration wird komplex, die Unterteilung etwa in beats (Mikroeinheiten), acts (Erzähleinheiten/Sequenzen) und story arcs (Erzählbögen) wird durch Einspielungen von Traum- und Erinnerungssequenzen (The Sopranos, Six Feet Under) sowie Clips und Werbung (Six Feet Under) durchbrochen. Mit Erzählungen, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überkreuzen (Lost) wird ebenso experimentiert wie mit Realzeitnarrationen (24). Dies ist von der Fernsehserienforschung inzwischen vielfach beschrieben worden (vgl. Schabacher 2010). Dennoch werden die Erzählungen kaum im eigentlichen Sinne paradox, wie in Deleuzes zweiter Serialität und im Zeitbild des modernen Films beschrieben, denn die Paradoxien werden stets an das Aktionsbild zurückgeführt und damit letztendlich in dieses eingebunden. Die amerikanische Fernsehserie bleibt amerikanisch. Doch wird die Narration in anderem Sinne über sich hinausgetrieben. Dies ist besonders an den exzessiven Bilddarstellungen zu beobachten. Diese ist ganz im von Ralf Adelmann und Markus Stauff beschriebenen Sinne hochgradigen Re-Visualisierungsprozessen unterworfen, die sich in Körper-

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aussendarstellungen (Nip/Tuck, Six Feet Under) und Bildern vom Körperinneren (Dr. House, CSI) manifestieren. Merkwürdigerweise riegeln sich aber gerade die Körperdarstellungen voneinander ab. Das Körperaussen der lebund reglosen Körper (besonders in Six Feet Under, aber auch in Nip/Tuck) bildet gleichsam eine eigene Serie von Bilddarstellung wie das Körperinnen, das als eigene Visualisierungsstrategie ausgewiesen wird. Beide Bilderserien stehen vermittlungslos nebeneinander und haben daher inzwischen die Aufmerksamkeit als solche auf sich gezogen (vgl. Weber 2007; Allen 2007) Diese Serien der Bilddarstellung werden ergänzt durch andere, etwa durch die Musik, die in allen gegenwärtigen Serien eine herausgehobene Stellung einnimmt. Andrea Braidt hat gezeigt, inwiefern etwa in Mad Men kinematografische und televisuelle Verfahrensweisen eingespeist werden (vgl. Braidt 2011), was leicht ergänzt werden könnte, wenn man die Serien als audiovisuelle Intermediatisierung verschiedender Medien und Formate begreift, etwa neben dem Kinematografischen auch des Neofernsehens (Clip), des Videos (Überwachung), des Digitalen (wissenschaftliche Verfahren zur Sichtbarmachung des Körperinneren). Wichtig ist jedoch, dass sich diese Intermedialität selbst als Serialität organisiert, das heißt, dass diese medialen Funktionen eigene serielle Operationen sind, die neben anderen stehen, ohne durch ein Ganzes eingeholt zu werden. Gerade die Narration kann das nicht mehr leisten, sie ist vielmehr, so möchte ich behaupten, selbst eine serielle Form unter anderen. Das heisst: Nicht mehr Narration organisiert Serialität, sondern Serialität organisiert Narration. Narration ist dann selbst eine, vielleicht eine herausgehobene Serie, die mit anderen Serien korrespondiert. Nicht mehr die Narration mit ihrer Tendenz zur Sinngebung, temporalen Organisation und Abschliessung (wenigstens im Aktionsbild), sondern die Serialität mit ihrer Tendenz zur Sinnoffenheit, temporalen Desorganisation und ihrer Unabschliessbarkeit ist das leitende Ordnungsprinzip. Nicht nur die gegenwärtigen Serien, sondern auch das Fernsehen funktioniert auf diese serielle Weise. Das heisst, die gegenwärtigen Serien ziehen die Konsequenz aus der seriellen Organisation, die das Fernsehen ohnehin hervorbringt. Im Blick auf die Fernsehserien, so also die abschliessende These, kehrt Fernsehen sein Ordnungsprinzip Serialität, das schon immer am Werk war, gleichsam nach aussen und erhebt es zu einem dominanten ästhetischen Ausdruck. Eingehendere Analysen, die an dieser Stelle nicht leistbar sind, können diese These belegen. So gibt es etwa in The Sopranos die nebeneinander laufenden Bilderserien des öffentlichen Tony (ständig in den Fernsehnachrichten), des privaten Tony (Psychoanalyse) und des real agierenden Tony als Mafiaboss und Familienmensch. Jede dieser Serien innerhalb von The Sopranos (und man könnte andere finden) haben einen eigenen Verlauf, der zwar mit den anderen lose gekoppelt ist und sich mit ihnen überkreuzt, aber grundsätzlich eigenständig agiert. Sie sind eben nicht narrativ ineinander verwoben, sondern seriell aneinander verlaufend. In Six Feet Under, ein anderes Beispiel, stehen der Tod als konkrete materielle Ebene der toten Kör-

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per und des definitiven Endes und die immaterielle Ebene des Fortbestehens nach dem Tode zwar in einem ständigen Dialog, aber eben nicht in einer narrativen Dramaturgie, sondern in einem seriellen Austausch, der weder zielführend (chronologisch), noch paradox ist, sondern nebeneinander herläuft. Das eine erklärt nicht das andere, ordnet sich nicht unter, keine Synthese wird geschaffen, wie es für eine Narration naheliegt, sondern die Begräbnisserie führt einfach eine Art Koevolution von Serialitäten vor, die auf keinerlei Abgeschlossenheit verweisen, die aber auch nicht einfach polyphon sind oder perspektivgebunden, wie es moderne Erzählungen in Roman oder Film vorgeführt haben. Ein drittes Beispiel folgt der überzeugenden Analyse von Andrea Braidt, die anhand der Serie Mad Men von Cinematic Television spricht, einer Verklammerung oder Spiegelung von Kino und Televisualität, die auf ständige Fortsetzung angelegt ist und die beiden medialen Serialitäten offen lässt. Weder das eine noch das andere enthält Subjektstatus (Medium-Sein), sondern durchläuft in einem Prozess der Überführung an diesem heterotopischen Ort des Cinematic Television so etwas wie ein Medium-Werden (vgl. Braidt 2011). Was hat das nun mit Digitalisierung zu tun? Digitalisierung wird gerne mit Vernetzung in Verbindung gebracht. Und auf den ersten Blick scheinen die Serien diese Vernetzung anzunehmen, denkt man vor allem an Lost mit seinen vielfältigen Anspielungen und Rätseln, die wiederum erst eine vernetzte Gemeinde aufdecken und im Dialog auflösen sollen. Aber vielleicht ist die Fernsehserie schon weiter. Sie produziert nicht Vernetzung, sondern ihr ist Vernetzung schon inhärent und sie thematisiert vielmehr die losen Enden, die anschlusslosen Verbindungen, die nicht kommunizierenden Röhren und den drohenden Kollaps der Vernetzung. Es geht ihnen, so mein Eindruck, der weiter belegt werden müsste, gar nicht darum, die Digitalisierung als Vernetzung abzubilden, sondern eine Ästhetik der Dekonnektierung, also der gestörten Netze zu produzieren. Die Fernsehserie stellt also eher eine Serie der gerissenen Verbindungen her, eine Ästhetik der Trennungen. Die „freien“ Serialitäten, die innerhalb der Fernsehserien wirken, scheinen mir eher darauf hinzudeuten, also eher auf die Aussetzung der Vernetzung als auf diese selbst. Das würde aber bedeuten, dass die Fernsehserien in gewissem Sinne schon jenseits des Netzes sind, in seinem Aussen und das gilt dann – in letzter Konsequenz – auch für das Fernsehen als Ganzes. Das Fernsehen, dessen Ende voreilig verkündet wird, wäre dann schon über das Netz hinaus. Die Rede vom Ende des Fernsehens (die aus vielen Gründen fragwürdig ist) und die gängigen Mediengenealogien müssten daraufhin überdacht werden, wenigstens, wenn man die ästhetische (nicht vielleicht die technische) Dimension in Betracht zieht. Eine Perspektive für das Fernsehen im Zeitalter der Digitalisierung liegt daher nicht so sehr in seiner Konvergenz mit dem Computer und schon gar nicht in der Beschwörung seines Endes, sondern im Gegenteil auf den Produktivitäten, die sich im Außen oder im Jenseits der Netze und der Digitalisierung einnisten. Serialität ist dabei sicher nur ein, allerdings sehr wirksames Konzept.

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Televisuelle Blickstrategien Zur Ästhetik von Kulturmagazinen N ADJA E LIA -B ORER

Die Digitalisierung des ‚Fernsehens‘ und die durch sie mitbedingten Veränderungen und Verschiebungen der televisuellen ‚Formate‘ ermöglichen neue audiovisuelle Verwendungs- und Aneignungsmodi. Die damit verbundene Hybridisierung des Fernsehens macht rückblickend die Television als Schnittstelle zwischen alten und neuen Medien allererst reflektierbar (vgl. Tholen 2005). Einen Großteil unseres Wissens über das, was ‚Kultur‘ ist und sein soll, entnehmen wir fortwährend den sogenannten Massenmedien, wodurch Fernsehsendungen und insbesondere Kulturmagazine als Ausschnitte verstanden werden können, die gerahmte Fragmente aus der gesellschaftlich-kulturellen ‚Realität‘ (re-)präsentieren und diese gleichsam konstituieren. Denn ähnlich dem „Barden“ (Fiske/Hartley 2001) generieren und konstruieren Kulturmagazine durch die Auswahl und Präsentation von Kultur dieselbe und (re)produzieren sie. Die historisch variablen televisuellen Blickregime folgen hierbei bestimmten Darstellungslogiken, „die unseren Blick auf die Objekte bestimm[en] und die Gestalt, die wir selbst annehmen, sowie den Wert, den ein inzwischen komplexer organisiertes [audio-]visuelles Feld diesen Darstellungen beimisst“ (Silverman 1997: 42). Deshalb ist das Fernsehen aufgrund der Vieldimensionalität der audiovisuellen Kommunikation in seiner Funktion als Begleitmedium soziokultureller Modernisierungsprozesse bestimmt (vgl. Hickethier 2000). Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten in Deutschland und der Schweiz haben seit ihren Anfängen einen bestimmten Kulturauftrag im Sinne des Service Public bzw. Öffentlichkeitsauftrag zu erfüllen, der jedoch in den letzten Jahrzehnten größeren Transformationsprozessen ausgesetzt war: Wurde das televisuelle Medium einst in seiner Gesamtheit als Kultur- und Kunstmedium konzipiert, brachte die Einführung des dualen Rundfunksystems 1984 die bisherigen formalen und inhaltlichen Konzeptionen ins Wanken. Im Gegensatz zu den kommerziellen Angeboten der privaten Sendean-

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stalten sollten die Sendungen der öffentlich-rechtlichen Anbieter informativ sein. Im Zuge der seit den 1990er Jahren einsetzenden Konvergenz von Fernsehen und dem World Wide Web lassen sich auf inhaltlicher Ebene Kategorien wie ‚Trash TV‘ versus ‚Qualitätsfernsehen‘ (vgl. Bergermann/ Winkler 2000) kaum mehr aufrecht halten. Entsprechend den hybriden Präsentationsmodi von Edu- und Infotainment reflektieren die Kulturmagazine in ihrem Ablauf die journalistischen Grundtendenzen, die Themen verwenden, die sowohl aktuell und innovativ sind, als auch personalisiert werden können. Durch die Verschränkung dieser Trias erfüllen die Kulturmagazine eine Form von audiovisuellem Schauplatz, in dem kollektive Funktionen und spezifische Wahrnehmungsmodularitäten zur Verfügung gestellt werden. Im Rahmen der Konvergenz befindet sich das digitale Kulturmagazin und somit seine bis anhin geltende formale und inhaltliche Grammatik in einem Moment grundlegender Zäsur. Wird das Kulturmagazin als ein historisch bedingtes Format aufgefasst, mit dem ein je historisch variables, mediales Bild von Wirklichkeit einhergeht, das sich sowohl der inhaltlichen Selektion von Stoffen und Themen, als auch der spezifischen Bearbeitung und Präsentation dieser ausgewählten Stoffe verdankt (vgl. Kreuzer 1988), so manifestiert sich dieser ‚digitale Einschnitt‘ insbesondere im Magazinfilm. Der kategoriale Status der Aisthesis der Kulturmagazinbeiträge zeigt sich in der Untersuchung der Verschiebung und Verdichtung von elektronischem zu digitalem Bildschirmbild, in dem „unterschiedliche Re-Visualisierungsstrategien“ (Adelmann/Stauff 2006) von Literatur, Film, Photographie, Malerei, Theater usw. re-inszeniert und re-organisiert werden. Das spannungsvolle In-Differenz-Setzen (vgl. Tholen 1999) von medialen Formen erlaubt es, die analogen und digitalen Zwischenspiele sowie die intermedialen Stilisierungsmomente televisueller Bildlichkeit neu zu reflektieren, was ich im Folgenden aufzeigen werde.

D IE ‚K ULTUR ‘

DES

K ULTURFERNSEHENS

Das Kulturfernsehens und damit auch die Kulturmagazine der öffentlichrechtlichen Sendeanstalten im deutschsprachigen Raum obliegen dem rechtlich festgelegten Öffentlichkeitsauftrag zu welchem auch der Kulturauftrag gehört. Letzterem wird die zentrale Aufgabestellung zuteil, die kulturelle Vielfalt der Nation sowie das Geschehen benachbarter Länder aufzuzeigen. Die Sender selbst sollen dabei kulturell Berichtenswertes nicht nur abbilden, sondern „Programme von eigenem, bleibendem kulturellen Wert“ (Selbstverpflichtungserklärung des ZDF 2009-2010, 2008: 10) produzieren. 1

1

So pointiert Schwarzenau bereits in den 1970er Jahren: „Kultur ist nicht nur Produktion und Reproduktion von Kunst, sondern ein dynamischer Prozess der

T ELEVISUELLE B LICKSTRATEGIEN

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Relevante Kulturereignisse und Diskussionen der Gegenwart sollen jedoch verständlich vermittelt werden, sodass ‚Kultur‘ einem breiten Nutzerkreis zugänglich gemacht werden kann. Das Kulturverständnis und der Kulturbegriff befanden und befinden sich dabei immer noch in einem fortwährenden Veränderungsprozess, der insbesondere zur Popularisierung dieses Terminus führte und in engem Zusammenhang mit dem Quotendruck von Kultursendungen zu lesen ist. „Der Kulturbegriff wird bei ASPEKTE [Kulturmagazin auf ZDF (N.E.-B.)] realistisch verstanden. In unserer Zeit bedeutet Kultur nicht allein Literatur und Bildende Kunst, Theater und Musik, Film und Architektur. Gerade das, was dem Menschen direkt unter die Haut geht [sic!, (N.E-B.)], gehört heute zur Kultur: sein Wohnen, seine Freizeit, seine Umwelt. Nicht eine elitäre Minderheit, sondern alle Menschen, die aufgeschlossen und diskussionsbereit sind, sollen durch ASPEKTE angesprochen werden.“ (Hoffmeister 1973, zit. n. Schumacher 1994: 148)

Aufgrund von soziokulturellen, politischen, technischen und ökonomischen Transformationsprozessen, denen sich das öffentlich-rechtliche Kulturfernsehen ausgesetzt sieht, will es Sendungen ausstrahlen, die eine andere Art des Fernsehens verkörpern – so lautet der Slogan von 3sat u.a. „anders fernsehen“ (vgl. 3sat 2011) und jener von ARTE „neugierig leben“ (vgl. ARTE 2011). „Auf unterhaltsame, informative und zugleich abwechslungsreiche Weise [soll] aus einer unerschöpflichen Fülle von Themen Beiträge aller Gattungen des Mediums Fernsehen“ (Der europäische Kulturkanal ARTE 2005: 9) angeboten werden, wobei das Format ‚Kulturmagazin‘ sowohl als Aushängeschild wie auch als ideale ‚Verpackung‘ für die oben genannten Umsetzungsstrategien konzipiert ist. Dies gerade deshalb, weil die Entstehung des Genres auf die Frühphase des US-amerikanischen Kommerzfernsehens zurückgeht, welches das Format als Rahmen für die Warenwerbung entwickelte (vgl. Schumacher 1994). Aus ökonomischer Perspektive dient der Sendungstyp des Magazins daher als Verbreitungsform für die Fülle an Möglichkeiten der televisuellen Kommunikation.2 „Alles kann mit allem verknüpft werden, das Medium dient als Aufbereiter und Reproduktionsmaschine einer bunten, zufällig-zusammenhangslosen Empirie, wie sie

Übernahme zur Fortentwicklung von Verhaltensweisen, Einstellungen, Denksystemen und Erkenntnissen.“ (Schwarzenau 1977: 41, zitiert n. Seibert 1990: 387) 2

Vgl. hierzu den Begriff und das Konzept des ‚Acinéma‘ von Jean François Lyotard (1982) und im Anschluss daran das ‚Amedium‘ von Lorenz Engell (1996). Engell begreift die Indifferenz der an alles anschliessbaren Elemente im Fernsehen gerade als Auflösung vormals struktureller Einheiten der Television.

138 | NADJA ELIA -B ORER auch die Welt der Warenmagazine, der Kaufhäuser oder Supermärkte bietet.“ (Schumacher 1994: 104)

In der Tat fungieren die 30- bis 45-minütigen Kulturmagazine, auf unattraktiven Sendeplätzen platziert, einerseits als Feuilleton des Fernsehens und zugleich als ‚White Cube‘ (O’Doherty 1996), die formal mit ihrer additiven „...und jetzt...“-Struktur (vgl. Postman 1985) alles präsentieren, worüber es kulturell zu berichten gibt und was audiovisuell umsetzbar ist. Hiermit werden auch die Grenzen, Möglichkeiten und Problematiken des Formats ‚Kulturmagazin‘ deutlich: Formal wird es durch die jeweils ungefähr fünf Minuten langen Beiträge zur Häppchenkultur, inhaltlich soll es im Sinne des öffentlich-rechtlichen Auftrags als Flaggschiff für ‚Kultur‘ fungieren. Nichtsdestotrotz muss es gleichsam aktuell, populär und unterhaltsam daher kommen, damit auch zu später Stunde die Quoten weiterhin akzeptabel bleiben. Doch gerade diese Spannungsverhältnisse deuten an, dass die formal-ästhetische Struktur (wahrscheinlich) ein nicht zu unterschätzendes Potential im Zuge der Transformationsprozesse, die das televisuelle Medium in seiner Gesamtheit betreffen, in sich birgt.3

P ERFORMANZEN

DES TELEVISUELLEN

S TILS

Bereits 1983 sprach Umberto Eco in Anbetracht der italienischen Fernsehlandschaft von einer Ablösung des Paläo- durch das Neo-Fernsehen. Das Letztere zeichnet sich hierbei durch drei grundlegende Veränderungen aus: „Once upon a time there was Paleo-Television. [...] With the multiplication of channels, privatisation and the arrival of new electronic devilries [z.B. Videorekorder, Fernbedienung, (N.E.-B.)], we are now living in the era of Neo-Television.“ (Eco 1984: 19)

Francesco Casetti und Roger Odin übernehmen die Begrifflichkeiten von Eco – ohne diesen jedoch zu erwähnen – um die strukturellen Veränderungen des französischen Fernsehens zu untersuchen. Das Paläo-Fernsehen etablierte sich als Bildungsfernsehen, das insbesondere einen pädagogischen Kommunikationsauftrag zu erfüllen hatte und aus folgenden drei Charakteristika bestand: „[...] Wissen weiter zu geben; es handelt sich hierbei um eine gerichtete Kommunikation; und schliesslich ist sie eine auf Trennung und Hierarchisierung der Rolle basie-

3

Vgl. hierzu auch den Beitrag von Judith Keilbach und Markus Stauff in diesem Band.

T ELEVISUELLE B LICKSTRATEGIEN

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rende Kommunikation: Es gibt diejenigen, die über das Wissen verfügen und diejenigen, denen man es zu vermitteln sucht.“ (Casetti/Odin 2002: 312)

Zudem zeichnet sich das Bildungsfernsehen durch einen strukturierten Programmfluss aus, in welchem die Übergänge zwischen den Sendungen deutlich markiert sind und die zielgruppenorientierten audiovisuellen Angebote deutlich spezifischen Formaten und Genres zugeordnet werden können. Dahingegen verflüssigen nun die neo-televisuellen Strukturen diesen hegemonialen Kommunikationsauftrag, indem sie interaktive Prozesse einführen.4 Im neo-televisuellen Raum des sozialen Zusammenseins kommen dem Zuschauer nun durch die scheinbar neu gewonnenen interaktiven Möglichkeiten die Funktion des Auftraggebers, Teilnehmers und Begutachters zu. Zugleich werden die vormals klar markierten Übergänge zwischen den paläo-televisuellen Sendungen mit Einschüben wie Trailer, Teaser oder Appetizer aufgehoben, um eine fortwährende Programmkontinuität zu gewährleisten: „Broadcast TV has developed a distinctive aesthetic form. Instead of the single, coherent text that is characteristic of entertainment cinema, broadcast TV offers relatively discrete segments: small sequential unities of images and sounds whose maximum duration seems to be about five minutes. These segments are organised into groups, which are either simply cumulative, like news broadcast items and advertisements, or have some kind of repetitive or sequential connection, like the groups of segments that make up the serial or series.“ (Ellis 1982: 112)

Casetti und Odin reflektieren und differenzieren den Begriff der Segmentalisierung von John Ellis in Anlehnung an Christian Metzs Konzept des Einschubs und verstehen diesen als eine zentrale Kategorie der ästhetischen Strukturen des Neo-Fernsehens. Die Einschübe unterteilen auf einer zeitlichen Ebene den Programmfluss in Mikrosegmente, wohingegen die räumlichen Einschübe in Form von Split Screens, Laufbändern, Graphiken usf. den Fernsehbildschirm als ‚Boulevard der Videoclips‘ (Casetti/Odin 2002: 326) auszeichnen und eine Anhäufung von Meta-Bildern bestehend aus indifferenten Fragmenten vornehmen. Die unterschiedlichen Verfahren des Fernsehens verweisen damit auf die dem Medium seit jeher inhärente ‚konstitutive Heterogenität‘ (vgl. Weber 1996) und scheinen – aufgrund der hybriden und intermedialen Grunddisposition des televisuellen Mediums – bereits strukturale Merkmale der gegen-

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So schreiben Casetti und Odin: „Zu jeder Zeit, über die Frage des Moderators, das Telefon, das Minitel oder die Kamera wird der Zuschauer zu Rate gezogen, es werden Anfragen an ihn gerichtet, er wird dazu aufgefordert sich einzumischen und seine Meinung zu äussern.“ (Casetti/Odin 2002: 314)

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wärtigen Konvergenz von Fernsehen, Computer und World Wide Web vorzubereiten bzw. vorwegzunehmen. Auch John T. Caldwell stellte in seiner umfangreichen Studie zum USamerikanischen Fernsehen der 1980er und 1990er Jahre eine zunehmend visuelle Re-Formulierung des Fernsehens und selbstreflexive Performanz des televisuellen Stils fest: „Seit den 1980er Jahren vollzog sich im US-amerikanischen Massenmarktfernsehen ein ungleichmässiger Wechsel der konzeptuellen und ideologischen Paradigmen, die seinen Look und seine Präsentationsweisen regulierten. In verschiedenen wichtigen programmtechnischen und institutionellen Bereichen entwickelte sich das Fernsehen von einem System, das Fernsehen vorrangig als eine auf Wort gestützte Ausdrucksweise und Übertragung behandelte, [...] zu einer an Visualität orientierten Mythologie, Struktur und Ästhetik, die auf einer extremen Selbstreflexion des Stils gründete.“ (Caldwell 2002: 165)

Diese immer stärker werdende Reflexion des Stils, der in einem hyperaktiven Prozess der Präsentation mündet, dient den Sendeanstalten und einzelnen audiovisuellen Angeboten im Sinne des Corporate Design zuallererst als Unterscheidungskriterium und -merkmal: „Jeder Sender entwickelte für sich einen unverwechselbaren und hoch kodierten Look, der ihre zielgruppenspezifischen Nischen und Senderidentitäten widerspiegelte“ (Caldwell 2002: 170). Der stilistische Exhibitionismus steht zugleich in engem Zusammenhang mit der Krise des Network-Fernsehens, bedingt durch die Entstehung privater Programme, was sich insbesondere an videographischen Sendungen ablesen lässt, die durch elektronische Manipulationen gekennzeichnet sind und über ein großes Ausschmückungspotential verfügen. Als Vorläufer von digitalen Möglichkeiten zeichnet sich das Videographische durch eine „intensive Hyperaktivität und Besessenheit von Effekten“ aus, die durch parallele elektronische Eingaben, Bild-Text-Verzahnungen, Videographiken und Studios voller Monitorwände hervorgerufen werden und gleichsam an seit den 1960er Jahren entstandene Videoinstallationen erinnern. Durch die seit Mitte der 1990er Jahren eingeführten digitalen Techniken und Verfahren ergibt sich eine noch variantenreichere Vielfalt an scheinbar neuartigen Visualisierungsformen wie z.B. Vorgänge, die durch Computersimulationen erst sichtbar gemacht werden oder aber auch, wenn der Stil von Webseiten imitiert wird. Daher ist im Bereich von videographischen und digitalen Praktiken insbesondere das Medienübergreifende eine Form und Grammatik, welche die neue televisuelle Sprache nachhaltig beeinflusst. Intermedialität ist dabei die zentrale methodische und theoretische Kategorie, die es erlaubt die gegenwärtigen ästhetischen Erscheinungen des Fernsehens zu untersuchen, da das Fernsehen Bilder generiert, die Bilder wiederverwenden, d.h. es importiert, appropriiert und reflektiert stilistische Motive und Kontexte anderer Kunstformen und Medien. Durch diese Vorgehensweise versucht das Fernsehen alles zu sein „but television, to be anything but its

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own unique medium“ (Caldwell 1995: 149). Die Adaptierung und ReInszenierung anderer Medien scheint die eigene mediale Spezifität des televisuellen Mediums zu verweigern: „Through intermedia and pictorialism, television becomes a boundarlyless image machine, globbing up any cultural visage that hesitates long enough to be abducted. If as I have argued, television favors images that are specifically about consuming images, then the intermedia is a key strategy that works to satisfy the medium’s appetite for and consumption of imagery.“ (Caldwell 1995: 151)

Damit deutet Caldwell an, dass es im ‚Neuen Fernsehen‘ weniger um die Wahrnehmung und Definition von Realität als vielmehr um die Bearbeitung und Differenzierung von Bildformen geht.5 Im Fernsehen lassen sich daher überwiegend „Re-Visualisierungen“ finden, d.h. „Bildformen, die in anderen medialen Konstellationen und Praxisbereichen definiert wurden“ und die nunmehr im Fernsehen „eine modifizierte Sichtbarkeit“ erhalten (Adelmann/Stauff 2006: 69). Diese Präsenz von „abgebildeten Bildern, visualisierten Visualisierungen und medienvermittelten Medien“ tragen ihrerseits zur televisuellen „Hybridisierung der Bildkategorie“ selbst bei, wobei das Televisuelle nicht als neutrale Rahmung fungiert, sondern vielmehr von den ko-präsenten Bildern affiziert wird (Adelmann/Stauff 2006: 72).

T HIS

IS NOT LIKE

TV

ONLY BETTER

6

Im Zuge der Digitalisierung und Konvergenz mit ‚Neuen Medien‘ sah sich das Fernsehen ab Mitte der 1990er Jahren größeren Transformationsprozessen ausgesetzt, die das televisuelle Medium zu Veränderungen und (Neu-) Adaptionen seiner bisher normierten dispositiven Verfasstheit veranlassten. Wurde das Fernsehen lange Zeit diskursiv als Medium des Heimischen und Privaten, des ‚live‘-Dabeiseins und als Sinnbild zur Erschaffung einer imaginierten nationalen Identität konstituiert; so hat sich der ehemals audiovisuelle Volksempfänger zu einem Komplex etabliert, der den Zuschauer nunmehr als Viewer-User konzeptualisiert. Die transmediale ‚(Neu-)Erfindung‘ des Fernsehens verdeutlicht sich in seiner medialen Vielfalt, die von „klassischen TV-Formaten [...] auch Audio- und Video-Podcasts, moderierte Internetforen, Online-Spiele, Virtuelle Welten, Klingeltöne fürs Smart Phone und jede Menge an Text insbesondere für den Internetauftritt“ (Münker

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Caldwell verwendet zur Unterscheidung dieser beiden Modi die Begriffe ‚reality effect‘ und ‚picture effect‘ (vgl. Caldwell 1995), vgl. auch den Beitrag von Oliver Fahle in diesem Band. Aussage von Lenny Nero im Film Strange Days (USA 1995), zitiert nach Bolter/Grusin 1998, S. 3.

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2009: 192) sowie Apps u.a. reicht. Doch welche Veränderungen lassen sich in ästhetischer Hinsicht auf der Bildschirmoberfläche der digitalen PostTelevision konstatieren? Die gegenwärtigen televisuellen Visualisierungen können kaum von ihrer Neuartigkeit her gedacht werden, sondern müssen vielmehr in ihrem intermedialen Austausch zwischen sogenannten ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien und ihrer Formfindung reflektiert werden. „Die digitale Differenz zu vormaligen Medienkonfigurationen besagt: die möglichen medialen Formen der Repräsentation sind nicht mehr nur angewiesen auf vermeintlich je medienspezifisch codierte Formen der Darstellung. Und dass bereits analoge Medien nicht oder nicht ausschliesslich als Reproduktion im Sinne des schlichten Abbildens vorgegebener Inhalte fungierten, sondern als signifikante Konstruktionen ausschnitthafte Aspekte der Welt zur Erscheinung brachten, wird durch die Einsicht in die durch die Digitaltechnik hinzugewonnene Disponibilität der medialen Verwendung nur sichtbarer.“ (Tholen 1997: 115-116)

Ein Beklagen vom Verschwinden des Mediums Fernsehen vermag die Transformation des Audiovisuellen im gegenwärtigen Medienverbund kaum zu fassen. Vielmehr gilt es die Re-Konfiguration des Televisuellen und seiner fortwährenden Neuadaption der vorhandenen und möglichen Strukturen im Zusammenhang mit anderen Medien zu überdenken. Dies zeigt sich insbesondere an den Strukturen der Post- und Hypertelevision, welche die bereits vorhandene Grammatik des Paläo- und Neo-Fernsehens reflektiert und re-artikuliert, denn die Hypertelevision „proposes a new aesthetics based on a series of rhetorical forms and narrative structures that are not necessarily ‚new‘“ (Scolari 2009: 34). So gehören u.a. Split-Screen-Darstellungen seit einigen Jahren beinahe schon zur Grundstruktur in fast sämtlichen Formaten; nun aber scheint sich zunehmend eine ‚windows aesthetic‘ (vgl. Friedberg 1994; 2006) zur Norm zu verfestigen, die das graphische Interface des Computers imitiert und gleichsam die televisuelle Logik auf das World Wide Web überträgt.7 Die Fragmentarisierung des Bildschirms dient im Fernsehen vorwiegend dazu einen Eindruck von Echtzeit zu suggerieren (beispielsweise die Serien CSI: Den Tätern auf der Spur oder 24) sowie möglichst viel Informationen simultan zu übertragen (z.B. Nachrichtensendungen) oder aber um auf einer wahrnehmungsästhetischen Ebene die audiovisuelle Vielfalt und Möglich-

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Auch Karen Orr Vered beschreibt die Ästhetik des ‚Neuen‘ Fernsehens als windows aestehtic, welche die Grundlagen des interaktiven Fernsehens antizipiert: „The ‚windows aesthetic‘ is more than just a different way of presenting TV fare. By presenting and representing the illusion of interactive capability, […] windows TV is aggressively marketing the idea and desire for interactive TV through the illusion of an interface“. Zugleich hilft diese ‚neue‘ Ästhetik „to acclimatise the audience to a look, feel, and hoped-for function(s) of an interactive television interface“ (Orr Vered 2002: 51).

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keiten der Television zu veranschaulichen. Die Ablösung vom ‚Fenster zur Welt‘ gekennzeichnet durch seinen ‚Realitätseffekt‘ (vgl. Caldwell 1995) hin zum Bildschirm, der sich durch eine ständige Bearbeitung der televisuellen Bildlichkeit auszeichnet, kann zunehmend unter der Metapher des ‚Interface‘ kurzgeschlossen werden.8 „The moving image offered multiple perspectives through the sequential shifts of montage and editing; yet, aside from a few historical anomalies, it has only been with the advent of digital imaging technologies and new technologies of display in the 1990s that the media ‚window‘ began to include multiple perspectives within a single frame.“ (Friedberg 2003: 348)

Diese Fragment-Ästhetik steht in engem Zusammenhang mit weiteren Tendenzen, die sich bereits in der Paläo- und Neo-Television abgezeichnet haben, nun aber verstärkt zum Einsatz kommen. So z.B. die Beschleunigung des Rhythmus und Magazinierung sämtlicher Formate (vgl. Hickethier/Schneider 1992), die Serien als einstündige Videoclips erscheinen lassen (vgl. Scolari 2009: 36). Mit dieser Verschiebung gehen zugleich nichtlineare Erzählstrukturen, die sich anhand von Flashbacks und Flashforwards zeigen und eine zunehmende und kaum mehr überschaubare Fülle von Charakteren – insbesondere in Serien, aber auch in anderen Formaten – einher. Zudem intensiviert sich der televisuelle ‚Kannibalismus‘, indem das Fernsehen intermediale Bezüge eigener Formate und narrativer Strukturen sowie programmeigener Sendungen untereinander verknüpft sowie andere Medien konsumiert und re-visualisiert. Die Konstitution des Mediums als MetaTelevision darf jedoch nicht als vollkommen neuartige Sprache des Fernsehens stilisiert werden, denn „[...] the grammar of hypertelevision is simply recuperating and integrating traditional rhetorical devices [...] and other techniques into a new framework. [...] we are dealing with a new configuration of old forms“ (Scolari 2009: 49). Die beschriebene Interface-Logik widerspiegelt die das Fernsehen gegenwärtig betreffenden ästhetischen und technischen Transformationsprozesse, wie u.a. die many-to-many Distribution audiovisueller Produktionen (z.B. Google Video, YouTube), die asynchrone Konsumation dank digitalem Fernsehempfang mit Möglichkeiten der ‚Live-Pause‘ und Aufzeichnung, sowie Web-TV und den Zugang zu Fernsehsendungen via Apps auf Smartphones oder dem iPad. Gerade anhand

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Metaphorisch verdeutlicht sich damit die polysemische Verfasstheit des Bildschirms: Auf dem Bildschirm wird die gleichzeitige Ungleichzeitigkeit (Tholen 2005) von Ver-Bergen, Ver-Stellen und Sichtbarmachung deutlich (Mersch 2007). Auch Jacques Lacan hat in seiner Konzeption des écran diesen bereits als konstitutiv für die Wahrnehmung beschrieben. Denn der (Bild-)Schirm als vermittelndes Dazwischen ist die Interdependenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die uns allererst zu sehen gibt (Lacan 1996: 115).

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televisueller Ästhetiken kann also die aktuelle Re-Konfiguration und ReAppropriation des Fernsehens im Medienverbund neu hinterfragt werden. „[...] hypertelevision is not ‚interactive television‘ but old television simulating new interactive experiences. How can television simulate interactive media? By splitting the screen, creating ‚pop-up‘ information like in the MTV classic Pop-up Video, increasing the number of characters, introducing real-time effects in storylines, programming multicamera productions like Big Brother [...].“ (Scolari 2009: 42)

Das Medium Fernsehen scheint sich anhand der oben geschilderten soziokulturellen, technischen und ästhetischen Strategien der vorschnell artikulierten Verlustrhetorik zu widersetzen, indem es sich seit seiner Gründung stets Formen und Inhalte anderer Medien angeeignet und imitiert hat; daher war die Television bereits „hypermediated even before the advent of digital graphics“ (Bolter/Grusin 1999: 185).

R E -M EDIATISIERUNGSREGIME

IN

K ULTURMAGAZINEN

Wirft man nun einen Blick auf die Ästhetik von Kulturmagazinbeiträgen, so scheinen diese im Gegensatz zu den oben beschriebenen audiovisuellen Möglichkeiten, die sich durch einen Exzess visueller Effekte auszeichnen, geradezu antiquiert. Der rund siebenminütige Beitrag Photographie: Amerika in den 1920er und 1930er Jahren9 des Kulturmagazins Metropolis von arte, ausgestrahlt im November 2008, veranschaulicht beispielhaft die Grammatik von Magazinbeiträgen über Photographie. Dem ritualisierten und standardisierten Aufbau des Formats folgend, werden flexibel „identifizierende Segmente“ – hier die Vorstellung der Künstler oder Kuratoren im nachrichtentypischen Talking-Head-Format – „kontextuelle Segmente“, bestehend aus Fremdmaterialien und vergleichenden Werken des Künstlers und „explorative Segmente“, innerhalb derer die ausgewählten Kunstwerke televisuell präsentiert und transformiert werden, aneinandergereiht (Steinmüller 1997: 52). Der üblichen Präsentationsweise von Metropolis entsprechend werden zunächst die Hauptfiguren – hier Henri Cartier-Bresson und Walker Evans – in persona und in diesem Beitrag in Form von Portraitphotographien visualisiert (Abb. 1). Der ‚Performanz des Stils‘ von Metropolis

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Der Beitrag ist auf http://www.youtube.com/watch?v=I6dmBIa0zfw einzusehen (letzter Zugriff: 1.2.2011). Interessant hierzu ist auch der Vergleich mit den Beiträgen Kontroverse Photographie (ausgestrahlt am 8. August 2009), einzusehen auf http://www.youtube.com/watch?v=W89uEOa_7DQ &feature= related und Portrait: Photograph Henri Cartier-Bresson (ausgestrahlt am 12. Juni 2010), einzusehen auf http://www.youtube.com/watch?v=qmJvTMK2tmc. Diese Beispiele sind ebenfalls Beiträge des Kulturmagazin Metropolis von arte.

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entsprechend ist der durch digital eingefügte Pfeile erzeugte tautologische Zeigemodus, der auf narrativer Ebene durch den Kommentar der Moderatorin im Off „Der Franzose ist Henri Cartier-Bresson; der Amerikaner Walker Evans“ zusätzlich verstärkt und audiovisuell verschränkt wird. Auf diese Einführung folgend werden medias in res zunächst das Ausstellungsplakat der Ausstellung Photographer l’Amérique der Pariser Fondation CartierBresson präsentiert, worauf in schneller Schnittfolge teils gerahmte Photographien mit Titelunterschrift, teils angeschnittene Photographien gezeigt werden (Abb. 2). Abbildung 1: Henri Cartier Bresson und Walker Evans

Quelle: Still des Beitrags von Metropolis, arte, 12. Juni 2010

Abbildung 2: Ausstellungsplakat

Quelle: Still des Beitrags von Metropolis, arte, 12. Juni 2010

Hier entspricht die Kamera stets dem erkundenden Betrachterblick des Ausstellungsbesuchers, indem die Fülle der visuellen Informationen der Photo-

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graphien abgetastet werden. Sodann werden im Sinne des kontextuellen Segments in einem Schnelldurchlauf und einem Diavortrag ähnlich Photographien des Piktorialismus und der Avantgarde präsentiert. Danach wechseln sich identifizierende und explorative Segmente rhythmisch ab.10 In den ersteren weisen die Kuratorin der Ausstellung (Agnès Sire), die Kuratorin für Photographie des Getty Centers (Judy Keller) und der Photographiehistoriker Jean-François Chevrier vertiefend und erklärend auf bestimmte Aspekte der Arbeiten hin. Dabei wird die Kuratorin von Paris in der Ausstellung visualisiert; Chevrier und Keller hingegen in ihren beruflichen, privaten Räumlichkeiten oder draußen, manchmal auch passend mit einem Ausstellungskatalog in der Hand (Abb. 3). Abbildung 3: Judy Keller, Kuratorin für Photographie des Getty Center

Quelle: Still des Beitrags von Metropolis, arte, 12. Juni 2010

In den explorativen Segmenten werden abwechselnd Photographien von Cartier-Bresson bzw. Evans gezeigt, die jeweils auch mit deren Namen überschrieben werden (Abb. 4). Meistens in der Mitte des Bildschirms platziert und umgeben von einem schwarzen, dicken Rand links und rechts, werden die Photographien auch hier ähnlich einem Diavortrag präsentiert; manchmal jedoch werden Zoom-Bewegungen eingesetzt; auflockernd werden ab und zu Bücher- oder Magazincover eingefügt. Die Schnittfrequenz und das Zoom-Verfahren tragen dabei beide zur Rhythmisierung des Beitrags bei, wobei aufgrund letzterer ein zweifacher Wandel der Bildschirmoberfläche angedeutet wird. Einerseits vollzieht sich vom repräsentierten

10 Explorative und kontextuelle Segmente können m. E. nicht eindeutig unterschieden werden. Stets werden vergleichende Werke gezeigt, die gleichsam televisuell re-visualisiert werden.

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Gegenstand aus betrachtet eine Bewegung im Bild, andererseits weist das repräsentierende Medium hingegen eine Bewegung des Bildes auf, „was den transformativen, plasmatischen Charakter des Fernsehbildschirms, das heisst seine Fähigkeit, sich beständig zu verändern – fortwährend Bilder zu reproduzieren“ (Steinmüller 1997: 56) akzentuiert. Abbildung 4: Still einer Photographie von Henri Cartier-Bresson

Quelle: Still des Beitrags von Metropolis, arte, 12. Juni 2010

Die Vereinnahmung des Bildes (hier die Photographie) durch das televisuelle Bild kann als Signal der Transposition verstanden werden, deren Kennzeichen die Fragmentierung des Kunstbildes ist. Dabei wird das Werk auf das repräsentierende Medium umgerahmt und der Bildschirmrahmen tritt an die Stelle des Bilderrahmens, sodass das „ausgerahmte Werk als ein neues, telegen formatiertes Bild erscheint, als Bildschirmbild“ (Steinmüller 1997: 14). Das televisuelle Transpositionsverfahren anderer Bildmedien kann mit Gundolf Winter als „Expansionsprozess des Bildschirmbildes“ und damit auch des Mediums Fernsehen verstanden werden (Winter 2000: 450-451). Die sogenannte „telegene Phase“ deutet eine Tendenz der Erschaffung einer eigenen „telegenen Realität“ an, welche wiederum in engem Zusammenhang mit Caldwells Konzeption des ‚Bildeffekts‘ bzw. als Vorwegnahme der von Friedberg beschriebenen ‚windows aesthetic‘ gelesen werden kann (Winter 2000: 455). Denn eine einseitige Beeinflussung, wie sie insbesondere von der Kunstgeschichte betont wird, die verkürzt besagt, dass Kunst im Fernsehen schlicht nur noch Fernsehen ist und der Qualität des Werkcharakters nicht gerecht werden kann, verkennt m. E. die Tatsache, dass sich die gleichzeitig vorhandenen Medien gegenseitig affizieren, denn die revisualisierten Medien bestimmen jeweils auch die Präsentationsweisen des

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Televisuellen (vgl. Adelmann/Stauff 2006).11 So zeigen die Kulturmagazinbeiträge eine „selbstorganisierte Bebilderung von Bildern“, generieren gleichsam neue Bilder aus dem potentiell Bildlichen und loten die spezifischen Möglichkeiten der Bildgenerierung, -verarbeitung und -vermittlung des Kulturfernsehens aus. Dabei scheint das Prinzip der televisuellen Bildlichkeit auf den ersten Blick jede Art von Bildlichkeit im eigenen Sinne gleichzuschalten, indem es uns ein standardisiertes audiovisuelles Blickregime, das unseren Zugang zu Kunst und Medien nachhaltig prägt, nahe legt. Werden jedoch einzelne Fallbeispiele, die unterschiedliche Bildmedien behandeln und von verschiedenen Kulturmagazinen stammen, untersucht und verglichen, so kann sehr wohl auf der Ebene der Segmente eine Gleichschaltung von Re-Visualisierungs- und Re-Repräsentationsverfahren konstatiert werden. Dies geschieht aufgrund der oben genannten Vorgaben des Kulturauftrags und den spezifischen Präsentationscodes und -möglichkeiten des Magazinformats. Im Gegensatz hierzu kann dennoch anhand einzelner Einstellungen, vorwiegend im Bereich der explorativen Segmente, und der ‚Performanz des Stils‘ eine je spezifische Form der Re-Visualisierung bzw. eine genuin tele-visionäre Blickanordnung festgestellt werden. Standardisierung12, Ritualisierung sowie Exklusivität und Neuartigkeit stehen dabei je in einem fortwährenden Spannungsverhältnis, das als Sinnbild für die ‚konstitutive Heterogenität‘ des Gegenstands Fernsehen stehen kann, welcher sich durch die beständige Verweigerung jeglicher Ontologisierungstendenzen auszeichnet. Die Strategien des Kulturfernsehens Vorgefundenes neu zu re-inszenieren verweist zugleich auf vorgängige künstlerische Verfahren (u.a. Avant-

11 Vgl. hierzu auch Hayward, der die „inherent problems, limitations and transformations affected by the process of re-presentation from one medium to another“ als „Representing Representations“ kennzeichnet (Hayward 1998); Bolter und Grusin, welche „immediacy“ und „hypermediacy“ als doppelte Logik der Remediation definieren, in deren Vorgehensweise die Medialität stets zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit schwankt (Bolter/Grusin 1998); und Schröter, der in Anlehnung an die genannten Autoren den Prozess der „transformationalen Intermedialität“ als jenes Verfahren bestimmt, in dem ein Medium „das repräsentierte Medium auf eine Art und Weise repräsentiert, die dessen lebensweltliche, ‚normale‘ Gegebenheitsweise verfremdet oder gleichsam transformiert“ (Schröter 1998: 144; 2008). 12 Wie Silke Wenk in ihrer grundlegenden Studie zur Funktion der Diaprojektion im kunstwissenschaftlichen Diskurs feststellen konnte, stellt das Medium Diapositiv nicht lediglich eine Vermittlungsinstanz dar, sondern beeinflusst nachhaltig die Grundlagen kunsthistorischer Disziplinen. In Analogie hierzu verwischen die Kulturmagazine durch die Gleichzeitigkeit von Zeigen und Kommentieren die Einrahmungsstrategien. Standardisierung ist dabei nur ein weiteres Moment, um die diskursiven Formationen des vorstrukturierten Sehens unsichtbar werden zu lassen (vgl. Wenk 1999).

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garde, Collagen und Bricollagen des Kubismus, Footage Art) sowie auf die Praxis der Zitatkultur (Jameson 2009; Derrida 1997) und des Pastiche (Barthes 1990). Ähnlich den Künstlern der Appropriation Art bedienen sich Kulturmagazine in ihrer Funktion als „Barde“ den kulturellen Symbolen und des gesamten Bildervorrats der visuellen Kultur. Was ein Großteil der Aneignungsdiskurse aber ausser Acht lässt, ist die Tatsache, dass die appropriierenden Künstler und Medien von ihrem einzunehmenden Gegenstand ebenfalls mitgerissen und affektiert werden (vgl. Graw 2004; Imesch 2006). Das Verfahren der Aneignung kann somit als Prozess gegenseitiger Beeinflussung umschrieben werden, bei dem sich die Dynamik des angeeigneten Objekts auf den Appropriierenden überträgt. Deshalb kann in Analogie dazu auch davon ausgegangen werden, dass die Verfahren der Re-Mediatisierung13 im Rahmen von Kulturmagazinbeiträgen die gegenwärtigen Strukturen der windows aesthetic der Hypertelevision antizipieren, indem die Möglichkeiten des Bildschirms als Interface, seine unabschliessbare Transformationsfähigkeit und das Potential der alles verwendenden ‚Viskursmaschine‘14 reflexiv in den Vordergrund gerückt werden.

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13 Bolter und Grusin beschreiben das ‚Neue‘ der Medien in diesem Zusammenhang folgerichtig als „What is new about new media comes from the particular ways in which they refashion older media and the ways in which older media refashion themselves to answer the challenges of new media“ (Bolter/Grusin 1998: 51). 14 Vgl. hierzu Knorr Cetina (1999) und Adelmann (2003).

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Fernsehen als fortwährendes Experiment Über die permanente Erneuerung eines alten Mediums1 J UDITH K EILBACH /M ARKUS S TAUFF

Als sich das Fernsehen in den 1980er und 1990er Jahren im Zuge der Deregulierung der US-amerikanischen und europäischen Fernsehmärkte sowie aufgrund neuer Fernsehtechnologien deutlich veränderte, war von einer Revolution die Rede, als deren Folge ein völlig anderes und deutlich verbessertes Fernsehen erwartet wurde. Auch wenn es unterschiedliche Vorstellungen darüber gab, welche Form das neue Fernsehen letztlich annehmen würde, so lag den Debatten doch die gemeinsame Erwartung zugrunde, dass sich letztlich eine neue Form eines digitalen und interaktiven Fernsehens durchsetzen würde. Heutzutage halten sich Wissenschaftler mit derartigen Zukunftsprognosen eher zurück, obwohl sich gegenwärtig ebenfalls erhebliche Veränderungen vollziehen. Über das zukünftige Fernsehen wird zur Zeit wenig spekuliert, im Mittelpunkt steht vielmehr der aktuelle Prozess der Transformation. Gleichzeitig fällt auf, dass eine kohärente Definition des Mediums momentan unmöglich zu sein scheint: das gegenwärtige Fernsehen ist hierfür schlichtweg zu komplex, zu heterogen und permanenten Veränderungen unterworfen. Es besteht dabei keineswegs Zweifel daran, dass sich Fernsehen heute deutlich von dem unterscheidet, was es einmal war. Viele proklamieren daher das Ende des (klassischen) Fernsehens und sprechen von radikalen Veränderungen, die eine neue Ära einleiten – sei es „the phase that comes after TV“ (Spigel 2004: 2), eine „Post-Network“- (Lotz 2009) oder „Post-Broad-

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Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine leicht veränderte Übersetzung unseres Beitrags „When Old Media Stopped Being New: Television’s History as Ongoing Experiment“ aus dem Sammelband To Be Continued…? Television Theory Today (Amsterdam University Press, im Erscheinen). Wir danken den beiden Herausgebern, Jan Teurlings und Marijke de Valck, für ihre konstruktiven Anmerkungen sowie das Einverständnis zur Zweitverwendung.

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casting“- (Turner/Tay 2009) Ära oder das Zeitalter von „New Television“ (Moran 2009). Obwohl sie jeweils unterschiedliche Aspekte der gegenwärtigen Transformationen in den Blick nehmen, grenzen all diese Konzepte die gegenwärtigen Veränderungen des Mediums von dem ab, was Fernsehen früher einmal war. Diese Abgrenzung impliziert, dass das Fernsehen einst eine klare Identität besaß, deren Stabilität nun ins Wanken gerät. Angesichts der vielfältigen Fernsehtechnologien und Nutzungsweisen ist es nicht einmal mehr sicher, ob es sich beim Fernsehen überhaupt noch um ein distinktes Medium handelt. In ihrem Buch The Television Will be Revolutionized formuliert Amanda Lotz daher „the need to think of the medium not as Television but as televisions“ (Lotz 2007: 78). Michael Curtin und Jane Shattuc beschreiben das gegenwärtige Fernsehen hingegen als „flexible and dynamic mode of communication“ und schlägt vor, es besser als „matrix medium“ zu definieren (Curtin/Shattuc 2009: 175). Zieht man allerdings ältere Beschreibungen des Fernsehens in Betracht, lässt sich die Annahme einer ehemals eindeutigen und stabilen Identität des Fernsehens (der gegenüber erst das gegenwärtige Fernsehen heterogen und komplex erscheint) kritisch hinterfragen. So konstatiert Erik Barnow im Vorwort der Neuauflage seiner Fernsehgeschichte Tube of Plenty (1990 [1975]) rückblickend: „not for one moment, in the intervening years, has the subject sat still for its portrait“ und konstatiert: „the upheavals continue“ (Barnow 1990: V). Bereits 1985 trug ein Sammelband, dessen Beiträge sich mit „new developments – for instance cable and satellite – [that] promise further to revolutionise a still infant medium“ (Drummond/Patterson 1985: VII) beschäftigten, den Titel Television in Transition. Und zehn Jahre später erklärten die Herausgeber von Transmission: Towards a Post-Television Culture den Untertitel ihrer Publikation mit der Ankündigung: „Tomorrow, television again becomes something else“ (d’Agostino/Tafler 1995: XiV). Diese Beispiele deuten darauf hin, dass das Fernsehen im Laufe seiner Geschichte fortwährenden Veränderungen ausgesetzt war. Im Folgenden werden wir diese auf Dauer gestellte Transformation des Mediums genauer in den Blick nehmen und vorschlagen, nicht nur das gegenwärtige Fernsehen mit den Begriffen ‚Veränderung‘ und ‚Transformation‘ zu beschreiben, sondern ‚Veränderung‘ und ‚Transformation‘ als fundamentale Merkmale des Mediums generell aufzufassen. Eine solche Re-Konzeptualisierung des Fernsehens impliziert eine Auseinandersetzung mit etablierten Erklärungsmodellen der historischen Entwicklung sowie der kulturellen und sozialen Auswirkungen des Mediums, die die Diskussion gegenwärtiger Entwicklungen prägen: Inwiefern ist Fernsehen heterogen? Warum verändert es sich fortwährend? Und wie lassen sich die gesellschaftlichen Konsequenzen eines sich permanent verändernden Mediums erklären? Im Folgenden werden wir zunächst zeigen, dass die gängigen Modelle, mit denen die sozialen und kulturellen Auswirkungen des Fernsehens beschrieben werden, von einer dauerhaften institutionellen Form des Fernsehens ausgehen. Um im Gegensatz dazu die permanenten

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Transformationen besser in den Blick zu bekommen und theoretisch fassen zu können, schlagen wir vor, das in der Wissenschaftsforschung entwickelte Konzept des ‚Experimentalsystems‘ auch auf das Fernsehen anzuwenden. Hierfür werden wir zuerst ein tatsächliches Experiment aus den 1960er Jahren vorstellen und danach auf eine Form des Fernsehens eingehen, die im allgemeinen als stabil und beständig gilt. Hierbei handelt es sich um den broadcast/network mode, d.h. eine spezifische Organisationsform und Sendepraxis des Fernsehens, die eine zentral von einer Institution (Rundfunkanstalt, network) organisierte Ausstrahlung von Sendungen im Rahmen eines Programmschemas vorsieht (vgl. hierzu Gripsrud 1998). Abschließend schlagen wir vor, die Kennzeichen des gegenwärtigen (post-broadcast/postnetwork) Fernsehens als Reartikulation von Dynamiken zu verstehen, die schon zu Broadcast/Network Zeiten eine permanente Veränderungen in Gang gehalten haben.

A LWAYS ALREADY NEW : D IE ANHALTENDE T RANSFORMATION DES F ERNSEHENS Dass die Einführung eines neuen Mediums zur Rekonzeptualisierung der ‚alten‘ Medien beiträgt, ist inzwischen eine verbreitete These (vgl. z.B. Bolter/Grusin 2000; Winkler 1997). Die Herausbildung von ‚neuen‘ Eigenschaften lädt dazu ein, die vermeintlich selbstverständliche Identität eines ‚alten‘ Mediums aufs Neue in den Blick zu nehmen und kritisch zu befragen. William Uricchio argumentiert ähnlich, wenn er feststellt, dass sich die Definition und die theoretischen Konzeptionen eines Mediums im Rückblick oft relativieren lassen (Uricchio 2009: 70). Dem Fernsehen attestiert er in diesem Zusammenhang sogar ein „unusually opportunistic potential“ (ebd.: 72). Diesen Hinweis möchten wir im Folgenden aufgreifen: Wenn die gegenwärtigen Veränderungen des Fernsehens neue theoretische Konzepte erfordern, dann sollten diese nicht nur als angemessene Beschreibungen des gegenwärtigen Fernsehens verstanden werden, sondern auch als Möglichkeit, die bisherige Konzeptualisierung des Fernsehens zu überdenken.2

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Amanda Lotz argumentiert ähnlich: „Current changes in the institutional and cultural functions of television do not indicate its demise but enable us to see more clearly the dominant industrial practices of the network era and the forms, texts, and cultural role of the medium in that formative period.“ (Lotz 2009: 51) Ihre trennscharfe Unterscheidung zwischen ‚alten‘ und ‚neuen‘ Medien halten wir allerdings für problematisch und schließen uns dem Vorschlag von Thomas Elsaesser an, technische Neuerungen (z.B. Digitalisierung) nicht als ‚Neuen Medien‘ zu konzipieren, sondern als „a new medium of ‚knowing‘ about […] media“ (Elsaesser 1998: 222). Bereits die kritische Theorie hat darauf hingewiesen, dass die Diskussion theoretischer Konzepte nicht darauf zielen kann, einem Gegenstands-

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Im Folgenden schlagen wir vor, den Begriff ‚Transformation‘ von der gegenwärtige Situation des Fernsehens zu entkoppeln und dessen gesamte Entwicklung als fortwährende Veränderung zu begreifen. Die Argumentation zielt also nicht auf eine Definition des Fernsehens vor und nach einem bestimmten Transformationsprozess. Unser Interesse gilt vielmehr der Produktivität, den Machteffekten und den Rationalitäten von Transformationsprozessen selbst. Die fortwährenden Veränderungen des Fernsehens in den Blick zu nehmen, ermöglicht es einerseits, die momentanen Entwicklungen aus historischer Perspektive zu rekonzeptualisieren und beispielsweise danach zu fragen, inwiefern die gegenwärtigen Transformationen eine Fortsetzung, eine Reartikulation oder eine Unterbrechung früherer Veränderungen darstellen. Andererseits eröffnet eine solche Annäherung die Möglichkeit, etablierte theoretische und historische Konzeptionen des Fernsehens kritisch zu beleuchten. Die Vorstellung, dass es sich bei einem Medium um eine kohärente Entität handelt, wurde bereits in einer Reihe medienhistorischer Studien hinterfragt, die sich mit historisch variablen Eigenschaften und der Heterogenität von Medien beschäftigen. Zwei Annahmen verstellen dabei in der Regel allerdings eine systematische Auseinandersetzung mit der Heterogenität und dem anhaltend transformativen Charakter von Medien: (1) Die Analyse der heterogenen Eigenschaften eines Mediums beschränkt sich in der Regel auf dessen Anfangsjahre. Dadurch entsteht der Eindruck, dass ein Medium nach einer ersten Phase turbulenter Veränderungen und Neudefinitionen eine stabile Form annimmt, die sich erst durch die Einführung einer neuen Technologie wieder ändert. Mit einer solchen Neustrukturierung des Feldes, so die Annahme, tritt ein Medium in einen neuen ‚Lebensabschnitt‘ ein.3 (2) Sobald es um die Beschreibung der sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen eines Mediums geht, wird letztlich dessen Homogenität unterstellt, insofern diese Auswirkungen als Resultat einer stabilen technologischen und institutionellen Struktur konzipiert werden. Veränderung wird also weder als maßgebliche noch als konstante Eigenschaft eines Mediums angesehen. Diese Unterstellung von Stabilität und Homogenität liegt nicht nur den gegenwärtigen Diskussionen über das Fernsehen zugrunde, auch zwei grundlegende Publikationen über das Neue ‚neuer‘ Medien basieren auf diesen Vorannahmen. In ihrem Buch When Old Media Technologies Were New untersucht Carolyn Marvin die sozialen und kulturellen Veränderungen, die Ende des 19. Jahrhunderts mit der Einführung des Telegraphen und des Telefons einhergingen, und zeigt dabei, dass viele Vorbehalte, Meinungen und Themen, die gegenwärtig im Zusammenhang mit den neuen Medien diskutiert werden, bereits damals aktuell waren. Mit ihrer Studie widerspricht sie

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bereich möglichst angemessen zu sein, sondern neue und kritische Perspektiven zu eröffnen (Horkheimer 1992 [1937]). Dieses Modell der ‚Lebensabschnitte‘ findet sich beispielsweise in der Fernsehgeschichte von Alex Magoun (2009).

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der Vorstellung, dass sich in der Mediengeschichte radikale Umbrüche vollzogen haben, wobei sie die brüchige Identität der Medien hervorhebt, die nicht zuletzt aus deren Einbindung in ganz unterschiedliche Praktiken resultiert: „Media are not fixed natural objects; they have no natural edges. They are constructed complexes of habits, beliefs, and procedures embedded in elaborate cultural codes of communication.“ (Marvin 1988: 8)

Dass Medien heterogene Gebilde sind, diskutiert Marvin im Zusammenhang mit den Unsicherheiten und Konflikten, die bei der Einführung eines jeden neuen Mediums zu verzeichnen sind und dessen widersprüchliche Potenziale zu artikulieren suchen. Implizit unterstellt sie damit allerdings, dass dies nur eine Frühphase darstellt, die letztlich durch die Dominantwerdung bestimmter (medienspezifischer) Praktiken beendigt wird, „[which] come later and point toward a resolution of these conflicts (or, more likely, a temporary truce)“ (ebd.: 5). Die gesellschaftlich umfassende Wirksamkeit eines Mediums wird so an die Stillstellung der Konflikte und die Zähmung der Heterogenität gebunden. Ein ähnliches Argument findet sich in Lisa Gitelmans Buch Always Already New, in dem sie die Einführung des Phonographen und des Internets vergleichend analysiert. Sie kritisiert darin nicht nur die Tendenz zur Naturalisierung und Essentialisierung der Medien, sondern hinterfragt auch grundsätzlich die ‚Neuheit‘ von neuen Medien. Die Einführung neuer Technologien, so ihre These, ist nie völlig revolutionär: „New media are less points of epistemic rupture than they are socially embedded sites for the ongoing negotiation of meaning as such“ (Gitelman 2008: 6). Allerdings geht auch Gitelman davon aus, dass die Aushandlung von Bedeutung nur vorübergehend stattfindet. Sie legt nahe, dass das Ringen um die Definition eines Mediums lediglich dessen Anfangsjahre kennzeichnet und dann zu einem Ende kommt, wenn das Medium Selbstevidenz erlangt hat und im einmal etablierten Gebrauch transparent wird. Gleichzeitig verknüpft sie diese Selbstevidenz mit dem ‚Erfolg‘ eines Mediums: „The success of all media depends at some level on inattention or ‚blindness‘ to the media technologies themselves“ (ebd.: 5). Damit unterstellt letztendlich auch sie, dass ein Medium erst dann gesellschaftliche Relevanz erhält, wenn es eine eindeutige und stabile Identität besitzt. Die Bücher von Marvin und Gitelman sind für die Fernsehgeschichtsschreibung zwar von großer Bedeutung (nicht zuletzt, weil sie die vielfältigen und unterschiedlichen Eigenschaften des frühen Fernsehens analytisch beschreibbar machen), in ihrer Darstellung der historischen Entwicklung und gesellschaftlichen Bedeutung von Medien übernehmen jedoch auch diese beiden Publikationen das gängige Argumentationsmuster, demzufolge Medien nach einer ersten, formativen Phase ein stabile Identität herausbilden. Dieses Muster verhindert zum einen die Einsicht in Transformations-

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prozesse als grundlegendes Merkmal auch des ‚alten‘ Fernsehens und unterstützt zum anderen (gegen die Intentionen der Autorinnen) die Einschätzung, dass sich gegenwärtig ein bedeutender Medienumbruch vollziehe. Beide Bücher versäumen es, die anhaltenden Veränderungen der Medien systematisch in den Blick zu nehmen und sich mit der Produktivität und den kulturellen Konsequenzen dieser Transformationen zu beschäftigen.

E XPERIMENTALSYSTEM Medientheoretische Erklärungen der gesellschaftlichen Implikationen eines Mediums setzen in der Regel dessen stabile Identität voraus (die sich nach einer chaotischen und von heterogenen Praktiken gekennzeichneten Entwicklungsphase herausgebildet hat). Um die fortwährenden Veränderungen des Fernsehens besser begreifen zu können, knüpfen wir daher an ein Modell aus der Wissenschaftsforschung an und schlagen vor, Fernsehen analog zum wissenschaftlichen Labor, oder besser: einem ‚Experimentalsystem‘, zu verstehen.4 Die Wissenschaftsforschung geht davon aus, dass es gerade die fortwährenden Veränderungen (und nicht die Starrheit und Stabilität) sind, die das System produktiv werden lassen. Während das Labor durch diesen Prozess der Veränderung Phänomene produziert (und sichtbar macht), die experimentell untersucht und manipuliert werden, produziert das Fernsehen beispielsweise Zuschauer oder macht kulturelle Objekte sichtbar (moral panics, Prominente etc.), die entweder an Werbekunden verkauft oder Objekte politischer Bemühungen werden können. Interessanterweise nutzt auch Lisa Gitelman in Always Already New den Vergleich zwischen Medien und wissenschaftlichen Instrumenten, wenn sie die sukzessive Stabilisierung und Selbstevidenz von Medien beschreibt. Sie stellt fest, dass über die Eignung und Funktion neuer wissenschaftlicher Apparaturen zuerst eine Debatte stattfindet, bevor diese von der Wissenschaftsgemeinschaft akzeptiert und in der Folge dann ‚transparente‘ Instrumente werden. Nicht anders, so Gitelman, verhalte es sich mit den Massenmedien, deren Erfolg von der ‚Blindheit‘ gegenüber der Medientechnologie abhängig ist. Demgegenüber betonen die Science and Technology Studies, dass es bei der Durchführung von wissenschaftlichen Experimenten unabdingbar ist, die Implikationen der jeweiligen Instrumente fortwährend zu beobachten und zu reflektieren (vgl. Latour 1990; 1999). Bei der Arbeit im Labor muss ständig überprüft werden, ob die Ergebnisse der Experimente (z.B. visuelle Muster auf einer Teleskopfotografie oder Abweichungen in

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Eine ähnliche Adaption der Wissenschaftsforschung für die Medienwissenschaft findet sich u.a. in der AG Medienwissenschaft (2009) sowie bei Engell (2008), der im Folgenden noch ausführlich diskutiert wird.

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einer statistischen Graphik) tatsächlich Effekte der untersuchten Objekte sind, oder ob sie von den Instrumenten hervorgebracht werden.5 Macht man diese Einsicht auch für Medien geltend, so verliert die gängige Annahme, dass der Einsatz von Instrumenten bzw. Medien mehr oder weniger zwangsläufig zu einer automatisierten, unreflektierten und konventionalisierten Nutzung führt, ihre Überzeugungskraft. Folgt man der Argumentation der Science and Technology Studies, so sind ‚Blindheit‘ und ‚Selbstevidenz‘ keine notwendigen Voraussetzungen für die erfolgreiche Anwendung und für die Wirksamkeit von Technologie – vielmehr sorgt gerade die fortlaufende Adjustierung, Reorganisation und Reflektion der verwendeten Apparatur für deren Produktivität. Während Gitelman Medien mit wissenschaftlichen Instrumenten vergleicht, schlagen wir vor, diese als Labor oder Experimentalsystem zu begreifen – nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Elemente und Praktiken, die in einem Medium zusammengeführt werden.6 Bei einem Experimentalsystem handelt es sich um eine komplexe Anordnung von Elementen – von Theorien, Objekten und Instrumenten – mit denen WissenschaftlerInnen arbeiten (Hagner/Rheinberger 1993; Rheinberger 1998; 2001a). Als solches ist es weder selbstevident noch stabil, sondern wird permanent umarrangiert – ähnlich wie die Medien bzw. das Fernsehen, um das es im Weiteren gehen wird. Obwohl einzelne technische Apparate in einem Experimentalsystem in bestimmten Momenten weitgehend selbstverständlich als ‚transparente‘ Instrumente eingesetzt werden, erreicht das System selbst nie den Punkt einer Automatisierung bzw. von Selbst-Evidenz. Die Produktivität dieser Konstellationen resultiert dabei nicht aus ihrer Beweiskraft, Exaktheit oder Unzweideutigkeit – Eigenschaften, die einen Vergleich mit dem Fernsehen von vornherein ausschließen würden. Vielmehr setzen Experimentalsysteme einen permanenten Prozess von Re-Artikulationen, Verschiebungen und Umorientierungen in Gang, der darauf

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Diese Unsicherheit ist ein Grund, weshalb wissenschaftliche Instrumente zunehmend als Medien (und nicht mehr als Instrumente) wahrgenommen werden: „Wissenschaftliche Darstellungen verstehen, setzt den Blick auf die Utensilien voraus, mit denen sie zustande gebracht werden, und auf die Werkräume, die diese Utensilien aufspannen“ (Rheinberger 2001b: 60). Diese Entwicklung kehrt Gitelmans Vergleich von Medien mit wissenschaftlichen Instrumenten geradezu um. Man könnte beispielsweise im folgenden Zitat gut ‚Experimentalsystem‘ durch ‚Fernsehen‘ oder allgemeiner, ‚Massenmedien‘ ersetzen: „In seinem nicht-technischen Charakter transzendiert das Experimentalensemble die Identitätsbedingungen der technischen Objekte, die es zusammenhalten“ (Rheinberger 2001a: 30).

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zielt, immer wieder neue Möglichkeiten ins Spiel zu bringen (Rheinberger 1998: 291). Dadurch wird zugleich ein spezifischer „Repräsentationsraum“ eröffnet (Rheinberger/Hagner 1997: 22), der es bisher unbekannten Phänomenen erlaubt, derart sichtbar zu werden, dass sie manipuliert und zu einem Wissensobjekt werden können. Das Experimentalsystem setzt voraus, dass immer wieder neue Instrumente und undeutliche, ambivalente Objekte in die Anordnung eingebunden werden: „As soon as one knows exactly what it produces, it is no longer a research system“ (Rheinberger 1998: 291). Experimentalsysteme sind weniger darauf ausgerichtet, Probleme zu lösen, als vielmehr darauf, bestimmte Infragestellungen – Problematisierungen – von Wissens- und Objektbereichen zu ermöglichen (2001a: 21f). Wir werden im folgenden anhand von Beispielen zeigen, dass das Fernsehen ebenfalls aus heterogenen Elementen besteht, die – aufgrund von technischen Neuerungen, Programminnovationen, veränderten ökonomischen Strategien, politischen Regulierungen, überraschendem Zuschauerverhalten usw. – fortwährend umgestellt und neu angeordnet werden. Einzelne Elemente des Fernsehens werden dabei als ‚Instrumente‘ eingesetzt, um die Modifikation und Reflektion anderer Elemente der Konstellation in Gang zu setzen. Während die meisten Neuanordnungen des Gefüges durch Strategien und Intentionen strukturiert werden, sind ihre Effekte (z.B. in welchem Ausmaß Fernsehzuschauer die Fernbedienung oder den Videorecorder benutzen oder wie Werbekunden auf eine Veränderung des Zuschauerverhaltens reagieren) nie eindeutig und können auch nicht vorhergesagt werden.7 Die fortlaufenden Modifikationen eröffnen allerdings einen ‚Repräsentationsraum‘, der bestimmte ‚Objekte‘ sichtbar, zugänglich und handhabbar macht (z.B. ‚Zielpublikum‘, ‚product placement‘, ‚Objektivität‘), und bringen dadurch ständig neue Fragen hervor.8 Das Fernsehen ‚manipuliert‘ somit nicht, es ‚problematisiert‘: Es macht beispielsweise das Verhalten der Zuschauer sichtbar, veränderbar und damit zu einem dringenden Diskussionsthema. Wir können hier nicht alle Elemente und Verfahren, die ein wissenschaftliches Experimentalsystem kennzeichnen, systematisch mit dem Fernsehen vergleichen, sondern wollen schrittweise zeigen, wie das Konzept des

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Aus Platzgründen muss hier eine genauere Auseinandersetzung mit Rheinbergers Unterscheidung von technischen und epistemischen Dingen (z.B. Rheinberger 2001: 24f), die zweifelsohne für medientheoretische Fragen äußerst fruchtbar ist, unterbleiben. „Ebenso wie Objekte epistemische Dinge verkörpern, die ihnen erst eingeschrieben werden müssen, bringen Experimentalsysteme ständig Dinge hervor, die ihrer eigenen Installierung nicht zugrunde gelegen haben.“ (Rheinberger 1997: 23)

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Experimentalsystems angewendet werden kann. Zuerst werden wir einen Fall aus den 1960er Jahren vorstellen, in dem das Fernsehen als Experimentalsystem im wörtlichen Sinne genutzt wurde; anschließend werden wir allgemeiner die Konsequenzen diskutieren, die eine solche Re-Konzeptualisierung für die Auseinandersetzung mit früheren und gegenwärtigen Veränderungen des Fernsehens mit sich bringt. Unsere Applikation des Begriffs ‚Experimentalsystem‘ mag dabei zunächst etwas ungenau oder weithergeholt erscheinen – und natürlich ist das Fernsehen nicht das Selbe wie ein wissenschaftliches Experiment. Dass wir dennoch seine Konzeptualisierung als Experimentalsystem vorschlagen, liegt sowohl daran, dass es zahlreiche Merkmale mit einem Labor teilt, als auch an der Produktivität des Konzepts, das es ermöglicht, die Transformationen und Entwicklung des Fernsehens theoretisch zu fassen. Wir knüpfen also an die Erkenntnisse der Science and Technology Studies im Sinne von Jonathan Cullers Theorieverständnis an: „Texts become ‚theory‘ because their visions or arguments have been suggestive or productive for people who are not studying those disciplines.“ (Culler 2009: 4f)

F ERNSEHEXPERIMENTE 1: E RZIEHUNGSDISPOSITIVE Wie Marvin, Gitelman und andere gezeigt haben, zeichnet sich der experimentelle Charakter eines neuen Mediums am deutlichsten in dessen formativer Phase ab. Auch in der Fernsehgeschichtsschreibung werden die frühen Formen der Übertragung, die noch keinem regulären Programmschema folgten und lediglich von einer Handvoll Zuschauer empfangen werden konnten, als Fernsehversuche oder -experimente bezeichnet. Anhand experimenteller Sendungen wurden dabei nicht nur die technischen Parameter der neuen Bildübertragungstechnologie getestet (z.B. Anzahl der Bildzeilen, Reichweite der Sendeanlagen usw.), sondern auch Programmformen und Programmierungsschemata erprobt und angepasst. Da die Regierungen und traditionellen Institutionen (Kirche, Bildungseinrichtungen etc.) zahlreicher Länder der Einführung des Fernsehens anfangs skeptisch gegenüberstanden und negative soziale und kulturelle Konsequenzen befürchteten, galt es zunächst experimentell nachzuweisen, dass das neue Medium sicher war und ‚angemessene‘ Kommunikationsformen zur Verfügung stellte. Eine experimentelle Haltung kennzeichnet allerdings auch das institutionell verankerte Fernsehen; Experimente ziehen sich durch die Fernsehgeschichte und selbst das etablierte Broadcast/Network-Fernsehen ist permanent am Experimentieren (und hält damit die Transformationen des Fernsehens in Gang, worauf wir später nochmals zurückkommen werden). In den 1960er Jahren, als das Broadcast/Network-Fernsehen institutionell schon längst etabliert war, führte die Unzufriedenheit mit der gängigen

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Verwendung des Mediums zu einer Reihe von Experimenten, die oft aus einer Begeisterung für die technischen Möglichkeiten des Mediums resultierten. Hierzu zählen nicht zuletzt Kunstprojekte, die wissenschaftliche, technische und künstlerische Experimente zusammenführten, indem sie die damals neueste (analoge) Bildbearbeitungstechnologie nutzten, um damit überraschende visuelle Effekte zu erzeugen.9 Bekannteste Beispiele hierfür sind die Arbeiten von Nam June Paik und der Fluxus-Bewegung, doch mit dem (mit öffentlichen Geldern geförderten) US-amerikanischen National Center for Experiments in Television oder den in der BRD situierten Projekten Black Gate Cologne und Fernsehausstellung (vgl. Dobbe 1994: 26) führte die Institution Fernsehen auch selbst Fernsehkunstprojekte durch. Aber auch im Bereich von Bildung und Erziehung wurde mit Fernsehen experimentiert. 1968 veröffentlichte Tony Gibson, Direktor der Television Research and Training Unit am Londoner Goldsmith College, sein Buch Experiments in Television, in dem er eine Reihe von Workshops vorstellt, die das Verhältnis von Fernsehen und Bildung erforschten.10 Hierbei ging es wortwörtlich ums Experimentieren: Lehrer aus der ganzen Welt wurden eingeladen und aufgefordert, die verschiedensten Elemente des Fernsehens anzuordnen, umzubauen und einzusetzen, um ihre jeweiligen Unterrichtsziele, -methoden, und -objekte optimal zur Geltung zu bringen. Kameras und Bildschirme, Wandtafeln und Overheadprojektoren, Fernsehproduzenten, Kameraleute und Lehrer wurden hierfür in vielfältiger Weise in Zusammenarbeit gebracht: „we began to arrange, and re-arrange” (Gibson 1968: 14). Ziel dieser Workshops war es herauszufinden, wie Fernsehen die Wissbegierde von Schülern steigern, die Begleitung des Lernprozesses verbessern oder Einsichten in neue Forschungsobjekte fördern kann. Wie in wissenschaftlichen Experimenten üblich, wurde das Fernsehen zunächst in Einzelelemente zergliedert, die dann in unterschiedlichen Konstellationen neu zusammengefügt wurden. Die jeweiligen Konfigurationen, die dabei entstanden, wurden in verschiedenen Lehrsituationen auf ihre Praktikabilität getestet, wobei die dabei gewonnenen Erkenntnisse zu erneuten Modifikationen führten. Um seinen Experimenten Stichhaltigkeit und Rationalität zu verleihen, verweist Gibson auf allgemeine technische und ästhetische Eigenschaften des ‚televisuellen Basisapparates‘11, die dessen Eignung als Instrument der

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Ein Überblick ist zu finden auf: http://www.rdlx.com/ncet/intro.html (letzter Zugriff am 7.4.2011). 10 Diese Entdeckung sowie unser Exemplar des Buches verdanken wir Ulrike Bergermann. 1970 publizierte Gibson weitere Ergebnisse der Workshops (Gibson 1970a; 1970b), die zwischen 1961 und 1967 in Kooperation mit der BBC, dem National Committee for Audio-Visual Aids in Education, Hertfordshire TV Experiment u.a. stattfanden. 11 Im Anschluss an die filmtheoretische Debatte bezeichnen wir hier mit ‚Basisapparat‘ die technischen Elemente des Mediums, während wir die spezifischen

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Wissensproduktion untermauern. Ein Fernsehbildschirm hat nach seiner Meinung den doppelten Vorteil, dass er Neugierde weckt und eine analytische Perspektive fördert: „A small glass screen behind which things move“, so Gibson (1970a: 11), wecke immer Aufmerksamkeit. Gleichzeitig positioniere ein Bildschirm die Zuschauer immer in analytischer Distanz (ähnlich wie bei einem Mikroskop). Darüber hinaus zergliedere und isoliere das Fernsehbild alle Objekte, die es darstellt, und unterstütze damit ebenfalls einen analytischen Blick (ebd.). Während diese Experiments in Television also bestimmte Potentiale des Mediums als gegeben definieren, gehen sie zugleich davon aus, dass Fernsehen ein heterogener und veränderbarer Gegenstand ist. Heterogen ist Fernsehen schon deshalb, weil es in unterschiedlichen Gebrauchskontexten schlicht etwas anderes darstellt: „Compare the uses made of the medium by the producer of a long-established B.B.C. or Independent television series; by a biologist televising dissection techniques for the benefit of his class; by a training college tutor using television to observe a learning situation. “ (Gibson 1968: 7)

Entsprechend fordert Gibson dazu auf, einzelne Elemente des dominanten Fernsehdispositivs (d.h. des Broadcast/Network-Modus) anzueignen. Er diskutiert verschiedene Konventionen des Broadcast/Network-Fernsehens im Hinblick darauf, ob sie dem Einsatz im Bildungs- und Erziehungsbereich dienen oder diesem eher entgegenstehen.12 Die Einschränkungen, die mit dem dominanten Fernsehdispositiv einhergehen (z.B. das festgelegte Programmschema oder die unspezifische Adressierung eines Massenpublikums), glaubt Gibson allerdings leicht überwinden zu können, beispielsweise durch die Verwendung neu eingeführter Technologien wie Videoaufzeichnungen und Closed Circuit Television.13 Dass die weitere Entwicklung der Fernsehtechnologie einer pädagogischen Verwendung des Mediums zuarbeiten wird (und hierfür auch eingesetzt werden muss), steht für Gibson dabei außer Frage (vgl. z.B. 1968: 8). Sowohl die Aneignung einzelner

Konstellationen, in denen diese Elemente angeordnet werden, als Dispositive beschreiben. 12 „At its best, broadcasting has the mastery and the means to create a work of art, to speak with power and authority, to widen horizons, to distil meaning from a wealth of knowledge and experience“. (Gibson 1970a: 24) 13 Bereits in den 1960er Jahren sprach Gibson von Individualisierung und (zeitlicher) Flexibilität, um die Vorteile von Video und CCTV zu beschreiben: „Lowcost video-tape recorders now enable teachers to store broadcast material and reuse it at discretion, to fit their own time-tables and to match their children’s pace of learning. The development of versatile, portable closed-circuit television units, requiring modest space and manpower, brings the production of his own material within the teacher’s reach“. (1970a: 7)

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Elemente als auch die fortlaufende technische Entwicklung führen zur fortlaufenden Veränderung des Mediums. Gibson beschäftigt sich nicht nur mit der Frage, wie Fernsehen (inklusive seiner bereits etablierten Formen) für Bildungs- und Erziehungszwecke eingesetzt werden kann; mit seinen fortwährenden Um- und Neuanordnungen der verschiedenen Elemente des Fernsehens gewinnt er auch Einsichten in dessen spezifisches (pädagogisches) Potential. Ausgangspunkt eines Experiments war beispielsweise ein herkömmliches Fernsehstudio. Weil ein Lehrer in Unterrichtssituationen sowohl Produzent als auch Präsentator ist, entschied man sich, diese Synthese von zwei Rollen auch räumlich umzusetzen, d.h. Studio und Regieraum zu verbinden: An den Moderatorentisch wurde ein ‚Display-Bereich‘ angebaut, indem unter anderem Arbeitsflächen und eine Tafel hinzugefügt wurden (Gibson 1968: 15); zur Ergänzung der drei vorhandenen Kameras wurde daraufhin über dem Arbeitsbereich ein Spiegel angebracht, „in order to show things from the viewpoint of the craftsman“ (ebd.); schließlich wurde ein Bildmischer hinzugefügt, der es den Lehrern ermöglichte, zwischen den verschiedenen Kameras hin und her zu schalten. Durch die Verwendung kleiner und leichtgewichtiger Apparaturen konnte das gesamte Studio schlussendlich sogar mit einem Lieferwagen an einen anderen Ort transportiert und dort in einem beliebigen Klassenzimmer wieder aufgebaut werden (ebd.: 18). Die etablierten Konventionen und Techniken der Pädagogik strukturieren somit die Reorganisationen des Dispositivs Fernsehen – das zugleich die Pädagogik verändern soll. Die sich verändernden Anordnungen von Elementen des Fernsehens, die Gibson in seinem Buch beschreibt, orientieren sich an den je spezifischen Lernsituationen und Unterrichtsobjekten und folgen dabei jeweils bestimmten Rationalitäten. Ziel ist es beispielsweise, Fernsehen zur Unterstützung des Unterrichts einzusetzen (Abb.1), Kindern den Gebrauch von Kameras zu ermöglichen, Hilfestellung bei der Organisation und Beaufsichtigung von Teststunden zu geben (Abb.2), Lehrvideos zu produzieren usw. Jede dieser Rationalitäten etabliert spezifische Relationen zwischen Fernseh-Apparatus, Lehrer, Wissensobjekten und Schülern. In diesen veränderlichen Konstellationen kann ein und dasselbe technische Element daher auch verschiedene strategische Positionen erhalten. Ein Fernsehmonitor ist manchmal ein Monitor zur Überwachung der Schüler und manchmal eine Bildschirm, der es den Schülern ermöglicht sich selbst zu beobachten (Gibson 1970a: 25f). Wie dies häufig in wissenschaftlichen Labors der Fall ist, wurden diese Fernsehexperimente nicht durchgeführt, um eine klar definierte Frage zu beantworten. Gibsons allgemeines Interesse an Unterricht und Erziehung implizierte eher eine vage Fragestellung, mit der die Experimente durchgeführt wurden, etwa: wie kann das Fernsehen den Schulunterricht unterstützen? Während des Experimentierens verschob sich der Fokus mehrfach von der Fernsehtechnologie auf die Unterrichtssituation und wieder zurück. Manchmal hatten pädagogische Erfordernisse eine genauere Begutachtung (und Transformation) der Fernsehtechnologie zur Folge (z.B. wo muss wel-

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cher Typ Mikrofon platziert werden, um im Klassenzimmer eine Diskussion aufzunehmen?) und manchmal führten technische Möglichkeiten oder Beschränkungen zu neuen didaktischen Strategien (so ermöglichte der Bildmischer das Hin- und Herschalten zwischen Objekt und grafischem Modell). Wie in wissenschaftlichen Labors gab es kein klar definiertes Wissensobjekt, sondern ein Reihe von Fragen, die nun durch ein ständiges Reflektieren und Re-Arrangieren der beteiligten Objekte, Technologien und Praktiken zu beantworten waren.14 Im Laufe des Experimentierens geschahen auch unerwartete Dinge, die Phänomene zum Vorschein brachten, deren Erforschung ursprünglich nicht vorgesehen war. Dies hatte weitere Re-Arrangements zur Folge. Gibson erwähnt beispielsweise, dass ein italienischer Kollege entdeckt habe, dass Sendungen des Schulfernsehens gerne auch von älteren Menschen gesehen werden. Diese Entdeckung führte zu einer weiteren Modifikation des Dispositivs, wobei diesmal den (unterstellten) Bedürfnissen und Fähigkeiten von Senioren Rechnung getragen wurde (Gibson 1970a: 93). Diese Experiments in Television zeigen, dass sich das Fernsehen schon in den 1960er Jahren im Wandel befand. Ausgehend vom damals dominanten Broadcast/Network-Fernsehen und den zeitgenössischen technischen Entwicklungen (Videotechnologie, CCTV) transformierten die Experimente das Fernsehen auf der Grundlage pädagogischer Rationalitäten. Experimentelle Anordnungen (im Sinne von Rheinberger) sind Gibsons Workshops, weil sie Technologien und Unterrichtspraktiken in ganz unterschiedlichen Weisen miteinander in Verbindung bringen, um Erkenntnisse über das pädagogische Potential zu gewinnen. Der Prozess des Re-Arrangierens der verschiedenen Elemente führte zu einer Hinterfragung von Phänomenen (z.B. Lehrmethoden, Verfahren der Sichtbarmachung), deren spezifische Charakteristika und Rationalitäten sich aus dem Experimentalsystem selbst ergeben. Die variablen Konstellationen des Fernsehens fungieren gleichzeitig als Instrumente, die zur Realisierung des Experiments eingesetzt werden (z.B. die Aufmerksamkeit der Schüler wecken), und als Objekte, die selbst untersucht und verändert werden, um einen Einblick in die jeweils zu betrachtenden Phänomene zu gewinnen.

14 Hier verweisen wir erneut auf Rheinbergers Definition: „I consider an experimental system to be a unit of research, designed to give answers to questions we are not yet able to ask clearly […] it shapes the questions to be answered. An experimental system is a device to materialize questions.“ (1998: 288)

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Abbildung 1: An Unterrichtssituation angepasstes Fernsehstudio

Quelle: Gibson 1968: 17

Abbildung 2: Fernsehinstallation zur Ausbildung von Lehrkräften

Quelle: Gibson 1970b: 47

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E XPERIMENTELLE M OMENTE DES B ROADCAST /N ETWORK -F ERNSEHENS Im Fall von Gibsons Experiments in Television sind die fortwährenden Veränderungen der Konstellationen besonders offensichtlich – ähnliche experimentelle Verfahren sind aber für das Broadcast/Network-Fernsehen ebenfalls elementar. Auch nach seinen (explizit experimentellen) formativen Anfangsjahren, die tatsächlich zu einer gewissen institutionellen und technischen Stabilisierung führten, fanden Experimente nicht nur am Rande oder im Rahmen von pädagogischen oder Kunstprojekten statt. Es lässt sich sogar behaupten, dass der Erfolg des Broadcast/Network-Modus’ sowie dessen vielfältige kulturelle Effekte aus dem Funktionieren des Fernsehens als Experimentalsystem resultiert. Um diese These zu untermauern, werden wir in Anlehnung an Lorenz Engells Text Fernsehen mit Unbekannten (2008) zunächst auf einige experimentelle Momente aus der Geschichte des Broadcast/Network-Fernsehens hinweisen, die maßgeblich zur Transformationen des Fernsehen beigetragen haben, und anschließend vorschlagen, darüber hinaus auch die alltäglichen Praktiken des Fernsehens als experimentelle Strategien zu verstehen. Engell greift ebenfalls Konzepte der Science and Technology Studies auf, um experimentelle Momente der Fernsehgeschichte zu beschreiben. Eines seiner Beispiele ist die Phase zwischen 1948 und 1952, als die USamerikanische Federal Communications Commission (FCC) die Vergabe von Sendelizenzen einfror, um technische Probleme (u.a. auftretende Interferenzen) zu lösen. Der freeze transformierte die wild wuchernde Fernsehlandschaft in eine laborähnliche Situation, die es ermöglichte, sowohl die institutionelle (Zuweisung von Sendekanälen) als auch die technische Entwicklung (Standard für Farbfernsehen, Nutzung zusätzlicher Frequenzbänder) des Fernsehens „unter Kontrolle“ zu bringen (Engell 2008: 28). Anders als bei früheren technischen Experimenten, die zur Verbesserung der Fernsehtechnologie durchgeführt worden waren, standen während des freeze auch die Programmgestaltung (Anteil von edukativen Sendungen) und die Zuschauer auf dem Prüfstand, d.h. auch die frühe Zuschauerforschung war Bestandteil dieses experimentellen Moments (ebd.: 29). Der freeze ermöglichte es nicht nur, verschiedene Konstellationen unter Laborbedingungen zu erproben, er hatte auch signifikante Transformationen der Medienlandschaft zur Folge. So wurden für das Fernsehen beispielsweise das UHFFrequenzband freigegeben, NTSC als Farbstandard festgelegt und das network System konnte sich konsolidieren. Die Mondlandung ist für Engell ein weiterer explizit experimenteller Moment, der neue Erkenntnisse über das Funktionieren des Fernsehens lieferte, wobei die Konstellation des Experimentalsystems hier deutlich komplexer war als im Fall des freeze: Zum einen war die Übertragung der Mondlandung ein Experiment, um herauszufinden, ob und wie Fernsehtechnologie den Mond und den Weltraum sichtbar machen kann. In der experi-

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mentellen Anordnung garantierte die Fernsehtechnologie – ähnlich wie in Gibsons Experimenten – nicht nur die Fernsehübertragung, sondern wurde auch zur Überwachung und Kontrolle des Flugs eingesetzt. In den Wohnzimmern des weltweiten Publikums waren diese Kontrollbilder zu sehen, allerdings ergänzt mit Kommentaren und Illustrationen der jeweiligen (nationalen) Fernsehstationen, die die enorme technische Herausforderung erläuterten. Durch die Übertragung der Kontrollbilder, so Engell, „wurden auch alle Wohnzimmer an die experimentelle Konfiguration angeschlossen und so zu Außenstellen des gesamten Laboratoriums“ (ebd.: 35). Zum anderen wurde mit der Mondlandung die Adressierung einer globalen Zuschauerschaft erprobt. Wiederholt thematisierten die Kommentatoren, dass die ‚gesamte Welt‘ gebannt vor den Fernsehgeräten sitze; gleichzeitig konnte sich eine globale Zuschauerschaft erstmals in der Fernsehgeschichte selbst beim Zuschauen zuschauen (ebd.: 37). Indem sie beobachten konnten, wie andere auf die Ereignisse reagierten, war es den Fernsehzuschauern möglich, das Funktionieren des Fernsehens (z.B. seine Abhängigkeit von den Zuschauern) zu reflektieren. Über diese komplexe Anordnung hinaus, mit der sich das Fernsehen als globales Beobachtungssystem etablierte, war die Mondlandung auch ein Testmoment für die Programmgestaltung und Programmierungsformen von Fernsehsendungen. Da es sich um eine Live-Sendung handelte, galt es, bei der Programmplanung beispielsweise Verzögerungen oder unerwartete Ereignisse mit zu bedenken. Gleichzeitig war die Mondlandung Teil einer ganzen Serie von vergleichbaren Übertragungen, sowohl was die Apollo 11Mission anging (so wurde neben der Landung am 20./21. Juni 1969 beispielsweise auch der Start am 16. Juni live übertragen), als auch im Hinblick auf weitere Weltraumerkundungen. Indem sie zugleich Live-Sendung und Bestandteil einer Serie war, vereinte die Mondlandung zwei elementare Eigenschaften des Fernsehens, deren Relation bald schon genauer befragt wurde. Doch die Weltraumprogramme ermöglichten nicht nur eine Befragung des Verhältnisses von Ereignishaftigkeit und Wiederholbarkeit (Engell 2008: 37; 2009: 141), sie rückte auch die Relation von Programmangebot und Zuchauerpräferenzen in den Blickpunkt, woraus wiederum Anpassungen des Fernsehprogramms resultierten. Der Golfkrieg und Big Brother sind neben dem freeze und der Mondlandung weitere Beispiele, die Engell als experimentelle Momente des Fernsehens beschreibt. Ihnen allen ist gemein, dass sie bestimmte Eigenschaften des Fernsehens (Sichtbarkeit, Partizipation) in kontrollierter Weise verändern. Die je spezifische Konstellation bringt neue Erkenntnisse über das Fernsehen hervor, die nicht nur zum besseren Verständnis seiner Funktionsweisen und Implikationen beitragen, sondern auch in die künftige Produktion und Reproduktion des Mediums Fernsehen eingehen und somit weitere Transformationen in Gang setzen (Engell 2008: 19). Bei diesen experimentellen Momenten handelt es sich nicht um Experimente, die zur Entwicklung oder Verbesserung von Technologien oder Organisationsformen

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durchgeführt werden. Sie gehen weit über diese hinaus, insofern sie nicht nur Einzelaspekte in den Blick nehmen und damit maßgeblich zu einer fortwährenden Neudefinition des Fernsehens beitragen. Auch beim Einsatz des US-amerikanischen Fernsehens als Citizen Machine, den Anna McCarthy für die 1950er Jahre aufgearbeitet hat, oder der Einführung des öffentlich-rechtlichen Fernsehen in den USA in den späten 1960er Jahren, dem Laurie Oullette nachgegangen ist, handelt es sich um Neuanordnungen der komplexen Konstellationen des Fernsehens, mit denen neue Einsichten in Technologien, Zuschauer und Programme gewonnen wurden. Obwohl sie den Begriff nicht explizit verwenden, beschreiben beide Autorinnen ein Experimentalsystem: Sie analysieren kontrollierte Veränderungen des Fernsehens, die aus den Versuchen resultierten, das amerikanische Volk zu klassifizieren, zu erziehen und anzuleiten. In beiden Fällen betrifft das ‚Experiment‘ nicht nur neu eingeführte Sendungen, die sich an neu identifizierte Zuschauergruppen richteten, sondern auch institutionelle Anordnungen, politische Regulierungen und ökonomische Strategien, die gemeinsam zu einer Reformulierung des Begriffs ‚Öffentlichkeit‘ führten.15 Aber auch die Einführung des Videorekorders und der Fernbedienung sowie zahlreiche weitere ‚Momente des Wandels‘ lassen sich als experimentelle Momente des Broadcast/Network-Fernsehens beschreiben. So implizierte der Videorekorder beispielsweise eine Umordnung, die neue Fragen und neue Erkenntnisse über das Verhalten der Zuschauer, ökonomische Strategien, Geschlechterbeziehungen usw. eröffnete – womit zugleich weitere Transformationen in Gang gesetzt wurden. Alle diese Beispiele verdeutlichen die Unverzichtbarkeit und Effektivität von fortwährenden Transformationen auch im Rahmen des scheinbar so stabilen Broadcast/Network-Fernsehens. Ihnen allen liegen Verfahren zugrunde, die auch Kennzeichen von Gibsons pädagogischen Experimenten waren: Fernsehen wird stets als heterogene Konstellation verstanden (und reproduziert), deren Elemente veränderbar sind und umarrangiert werden können. Dieser Prozess des Umordnens ist sowohl systematisch als auch strategisch: Er ist systematisch, weil bestimmten Elementen mehr oder weniger ‚instrumentelle‘ Eigenschaften oder Funktionen zugeschrieben werden, während andere Elemente in die Position von Objekten geraten, deren unvorhersagbare (und manchmal auch unerwarteten) Variationen es zu beobachten gilt. Das Experiment etabliert also seine eigene ‚Rationalität‘ und seinen eigenen ‚Repräsentationsraum‘.16 Dieser Prozess ist zugleich strategisch, weil er be-

15 So galt es beispielsweise zu klären, was ‚Öffentlichkeit‘ konstituiert und inwiefern diese mit dem Fernsehen zusammenhängt. 16 Experimente zielen immer auf eine Aneignung von Phänomenen (‚Natur‘) durch Reflexion. Sie folgen jedoch keiner a-historischen Logik, sondern können auf ganz unterschiedlichen ‚Rationalitäten‘ basieren (die sie damit gleichzeitig auch unterbauen), d.h. auf unterschiedlichen Vorstellungen über Wahrheit, Ursache und Wirkung usw. (Rheinberger/Hagner 1997; Latour 1990).

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stimmten Interessen und Fragestellungen – ökonomischen, pädagogischen etc. – folgt. Gleichzeitig ermöglicht der Prozess des Umordnens und NeuArrangierens allerdings auch unerwartete Einsichten. Die Experimente beantworten also keine klar definierten Fragen, vielmehr etablieren und reartikulieren sie eine Problematisierung.17 Die Umordnung der verschiedenen Elemente des Fernsehens impliziert dabei auch eine Reflexion und ReKonzeptualisierung dessen, was Fernsehen (der Videorekorder, die Fernbedienung etc.) ist. Dadurch werden neue Diskussionen und Erkenntnisse angeregt (beispielsweise über die ‚Natur‘ der Zuschauer und ihre Wünsche und Bedürfnisse), die wiederum in die folgenden Reproduktionen des Fernsehens als Medium eingehen.

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Die Transformationen des Fernsehens vollziehen sich nicht nur im Rahmen einzelner experimenteller Momente, wie sie oben beschrieben wurden, sondern finden fortwährend statt. Konzipiert man das Fernsehen als Experimentalsystem, so erscheinen seine täglichen Routinen in einem anderen Licht. Es sind nicht zuletzt die grundlegende Idee der ‚Perfektibilität‘ und das Versprechen der umfassenden Erreichbarkeit, die das Fernsehen zu einem Experimentalsystem machen und für permanente Veränderungen sorgen: Als Technologie wohnt dem Fernsehen stets die Idee der ‚Perfektibilität‘ inne.18 Fernsehen lässt sich immer verbessern – sei es seine Bildauflösung, die Anzahl der Sender, die Größe des Bildschirms oder die Tonqualität. Die Erwartung technischer Verbesserungen hat das Fernsehen von je her begleitet19 und dabei zahlreiche Experimente in Gang gesetzt. Als Institution, die sich an ein großes und anonymes Publikum (im öffentlichen oder privaten Raum) richtet, verspricht das Fernsehen hingegen die Erreichbarkeit seiner Zuschauer und steht damit zugleich unter Zugzwang, das Publikum immer wieder neu an sich zu binden. Diese technischen und institutionellen Erwar-

17 Eine Problematisierung verfremdet eine bestehende Situation oder einen Gegenstandsbereich und „arbeitet [...] die Bedingungen heraus, unter denen mögliche Antworten gegeben werden können; sie definiert die Elemente, die das konstituieren werden, worauf die verschiedenen Lösungen sich zu antworten bemühen. Diese Ausarbeitung einer Gegebenheit zu einer Frage und diese Umwandlung einer Gesamtheit an Hemmnissen und Schwierigkeiten in Probleme, worauf die verschiedenartigen Lösungen eine Antwort beizubringen versuchen, konstituieren den Punkt einer Problematisierung und die spezifische Arbeit des Denkens“ (Foucault 2005: 733). 18 Lorenz Engell (2008: 26) übernimmt diesen Begriff von Ernst Jünger. 19 Zur Frühgeschichte vgl. z.B. Elsner/Müller/Spangenberg 1990.

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tungen, Versprechen und Unsicherheiten stehen in Wechselbeziehung mit politischen, ökonomischen, pädagogischen und anderen Rationalitäten, die diese Erwartungen definieren und lenken. ‚Verbesserungen‘ sind daher weder rein technologisch noch komplett selbstevident; sie kommen vielmehr jeweils zum Einsatz, um bestimmte Anwendungsmöglichkeiten des Fernsehens zu verbessern. Dementsprechend existiert auch das Broadcast/Network-Fernsehen (ebenso wie jede andere vorstellbare Form von Fernsehen) nur, weil es in Praktiken eingebunden und von diesen realisiert wird, die die Anforderungen der ‚Perfektibilität‘ spezifizieren. Fernsehen ist durch politische Praktiken definiert, deren Ziel die Verbesserung von Wissen, Information (oder Manipulation), Partizipation oder allgemeiner: die Konstruktion von Bürgern ist. Gleichzeitig wird es durch ökonomische Praktiken realisiert, die auf die Produktion von Konsumenten, Wünschen und Bedürfnissen abzielen. Über diese politischen und ökonomischen Rationalitäten hinaus muss das Fernsehen auch noch weiteren Anforderungen gerecht werden. So entstanden bspw. mit der Einführung des Fernsehens in den ‚Kreis der Familie‘ (Spigel 1990) oder seiner halb-öffentlichen Installation in Kneipen und auf Flughäfen (McCarthy 2001) zusätzliche Anforderungen, die wiederum vielfältige zukünftige Entwicklungen möglich machten. Jede dieser Praktiken (Politik, Ökonomie, Rezeptionssituation) hat ihre eigenen, spezifischen Rationalitäten, die Umordnungen der verschiedenen Elemente des Fernsehens zur Folge haben (oder zumindest einfordern). Die konkurrierenden und sich häufig widersprechenden Rationalitäten der verschiedenen Praktiken sowie die unerwarteten Effekte, die aus den fortwährenden Re-Arrangements komplexer Fernsehkonstellationen resultieren, garantieren die Unendlichkeit des Transformationsprozesses. Entscheidungsträger oder Industrieakteure entdecken immer wieder neue ‚unbekannte‘ Zuschauersegmente (die möglicherweise zuvor nicht einmal als Gruppe identifiziert waren), bestimmte Sendekonzepte oder Genres sind überraschenderweise erfolgreich, ein Fernsehgerät wird auf ungewöhnliche Weise eingesetzt. Nicht selten sind derartige ‚Entdeckungen‘ Anlass, um neue Programme einzuführen, Gesetze zu verabschieden oder neue Technologien einzusetzen.20 Diese alltäglichen Fernsehexperimente sind selbstverständlich weniger systematisch und kontrolliert als der freeze, die Mondlandung, Gibsons pädagogische oder gar ‚echte‘ wissenschaftliche Experimente. Dennoch folgt die fortwährende Umordnung der Broadcast/Network-Konstellationen des

20 Wie ein Experimentalsystem kann auch das Fernsehen unerwarteten Phänomenen ‚Natürlichkeit‘ verleihen: „An epistemic thing may not even be imagined when an experimental arrangement is in the course of being established. But once a surprising result has emerged and has been sufficiently stabilized, it is difficult to avoid the illusion of a logic of thought and even a teleology of the experimental process.“ (Rheinberger 1998: 290)

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Fernsehens experimentellen Rationalitäten: Ihr Ausgangspunkt ist die Definition (und Reflexion) eines bestimmten Potentials (einzelner Elemente) des Fernsehens; ihr Ergebnis die Produktion eines Phänomens (z.B. das ‚Zielpublikum‘). Dieses Phänomen ist wiederum nur als Teil eines Experimentalsystems plausibel, das Wissen über dieses Phänomen produziert und seine Manipulation ermöglicht.21 Der Status des Fernsehens als Experimentalsystem (und der Fernsehgeschichte als Abfolge fortwährender Experimente) lässt sich folgendermaßen skizzieren: Fernsehen besteht aus einer Konstellation heterogener Elemente (Institutionen, Technologien, Praktiken). Die prinzipielle Transformierbarkeit dieser Konstellation und ihrer Elemente (die sich am deutlichsten in der Vorstellung von der ‚Perfektibilität von Technologie‘ ausdrückt) verspricht, dass das Fernsehen für verschiedenste Praktiken brauchbar ist und vielfältige Anwendungsmöglichkeiten bestehen. Dabei tragen die spezifischen Anforderungen an jede dieser Praktiken nicht nur zur konstanten Transformation des Fernsehens bei, sondern auch zu einer permanenten Reflexion seines Nutzens und seiner Eigenschaften. Das Konzept des Experimentalsystems ermöglicht es, die permanente Notwendigkeit einer Veränderung des Fernsehens, die auch das Broadcast/Network-Fernsehen kennzeichnet, genauer in den Blick zu nehmen. Auch wenn das Broadcast/Network-Fernsehen eine stabilere institutionelle Rahmung aufweist, als das Post-Network-Fernsehen, so muss es dennoch als Konstellation begriffen werden, die aus einer stabilen institutionellen Strukturen plus der Idee ihrer Veränderbarkeit besteht (daher auch die fortwährenden Versuche, das Fernsehen zu transformieren, bzw. die Wünsche, Versprechen und Forderungen nach Veränderung). Ähnlich wie das wissenschaftliche Experimentalsystem ist auch das Broadcast/Network-Dispositiv nicht durch einen spezifischen Aufbau definiert, sondern durch eine Kombination von Fragen, Problematisierungen und ambivalenten Objekten, die Transformationen in Gang setzen. Denn um effektiv zu sein und als ‚kulturelle Maschinerie‘ bestehen zu können, muss das Fernsehen ständig Differenzen produzieren, die seine eigene Reproduktion ermöglichen.22

21 Dass Kausalitäten (z.B. zwischen Werbung und dem Erfolg eines Produkts oder zwischen demografischen Klassifikationen und Genre-Präferenzen) stets ungeklärt bleiben, ist kein Beweis für den nicht-experimentellen Charakter des Fernsehens. Ambivalente Kausalitäten sind eines der charakteristischen Merkmale von Experimentalsystemen. 22 Rheinberger kennzeichnet Experimentalsysteme u.a durch ihre Fähigkeit, Differenzen zu produzieren: „such systems must be capable of differential reproduction in order to behave as a device for producing epistemic things whose possibility is beyond our present knowledge, that is, to behave as a ‚generator of surprises‘. Differential reproduction refers to the allowance, if not to the necessity of shifts and displacements within the investigative process; in order to be productive, an experimental system has to be organized so that the generation of differences be-

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Die Re-Konzeptualisierungen des Fernsehens als heterogene und ständig sich verändernde Konstellation wirkt sich selbstverständlich auch auf das Verständnis der kulturellen und sozialen Implikationen des Fernsehens aus. Alleine der Verweis auf die stabile institutionelle Struktur des Broadcast/Network-Fernsehens reicht u. E. nicht aus, um die kulturelle Definitionsmacht des Mediums zu erfassen. Die ‚Macht des Fernsehens‘ resultiert zum Teil aus dem konstanten Transformationsprozess, der neben einer fortwährenden Umordnung auch die permanente Reflexion der ‚angemessenen‘ Verwendung des Fernsehens mit sich bringt. Es ist weniger die Beständigkeit der Institution als die generelle Veränderbarkeit des Fernsehens, die bestimmte kulturelle und soziale Kategorien als natürlich, rational, wünschenswert oder unvermeidlich etabliert. Indem es als Experimentalsystem funktioniert, wird das Fernsehen zum Kristallisationspunkt für die Formulierung bestimmter Problematisierungen – deren Plausibilität und Handhabbarkeit vom Fernsehen garantiert werden, weil sie zugleich auch die Transformationen des Fernsehens strukturieren. Im Unterschied zum Konzept des Kinodispositivs, das die rigide und zwangsläufige Positionierung von Projektor-Leinwand-Zuschauer als Grundlage der ideologischen Effektivität des Kinos beschreibt, ist das Fernsehdispositiv nicht durch die räumliche Strukturierung seiner Elemente definiert, sondern durch die Logik (die Problematisierungen und Rationalitäten), die in seinen Umordnungen sich entfaltet. Anhand des Konzepts nationwide audience lässt sich dieses Argument kurz illustrieren. Ebenso wie das feste Programmschema zählte die Idee eines nationalen Publikums zu den wichtigen Merkmalen des Broadcast/Network-Fernsehens. Doch bereits bevor dieses Konzept in den 1990er Jahren an Bedeutung verlor (vgl. Turner/Jay 2009) war die Existenz eines solchen Publikums nicht einfach und widerspruchsfrei gegeben. Nationwide audience war eher ein Thema (oder eben: eine Problematisierung), das politische Überlegungen, Programmentscheidungen, ökonomische Strategien und das Zuschauerverhalten strukturiert hat. Damit war das Konzept ein wichtiger Bestandteil der ‚Macht des Fernsehens‘ – gerade weil die Existenz und Erreichbarkeit eines nationalen Publikums ständig auf dem Spiel stand und daher permanent befragt und re-formuliert wurde. Die damit einhergehenden Strategien führten zur Realisierung, Adressierung und Veränderung einer nationalen Zuschauerschaft, wodurch nationwide audience überhaupt erst zu einem plausiblen und selbstevidenten Phänomen wurde.

comes the reproductive driving force of the whole experimental machinery.“ (1998: 287)

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P OST -N ETWORK -E XPERIMENTE Die Rekonzeptualisierung des Broadcast/Network-Fernsehen hat auch auf das Verständnis der gegenwärtigen Transformationen des Fernsehens Auswirkungen. Es besteht kein Zweifel darüber, dass Fernsehen in PostNetwork-Zeiten noch heterogener ist, noch schwieriger zu definieren und Gegenstand von noch dynamischeren Transformationen, als es das Broadcast/Network-Fernsehen jemals war. Doch das Konzept von Fernsehen als Experimentalsystem hat eine etwas andere Beschreibung der gegenwärtigen Veränderungen zur Folge. Dies nicht zuletzt, weil 1.) die Differenzen zwischen Broadcast/Network-Fernsehen und Post-Network-Fernsehen weniger eindeutig werden und 2.) die zentralen Kennzeichen des Post-NetworkFernsehens ambivalenter sind, wenn sie als ‚Problematisierungen‘ und nicht als Eigenschaften gefasst werden. 1.) Versteht man (Broadcast/Network-)Fernsehen nicht als stabile Einheit, sondern als experimentelle Konstellation, die aus unterschiedlichen Strategien besteht und verschiedene Probleme artikuliert, verschwimmen die Unterschiede zwischen dem gegenwärtigen und dem traditionellen Modus des Fernsehens. Dass die Fernsehwissenschaft zu bestimmten Zeitpunkten feststellen muss, dass ihre Konzepte (die mit Bezug auf das Broadcast/ Network-Fernsehen entwickelt wurden) dem sich verändernden Fernsehen deutlicherweise nicht mehr gerecht werden, garantiert nicht, dass diese Konzepte jemals alle relevanten Aspekten des traditionellen Fernsehens erfasst haben. Begriffe wie flow oder Massenpublikum mögen dem gegenwärtigen Fernsehen nicht mehr entsprechen; das heißt jedoch nicht, dass access oder „Must-Click-TV“ (Gillan 2011) das gegenwärtige und flow das klassische Fernsehen treffend kennzeichnen.23 Statt Fernsehen damals und heute miteinander zu vergleichen (und dabei implizit fortzuschreiben, was das Broadcast/Network-Fernsehen konstituiert hat), scheint es uns produktiver, die verschiedenen Themen, Problematisierungen oder ‚Potentiale‘ als Anreize zu analysieren, die Transformationen strukturieren, und ihren jeweiligen Emergenzen, Entwicklungen und Wendepunkten nachzugehen. Viele der bekanntesten (und keineswegs ‚inadäquaten‘) Merkmale des gegenwärtigen Fernsehens haben eine Geschichte, die zurückreicht bis lange vor dem Wechsel zur ‚Deregulierung‘ (in den 1980er Jahren), zur digitalen Signalübertragung (in den 1990er Jahren) oder zum Online oder convergence Fernsehen (in den 2000er Jahren): Zielpublikum, Mobilität, flexible Nutzung, Vervielfältigung der Programme, Individualisierung des Zugangs – all diese Themen, Probleme oder ‚Potentiale‘ des Fernsehen haben eine lange und alles andere als geradlinige Geschichte. Sie sind keine kohärenten Elemente eines einzelnen Prozesses (oder Moments) des Übergangs zu einem Post-Network-Fernsehens; vielmehr sind sie (und waren schon immer) hete-

23 Zur sich ändernden Bedeutung der key concepts der Fernsehwissenschaft vgl. Jostein Gripsrud (1998) und William Uricchio (2004).

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rogene Anreize zu konstanten Transformationen, die alle ihre je spezifische Dynamik und Geschichte haben. Post-Network-Fernsehen ersetzt nicht die älteren Formen des Fernsehens, vielmehr re-artikuliert es mit anderer Gewichtung und Strategien die bereits in früheren Formen des Fernsehens vorhandenen Themen, Probleme oder ‚Potentiale‘. Gibsons Experiments in Television zeigt beispielsweise, dass bereits in den 1960er Jahren ‚Flexibilität‘ (Transportmöglichkeit des Studios in beliebige Klassenzimmer) und ‚individueller Zugriff‘ eine Rolle spielten. Die aktuellen Entwicklungen stellen insofern keinen eindeutigen Übergang von einer nationalen Zuschauerschaft zum Zielpublikum oder von einer geplanten Programmstruktur zum individuellen Zugriff dar. Vielmehr wird die seit langem bestehende Spannung zwischen verschiedenen Adressierungsformen (bzw. Organisations- und Übertragungsmöglichkeiten von Sendungen) neu angeordnet. Und selbst wenn das Experimentieren gegenwärtig vor allem dem Individuum gilt, so bleibt auch das Kollektiv einer nationwide audience weiterhin Bestandteil der experimentellen Konfiguration (ebenso wie das Individuum auch in den 1960er und 1970er Jahren mitgedacht wurde). Amanda Lotz weist bspw. daraufhin, dass der Modus des phenomenal television auch im Zeitalter des Post-Network-Fernsehens fortbesteht und dessen individuelle und flexible Varianten begleitet. Phenomenal television besteht aus „themes, topics, and discourses that appear in multiple and varied outlets” (Lotz 2007: 37). „Trans-show or trans-network themes derive importance in a narrowcast environment because such scope indicates content that has achieved or is likely to achieve uncommon audience breadth despite fragmentation and polarization.“ (ebd.)

Es wäre sicherlich lohnenswert genauer zu analysieren, wie phenomenal television entsteht, in welche Strategien es eingebunden ist und welches Wissen es über Zuschauer und ‚Nationen‘ produziert und impliziert (und wie sich dieses von der Modellierung einer landesweiten und anonymen Rezeption unterschiedet, die in Broadcast/Network-Zeiten vorherrschte). 2.) Bei den charakteristischen Merkmalen des Post-Network-Fernsehens – Programmvielfalt, individueller Zugang, Mobilität etc. – handelt es sich entsprechend nicht um einzigartige und eindeutige Eigenschaften oder Resultate der neuen Konstellation. Ebenso wie nationwide audience in Broadcast/Network-Zeiten fungieren sie als Problematisierungen, Themen oder ‚Potentiale‘ die ihre Plausibilität aus der permanenten Umordnung erhalten, die sie produziert. Wenn das Fernsehen zur ‚Individualisierung‘ von Programm und Zugriffsstrukturen tendiert, dann (re-)definiert es zugleich auch, was ‚individualisiert‘ überhaupt bedeutet, und stellt (zusammen mit anderen Medien) Modelle und Instrumente zur Verfügung, um ‚Individualität‘ zu realisieren und zu artikulieren. Allerdings haben wir gesehen, dass Gibson bereits in den 1960er Jahren die Fernsehtechnologie (Videorekorder und CCTV) nutzte, um individuellen Zugriff zu ‚realisieren‘. Die Behauptung,

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dass die damaligen Konstellationen weniger individuell waren als die gegenwärtigen, wäre zu simpel; ‚Individualität‘ wurde damals vielmehr anders problematisiert. Im Zusammenhang mit Technologien und Plattformen wie TiVo, Hulu, IP-TV usw. lässt sich ähnlich argumentieren: Diese erfüllen weder den ‚Traum‘ vom individuellen Zugang, noch verschleiern sie lediglich die Kulturindustrie und deren Ideologie von Individualität; vielmehr ‚experimentieren‘ sie mit Individualität. Sie realisieren den individuellen Zugang, indem sie diesen sichtbar und handhabbar machen – stets begleitet vom Versprechen zukünftiger Verbesserungen. Individueller Zugang, Programmvielfalt und Mobilität werden als Aufgaben und Probleme formuliert, die die bevorstehenden Transformationen strukturieren. Gleichzeitig erhalten sie durch diese Transformationen Realität und Plausibilität, insofern sie als Objekte (‚Individualität‘, ‚Programmvielfalt‘, ‚Mobilität‘) etabliert werden, die handhabbar sind und verbessert werden können. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass die gesteigerte Heterogenität und Dynamik des Post-Network-Fernsehens nicht notwendiger Weise mit einer Schwächung seiner kulturellen Wirkmächtigkeit gleichzusetzen ist. Auch wenn ein Experimentalsystem komplexer wird und flexiblere Manipulationen ermöglicht, haben die Phänomene, denen es Plausibilität verleiht, nicht weniger Wirkmacht. Die einschneidenden Veränderungen, die das gegenwärtige Fernsehen durchläuft, lassen sich nicht auf einen Wechsel von einer Form des Fernsehens zu einer anderen reduzieren. Die vielfältigen Entwicklungen folgen schlichtweg keiner kohärenten Logik und finden auch nicht gleichzeitig statt (z.B. der technische Übergang von analog zu digital und die ökonomische Dynamik einer zunehmenden Kommerzialisierung). Nimmt man Amanda Lotz’ Vorschlag ernst, von Fernsehen im Plural zu sprechen, und wendet man ihn auch für die Broadcast/Network-Form an, so gilt es, den vielfältigen Problematisierungen nachzugehen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Broadcast/Network-Zeit etabliert wurden und in den unterschiedlichen Post-Network-Konstellationen fortbestehen, sich verändern oder zu einem Ende kommen.

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F ERNSEHEN

ALS FORTWÄHRENDES

E XPERIMENT

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Von intermedialer Konvergenz zu ‚produsage‘ oder: Die neue Partizipationskultur im Musikvideo1 B EATE O CHSNER

Wenn Dieter Daniels 1996 vermutete, dass der Wettstreit zwischen Kunst und Technik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an die Stelle des Wettstreits der Künste untereinander getreten ist, so ging es vorrangig um die Erkenntnis, dass die im Kontext der Avantgarden des 20. Jahrhunderts erprobte Korrelation künstlerischer Arbeit mit neuen Techniken die Interferenzen (wie auch Konvergenzen) zwischen verschiedenen Medien, ihren Gattungen und Stilen (erst) hervortreten ließ. Die Geschichte des Musikvideos scheint diese medien-geschichtliche Tendenz zunehmender intermedialer Konvergenz und Komplexität zunächst fortzuschreiben; auf die anfänglich digitale (Wieder-)Aufbereitung oder remediation früherer Visionen der IntermediaKunst jedoch folgt eine grundlegende Veränderung unserer kulturellen Alltagspraxis und damit auch von Produktion, Distribution und Rezeption (Konsum) des Musikvideos (vgl. Daniels 1996). Welche sozio-medialen, ökonomischen und ästhetischen Modifikationen sich – parallel zur Gründung des YouTube-Portals im Jahr 2005 – mit der ‚De-platzierung‘ (vgl. Turim 1991) der Musikvideos im Web 2.0 ereignen2, möchte ich im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele demonstrieren.

1

2

Dieser Artikel ist die überarbeitete und erweiterte Version meines Beitrages „Weiche‘ Musikvideos oder: Von Intermedialität zu produsage“, der im April 2011 in dem von Thomas Becker herausgegebenen Sammelband Ästhetische Erfahrung der Intermedialität. Zum Transfer künstlerischer Avantgarden und ‚illegitimer‘ Kunst im Zeitalter von Massenkommunikation und Internet beim transcript-Verlag Bielefeld erschienen ist. Die Konsequenzen der Deplatzierung auf portable devices werden hier weitestgehend außer Acht gelassen. Die Videos werden mit dem Handy aufgenommen, über das Smartphone hochgeladen und unterwegs geschnitten: Der Technologie-

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P RODUSAGE

UND

P ARTIZIPATION

Wie die Kommunikationswissenschaftlerin Anna Theis-Berglmair betont, sind im Kontext des neuen, wechselseitigen kommunikativen Beziehungsgeflechts von organisationsförmigen und natürlichen Rezipienten und Akteuren keine festen Systemplätze mehr zu erkennen (vgl. u.a. Theis-Berglmaier 2002: 216-246). Betriebswirtschaftliche Phasen wie Produktion, Distribution und Rezeption verschmelzen miteinander und die massenhafte Entstehung von Mash-ups, Videomods, Selfmade-Videos sowie eine Reihe interaktiver Clips zeigt, wie ehemals passive Konsumenten zum (inter-)aktiven und partizipierenden produser und vormals festen Formaten unterliegende Produkte zu Artefakten geraten. Die – mit Lev Manovich gesprochen3 – solcherart ‚weich gewordenen‘ oder ‚aufgeweichten‘ Medien(-konstellationen) produzieren neue Interferenzen, die den Stellenwert intermedialen Produzierens zugunsten einer partizipativen produsage-Kultur im Sinne Axel Bruns verschieben (vgl. u.a. Bruns 2006: 275; 2009)4. Hochwertige und vor allem preisige Qualitätsformate im Stile der 1990er Jahre werden immer seltener produziert, ihre Marketing-Effektivität scheint sich erschöpft zu haben. War es Ende der neunziger Jahre in Deutschland noch üblich, für ein Musikvideo im Durchschnitt rund 50.000 Euro auszugeben, so investieren die Plattenfirmen in der Regel nur noch die Hälfte oder gar weniger. Star-Regisseure

3

4

Blog der Plattform Mashable (http://mashable.com [letzter Zugriff am 30.5.2011]) geht davon aus, dass Google künftig ein komplettes Paket browserbasierter Anwendungen anbieten wird, um sowohl das Handybetriebssystem Android, als auch das Netbook-OS Chrome attraktiver zu machen (vgl. Anonym 2010: o.S.) Vgl. das von Lev Manovich propagierte „Weich“- oder „Soft“-Werden und die Hybridisierung der Medien im Zuge der Digitalisierung: „In short, a media object becomes „soft“ — with all the implications contained in this metaphor.“ (Manovich 2001: 128) Dabei geht es nicht nur um die „remixability“ des Inhalts oder der Ästhetik verschiedener Medien (und inwieweit diese als charakteristische Eigenschaft feststellbar ist, steht zur Diskussion), sondern um die grundlegenden Sprachen, Arbeitsweisen und Produktionstechniken (vgl. Manovich 2005-2006: o.S.). (Dieser Text wurde im Rahmen eines Research Felloshwips im Media Design Research Programm verfasst.) Hinzuzufügen wäre hier freilich neben den Produktionsaspekten auch der Umgang mit den neuen, hybriden Formen, sprich: ihre Distribution und Rezeption. Das sich aus den Interferenzen und medialen Konvergenzen ergebende Potential ist freilich nicht auf das Musikvideo beschränkt; in seinem Beitrag „The Transmedia Potential of Music Videos, Part 1: The Band“ spricht Alex Leavitt über die amerikanische Erfolgsfernsehserie Glee und deren Integration von Musik in ein transmediales Erzählen sowie ihre vorteilhafte Ausnutzung einer „cross-platform distribution“ (Leavitt 2010: o.S.).

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wie Michel Gondry, Jonathan Glazer, Spike Jonze, Chris Cunningham, Floria Sigismondi oder David LaChapelle, die die letzte innovative Phase des Genres prägten, arbeiten heute (erneut) in der Werbebranche, drehen mehr oder weniger erfolgreiche Kinofilme oder betätigen sich im Bereich der Videokunst. Im Gegenzug entdecken nicht-professionelle user unter den Bedingungen des Webs 2.0 den Reiz der Selfmade- und Recycling-Kultur auf der Basis einer kommunizierenden Netzgemeinschaft sowie entsprechender open-source tools. Diese grundlegende Veränderung findet womöglich eine theoretische Basis in den Ansätzen der Cultural Studies und darunter vor allem dem Verständnis John Fiskes, demzufolge „popular culture […] the art of making do with what the system provides“ (Fiske, zit. nach Müller 1993: 63) zu beschreiben ist. Die bekannte These von der Populärkultur als Ort des Widerständigen findet ihren Ausdruck in Formen subversiver Mediennutzung, wie Fiske im Folgenden beschreibt: „I want to theorize popular pleasure as occuring at that interface between the powerbearing apparatuses and the intransigent social experiences of the subordinated groups. [....] There is a double pleasure here, the pleasure of socially pertinent meanings the subordinate, as opposed to the dominant, meanings of subordination and powerlessness, and the pleasure of being involved, being productive, in the making of these meanings.“ (Fiske 1989: 183)

Das ungleiche Machtverhältnis zwischen „power block“ und „people“5 bzw. die Subversion durch untergeordnete und unterlegene Gruppen steht bei Fiske im Vordergrund seiner kulturwissenschaftlichen Analysen. Eine solche grundlegende soziologische Theorie des Verbraucher- oder Alltagsverhaltens bzw. derjenigen Strategien und Taktiken, die eine solche Populärkultur erst ermöglichen, findet sich auch in Michel de Certeaus Kunst des Handelns ausführlich beschrieben (vgl. de Certeau 1988). Die zentrale Denkfigur bildet dabei das sogenannte aktive Konsumieren im Sinne einer „andere[n] Produktion, die als Konsum bezeichnet wird“ (de Certeau 1988: 13, Herv. im Text). So wird der Konsument nicht als passiver Abnehmer, sondern als aktiver Produzent begriffen, der allein durch seine Produktauswahl an seiner Identität „bastelt“. De Certeaus Unterscheidung zwischen der machtorientierten Strategie als fortschreitender Kontrolle von Raum und Zeit und der subversiven Taktik als Ausnutzung der entstehenden Lücken, Unwägbarkeiten und Inkonsistenzen einer vorgegebenen spatio-temporellen Ordnung beschreibt die kulturelle Produktion oder „culture making“ (Fiske 1989: 1) als einen Prozess kontinuierlicher Zirkulation, innerhalb dessen die Rezipienten (= Produzenten) in ihrer spezifischen Aneignung kulturindustrieller Produkte eine eigene kulturelle Ökonomie mit z.T. sehr unter-

5

Mit „the people, […] I mean this shifting set of social forces or social allegiances, which are described better in terms of people’s felt collectivity than in terms of external sociological factors […]“ (Fiske 1989: 23).

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schiedlichen und zuweilen nonkonformen Lebensformen und Subkulturen entwickeln. Durch den alltäglichen und differierenden Gebrauch kommerzieller Kultur stellen die Benutzer Sinn und Bedeutung einer abweichenden Populärkultur her, deren Interessen sich die Kulturindustrie zwangsläufig mehr oder weniger beugen muss. In der Entoffizialisierung und Enteignung für neue Zwecke wie z.B.in der vielfältigen Ver-Wendung durch Zitat, Parodie, Wiederaneignung und Wiederholung (wir kommen darauf zurück) eröffnen sich Potentiale widerständigen Handelns. In der ökonomischen Forschung wird die aktive Mitarbeit und Partizipation der Kunden seit längerem schon mit dem Begriff des prosumers in Verbindung gebracht, den Alvin Toffler 1980 in The Third Wave geprägt hat. Seit Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hat sich hierzu eine rasant wachsende Forschungs- und Publikationsaktivität entfaltet. Die Mit- oder Eigenarbeit schafft zum einen die Illusion, dass damit eine Art Mitbestimmung verbunden ist, zum anderen verstärkt sie die Identifikation mit dem Produkt und die resultierende Kundenbindung. Axel Bruns nun versucht, dieses Bild des Toffler’schen prosumers aus den Bedingungen der Massenmediengesellschaft zu lösen und den aktuellen Bedingungen der social media bzw. des Web 2.0 anzupassen: So scheint ihm der auf der Dreiteilung von Produktion, Distribution und Konsum (respektive Rezeption) basierende Toffler’sche Begriff nicht mehr zutreffend, wenn es um die Beschreibung jenes aktiven und kreativen Herstellers und Bearbeiters neuer Inhalte geht, wie er im Zeitalter dezentralisierter Mediennetzwerke in Projekten auf der Basis von Open-Source-Software zu finden ist. Diese neuartigen Produktionsprozesse bezeichnet Bruns produsage, worunter er „[t]he collaborative, iterative, and user-led production of content by participants in a hybrid user-producer, or produser role“ (Bruns 2006: 275) verstehen möchte. Dabei sei zu beachten, dass „the processes of produsage […] often massively distributed [sind], and not all participants are even aware of their contribution to produsage projects; their motivations may be mainly social or individual, and still their acts of participation can be harnessed as contributions to produsage.“ (Bruns 2008: o.S.)

Doch existiert diese Unterscheidung noch innerhalb eines, wie beschrieben, zirkulär angelegten produsage-Systems, in dem jeder user gleichzeitig Produzent, Distribuent und Rezipient sein kann? Wie – so die nächste Frage – muss ein solches System überhaupt aussehen, welche Eckpunkte müssen beachtet werden, bevor man ‚online‘ ‚public‘ geht? Junge Web-user entscheiden sich laut verschiedenen Untersuchungsergebnissen im Normalfall und je nach Interessensgebieten für einige wenige Plattformen respektive communities. Die Hürden, von einer Gemeinschaft in die nächste zu wechseln, liegen zwar niedrig, aber je öfter der Nutzer seine Wahl zugunsten einer Gemeinschaft trifft und je mehr er zu ihr beiträgt, desto stärker identifiziert er sich mit ihr, die ihm freilich auch stets

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die „Gelegenheit zur Selbstdarstellung“ sowie Möglichkeiten für die „Herstellung von Zugehörigkeit [… und zum] Durchspielen von möglichen Selbsten“ (Tillmann 2006: 47) liefert. Diese Bindung muss als wirtschaftliches Gut verstanden werden, denn sie lässt sich in Verbindlichkeit, sprich in Kaufverträge und damit in klingende Münze umsetzen. Dies vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Entanonymisierung der user im Netz.6 Die Nähe des users zum Objekt, sein Spiel mit der Applikation gilt als richtungsweisend für das Design der Social Media, denn dem weichen Programmieren gilt das Ausprobieren als Form der Arbeitsorganisation. Die produktiv angelegte Plattform YouTube fördert die ‚Kundenbindung‘ u.a. mit Hilfe einer sehr genauen (wenn auch nur in englischer Sprache verfasster) Anleitung7, entsprechenden Videoeditoren sowie der Möglichkeit, via Cloud-Computing Filme zu erstellen, ohne die eigene Festplatte über Gebühr zu belasten. Selbstverständlich können sich die user eigene Profile einrichten, sich mit Freunden und Gleichgesinnten verbinden, Kommentare und Bewertungen abgeben, Playlisten erstellen, an verschiedenen Blogs partizipieren (YouTube-Blog, Biz Blog, Creator’s Corner, CitizenTube oder API Blog) und sich mit anderen sozialen Plattformen wie Twitter oder Facebook direkt verlinken. Derartige Möglichkeiten und Objekte binden aber nicht nur an die Plattformen, sondern (ver-)binden auch die user aneinander, formieren neue Beziehungen und Bezugsetzungen etc. So entsteht ein System aus Objekten und Personen, aus Relationen zwischen Objekten, zwischen Personen und Objekten und Personen untereinander. Die systemzentriert produzierten Sozialitätstypen bestehen (vgl. Bouman/Hoogenboom/Jansen/Schoondorp/de Bruin/Huizing 2007) aus den verschiedenen Aspekten von

6

7

Das Ausprobieren hat sich jedoch zumindest im Bereich der Identitätsentwürfe seit den 1990er Jahren deutlich geändert, denn während die Cyberspace-Identitäten der 1990er Jahre bewusst auf reales Aussehen, Namen oder Geschlechtszuordnung verzichtet bzw. damit experimentiert haben, will der moderne user zumeist identifiziert und gefunden werden, er hinterlässt Spuren und managed sein Profil aktiv. Häufig lädt er unter seinem echten Namen Filme auf YouTube hoch, stellt seine Fotos in Flickr ein, knüpft Geschäftskontakte auf Xing, verwaltet seine Lesezeichen auf Mister Wong, bleibt mit Studienfreunden über Facebook in Verbindung und/oder sondert permanent Botschaften auf Twitter ab. Die Entanonymisierung in sozialen Netzen erhöht zwar zum einen die Garantierfähigkeit der Kommunikation, kommt aber gleichzeitig den kommerziellen Interessen der Betreiber zupass, die stets gerne wissen wollen, mit wem sie es zu tun haben. Vgl. Best Tools To Create Your Own Live Web TV – A Mini-Guide; http://www.masternewmedia.org/video_internet_television/live-videostreaming/ broadcast-yourself-live-with-video-streaming-20070424.htm#ixzz0yvNUAbLD (letzter Zugriff am 30.5.2011).

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• • • •

Praxis ermöglichen (d.h. kein bloßes Konsumieren, sondern aktives Mitgestalten), nachgeahmter Realität (d.h. gewohnte Routinen, keine neuen Konzepte, Interfaces oder Methoden), Identitätsbildung (d.h. jede Aktion soll identitätsbildende Spuren hinterlassen) und Selbstaktivierung (d.h. individueller Nutzen der user), die das charakteristische Zeigen-was-ich-gemacht-habe ermöglichen, das sich InSzene-Setzen im Spannungsfeld von Vernetzung und Datenschutz sowie von Kontrolle der Selbstdarstellung durch Regulierungsmechanismen.

Diese Aspekte ermöglichen – so die grundlegende Idee – ein ständiges Feedback, das mit seinen verschiedenen Rückkopplungs-mechanismen (w. z.B. steter Kontakt zu Freunden, zum Provider, open source-Software-Produkte, Vernetzungsmöglichkeiten mit anderen sozialen Medien) einen Kreislauf oder Loop stabilisiert und gleichzeitig am Leben erhält. Dabei müssen gleichzeitig eine größtmögliche Identität wie auch Abweichungsmöglichkeiten z.B. im Sinne von Weiterentwicklungen gewährleistet werden. Die verschiedenen Feedback- und Rückkopplungsmöglichkeiten auf Artefakt- wie auch auf persönlicher Profilebene bilden dabei fundamentale Bestandteile des Systems, die das wechselseitige Ineinandergreifen von sich gegenseitig beobachtenden und (re-)kalibrierenden Subjektivierungs- und Mediatisierungsprozessen regeln und regulieren. Was nun, so unsere Ausgangsfrage passiert, wenn in solchen, (zumindest vordergründig) auf Partizipation angelegten Systemen (beinahe) jeder Konsument auch Produzent sein kann, wenn sich die Zahl der als lead user beschriebenen aktiven Konsumenten massiv ausdehnt, wenn also zumindest potentiell jeder Nutzer aktiv an der Inhaltserstellung teilnehmen kann? Inwiefern – und Bruns spricht es an – geschieht dies bewusst und welche Folgen ergeben sich durch diese grundlegende Umordnung? Lässt sich am Beispiel der Verlagerung des Musikvideos ins Internet tatsächlich die häufig angepriesene Basisdemokratie dieser neuen produsage-Kultur nachweisen oder aber entpuppt sich der Medienwechsel als primär marketingträchtiges Re-Auratisierungsprogramm, das uns – mit den Worten Günther Anders – erneut zu „Heimarbeitern“8 degradiert?

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In seiner pessimistischen Medienkritik Die Antiquiertheit des Menschen bezeichnete Günther Anders den Fernsehzuschauer als „Heimarbeiter“ (Anders 1987: 103).

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M USIKVIDEOS

In den 1980er und 1990er Jahren präsentieren sich Musikvideos innovativ und subversiv inszeniert, was nicht zuletzt mit der von Felix Guattari beschriebenen deterritorialisierenden und kaum signifizierenden kulturellen Form der Musik zusammenhängt, die Bedeutungsstrukturen aufbricht und umformt (vgl. Guattari 1984). Ihre Fähigkeit, Emotionen zu wecken und unmittelbar zu befriedigen wird von der Musikvideobranche dabei von Anfang an und mehr oder weniger unkritisch an den Promotionszweck rückgebunden.9 Seit der Jahrtausendwende und den damit einhergegangenen Modifikationen im Musikfernsehen sowie der Abwanderung des Musikvideos ins Internet ist nun ein radikaler Wandel zu konstatieren, der nicht nur die materielle und ästhetische Produktion der Clips beeinflusst, sondern auch die Vermarktungsplattformen wie YouTube, Dailymotion bzw. die mit nur einem Klick zu leistende Einbindung der Clips in soziale Netzwerke wie Facebook, Myspace oder studiVZ etc. zur Diskussion stellt.10 Dabei spielt die Digitalisierung generell eine entscheidende Rolle, wobei zwischen der digitalen Bearbeitung oder Produktion einzelner Musikvideos und einer weiter greifenden Digitalisierung kultureller Techniken unterschieden werden muss, wie sie sich im Kontext der Verortung des Musikvideos im Internet zeigt: So geht es nicht allein um die auf ästhetischer Ebene zu analysierende explizite digitale Remediation, sondern um die mit der Deplatzierung der Musikvideos einhergehende grundlegend modifizierten kulturellen Produktions-, Distributions-, Rezeptionsprozesse und -bedingungen. Parallel zur Abwanderung des Musikvideos aus den gängigen Musikfernsehsendern wie MTV oder VIVA werden die Videos nun – wie bereits erwähnt – von entsprechenden Internetplattformen wie YouTube, Dailymotion, Myvideo, cliptip, ifmv, OurStage, Videos.antville.org, VideoStatic, Vimeo oder videocure.com abgerufen oder auf Online-Musiksendern wie tunespoon.tv (leider aktuell aus Zeitmangel offline), tape.tv, Deluxe Music, Sputnik7 mit drei Videostreams sowie einem Video-on-demand-Archiv,

9

Gleichzeitig warnt Lawrence Grossberg schon zu Beginn der Musikvideo-Ära vor dem „death of the rock culture“ und für den englischen Musikkritiker Biba Kopf markiert jeder Clip „eine Station jenes Kreuzwegs, an dessen Ende die Kreuzigung der gesamten Popmusik steht“ (Hoffman o.J.: o.S.). 10 Gründung YouTube 2005, Dailymotion 2005, Myvideo 2006, Musikfernsehen: DeluxeMusic 2005, bunch.tv 2005 (auch in Second life), motor.tv 2007, balcony.tv 2007, urban.tv 2007 (seit 2009 auch online), tape.tv 2008, sony BMG musicbox (2008); soziale Netzwerke wie Facebook 2004, studiVZ 2005, Myspace 2006 (Schwerpunkt Musik) u.v.m.

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MOG.tv oder PutPat angeschaut.11 Desweiteren bieten zahlreiche Fernsehsender Mediatheken mit mehr oder weniger guten Archivdiensten an.12 Hilfe bei der Suche bieten auch Seiten wie Findvideo, Clipland, Clipspion oder Popzoot, bei denen entsprechende Links gesammelt werden. Nahezu alle Portale ermöglichen das Zusammenstellen persönlicher Playlisten, natürlich kann, wer mag, die Musiksender auch per Videostream empfangen. Probleme ergeben sich jedoch aufgrund der unterschiedlichen Dateiformate sowie veralteter, ins Leere führende Links sowie die auf der Suche nach Musikvideos bei YouTube mittlerweile in der Mehrzahl angezeigten Fanremakes, Karaokeversionen oder mit dem Handy aufgezeichnete Konzertmitschnitte. Die neuen Konditionen des Musikvideos im Internet scheint – so der Zeit-Musikredakteur Jan Kühnemund – besonders Lady Gaga begriffen zu haben. So revolutioniere der unter der Regie von Jonas Åkerlund entstandene, zehnminütige Kurzfilm zur Single Telephone das Popgeschäft, indem z.B. die Musik vom Video entkoppelt werde und auf diese Weise die neuen Spielregeln des Internets bediene (Kühnemund 2010: o.S.). Letztlich aber haben wir diese vermeintliche Innovation mit unterschiedlichen Akzentsetzungen bereits in Michael Jacksons Thriller (1996) oder auch in der kongenialen Zusammenarbeit zwischen Chris Cunningham und Aphex Twin bei Come to Daddy (1997) und Windowlicker (1999) erlebt. Und seit R Kellys 20minütiger „first rap opera“ Coming Out Of The Closet ist der TelephoneClip zumindest längentechnisch irrelevant. Doch, so der Redakteur, verstehe die neue Diva des Pop die „Funktionsweisen des Web 2.0 besser […] als die meisten“ (Kühnemund 2010: o.S.), komponiere sie doch ihre Clips im Hinblick auf die Größe des YouTube-Fensterchens oder der Handy-Displays, indem sie Details einen größeren Bildanteil zugestehe und die Möglichkeiten des Spiels mit der Unschärfe ästhetisch gezielt einsetze. Tatsächlich aber – so auch Kühnemund – erfülle das zitierte Video letztlich nur die Konvention, unkonventionell und vor allem skandalträchtig zu sein. Scheint nun für manche Kritiker wie auch Fans das Ende des Musikvideos vorprogrammiert (bzw. bereits eingetreten), so feiern andere seine digitale (Wieder-)Auferstehung im Rettermedium Internet und loben das von Manovich beschriebene „Weich-Werden“ der Medien als „neue […], punkige […] Form“ (Gosejohann 2009: 53):

11 Unter http://www.3w-tv.com/html/musik___videos.html (letzter Zugriff am 30.5.2011) findet man ein Verzeichnis für Musikfernsehen, Musikvideos und Musik-TV. 12 Sammlungen finden sich auch unter: Stylus Magazine – Top 100 Music Videos of All Time, DoCopenhagen: Top 50 Music Videos Of 2005, DoCopenhagen: Top 50 Music Videos Of 2006, Pitchfork Feature: 100 Awesome Music Videos. Mit hilfreichen Informationen dienen Musikvideoblogs wie videos.antville.org oder auch nicorola loves music videos, vgl. http://nicorola.tumblr.com/ (letzter Zugriff am 30.5.2011).

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„Hier [im Internet, B.O.] wird eine neue Art von Kunst geschaffen, irgendwo einzuordnen zwischen Kurzfilm, Experiment und Parodie. Gruppen wie ICKE & ER oder MUSHFILO geben alle pseudoharten Gangsterrapper mit ihrem grandiosen Song/ Clip Fi**en, Geld, Drogen, Nutten der Lächerlichkeit preis.“ (Gosejohann 2009: 53)13

Ganz nebenbei avancieren in diesem Umfeld Laienmusiker wie ICKE & ER zu Rockstars mit ausverkauften Tourneen, und tatsächlich wurde ihr Track Richtig geil (2007) mehrere zehntausend Male heruntergeladen.14 Den sog. Selfmade-Look verwenden freilich auch bereits bekannte Bands, und das ausgesprochen ‚stylish‘ hausgemachte Video für Ok Go Here it goes again (2006) gilt als Meilenstein dieser Entwicklung. Es wurde über 31.000.000 Mal auf YouTube abgespielt und konnte zahlreiche Preise gewinnen.15 Die Band selbst darf im Übrigen – so Alex Leavitt – als hervorragendes Marketingbeispiel für die aus der Abwanderung des Musikvideos vom Fernsehen ins Internet resultierenden neuen Formen des Clips wie auch der Band selbst gelten. Dabei geht es zum einen um die Betonung von Design und Imagination, zum anderen jedoch um die geschickte Platzierung mehrfacher Ankündigungen des Videos bzw. Interviews zum Making-Off (wie z.B. im Falle des Videos zum Song This too shall pass16) in unterschiedlichen Medien. Während der Look des zuletzt genannten Videos bewusst (und z.T. äußerst aufwendig) inszeniert wird, versuchen Icke & Er hingegen mit geringstmöglichem Kostenaufwand klassische Rappervideos mit Wackelkamera, Ghettoblaster, leeren Straßenzügen, bettle Wirth the Camara und Kapuzenpullis darzustellen. Marketingexperten schreiben den unerwarteten

13 Desweiteren prognostiziert Gosejohann im gleichen Artikel, dass es in „nicht allzu ferner Zukunft […] mit Sicherheit die ersten YouTube-Classics-Filmtage geben“ (ebd.) wird. 14 ICKE & ER: Richtig geil (2007). Seit einiger Zeit ist dieses Video aus rechtlichen Gründen nicht mehr unter YouTube einsehbar, bei Myvideo oder auch Dailymotion hingegen kann es weiterhin betrachtet werden (z.B. http://www. myvideo.de/watch/5521527/Icke_Er_Richtig_geil [letzter Zugriff am 30.5.2011]). 15 Dies galt bereits für das 1998 von Spike Jonze produzierte Video zu Fatboy Slims Praise you, das sich vom anfänglichen Außenseiter mit hausgemachthandwerklichen Stil zu einem richtungsweisenden Trend entwickelte, wie er sich u.a. auch im Photo-to-Movie-Video zum Song Reklamation (2003) von Wir sind Helden zeigt, vgl. http://www.youtube.com/watch?v=jJ03IjzY2m8 (letzter Zugriff am 30.12.2010). 16 URL: http://www.youtube.com/watch?v=qybUFnY7Y8w&feature=player _embe dded (letzter Zugriff am 31.5.2011).

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und kaum zu kalkulierenden Erfolg17 dem sog. „viralen Marketing“ (Roder 2007: o.S) zu, das mit Hilfe der aufmerksamkeitssteigernden Möglichkeiten sozialer Netzwerke und Medien neue Helden erschafft, wie dies auch der Grupp Tekin widerfahren ist, deren selbstgedrehtes und bei YouTube eingestelltes Video zum Song Wo bist du mein Sonnenlicht? binnen kurzer Zeit Kultstatus erreichte und den jungen Männern kurzzeitig sogar einen Plattenvertrag bei Universal einbrachte.18 Tatsächlich begrüßen die Plattenfirmen jene sog. ‚citizen Directors‘ als willkommene Multikplikatoren: „Ob Live-Mitschnitt, Antwort-Version oder Collagen mit anderen Videos – solange diese Clips online gestreamt werden und unsere Künstler damit im Gespräch gehalten werden, ist dies ein Zeichen guter PR.“ (Haaksman 2006: 42)

Unter diesen Aspekten handelte es sich tatsächlich um eine „verkürzte und sentimentale Sichtweise“ (Steinweg 2006: o.S), vom Verschwinden des Musikvideos zu sprechen: Heutzutage – so der Zeit-Redakteur Bernhard Steinweg – sei Popmusik ein Gebrauchsartikel und spiegele sich in unterschiedlichen Hör- (und Seh-!)-Gewohnheiten sowie verschiedenartigem Musikkonsum wider, und derjenige, der auf den richtigen Plattformen oder in Musikvideoarchiven von Yahoo, Rhapsody oder MTV sucht, kann so gut wie jeden Clip und vor allem zu jeder Zeit und – je nach Mobilität des Gerätes – an jedem Ort sehen und hören. „Web 2.0 macht’s möglich“ (Anonym 2007: 16), lautet denn auch die hoffnungsfrohe Botschaft der Popkomm, und tatsächlich scheint die sog. „digitale Akne“ der Sache der Musikvideos kaum Abbruch zu tun, sind doch zahlreiche der im Netz kursierenden Clips gar nicht erst für das offizielle Musikfernsehen konzipiert worden. Auf diese Weise entstand eine bislang unbekannte künstlerische Freiheit, die durch das Entfallen der Formatvorschriften und Zensurmassnahmen des Musikfernsehens neue kreative Potentiale freisetzen sollte. Doch auch wenn der Ortswechsel des Musikvideos nicht zu dessen Ende führt, darf er nicht als einfache lokale Verlagerung begriffen werden; vielmehr zeigt sich, dass das Dispositiv Internet dem traditionell für das Musikfernsehen produzierten sowie mittels des gleichen Mediums distribuierten und rezipierten Musikvideo entscheidende neue Impulse gibt und einen – Enthusiasten zufolge – kreativen Umgang der Fans respektive produser mit den Clips erzeugt. Einer der innovativen Aspekte lässt sich unter dem Stich-

17 Jener bescherte dem Berliner Duo zahlreiche Presseartikel und Fernsehbeiträge, obwohl bis Ende Oktober 2006 noch nicht einmal eine Single veröffentlicht wurde. 18 Die Originalversion des Videos ist nur noch als Aufruf zum Wettbewerb zu sehen (http://www.youtube.com/watch?v=Y02VCBvZPlw [letzter Zugriff am 30.5.2011], daneben existiert eine offizielle Studioversion. (http://www.youtube. com/watch?v=Mue6Vc_T9Ds&feature=related [letzter Zugriff am 30.5.2011]) sowie zahlreiche Parodien unterschiedlicher Qualität und Provenienz.

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wort Interaktivität verzeichnen, die – wir kommen darauf zurück – nach François Fluckiger in vier Anpassungsgrade unterteilt werden kann (Fluckiger 1996: 69): Erstens kann der user den Zeitpunkt des Betrachtens frei wählen, zweitens kann er den Ablauf des Videos bestimmen, drittens kann er die Geschwindigkeit der Wiedergabe beeinflussen und zuletzt kann der produser auch die Form des Videos manipulieren (vgl. Konrad 2007). Die Idee eines solcherart freien und kreativen produser basiert auf einer offenen Akteur-Netzwerk-Struktur, die – wie bereits zu Beginn erwähnt – die Reziprozität des Beziehungsgeflechts zwischen einzelnen Akteuren fördert und die ehemaligen Disziplinen-, Medien- und Marktgrenzen zwischen Regisseur, Designer, Musiker und Multimediaautor, zwischen Kino, Musik, Web, Animation und Computerspielen wie auch zwischen Produktion, Distribution und Konsum/Rezeption auflöst. In diesem Zuge stellt die Plattform YouTube seit kurzem einen Editor zur Verfügung, mittels dessen die Filme auf dem Portal selbst bearbeitet werden können, und gerät so selbst – wie eine Artikelüberschrift in der Süddeutschen Zeitung feststellt – „zum Schneideraum“ (Anonym 2010: o.S.). Der Vorteil liegt u.a. darin, dass die user keine leistungsstarken Heimrechner besitzen müssen, da die Rechenvorgänge selbst – nach dem Prinzip des Cloud-Computing – auf Google-Rechnern stattfinden. In welchem Masse diese Möglichkeiten neue Varianten des Musikvideos zeitigen, soll anhand von fünf, z.T. selbst konvergierenden Varianten (Re-use, Videomods- und –mashes, Freizeit-Experiment, CastingKultur und Interaktive Musikvideos) aufgezeigt werden. Re-use In der ständig wiederholenden und zitierenden Praxis, mit Hilfe derer herrschende Diskurse parodiert und durchkreuzt werden, zeigt sich die mediale Performativität der Internetvideos: Ein Beispiel stellt das Video der 22jährigen Tasha aus Israel dar, die zusammen mit Freunden in einer Privatwohnung ein Webcam-Video zum Song Hey der Rockband Pixies erstellt hat.19 Dabei zitieren sie gängige Gesten und Bewegungen von Rockmusikern, imitieren das Spiel mit rhythmischem Schnitt und wechselnder Kameraperspektive sowie deren Wiederholung in zahlreichen Selfmade-Videos.

19 Pixies: Hey, performt und upgeloaded von Tasha & friends (http://www.youtube. com/watch?v=-_CSo1gOd48, 2005). Weitere Videos zum gleichen Song: Am 1. März 2007 hat der user eebroadcast ein Video upgeloaded, das dem Song Bilder aus Musikvideos der Gruppe Enigma unterlegt (http://www.youtube.com/watch? v=PIkWJZf33UY), während Tom Winkler eine Liveversion des Songs, performt am 6.10.2006 in der Brixton Academy auf besondere Weise visualisiert (http:// www.youtube.com/watch?v=x8-RK6Myloo) und Tom Gannon zum gleichen Song ein Animationsvideo erstellt hat (10. Februar 2008, http://www.youtube. com/watch?v=AF7Smvg1eHQ&feature=related) [letzte Zugriffe am 30.5.2011]).

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Fast elf Millionen Menschen haben den Clip bisher gesehen. Deutlich professionellere Videos zum Song konnten keine solche Zuschauermenge anziehen. Ein anderes Beispiel stellt das von Chris Cunningham für den Song Sheena is a parasite der Gruppe The Horrors produzierte Musik-KunstVideo, das in zahlreichen Selfmade-Varianten wiederkehrt.20 Diese „classic new wave music video[s]“ (Peters/Seier 2009: 191) lieferten – so die Autorinnen – potentielle medienbasierte Selbstreferentialität: Die (Lebens-)Aufzeichnungen profitierten vom Medium als Distanznahmemöglichkeit, mittels derer die Beziehung zu sich selbst reflektierbar gemacht werde.21 Im Kontext einer Ökonomisierung des Sozialen werden so subjektivitätsbildende Mediationsprozesse beschrieben und beschreibbar, „that turn […] the self into an infinite project involving strategies of optimization and revision, thus motivating comparisons of achievement and constant self-observation“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000). Die Relationen zwischen Selbstpraktiken und Medienapparaten konstituieren Subjektivität in Form von Automedialitätsprozessen, wie Jörg Dünne und Christian Moser die Intersektion von Subjektivierungs- und Mediatisierungsprozessen bezeichnet haben (vgl. Dünne/Moser 2008). Dabei spielen Verfahren wie Re-use, Re-enactment, Remediation und, darüber hinausgehend, die Konvergenz medialer, sozialer und ökonomischer Strategien eine wesentliche Rolle. Gleichzeitig werden diese Videos von MTV oder der Werbung wiederaufgegriffen oder re-used und generieren auf diese Weise ein Archiv von Posen und Formaten, das die Ähnlichkeit der Selfmade-Videos untereinander erklären mag. Gleichzeitig zeigt sich ein gänzlich neuer Aspekt von Kanonisierung als ständige Verhandlung, wie er im YouTube-eigenen Starsystem generiert wird, dessen unternehmerische Selbste im Kontext zirkulärer Strukturen von Produktion, Rezeption und Distribution (mit oder ohne Kommentierung) entstehen und vergehen, um wiederaufzuerstehen. Dass die Recyclingkultur auf professioneller Seite wiederkehrt zeigt sich u.a. an einem spektakulären Musikvideo der japanischen Band Sour.22 Ihr aus Webcam-Filmen der Fans zusammengestellter Clip zum Song Hibi no neiro (2009) kommt anfänglich tatsächlich wie ein Amateurprojekt daher,

20 Das Originalvideo zu The Horrors: Sheena is a parasite stammt von Chris Cunningham (2006) (http://www.youtube.com/watch?v= fgTJWwGhCM). Eine erste Parodie des users aherdofwrens findet sich 2007 im Netz (http://www.youtube. com/watch?v=pjx3DB5NOo4), es folgen, ebenfalls in 2007, whatawish (http:// www.youtube.com/watch?v=jV0 mwK9-X2w) sowie dalitostroke ein Jahr später (http://www.youtube. com/watch?v=s1aWM2eBKWE [letzter Zugriff auf alle drei Videos 30.5.2011]). 21 „Various technical apparatuses – from the quill to the webcam – place the self at a distance and at the same time bridge that distance to the extent that make it accessible and accessible for alteration.“ (Peters/Seier 2009: 187) 22 Sour: Hibi no neiro (2009), http://www.youtube.com/watch?v= WfBlUQguvyw (letzter Zugriff am 30.5.2011).

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beweist jedoch mit der hervorragenden Umsetzung innovativer optischer Ideen die Professionalität seiner vier Regisseure und wurde nach einer Woche auf YouTube bereits 200.000 Mal abgerufen.

V IDEOMODS

UND - MASHES

Unterstützt wurde das neue Konzept der Musikvideos im Internet u.a. durch eine große Anzahl gemashter oder gemoddeter Videos, die mit kostenlos bereitgestellter Software oder Computerspiele-engines produziert wurden:23 „It’s like the Sims are a band and they want to do a video“, so MTV2 Produzent Alex Coletti.24 Der Auftrag von MTV2, die neuartigen Videomods zu kreieren, ging an das Animationsteam von Big Bear Entertainment (BBE).25 Trotz kostenaufwendiger Produktion bleibt heute nur zu konstatieren, dass eine Reihe von Features der Videomods-Seite auf MTV einschließlich fast aller Videos für deutsche user gesperrt sind.26 Letztlich aber ist das nicht so tragisch, denn das Projekt wurde bereits ein knappes Jahr nach der ersten Ausstrahlung im September 2004 wieder eingestellt. Der willige user freilich findet eine Reihe von Video-Mods auf YouTube, davon zahlreiche mit dem explizitem Hinweis versehen: „MTV2, sorry, but on YouTube is more easy to watch!“ Eine andere kreative Art, Musikvideos zu zitieren respektive zu recyceln, stellt die große Gruppe der Mashups dar, die verschiedene Daten miteinander vermischen. Ein gelungenes Beispiel stellt z.B. die Kombination des Songs Perfect Kiss der Gruppe New Order mit Simian vs Justices Song We are your friends unter dem Mashup-Titel We Are Your Perfect Kiss von

23 An dieser Stelle seien nur zwei Beispiele genannt: 1) Ein Videomod zu Evanescences Bring me to life des users obiron aus dem Jahr 2006, erstellt auf der Basis des Spiels Tribes: Vengeance sowie NVidea-Demo-Charakteren. Das Originalvideo stammt von Philipp Stölz (2003). 2) Ein Videomod zu dem Song Mr Brightside von The Killers auf der Basis von lineage 2 animation-Software, daneben das Originalvideo von Musikvideospezialistin Sophie Müller (2006). Zu dieser Gruppe zählen übrigens auch die hier vernachlässigten Machinima-Videos, mithin Clips, die die Techniken des Films mit denjenigen der ComputerAnimation und des Computerspiel-Designs verbinden. 24 Coletti, zit. nach Greenwald 2005, mit einer Anleitung zur Erstellung von Videomods versehen auf http://www.wired.com/wired/archive/13.07/ videomods. html (letzter Zugriff am 30.5.2011). 25 Vgl. auch http://www.nvidia.de/object/big_bear_success_de.html (letzter Zugriff am: 30.5.2011). 26 Vgl. eine Liste mit Videomods unter http://www.mtv.com/ontv/dyn/video_mods/ videos.jhtml (letzter Zugriff: 30.5.2011, die jedoch nahezu alle für deutsche Users leider nicht verfügbar sind.

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Opera Dog Mix dar.27 Der Begriff selbst entstammt ursprünglich dem Musikbereich und bedeutet soviel wie Remix, was auch das bereits erwähnte Verfahren der deep remixability bei Lev Manovich erhellt. In Deutschland taucht der Begriff Mashup vornehmlich im Kontext des Web 2.0 auf und verweist auf die innovative nahtlose Re-Kombination von Texten, Daten, Bildern, Tönen oder Videos, wozu z.T. auf offene Programmierschnittstellen (APIs) anderer Webanwendungen wie FlickR, MaxMind oder Google Maps zurückgegriffen wird, wie dies das von Thorsten Konrad im Rahmen seiner Diplomarbeit an der Hochschule für Künste in Bremen konzipierte interaktive Musikvideo Take this dance and forget my name der Bruchsaler Punkrockband AllJoines demonstriert: Der Hamburger Trendforscher Nils Müller – so die zum Projekt Thorsten Konrads zugehörige Webseite – begreift die Arbeit als „wegweisend für zukünftige interaktive Videoclips“: Während das Intro geladen wird, liest im Hintergrund ein Skript die IP-Adresse des Rezipienten aus und sendet diese automatisch an einen US-amerikanischen Anbieter, der ebenfalls über die IP-Adresse den Einwahlort des Rezipienten erfährt. Dieser wird dann an verschiedene offene Datenquellen, wie beispielsweise Google und Flickr, geschickt. Von dort werden Bilder und Nachrichten mit regionalem Bezug zu den Rezipienten zurückgeschickt, was diesen ein jeweils eigenes personalisiertes Musikvideo präsentiert. Die „Grundidee“ besteht letztlich darin, „offene Datenquellen in einer […] ästhetischen und narrativen Form zu nutzen, um so in einen Dialog mit dem Betrachter zu treten“, wie die produser konstatieren.28 Freizeit-Experiment Die Gruppe Radiohead zeichnet sich auch im Bereich der Musikvideos einmal mehr durch ihre kreative Herangehensweise aus und stellt ihr außergewöhnliches Video zu House of Cards (2008), das von Aaron Koblin (technischer Direktor) und James Frost ohne Kamera und Licht, sondern statt dessen mit Hilfe zweier neuer IT-Verfahren produziert wurde, die das Licht durch Laserscans so einfangen, dass detaillierte 3D-Darstellungen von aufgezeichneten Objekten und der umliegenden Umgebung wiedergegeben werden können: „Solche neuen Wege der Datenvisualisierung, die fernab von traditionellen Mustern liegen, interessieren uns sehr“ (Overbeck, zit. nach PTE 2008: o. S.), so Kay Overbeck, Sprecher von Google Nordeuropa, auf dessen Plattform das Video selbst wie auch den Film zum Making Off-

27 Das Video findet sich unter http://www.youtube.com/watch?v=-mQr4bbD3dk (letzter Zugriff am 30.5.2011). Erstellt wurde es von user operadogpro, der es am 8.12.2007 auf YouTube hochgeladen hat. 28 Die Zitate sind dem Pressroom entnommen (http://www.takethisdance.com/ press/index.html), das Video selbst findet sich unter: www.takethisdance.com (letzter Zugriff am 30.5.2011).

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Video sowie entsprechende Anweisungen zur Nutzung der ebenfalls kostenlos downloadbaren Visualisierungssoftware präsentiert wird. Der innovative Aspekt ist nicht von der Hand zu weisen, die marketingträchtige Aufforderung an die user, eigene Videos zu kreieren,29 schafft gleichzeitig eine Kundenbindung, die die (vordergründige) Identifikation mit der Band, letztlich aber auch diejenige mit Google fördert. Die mittlerweile 94, zum Teil erstaunlich guten Ergebnisse können unter der angegebenen Webseite der auf 501 Personen angewachsenen Radiohead-Gruppe eingesehen werden.30 Sieht man sich manche der user-videos an so drängt sich der Begriff des „Crowdsourcing“ der Wired-Autoren Jeff Howe und Mark Robinson auf (2006), die die basisdemokratische Arbeitsteilung auf freiwilliger Basis beschreiben: „Crowdsourcing [nutzt] die Weisheit der Masse, indem zu lösende Problemstellungen an Freizeitarbeiter im Internet abgegeben werden.“31 Das Prinzip ist ebenso einfach wie faszinierend und besteht darin, komplexe Aufgaben in Teilaufgaben zu zerlegen, von digital vernetzten Gruppen unabhängig von Ort und Zeit lösen zu lassen und die Ergebnisse zum Schluss wieder zusammenzufügen. Ob diese komplexen Aufgaben nun in konkreten technischen Lösungen liegen oder auf Kommunikations- und Marketingebene, scheint letztlich gleichgültig. Wie der CEO Chad Hurley von YouTube auf dem World Economic Forum 2007 bekanntgegeben hat, will sein Unternehmen künftig user oder produser, also „the people formally known as the audience“ (Rosen 2006: o.S.), die eigene Videos auf YouTube einstellen, an den Einnahmen durch diese Videos beteiligen (Weiß 2007: o.S.). Diese innovative Idee jedoch wurde schon 2008 abgelöst von der Diskussion über den Rechtestreit zwischen YouTube und Warner Music, der sich auch auf selbstgedrehte Videos auswirkte, da zahlreiche Aufnahmen von nachgesungenen Warner-Liedern von der YouTube-Plattform entfernt werden mussten: „Wir sowie unsere Künstler teilen die Frustration der Nutzer darüber, wenn Inhalte gesperrt werden. YouTube generiert Umsätze über von Usern gepostete Inhalte, die in der Regel Lizenzen seitens der Rechteinhaber bedürfen“ (PTE 2009: o.J.), so Will Tanous, Sprecher von Warner

29 „If you manage to create a data visualization that you’d wish to share, the band would love to see it. You can share your videos on the House of Cards YouTube group.“ (http://code.google.com/intl/de-DE/creative/radiohead/ [letzter Zugriff am 30.5.2011]). Das Video war 2009 für den Grammy (Best Short Form Music Video), in England für das beste Rock Video (Best Rock Video) nominiert und wurde mit einem Preis des British Design Museum Awards versehen. 30 URL: http://www.youtube.com/group/houseofcards (letzter Zugriff am 30.12.2010). 31 Vgl. Stauch (2008). Es handelt sich um eine theoretische Diplomarbeit, die im August 2008 im Fachgebiet Produktdesign an der Kunsthochschule BerlinWeißensee angefertigt wurde. Sie ist online einzusehen unter: http://goldpro dukt.de/individualized/wp-content/uploads/2008/09/kreative-entfesselung_susannestauch.pdf (letzter Zugriff am 30.12.2010).

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Music. Für YouTube ist dies durchaus problematisch, sind doch die professionellen Musikvideos einer der am häufigsten genutzten Bereiche auf der Plattform. Casting-Kultur Mit der expliziten Aufforderung zur aktiven Partizipation produzierte die britische Plattenfirma EMI das Musikvideo zur neuen Singleauskopplung Something beautiful von Robbie Williams, das einen Wettbewerb zeigt, bei dem Fans für den Titel des besten Robbie-Imitators antreten. Da per SMS gewählt wurde, sind es letztlich die Fans selbst, die sowohl den Imitator als auch das endgültige Ende bestimmen.32 Als Grund für diese einer RealityShow ähnelnden Produktion gab man an, dass Robbie Williams selbst zu beschäftigt gewesen war, um das Video zu produzieren.33 Interaktivität Von der Brisanz des Themas Musikfernsehen im Internet im allgemeinen und dem nun offensichtlich ökonomischen und weniger basisdemokratischem Interesse professioneller Produzenten zeugt auch die Allianz der MTViGroup mit den fünf großen Musiklabels sowie das von AOL Time Warner und VIVA in Deutschland großangelegte Joint Venture bezüglich der Onlinepräsenz viva.tv und des zweiten Fernsehkanals Viva+.34 Unter dem Titel „MTV Pushes Interactive Limits“ (Garcia 1999: o.S.) beschreibt Sandra Garcia die interaktive Experimentierfreude beim New Yorker MTVSender: Die digitale Revolution sei in vollem Gange, und das Online-Team MTV.com verschiebe die Grenzen des Mediums immer weiter. Für den MTV Video Music Awards (VMA) wurden 21 Musikvideoregisseure (darunter auch solch namhafte Vertreter wie Hype Williams, Michel Gondry oder Floria Sigismondi) mit führenden Digitaldesignern zusammengebracht, um eine interaktive Galerie digitaler Kurzfilme – music digitals oder digital shorts – zu erstellen, die die verschiedenen Kategorien des VMA repräsentieren sollten. Darüber hinaus wurden einige Webeos – d.h. „full length, interactive online music video[s]“ – produziert35, für die Kim I. Morgan, Senior Produ-

32 Version 1 endet mit der Aufforderung zu Wahl, die zweite mit dem Treffen zwischen RB und einem der Finalisten an einer Bushaltestelle. 33 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=3gcXFQNeOMY (letzter Zugriff am 31.12.09). 34 Auch Deutschland, so konstatiert H. Poganatz, spüre den Wandel, das Web gerate durch kurze Trickfilme oder animierte Werbeclips immer mehr in Bewegung (Poganatz 2000: o.S.). 35 Leider ist die Seite http://hyperphonic.com/webeos/ (letzter Zugriff am 03.07.09) aktuell nicht mehr verfügbar.

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cer bei MTV, Stars wie Busta Rhymes, Moby oder Björk mit entsprechend exzellenten Regisseuren und Digitaldesignern zusammenbrachte, um so einen ‚uniquely savory approach to interactivity‘ zu garantieren.36 Doch tatsächlich ist der Grad an Interaktivität hier durchaus begrenzt, während die Zuschauer des Björk-Webeos I’ve seen it all unter der Regie von Floria Sigismondi auf Text- und Tonebene eingreifen können, beschränken sich die anderen beiden Beispiele, Busta Rhymes’ Make Noise und Mobys Porcelain auf Collage, Audiovariationen oder Animation. Wie bereits mehrfach erwähnt, lassen sich von diesen ambitionierten Projekten zu Beginn des dritten Jahrtausends kaum noch Hinweise im Netz finden und wenn, dann sind die Links zumeist nicht mehr funktionstüchtig.37 Ein neues ökonomisches Partizipationslevel38 eröffnet Ja Rules „multiple internet video“ 6 feet Underground, das als Resultat eines Vertrages zwischen Digital HipHop und Island Def Jam Music Group entstanden ist, verweist direkt auf das dahinterstehende Marketingkonzept: Auf mehr als dreihundert Seiten (inklusive VH-1, Yahoo!, Warner Bros. On-line, Roadrunner, USA Networks und Lycos) distribuiert, fordert die animierte 3D-interaktive online-Musik Besucher dazu auf, Objekte zu lokalisieren und auf diese Weise verschiedene Merchandise-Gegenstände zu gewinnen oder aber käuflich zu erwerben. Das nur für das Internet produzierte Video Nicotine & Gravy (2000) von Beck führt mit dem letzten Bild direkt in den e-commerce-shop auf des Sängers Website: „Just another hyper kinetic MTV offering“ (Mirapaul 2000: o.S.) oder spielerische Rückkehr zu den kommerziellen Ursprüngen des Musikvideos? Aber können die Grenzen zwischen Kunst, Kommerz, Werbung, Spiel, Video, Kurzfilm etc. im multiple internet video überhaupt noch reklamiert werden? Das e-mercial für den Mercedes GLK kommt als interaktiv einzulösendes Versprechen daher, dass der „user […] sich während der Fahrt im Musikvideo seinen Lieblings-GLK selbst zusammenstellen“39 kann, der neue interaktive Frühjahr-Sommer-Katalog 2010 der Modefirma Diesel überschreitet die Grenzen zwischen Musikpromotion (Josep Xorto), Werbefilm und online-Shopping.40

36 Leider ist auch diese Seite mit der Rede Kim I. Morangs, Senior Producer bei MTVN Digital/MTV.com von 1998-2001, nicht mehr verfügbar. (http://www. kimimorgan.com/mtv_digital.html# [letzter Zugriff am 03.07.09]) 37 So z.B. auch http://www.hyperphonic.com/webeos/ (letzter Zugriff am 03.07.09), auf der sich die angesprochenen Webeos befanden. 38 Für Digital HipHop ergab sich so eine Kombination mit Brilliant Digital, die sie auf einem „new level of participation“ direkt in das „center of young american culture“ befördern und die Zukunft für Musikprogrammierung im Netz darstellen sollte. 39 Vgl. Daimlers euphorische Pressemeldung unter: http://media.daimler.com/ dcmedia/0-921-1097729-49-1082771-1-0-0-0-0-0-11694-854934-0-1-0-0-0-0-0. html (letzter Zugriff am 31.12.09), Herv. B.O. 40 Einzusehen unter: www.diesel.com/ahundredlovers (letzter Zugriff am 31.12.09).

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Während sich die von Fluckiger prognostizierte Interaktivität und Beteiligung des produsers im Falle des Mercedes-Spots auf die freilich limitierte individuelle Ausgestaltung seines neuen Fahrzeuges beschränkt, rühmt sich das angeblich erste interaktive Musikvideo Neuruppin von KIZ, produziert von der Bremer Agentur Kubikfoto, explizit damit, „ganz bewusst Grenzen“ zu überschreiten.41 Damit sind zum einen medialen Grenzen zwischen Musikvideo und Computerspiel gemeint, zum anderen aber auch Tabugrenzen in Bezug auf Gewalt und Sexualität. Gleichwohl hält sich die hier vorgestellte Interaktivität doch an das vergleichsweise enge Ziel des Spieles, die Bandmitglieder im Video aufzufinden. Die Musik hingegen ist nicht zu manipulieren. Dies jedoch kann man im interaktiven Musikvideo der Gruppe Cold War Kids zu ihrem Track I’ve seen enough aus dem Jahr 2009, bei dem man selbst die Instrumentierung des Songs bzw. die Zusammensetzung der Instrumente bestimmen darf. Nur wenige Monate zuvor wurde das interaktive Musikvideo für den Song Dark Bubbles (2009) der Gruppe Black Moth Super Rainbow von der Firma Radical Friend fertiggestellt. Es dauerte drei Monate und eine Mischung aus bewegungssensitiver Technologie, Zeitrafferfotografie, Livematerial und Animationstechnik. Der gleichen Talentschmiede für interaktive Musikvideos entstammt auch der 2008 fertiggestellte Clip zum Song Black Mirror der Gruppe The Arcade Fire, den man mit Hilfe der Tasten 1-6 manipulieren kann. Das technisch weniger anspruchsvoll spanische Musikvideo Pintando una Canción von Labuat lädt zum gemeinsamen Singen und Malen ein42, wobei der Zuhörer/-schauer per Mausbewegung die Visualisierung der Musik (wenn auch in geringem Masse!) beeinflussen kann.43

C ONCLUSIO „I believe that this creative re-use, re-expression, and re-contextualization of culture using digital technology to be an important skill […]. It is an expression of a medialiterate citizenry that has grown up with a medium that is not top-down, consumer-

41 Vgl. http://www.kiz-neuruppin.de/, Weitere interaktive Clips finden sich z.B. unter: http://www.getinteractive.tv/getinteractive/?adid=20089915185684& pid= 37&skid=1&if=0# (letzte Zugriffe am 31.12.09). 42 Vgl. http://soytuaire.labuat.com/ (letzter Zugriff am 31.12.09). Offensichtlich sind diese und andere interaktive, spielerische Musikvideos im Bereich der Musikpädagogik schon länger beheimatet, wie mir die Musikwissenschaftlerin Elena Ungeheuer (Berlin) dankenswerterweise mitteilte. 43 Bei genauem Hinsehen fällt die Ähnlichkeit Brendan Croskerry’s Me and Miss Rand auf: Vermutlich nutzen beide Videos das gleiche construction kit für animierte Vektorclips.

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centric, or one-way, like television or radio. It is a two-way, participatory, interactive medium. Websites like Wikipedia and YouTube, and creative audiovisual works that combine or „mash up“ the media landscape, are examples of the kind of democratic discourse we ought to celebrate in today’s youth. But our laws criminalize and prevent it. Whether or not you agree with my position on copyright reform, I think all parties should know that there is an economic argument for reform in copyright, and in particular, in fair dealing. “ (Gaylor 2010)44

Tatsächlich geht es nicht mehr (nur) um das mit Begriffen wie remediation, hypermediacy (vgl. Bolter, Grusin 2000) oder „Hybridität“ (Bolter 2009) zu beschreibende explizite mediale re-entry, und auch die häufig zitierte „cultural cannibalization“ (Berland 1993: 37), mithin das als musikvideospezifischen „Umgang mit anderen Kulturen“ zu verstehende „gegenseitige […] Sichaufessen, Ausscheiden, Koprophagieren“ (Kollektiv blutende Schwertlilie 1987: 242f) vermag zwar die kulturell-ästhetische, nicht aber die technologische Dimension zu fassen. Hier scheint das Manovich’sche Konzept der deep-remixability im Sinne eines ‚Weichwerdens‘ der Mediengrenzen wie auch der kulturellen Techniken als bewusst heterogenes Recycling kultureller Produktions-, Distributions- und Rezeptionstechniken in einem Hyper-Apparatur oder Metamedium besser zu greifen: „This logic is one of remixability: not only of the content of different media or simply their aesthetics, but their fundamental techniques, working methods, languages, and assumptions. United within the common software environment, cinematography, animation, computer animation, special effects, graphic design, and typography have come to form a new metamedium.“ (Manovich 2005-2006: o.S.)

Winfried Gerling beschreibt den gleichen Aspekt folgendermaßen: Alle Elemente folgen den Gesetzen der Digitalität, deren zentrales Prinzip in der „wechselseitige[n] mathematische[n] Beeinflussbarkeit der zusammengeführten Medien“ (Gerling 2005: o.S.)45 liege. Tatsächlich galt schon im künstlerischen Einsatz das Medium Video als „mehrdimensionale Schnittstelle zwischen herkömmlicher und zukünftiger Bilderproduktion“ (Lampalzer 1992: 123, 128) und beeindruckte weniger durch spezifische Eigenschaften, denn durch die formale und inhaltliche Adaptationsfähigkeit. Das von Gerling beschriebene „reale Zusammenwachsen der Medien“ bzw. die Zusammenführung aller Daten auf einer digitalen Basis, die gleichermaßen

44 So Brett Gaylor, der Filmmacher von RIP: A remix Manifesto (http://www. opensourcecinema.org/project/rip2.0 (letzter Zugriff am 30.12.2010) im April vor dem kanadischen Parlament über die Veränderungen des Urheberrechts (Gaylor, zit. nach „Mashup als democratic discourse“, in: Digitale Notizen, Weblog von Dirk Gehlen vom 29.7.2010, http://www.dirkvongehlen.de/index. php/allgemein/mashup-als-democratic-discourse/ [letzter Zugriff am 30.5.2011]). 45 Vgl. hierzu auch Ochsner 2008: 378-387.

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Kalkulierbarkeit und mithin stetige Wiederhol- und gleichzeitige Transformierbarkeit garantiert, trifft auf sozio-mediale Bewegungen und Trends, wie sie sich – so unsere These – in einer derzeitigen in vorgegebenen Hard- oder Softwarerahmen vornehmlich auf (neue Formen der) Personalisierung ausgerichteten Selfmade-Kultur niederschlagen, die im „Mitmachinternet“ (Theurer 2009: 16) eine Art sanktionsfreies Spielfeld für allerlei ‚weich gewordene‘ (oder weichgespülte?) Medienhybride findet. Wenn auch Bruns die Begriffe produsage oder produser nicht explizit auf kulturelle Produktion angewendet hat, so erscheint das Konzept hier von besonderem Belang, da das Musikvideo als Artefakt46 wie auch kommerzielles Promotionsinstrument von Beginn an zwischen ökonomische und gleichermaßen ästhetische Produktions-, Distributions- wie auch Rezeptionsbedingungen fällt. Wie anhand der zahlreichen Beispiele aufgezeigt werden konnte, funktionieren gerade die von professioneller Hand und mit eindeutigem ökonomischen Interesse vorbereiteten Angebote auf dem Sektor interaktiver oder zumindest mitzugestaltender Videos nur mäßig, die meisten Initiativen dieser Art wurden schnell wieder eingestellt und sind heute kaum noch recherchierbar. Dies mag auch daran liegen, dass hier letztlich keine produsage-Kultur und damit keine aktive Mitarbeit des produsers gefordert wird, vielmehr geht es um marketingträchtige Projekte zwischen (im alten Sinne) ausgewiesenen Experten auf dem Gebiet des Gesangs und der Performance, des Musikvideos und der zur Produktion notwendigen Software. Wenn die Hochzeit teurer, professionell erstellter und aufwändig produzierter Musikvideos dem alten Jahrtausend verpflichtet zu sein scheint,47 so bringt das Internet mit seinen verschiedenen Möglichkeiten der Kombination und Verbindung traditioneller mit neuen sozialen Medien und Netzwerken hybride Formen von MusikSpielAnimationMachinimaCommercial Selfmadekurzfilmen hervor, in denen sich zum einen im Sinne der Manovich’schen „deep remixability“ Hard- und Software mit kulturellen Formen ihres Gebrauchs mischen, und die gleichzeitig den vier grundlegenden Prinzipien der produsage-Kultur (offene Teilnahme und gemeinsame Evaluation, flüssige Heterarchie oder ad hoc-Meritokratie sowie Artefakte in kontinuierlicher Weiterentwicklung und in gemeinsamem Eigentum mit individueller Belohnung) gehorchen, auch wenn sich dabei nicht immer alle Be-

46 Bruns zieht im Kontext der produsage den die Unfertigkeit des Produktes hervorhebenden Begriff des Artefakts demjenigen des Produkts vor (vgl. Bruns 2009). 47 Wenn auch die großen Budgets nicht vollständig verschwunden sind, so nimmt doch die Anzahl derjenigen, die größere Summen in Clips investieren, deutlich ab, wie der Regisseur Uwe Flade in einem Interview mit englischen Wikinewsvertretern vom 30. März 2008 bestätigt. (http://de.wikinews.org/wiki/Interview_ mit_dem_deutschen_Regisseur_von_Musikvideos,_Uwe_Flade (letzter Zugriff am 30.12.2010).

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teiligten ihrer Rolle(n) und vielfältigen Funktionen und Positionen bewusst sind (vgl. Jenkins 2005: o. S.). Spassigeres Ende der Kulturindustrie und damit Fiskes Sieg über Adorno, wie Roberto Simanowski anmerkte?48 Es scheint, als weise die Richtung weg von vorgegebenen Ordnungsmustern entlang derer die ästhetische Qualität der künstlerischen Produkte situierund nachprüfbar wäre, und hin zum Ausprobieren, Handeln und Eigenproduktion von Artefakten – doch auch hier ist die Frage berechtigt, ob diese vermeintliche Freiheit eben nicht schon im Re-Auratisierungskreislauf eines viralen oder mediendarwinistischen Marketings kalkuliert ist.

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48 So Simanowski bei meinem Vortrag im Rahmen des Basler Pro-DocForschungsseminars Intermedialität der audiovisuellen Medien heute, das vom 11.-13. August 2010 am Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel stattfand .

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Jenseits von Intermedialität Rhetoriken des reinen und unreinen Films im Spiegel von Angela Schanelecs Orly (2010) S ABINE N ESSEL /W INFRIED P AULEIT

Medien stehen schon immer im Verhältnis zu anderen Medien. Intermedialität und andere Konzepte, die das Verhältnis zwischen Medien betrachten, sind demnach keine neuen Phänomene, die sich als historischer Medienwandel im Übergang zur Digitalisierung beschreiben lassen. Auch eine Entwicklungsgeschichte von gegebenen Einzelmedien (Medienontologien) oder Gebrauchsformen einzelner Medien (Aneignungen oder Habitualisierungen) hin zu neuen Mischformen erscheint uns in vielen Fällen als unhinterfragte Setzung. Wir gehen stattdessen davon aus, dass die Beschreibung von Medien im Zeichen einer Rhetorik steht, die neue und alte Medien konstruiert. Ebenso unterscheidet diese Rhetorik (meist implizit) reine und unreine Medien, die aber in ihren Argumentationsmustern nicht allein auf eine genaue Beschreibung und Historisierung der Medien aus ist, sondern gleichfalls auf politische Zusammenhänge und komplexe Interessenlagen im gesellschaftlichen Kräftefeld verweist. So wurde beispielsweise im Zuge der französischen Revolution und der mit ihr einhergehenden Säkularisierung ein Imperativ der Zeitgenossenschaft geprägt und von Honoré Daumier auf die Ästhetik übertragen. Das ästhetische Diktum lautet seither: „Il faut être de son temps!“ (Ritter 2008). Damit wurde eine Rhetorik des Neuen und zeitgemäßen formuliert, die bis heute die Wissenschaften und Künste bestimmt. Sucht man diese Rhetorik in den aktuellen medienwissenschaftlichen Diskursen, so findet sich dort eine explizite oder implizite Abwandlung, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: „Il faut être digital!“ (Pauleit 2008; Broeckmann 2007). Zudem lässt sich konstatieren, dass es schwierig ist, diesen Imperativ des Neuen abzuschütteln. Man kann ihm kaum entgehen. Und so ist auch der vorliegende Text nicht frei von dieser Rhetorik. Im Falle des vorliegenden Textes lässt sie sich bereits an dessen Titel ablesen. Der Grund unserer Argumentation findet sich in einem zeitgenössischen Film, markiert durch eine Jahres-

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zahl, mit der ein neuer Film datiert wird – der neue Film von Angela Schanelec. Im Kontext dieser Rhetorik des Neuen scheint es uns zunächst angemessen, an einige Konzepte zu erinnern, die Hybridisierungen einerseits und ‚Purifizierungen‘ andererseits als politisch-ästhetische Programme vorantreiben. Der Begriff Purifizierung ist dabei ebenfalls Teil einer Rhetorik und mischt sich ein in den ästhetischen Diskurs der Medien und Künste mit dem Ziel ästhetische und politische Kategorien zu vermischen. Anders formuliert: Die Schlagkraft des Begriffs Purifizierung liegt darin, ein anderes Modell von Medienwandel zu unterstellen, das die Rhetorik und den Zusammenhang von Politik und Ästhetik stärker berücksichtigt. Die unterschiedlichen Denkmodelle lassen sich schlaglichtartig wie folgt unterscheiden. Das in der gegenwärtigen Intermedialitätsforschung vielfach implizierte Denkmodell geht von existierenden Einzelmedien aus, die im Zuge eines Prozesses der Hybridisierung von Medienprodukten (und im Zuge der Digitalisierung) eine andere intermediale Herangehensweise notwendig machen. Ein dynamisches Denkmodell wäre demgegenüber von gegenläufigen Kräften gekennzeichnet, in dem sich sowohl Vereinzelungen (‚Purifizierungen‘) als auch Hybridisierungen von Medien und Medienprodukten vollziehen. Als historische Beispiele für diese gegenläufigen Kräfte lassen sich die europäischen Filmavantgarden, wie Dziga Vertovs Setzung eines „reinen“ Films anführen, der sich nur auf die Mittel des Films stützt (Jutz 2008). Dem stehen Konzepte von André Bazin (2004) „für ein unreines Kino“ entgegen, oder aber Peter Wollens Konzept des Kinos als hybrides Medium oder multiples System (Wollen 1982). Was wir im Folgenden vorhaben, gliedert sich in drei Schritte: Erstens geht es um eine Untersuchung von Diskursen, denen Strategien der Hybridisierung und Purifizierung zu Grunde liegen. Im zweiten Teil soll es darum gehen, anhand von Filmen die Ausformungen des digitalen und des analogen (und ihrem Verhältnis von alt und neu) in ihrer konkreten Konstruktion herauszuarbeiten. Drittens werden wir am Beispiel von Angela Schanelec eine zeitgenössische Position vorstellen, die in der bisherigen Wahrnehmung selten zu den neuen ästhetischen Hybridformen gerechnet wird, die aber auf eine interessante Weise die Rhetorik von alt und neu unterläuft und den Film jenseits der bekannten Diskurse von Intermedialität als composite art mit digitalen Mitteln weiterführt.

1. H YBRIDISIERUNGEN

UND

P URIFIZIERUNGEN

W. J. T. Mitchell (1994) schlägt in seinem Buch Picture Theory vor, anstelle von intermedialen Vergleichen und Analysen das Konzept des Einzelmediums, das darin zugrunde liegt, zu hinterfragen. Hierzu führt er den Begriff „imagetext“ ein. Die Basis für diese Operation ist ein (ästhetisches und politisches) Misstrauen in alle Ansätze des Medienvergleichs und auch in alle

J ENSEITS VON I NTERMEDIALITÄT

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Ansätze einer generalisierenden Systematisierung bzw. Schematisierung von Medienbeziehungen. Auch wenn Mitchell nicht direkt auf den deutschen Begriff Intermedialität Bezug nimmt, so steht dieser doch in seinen Überlegungen unter Verdacht, in erster Linie nur bekannte Versionen einer kulturellen Entwicklungsgeschichte zu bestätigen, anstatt sie zu reflektieren und zu diskutieren. Der Begriff „imagetext“ setzt demgegenüber anders an. Mit diesem Begriff unternimmt Mitchell eine Entgegen-Setzung, die davon ausgeht, dass es nicht ein Verhältnis zwischen den Künsten und Medien gibt, sondern dass es in allen so genannten Einzel-Künsten (und EinzelMedien) ein unvermeidbares Verhältnis von Bild und Text gibt. Seine Zusammenfassung dieser Überlegungen lautet: alle Künste sind composite arts (bestehend aus Text und Bild), alle Medien sind mixed media, die unterschiedliche Codes, Diskurse, Kanäle, sowie unterschiedliche Wahrnehmungs- und Beurteilungsweisen umfassen. Mitchell begreift den „imagetext“ nicht als ein Konzept, sondern eher als eine theoretische Figur (analog zu Derridas différance), als einen Ort von dialektischer Spannung und Transformation. Seine zwei Beispiele, an denen er den Begriff erläutert, stammen einerseits aus Hollywood, Billy Wilders Sunset Boulevard von 1950 und andererseits aus der griechischen Antike, Thukidides Beschreibung des Peloponnesischen Krieges um 400 v. Chr. Mit dieser Zusammenstellung verweist Mitchell auf die historische Dimension des Problems, wobei er die Unterschiedlichkeit der Beispiele sehr wohl in Rechnung stellt. Auf diesem Hintergrund ist es ihm möglich, die Purifizierungstendenzen der Moderne in den Blick zu nehmen, die Medien wie Fotografie, Malerei, Skulptur und Dichtung erst unter bestimmten Bedingungen und zu bestimmten Zeiten als homogene Einheiten fasst. Mitchell stellt dies als die eigentliche Anomalie heraus und ergänzt, dass prämoderne Kulturen den hybriden Charakter von Medien und Künsten sehr wohl verstanden haben (Mitchell 1994: 83-107). Das Beispiel Sunset Boulevard ist für Mitchells Argument deshalb so fruchtbar, weil es die Trennung von Text und Bild explizit zum Thema hat, in der Verkörperung der zwei Hauptfiguren: dem Drehbuchschreiber Joe Gillis (William Holden) und dem alternden Stummfilmstar Norma Desmond (Gloria Swanson). Es geht um das Verhältnis von alt und neu, um das alte Stummfilmkino und um den neuen Sprechfilm. Es geht aber auch um das Verständnis Hollywoods als einer Literatur- und Bild-Institution – und um das Verhältnis von unsichtbarem Schreiber und sichtbarem Star. Die HassLiebe zwischen Norma und Joe dramatisiert die Ambivalenz des Kinos zu seinen unterschiedlichen Traditionen und Registern (Text, Bild, Ton). Das Kino zeigt sich in diesem Film als Gemengelage, als Hybridform – oder auch als ein per se „intermediales“ Unternehmen (Paech 1994). Diese andere Konzeption von Kino gilt sicherlich allgemein für das Kino nach 1945, sie lässt sich aber historisch durchaus weiter zurückverfolgen (Young 2006). Unter dieser Voraussetzung wird jede Filmanalyse zu einer intermedialen Analyse, und eine Filmwissenschaft ohne Einbeziehung von anderen Küns-

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ten und Medien stellt sich als Unternehmen einer kulturellen Purifizierung dar. Wie widersprüchlich sich solche Tendenzen der Purifizierung gestalten, zeigt eindrucksvoll Dziga Vertovs Der Mann mit der Kamera. Vertov unternimmt mit diesem Film (ergänzend zu seinen schriftlich verfassten Manifesten) eine Proklamation des reinen Films, der sich ausschließlich filmischer Mittel bedient. Um dieses Projekt zu kommunizieren, stellt er seinem Film allerdings ein geschriebenes Manifest voran, das selbst als „imagetext“ Teil des Films ist. Diese paradoxale Demonstration des reinen Films als schriftlich-filmisches Manifest führt besonders deutlich die Grenzen des Verständnisses von reinen Medien vor Augen. Als historische Gegenposition ließe sich André Bazin nennen, der den Begriff des cinema impur – des unreinen Kinos – geprägt hat. Das unreine Kino Bazins ist eine Mischform. Es unterhält Beziehungen zu Theater, Literatur, zur bildenden Kunst usw. (Bazin 2004, 110-138). Noch deutlicher hat es Peter Wollen formuliert und das Kino als multiples System bezeichnet. Wollens Überlegungen entstehen im Kontext von Poststrukturalismus und Dekonstruktion, aber auch im Kontext der sozialen Bewegungen der 1970er Jahre. Wollen denkt damit ein Projekt voraus, in dem der Film nicht mehr an die Materialität des Fotografischen oder an den Kinoraum gebunden ist, sondern sich als multiples System fassen lässt – also als einen Ort an dem Produktion und Rezeption ineinander greifen, wie man dies heute z.B. im Computer und seinen Netzwerken vorfindet. Anders formuliert liegt hier ein Verständnis von Film zu Grunde, das an das Barthes’sche poststrukturalistische Textverständnis anknüpft, welches nicht mehr zwischen Leser und Schreiber unterscheidet (Erdmann1993; Bellour 1999). Ähnliche Positionen finden sich im Umfeld der Nouvelle Vague, insbesondere bei Jean-Luc Godard oder Chris Marker. In den Filmen Markers lassen sich die Spuren des Fotografischen bereits in den 1960er Jahren als Diskursfeld lesen, welches die theoretischen Entwürfe von Bazin (2004) oder Morin (1958) aufgreift und filmisch weiter bearbeitet. Sein Film La Jetée (F 1962, dt. Das Rollfeld) ist aus Fotografien montiert. Das Fotografische verbindet sich mit den Architekturen der zentralen Handlungsorte des Films: auf der einen Seite das Museum als Archiv und Sammlung der Spuren des Vergangenen; auf der anderen die Startbahn des Flughafens als materialisierter Traum einer imaginären Zukunft des Films. Obwohl der Film sich aus Fotografien zusammensetzt, situiert er seinen Handlungsraum in der Zukunft, der im Bild eines atomaren III. Weltkriegs ein katastrophisches Moment der Moderne thematisiert, der aber schließlich auch in der Zukunft eine mysteriöse Energiezentrale (er)findet, die aus heutiger Sicht wie eine Computerplatine aussieht. Die von Marker selbst als roman-photo bezeichnete Filmform stellt ihren hybriden Charakter auch als Begriffsbild aus.

J ENSEITS VON I NTERMEDIALITÄT

2. R HETORIK

DES

M EDIENWANDELS :

DAS

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N EUE

Bevor um 2010 anlässlich von Filmen wie Avatar (2010) oder Shrek 4 (2010) die Technologie des 3D als Neuheit präsentiert wird, die das Kino revolutionieren soll, richteten sich die allgemeinen Erwartungen über das Neue in Film und Kino fast ausschließlich auf die Digitalisierung. Dieser Umstand allein, ist bemerkenswert. Historisch betrachtet wurde das Neue viel konkreter, d.h. nicht allein an technischer Neuerung festgemacht. Zwar gab es schon immer den Blick auf die technisch-mediale Weiterentwicklung, doch die allgemeine Erwartung, insbesondere des Publikums, richtete sich z.B. in der Frühzeit des Films auf die sichtbaren Attraktionen, im Starsystem Hollywoods auf den neu entdeckten Star und im modernen Kino auf die Ausformungen der Ästhetik, die jump-cuts und sichtbaren Montagen etc. Das Paradox der gegenwärtigen Erwartung besteht darin, dass das Neue mit 3D oder dem Digitalen gleichgesetzt wird, dass seine Erscheinung aber am alten, fotografischen Look gemessen wird. Rezeptionsästhetisch betrachtet lässt sich der Anfang der Geschichte des digitalen Films recht genau bezeichnen. Sie beginnt im Jahr 1991 mit dem Film Terminator II. Die digitale Technik wird in diesem Film erstmals in Form eines Visual Effect ausgestellt. Bis dahin vor allem zur Unterstützung der Filmhandlung eingesetzt, sind die digitalen Bilder hier Star und Publikumsmagnet. Der Film präsentiert eine multiple Terminator-Figur, die sichtbar ohne Schnitt ihre Gestalt wechselt; die sich z.B. zur Überwindung eines Eisengitters verflüssigt, um sich anschließend fließend in ihr Ursprungsdesign rückzubilden. Der Visual Effect wird in diesem Fall noch von einem ausgefeilten digitalen Sound Design flankiert, das dem Bild die überzeugende materielle Ausstrahlung verleiht. Der halbflüssige matschige und gleichzeitig metallische Klang ist digital produziert, basiert aber gleichwohl auf Geräuschen unserer Alltagserfahrung. In diesem Falle wurde er durch eine Verfremdung des Geräuschs beim Entleeren einer Dose Hundefutters erzeugt (Flückiger 2006). Dieser bis heute in Bild und Ton faszinierende Effekt ist in die Technikgeschichte des Films eingegangen (Willim 1998). Terminator II bildet den Auftakt zu einer Reihe von Katastrophenfilmen des neuen digitalen Kinos, die um die Jahrtausendwende Sound Design und Visual Effects als Attraktionen präsentieren. Die Frage „Was ist Film?“ wird in dieser Dekade der Filmgeschichte erneut aufgeworfen. Wie in der Frühzeit des Films, geht es in den Filmen des neuen digitalen Kinos wieder primär um die Zurschaustellung von Attraktionen und darum, dass sich eine neue Technologie mit Stolz präsentiert. Besonders deutlich treten Visual Effects in filmischen Remakes hervor, so z.B. in Peter Jacksons Fassung von King Kong. Das Motiv von King Kong auf dem Empire State Building im Kampf mit den Flugzeugen ist berühmt und ist in die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen. In den beiden Versionen des Films von 1933 und 2005 wird das Bild mit unterschiedlichem Fokus präsentiert. In King Kong

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von Cooper und Schoedsack (1933) steht die Rettung durch die Flugzeuge im Zentrum. Im Remake des Films von Peter Jackson aus dem Jahr 2005 wird der Fokus auf die digitale Technik verschoben. Was beide Filme verbindet ist die Verschränkung des Kampfs zwischen Mensch und Monster mit der Präsentation des Neuen. In King Kong (1933) werden die Flugzeuge als das Neue präsentiert, zusammen mit ihrer neuen Perspektive der Flugbilder. Bevor sie ins Bild kommen und auch auf der Tonspur zu hören sind, sind sie zunächst Gegenstand des Dialogs. Sie werden als letzte Rettung eingeführt. „There is one thing, we can do: aeroplanes!“ In King Kong (2005) erscheinen die Flugzeuge ohne vorherige Ankündigung. Die Doppeldecker mit den Piloten im offenen Cockpit treten nun in Farbe in Erscheinung, und die Stadt New York liegt unter ihnen in der Abendsonne. Das Neue sind in diesem Fall nicht die Flugzeuge und die mit ihnen verbundene Perspektive. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um Oldtimer im besten Sinne des Wortes. Das Neue ist dagegen ein riesiger Visual Effect, der als Stadtansicht von New York erscheint, produziert mit den Computern Peter Jacksons. Waren die Visual Effects in Terminator II noch weitgehend auf einzelne Figuren beschränkt, sind es hier die Straßenzüge einer Metropole, eine Stadtlandschaft, die mit digitaler Technik erschaffen worden ist. Das Stadtbild von New York wurde auf der Grundlage von Flugbildern und Fotos aus den dreißiger Jahren zunächst rekonstruiert. Gebäude von heute, die es in den dreißiger Jahren noch nicht gab, wurden entfernt und durch digitale Rekonstruktionen ersetzt. Da man es bei den Fotos und Flugbildern aus den dreißiger Jahren durchweg mit Schwarz-Weiß-Bildern zu tun hatte, war die Erzeugung des Bildes von der Stadt New York außerdem mit einer kompletten Neuerfindung der Farbigkeit verbunden. Die Doppeldeckerflugzeuge sprechen für einen historistischen Umgang des Films mit Geschichte, der das Gewesene nicht als Spur im Dokument belässt, sondern im Sinne einer möglichst vollständigen Bebilderung des Gewesenen ausmalt. Das im neuen digitalen Kino nicht immer so humorlose Ausmalen von etwas, das zuvor als Realität definiert worden ist, findet in Peter Jacksons King Kong mit dem Versuch, sogar den alten Traum vom Fliegen digital zu restaurieren, einen absurden Höhepunkt. Die fotografischen Flugbilder vom New York der dreißiger Jahre sind in diesem Fall nicht auf der Leinwand zu sehen, sondern sie werden Teil einer Simulation des Fotografischen. Der vergangene Traum vom Fliegen, der zeitgleich mit der Erfindung des Kinos in Erfüllung geht (Morin 1958), kehrt in Jacksons Remake zwar wieder, er verweist aber nicht mehr auf das Flugzeug als Neuerfindung. Vielmehr wird er zum leeren Zeichen, das im Imaginären des Zuschauers kein Pendant mehr findet. Die Beziehung von Kino und Flugzeug wird in den beiden King Kong Filmen in unterschiedlicher Weise zur Darstellung gebracht. Historisch zwischen beiden Filmen werden Kino und Flugzeug von Edgar Morin reflektiert. Im ersten Kapitel von „Le cinéma où l’homme imaginaire“ stellt Morin die Frage, was der Kinematograph und das Flugzeug am Ende des 19. Jahr-

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hunderts dem Menschen bringen. Das Flugzeug erfüllt den alten Traum des Menschen, sich von der Erde loszureißen. Wohingegen der Kinematograph die Erde, genauer gesagt die „Objekte der Welt“, zugänglich macht. Dieses Verständnis des Kinematographen wird mit Verweis auf Pioniere der Kinematographie, wie z.B. Muybridge und Marey begründet, die vor 1896 – zumindest wird das von Morin behauptet – nur stets vom wissenschaftlichen Nutzen des Kinematographen sprachen (Morin 1958: 9f). Die Zuordnungen Flugzeug / Himmel und Kinematograph / Erde werden in Morins Text nicht nur gesetzt, sondern auch gleichsam verschoben und dem „Kinematographen“ wird das „Kino“ – als Lichtspiel und Vergnügungseinrichtung – an die Seite gestellt. Wie Morin ausführt, ordnet sich der Traum vom Fliegen, der mit der Erfindung des Flugzeugs aufkommt, schon bald darauf militärischen Nutzen und Zwecken unter. Das Flugzeug hat sich den Luftraum zur Verlängerung der Erde gemacht. Abgetrennt vom Flugzeug, besteht der Traum vom Fliegen jedoch weiter (als anthropologisches Grundprinzip oder Mythos, sei einmal dahingestellt) und wird vom Kino als Lichtspiel verwirklicht. Ausgehend von der Erfindung des Kinematographen, der sowohl auf den Himmel (Lichtspiel) als auch auf die Erde (Wissenschaft) verweist, wird der Film auch bei Morin – ausgehend von den Anwendungsbereichen – als „unreine“ Form und als Hybrid erkennbar.

3. O RLY (D 2010, R: ANGELA S CHANELEC ) Auch im Autorenfilm zeigen sich zahlreiche hybride Formen des Kinos, die Verbindungen zur Fotografie, zum Roman, zum Theater, zur Videoinstallation, zum Computerspiel und zu digitalen Produktionsformen aufweisen. Angela Schanelec ist dem zeitgenössischen Autorenfilm der Berliner Schule zuzurechnen. Sie galt bislang als Verfechterin des fotografischen Films mit Referenzen zur Fotografie, zum Theater und zur Literatur. In ihrem jüngsten Film, der auf dem Flughafen Orly spielt, wechselt sie auf die Seite des digitalen Kinos über. Sie verändert ihre Arbeitsweise und wirft damit Fragen nach der Rhetorik von alt und neu auf. Der zentrale Schauplatz des Films ist die Halle des Flughafens Orly. Nacheinander werden Paare in Szene gesetzt, die sich auf dem Flughafen aufhalten, ihr Warten, ihre Geschichten, ihre Gespräche mit dem Mobiltelefon. Die Licht durchflutete Halle des Flughafens wird zu einem Ort der Begegnung, der Kommunikation, des Geständnisses. Was die verschiedenen Paare verbindet, ist die Ebene des Alltags, des Privaten, der Ruhe und der Reflexion. Der Flughafen in Schanelecs Film ist ein reflexiver Ort. Die große warme Welle des Persönlichen, die diesen Transit-Ort utopisch durchzieht, macht selbst vor dem Flughafenpersonal nicht halt. Orly wurde bei laufendem Flughafenbetrieb gedreht. Der Kontakt zu den Schauspielern lief über Funk und Kopfhörer. Die Kamera ist vielfach weit entfernt. Und der

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Ton hört sich an, als wären akustische Inseln aus dem Soundteppich des Flughafens herausgestellt worden. Von Anfang an wird dieser Film von Medien begleitet und gespeist. Tonangebend dabei ist nicht nur die Fotografie, sondern auch die Architektur, die Literatur, die Musik, das Mobiltelefon und das Kino selbst. Deshalb ist es so schwer zu beschreiben, wie der Film als Film gestaltet ist, woraus er besteht, wovon er handelt. „Der Film erzählt episodisch […]“, so könnte man versuchen, ihn zu beschreiben. Und dann macht er etwas ganz anderes: „Der Film fotografiert, macht Bilder […]“. Sind dies noch die klassischen Paradigmen, in denen man Beschreibungen von Filmen gewohnt ist, so kommen weitere ins Spiel. Der Film präsentiert Musik, spielt einen einzelnen Pop-Song ganz aus, und er bezieht sich auf Literatur, auf einen psychoanalytischen Roman, ohne jedoch mehr als ein paar Sätze daraus vorzulesen. Er entwirft sich, wie eine Architektur, um schließlich auch Architektur zu zeigen (oder anders herum). Gezeigt wird der Flughafen Orly – eine Ikone der modernen Architektur – in einer Art Zeitbild; aber auch die Pariser Bibliothèque Nationale im Speicher einer digitalen Fotokamera. Versucht man, sich die Vielzahl der unterschiedlichen Medien und Künste zu vergegenwärtigen, könnte das wie folgt aussehen: Fotografie Am Anfang des Films begleitet die Kamera eine Frau auf ihrem Weg durch die Strassen der Stadt. Es ist die Schauspielerin Maren Eggert, die in einem früheren Film von Angela Schanelec (Marseille, D 2004) bereits als Fußgängerin in einer Stadt unterwegs war und Strassen fotografierte. Die Fotografie war in Marseille aber auch anderweitig präsent, der Beruf des Fotografen: Portraitfotografie in einer Fabrik, Fotografie aus Leidenschaft: Fotos an die Wand anpinnen, auf die Abzüge warten. Auch in Orly ist die Fotografie wieder ein zentrales Thema des Films. Gleich in der zweiten Szene ist Maren Eggert auf einem Foto zu sehen. Es ist ein Schwarz-Weiß-Foto, und die Schauspielerin ist im Foto viel jünger als im Film. Das Schwarz-WeißFoto und der länger zurückliegende Film Marseille verweisen je spezifisch auf die analoge Fotografie. In Marseille war die Fotografie noch allein an die klassische Fotografie gebunden. Dies ändert sich mit Orly. In Schanelecs neuem Film wird nicht nur das Fotografieren mit einer digitalen Kamera vorgeführt. Auch der Film selbst ist digital aufgenommen und bearbeitet. Und man stellt fest: Hier wird nicht ein neues digitales Kino gefeiert, sondern hier wird die Geschichte des Kinos fortgeschrieben, mit digitalen Mitteln – ganz einfach, und ohne großes Aufsehen. Schrift Aufsehen erregt dagegen die Art und Weise, wie der Titel des Films ins Bild gesetzt wird. Zwei große weiße Buchstaben ‚OR‘ sind formatfüllend über

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das Bild der Straßen von Paris gelegt, Format: Cinemascope. Und dann noch einmal zwei: ‚LY‘. Alle übrigen Angaben laufen davor auf schwarzem Grund und ohne Ton. Bereits dieser Auftakt erinnert an die 1960er Jahre, an Godard, die Nouvelle Vague. Die Buchstaben werden nicht im Sinne ihrer Bedeutung, sondern im Sinne ihrer Form in Szene gesetzt und verweisen damit auf die Film- ebenso wie auf die Kunstgeschichte. Aber dann geht der Film seinen eigenen Weg, genau wie Maren Eggert. Die Schauspielerin fährt mit einem Taxi zum Flughafen Orly. Und der Film begibt sich ebenfalls an diesen Ort. Literatur Der Flughafen wird zu einer Bühne des Sprechens. Hier wird miteinander gesprochen, hier wird ins Mobiltelefon gesprochen und hier wird vorgelesen. Eine junge Frau und ihr Freund warten auf ihren Rückflug. Während er mit seiner Digitalkamera hantiert und Besorgungen macht, liest sie in einem Buch. Das Lesen wird zunächst als körperliche Reaktion der Leserin auf den Text ausgestellt, als Schmunzeln, Augenrollen, Lachen. Diese Reaktionen bilden den Impuls für einen Vorleseakt. Ziel des Vorlesens auf der Handlungsebene ist, den Freund am Gelesenen teilhaben zu lassen. Die vorgelesene Passage allerdings bleibt unvermittelt. Aus dem Kontext des Romans herausgelöst, ergibt sie weder für den Freund noch für die Zuschauer Sinn. Ausgestellt wird die Literatur im Akt des Lesens und Vorlesens. Man hört und sieht Literatur, ohne den literarischen Text fassen zu können. Erst aus dem Abspann erfährt man als Zuschauer, dass die vorgelesene Passage aus Italo Svevos Roman Zeno Cosini stammt. Mobiltelefon Während die Literatur in diesem Fall eine Kommunikation mit vergangenen oder fiktiven Geschehnissen aufbaut, die Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt sind, dient das Mobiltelefon zur Überwindung von Raumgrenzen. Das Mobiltelefon erscheint als zeitgenössisches Medium an einem TransitOrt. Der Film stellt den Gebrauch des Telefons im Flughafen aus. Da das Gegenüber abwesend ist, werden die Sprechakte der mobil Telefonierenden isoliert. Kommunikation wird fragmentiert, und die Gesten des Telefonierens sowie Intonation und Klang der Stimmen treten hervor. Damit stellt der Film eine Ästhetik des Telefonierens heraus. Brief In der vorletzten Szene des Films wird der Flughafen evakuiert. Die Durchsage, mit der Aufforderung an alle Reisenden, sich zu den Ausgängen zu bewegen, leitet die Evakuierung ein. Die Durchsage unterbricht das Vorlesen eines Briefs, welches sich bis dahin bereits seit mehreren Minuten die

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Tonspur mit den Originalgeräuschen des Flughafens teilt. Die Adresssatin des Briefs ist die Schauspielerin Maren Eggert. Die lesende männliche Stimme aus dem Off gehört ihrem Ex-Mann Theo (Josse De Pauw). Er trägt den Brief in einer Weise vor, dass man glauben könnte, die geschriebenen Gedanken gelangten aus dem Herzen des Schreibenden direkt zur Adresssatin. Architektur Die Briefstimme aus dem Off wird mit der Architektur des Flughafens ebenso in Beziehung gesetzt, wie mit dessen Räumung. Der Flughafen Orly, mit seinen Möbeln und seinem spezifischen architektonischen Stil, kommt durch die Evakuierung zum Vorschein. Die Architektur der Moderne verbindet sich mit dem existenziellen Duktus des Briefs. Zum ersten Mal zeigt die Kamera das Flugfeld und in einiger Entfernung ist ein Flugzeug zu sehen. Von hier aus, nicht zuletzt auch wegen der Form des den Bildern unterlegten Sprechens, werden Szenen aus Chris Markers Film La Jetée aufgerufen. Schauspiel In einer Szene sieht man, wie eine Frau (Maren Eggert) und ein Mann (Jirka Zett) in Mitten der Menschenmenge des Flughafens einander begegnen. Diese Einstellung folgt einer Logik der Überwachung. Die Kamera schaut von schräg oben auf die Menschen herab. Doch sie zeigt gleichzeitig etwas ganz anderes. Die Begegnung besteht aus einem einzelnen Blickwechsel. Dieser wird sorgfältig vorbereitet durch eine Szene beim Einkaufen und dann durch eben jene Einstellung, die sich in eine Art lebendes Bild verwandelt, durch welches sich die beiden Protagonisten zusammen mit zahlreichen (wirklich) Reisenden bewegen. Der bildhafte Charakter entsteht aber vor allem durch das ‚Spiel‘ der beiden Protagonisten, durch ihre unbewegten maskenhaften Gesichter, während die übrigen Reisenden in ständiger Bewegung sind. Erst durch die unbewegten Gesichter wird die dann folgende Begegnung, in der die beiden Figuren zur Seite blicken und einander anschauen, herausgehoben. Musik Die Einstellung ist mit einem Pop-Song unterlegt, der neben der Perspektive und der langen Brennweite zur Auratisierung beiträgt. Der Ton einer einzelnen Note, mit dem der Popsong beginnt, eröffnet die Begegnungsszene zwischen Maren Eggert und Jirka Zett an der Kasse des Flughafenshops. Der Song wird bis zum Ende ausgespielt. Er tritt neben die Originalgeräusche des Flughafens, die er ergänzt, überlagert, untermalt. Im Werkkontext betrachtet, nimmt der ausgespielte Popsong aus dem Off eine prominente Stel-

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lung ein. Schanelec, die Musikuntermalung in ihren Filmen vermeidet, setzt hier einen deutlichen Akzent. Auch in der oben beschriebenen Vorleseszene ist die Musik noch zu hören. Dort überlagern sich Bild, Musik, Geräusche, Stimmen und das gesprochene Wort und konstituieren ein audiovisuelles Filmbild, in dem das demokratische Nebeneinader von Ausdruckselementen jede Idee von einer Ontologie des Films durchkreuzt. Mixed Media Schanelecs Film zeigt sich geradezu programmatisch als composite art oder als unreines Kino. Dabei geht es allerdings selten um Intermedialität im üblichen Sinne. Selbst dort, wo spezifische Werke der Literatur oder der Architektur (Svevos Roman, die Bibliothèque Nationale in Paris) entzifferbar werden, geht es nicht um eine Relation einzelner Werke oder das Verhältnis einzelner Medien zueinander. Die Perspektive erscheint vielmehr umgekehrt auf die Verbindungen, Überlagerungen und Vermischungen der Medien ausgerichtet. Film scheint sich hier nicht einmal mehr sicher in die üblichen pragmatischen Register von Text, Ton und Bild sinnvoll gliedern zu lassen. Dennoch bleibt es unfraglich Film, der aber immer wieder ‚einzelne Medien‘ ins Visier nimmt, wie beispielsweise das Mobiltelefon (oder die digitale Fotografie), und in diesem Zuge die Aufmerksamkeit vom textuellen Dialog der mobilen Kommunikation auf den Klang der Stimme und die visuelle Geste des Telefonierens verschiebt. Das Telefonieren wird dann ebenso in die Bild- und Klangräume von Architektur und Film eingefügt, wie in die stark fragmentierte Narration. Gezeigt wird somit nicht das Telefonieren, sondern ein filmisches Zeigen des Telefonierens. Ähnlich wie die Theaterszenen, die in den Filmen von Schanelec vielfach vorkommen, und die nicht auf die Medialität des Theaters verweisen, sondern stets wieder von Neuem die Frage aufwerfen, wie man filmisch etwas zeigen kann. Auf audiovisuelle Vermischungen und Verschiebungen (composite art) verweisend, ist das Telefonieren in Orly Teil einer Geschichte des modernen Kinos, mit seinen Diskursen, Debatten und Dispositiven. So geht es mit allen Medien und kein einziges tritt als ‚reines Medium‘ in Erscheinung.

4. R ESÜMEE In Bezug auf den Film macht die Verwendung des Begriffs Intermedialität“ nur bedingt Sinn, da im Film am deutlichsten heraustritt, dass alle Medien stets auch mixed media sind und dass alle Künste sich als composite arts gestalten. Filme sind durchdrungen von Literatur, Theater, Fotografie und anderen Bildtraditionen wie Malerei, Architektur usw. Aber auch von Musik, Klang- und Sound-Art. Theoretisch wurden diese Positionen z.B. von Mitchell aus dem Kontext Bildtheorie, aber auch von Peter Wollen aus dem Kontext Filmtheorie vorgetragen. Deshalb stellt sich mit Blick auf den Film

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die Frage der Rhetorik von Medienbeschreibungen besonders deutlich. Betreffend die Differenz analog/digital und alt/neu lässt sich die Rhetorik der Medienbeschreibung an der Digitalisierung des Kinos nachzeichnen. Am Beispiel King Kong zeigt sich diese Rhetorik als Allmachtsphantasie aus „Wellywood“, die sich auf dem Hintergrund der Globalisierung und Digitalisierung gegenüber von Hollywood in Stellung bringt. Die Rhetorik besagt: „Es ist egal, wo man heute Film produziert. Wir können das New York der 1930er Jahre in unserem Computer entwerfen.“ Das Beispiel Schanelec zeigt demgegenüber, wie sich das Kino einer Betrachtung der historisch geschichteten Gegenwart annehmen kann – ausgehend von einem realen Ort des Geschehens: ein Flughafen bei laufendem Alltagsbetrieb mit seiner Geschichte aus Architektur, Literatur und Film – der aber auch jenen Traum vom Fliegen mit umfasst, der bei Schanelec allerdings ein sehr irdischer, kinematographischer und zeitgenössischer ist und aus Begegnungen von Menschen und der Darstellung ihres Mediengebrauchs besteht. Was Schanelec mit Orly zeigt und hörbar macht, unterläuft die übliche Rhetorik von alt und neu. Einerseits ist ihre Arbeit, bei laufendem Flughafenbetrieb zu drehen, sehr innovativ – und nur mit digitalen Mitteln umzusetzen. Andererseits knüpft sie mit ihrer Ästhetik an das Kino der 1960er Jahre an und ist nur auf dem Hintergrund der Nouvelle Vague zu verstehen, und ihrem Traum, das Kino zu revolutionieren.

L ITERATUR Bazin, André, Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag 2004. Bellour, Raymond, „Der unauffindbare Text“, in: montage/AV 8/1/1999, S. 8-17. Broeckmann, Andreas, „Vom Zweifel an der Gegenwart. Oder: für eine radikale Zeitgenossenschaft“, in: Ästhetik & Kommunikation 137, 2007, S. 51-54. Erdmann, Eva/ Hesper, Stefan, „Roland Barthes’ Text(-Theorie) in der Encyclopaedia Universalis“, in: Thomas Regehly/Thomas Bauer/Stefan Hesper/Alfred Hirsch (Hg.), Text-Welt. Karriere und Bedeutung einer grundlegenden Differenz, Gießen: Focus 1993, S. 9-25. Flückiger, Barbara, „Sound Effects – Zu Theorie und Praxis des Film-Sound Designs“, in: Anne Thurmann-Jajes/Sabine Breitsameter/Winfried Pauleit (Hg.), Sound Art. Zwischen Avantgarde und Popkultur, Bremen/Köln: Salon Verlag 2006, S. 219-227. Jutz, Gabriele, „Das Rohe und der Code. Zu den Verkörperungsbedingungen des Cinéma Brut“, in: Sabine Nessel/Winfried Pauleit/Christine Rüffert/Karl-Heinz Schmid/Alfred Tews (Hg.), Wort und Fleisch. Kino zwischen Text und Körper, Berlin: Bertz + Fischer 2008, S. 132-144.

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Mitchell, William J. T., Picture Theory, Chicago/London: The University of Chicago Press 1994. Morin, Edgar, Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung, Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1958. Paech, Joachim, „Vorwort. Film und …“, in: ders. (Hg.), Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität, Stuttgart: Metzler 1994, S. 1-6. Pauleit, Winfried, „Il faut être digital! Zeitgenossen und technische Medien“, in: Gabriele Mackert/Viktor Kittlausz/Winfried Pauleit (Hg.), Blind Date. Zeitgenossenschaft als Herausforderung, Nürnberg: Verlag der Kunst 2008, S. 44-55. Ritter, Henning, „Der Imperativ der Zeitgenossenschaft“, in: Gabriele Mackert/Viktor Kittlausz/ders. (Hg.), Blind Date. Zeitgenossenschaft als Herausforderung, Nürnberg: Verlag der Kunst 2008, S. 34-43. Rodowick, David, „Digitale Fotografie ist paradox“, (ein Interview geführt von Claudia Lenssen), taz (6.11.2003). Sander, Ralf, „Avatar – das Comeback der 3-D Technik. Hollywood will nicht mehr flach sein“, in: Stern online, http://www.stern.de/digital/ homeentertainment/avatar-das-comeback-der-3d-technik-hollywoodwill-nicht-mehr-flach-sein-1529910.html (16.12.2009, zuletzt aufgerufen 6.6.2010). Thompson, Kristin, „Hollywood, Wellywood und Peter Jackson“, in: Irmbert Schenk/Christine Rüffert/Karl-Heinz Schmid/Alfred Tews (Hg.), Experiment Mainstream? Differenz und Uniformierung im populären Kino, Berlin: Bertz + Fischer 2006, S. 85-96. Willim, Bernd, „Filme aus dem Rechner“, in: Fernseh- und Kinotechnik 52 (5/1998), S. 255-260. Wollen, Peter, Readings and Writings. Semiotic Counter-Startegies, London: Verso Editions 1982. Young, Paul, Cinema dreams its Rivals, Minneapolis: University of Minnesota Press 2006.

Audiovisuelle Medien und Intermedialität einst Konstruktionen kultureller Identität in der ‚Schweizer Filmwochenschau‘ K ORNELIA I MESCH O ECHSLIN /M ARIO L ÜSCHER / N ADJA L UTZ

‚V ORSPANN ‘ 1 1941 wurde mit Citizen Kane ein in Schwarzweiß gedrehter Film uraufgeführt, der in mehrfacher Hinsicht Film- und Kulturgeschichte schreiben sollte: Mit ihm wurde dem amerikanischen Publikum das Erstlingswerk des gerade eben erst 27-jährigen Orson Welles vorgestellt, der als Regisseur und Schauspieler bis dahin Theater- und Radioarbeit geleistet hatte. In seinem Film verhalf er einer Zahl von Theaterschauspielern – nicht zuletzt sich selbst in der Figur des Charles Foster Kane – zum ersten Mal zu Präsenz auf der Leinwand und in den Massenmedien. Und wichtiger noch: Citizen Kane machte das Filmpublikum mit einem gänzlich neuartigen, innovativen Gebrauch der Filmkamera und einer kreativen, ‚symbolischen‘ Montagetechnik bekannt, die hier im Kontext eines Biopic über das Leben des Medienmagnaten Charles Foster Kane eingesetzt wurden. Die Verfilmung stand dabei den avantgardistischen Produktionen Welles’ für das Theater in nichts nach: Sie war schlicht „spektakulär“ (Carringer 1985). Orson Welles war damals der Meinung, dass das Medium Film noch so jung sei, dass man mit ihm experimentieren und Neues erproben könne, auch wollte er mit seinem Filmerstling in Hollywood etwas „Verwirrung in die Industrie“ bringen. Dies setzte er in Citizen Kane – dessen Hauptperson entsprechend – um, die sich unter anderem an der Biografie des US-amerikanischen Verlegers William Randolph Hearst orientierte: Charles Foster

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Verfasserin des Kapitels ‚Vorspann‘ ist Kornelia Imesch Oechslin.

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Kane war – ebenso verehrt wie gehasst – zeitweilig der größte Medienunternehmer und Meinungsmacher Amerikas, ja der Welt. In seinem Besitz war eine Goldmine, die eine Vielzahl von Radiostationen und Zeitungsverlage finanzierte, die Kanes „Meinung“ über den Globus verbreiteten und das Medium zur Message machten (Abb. 1). Welles hatte diese angestrebte „Verwirrung der Industrie“ in Citizen Kane auch über die intermedialen Anleihen bewerkstelligt, die er für seinen Film in Stil und Technik beim Genre Wochenschau machte. Abbildung 1: Intermediale Anleihen beim Genre Wochenschau

Quelle: Citizen Kane, RKO Pictures, 1941

Der von RKO Pictures produzierte Film zeichnet in Rückblenden Aufstieg und Fall des aufsehenerregenden Lebens von Kane filmisch spektakulär nach: Der Filmbeginn mit Kameratechnik und -perspektive ist als Wochenschau-Bericht über den Tod Kanes und die Rahmenhandlung dieses Biopic als Redaktionssitzung des amerikanischen Wochenschau-Teams News on the March gestaltet, die in der Folge ihren Reporter Jerry Thompson losschickt, um dem buchstäblich letzten Wort Kanes auf seinem Totenbett in seinem megalomanen Schloss Xanadu – bis unters Dach vollgestopft mit Statuen und Bildwerken europäischer Herkunft – nachzuforschen: Kanes letztes Wort war „Rosebud“. Das Biopic ist somit als Wochenschau-Sondersendung getarnt und thematisiert Vorgehensweisen und Techniken dieses Genres. Diese intermedialen Anleihen bei der ‚gefilmten Zeitung‘, als welche Wochenschauen verstanden wurden, sind insofern bedeutsam, als Welles mit ihnen der hohen Bedeutung dieses publizistischen Instruments und dessen filmischen Eigenschaften eine (ironische) Reverenz erwies und in dieser Reverenz das Medium zugleich infrage stellte und dessen Grenzen aufzeigte. Denn so, wie die Bedeutung von „Rosebud“ in Citizen Kane durch den Wochenschau-Reporter nicht aufgeklärt werden kann – der Namenszug Rosenknospe ist dem Schlitten aus den Kindheitstagen Kanes aufgeprägt –, so

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wird der unbeachtet gebliebene Schlitten des jungen Kane während der Räumung des Schlosses Xanadu achtlos den Flammen übergeben. Nicht beantworten lässt sich auch die Frage des Off-Kommentators der ‚Wochenschau‘ in Citizen Kane im Trailer zum Film: „What’s the real truth about Charles Foster Kane?“ Und so, wie uns das an einem hohen Zaun befestigte Schild „No trespassing“ (Abb. 2) den Zutritt zum Anwesen Kanes verwehrt, so wird uns auch Zugang und Aufschluss über dieses Leben verunmöglicht. Abbildung 2: Kein Zugang – weder zu Kanes Anwesen noch zu seinem Leben

Quelle: Citizen Kane, RKO Pictures, 1941

Mit einer Nahansicht ebendieses Schildes und einem nachfolgenden episch langen, dem Zaun in Nahaufnahme entlang in die Höhe fahrenden KameraTravelling setzt das Biopic ein. Orson Welles’ Film war 1941 zwar ein kommerzieller Misserfolg, dies aus Gründen, auf die hier nicht weiter eingetreten werden kann, schrieb jedoch Filmgeschichte. Das Genre Wochenschau war damals weltweit erfolgreich, sollte später jedoch von der Forschung wenig Beachtung erfahren – jedenfalls nicht der kulturellen Bedeutung des Mediums entsprechend untersucht werden: eine Bedeutung auf die schon Hans Magnus Enzensberger in seiner bissigen Kritik auf das Genre in den 1950er Jahren hingewiesen hatte (Enzensberger 1962: 88-109). ‚Erste Einstellung‘ „No trespassing“ steht denn auch metaphorisch für das intermediale Genre Wochenschau – und dies in mehrfacher Hinsicht. International setzte es sich im frühen 20. Jahrhundert durch und verschrieb sich von Anfang an dem spektakulären und aktuellen, dem nah am Puls und an der Novität der Zeit stehenden, als authentisch ausgegebenen Medienereignis, oder es wandelte auf den Spuren einer berühmten Person. Indem das Genre jedoch ‚alles‘ zeigte oder zeigen wollte und dieses Gezeigte dazu noch als wahrhaftig und

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echt vorgab, zeigte es letztlich nichts oder zumindest nicht das, was man von ihm erwartete und was es selbst vorgab zu sein: nämlich „Spiegelbild“ und historisches filmisches Dokument für eine Gesellschaft und Kultur sowie deren Wirkungsweisen und Denkstile. Obwohl es sich authentisch gab, erwies es sich als Konstrukt. Wie bei Biopics sind auch beim WochenschauGenre zudem Realität und Fiktion, Spielfilm- und Dokumentarstilmodus wechselseitig miteinander verbunden und ununterscheidbar. Eine Antwort darauf, was „the real truth“ sei – worauf sich Wochenschauen angeblich verstanden –, bleiben sie uns jedenfalls insofern schuldig, als sie uns wie der Film Citizen Kane keinen Zugang geben zu ‚einer‘ Wahrheit, sondern bloß ‚unterschiedliche oder mögliche Wahrheiten‘ kurz aufscheinen lassen – so, wie im Film Citizen Kane die Person von Charles Foster Kane durch das Spiegelbild multipliziert erscheint (Abb. 3). Abbildung 3: Der multiplizierte Charles Foster Kane – multiple Wahrheiten in der Wochenschau

Quelle: Citizen Kane, RKO Pictures, 1941

Diese Feststellungen gelten auch für die Schweizer Filmwochenschau, welche in der Folge aus zwei unterschiedlichen Untersuchungsperspektiven beleuchtet werden soll. Generell wird dabei die Erforschung von Kunst, Kunstbetrieb und Wissensgesellschaft in der Schweiz innerhalb dieses Mediums fokussiert. Im Kapitel Born under a bad sign. Die Filmwochenschau als Symptom werden von Mario Lüscher unter Berücksichtigung der Umstände der Gründung der SFW ihre bisherige kritische Rezeption in der Film- und Geschichtswissenschaft verfolgt. Auf der Basis der Möglichkeiten des Mediums Wochenschau versucht der Beitrag für das Forschungsprojekt alternative methodische Zugänge aufzuzeigen. In Die Welt als Spiegel. Konstruktionen von Identität und Alterität in der SFW kommentiert Nadja Lutz aus medienwissenschaftlichem Blickwinkel die Strategien nationaler Selbstdarstellung über Kommentare zum Anderen. Anhand eines Beispiels

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wird nachverfolgt, wie die Auslandsreportagen der SFW als wichtige Bestandteile einer großen, identitätsstiftenden Gesamtdarstellung fungieren. ‚Zweite Einstellung‘ In Analogie zu Citizen Kane darf auch bei der Schweizer Filmwochenschau (SFW) von einem Biopic gesprochen werden. Die SFW ist ein ‚Biopic der Nation Schweiz‘. Als eine der wenigen internationalen Wochenschauen ist sie ein staatliches und nicht privatwirtschaftlich gegründetes und produziertes Informationsmedium (Abb. 4). Am symbolträchtigen Datum 1. August 1940 als „Kamera gegen Hitler“ (Ladame 1997) ins Leben gerufen, war diese Kamera zugleich eine, die im Dienst von Theorie und Ideologie der „geistigen Landesverteidigung“ von Bundesrat Philipp Etter stand (Etter 1937; Amrein 2007). Als solche hatte sie explizit „Schweizer Werte“ zu vermitteln.2 1975 wurde die Wochenschau-Produktion eingestellt. Abbildung 4: Die SFW – gegründet im Dienst der „geistigen Landesverteidigung“

Quelle: Schweizer Filmwochenschau, Sondernummer: Einheit in der Vielfalt, 16.10.1942, Nr. 113, Bundesarchiv Bern, Signatur J2.143#1996/386#113*

Mit der Gründung der Schweizer Filmwochenschau 1940 manifestierte sich in Entsprechung dazu, was Sascha Buchbinder im Zusammenhang mit der Schweizer Geschichtsschreibung um 1900 als „Wille zur Geschichte“ umschrieben hat (Buchbinder 2002): der ‚Wille zum Bild‘ (Abb. 5). Die Schweizer Filmwochenschau wurde zum integrierten Bestandteil einer damals im Rahmen der bereits genannten „geistigen Landesverteidigung“ lancierten Bild-und-Kunst-Politik, die zeitgleich zur Gründung von Schweizerischer Filmkammer und Pro Helvetia führte.

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Die SFW hatte Ladame zufolge aufzuzeigen, „ce qui était bon, beau, bien – c’està-dire positif – en Suisse“. Zur „geistigen Landesverteidigung“ siehe Etter 1937.

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Abbildung 5: „Der Wille zum Bild“

Quelle: Schweizer Filmwochenschau, Ansprache General Guisan, 1 Jahr Mobilisaton, 06.09.1940, Nr. 6, Bundesarchiv Bern, Signatur J2.143#1996/386#6*

In Bezug auf Film und Filmpolitik liest sich die damalige Entwicklung wie eine Umsetzung der benjaminschen Thesen zur Wirkungsmacht des Mediums. Zahlreiche Bundesdokumente der späten 1930er und 1940er Jahre weisen in diese Richtung. Geeint in der Vielfalt, wurde die Schweiz im Rahmen dieses ideologischen Konzepts zum Artefakt im ursprünglichen und für den Schweizer Kunstbegriff genuinen technischen Sinn, sie wurde zum multiethnischen, auf überrationaler und übersinnlicher Schönheit beruhenden Kunstgebilde. Besonderes Gewicht kommt damit auch der Analyse der Kunstberichterstattung in der SFW3 zu, die im Kontext der internationalen Wochenschauen in der SFW prozentual und qualitativ hoch ausfällt und in den Reportagen vorzugsweise mit Berichten über Themen zu technischem Know-how und technischer Innovation in der Schweiz, zu wirtschaftlicher Prosperität, zu Mode und Freizeitgestaltung u.a.m. kurzgeschlossen oder mit Reportagen zu Import und Export sowie zum Image der Schweiz im Ausland kombiniert werden. Das Kunst- und Kulturverständnis der damaligen Schweiz zwischen 1940 und 1975 erweist sich – aus der Perspektive dieses Mediums – als ein ‚dienstleistendes‘ und als ein vorpostmodernistisches, das für die Ära des Kalten Kriegs in unserem Land charakteristisch war. Es ist geprägt von der durch Max Bill propagierten „guten Form“ (Erni 1983) – geprägt auch durch das erwähnte kulturpolitische Konzept Philipp Etters in seiner modernistischen Auffassung nach 1945 (Imesch 2010), doch hatte

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Erste Ergebnisse hierzu wurden bereits publiziert (Imesch 2009; Imesch 2010; Imesch 2011; Lüscher 2011), zur SFW im Allgemeinen siehe vor allem Gasser 1979; Fränkel 2003; Gerber 2002.

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sich dieses von allem Anfang an der „Kulturwahrung und Kulturwerbung“ verschrieben (Etter 1937). Der Schweiz wurde durch die SFW somit nachhaltig ins Bild und zum Bild ihrer selbst verholfen. Dass man dies erst ab 1940 tat4 – und dies zudem noch unter staatlicher Regie – hat nebst den politischen Umständen mit der Situation der Filmindustrie in der Schweiz und den relativ bescheidenen hiesigen Produktionsverhältnissen zu tun, die sich nicht vergleichen lassen mit jenen der europäischen Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich und Italien oder den USA, wo große Filmproduktionsfirmen auch Wochenschauen herstellten und vertrieben. Teils signifikant anders ist auch der Stil der Reportagen der SFW, der über die Wahl der Themen, ihre filmische Umsetzung, die Verknüpfung der verschiedenen Beiträge innerhalb der wöchentlich erstellten Reportagen und dem Einsatz einer ‚symbolischen‘ oder ‚assoziativen‘ Montage innerhalb und zwischen den Beiträgen stets eine ‚große schweizerische Erzählung‘ heraufbeschwor, die auf verschiedenen Metaebenen wirksam wurde. Wirklich spektakulär zu drehen, verbot sich allerdings zumeist; die SFW war in diesem Sinne kein ‚Unternehmen Citizen Kane‘ (auch was die finanziellen Verhältnisse betraf), was mit der Ideologie und dem Selbstverständnis der multiethnischen, angeblich auf der Vernunft und dem Kompromiss beruhenden ‚Willensnation Schweiz‘ zu tun hatte, die sich also staatspolitisch, sozial und kulturell der Mediokrität im antiken Sinne verpflichtet fühlte. Dies wird explizit in der Stellungnahme des Chefredaktors Charles Cantieni, der 1963 den Stil der SFW in der Nachkriegszeit als vernünftigen Mittelweg zwischen der – laut ihm – (immer noch) reißerischen Neuen Deutschen Wochenschau und der (allzu) veristischen Italienischen Wochenschau (Incom) charakterisierte (Cantieni 1963: 135-136). Man verstand sich rhetorisch somit dem „mittleren Stil“ verpflichtet und insofern als „redlich“, „gefilmte Zeitung“, die sich als „Spiegel“ des Landes verstand – ein Spiegel, der allerdings „nicht immer in der Lage [sei], die Wahrheit zu sagen“ (Cantieni 1963 : 137, 138). Dieser „Spiegel des Landes“ funktionierte nach dem filmisch hybriden Konzept einer sogenannten rekonstruierten Authentizität – Ereignisse wurden nicht selten nachgestellt – denn, so der Operateur Franz Vlasak 1956, es finde nicht immer dort etwas statt, wo sich das Wochenschauteam gerade befinde oder in einer Form, die sich für Aufnahmen eignen würde, deshalb brauche die „Wirklichkeit […] Regie“.5 Die SFW als Beitrag zur „Erfindung der Schweiz“ funktionierte im Wesentlichen nach

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Eine privatwirtschaftliche Vorform der Wochenschau in der Schweiz in den 1920er und 1930er Jahren, die nur unregelmäßig produzierte, war wenig erfolgreich und wurde eingestellt (siehe dazu Gasser 1979).

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Franz Vlasak in der Seeländer Volkszeitung, Biel, 6.1.1956 (zit. nach Sutter 2000: 8).

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diesem Konzept einer „rekonstruierten Authentizität“ im rhetorischen mittleren Stil, in der Kombination von Spielfilm- und Dokumentarfilmmodus. Auch wenn das Medium insofern in seinen Reportagen als historische Quelle, als ‚authentisches‘ Dokument auf seine Art und Weise in verschiedener Hinsicht ‚No trespassing‘ impliziert, auch was seine praktisch bis heute ausgebliebene adäquate Erforschung aus filmwissenschaftlicher Sicht betrifft, so lässt sich zumindest festhalten, dass das publizistische Instrument, in Anlehnung an Buchbinder, den „schweizerischen Willen zur Geschichte“ mit einem ‚schweizerischen Willen zum Bild‘ kombinierte und diesen Willen in eine filmische Sprache umsetzte, die der sinnstiftenden schweizerischen Erzählung Gestalt gab. Als Archiv ist die SFW aus unterschiedlichen Perspektiven befragbar – auch was das Verhältnis der Schweiz zum Ausland betrifft –, worauf sich der Abschnitt Die Welt als Spiegel konzentriert. Die Kombination der Modi von Spielfilm und Dokumentarfilm, die Anwendung fand, und die vermittelten Inhalte entsprechen jener Bricolage-Technik, welche für die nationale Identitätskonstruktion in der Schweiz charakteristisch ist (Marchal/Mattioli 1992; Marchal 2007). Sie sind dem sakral konnotierten helvetischen Sendungsbewusstsein als Sonderfall verpflichtet und verkörpern dessen audiovisuellen, thematisch komplexen Ausdruck. Abbildung 6: Ein audiovisuelles ‚Biopic der Schweiz‘

Quelle: Schweizer Filmwochenschau, Sondernummer: Einheit in der Vielfalt,16.10.1942, Nr. 113, Bundesarchiv Bern, Signatur J2.143#1996/386#113*

Insofern ist die SFW als intermedial konzipiertes, audiovisuelles ‚Biopic der Schweiz zwischen 1940 und 1975‘ (Abb. 6) ein Mediendokument, das die Macht des Diskurses im Sinne Michel Foucaults als Macht des bewegten Bildes erfahrbar und analysierbar macht. Das ‚No trespassing‘ wird in diesem Sinn zu einem in vielen Richtungen offenen ‚Trespassing‘.

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B ORN

UNDER A BAD SIGN – DIE SCHWEIZER 6 FILMWOCHENSCHAU ALS SYMPTOM

In der Schweiz der Kriegs- und Nachkriegsjahre existierte, wie auch in einigen anderen Nationen7, eine vom Staat getragene Wochenschau. In dreisprachiger Erscheinungsweise trug das audiovisuelle Format den Titel Schweizer Filmwochenschau (SFW), Ciné-journal suisse oder Cinegiornale svizzera und brachte es nach seiner Gründung 1940 auf die stattliche Lebensdauer von 35 Jahren. 1975 wurde die Produktion der SFW, nach drastischen Kürzungen ihres Budgets durch Bundesrat und Parlament, eingestellt. Ein Blick auf die kritische Rezeption der letzten dreißig Jahre zeigt zwei widersprüchliche Positionen gegenüber der SFW auf: Die eine Haltung charakterisiert eine beinahe instinktive Ablehnung, welche die Wochenschau in erster Linie als Produkt nationaler Propaganda begreift; zitiert werden ihre angeblich dilettantische Fertigung, ihr stereotyper Inhalt und ihre von staatlicher Hand gelenkte Informationspolitik. Dagegen preist eine ihr entgegengesetzte Perspektive den historischen Wert dieser Aufnahmen und propagiert die SFW als audiovisuelles Kulturgut und wichtige Quelle für die historische Erforschung der Schweiz der Jahre 1940 bis 1975. Diese Abfolge reflektiert auch eine Chronologie unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen, die sich entsprechenden Disziplinen zuweisen lassen. Eine Ablehnung der SFW manifestiert sich in der Filmwissenschaft, die im Rahmen ihrer Kanonbildung eine erste kritische Beurteilung vornahm und die SFW als einzig der historischen Forschung würdig befand. Die Historiker übernahmen in der Folge die SFW als historische Quelle, notabene mit Fokus auf die Schweiz der Jahre 1939-45. Die unterschiedlichen Beurteilungen der SFW in den beiden Disziplinen besitzen indessen strukturelle Berührungspunkte, welche in die ihnen gemeinsame Auffassung der SFW als Symptom münden. Wie im Weiteren dargelegt werden soll, ist der jeweils propagierte Symptomcharakter einem spezifischen Erkenntnisinteresse geschuldet, das in seinem zeitgeschichtlichen Rahmen einen berechtigten Platz einnahm, im Rückblick jedoch auch die Funktionalisierung der SFW im jeweiligen Diskurs erkennen lässt. Für die Rezeption des Mediums SFW allerdings bedeutete ihre Einbettung in diese spezifischen Fragestellungen eine epistemologische Engführung, deren Erweiterung in der neueren Forschung zur SFW ansteht.

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Verfasser dieses Kapitels ist Mario Lüscher. Der Bericht über den weltweiten Vertrieb der Wochenschauen, erschienen 1951 zuhanden der UNESCO, erwähnt neben den Staaten des Warschauer Paktes Ägypten, Argentinien, Brasilien, Chile, England, Frankreich, Indien, Israel, Jugoslawien, Kanada, Malaysia, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Peru und die Türkei (vgl. Baechlin/Muller-Strauss 1951: 74-89).

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Stiefkind SFW Diese Tendenz zur Auffassung der SFW als Symptom ist allem voran der Geburtstunde bzw. den parentalen Verhältnissen dieses Kriegskindes geschuldet. Gegründet 1940 und damit im Jahre II einer fetischisierten schweizerischen Historiographie ist die Wochenschau nicht nur Kriegs-, sondern in der Folge auch Stiefkind. Ins Leben gerufen hat sie Vater Staat unter Ausnutzung seiner kriegsbedingten Vollmachten – kriegsbedingt waren auch die Umstände, die Mutterschaft leisteten. Ihre Vorgabe, ideologische Raumsicherung im kinematographischen Sinne zu gewährleisten, erübrigte sich allerdings mit dem Ende des Weltkrieges und zurück blieb das ungeliebte Stiefkind Wochenschau. Ungeliebt blieb es aufgrund seines tendenziell pathetischen Wesens zumindest bei einem Teil der Zuschauer, die während seiner obligatorischen Projektion vor dem Kinofilm lieber draußen schwatzten. Damit fiel die SFW auch bei den Kinobesitzern in Ungnade; einzelne Betreiber sahen sich veranlasst, das kostenpflichtige SFW-Obligatorium an den Schluss des Kinoprogramms zu verbannen, damit niemand gezwungen sei, es sich anzuschauen. Ungeliebt war die SFW auch bei den Filmverleihern, da die ihnen aufgezwungenen Importzölle auf ausländische Filme zur Finanzierung der SFW beitragen sollten. Ungeliebt war die SFW seit jeher in der Romandie gewesen, wo man sich von Anfang bis zuletzt über ihre staatliche Aufoktroyierung empörte. Nach anfänglichen Reibereien durfte sich die Wochenschau zumindest der Liebe der Militärs erfreuen, wobei aber diese über Jahrzehnte harmonische Beziehung aufgrund des plötzlichen Linksdralls der SFW anfangs der siebziger Jahre ein brüskes Ende nahm. Ungeliebt war die Wochenschau bei einem Teil der Schweizer Filmschaffenden, da ihnen die SFW im Kampf um staatliche Subventionen bevorzugt erschien. Schließlich war auch der Staat ein gestrenger Vater, der die Ausgaben der SFW zum größten Teil selbst zu tragen hatte, was dazu führte, dass sie Zeit ihres Bestehens finanziell äußerst knapp gehalten wurde. Dass wer zahlt, befiehlt, schien auch in Bern allzu offenkundig und man wollte – auch in Kriegzeiten – auf keinen Fall den Eindruck eines von der Obrigkeit kontrollierten Staatsbetriebes erwecken. Um diesen Verdacht zu zerstreuen, gründete man 1942 die Stiftung Schweizerische Filmwochenschau, die als juristisch unabhängiges Organ den Betrieb und die Kontrolle der Wochenschau zu gewährleisten hatte. Natürlich änderte dieses zivilrechtliche Manöver nichts am Ansehen der SFW, da ihre offensichtliche Verflechtung mit der Schweizerischen Filmkammer und damit dem Eidgenössischen Departement des Innern de facto weiter bestand. Die SFW in der Schweizer Filmgeschichte Die Umstände ihres Zustandekommens haben die Wahrnehmung der SFW als staatlich gelenkte Propagandamaschine entscheidend geprägt, eine Wahrnehmung, die in dieser Form in der schweizerischen Filmgeschichts-

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schreibung ihren Niederschlag fand. Ausschließlich im Kontext der „Geistigen Landesverteidigung“ erscheint die SFW in Hervé Dumonts 1987 publizierten Geschichte des Schweizer Films 1896-1965. Hier ist von der „ideologischen Kontrolle“ eines „idealen Sprachrohrs für nationale Stellungsnahmen“ die Rede, die in den Vorwurf mündet, dass über politische und kulturelle Ereignisse wie „Welturaufführungen am Schauspielhaus, die Cornichon-Programme“ nicht berichtet worden sei, und „schon gar nicht über das Schicksal jener Flüchtlinge, die in unserem doch so traditionellhumanitären Lande gnädigst Aufnahme gefunden haben“ (Dumont 1987: 251).8 Dass hier die SFW mit der Schweizer Flüchtlingspolitik der Kriegsjahre in Beziehung gebracht wird, kommt nicht von ungefähr – Dumont bezieht sich in seinen Ausführungen auf die erste (und bislang einzige) umfassende Arbeit über die SFW der Kriegsjahre von Bernard Gasser, welche 1979 im Schweizer Filmjournal Travelling erschien (Gasser 1978-79: 2166). Der erste Teil dieser Arbeit enthält eine sorgfältige Darlegung der Gründungsgeschichte und Tätigkeit der SFW während des Krieges, in der konsequenterweise auch die Auseinandersetzungen um Flüchtlingsberichte und Zensur Erwähnung finden. Der zweite Teil von Gassers Arbeit, eine Analyse der Nummern des Jahres 1945, verrät in seiner zuweilen tendenziösen Darstellungsweise auch den kritischen Impetus der Zeit9: In der unbarmherzigen Analyse dieser „gommage de l’histoire [qui] s’opère par élimination de tout ce qui crée problèmes ou conflits [...] au profit d’une vision focalisée sur tout ce qui unit“ (Gasser 1979: 115) manifestiert sich der berechtigte Widerstand gegenüber einer mythographischen Schweizer Geschichtsschreibung wie sie in den 1970er Jahren noch in aller Selbstverständlichkeit zelebriert wurde. Jene kritische Geisteshaltung diktiert auch den Tonfall der 1981 erschienen Schweizer Filmgeschichte von Walter Wider und Felix Aeppli. Den Autoren ist die Erwähnung der SFW, ebenfalls unter der Rubrik „Geistige Landesverteidigung“, gerade mal einen lapidaren Satz wert. Mit der Charakterisierung der SFW als „eidgenössische Systemwerbung“ (Wider 1981: 171) ist das Thema, da filmhistorisch offensichtlich irrelevant, für die beiden Autoren abgehandelt. Schlichtweg nicht existiert hat die SFW gemäß den Fortsetzungsbänden von Hervé Dumonts Filmge-

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Die Ausführungen Dumonts zur SFW sind im Weiteren problematisch, da sie zahlreiche unbelegte Behauptungen und Fehler beinhalten: Dumont redet von „aus dem Ausland stammenden Inserts (Frontnachrichten)“ – in der Tat sind einige wenige Inserts zu finden, niemals aber ausländische Frontnachrichten, die mit der neutralen Ausrichtung der SFW in keiner Weise vereinbar gewesen wären. Weiter stilisiert Dumont Alfred Masset, Leiter der Produktions- und Kopierfirma Cinégram, zur grauen Eminenz der SFW – eine Behauptung, die angesichts der personellen und institutionellen Verflechtungen der SFW abenteuerlich anmutet. Von demselben kritischen Geist getragen ist Anne Cuneos Beitrag zum Bild der Frau in der Wochenschau aus dem gleichen Jahr (Cuneo 1979: 3-64).

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schichte, die unter Mitarbeit von Maria Tortajada im Jahre 2007 erschienen sind (Dumont/Tortajada 2007). In lexikographischer Form behandeln sie das Schweizer Filmschaffen der Jahre 1966-2000, während derer die SFW immerhin noch zehn Jahre in den Kinos zu sehen war und in den 70er Jahren in Magazinform den Schweizer Jungregisseuren für die Realisierung von Kurzfilmen zur Verfügung stand. Es scheint, dass die Behandlung der SFW der Kriegsjahre, wie sie im ersten Band (1987) von Dumonts Filmgeschichte vorgenommen wird, als ausreichend betrachtet wurde. Eine Ausnahme bildet die Filmgeschichte Freddy Buaches aus dem Jahr 1974, geschrieben zu einer Zeit, als der letztlich erfolglose Kampf um die weitere Existenz der SFW in vollem Gange war: „[…] ce journal d’actualités nationales fut réalisé avec beaucoup de soin par ses rédacteurs sucessifs, notamment Hans Laemmel, puis Charles Cantieni, et il constitue la seule archive vivante de l’histoire de notre pays dès 1940.“ (Buache 1974: 79)

Aufgrund der damaligen Aktualität der Thematik ist Buache auch der einzige Kommentator, in dessen Perspektive über die Ära Ladame (1940-44) hinaus die Weiterführung der SFW unter den Redaktoren Hans Laemmel (1944-61) und Charles Cantieni (1961-67) Erwähnung findet. Allerdings bleiben auch hier die nachfolgenden Chefredaktoren Wolf Achterberg (1967-69), Hermann Wetter (1969-72) und Peter Gerdes (1972-75) unerwähnt. Diese verknappte Wahrnehmung der SFW als Symptom einer Krisenzeit, wie sie sich in den grundlegenden Publikationen zur Schweizer Filmgeschichte niederschlägt, setzt auch die Parameter ihrer Rezeption: Der Anspruch auf eine Auseinandersetzung aus filmwissenschaftlicher Sicht bleibt der SFW aufgrund des filmhistoriographischen Urteils, eines supponierten Mangels an filmischer Qualität, verwehrt. Angesichts des Desinteresses der Filmgeschichte gegenüber der Produktion der SFW der Nachkriegszeit ist zu konstatieren, dass dieses qualitative Urteil stillschweigend auch für die Produktion der Jahre 1945-75 geltend gemacht wurde. Wochenschau und Autorschaft Grund für die negative filmhistorische Beurteilung der Wochenschau ist mitunter die Problematik ihrer Autorschaft. Im Fall der SFW schien eine Untersuchung dieser Frage von vornherein müßig, da mit Blick auf die Kriegsjahre jeglicher Gestaltungswille hinfällig werden musste: Als Autoren der SFW galten Staat, Ideologie und Zensur. Dazu gesellte sich die Tatsache, dass auch die Macher der SFW ein eher ambivalentes Verhältnis zu ih-

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rer Autorschaft pflegten10. Das filmgeschichtliche Desinteresse erstaunt umso mehr, als Namen wie Georges Alexath, René Boeniger und Kurt Früh11 eine genauere Untersuchung hätten motivieren können. Die Fixierung auf die staatliche Lenkung der SFW führte jedoch zur kompletten Ausblendung der Rolle ihrer Produzenten im Gestaltungsprozess, wo sie sich im Spannungsfeld zwischen Selbstzensur und Widerstand gegenüber obrigkeitlichen Weisungen bewegten. Wenn überhaupt, so rückte die Fokussierung auf die Kriegsjahre die Person des ersten Chefredaktors, Paul Alexis Ladame, in den Vordergrund. Mit seiner Ernennung 1940 trat Ladame die schwierige Aufgabe an, mit dürftigsten Mitteln eine Schweizerische Aktualitätenschau auf die Beine zu stellen, die sich zur filmischen Umsetzung des Konzepts der „Geistigen Landesverteidigung“ verpflichtet sah. Es liegt auf der Hand, dass Ladame dabei Diener vieler Herren war12; seine Verstrickung in die innenpolitischen Grabenkämpfe hat ihn 1944 vermutlich auch seine Stellung gekostet. Die eigenen publizistischen Darstellungen seiner damaligen Tätigkeit (Ladame 1997; 1999) fallen nicht von ungefähr ans Ende der neunziger Jahre, als die öffentliche Auseinandersetzung um die Schweizerische Vergangenheit der Kriegsjahre ihren Höhepunkt erreichten. Mit ihrem Rechtfertigungsdrang haben Une caméra contre Hitler und Defending Switzerland der Rezeption der SFW insgesamt jedoch einen Bärendienst erwiesen, indem sie aus der Perspektive des Chefredaktors der Kriegsjahre einmal mehr den ideologischen Hintergrund der SFW unterstrichen. Hinter der Figur Ladames verschwindet auch der prägendste Protagonist der SFW, Hans Laemmel, der die Redaktion vom August 1944 bis 1961 innehatte. Laemmel, der während des Krieges als Filmkritiker bei der NZZ

10 So zum Beispiel Ladame: „Surtout ne me nommez pas: Je tiens à disparaître complétement derrière l’oeuvre.“, (Brief Ladames an Lucien de Darel, Redaktor der Zeitschrift Curieux, 24.5.1942, Archiv Paul Ladame, seit 2006 in der Bibliothèque Universitaire de Genève (BUG). Auch Kurt Früh charakterisiert sein Engagement bei der SFW als reine Auftragsarbeit, der in seinen Memoiren eine knappe Zeile gewidmet ist (Früh 1975: 100). 11 Bis heute hat kaum eine Studie zu Kurt Früh seine Arbeit als Toningenieur, Cutter und Sprecher der SFW zur Kenntnis genommen. René Boenigers Beitrag zum Schweizer Dokumentar- und Spielfilmschaffen harrt bisher der Bearbeitung. Letzteres gilt ebenso für die Arbeit des Exilrussen Georges (Juri) Alexath. 12 Dass Ladame Beiträge auf General Guisans persönlichen Wunsch hin realisiert hat, ist belegt: „[…] le rapport concernant les quatre films qui ont été tournés sur le désir du Général“, (Brief von Ladame an Col. Barbey, 14.8.1944, Archiv Paul Ladame, BUG). Ebenfalls bekannt sind die direkten Verbindungen zu Traugott Wahlen im Kriegernährungsamt, für welches Ladame mehrere Beiträge zur Anbauschlacht drehte. Die Verbindungen zum Eidgenössischen Departement des Innern waren durch die Aufsichtsfunktion der Filmkammer über die Stiftung SFW gegeben.

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tätig war, hat als Redaktor der SFW wiederholt in schriftlicher Form die eigene Arbeit reflektiert (Laemmel 1945: 183-192; 1955), Äußerungen, die bis dato keinen Eingang in die Forschung und Beurteilung der SFW gefunden haben13. Insgesamt darf spekuliert werden, dass das filmhistorische Desinteresse an einer Analyse der personellen Autorschaft der Wochenschau, ihre Auffassung der SFW als eine Art Blackbox, eine Funktion erfüllt, die sich erst mit Blick auf die allgemeine Haltung der Schweizer Filmgeschichte zum Filmschaffen dieser Zeit erschließt. Wenn auch den Spielfilmproduktionen der Jahre 1939-45 eine gewisse Qualität attestiert wird, so schwingt in ihrer Beurteilung doch immer ein Unbehagen mit. Die Quelle dieses Unbehagens bezeichnen die stets angeführten ideologischen Untertöne dieser Produktionen, deren eindeutige Lokalisierung nicht immer leicht fällt, zeigen sie sich doch mit den jeweiligen Stoffen der Zeit eng verwoben. In der SFW hat die Schweizer Filmgeschichte hingegen den handfesten Beweis ihrer allgemeinen Malaise gegenüber der Spielfilmproduktion dieser Jahre gefunden: Die Wochenschau wird zum Symptom staatlicher Einflussnahme, das ein ideologisch vorgeprägtes Bildinventar bereitstellt und damit das ‚unabhängige‘ Filmschaffen infiziert. Einen klaren Hinweis liefert hier Dumonts Bemerkung, dass die „offizielle Sehweise“ der SFW das „Aufblühen des Schweizer Films während der Kriegsjahre beeinflusst und zum Teil verhindert“ (Dumont 1987: 251)14 habe. Das Begehren nach den abwesenden Bildern In die Stapfen der Filmgeschichte traten Mitte der neunziger Jahre die Historiker-Debatten zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die den Forschungsschwerpunkt erneut auf die Zeitperiode 1939-45 setzten und die SFW als audiovisuelle Quelle der historischen Forschung entdeckten. Damit korrespondierte ein zunehmendes Interesse der Öffentlichkeit an Bildern der Kriegsjahre, was den Aufnahmen der SFW eine inflationäre Publizität in

13 Allerdings präsentierten G. Haver und J.M. Schaufelbuehl vor einigen Jahren die interessante Entdeckung, dass Hans Laemmel bereits 1943 für das Departement des Inneren tätig war. Dabei handelt es sich um die Abfassung eines Skripts für eine geplante Ausgabe der amerikanischen Wochenschau March of Time über die Schweiz, die aufgrund der zögerlichen Haltung der Schweizer Behörden nie erschienen ist. Es ist anzunehmen, dass dieser Auftrag für Laemmels Berufung als Redaktor der SFW im August 1944 mitentscheidend war (vgl. Haver/Schaufelbuehl 2005: 98-112). 14 Eine interessante Gegenposition zu dieser Malaise gegenüber der Schweizer Filmproduktion jener Jahre liefert Elisabeth Bronfen (Bronfen 2009: 14-25).

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den Massenmedien verschaffte.15 Je mehr Bilder der Kriegsjahre zum Vorschein kamen, desto mehr richtete sich der Fokus auf die abwesenden Bilder, deren Fehlen mit dem Verweis auf staatliche Kontrolle, Zensur und Ideologie hinreichend begründet erschien. Die fehlenden Bilder wurden in der Folge zu einem Leitmotiv der historischen Untersuchungen und verdichteten sich in der Figur des großen Abwesenden, nach dem gefahndet wurde: Dem jüdischen Flüchtling, der während des Krieges nicht in der Wochenschau auftaucht.16 Ausgeweitet auf den gesamten Bereich der Internierten und Flüchtlinge, die in der SFW ausgiebig figurieren und instrumentalisiert werden, manifestiert sich hier ein neuer Schwerpunkt der Untersuchungen. Exemplarisch ist dabei eine an sich aufschlussreiche Studie über die Darstellung von Flüchtlingen und Internierten in der SFW, die 2001 publiziert wurde. Ihre These, dass „Wochenschauen zeitgenössische Diskurse und Mentalitäten“ (Schärer 2001: 171) wiedergeben, ist dabei keineswegs von der Hand zu weisen wie auch die Frage, „ob die Wochenschau vorbewusste Einstellungen von Bevölkerung und Behörden spiegelt“ (Schärer 1999: 16) ihre Berechtigung hat. Wiewohl die Wahl eines der sensibelsten Sujets dieser Zeit, die Darstellung von Flüchtlingen und Internierten, für die Beweisführung einleuchtend erscheint, so problematisch muss sie für die Beurteilung der Wochenschau an sich ausfallen. Für das Begehren nach den fehlenden Bildern und die Suche nach den „blinden Flecken“ (ebd.), wie es die Debatte der 1990er Jahre hervorgebracht hat, erweist sich die SFW ebenso prädestiniert wie ungeeignet. Sie wird damit zur großen Leerstelle17, an der die Geschichtsschreibung der Nachgeborenen die abwesenden Bilder sucht, um im gleichen Zug dem Medium vorzuwerfen, sie nicht gezeigt zu haben. Die imaginierte Dokumentation von „Flüchtlingselend, sozialen Spannungen oder Fluchtgeldern“18, von „Abschiebungen“ (vgl. Schärer 1999) an der Grenze, fehlt in der SFW wie sie auch in allen anderen Wochenschauen der Zeit fehlt. Es stellt sich die Frage, ob die Reduktion der Wochenschau zum spezifischen Symptom, als welches sie ihre bisherige Rezeptionsgeschichte behan-

15 „Was hätte das Fernsehen dieses Jahr auch ohne die einzigen filmischen Aktualitäten der Kriegsjahre gemacht?“, fragte Peter Gerdes (NZZ 1995). 16 Symptomatisch erscheint in diesem Zusammenhang die missbräuchliche Verwendung einer Wochenschausequenz durch das öffentlich-rechtliche Schweizer Fernsehen SF DRS in einem Beitrag der Tagesschau vom 10.12.1999. Gezeigt wurde die vermeintliche Zurückweisung von ausländischen Flüchtlingen durch Schweizer Grenztruppen. Tatsächlich handelt es sich um den SFW-Beitrag Nr. 154, einer fiktionalen Sondernummer zum Thema Ortswehr, in der das Szenario einer Invasion der Schweiz durchgespielt wurde (Hug 1999: 16). 17 Eine These, die der Autor der Studie insofern teilt: „Es wäre verfehlt, vom Studium der Schweizer Filmwochenschau neue historische Fakten zu erwarten“ (Schärer 1999). 18 Felix Aeppli, „Sprachrohr nationaler Propaganda“, Facts, 4.5.1995.

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delt, in diesem Sinne noch weiter zu verfolgen ist. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich die heutige Forschung in der komfortablen Lage befindet, hinsichtlich der SFW keine politische Debatte mehr stützen zu müssen – eine Lage, die sie den oben erwähnten historischen Auseinandersetzungen verdankt. Damit besteht die Möglichkeit, die SFW einerseits in einem größeren Kontext zu betrachten, der das Medium Wochenschau an sich, seine Produktionsprozesse und intermedialen Reflexionen innerhalb eines erweiterten Medienverbundes beleuchtet.19 In einem weiteren Schritt ist auch eine vielfältigere methodische Vorgehensweise denkbar, die dem Medium SFW und seiner Gründungsgeschichte mit weniger Vorbehalten begegnen müsste. Eine solche erweiterte Perspektive könnte dazu beitragen, die ausgetretenen Pfade der ideologiekritischen Analyse mit ihrer politischen Note20 hinter sich zu lassen, um zu einer differenzierteren Lesart mit bildwissenschaftlichem Akzent zu gelangen. W. J. T. Mitchell schlägt hier die Fragestellung nach der „visuellen Konstruktion des sozialen Feldes“ (Mitchell 2008: 325) vor, eine Fragestellung die von den anthropologischen Bedingungen der Wahrnehmung hin zu bildimmanenten Überlegungen führt. Mit Blick auf die SFW wäre beispielsweise zu fragen, inwieweit die ihr stets unterstellte Macht der Bilder zu relativieren sei, zumal diese Unterstellung zum gleichzeitigen formulierten Vorwurf der fehlenden Bilder in einem paradoxen Verhältnis steht. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Figur des naiven Zuschauers, die in der Rhetorik um die Wochenschau wiederholt in Erscheinung tritt, sei dies in der Beschwörung ihrer propagandistischen Möglichkeiten während des Krieges wie auch in ihrem selbstkritischen Diskurs danach. Zu fragen ist also nach der Funktion der Figur des Naiven, in der sich die ambivalente Auffassung von Initianten, Produzenten und Publikum hinsichtlich der tatsächlichen Bildmächtigkeit der SFW manifestiert.21 Im Rahmen einer bildwissenschaftlichen Perspektive könnte auch den intermedialen Wechselwirkungen nachgegangen werden, die zwischen dem künstlerischen Objekt mit seinen impliziten Forderungen nach Darstellung und seiner Präsentation im Kontext der SFW bestehen. Insofern als der Gestus der Wochenschau einer allgemeinen Verständlichkeit, klarer Darstellbarkeit und einem narrativen Duktus verpflichtet ist, sieht sich das Medium im Zuge der zunehmenden Intellektualisierung und Dematerialisierung der Kunst mit den Grenzen seiner Möglichkeiten konfrontiert. Hier stellt sich die Frage nach den Strategien der audiovisuellen Repräsentation, welche in diesem Fall zur Anwendung gelangen, geht es doch im massenmedialen

19 Diesen Weg beschreiten beispielsweise die Forschungen Gianni Havers, wenn auch vorab mit Berücksichtigung der Kriegsjahre (vgl. Haver 2001; 2003; Haver/Jacques 2003). 20 Mitchell nennt dies den „Gemeinplatz des bloßgelegten naturalistischen Irrtums“ (Mitchell 2008: 324). 21 Ähnlichen Fragestellungen folgt auch die deutsche Wochenschauforschung (Schenk 1997).

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Rahmen um nichts weniger als die Legitimation der Abbildungswürdigkeit des Objektes als künstlerisches (vgl. Imesch 2009; 2010). Zuletzt wäre auch die Bedeutung von Zensur und Selbstzensur neu zu reflektieren, und dies nicht nur im Kontext der Kriegsjahre. Die audiovisuellen Medien sind seit jeher und selbstverständlich auch im demokratischen Rahmen einer Zensur unterworfen, deren „produktiver Beitrag […] für den Prozess der Kanonisierung sowie ihre Funktion bei der allgemeinen Politisierung“ (Christians/Wegmann 2001: 667) bisher kaum beleuchtet worden ist. Der vorliegende Abriss der Rezeptionsgeschichte der SFW zeigt die bisherige methodische Dominanz in diesem Feld auf. Die bereits geleistete Forschungsarbeit ist damit keinesfalls abzulehnen, noch als Methode zukünftiger Auseinandersetzung auszuschließen. Vielmehr soll auf weitere Perspektiven aufmerksam gemacht werden, aus denen dieses sich über 35 Jahre erstreckende audiovisuelle Archiv erschlossen werden kann, zumal seine Bilder im Begriff sind, über die Grenzen der historischen Wissenschaften hinaus in andere Disziplinen zu diffundieren.

D IE W ELT ALS S PIEGEL . K ONSTRUKTIONEN I DENTITÄT UND ALTERITÄT IN DER SFW 22

VON

„Alors le ‚Ciné-Journal‘ sera l’organe du tourisme suisse à l’étranger, de son industrie et de son commerce; de même que, par une ‚autocritique‘ serrée, il sera la conscience imagée de la Suisse sociale et politique.“ (Paul Ladame, Chefredaktor SFW 1940-1944)

Als wichtigstes Informationsmedium, das in der ganzen Schweiz verbreitet war – wie schon in der Einleitung erwähnt – spielte die Schweizer Filmwochenschau (SFW) insbesondere auch bei der Konstruktion schweizerischer Identität während der Kriegs- und Nachkriegsjahre eine zentrale Rolle. Wie das vorangegangene Kapitel verdeutlicht, lag das Hauptaugenmerk in der bisherigen Forschung zur SFW auf den Kriegsjahren und thematisch besonders auf der Funktionsweise der SFW als Gegenpropagandainstrument zur nationalsozialistischen Wochenschau im Dienst der geistigen Landesverteidigung. Noch wenig erforscht sind dagegen die Nachkriegsjahre, besonders auch hinsichtlich der gesellschaftlichen und medieninternen Veränderungen und Umbrüche, die diese mit sich brachten. Zum anderen beschäftigte sich die Forschung bisher kaum mit der Auslandsberichterstattung der SFW respektive mit Beiträgen, in denen die Schweiz in ein Verhältnis zum Ausland gesetzt wird. Gerade diese Beiträge könnten sich aber hinsichtlich der Frage nach der kulturellen bzw. nationalen Identitätskonstruktion als besonders

22 Verfasserin dieses Kapitels ist Nadja Lutz.

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aufschlussreich erweisen. Erfolgt doch die Konstruktion einer eigenen Identität immer durch die Abgrenzung zum Anderen oder wie Wolfgang Raible feststellt: „Ich kann nur dann im eigentlichen Sinn Bewusstsein von mir haben, wenn ich dabei etwas anderes als mich selbst in mein Bewusstsein aufnehme. Das Bewusstsein des ego setzt die Wahrnehmung des Anderen – alter – voraus.“ (Raible 1998: 7)

Das Bedürfnis nach einer gemeinsamen nationalen Identität ist jeweils in Zeiten sozialer und politischer Veränderung besonders ausgeprägt (vgl. Schwarz 2002: 24; Sarasin/Ernst/Kübler/Lang 1998: 21). Deshalb ist es sinnvoll, vor einer Vertiefung des Themas und der Fragestellung einen kurzen Überblick über die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation der Schweiz der Nachkriegszeit zu geben. Die Nachkriegsschweiz: zwischen „Igelmentalität“ und „universalem Sendungsbewusstsein“ Nach Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich die Schweiz in einer „Epoche der beschleunigten Modernisierung“ (Kreis 1991: 16f). Die Atmosphäre von Kaltem Krieg, mit dem nach dem Wegfall der Bedrohung durch den Nationalsozialismus die omnipräsente Formel der Neutralität aufrechterhalten werden konnte, und Wirtschaftswachstum führten zu einem „Integrations- und Nationalisierungsschub“ (Furrer 1998: 11). Dieser beinhaltete die Nivellierung der Schweizer Gesellschaft und die Festigung eines „Bündels an Grundwerten“ (ebd.: 106), das wesentlich zur Konstitution einer nationalen Identität beitrug. Gleichzeitig kam es damit aber zu einer „doppelbödigen Koexistenz“ (ebd.: 113): auf der einen Seite die Massenkonsumgesellschaft westeuropäischen Zuschnitts, auf der anderen Seite ein verstärktes „Reduitsyndrom“ (ebd.) bzw. eine „Igelmentalität“ (ebd.), durch welche man nationale Abgrenzung inszenierte. Vor diesem Hintergrund gingen „Isolationismus und universales Sendungsbewusstsein Hand in Hand“ (Guggenbühl 1998: 39f). Die Wende, die ab den 1960ern europaweit einsetzte, lässt sich auch in der Schweiz beobachten und kann im Rahmen dieses Beitrags nur kurz umrissen werden: Der Konsens und die nationalen Deutungsmuster der 1950er Jahre wurden nicht mehr als selbstverständlich angenommen, die Kleinheit und politische Abgeschlossenheit des Landes zunehmend kritisiert. Parallel zu den gesellschaftlichen Veränderungen erlebte auch die SFW einen Wandel, unter anderem ausgelöst von der zunehmenden Konkurrenz durch das Fernsehen. Es wurden verstärkt Strategien der Abgrenzung bzw. Legitimation gegenüber dem Fernsehen ausgearbeitet, zum Beispiel durch Schwerpunktausgaben, die verstärkte Aufnahme ausländischer Sujets, insbesondere politischen, und zahlreichere Kurzinterviews und O-Töne.

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All diese Entwicklungen – in der Gesellschaft wie auch innerhalb der Organisation der SFW – hatten einen bedeutenden Einfluss auf die Frage und Suche nach einer nationalen Identität. Doch hier stellt sich nun zunächst einmal die Frage: Was genau heißt ‚Nationale Identität‘? Welche Rolle spielt der Einsatz, die Konzeption und Konstruktion ‚Nationaler Identität‘ in modernen, komplexen Gesellschaften? Nationale Identität: eine „imagologische Bastelei“ Der Begriff ‚Nationale Identität‘ ist einerseits eine im Alltag gebräuchliche Redewendung, die ein scheinbar ‚natürlich‘ gegebenes Konglomerat von einer Nation angeblich zuschreibbaren Eigenschaften und Mentalitäten bezeichnet, andrerseits als solches Forschungsgegenstand verschiedener Disziplinen, z.B. der Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Sozialpsychologie, Ethnologie und Medienwissenschaft ist. Benedict Anderson, einer der einflussreichsten Nationalismusforscher, betont den Konstruktionsaspekt des Begriffes: „Nation ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“ (Anderson 1988: 15). Vorgestellt sei sie deshalb, weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennten, im Kopf eines jeden aber die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiere (vgl. ebd.). Auch der Basler Historiker Georg Kreis betont: „Die nationale Identität ist nicht etwas Naturgegebenes, im Wesen eines Landes seit jeher Angelegtes. Sie ist vielmehr etwas Entstandenes, aber nicht zwangsläufig organisch, generativ Gewachsenes, sondern operativ Hergestelltes – ein Konstrukt.“ (Kreis 1993: 33)

Kreis und eine Reihe weiterer Schweizer Historiker haben dieses Verständnis von nationaler Identität als Konstruktion für ihre Arbeiten, die im größeren Kontext des Konzeptes der Lieux de mémoire verortet werden können, übernommen (vgl. Marchal/Mattioli 1992; Schweizerisches Landesmuseum 1998). Dieser Ansatz geht auf den französischen Historiker Pierre Nora (1981) zurück, der allerdings von einem natürlich gegebenen, festen Bestand an nationalen Erinnerungsorten ausgeht. Die Schweizer Historiker verstehen die Lieux de mémoire jedoch nicht als Fixpunkte, sondern als das Ergebnis von Zuschreibungsprozessen oder, wie Marchal und Mattioli es ausdrücken, als eine „Bricolage“ bzw. „imagologische Bastelei“ (Marchal/ Mattioli 1992: 12). In Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness fragt Kreis nach den „wichtigsten Elementen der gemeinsamen Vorstellung von der Schweiz und dem Schweizerischen“ (Kreis 2010: 7) sowie deren Funk-

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tion. Konkret geht es ihm dabei um jene Elemente, die eine historische Dimension haben, aber doch zur Gegenwart gehören, indem sie erinnert werden; daher der Begriff „Erinnerungsorte“ (ebd.). Kreis stellt in kurzen Essays 26 schweizerische Erinnerungsorte vor, wobei es sich dabei nicht ausschließlich um geografische Orte handelt, sondern auch um Persönlichkeiten, Institutionen, Gegenstände etc. Er gruppiert die Orte in die Kategorien „Ereignisorte“ (wie das Rütli), „Orte der Alpen und der touristischen Schweiz, reale oder fiktive Personen“ und die durch sie verkörperten Tugenden (z.B. General Guisan, Pestalozzi, Willhelm Tell oder Heidi) sowie diverse, recht bunt zusammengesetzte Alltagskategorien (wie „Toblerone“, „Swatch“, die „Swissair“ oder das „Bankgeheimnis“). Diese Erinnerungsorte fungieren nach Kreis für die Schweizer Gesellschaft als historisierende Referenzpunkte, welche die Kommunikation erleichtern und wichtige Deutungs- und Konstruktionsaufgaben leisten (ebd.). Die Schweiz sei besonders auf solche gemeinsamen Erinnerungsorte angewiesen, da sie als plurikulturelle Gesellschaft den Gemeinsamkeitsglauben mit „aufwendigen Deutungsund Konstruktionsleistungen“ (ebd.) habe herstellen müssen. Diese Argumentation soll hier aufgegriffen und das Konzept der Erinnerungsorte bzw. der nationalen Identität als ‚sinnstiftende Konstruktionen‘ für eine Analyse der SFW fruchtbar gemacht werden. Weitere nützliche Überlegungen – insbesondere hinsichtlich der Identitätskonstruktion durch Abgrenzungsprozesse zum Anderen – können von der komparatistischen Imagologie übernommen werden, deren Gegenstand die Untersuchung von nationenbezogenen Fremd- und Selbstbildern in der Literaturwissenschaft ist. Sie beschäftigt sich mit der Genese, Entwicklung und Wirkung dieser so genannten „Hetero- und Auto-Images“ im literarischen und außerliterarischen Kontext (Schwarze 2001: 274). Gonthier-Louis Fink, einer der führenden Imagologen in Frankreich, betont dabei die gegenseitige Wechselwirkung zwischen Selbst- und Fremdbildern. Demnach ist jede Vorstellung, die man sich vom anderen Land macht, geprägt von einem individuellen oder kollektiven psychischen Bedürfnis, entweder nach Selbstbestätigung oder nach Kompensation (Fink 1993: 31, zit. in Florack 2007: 25).23 Im 20. Jh. gewannen neben Literatur und Presse vor allem die audiovisuellen Medien eine zunehmende Bedeutung hinsichtlich der Konstruktion

23 Solchen Überlegungen wird bisweilen kritisch entgegengesetzt, dass man moderne, komplexe Gesellschaften nicht als Kollektivindividuen betrachten könne (u.a. von Florack 2007: 13f). Diese Kritik kann aber meiner Ansicht nach durch eine konstruktivistische Position entkräftet werden, die bestimmte Nationenbilder als „Antwort auf einen Geschichtsbedarf“ (Simon 1992: 105) versteht.

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von nationenbezogenen Selbst- und Fremdbildern, wie Uta Schwarz in ihrer Untersuchung zu den bundesdeutschen Wochenschauen der 1950er und 60er Jahre feststellt (Schwarz 2002: 25). Auch sie betont, dass diese Selbst- und Fremdbilder ihre Bedeutung dadurch gewinnen, dass sie in Opposition aufeinander bezogen werden: „Die imaginäre Ordnung des Nationalen bildet sich durch ein Zusammenspiel von Vorstellungsbildern über das Eigene und das Fremde“ (Schwarz 2002: 27). Identität und Alterität in der SFW Hier setzt nun die Fragestellung dieses Kapitels an: Wie wird in der SFW die Schweiz in ihren Beziehungen zum Ausland dargestellt und wie trägt dies zu Konstruktionen einer nationalen Identität bei? Wie sehen die Vorstellungsbilder aus, über die sich in der SFW die „imaginäre Ordnung“ der schweizerischen Identität herausbildete und verändern sich diese über die Jahre hinweg (parallel zu den erwähnten gesellschaftlichen oder medieninternen Zäsuren)? Dabei sollen auch verschiedene Akteure und Institutionen hinsichtlich ihres Einflusses auf die Inhalte und Produktionsbedingungen der SFW erforscht werden. Ausgehend von einer konstruktivistischen Auffassung von dokumentarischen Medienformaten und vom Konzept der ‚Nationalen Identität‘ wird außerdem verstärkt der Frage nach den spezifischen Präsentationsmerkmalen der SFW-Beiträge nachgegangen – und dies mit einem speziellen Fokus auf die visuellen Darstellungsmittel, narrativen Strukturen und ihre Funktion bezüglich der Vermittlung bestimmter Deutungsmuster. In diesem Zusammenhang wird auch erörtert, ob Bilder, Topoi und Deutungsmuster auszumachen sind, die man von ihrem jeweiligen Kontext in einem Beitrag losgelöst betrachten und in anderen Beiträgen wiederfinden kann. Vor dem Hintergrund der zuvor ausgeführten Überlegungen zu Identität und Alterität ist nicht zuletzt darauf zu achten, ob Unterschiede in der Berichterstattung über verschiedene Länder und Akteure zu erkennen sind und inwiefern fremde Nationen zur Projektionsfläche für die eigene Gesellschaft (in Form von Bestätigung oder Selbstkritik) werden. In ersten Visionierungen der SFW-Beiträge konnten, unter anderem mit Hilfe des Ansatzes der Lieux de mémoire, bereits einzelne Themenbereiche identifiziert werden. Am prominentesten ist sicherlich die Swissair – sie kommt in der ganzen 35-jährigen Geschichte der SFW regelmäßig und in den unterschiedlichsten Kontexten vor. Aber auch Persönlichkeiten und Personengruppen, die man als ‚Botschafter für die Schweiz‘ bezeichnen könnte, wie Auslandschweizer (insbesondere Privatunternehmer), die Schweizer-

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garde, Söldner sowie humanitäre Einrichtungen wie die Glückskette24, das Rote Kreuz oder die Schweizerische Auslandshilfe sind beliebte Sujets. Besonders häufig werden die Berichte in die thematischen Kontexte Humanitäre Hilfe, Schweizer Unternehmen im Ausland, Wissenschaft und Forschung (diese Themen werden auch auffällig häufig im Sinne von ‚Entwicklungshilfe auf privatwirtschaftlicher Basis‘ verknüpft), Kunst (besonders im Sinne des von Kornelia Imesch eingangs erwähnten ‚dienstleistenden‘ Kunstverständnisses der SFW), Tourismus und Bildungswesen gestellt. Hier lässt sich übrigens auch bereits auf mögliche Interdependenzen von Unternehmens-PR und Journalismus schließen. Ohne die Unterstützung von touristischen, humanitären und anderen Institutionen wären viele Beiträge gar nicht realisierbar gewesen. Mit der Swissair in Chile: die Auslandschweizer als Missionare ‚schweizerischer Tugenden‘ Eine vierteilige Beitragsreihe zu Chile aus dem Jahr 1962 vermag einige der bisher angeführten Beobachtungen und Fragestellungen zu illustrieren. Solche Mini-Reportagen sind innerhalb des SFW-Bestandes häufiger vertreten, da die SFW-Equipe aufgrund der starken Expansion der Swissair des Öfteren auf Auslandsflüge mitgenommen wurde. Nach einem ausdrücklichen Verweis auf den Sponsor der Reportagereise („Wieder ist es die Swissair, die uns mitnimmt“), der durch den gesamten Beitrag hindurch auf der Wort- und Bildebene immer wieder aufgenommen wird25, erhalten die Zuschauer im ersten Teil einige allgemeinen Informationen zu Chile und seinen politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Weiter wird bereits auf die in Chile lebenden Auslandschweizer verwiesen, welche dann den zweiten Teil prominent als „Skipioniere, die mithelfen, unseren Nationalsport auch in Südamerika populär zu machen“ einführen. Es folgen weitere Ausführungen zu Topographie, Klima und Tourismus des Landes. Der dritte Teil berichtet vom Aufbau einer „Indianerschule“ mit Hilfe der Glückskette, direkt gefolgt von der Präsentation einer Schule für Auslandschweizer. Die vierteilige Chile-Reportage schließt mit Ausführungen zu Industrie und Wirtschaft, wiederum mit Einbezug der Auslandschweizer.

24 Die Glückskette ist eine 1946 ins Leben gerufene Sammelaktion in Form einer Radiosendung, welche die Hörer zu Solidarität für das vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Europa aufrief. 1983 nahm die Glückskette die Form einer Stiftung mit Hauptsitz in Genf und Regionalbüros in Bern und Lugano an. 25 So sieht man immer wieder Details oder Total-Aufnahmen von SwissairMaschinen und außerdem bei der Einstellung 00:01:18 die Grossaufnahme einer Swissair Reklame im Schaufenster eines Reisebüros (wahrscheinlich das Swissair Verkaufsbüro in Santiago).

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Besonders der erste und dritte Teil liefern einige interessante Beispiele dafür, wie – vor allem durch medienspezifische Darstellungsmittel – anhand der Beschreibungen einer anderen Nation Aussagen über die eigene Nation gemacht werden. Bei der allgemeinen Vorstellung Chiles im ersten Beitrag wird zunächst die Nähe zur Schweiz hergestellt, indem es als „Land, dessen demokratischer Regierungsform und liberaler Wirtschaftsgesinnung wir nahestehen“ charakterisiert wird. Dann wird auf ein gemeinsames Problem (Landflucht und ein damit verbundener erhöhter Wohnraumbedarf in den Städten) eingegangen, welches der Staat zu lösen weiß, indem er „das Übel an der Wurzel packt und großzügig Häuser baut“. Das optimistische Fazit lautet: „Chile baut mit eigener Kraft an seiner Zukunft“, wodurch gleichzeitig der Schweizer Staat, gewissermaßen als Spiegelung des chilenischen, bestätigt wird. Eine zentrale Funktion hinsichtlich der Rahmung des Beitrags kommt der Montage des Bildmaterials zu. Außerdem fällt eine besonders intensive, sich gegenseitig verstärkende Kombinatorik von Bild-, Text- und Tonebene auf. Die Ausführungen zum Problem der Landflucht werden mit Grossaufnahmen von Kindergesichtern, die frontal in die Kamera blicken, begleitet, was zusätzlich Nähe herstellt (Abb. 7). Abbildung 7: Großaufnahme von Kindergesichtern im ersten Teil der Chile-Reihe von 1962

Quelle: Schweizer Filmwochenschau, Mit der Swissair in Chile 1, 21.09.1962, Nr. 1032, Bundesarchiv Bern, Signatur J2.143#1996/386#1032*

Die folgenden Sequenzen geben in halbnahen bis nahen Einstellungen Einblicke in das Leben der in die Stadt migrierten Familien. Dabei drücken diese Szenen trotz der ärmlichen und beengten Verhältnisse, die thematisiert werden, eine positive, optimistische Grundstimmung aus. Dies liegt zum einen daran, dass die Personen fast immer lächeln, zum anderen werden sie aktiv, bei Hausarbeiten und handwerklichen Tätigkeiten gezeigt (Abb. 8) und verkörpern damit auf einer latenten Bedeutungsebene gleichzeitig solche Werte und Konzepte – etwa Fleiß und Pragmatismus – mit denen sich auch die Schweiz identifiziert wissen wollte.

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Abbildung 8: „Chile baut mit eigener Kraft an seiner Zukunft“

Quelle: Schweizer Filmwochenschau, Mit der Swissair in Chile 1, 21.09.1962, Nr. 1032, Bundesarchiv Bern, Signatur J2.143#1996/ 386#1032*

Der dritte Teil der Reportage illustriert sehr gut, wie mehrere Themen – respektive Lieux de mémoire – innerhalb eines einzelnen Beitrags miteinander verknüpft werden, in diesem Fall das schweizerische Bildungswesen, die schweizerische Qualität und Genauigkeit sowie die humanitäre Tradition. Vor allem aber gibt er interessante Aufschlüsse darüber, wie durch die Gegenüberstellung der „Indianerschule“ mit der Schule für Auslandschweizer die Bildung von Identitäts- und Alteritätskonstrukten funktioniert – auch hier wieder durch ein Zusammenwirken verschiedener filmischer Darstellungsmittel. Abgesehen von der Tatsache, dass die chilenischen Schüler im Vergleich zu den Auslandschweizer Schülern insgesamt weniger lang im Bild zu sehen sind und nur die Auslandschweizer anhand von O-Tönen eine Stimme erhalten, drängt sich durch eine direkte Montage der Aufnahmen von beiden Schulen ein Vergleich geradezu auf. Bestimmte visuelle und narrative Darstellungsmuster wiederum legen eine bestimmte Rahmung nahe. Während die chilenischen Schüler vorwiegend durcheinanderlaufend auf dem Pausenhof und später bei handwerklichen Arbeiten dargestellt werden, spazieren die Auslandschweizer Schüler in geordneten Zweierpaaren umher und erhalten „mit schweizerischer Gründlichkeit“ eine umfassende Allgemeinbildung, inklusive Spanisch- und Geographie-Unterricht. Dabei verstärken sich auch hier wieder Text- und Bildebene (Abb. 9).

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Abbildung 9: Gegenüberstellungen chilenische und Auslandschweizer Schule

Quelle: Schweizer Filmwochenschau, Mit der Swissair in Chile 3, 05.10.1962, Nr.1034, Bundesarchiv Bern, Signatur J2.143#1996/ 386#1034*

Das heißt, vordergründig stellt der Beitrag zwar das chilenische Schulsystem in Verbindung mit einer Hilfsaktion der Glückskette vor, auf einer latenten Bedeutungsebene wird allerdings das Schweizer Schulsystem durch einen Vergleich mit dem chilenischen System überhöht, wodurch eine Selbstbestätigung für die Schweiz geleistet wird. Diese Beispiele zeigen, dass die SFW nicht nur als ‚Fenster zur Welt‘, sondern vor allem auch als ein Fenster, dessen Scheibe zur Selbstspiegelung und Identitätssicherung dienen sollte, verstanden werden kann, wie dies auch Schwarz für die bundesdeutschen Wochenschauen festgestellt hat (Schwarz 2002: 24). Daher stellt es für die medienwissenschaftliche Forschung ein Desiderat dar, diese hier skizzierten Hypothesen anhand von abgleichenden Detailanalysen zu überprüfen. Um der starken Verortung der SFW in der schweizerischen Kultur und Gesellschaft gerecht zu werden, sollte dabei keine isolierte Medieninhaltsforschung betrieben werden, sondern unter Rückgriff auf interdisziplinäre Ansätze, wie z.B. die Cultural Studies und verwandte Bereiche (etwa die Semiotik oder Diskursanalyse), verbunden mit medienästhetischen Überlegungen, der Rezeptions- und Produktionskontext mit berücksichtigt werden. Das Spezifische der SFW lässt sich anhand eines intermedialen (etwa mit Presse oder TV) und internationalen Vergleichs (d.h. mit Wochenschauen anderer Länder) detailliert herausarbeiten. Letzterer trägt außerdem der speziellen Rezeptionssituation der SFW Rechnung (während der gesamten Produktionszeit der SFW wurden in den Schweizer Kinos par-

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allel immer auch ausländische Wochenschauen gezeigt)26 und ermöglicht zusätzlich die Erforschung von Eigen- und Fremdbildern vor dem Hintergrund der komparatistischen Imagologie.

L ITERATUR Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation: zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M: Campus 1988. Aeppli, Felix, Der Schweizer Film 1929-1964. Die Schweiz als Ritual, Bd. 2: Materialien, Zürich: Limmat 1981. Aeppli, Felix, „Sprachrohr nationaler Propaganda“, in: Facts, 4.5.1995, S. 38-39. Amrein, Ursula, Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950, Zürich: Chronos 2007. Baechlin, Peter/Muller-Strauss, Maurice, La presse filmée dans le monde, Paris: UNESCO 1951. Bronfen, Elisabeth, „Grosses Kino auf kleiner Fläche. Schweiz-USA: von heim(at)lichen Korrespondenzen“, in: Filmbulletin 302 (2009), S. 14-25. Buache, Freddy, Le cinéma suisse, Lausanne: L’Age d’Homme 1974. Buchbinder, Sascha, Der Wille zur Geschichte, Schweizergeschichte um 1900 – die Werke von Wilhelm Oechsli, Johannes Dierauer und Karl Dändliker, Zürich: Chronos, 2002. Cantieni, Charles, Vortrag über die Schweizerische Filmwochenschau an der Schweizerischen Filmarbeitswoche in Leysère, Typoscript im Dossier SFW, Filmarchiv Zürich, 1963, S. 135-140. Carringer, Robert, The Making of Citizen Kane, London: John Murray, 1985. Christians, Heiko/Wegmann, Nikolaus, „Zensur“, in: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Hamburg: Rowohlt 2001, S. 667-668. Cuneo, Anne, „Ciné-Journal au féminin 1940-1970. Une étude cinématographique sur l’image de la femme dans le cinéjournal suisse“, in: Travelling 58 (1979), S. 3-64. Schweizerisches Landesmuseum, Die Erfindung der Schweiz 18481998. Bildentwürfe einer Nation, Ausstellungskatalog, Zürich: Schweizerisches Landesmuseum/Chronos 1998.

26 Im März 1941, acht Monate nach der Lancierung der SFW, werden in rund zwei Dritteln der Kinos neben der SFW auch noch ausländische Wochenschauen gezeigt (vgl. Haver 2008: 8).

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Der akustische Blick Intermediale Strategien im Hörspiel der Gegenwart B ETTINA A NITA W ODIANKA „Ich rede mit mir selbst, tanze, fluche, allein.“ ROLF DIETER BRINKMANN

Während beispielsweise Erwin Wickert noch 1954 proklamierte, eine optische Darstellung würde das Hörspiel weder vertiefen noch erweitern (vgl. Wickert 1954), scheint gerade die Tendenz, dem Hörerleben eine optische Dimension geben zu wollen, ein gegenwärtiger Trend zu sein. Neben diesen Hybrid-Veranstaltungen sind die Hörspiele der Gegenwart in rein akustisch inszenierten Formen auch geprägt von Vermittlungsstrategien anderer Medien: Rolf Dieter Brinkmann experimentierte bereits in den 1970er Jahren mit einem Tonbandgerät und dessen Materialität, die seine intermedialen Arbeiten um zusätzliche Komponenten erweiterten. Die Filmregisseurin Ulrike Ottinger integriert in dem Tondokument Taiga – Erzählungen aus dem nördlichen Land der Mongolen (SWF/BR/SFB 1994) audiovisuelle Verfahrensweisen, die sich atmosphärisch dem Voice-over und der Dramaturgie ihrer Dokumentarfilme annähern. Ror Wolf folgt in seinen Hörspielen der Ästhetik der Störung, in der narrative Strategien permanent unterlaufen werden, und fordert auf diese Weise – wie es u.a. bereits Walter Ruttmann 1930 in seinem Hör-Film Weekend strategisch eingesetzt hat – den Hörer durch Irritation der gewohnten Wahrnehmungsschemata heraus. Diese Herausforderung an den Hörvorgang kann zur Sensibilisierung der Wahrnehmung beitragen, wenn fiktionale Hörspiele im Gewande von Darstellungsformen größtmöglicher Wahrscheinlichkeit realitätsstiftende Wirkungen erzeugen wie Orson Welles’ meisterhaft inszeniertes Hörspiel War of the worlds (CBS 1938).1 Dabei basiert der Erfindungsreichtum an medialen

1

Vgl. hierzu die detaillierten Untersuchungen von Werner Faulstich (1981) und Petra Maria Meyer (2010).

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Strategien konzeptuell auf dem Programmumfeld des Live- und Nachrichtenmediums, dessen Eigenheiten und Spielformen Orson Welles im Hörspiel reflektiert und akzentuiert einsetzt. Als Kunstform des Radios, die nach wie vor primär vom öffentlichrechtlichen Rundfunk produziert und distribuiert wird, ist das Hörspiel in dieser institutionellen Bindung festen Sendeplätzen zugewiesen und unterliegt zeitlichen und inhaltlichen Vorgaben genauso wie dem Kulturauftrag der Sendeanstalten: die Radiokunst ist in diesem Sinne eine „verwaltete Kunst“ (Schöning 1970: 250). Der Kulturauftrag war jedoch in den letzten Jahrzehnten grösseren Transformationsprozessen ausgesetzt: Wurde das Medium Rundfunk zu Beginn in seiner Gesamtheit als Kultur- und Kunstmedium verstanden, führte die Einführung privater Radiosender in den Jahren 1985/86 im Zuge des dualen Rundfunksystems zu einer Verunsicherung der bisherigen formalen und inhaltlichen Konzeptionen des Hörspiels.2 Die kommerziell orientierte Konkurrenz innerhalb des eigenen Mediums, das Programmumfeld der Kurzbeiträge, die damit einhergehenden veränderten Hörgewohnheiten auf Seiten der Rezipienten und die an Kostenminimierung und Servicecharakter orientierten öffentlich-rechtlichen Info-Kanäle markieren die Sonderstellung des Hörspiels im Rundfunk. Die radiophone Kunst weist jedoch bereits in den 1960er Jahren in der offenen Konzeption des Neuen Hörspiels eine Überwindung traditioneller Programmatik auf. Durch die Digitalisierung, näherhin durch die veränderten Produktions- und Rezeptionsmöglichkeiten der synthetisierten Klänge sowie weiteren medientechnologischen Innovationen, ist aus dem Hörspiel in den letzten Jahrzehnten „eine hybride, intermediale, teils multimediale Form geworden“ (Schneider 2003: 8), die sich durch die folgenden Merkmale auszeichnet: Live-Prinzip, interaktive Internet-Installationen, experimentelle Hörspiele auf der Basis von Improvisationen, Musikalisierung des Hörens. Die der medienspezifischen Technikentwicklung sich verdankende Kunstform des Hörspiels hat aber im Gegenzug ebenso das Radio insgesamt ästhetisch verändert und durch neue Formate erweitert. Die gegenwärtige Praxis offener und innovativer Programmformen des Radios verdanken sich interdisziplinären Projekten, die sich Ende der 1960er und der 1970er Jahre mit Affinitäten zur Konkreten Poesie, zur Sprachphilosophie und musique concrète als grenzerweiternde ästhetische Programmatik der FluxusBewegung annähern (vgl. Schöning 2006: 176). Die hiermit verbundene Aufhebung des traditionellen Konzepts der Autorschaft ebnete – neben Radiotechnologien, die das Aufzeichnen, Bearbeiten und Manipulieren des Klangs ermöglichten – den Weg hin zu einer akustischen Kunst mit einer beachtlichen Variation intermedialer Ausprägungen. Das Besondere an dieser Entwicklung ist, dass diese Formenvielfalt selbst wiederum im Hörspiel

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Vgl. hierzu den Beitrag von Elia-Borer in diesem Band, der die Zäsur des dualen Rundfunksystems exemplarisch anhand des Kulturfernsehens veranschaulicht.

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als eigener Form der Medienreflexion zum Thema wird – jenseits der Tradition narrativer Hörspiele und in einer genuin experimentellen Erkundung neuer technischer Mittel und Materialien. So erscheint das Hörspiel mittlerweile offener für Gestaltungsprinzipien und Sendeformen anderer Medien, deren Wechselwirkungen im Kontext neuer Mediensysteme reflexiv bearbeitet werden. Grundlage für die multimedialen Konzepte und intermediale Dramaturgie, durch die sich dem Hörer neue „HörRäume“ eröffnet haben, ist „der zeitlich begrenzte, dramaturgische und kompositorisch strukturierte Ablauf, den Radiostücke mit Filmen und Theaterstücken teilen“ (Meyer 2008a: 8) sowie die zeitbasierte Struktur. Nach der Einführung des dualen Rundfunksystems hat die theoretische wie empirische Forschung zum Hörfunk insgesamt deutlich zugenommen. Allerdings konzentrieren sich die wissenschaftlichen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre im deutschsprachigen Bereich fast ausschließlich auf die Aspekte Ökonomie, Lokalfunk, Hörfunknutzung, Reichweitenanalyse, Programmstruktur, Inhaltsanalyse und Rundfunkrecht, in geringerem Umfang auch auf Technik und Informations- bzw. Nachrichtensendungen (vgl. u.a. Gleich 1995: 554-561; Klingler/Schröter 1993: 479-490), obgleich das Radio nach wie vor ein omnipräsentes Medium darstellt. Sehr produktiv erweisen sich die durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk selbst initiierten Forschungsstudien, die in Wechselwirkung mit den Künsten und Künstlern entstanden sind.3 Dabei beziehen sich besonders Klaus Schöning und Herbert Kapfer auf die Ausprägungen einer intermedialen Traditionslinie in den von ihnen geleiteten Hörspielredaktionen. Die Initiativen haben zur Vielfalt der Erscheinungs- und Repräsentationsformen maßgeblich beigetragen. In diesen Institutionen findet auch der überwiegende Teil des wissenschaftlichen Diskurses statt, oft jedoch eingeschränkt in seiner Rezeption wegen seines nur temporären Status im Begleitprogramm etwa von Festivals.4 Die Akustische Kunst, die Klaus Schöning im WDR bereits mit der Umbenennung der Hörspielredaktion von HörSpielStudio in Studio Akustische Kunst (1991) programmatisch erweiterte, ist vor allem durch die medienästhetische Strategie einer ,Bi-Medialität‘ geprägt, die der ehemalige Redaktionsleiter in seiner Bestandsaufnahme im transformativen Wechselspiel der beteiligten Medien als eine audio-visuelle „Ars Perfomativa“ bezeichnete (Schöning 2006: 150). Beim Bayerischen Rundfunk ist diese Programmatik ebenfalls bereits im Namen der Redaktionen enthalten, die ab 1996 in Hörspiel und Medienkunst umbenannt wurde und unter dem Begriff der Medienkunst elektronische, digitale, audiovisuelle und interaktive Formate und Produktionsprozesse vereint. An der Programmgeschichte der beiden Re-

3

U.a. durch Klaus Schöning (WDR), Herbert Kapfer (BR), Paul Pörtner (NDR), Hansjörg Schmitthenner (HR), Heidi Grundmann (ORF), Wolfgang Hagen (DKultur).

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U.a. intermedium 1 und 2 initiiert vom BR und ZKM Karlsruhe; Festival Rümlingen. Neue Musik, Theater, Installation.

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daktionen lässt sich die Geschichte des Hörspiels nahezu komplett ablesen: Geboren aus dem Sendespiel der Kindertage des Rundfunks, testet das Hörspiel bereits in der Weimarer Republik seine Grenzen im Experiment aus, um dann Jahrzehnte später – neben Sprache und Geräusch – auch die Musik mit einzubeziehen. Hierbei wird zugleich die starre Form der Autorschaft aufgebrochen, um den Weg in den öffentlichen Raum performativer Ereignisse bzw. Events zu bahnen. Die besondere Form der „Ästhetik des Performativen“, sich vornehmlich als Aufführung zu realisieren, um den Rezipienten im Konzept der Präsenz – als „die intensive Erfahrung von Gegenwart“ (Fischer-Lichte 2004: 7) – zu involvieren, kennzeichnet zahlreiche Projekte sowohl in als auch außerhalb des Rundfunks – sowie in der Produktion als auch in der Rezeption. Diese Theatralität des Ereignisses – verstanden als aktiver Wahrnehmungsprozess und als vom Zuschauer hergestellte „mentale Szene“ (Finter 2000: 44) – liegt in einer situativ immer neu zu verortenden Konstellation von Blicken und Körpern. So werden Orte und eigenwillige ‚HörRäume‘ jeweils originär choreografiert. Im Rundfunk als elektronisches Medium bedeutet der Schein der Gegenwart des menschlichen Körpers in seiner Entmaterialisierung ein neues Konzept der Präsenz, des Sich-Ereignens und ihrer medialen Präsentation (vgl. Fischer-Lichte 2004; Mersch 2002). Die medialen Differenzen treten in den intermedialen Erscheinungsformen des Hörspiels in spannungsreiche Relationen und verändern dadurch die jeweiligen Spezifika der beteiligten Medien. Dass im Rundfunk alles nur zu hören ist, markiert die Besonderheit des Mediums, seine Lebendigkeit, Präzision und seine Wirkung auf den Rezipienten. Das Zuhören erfordert eine klare Strukturierung und Verkürzung der Information auf das Wesentliche. Die Übermittlung durch Stimmen und Klänge erzeugen eine große Nähe, die mit unterschiedlichen Aspekten zu tun hat. Einerseits ist dies dem Charakter des Mediums selbst zu verdanken, nämlich der Schnelligkeit oder wie Knut Hickethier es ausdrückt: „dem Radio als Frühwarnsystem“ (Hickethier 1997: 9). Durch die Aktualität der Nachrichten und die Schnelligkeit der Verbreitung erscheint der Rundfunk in seinem Einsatz nach wie vor beweglicher als das Fernsehen, obgleich die Live-Übertragung seit den 1950er Jahren auch eines der wichtigsten Charakteristika des Fernsehens und seiner fulminantesten Medienereignisse darstellt, wodurch es nicht erst seit CNN und dem Format Breaking News nahe am Radio dran ist. Die Nachrichten suggerieren sowohl in ihrer Kürze und Prägnanz als auch im Sprechgestus Wahrheit und Objektivität. Darüber hinaus ist die Eindringlichkeit nicht zuletzt auf die Art der Distribution und Rezeption selbst zurückzuführen: „Hören ist ein Fernsinn, jedoch von anderer Art als das Sehen. Sehend erblicken wir irgendetwas, nah oder fern von uns, über einen Abstand hinweg. Im Hören fällt das Moment des Abstandes fort. Ob fern oder nah, identifizierbar als ein Rascheln, Läu-

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ten, Ton einer Geige oder eines Saxophons – Ton dringt ein, ohne Abstand.“ (Plessner 1980: 344)

Dieser grenzüberschreitende Medien- und Formwandel ist dem digitalen Medienumbruch und seiner systematischen Funktion einer „Remediation“ (vgl. u.a. Bolter/Grusin 2000; Tholen 1997) vormalig analoger Medien zu verdanken und gerade auch an intermedialen Projekten des Hörspiels zu beobachten: Neben literarischen Formen der Schriftkultur und performativen Inszenierungsstrategien bestehen diese Re-Mediationen vor allem in Adaptionen von akustischen Medien wie dem Funk, dem Telefon und dem Rundfunk. Obgleich das Hörspiel von Beginn an zahlreichen Überschreitungen und Transformationen im Zusammenspiel von Literatur, Musik, Film und bildender Kunst ausgesetzt war, wurde die radiophone Eigenart bislang lediglich in Einzelfallstudien in ihrer intermedialen Eigenart untersucht. Innerhalb der Intermedialitätsforschung finden der Rundfunk und das Hörspiel aufgrund der Dominanz des Visuellen und Textuellen in der westlichen Welt keine angemessene Berücksichtigung (vgl. u.a. Daniels 2002: 244). Auch biografische Formate, überwiegend in Form gebauter Beiträge als Kurzbiografien im Tagesprogramm zu finden, bieten sich speziell im Rundfunk an, da sie das Bedürfnis des Hörers nach Information und Unterhaltung stillen. Die Form der Biografie findet sich in einem anderen Hörspiel von Ror Wolf, das mit allen Konventionen und ästhetischen Regeln des Radios bricht und darin unglaublich faszinierend funktioniert: Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika (SWR 1987), der im Chicago der 20er Jahre innerhalb kürzester Zeit zu einem der größten JazzMusiker der Epoche wurde. Zu dokumentarischen Strategien im Hörspiel und zu einer Blüte des O-Ton-Hörspiels kam es besonders in den 1970er Jahren im Kontext der Sprach- und Ideologiekritik: „O-Ton“, so betont der österreichische Drehbuch- und Hörspielautor Michael Scharang, „ist keine Methode, um Literatur zu machen, sondern eine Methode zur Untersuchung der Realität“ (Scharang 1974: 271). Um diese Untersuchung und Abbildung von Realität ging es auch Rolf Dieter Brinkmann, den die Möglichkeit der Aufzeichnung auf Tonband als Verfahrensweise faszinierte: Einerseits als Instrument der unmittelbaren Aufzeichnung eines emotionalen Zustandes, andererseits durch die Materialität der Worte und Geräusche, der Möglichkeit des grenzenlosen Experimentierens. Der Dichter beschäftigte sich von Anbeginn seiner lyrischen Arbeiten mit der Abbildung des Augenblicks als Grundlagenforschung der Gegenwart. Jedoch zielt der Begriff der Gegenwart, den er in eine Reihe mit Lust und Sinnlichkeit stellt, nicht auf Fragen der Zeitlichkeit und Aktualität ab, sondern er verweist vielmehr auf Vorstellungen von Gegenwärtigkeit als dem unmittelbaren Erleben und der sinnlichen Präsenz, als mediale Gegenwärtigkeit auch im Sinne einer Vergegenwärtigung. Dieser Frage folgt Rolf Dieter Brinkmann in seinen Tonbandaufnahmen aus dem Jahre 1973, die anlässlich des 30. Todestages Brinkmanns als CD-Edition Wörter Sex

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Schnitt (BR/intermedium rec. 2005) erschienen sind und bisweilen in der Brinkmann-Forschung weitestgehend unbeachtet blieben. Dabei geht es dem Schriftsteller um Momentaufnahmen aus seinem Alltag, subjektiv und direkt, auf 29 Tonbänder mit einer Gesamtlaufzeit von rund 657 Minuten, fast 11 Stunden akustisches Material, das er zu einer Sendung von knapp fünfzig Minuten für die Sendereihe Autorenalltag des Westdeutschen Rundfunks montiert.5 In den Aufnahmen lotet Brinkmann die Grenzen des Mediums aus und knüpft an seine collagierten Materialbänder der frühen siebziger Jahre an. Die Tonaufnahmen dokumentieren Brinkmanns experimentelle Arbeit mit Stimme, Mikrofon und Bandmaschine im Originalton-Raum, in dem die Äußerungen und Aktionen des Autors auf die akustischen Bedingungen der Umwelt treffen. In dem Essay Der Film in Worten entwickelt Brinkmann ein Konzept medialer Vielfalt, das er für die neue Kunst und Literatur als entscheidend erachtet, wobei er im besagten Aufsatz nicht nur auf die Medientheorie Marshall McLuhans verweist, sondern vor allem auf einen neuen Realismus, der Elemente des Alltags und der Trivialkultur mit einbezieht. Wie die Fluxus-Künstler inszenierte Brinkmann Lesungen als multimediale Spektakel und beabsichtigte, durch die Mischung von Gattungen und die Kombination von unterschiedlichen Medien alle Sinne anzusprechen. Zunehmend kritisch gegenüber Sprache und Schrift, interessierte sich Brinkmann schon seit Mitte der 1960er Jahre für die Möglichkeiten visueller Medien. Das als vermittelte Unmittelbarkeit erlebte sinnliche Erlebnis (vgl. u.a. Eiermann 2009; Zeller 2010) steht im Zentrum von Brinkmanns SubjektKonzeption. 1973, Rolf Dieter Brinkmann ist dreiunddreißig Jahre alt, in der Bundesrepublik ein Aufsehen erregender junger Autor und interessiert sich für Film, Fotografie, Comics, Werbung, Popmusik und für den Alltag. Seine Tonaufnahmen und Kommentare sind sprachmächtig und radikal subjektiv. Er zieht durch den verhassten Wohnort Köln mit seinem „gelbschmutzigen Himmel“, verausgabt sich an den Widersprüchen der Zeit und kämpft erbittert gegen den etablierten Kulturbetrieb. Er flüstert, grummelt, brüllt. Dazu seine Stimme mit seinem leichten Zungenschlag und dem rheinischen Akzent, sein sonorer Bass. Ins Mikrophon improvisierte Monologe, cut-upinspirierte Montagen, Gespräche mit seiner Frau Maleen, Interviews mit provokanten Fragestellungen und die Rezitation einiger seiner Gedichte und Texte kennzeichnen diese Arbeiten mit dem Tonbandgerät. Brinkmann komponiert seine poetischen Bilder in einer Einfachheit, die diese als Momentaufnahmen so gegenwärtig wie Vorgänge aus dem alltäglichen Leben erscheinen lassen: Er zeichnet die Innenstadt als zerfallen und erdrückend, als „Steinmauern und Steinwüsten“, in der kaum mehr Leben herrscht. In den Gesichtern der Menschen sieht er „eine riesengroße Lüge“ und unter-

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Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973 − Eine subjektive Dokumentation von Rolf Dieter Brinkmann (Länge: 48:44 Min.) wurde erstmals am 26.1.1974 im Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt.

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stellt ihnen „Pellkartoffelmentalität“ und „Arschkriechen“. So bildet sich die Vorstellung einer verödeten Stadt mit Menschen, die programmiert sind und Kunst, die ihm als „stilisierte Humanitätssoße“ nichts zu geben scheint. Dies steht in einem engen Zusammenhang mit seinem literarischen Schaffen. Ähnlich wie Brinkmann die Bilder seiner Gedichte als eine Art Photographie aus dem Alltag wählt, ohne dabei in seinen Beschreibungen detailliert zu werden – sogar beschreibende Adjektive sehr sparsam einsetzt – geschieht dies auch in seinen Aufnahmen. Er erwähnt immer nur bruchstückhaft, was ihn gerade umgibt. In der Schrift durch den ganz eigenen Stil zu erkennen, tritt der Sprecher in der Tonbandaufnahme scheinbar absolut authentisch auf, durch das unverwechselbare Material der Stimme, die körperliche Präsenz markiert. Er ist gegenwärtig und verkörpert im gleichen Zuge die Gegenwart als zeitlichen Ausschnitt, indem er in Echtzeit und oftmals spontan und damit improvisiert spricht. Durch Spontaneität und Präsenz der Stimme ist es dem Sprecher möglich, eine Aktualität zu erreichen, die in der Drucklegung Ihresgleichen sucht und im Gestus der subjektiven Betrachtungen an Brinkmann und seine Stimme gebunden ist und darin vollständig aufzugehen scheint. Olaf Selg spricht hierzu einen zentralen Punkt an: die „direkte Bezugnahme auf den akustischen Sinn, zusammen mit der zunehmenden Präsenz bildhafter (fotografischer) Elemente in den Prosatexten“, sei im Kontext der „synästhetischen Ästhetik zu verstehen“ (Selg 2000: 348). Durch die eigenen Sprach- und Geräuschaufnahmen überträgt er die Montagetechnik demnach von der textuellen auf die akustische Ebene und bleibt dabei seinen poetologischen Überlegungen in der Zentralstellung visueller Bezügen treu. Die akustische Komponente steht im Kontext seines an der optischen Wahrnehmung orientierten Schaffens. Betrachtet man seine Arbeiten über die gesamte Breite, so bezieht er immer mehr Medien ein: Grafik in den Gedichten und das lyrische Bild, später die Fotografie als Synthese aus Schrift und Bild und als neue Form des Ausdrucks, seine 8mm-Filme als neues Seherlebnis und schnellere Aneinanderreihung von Bildern – ganz im Sinne seiner Betrachtungsweise des Lebens – das Hörspiel als reines Hörerlebnis und abschließend die Tonaufnahmen, die wahrscheinlich zunächst eher ungeplant sein Werk durch eine neuen Form erweitern. Die Realisierung der akustischen Ausdrucksformen bedeutet eine konsequente Weiterführung seines poetologischen Konzepts, besonders im Experimentieren mit dem Tonbandgerät für den WDR, da Brinkmann sowohl das Rohmaterial – also die Aufnahmen – selbst erstellt, als auch die Produktion im Sender maßgeblich steuert, demnach also sowohl Autor als auch Regisseur ist. Bei der Analyse der Tonbandaufnahmen wird eines sehr deutlich: Brinkmanns Tonbandaufnahmen sind wie seine Lyrik und Prosa gleichermaßen durch „Spontaneität als auch durch kalkulierte Konstruktion“ (Richter 1983: 209) geprägt. Dies zeigt sich dezidiert in der Gegenüberstellung des Rohmaterials (Wörter Sex Schnitt) und der montierten Collage (Die

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Wörter sind böse): In den unbearbeiteten6 Tonbandaufnahmen bereitet Brinkmann seinen Autorenalltag ausgiebig vor, woraufhin er diese Materialvielfalt aufwendig bis ins letzte Detail genau montiert. Wie zu erwarten, entblößt Brinkmann die Sendung als Spiel mit dem pseudodokumentarischen Effekt – als Spiel mit den Spielformen des Rundfunks − und führt durch im Studio aufgenommene und in die Collage eingebaute Kommentare, wie „Ja, Band einspielen“, die Rundfunksendung als kontrolliertes, artifizielles Konstrukt vor. In der wechselseitigen Abhängigkeit von Stillstand und Bewegung müssen sich die Zusammenhänge im Akt des Hörens immer wieder neu realisieren, und können ausschließlich auf diesem Wege das leisten, was Brinkmann im Blick auf seine Vorstellung von sinnlicher Präsenz „Attraktivität“ (Brinkmann 1982: 227) nennt. Dabei rückt genau das ins Zentrum der Aufmerksamkeit, was sich gewöhnlich dem Blick entzieht: der Augenblick (vgl. Tholen 2002). Als voraussetzungslose Gegenwart durch den Text, der sich für den Zuhörer im akustischen Kunstwerk aus der Stimme, den Geräuschen und der Musik zusammensetzt. Eines ist jedoch im Vergleich zu allen vorherigen Werken verschieden: Die Präsenz seiner Stimme. Emotionen bekommen dadurch eine andere Ausdruckskraft. Seinen Vorwurf der Sterilität an das Radio lebt der Schriftsteller in den Tonbandaufnahmen geradezu provokant aus. Es sind permanent Schnitte zu hören, kombiniert mit der cut-up Technik William Burroughs, indem er Aufnahmen durch Mehrfachbespielungen fortwährend überlagert. Durch das Speichermedium sind die Aufnahmen jeglicher Zeitlichkeit enthoben und manifestieren sich als Ausdruck momentaner Wahrnehmung, oder – wie Brinkmann es in seiner Anthologie Silver Screen ausdrückt – als „komplexer Bildzusammenhang“ (Brinkmann 1969: 9), der nicht versucht, das Leben durch Worte auszudrücken, sondern Schnappschüsse, Momentaufnahmen vorführt, die über eine tagespolitische Aktualität hinausgehen, wie es Brinkmann – bezogen auf seine Lyrik – in einem der Briefe an Hartmut Schnell bezeichnet: „Kurzzeitgedächtnisszenen - - - ‚epiphanien‘ manchmal, wie das dann bei Joyce heißt - - - kurze, rasche Einblicke, so zwischen Tür und Angel, in einer dauernd rein und rausschwingenden Pendeltür.“ (Brinkmann 1999: 90)

Die mediale Praxis der Künste betrifft heute vielfältige akustische Erscheinungsformen, die immer neue ‚HörRäume‘ eröffnen. Auch Künstler der Fluxus-Bewegung wie u.a. Joseph Beuys, John Cage, George Brecht haben ihre künstlerischen Verfahren ins Radio gebracht, wobei auch ihr Umgang 6

An dieser Stelle gilt es anzumerken, dass ein Teil der entstandenen Aufnahmen aus juristischen Gründen nicht veröffentlicht werden konnten. Diese Einschränkung verhindert einen umfassenden Blick auf die Aufnahmen und hat dadurch Folgen für die Analyse, was es zu diskutieren gilt.

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mit alltäglichen Materialien und Medien als Klangobjekte deutlich von den Reproduktionstechniken des Radios geprägt sind. Ob als Musik-CD, gesampelt, geloopt, geschnitten, gebrochen, gerahmt, einem Sendeplatz zugewiesen oder unbeachtet geblieben, ob in Echtzeit erzählt und durchlebt, angelehnt an Verfahren von Serien wie 24 − die Akustische Kunst umfasst heute innerhalb und außerhalb des Radios den gesamten Phänomenbereich des Hörbaren: „Sprache in aller Mehrsprachigkeit und Polyphonie, Musik in aller kulturellen Ausprägung und Geräusche als unbearbeiteter Originalton oder elektroakustisch manipuliert.“ (Meyer 2008a: 13)

Um die in ihrer Wirkungsästhetik audiovisuell geprägten und originär akustischen Hörspiele als Medienkombinationen zu erfassen, in denen eine Transposition anderer künstlerischer Medien – wie Literatur, Theater und Film – als Ergänzung der auditiven durch visuelle Darbietungsformen in gleichsam radioexogenen ästhetischen Strömungen innerhalb des Mediums Rundfunk stattfindet, bietet sich aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive der begriffliche Untersuchungsrahmen der Intermedialität und Hybridität an (vgl. Schneider 2003: 7). Die Medienwechsel oder die „ÜberSetzungen“ (vgl. Meyer 1997) sind als komplexe Transformationsprozesse geprägt durch die Rezeptionsästhetik der auditiven Künste, die das Wechselspiel der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Spannungsfeld zwischen Hören und Sehen zum künstlerischen und spielerischen Programm machen und eben darin einen eigenen medienästhetischen Diskurs herausbilden. Dies lässt sich an gegenwärtigen Produktionen gut beobachten, die es dem Hör-Spiel erlauben in neue ‚HörRäume‘ vorzudringen, die sich aus gegenseitig inspirierenden Kooperationen und Grenzüberschreitungen der Künste entwickeln: Hierzu gehören Produktionen von Filmregisseuren wie Ulrike Ottinger und ihren Tondokumenten zwischen den radiophonen Kunstformen des Hörspiels und Features, die intermedial operierenden Wechselspielen u.a. der Tonbandaufnahmen Wörter Sex Schnitt aus dem Jahr 1973 und der WDR-Sendung Die Wörter sind böse (26.01.1974) von Rolf Dieter Brinkmann, die Autoren-Musik (SDR 1976) und die fruchtbaren Grenzüberschreitungen der Bildenden Kunst ins Akustische in der Aufnahmesituation von Dieter Roth, die geräusch- und klangvollen LivePerformances des Liquid Penguin Ensembles (u.a. AURIS INTERNA/SR 2010) oder die kunstvoll gestalteten Radiofeatures von Aldo Gardini (u.a. Die Irrfahrt des Soldaten Döblin, DRS 2007).

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Intermedialität der Sag- und Sichtbarkeit

Von Eisbären, dem Patient Erde, Weltrettungs- und Weltuntergangsszenarien Eine Interdiskurs- und Dispositivanalyse des Medienereignisses ‚Klimagipfel Kopenhagen‘ M ATTHIAS T HIELE

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„Ein Klimakatastrophenfilm zum Auftakt. Die Delegierten konfrontiert mit dem, was dem Planeten droht, falls sie in Kopenhagen scheitern sollten. So beginnt die Eröffnungsfeier. Die globale Erwärmung, mahnt der Gastgeber, kennt keine Grenzen. Sie macht keine Unterschiede. Sie betrifft jeden. Wir müssen es jetzt anpacken.“ „Zu diesem Gipfel in Kopenhagen gibt es auch ein ZDF Spezial um 19.20 Uhr direkt nach unserer Sendung. Und weitere Fakten und Hintergründe zu den Folgen des Klimawandels finden Sie bei uns im Internet unter heute.de. Sie erfahren dort zum Beispiel, wo wir den Klimawandel schon jetzt spüren; in Animationen und Videos, was der Klimawandel für Mensch und Tier bedeutet. Einen großen Beitrag für die Umwelt könnte man auch mit Autos leisten ... [Stimme des Studiomoderators stoppt, da noch nicht auf ihn zurückgeschaltet wurde.] Noch sind wir ... [Umschaltung ins Studio zum Nachrichtenmoderator erfolgt.] Genau, das ist der Hinweis auf das Internet. Lohnt sich auf jeden Fall! Einen großen Beitrag für die Umwelt könnte man auch mit Autos leisten, die ganz ohne Abgase fahren. Neue Technologien gibt es: Wasserstoff, Elektroantrieb, Brennstoffzelle. Aber welche hat wirklich das Zeug zur Alltagstauglichkeit?“

Die zwei vorangestellten Zitate stammen beide aus der ZDF heute-Sendung vom 7. Dezember 2009, die – wie die allermeisten Nachrichtensendungen dieses Tages – an erster Stelle über die Eröffnung der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen berichtet und hierzu die televisuellen Möglichkeiten des Mitte Juli 2009 in Betrieb gegangenen Mainzer Hightechstudios ausspielt. In einer Mischung aus digitaler Grafikanimation und Motion Control-

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Kamerafahrt gleitet Punkt 19.00 Uhr das Bild von der sich in Zeitstrahlen auflösenden heute-Uhr zu dem Nachrichtensprecher, Steffen Seibert, der durch eine zügige Wegfahrt in einem offenbar weitläufigen Studio an einem lang geschwungenen dreiflügeligen Holztisch lokalisiert wird, während auf dem weißbläulichen Hintergrund eine Weltkarte aufgezoomt wird. Dem folgt eine Zufahrt mit Umschnitt auf das Bewegungsbild einer zweiten an den Moderator heranfahrenden Studiokamera, wobei die Weltkarte derweil auf eine bildfeldgerechte Größe links vom Nachrichtensprecher zusammenschrumpft. Für die Themenankündigung gleitet die Kamera weiter an Seibert vorbei auf die Karte zu, die ausgeblendet wird, um hintereinander gestaffelten Bewegtbildtafeln Platz zu machen, die in dem Moment aufgezogen werden, als der Moderator rechts aus dem Bildkader verschwunden ist. Das Motiv des vordersten Bildfensters ist ein Kohlegroßkraftwerk mit neun Kühltürmen und qualmenden Schornsteinen, wobei die Luftbildaufnahme von Wasserdampf und Abgasen dominiert wird, die den blauen Himmel und die Sonne fast in Gänze verdecken. Per Schnitt folgt eine Totale, die in einer Aufsicht Delegierte und Abgesandte bei der Eröffnungssitzung im Kopenhagener Bella Center zeigt. Die beiden Aufnahmen des Bildfensters werden durch die Off-Stimme Seiberts pathetisiert: „Mit einem eindringlichen Appell zur Rettung des Planeten beginnt der Weltklimagipfel in Kopenhagen.“ Nach Ankündigung der weiteren Themen fährt die Kamera nach rechts, um den Moderator zurück in das Bildfeld zu holen, wobei in die Kamerabewegung ein kontrollierter Wechsel von Weg- und Zufahrt integriert ist. Zusätzlich dynamisiert wird das Bewegtbild durch die zugleich vollzogene Veränderung des elektronisch virtuellen Hintergrundbildes, in dem das Bildfenster minimiert und ausgeblendet und die Weltkarte passgenau erneut im Bildraum neben dem Moderator eingeblendet wird. Die visuelle Dynamik steht im Kontrast zu der Steifheit Seiberts, die dadurch nur unterstrichen wird, während die technomorphe Kamerabewegung ganz auf Linie mit der professionellen Mimik des Nachrichtensprechers liegt, die ‚Sachlichkeit‘, ‚Objektivität‘, ‚Bestimmtheit‘, ‚Besorgnis‘ und ‚Beherrschbarkeit‘ ausdrücken und konnotieren soll,1 um den Bericht zur Lage der Welt und Klimapolitik angemessen anzumoderieren: „Die Staaten der Welt diskutieren über eine Jahrhundertherausforderung und am Ende des vielen Diskutierens werden sie hoffentlich auch handeln. Kopenhagen soll der Klimagipfel werden, der für alle verpflichtende Ziele setzt und bei dem die Reichen

1

Christine N. Brinckmann schreibt zur technomorphen Kamera: „Den Gegenpol zum Anthropomorphen bildet das Technomorphe, also eine Kamera, deren Bilder deutlich auf den Apparat verweisen und der menschlichen Wahrnehmung wenig oder gar nicht entsprechen, und eine Kameraarbeit, die frei ist von Spuren des Ermessens, der Emotion, der Subjektivität oder gedanklichen Verarbeitung.“ (Brinckmann 1997: 277-278)

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Milliarden geben, um den Armen in ihrem Kampf gegen die Erwärmung zu helfen. Das ist das Ziel dieser 14 Tage. Der Auftakt lässt zumindest hoffen.“

Der Bericht selbst setzt spektakulär im CinemaScope-Bildformat mit einem Ausschnitt des Eröffnungsfilms Please help the World ein, der an die Visual Effects und Banalität des Klimakatastrophenfilms The Day After Tomorrow (US 2004) von Roland Emmerich anschließt:2 Mit bedrohlichem Getöse reißen in einem rissigen, ausgedörrten Boden Erdspalten auf, denen ein Mädchen mit ihrem Kuscheltier – einem Eisbären – zu entfliehen sucht. In der Fluchtbewegung fällt das Plüschtier aus der Hand in eine Kluft. Als das Kind rettend nach dem weißen Stofftierbären greift, ziehen schwarze Wolken auf, die alles verdunkeln und sich zu einem wütenden Tornado verdichten, dem das Mädchen wiederum durch Flucht zu entgehen versucht, wobei es von plötzlich hereinbrechenden Flutwellen umspült und dadurch gezwungen wird, sich an den Ast eines toten Baumes zu klammern, an dem das Kind wie ein Blatt hängt, das stürmischen Winden hilflos ausgeliefert ist. Dem kurzen Spektakel folgt Berichtsroutine: Es dominieren Bilder aus dem Kongresszentrum in Kopenhagen, die die große Zahl der Konferenzteilnehmer, die „Experten, Beobachter und Journalisten“, vor Augen führen. Dazwischen finden sich erneut Aufnahmen sowohl von qualmenden Industrie- und Kraftwerksschornsteinen als auch von der hinter dichten Rauchschwaden verborgenen Sonne. Hinzu kommen eine Infografik zu den Klimazielen bzw. CO2-Sparplänen Europas, der USA und Chinas und ein Statement der Bundeskanzlerin Merkel aus einem exklusiven ZDFInterview, das später im Anschluss an die Nachrichten in der ZDF SpezialSendung in voller Länge ausgestrahlt wird. Schulterkamera-Bilder einer Greenpeace-Aktion, in der die Konferenzteilnehmer durch zwei im Bella Center aufgestellte Tore, von denen eines durchschritten werden muss, um weiterzukommen, symbolisch zu einer Entscheidung für die Welt (das grüne Tor) oder die globale Erwärmung (das rote Tor) gezwungen werden, beschließen den Beitrag als pragmatisches Sinnbild dafür, um was es auf der UN-Konferenz geht. „Derweil halten“, so lautet das Voice-Over entsprechend, „Umweltschutzorganisationen den Druck auf die Delegierten mit Aktionen wie dieser aufrecht. Wer das Klima retten will, muss sich für den richtigen Weg entscheiden. Ausweichen kann sich in Kopenhagen niemand leisten.“

2

Der Eröffnungsfilm der Kopenhagener UN-Klimakonferenz befindet sich in voller Länge auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=NVGGgncVq-4 (letzter Zugriff am 20.1.2011).

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Dem schließt sich ein zuvor aufgezeichnetes, Liveness simulierendes infografisches Nachrichtensegment an, in dem in einer Halbtotalen Seibert im sogenannten „virtuellen Erklärraum“ (Slomka 2010: 99) zunächst neben einem schwebenden und sich drehenden Globus zu sehen ist, um begleitet von Zahleneinblendungen über die Zielvereinbarung des Kyoto-Protokolls von 1997 zur Reduktion des jährlichen Ausstoßes von Treibhausgasen zu unterrichten. In einem weiteren „Erklärstück“ (Spieß 2010: 107), für das die Erdkugel durch Zusammenschrumpfen einem Kurvendiagramm Platz einräumt, wird der „starke Anstieg“ des weltweiten CO2-Ausstoßes um plus 40 Prozent zwischen 1990 und 2010 veranschaulicht (Abb. 1 und 2). Die aufgezeigte Diskrepanz zwischen Kyotoer Klimaschutzziel und Zunahme der globalen Kohlenstoffdioxid-Belastung wiederum wird anhand thematischer Karten zum Status der Entwicklungs- und Schwellenländer und zu den größten CO2-Verursachern von Treibhausgasen unter den Schwellen- und Industrieländern erläutert. Eine Zufahrt der Studiokamera auf die politische Weltkarte mit Fokus auf Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen bereitet den Schnitt zum nächsten Segment vor, zu dem erst umgeschaltet wird, sobald sich Seibert vollständig außerhalb des Bildkaders befindet, da der Nachrichtensprecher im neuen Abschnitt bereits wieder am Moderationstisch stehend gezeigt wird, während neben ihm – vom Zuschauer aus gesehen rechts – ein Bewegtbildfenster mit Live-Schaltung nach Kopenhagen zum ZDFUmweltexperten Volker Angres perspektivisch eingeblendet ist.3 In dem Interview geht es um die Schwierigkeiten, die einem klar formulierten Abkommen entgegen stehen, um Probleme der internationalen Zusammenarbeit und um die Einschätzung Deutschlands als ‚Motor‘ der Klimaschutzpolitik. Mit Verabschiedung von und Dank an Angres wendet sich Seibert der Kamera und der Adressierung des Zuschauers zu, um auf die SpezialSendung und das zusätzliche Internetangebot hinzuweisen, was von Bewegtbildtafeln begleitet wird, auf denen zuerst das Sender- und Sendungslogo ZDF Spezial, dann die an der Eiskante entlang gleitende Filmaufnahme eines Eisschildes und schließlich die heute.de-Website mit ihrem Themenschwerpunkt „Klimagipfel Kopenhagen“ zu sehen sind.

3

„Die Erklärräume [...] sind grafisch komplex, technisch aufwendig und bergen allerhand Gefahrenpotenzial für die Livesendungen. Aus diesem Grund kommen die Beiträge mittels Erklärraum nicht live auf den Schirm – sie sind aufgezeichnet und werden in die laufende Sendung eingespielt, bestätigte eine ZDFSprecherin [...]. Damit der Zuschauer nicht irritiert wird, gehen die Moderatorinnen und Moderatoren perfekt geschminkt und genau so gekleidet zur Aufzeichnung, wie sie dann in der Sendung auftreten werden. Bei der Ausstrahlung wird möglichst passgenau eingespielt. Das Publikum soll eben nicht bemerken, dass hier kein Livefernsehen stattfindet.“ (Huber 2009).

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Abbildung 1: ‚Bergauf‘ im Welt- und Klima-Erklärraum

Quelle: ZDF heute, 7. Dezember 2009

Abbildung 2: ‚Bergab‘ im Welt- und Klima-Erklärraum

Quelle: ZDF heute, 7. Dezember 2009

‚T RAILER ‘, ‚T EASER ‘, ‚APPETIZER ‘ Die detaillierte Beschreibung des segmentierten Nachrichtenbeitrags hat verschiedene Gründe. Erstens wird die Televisualität von Fernsehnachrichten nur selten in Betracht gezogen und dann zumeist auf die Diskussion der digitalen Aufmachung und des On-Air-Designs oder auf die Problematisierung der generellen Tendenz zur Visualisierung sowie des Text-BildVerhältnis reduziert (vgl. Brosius 1998). Analysen zur Bildgestaltung und Dynamik des Bewegungsbildes, also zu De- und Rekadrierungsprozessen oder zur inneren Montage beziehungsweise visuellen Clustern (vgl. Spielmann 1993: 49) – zur virtuellen Schichtung und Kombination von Bildflächen sowie zu animierten Bildwechseln innerhalb des Bildfeldes – und de-

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ren kalkulierten Verschränkung mit kontrollierten, computergesteuerten Kameraoperationen im Studio sind dagegen äußert rar.4 Dabei ermöglicht gerade die Berücksichtigung der visuellen, bildästhetischen Dimension des Mediums eine Distanz zu widerspiegelungstheoretischen Annahmen bzw. zu Vorstellungen eines unmittelbaren Referenzverhältnisses zur vormedialen Realität, die insbesondere dem Nachrichten- und Live-Fernsehen hartnäckig anhaften (vgl. Hickethier 1998: 187). Mit der Visualität rückt dagegen die mediale Produziertheit und immer auch eine bestimmte Idee, ein Selbstkonzept des Mediums in den Blick: Durch die spezifische Kombination aus Videografie, technomorpher Kamera, Computergrafik sowie Farb- und Helligkeitsschema des virtuellen Studios signalisiert das ZDF, dass es sich bei den Nachrichten um Fernsehen im digitalen Zeitalter handelt.5 Zweitens lädt der Beitrag dazu ein, die Generierung des Medienereignisses ‚Klimagipfel Kopenhagen‘ in zwei Richtungen zu skizzieren: einerseits vom Ereignis zur Nachricht, andererseits von der Nachricht zum Ereignis. In der einen Perspektive geht es um die UN-Klimakonferenz als ein inszeniertes, auf Mediatisierung zielendes Ereignis, um die Konferenz als ein Vorkommnis, das unbedingt Ereignis werden möchte.6 In der anderen Perspektive geht es anhand des Fernsehens um den konstitutiven Anteil der Medien an der Ereignisproduktion, um die Entgrenzungen der Nachrichtensendung und des Mediums, da Medienereignisse sich als Effekte multimedialer, transtextueller und globaler bzw. transnationaler Streuung generieren (vgl. Thiele 2006: 128-129). Nicht von ungefähr gibt es in dem Nachrichtenbeitrag eine Kopplung mit dem Internet, einen Hinweis auf die ZDF SpezialSendung und eine Live-Schaltung nach Kopenhagen. Drittens bietet der heute-Beitrag Einblick in die interdiskursive und kollektivsymbolische Strukturiertheit des audiovisuellen Mediums Fernsehen, finden sich doch über die Segmente verteilt an zentralen Stellen in Bild und Ton realisierte Symbole, die der Nachrichtensendung trotz der Komplexität und Abstraktheit des Themas Anschaulichkeit und Affektivität beziehungs-

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Zum Konzept der Televisualität und zur Motion Control als televisueller Technologie vgl. Caldwell (2002: 167-173 und 187-188). Miriam Meckel widmet sich zumindest kurz dem „virtuellen Studio“ und der Kombination von Computergrafik und ferngesteuerten Kameras (vgl. Meckel 1998: 204-205).

5

Den televisuellen Look der heute-Nachrichten theoretisiert Heiner Butz, der Projektleiter des neuen ZDF-Studios, dahingehend, dass es mit Blick auf die jüngeren Zuschauer um eine Ästhetik gehe, die „vollständig internetkompatibel“ sein müsse (vgl. Hanfeld 2009).

6

Die medientheoretische Unterscheidung zwischen Vorkommnis und Ereignis trifft Lorenz Engell. Der Ereignisbegriff gilt dabei jener Teilmenge aus der unendlichen Vielzahl zugänglicher Vorkommnisse, die von den Medien selektiert und generiert werden (vgl. Engell 1996: 138).

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weise subjektivierende Sinnhaftigkeit garantieren.7 Verwiesen werden kann zunächst auf die Metapher ‚Gipfel‘, auf die symbolische und ethnozentrische Kodierung Deutschlands als ‚Motor‘ der Klimaschutzpolitik und auf die vom Bericht aufgegriffene Symbolik der Greenpeace-Aktion. Unübersehbar ist die Allegorie des eingespielten Eröffnungsfilms, in dem der Plüscheisbär für die bedrohte Natur, das Kind für die Zukunft der Menschheit und das aufziehende Unwetter mit Tornado und Flutwellen für den abrupten Klimawandel stehen. Die Schlusseinstellung, in der das an einem Ast hängende Mädchen visuell einem Blatt im stürmischen Wind ähnelt, zielt zudem auf die abstrakte Mahnung, dass der Mensch letzten Endes ein Teil der bedrohten Natur sei. Hinzu kommen die stereotypen Bilder von rauchenden Schloten und der von Rauchgasen verdeckten Sonne, die als repräsentativer Teil eines Ganzen – pars pro toto – die hoch entwickelten Industrieländer mit ihren fossilen Energieträgern und Treibhausgasemissionen symbolisieren. Viertens realisiert sich in dem Nachrichtenbeitrag zumindest in Grundzügen das thematische Reproduktionsschema ‚Klimawandel‘, das die Mehrzahl der Sendungen zur Klimakonferenz von Magazinbeiträgen über Reportagen und Dokumentationen bis hin zu Talkshows strukturiert und aus folgender Artikulation bzw. Kette von Aussagen besteht: Erstens werden Katastrophen und Weltuntergangsszenarien präsentiert. Zweitens werden die Bedrohungsszenarien, um das Spektakel zu versachlichen, an wissenschaftliche Messdaten und Simulationsmodelle zurückgebunden, wobei die Datenlagen und Datentrends in der infografischen Aufbereitung durch die Dynamik eines ‚starken Anstiegs‘ oder ‚rasanten Falls‘ gekennzeichnet sind und somit Denormalisierung und Handlungsbedarf signalisieren. Drittens werden verschiedene, über die Welt verteilte Orte präsentiert, die als ‚Brennpunkte‘ des Klimawandels gelten und den Medien dokumentarische Aufnahmen von den ‚Vorboten der Katastrophe‘ und den davon betroffenen Menschen und Tieren bieten, wobei zunächst dem Natur- und Tierfilm gemäß die Natur als etwas Erhabenes in Szene gesetzt wird, um dann umso eindringlicher ihre Gefährdetheit vor Augen zu führen. Viertens werden unter Zulassung autorisierter Stimmen – durch Integration von Wissenschaftlern, Experten und institutionalisierten Umweltschützern – Ursachen der Klimaveränderung benannt und mittels stereotyper Bilder visualisiert, die für die ‚moderne Industrie- und Mobilitätsgesellschaft‘ stehen. Fünftens geht es um Lösungen auf der politischen und der technologischen Ebene. In dem einen Fall wird über Staatsaktionen, Bemühungen um internationale

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Vgl. zum Konzept der Kollektivsymbolik als kollektiv in einer Kultur verankerter Sinn-Bilder und zur Wahl des Oberbegriffs ‚Symbol‘ für verschiedene rhetorische Figuren beziehungsweise Typen und Arten semantischer Abbildung wie zum Beispiel ‚Allegorie‘, ‚Emblem‘ und ‚Metapher‘ (Becker/Gerhard/Link 1997: 70-71).

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Abkommen und nationale Rahmenbedingungen im Hinblick auf die ZweiGrad-Schwelle, die die Erderwärmung nicht überschreiten dürfe, informiert. Im anderen, weit häufigeren Fall werden, getragen von den Ideologemen ‚Fortschritt‘ und ‚Wachstum‘, neue Technologien und Hightech-Großprojekte im Bereich Umweltschutz und regenerativer Energie vorgestellt. Sechstens schließlich wird in einer Mischung aus Paleo- und Neo-Fernsehen pädagogisch an den Alltag der Zuschauer angeknüpft,8 indem nützliche Ratschläge erteilt werden, wie jeder Einzelne durch eine Reihe kleinster Verhaltensänderungen zur Rettung des Planeten Erde beitragen könne. Drei Aspekte sollen über den Nachrichtenbeitrag und über das Medium Fernsehen hinaus im Folgenden nun weiter entfaltet werden. Zunächst gilt es die zwei Perspektiven der diskursiven und medialen Ereignisgenerierung aufzugreifen, wobei sich die Ausführungen auf einen differenzierten Dispositivbegriff stützen werden, der sich einer verkürzenden Gleichsetzung von (Einzel-)Medium und Dispositiv entzieht.9 Dem folgt eine Analyse der dominanten kollektivsymbolischen Kodierung, durch die die globale Erwärmung für die Mehrheit der Fernsehzuschauer als Nichtexperten bildhaft vorstellbar und subjektiv mit-erlebbar wird. Zugleich soll hierbei aufgezeigt werden, dass insbesondere Kollektivsymbole für die Medienkonvergenzprozesse eine strukturelle Integration leisten. Abschließend wird eine regierungstechnologische Subjektivierungsform des Fernsehens in den Blick genommen, bei der die Zuschauer als Konsumenten und Verbraucher angerufen werden, wodurch das Fernsehen als elektrotechnischer Apparat und Konsumgegenstand zu sich kommt.

K LIMADISPOSITIV UND M EDIENEREIGNIS ‚K LIMAGIPFEL K OPENHAGEN ’ Als kulturelles Phänomen bzw. Gegenstand der Medien- und Diskursanalyse kann das Klima als Dispositiv beschrieben werden, zu dem Medien als ein konstitutiver Teil der heterogenen Gesamtheit zu zählen sind.10 Im Anschluss an Michel Foucault stellt ein Dispositiv ein entschieden heterogenes Ensemble dar, das „aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen

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Die Unterschiede der beiden Modelle des Fernsehens beschreiben Francesco Casetti und Roger Odin (2002).

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Verkürzungen des Dispositivkonzepts durch die angloamerikanische und deutsche Rezeption und Applikation zeigt Jan Hans (2001) auf.

10 Eine andere kulturwissenschaftliche Herangehensweise verfolgt Wolfgang Behringer (2009), der anhand der ‚Kleinen Eiszeit‘ die sozialen Dimensionen und v.a. kulturellen Reaktionen und Adaptionen auf die Wandelbarkeit des Klimas historisch rekonstruiert und beschreibt.

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Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen“ (Foucault 2003: 392) usw. besteht und eine „dominante strategische Funktion“ (ebd.: 393) hat. Die Kategorie des Dispositivs gilt also einem Gefüge, das heterogene Elemente auf spezifische Weise vernetzt, um „auf einen Notstand (urgence) zu antworten“ (Foucault 1978: 120), und in seinem Wirkungsprozess unter der strategischen Zielsetzung die verschiedenartigen Elemente, ihre Positionierung und Verknüpfung ständig readjustiert (vgl. ebd.: 121). Zur strategischen Ausrichtung, Heterogenität und Kombination der Elemente kommt als weiteres wesentliches Kennzeichen hinzu, dass die involvierten Diskursstrukturen bzw. Wissensbeziehungen mit Machtverhältnissen verkoppelt sind, so dass man es bei einem Dispositiv stets mit einer Macht-Wissens-Überlagerung zu tun hat. An dieses Verständnis anschließend betont Jürgen Link in diskurstheoretischer Perspektive, dass es sich bei einem Dispositiv um einen Komplex aus Diskursen, um eine interdiskursive Verbindung mehrerer verschiedener Spezialdiskurse handelt11, und dass die Machtdimension sich zwischen disponierenden und disponierten Subjekten entfaltet, wofür er als allgemeinen Fall das wissensmonopolisierende Machtverhältnis von Experte und Laie anführt (vgl. Link 2007: 233; 2008: 239-240). Das Klimadispositiv wird im ökologisch-planetarisch-politischen Wissens- und Praxisbereich ‚Umwelt‘ im Laufe der 1980er Jahren als Reaktion auf die globale Erwärmung, die bei der Konstitution des Wissensgegenstands ‚Weltklima‘ ab Mitte der 1970er Jahre als Langzeittrend ermittelt und mit steigender Wahrscheinlichkeit auf anthropogene Einflüsse zurückgeführt wird, eingerichtet. In das interdiskursive Kombinat sind Wissensele-

11 Link unterscheidet zwischen Elementardiskurs, Spezialdiskursen und Interdiskursen. Ersterer umfasst das Wissen und die Redeweisen des Alltags wie die im praktischen Leben applizierbaren Floskeln, Spruchweisheiten, Witze, Vergleiche und Metaphern. Spezialdiskurse sind die auf Arbeitsteilung, funktionaler Ausdifferenzierung und Wissensspezialisierung basierenden wissenschaftlichen Diskurse, die sich – idealtypisch gedacht – durch begrenzte, klar definierte Objektfelder, Kopplung mit technischer Operationalität und durch das Vorherrschen von Denotation und Eindeutigkeit auszeichnen. Interdiskurse sind institutionalisierte, elaborierte Diskurse, wie der journalistische, öffentlich politische, literarische, filmische oder televisuelle, die sich auf Basis von Interdiskursivität, als jener Menge von Diskurselementen und -parzellen, die von mehreren Spezialdiskursen und dem Elementardiskurs geteilt werden, konstituieren und der partiellen wie symbolischen Reintegration von Kultur und Subjekten dienen. Da ihr zu verarbeitendes Material neben tragenden Grundbegriffen, Reizworten, Schlagbildern, Bildstereotypen, Exempeln und narrativen Schemata vorzugsweise aus Kollektivsymbolen besteht, tendieren Interdiskurse im Gegensatz zu Spezialdiskursen zu Konnotation und zum Spiel mit Polysemie (vgl. Link 2001: 81; Thiele 2009: 42; Winkler 2008: 49-50).

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mente verschiedenster Spezialdiskurse eingebunden. Bereits die Klimatologie stellt einen interdisziplinären Verbund aus Meteorologie, Geographie, Geologie, Ozeanographie und Physik dar. Gleiches gilt für die Glaziologie, die eine wichtige Datenquelle der Klimatologie darstellt und Bereiche der Geologie, Geographie, Hydrologie, Meteorologie, Biologie und Ökologie in sich integriert. Die Meteorologie als interdiskursive Schnittstelle von Klimatologie und Glaziologie vereint wiederum die Physik, Mathematik, Informatik, Chemie, Medizin und Biologie als Teilgebiete in sich. Diese Netz bildende Ausdifferenzierung ließe sich bezogen auf die objektivistischen, zu Denotation und Eindeutigkeit tendierenden, technisch hoch operativen, direkt weltkonstitutiven Naturwissenschaften (vgl. Link 2007: 21) gewiss weiter treiben. Entscheidend für ein Dispositiv ist, aufgrund seiner strategischen, auf Regulation zielenden Ausrichtung, jedoch gerade das Kombinat aus natur- und human- bzw. sozialwissenschaftlichen Spezialdiskursen. Beispielhaft hierfür kann das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) angeführt werden, das 1988 von der UNO im Rahmen ihres Umweltprogramms und von der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) gegründet wird, um angesichts der prognostizierten katastrophalen Auswirkungen und Gefahren des Klimawandels die „‚wissenschaftsbasierte Politik‘ auf neuartige Weise“ (Leggewie 2009: 16) zu formieren. Hauptaufgabe des Ausschusses, der wie eine ‚Spinne im Netz‘ des Klimadispositivs wirkt, ist es, Forschungsresultate in Form von Sachstandsberichten zusammenzufassen, die jeweils in drei Teilberichte untergliedert sind, die von verschieden spezialisierten Arbeitsgruppen verantwortet werden. Die erste Arbeitsgruppe, die sich mit dem Klimawandel, den zugrundeliegenden Daten und Modellen befasst, besteht aus NaturwissenschaftlerInnen. Die zweite Gruppe, die sich den Folgen des Klimawandels für Mensch und Umwelt widmet, setzt sich aus Natur- und SozialwissenschaftlerInnen zusammen. Die dritte Arbeitsgruppe, die für Vermeidungs- und Anpassungsstrategien zuständig ist, wird von Sozial-, insbesondere WirtschaftswissenschaftlerInnen dominiert (vgl. Hänggi 2008: 25-30; Edwards 2010: 398-402 und IPPC 2011). Ein weiteres einschlägiges Beispiel für die interdiskursive Kopplung von Natur- und Sozialwissenschaften und die Dominanz der Ökonomie im sozialwissenschaftlichen Bereich stellt das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) dar, das die Arbeit des IPPC vor allem in der Arbeitsgruppe III unterstützt und mit „globalem, regionalem und sektorialem Fokus“ (PIK 2011) Entscheidungsgrundlagen für Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft erarbeitet und bereitzustellen sucht. Auf der Website des außeruniversitären Forschungsinstituts, das interdisziplinär die Fachgebiete Klimatologie, Meteorologie, Geographie, Ökologie und Ökonomie kombiniert, werden gerade die strategische Beschaffenheit und die daraus resultierende Bindung an mehrere Wissensgrenzen hervorgehoben: „Da die Wissenschaft heute über die reine Analyse des Klimawandels hinausgewachsen ist und sich auch der Verantwortung stellen muss, Lösungsstrategien zu erarbei-

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ten, tritt das PIK nunmehr in eine transdisziplinäre Phase ein. Künftig werden am Institut deshalb Natur- und SozialwissenschaftlerInnen in vier produktorientierten Forschungsbereichen zusammenarbeiten, um der Gesellschaft robuste Optionen für die Bewältigung des Klimawandels aufzuzeigen. Denn es bleibt nicht mehr viel Zeit, um ‚das Unbeherrschbare noch zu vermeiden und das Unvermeidbare sicher zu beherrschen‘.“ (PIK 2011)

Gerade als „hybrid science-policy body“ (Edwards 2010: 399) können sowohl das IPCC als auch das PIK als repräsentative Teile des weit umfänglicheren Klimadispositivs betrachtet werden. Aus dem Kombinat von Spezialdiskursen und der Ausrichtung auf Politikberatung im Sinne des Wissenstransfers in das System Politik einerseits und der Kopplung von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit entdifferenzierender, praktikenintegrierender Tendenz andererseits resultiert ein hoher Grad an Interdiskursivität, die überhaupt ermöglicht, dass Wissen sowohl diskursübergreifend (auf einer horizontalen Achse der Wissensspezialisierung) wie auch zwischen Experten und Laien (auf einer vertikalen Achse der Macht-WissensVerhältnisse) zirkulieren kann (vgl. Link 2007: 230-232). Zu den nicht diskursspezifischen, von mehreren Diskursen geteilten Elementen gehören u.a. Formel- und Einheitszeichen, mathematische Techniken, statistische Verfahren, Daten und Computermodelle, diagrammatische Schemata, tragende Grundbegriffe, Reizworte, Schlagbilder, Exempel, narrative Schemata und Kollektivsymbole. An prominenter Stelle ist gewiss die Summenformel CO2 anzuführen, deren interdiskursive Proliferation, zu der nicht zuletzt auch die Hochkonjunktur der eindimensionalen Spielerei der Internet-Rechner zur Ermittlung individueller CO2-Fußabdrücke zählt, bereits den kritischen Einwurf provozierte, ob diese zum „Maß aller Dinge“ (Berg 2007) aufgestiegen sei. Ebenfalls ragt die Exponentialkurve hervor, mittels derer die klimatische Veränderung – der Anstieg der CO2-Konzentration oder der Durchschnittstemperatur – quer über Wissenschaften, Politik und Medien hinweg Evidenz erhält, wobei der 1998 von dem Klimatologen Michael E. Mann publizierte ‚Hockey-Stick‘-Graph, der den rekonstruierten Temperaturverlauf auf der Erdoberfläche der Nordhalbkugel während der letzten 1000 Jahre veranschaulichen soll, zu den am meisten verbreiteten Diagrammen gehört (vgl. Schneider 2009).12 Von hoher Bedeutung sind sicherlich die Grundbegriffe

12 Die Popularisierung der ‚Hockeyschläger‘-Grafik besorgte insbesondere der Propaganda- und Spin-Doctoring-Film An Inconvenient Truth (US 2006), der 2007 zwei Oscars als bester Dokumentarfilm sowie für den besten Song gewann und in Europa als Unterrichtsmaterial massenhaft an Schulen verbreitet wurde. In Deutschland verteilten das Bundesumweltministerium zusammen mit dem WWF 6000 DVDs bundesweit an Schulen (vgl. http://www.wwf.de/presse/details/ news/al_gore_auf_der_schulbank [letzter Zugriff am 5.6.2011]).

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‚Modell‘, ‚Simulation‘ und ‚Visualisierung‘ (vgl. Wedekind/Görz/Kötter/ Inhetveen 1998: 265), aber auch ‚System‘, ‚Komplexität‘, ‚Emission‘, ‚Durchschnitt‘, ‚Mittelwert‘ und ‚Prognose‘ – eine Reihe, der sich durchaus weitere tragende Begriffe hinzufügen ließen. Zentrale Reizworte in Komposition mit ‚Klima‘ sind ‚Wandel‘, ‚Krise‘ und ‚Katastrophe‘,13 die entweder mit einer kontinuierlichen, schleichenden Entwicklung oder mit Diskontinuität, einer jähen Umwälzung assoziiert werden, wobei das Aufmerksamkeit heischende Konzept des ‚tipping point‘ bzw. ‚Kippeffekts‘ eine Mixtur aus beiden Ideen darstellt, da hier ein linearer, berechenbarer Prozess bei Überschreiten einer kritischen Schwelle abrupt aus dem Ruder zu laufen droht. Zu Reizworten wandeln sich auch die Begriffe ‚Datum‘ und ‚Modell‘, die in den Kämpfen um Deutungshoheit zu den entscheidenden Bezugspunkten des Zweifels werden: Daten seien, so die ‚Klimaskeptiker‘, manipulierbar und die Szenarien des Klimawandels basierten gar nicht auf Daten und Realität, sondern lediglich auf Modellen, die entweder als dramatisch zugespitzt oder als unterkomplex kritisiert werden. Eines der gewichtigsten Schlagbilder ist das Technobild vom blauen Planeten, das mit dem Apollo-Programm und dem Fernsehereignis Mondlandung im Dezember 1968 erstmals fotografisch und televisiv erzeugt wird (vgl. Engell 2010: 144-146) und als faszinierendes Erdenbild bzw. Visiotyp vom ‚blauen Planeten‘ (vgl. Pörksen 1997: 45-46) in fortwährender Reproduktion das Konzept von der Welt als einem System einsichtig macht und die ‚Eine-Welt‘-Idee sowie das politische Prinzip des ‚Think globally, act locally‘ maßgeblich befördert (vgl. Bergermann 2010: 31; Edwards 2010: 1-3). Bezüglich der gängigen kollektivsymbolischen Kodierungen ist an erster Stelle gewiss das Symbol des ‚Treibhauses‘ zu nennen, mittels dessen das System der Erdatmosphäre und der klimatische Prozess der globalen Erwärmung veranschaulicht wird. Während das ‚Treibhaus Erde‘ allerdings noch als harmlose „Nippes-Szene“ (Anders 2002: 152) gelten kann, schlägt das „übersehbare Modell“ (ebd.) durch die Komponenten ‚Treibhausgas‘ und ‚Treibhauseffekt‘ in ein Gefährdungsszenario um, in dem insbesondere Kohlenstoffdioxid, aber auch Methan und Distickstoffmonoxid beziehungsweise Lachgas als unser Leben bedrohende ‚Klima-Killer‘ imaginiert werden. Die Forschungsszenarien vom Meeresspiegelanstieg und von der Häufung von Überschwemmungen werden in dem mythischen Bild der ‚Sintflut‘ abgebildet, deren Flutwelle in der medialen Visualisierung nicht etwa die Erdoberfläche bedeckt, sondern zumeist die Erdkugel im Ganzen hinwegzuspülen droht (Abb. 3). Ein weite-

13 Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte 2007 ‚Klimakatastrophe‘ sogar zum Wort des Jahres, da es prägnant die bedrohliche Entwicklung des Klimawandels kennzeichne (vgl. die Pressemitteilung der GfdS vom 7.12.2007: http://www.gfds.de/index.php?id=210 [letzter Zugriff am 5.6. 2011]). Vgl. zum spektakularisierten Großereignis ‚Klimakatastrophe‘ im Jahr 2007 auch die instruktive Analyse von Bruns (2009).

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res quantitativ wie qualitativ hervorragendes Symbol für die Erde und die Klimaänderung ist der ‚menschliche Körper‘. Diesem Phantasma entsprechend hat die Erde ‚Fieber‘, droht dem aus dem ‚Gleichgewicht‘ treibenden Weltklima der ‚Kollaps‘ und gerät der Planet Erde aufgrund der CO2Konzentration ‚außer Atem‘. Abbildung 3: ‚Tsunami-Sintflut‘ im Nachrichtenstudio

Quelle: Kabel 1 News, 20. Dezember 2009

Gerade mit Bezug auf die Kollektivsymbolik ist diskurstheoretisch noch einmal zu betonen, dass es sich hierbei nicht lediglich um Effekte eines hierarchischen Wissenstransfers handelt, der in direkter Linie von einer elaborierten Ebene des Expertenwissens zu einer darunter liegenden elementaren Stufe alltäglichen, populären Wissens führt. Stattdessen ist mindestens zweierlei mit einzubeziehen: Erstens bedarf es der symbolischen und fragmentarischen Diskursintegration bereits auf der elaborierten Ebene, da diese kein homogenes, sondern ein von Wissensspezialisierung zerklüftetes Feld darstellt. Zweitens ist das Wissensgefälle von vielen Zwischenstufen durchzogen, durch die sich ein Netz von Rückkopplungen und Wechselwirkungen zwischen Wissenschaften, Experten, Politikberatungsinstanzen, Popularisatoren, Medien, Öffentlichkeit, Alltag und Laien entfaltet, so dass es zu einem produktiven Wissensaustausch in beide Richtungen kommt14: Einerseits wird neues, spezialdiskursiv erarbeitetes Wissen in die Alltagskultur geleitet, andererseits werden symbolische, stark imaginär-bildhafte und subjektivierende Wissenselemente von den spezialdiskursiven Bereichen aufgegriffen (vgl. Link 2007: 230-232). Das 2007 publizierte Buch „Das Wetter von morgen. Wenn das Klima zur Bedrohung wird“ (Pearce 2007) des renommierten britischen Wissenschaftsjournalisten Fred Pearce kann als Dokument der diskursübergreifenden, kulturellen Wissenszirkulation des Klimadispositivs gelesen werden.

14 Vgl. zu verschiedenen Konzepten der Wissenspopularisierung, die sich vom linearen Diffusionsmodell abgrenzen Kretschmann (2003).

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Die Darstellung der Klimaforschung und der klimatischen Prozesse der „Treibhauswelt“ (ebd.: 318) stützt sich auf die Kollektivsymbolik, die das Fundament und Gerüst der popularisierenden Übersetzung der naturwissenschaftlichen Forschung bildet. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Klimaänderung sich nicht langsam, stetig und graduell, sondern schnell, abrupt und chaotisch vollziehen werde, weshalb das Klima ‚Monster‘ gebäre oder selbst zur ‚wütenden Bestie‘ werde (vgl. ebd.: 14-15). Diesem, einem Stephen King Bestseller ebenbürtigen Einstieg folgt eine Vielzahl von Symbolisierungen. Die weltumspannende Ozeanzirkulation wird beispielsweise im kybernetischen Bild der Maschine abgebildet, gehe es doch um das „große marine Förderband“, um „Dynamos“ und um den „Schalter“ der „Wärmekraftmaschine des Klimasystems“ (ebd.: 10). Die zyklische Zu- und Abnahme der Kohlendioxidkonzentration und Charles David Keelings Entdeckung des dramatischen Anstiegs der CO2-Konzentration, der den Jahreszyklus über die Jahre zunehmend überlagere, wird ins Körper-Symbol übertragen. So ‚atme‘ die Erde „gewissermaßen einmal pro Jahr ein und wieder aus“ (ebd.: 24) und Keeling habe mit seiner numerischen Kurve „den Atem der Welt gemessen“ (ebd.: 25). Die Schwankungskurven der verschiedenen Rekonstruktionen des erdgeschichtlichen Klimawandels werden als „Intensitätskurven“ (Schulte-Holtey 2001: 110) gelesen, die dem Klimasystem einen Zustand der Instabilität mit abrupten Ausschlägen, plötzlichen Kehren und extremen Änderungen ‚attestieren‘ und auf deren Bahnen, so die kollektivsymbolische Übersetzung, sich die Erde und das Weltklima wie ein menschlicher Körper oder technisches Vehikel entlang bewegen. Die „klimatische Achterbahnfahrt“ (Pearce 2007: 43) wird auf zweierlei Weise weiter gesponnen und ausgemalt. Zum einen wird der Erdklimawechsel vom glazialen zum interglazialen Zustand und wieder zurück drastisch wie folgt veranschaulicht: „Der Planet springt geradewegs in die Bratpfanne und gleitet dann holpernd und wackelnd in den Gefrierschrank.“ (ebd.: 44). Zum anderen wird das Klimasystem mit einem schwankenden „Betrunkenen“ (ebd.: 45) verglichen, der „unberechenbar“ sei, „heftig reagiere“ und dem man gegenwärtig „außerdem noch einem weiteren Schnaps zum Abschied“ (ebd.: 46) anbiete. Die prognostizierten exponentiellen Dynamiken des Klimas werden u.a. als „tickende Zeitbomben“ (ebd.: 86, 100), „Tsunami in der Atmosphäre“ (ebd.: 110) und „viel stärker gespannte Sprungfeder“ (ebd.: 149) imaginiert. Methan wird unter Bedingungen einer plötzlichen, abrupten und unaufhaltsamen Klimaveränderung als „Revolverheld“ (ebd.: 134) vorgestellt. Zwischen den Bedrohungsszenarien finden sich immer wieder das Haus- und das Maschinen-Symbol realisiert, um sowohl die Komplexität auf ein überschaubares Maß zu reduzieren als auch die Möglichkeit der Beherrschbarkeit auszulegen. Zum Prozess der globalen Erwärmung, der sich zunächst zeitlich verzögere, dann aber explosionsartig beschleunige, wird ausgeführt, dass es „wie bei der Zentralheizung eines Hauses“ sei. „Erst wenn das gesamte Wasser in allen Heizkörpern erhitzt ist, erwärmt sich die Luft in den Räumen in vollem Ausmaß.“ (ebd.: 138) Darüber hinaus ist

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wiederholt vom „Thermostat der Erde“ (ebd.: 20, 25, 137) und von einem umgelegten „Schalter“ (ebd.: 10, 93) die Rede. Die damit implizierte kybernetische Vorstellung von Steuerung evoziert schließlich auch das VehikelSymbol vom „Raumschiff Erde“, dass es gilt, „auf den richtigen Kurs zu bringen.“ Viel Zeit aber, so lautet die Mahnung, bleibe nicht. Das ‚Raumschiff‘ „hat bereits zu trudeln begonnen. Wenn es außer Kontrolle gerät, haben wir keine Möglichkeit mehr, das Ruder herumzureißen.“ (ebd.: 303). Das Interessante und Entscheidende an der Lektüre von Pearces Buch ist nun, dass eine große Zahl der symbolischen Kodierungen – von den ‚KlimaMonstern‘ über die ‚Sprungfeder‘ bis hin zum ‚Sprung in die Bratpfanne und in den Gefrierschrank‘ – als Zitate von KlimawissenschaftlerInnen und Funktionären der Klimaforschung ausgewiesen werden, so dass deutlich wird, dass „selbst die exaktesten Naturwissenschaften innerhalb von interdiskursiven Rahmenbedingungen funktionieren“ (Link 2001: 80) und technisch operieren. In medientheoretischer Perspektive gibt es bezüglich des Klimadispositivs zunächst zwei mögliche Akzentuierungen, deren Gemeinsamkeit darin liegt, dass sie Medien als konstitutiven Teil der heterogenen Gesamtheit des Dispositivs betrachten, während ihre Differenz sich aus einem weiten und einem eng gefassten Medienbegriff ergibt. Betrachtet man die organisatorische, institutionelle und technische Infrastruktur, die dem Wissensgegenstand ‚Weltklima‘ als generatives Netzwerk zugrunde liegt (vgl. Edwards 2010: 8-25 und 187-285), dann zeigt sich, dass dieses spezialisierte Wissen von einer Vielzahl technischer Apparaturen und Artefakte abhängt und ermöglicht wird. Die nationalen und global zusammengeführten Messnetze umfassen u.a. genormte und standarisierte Geräte wie Windfahnen, Thermometer, Hygrometer, Barometer und Anometer (zur Wind und Strömungsmessung), an Drachen oder Ballons angebrachte Aerographen zur Messung von Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck, Lysimeter zur Ermittlung von Versickerungsraten und Verdunstung, Pyranometer zur Messung der eintreffenden globalen Sonnenstrahlung, Niederschlagsradare, Niederschlagsmesser sowie geostationäre und polarumlaufende Wettersatelliten mit ihren Kamerasystemen und multiplen Messfunktionen. Die Messungen von Erdbeobachtungssatelliten und Wetterstationen werden ergänzt um die von Wetterbojen und Wetterschiffen sowie von Handelsschiffen und Langstreckenflugzeugen (vgl. Edwards 2010: 5). Hinzu kommen die regionalen und nationalen Datenverarbeitungs- und Visualisierungssysteme, Datenarchive und Supercomputer zu Simulationszwecken sowie internationale Organisationsstrukturen zu einem geregelten Datenaustausch. Bereits dieser kleine Ausschnitt aus der weit umfassenderen Daten(v)erarbeitungsmaschinerie der Meteorologie und Klimatologie verdeutlicht, dass das Klimadispositiv sich Transport-, Aufzeichnungs-, Übertragungs-, Speicher- und Informationsverarbeitungsmedien verdankt und durch bestimmte Messgeräte und die meteorologischen Computersysteme historisch spezifische Ermöglichungsbedingungen erhält: So beginnt die rechnergestützte Wetter-

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vorhersage Mitte der 1950er Jahre, der Einsatz von Satellitentechnologie und die Entwicklung von Klimamodellen Anfang der 1960er Jahre, wobei die Arbeit an den Modellen und Simulationen die im 19. Jahrhundert erfolgte Ausdifferenzierung von empirischer Meteorologie (numerischer Wettervorhersage) und Klimatologie aufhebt und die beiden Wissenschaftsbereiche wieder vereint (vgl. Edwards 2010: xvi). Ein anderes mediales Konstitutionsverhältnis ergibt sich mit Blick auf die Massenmedien wie Presse, Radio, Fernsehen und Internet, die mit Link als elaborierte und institutionalisierte Interdiskurse beschrieben werden können, insofern sie für moderne, hochgradig arbeitsteilige und funktional ausdifferenzierte Gesellschaften und deren in Arbeitsteilung lebenden und damit wissensgespaltenen, wissensdefizitären und in vielen Bereichen orientierungslosen Subjekten die kompensatorische Leistung erbringen, die Wissensspezialisierung zumindest auf der diskursiven Ebene symbolisch-partiell zu reintegrieren, indem sie das Wissen unterschiedlichster Spezialdiskurse selektiv aufgreifen, dieses durch interdiskursive Aufbereitung – vor allem durch kollektivsymbolische Kodierung – popularisieren und zur subjektiven Applikation bereitstellen.15 Das Klimadispositiv – die angeführten Beispiele von der ZDF heute-Sendung bis zur Darlegung der Interdiskursivität des Klimadispositivs haben dies bereits implizit verdeutlicht – ist nun aufgrund seiner strategischen Funktion und der daraus folgenden polizeilich-politischen Dimension auf die Massenmedien als spezialisierte Interdiskurse fundamental angewiesen, da erst durch diese ein breit gestreuter, Aufmerksamkeit affizierender, mobilisierender und mit positiven Rückkopplungseffekten verbundener Wissenstransfer zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit ermöglicht wird. Zur effizienten Vernetzung bzw. Einbindung der massenmedialen Diskursproduktion dient insbesondere das Instrument der jährlich stattfindenden UN-Konferenz, die durch eine logistisch aufwendige Medienkoordination gekennzeichnet ist. Kopenhagen beeindruckte 2009 durch das „MegaMedienzentrum“ (Angres 2009), das dem Lage- und Gebäudeplan zufolge zentral in der Mitte des Kongresszentrums eingerichtet worden war und für die rund 3500 Journalisten vor Ort bis zu 2000 Arbeitsplätze und Arbeitszellen aufbot. Angegliedert an das ‚Herzstück‘ des Bella Centers waren u.a. Pressekonferenzräume und Stellplätze für SNG-Übertragungswagen. Von den Veranstaltern wurden regelmäßige Briefings, Pressekonferenzen und

15 Bezüglich des Fernsehens sei hierbei nicht nur an das Nachrichten-, Dokumentar- und Live-Fernsehen, an Wissenschaftssendungen, Gesundheitsmagazine und Ratgebersendungen gedacht, sondern auch an Krankenhausserien oder an Krimis, die ihre Detektion Psychologen, biotechnologischen Labors und Mathematikern überantworten, und selbst an Sitcoms, wie The Big Bang Theory (CBS ab 2007), die Spezialwissen der Physik zu integrieren vermag. Zum Fernsehen als spezialisierter Interdiskurs vgl. Thiele (2005: 7-30).

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photo ops organisiert sowie kontinuierlich Presseinformationen, Pressefotos, Video- und Audiomaterial bereitgestellt.16 Auf der diskursiven und klimapolitischen Ebene wurde der Nachrichtenwert der 15. UN-Klimakonferenz v.a. durch den Aufbau dreier Erwartungen in die Höhe getrieben: Erstens wurde die Konferenz als jener bedeutende Ort ausgeflaggt, an dem die mit dem Kyoto-Protokoll verbundene und 2012 auslaufende Verpflichtung der Industriestaaten zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen um eine zweite Verpflichtungsperiode erneuert werden sollte, wobei es zugleich darum ging, die Emissionsziele weiter zu verschärfen und die Schwellenländer nun ebenfalls mit einzubeziehen. Das Ziel eines verbindlichen globalen Nachfolgeabkommens wurde zweitens von dem zusätzlichen mediopolitischen Ereigniswert flankiert, dass im Verlauf der Konferenz die Unterhändler den Auftritten und der Präsenz von rund 120 Staats- und Regierungschefs Platz machen sollten. Drittens schließlich wurde der UN-Klimagipfel symbolischnarrativ dahingehend aufgeladen, dass rasch gehandelt werden müsse, da es bereits ‚kurz vor Zwölf‘ sei und dies die letzte Chance zur Verhinderung der Klimakatastrophe und zur Rettung der Welt sei. Die logistische Zuwendung auf die Medien, die Erzeugung von Erwartungen (vgl. Engell 1996: 141) und nicht zuletzt der aufwendig produzierte Eröffnungsfilm dienten dazu die Konferenz in ein mediatisiertes Ereignis (vgl. Kepplinger 2001: 126) zu überführen, um dem Thema Klimawandel im Nachrichtenflow kurzfristig eine gesteigerte, breitenwirksame, dem prognostizierten und zu bearbeitenden Notstand angemessene, mediale und diskursive Sichtbarkeit zukommen zu lassen. Das Fernsehen reagierte auf die Zuwendung mit Zuwendung und baute die Nachrichten über die Kopenhagener Klimakonferenz zum Medienereignis aus, indem es die den Gipfel begleitende, kontinuierliche Berichterstattung durch Sondersendungen und eine programmübergreifende Themenschwerpunktsetzung erweiterte. Die Ereignisproduktion mit den medialen Mitteln der segmentären, sendungen- und senderübergreifenden Expansion und der Entgrenzung des Mediums in das Internet hinein vollzogen v.a. die Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks,17 wogegen sich die kommerziellen Sender auf die Produktion von Nachrichten- und wenigen Magazinbeiträgen beschränkten. Während am Eröffnungstag der Konferenz, dem 7. Dezember 2009, das ZDF auf seine heute-Sendung ein ZDF Spezial mit dem Titel Wer rettet die Welt? folgen ließ, wurde auf ARD um 21.00 Uhr die 75minütige Dokumentation Pilawas Welt von morgen. Wie wir das Klima retten können ausgestrahlt. Tags darauf zeigte der WDR ab 20.15 Uhr eine 90-

16 Vgl. zur Funktion und Paradoxie der photo opportunity als Mittel medialer Ereignisgenerierung Holert (2008: 134-146). 17 Vgl. zur segmentären und senderübergreifenden Expansion sowie zur Entgrenzung des Mediums als konstitutive Momente der Ereignisproduktion des Fernsehens Thiele (2006: 128-130).

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minütige Quarks & Co-Sondersendung mit dem Titel Klimakampf in Kopenhagen. Mit der Moderatorenfrage „Ist der Klimagipfel in Kopenhagen die letzte Chance für unserer Erde?“ warb hart aber fair für seine Sendung am 9. Dezember mit dem Titel Nach uns die Sintflut – Wer will schon fürs Klima Verzicht üben? Der Sender 3Sat organisierte vom 7. bis 11. Dezember anlässlich der Klimakonferenz eine Themenwoche, in der sich am 7. und 8. Dezember zwei Ausgaben der populärwissenschaftlichen Sendung nano dem Klimagipfel und Klimawandel widmeten. Ebenfalls am 7. Dezember berichtete das 3Sat-Magazin Kulturzeit über das Gipfeltreffen in Kopenhagen, über die Folgen des Klimawandels und über Lösungsvorschläge wie das Solarprojekt Desertec. Hitec – das Magazin das Wissen schafft zog am selben Tag „Energiebilanz“, in dem es über „Defizite und Machbarkeit von regenerativer Energie“ informierte. „Die Wahrheit über das Elektroauto“ präsentierte am 9. Dezember die auf naturwissenschaftliche und technische Themen spezialisierte Sendung Abenteuer Wissen, der im Anschluss die 3Sat Extra-Sendung Wer rettet die Welt? Der Klimagipfel in Kopenhagen folgte. Am darauf folgenden Tag gehörten zum Themenschwerpunkt der Propagandafilm Energie 2050 – Aufbruch in ein neues Zeitalter des Österreichischen Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie sowie die scobel-Sendung Der Klimawandel und die Folgen, die ein Gipfeltreffen von Klimaforschern an Deutschlands höchstem Ort, der Zugspitze, in Szene setzte. Mit der Dokumentation Angriff auf das Paradies. Mikronesien vor dem Untergang der Sendungen auslandsjournal extra und einer themenspezifischen Ausgabe des 3satbörse-Magazin wurde am 11. Dezember die 3Sat-Themenwoche beschlossen. Einen Tag später am 12. Dezember präsentierte Phoenix drei Sendungen zum Thema „Klimawandel“: Der Sender startete um 11.00 Uhr vormittags mit der Sendung Patient Erde. Klimawandel Global, einer Gemeinschaftsproduktion der ARD- und ZDF-Auslandsstudios. Es folgten die bereits 2008 produzierte Auslandsreportage Afrikas Paradiese in Gefahr und abschließend um 12.15 Uhr die Dokumentation Eisbären können nicht weinen. Die Arktis im Klimawandel. Am 18. Dezember, dem letzten Konferenztag, an dem die evozierten Erwartungen endgültig in die große Enttäuschung mündeten, platzierte die ARD im Anschluss an die Tagesthemen die Reportage Gut fürs Klima? Der Machtpoker hinter den Kulissen, die den Gipfelverlauf als Intrigenspiel von Wirtschaft, Industrie, Lobbyisten und Chefverhandlern Revue passieren ließ. Zu den hier aufgelisteten Sendungen ist gerade im Hinblick auf den ereignisgenerierenden Aspekt der segmentären und senderübergreifenden Expansion dreierlei anzumerken. Erstens ist die Liste trotz aller Bemühungen sicherlich nicht vollständig. Zweitens ist die kontinuierliche Berichterstattung mit einzurechnen. Diese erstreckte sich für den zwölftägigen Konferenzzeitraum immerhin über das von ARD und ZDF im wöchentlichen Turnus hergestellte Morgenmagazin, die heute- und heute journal-Sendungen des ZDF und die Tagesschau und Tagesthemen der ARD und ging oftmals mit Live-Schaltungen nach Kopenhagen zu den Korrespondenten Volker

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Angres (ZDF) oder Werner Eckert (SWR) einher. Drittens wurden die Sendungen in der Regel nicht einmal, sondern mehrfach innerhalb kurzer Zeit ausgestrahlt. Die Erstausstrahlung des Films Patient Erde fand beispielsweise einen Tag vor Konferenzbeginn, also am 6. Dezember, um 21.45 Uhr statt. Der Wiederholung am 12. Dezember folgten zwei weitere am Sonntag, den 13. Dezember, um 7.30 Uhr und um 18.00 Uhr. Erst diese Fülle und Dichte von Sendungen und Wiederholungen erzeugte fern der ca. 27.000 KonferenzteilnehmerInnen das Gefühl der Ereignishaftigkeit und erhob die Konferenz trotz ihrer Ereignislosigkeit zum Fernsehgroßereignis.

M ASSENMEDIALE S TRUKTURSYMBOLE DES K LIMAWANDELS Sendungstitel, wie die oben aufgeführten, sind Paratexte, die mit Gérard Genette als „Schwelle[n]“ eines Textes bestimmt werden können, die „die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bieten“ und „jede Lektüre steuern“ (Genette 2001: 10). Die Metapher der ‚Schwelle‘ forciert, dass es hierbei immer um Bewegungen in zwei Richtungen geht, um Zonen „der Transaktion“ (ebd.). Insofern erfüllen Paratexte eine doppelte Funktion: Zum einen separieren sie eine abgrenzbare Entität, zum anderen stellen sie Verbindungen zwischen wohl abgegrenzten Einheiten her. Im Fall des Fernsehens trennen sie einerseits also Sendungen aus dem Programmumfeld bzw. Programmfluss heraus und bieten den verschiedenen, zu einer Sendung gruppierten Segmenten einen nach außen hin abgrenzbaren Zusammenhang, andererseits verwischen sie die Abgrenzungen, indem sie zugleich auch transtextuelle Beziehungen (vgl. Genette 1993: 9-18) zu anderen Sendungen herstellen und knüpfen (vgl. Parr/Thiele 2004: 261-264). Zu den Paratexten von Fernsehsendungen werden an erster Stelle der (Serien-)Trailer, der (Serien-)Vorspann, der Teaser, Reminder und Appetizer sowie der (Serien-)Abspann gezählt (vgl. Hickethier/Bleicher 1997). Neben dem Titel kommen im Weiteren die An-, Zwischen- und Abmoderation sowohl von Sendungen als auch von einzelnen Beiträgen innerhalb von Magazinsendungen, die Exposition sowie der Schluss von Sendungen und Magazinbeiträgen hinzu. Diese paratextuellen On-Air-Segmente werden ergänzt durch Epi- und Peritexte außerhalb des Mediums, zu denen vor allem Sendungsankündigungen in Programmzeitschriften und die Hypertexte der die Sendungen begleitenden Online-Angebote der Sender gehören, die verlinkte Kombinate aus „Textblöcken, Piktogrammen, Bildern und grafischen Verbindungselementen“ (Hediger 2004: 287) darstellen. Ein gemeinsames Kennzeichen dieser vielgestaltigen Menge von medialen Praktiken und Diskursen ist nun die Dominanz von Kollektivsymbolen, durch die die verhandelten Themen, komplexen Problemlagen und facettenreichen Gegenstände der Sendungen typisiert veranschaulicht und zu konnotatsstarken, strahlkräftigen Schlüsselbildern verdichtet werden, wodurch sie auch ihre werbende

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und zuschauerbindende Attraktionsfunktion (vgl. Bleicher 2004: 251-252) einlösen. Betrachtet man nun die Paratexte all jener Sendungen, die das Medienereignis ‚Klimagipfel Kopenhagen‘ konstituieren, dann zeigt sich, dass sich über diese multimedial – in Bild, Schrift und Ton – ein begrenzter Grundstock von metaphorischen und repräsentativen Kollektivsymbolen in hoher Frequenz verteilt.18 Zu diesem relativ stabilen Inventar zählt das Sinn-Bild der ‚Uhr‘, deren Zeiger auf dem Ziffernblatt signalisieren, dass es ‚kurz vor Zwölf‘ sei und die Zeit zum Handeln dränge. Eine hervorragende Rolle kommt dem Symbol des ‚medizinischen Körpers‘ zu, in dem der Zustand der Welt im Zeichen globaler Erwärmung abgebildet wird: In hoher Wiederholungsrate ist vom ‚Patient Erde‘ die Rede oder ist zu lesen und zu hören, dass die ‚Erde Fieber habe‘. Entsprechend häufig taucht das Visiotyp des ‚blauen Planeten‘ in symbolisch modifizierter Form auf, in der das Erdenbild mit einem Fieberthermometer versehen ist, das eine anormale Übertemperatur signalisiert, wobei eine orange-rote Einfärbung der Kontinente ebenfalls ‚Hitze‘ konnotiert (Abb. 4). Zudem wird immer wieder vom ‚Klima-Kollaps‘ gesprochen und geschrieben. Die Bildlichkeiten der ‚Fiebermessung‘ wie des ‚körperlichen Zusammenbruchs‘ resultieren dabei aus dem symbolischen Überschuss der naturwissenschaftlichen Kurvendiagramme, die den Anstieg der weltweiten Emission von Treibhausgasen, der CO2-Konzentration und der globalen Durchschnittstemperatur sowie den Trend zu Wetterextremen veranschaulichen, da ihre Schwankungskurven imaginär-symbolisch als Fieber-, Puls- und Herzrhythmuskurven gelesen werden. Mit der Übersetzung des Klimawandels in die Symbolik des ‚medizinischen Körpers‘ sind zugleich zwei entgegengesetzte Perspektiven bzw. Entwicklungsmöglichkeiten konnotiert: zum einen die Verschlechterung des Zustands – die ‚Katastrophe‘, der ‚Untergang‘ und ‚Tod‘ –, zum anderen die ‚Therapie‘, ‚Genesung‘ und ‚Normalisierung‘ durch klimapolitische Regulationsmaßnahmen und neue Technologien.

18 Vgl. zur Differenz von metaphorischem und repräsentativem Symbol Link (1982: 8).

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Abbildung 4: ‚Fiebermessung‘ beim ‚Patient Erde‘

Quelle: TV-Today 25 (2009): 82

Eine hohe Reproduktionskapazität besitzt auch eine Reihe von filmischen und fotografischen Aufnahmen, die neben ihrem dokumentarischen Status zugleich als visuell-ikonisch realisierte Symbole fungieren. Diese technischen Bilder, die quasi-automatisch gleichermaßen als ‚Abbilder‘ von Realität und als komplexitätsreduzierende Sinn-Bilder rezipiert werden, können von ihren Konnotaten her in drei Gruppen unterteilt werden. Erstens gibt es jene Aufnahmen, die repräsentativ für den Klimawandel, die klimatische Krise und Katastrophe, den Weltuntergang stehen. Hierzu gehören zum einen die Bilder von kalbendem Schelfeis, von (ab-)brechenden Eisbergen, von trockenem, staubigem und rissigem Boden und von verdorrter Vegetation, von schmelzenden und schwindenden Gletschern, von Sturmwellen an Küsten, von Hochwasser in städtischem Gebiet, von Gewitterwolken und Tornados. Zum anderen sind die Bilder anzuführen, die die auf fossilen Energieträgern basierende Industriegesellschaft symbolisieren, also die stereotypen Aufnahmen von Kohlekraftwerken, von rauchenden Schloten, von der von Rauchengasen verdeckten Sonne, von Verkehrsstaus und qualmenden Auspuffrohren. Das prominenteste und affektiv am stärksten besetzte Symbol des Klimawandels und der Naturbedrohtheit stellt gewiss das Bild vom Eisbären dar. Von besonderer symbolischer Prägnanz sind hierbei die vielen Aufnahmen, die einen Eisbären zeigen, der auf einer kleinen Eisscholle inmitten eines ansonsten eislosen Meeres offenbar hilflos dahin treibt. Die zweite Serie von Bildern gilt der Rettung, der ‚Therapie‘ und Lösung. Sie umfasst Aufnahmen von Windkrafträdern, von Photovoltaikanlagen und thermischen Solarkraftwerken, von Elektro- und Wasserstoffautos sowie von Tankzapfsäulen mit Biosprit. Alle diese Bilder stehen als

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repräsentativer Teil für das Ganze der ‚modernen Technik‘, die schon allein deswegen, weil sie der Natur bzw. der ‚Sonne‘ und dem ‚Licht‘ zugewandt ist, symbolisch als ‚fortschrittlich‘ und ‚zukunftsfähig‘ kodiert wird.19 Die dritte Gruppe von repräsentativ-symbolischen Technobildern sind einerseits Fotografien und Filmaufnahmen von Klimaforschern, von Forschungseinrichtungen und Forschungsapparaturen, andererseits Datenbilder, zu denen nüchterne Kurven- und Balkendiagramme, Schemata des Klimasystems oder des Treibhauseffektes und schließlich Simulationen der globalen Erwärmung und des weltweiten Rückgangs von Tierpopulationen oder der Pflanzenvielfalt unter Bedingungen der Überhitzung zählen. Die Wissenschaftsbilder dienen in den paratextuellen Kontexten aber noch keineswegs zur Wissensvermittlung, sondern haben v.a. die Funktion die Naturwissenschaften, ihr auf Daten, Statistik, Computermodellen und technisch-wissenschaftlichen Visualisierungsformen basierendes Wahrheitsregime des ‚Klimawandels‘ und „die ideale Konnotationslosigkeit wissenschaftlicher Spezialdiskurse“ (Schulte-Holtey 2001: 104) zu konnotieren. Die besonders hohe Wiederholungsdichte dieses Sets sprachlicher und visuell-ikonischer Symbole in der Schnittmenge von On-Air- und OnlineParatexten der Fernsehsendungen ist ein Indiz dafür, dass die Medienkonvergenz von Fernsehen und Internet zumindest im Bereich des Nachrichtenund Dokumentarfernsehens ganz wesentlich von kollektivsymbolischem Material getragen wird. Dies liegt gewiss mit an den starken transtextuellen Effekten beziehungsweise der interdiskursiven Qualität dieses Materials.

AUSSCHALTEN Die kollektivsymbolische Kodierung ist allerdings nur ein dominantes Verfahren des Fernsehens, um den komplexen Gegenstand und abstrakten Prozess des Klimawandels und der Klimapolitik zu veranschaulichen und subjektiv erlebbar zu machen. Ein anderes, in vielen Sendungen wiederkehrendes Subjektivierungsverfahren liegt in der Rückbindung des Themas an den Alltag der Zuschauer, wobei diese vorrangig als Subjekte des Konsums angerufen werden. In Pilawas Welt von morgen geht die Anrufung mit einer spielerischen Selbstinszenierung des Moderators als glücklicher Konsument einher: „Das schlimmste für mich wäre jetzt zu sagen, was geht mich das an, nach mir die Sintflut. Denn man kann was tun; und was, das schauen wir uns jetzt an. [...] Einkaufen finde ich klasse. Es macht mir irgendwie einfach Spaß, aus dem Riesenangebot

19 Im Kollektivsymbolsystem moderner, mediopolitischer Kulturen stellt die ‚Sonne‘ ein mit den Symbolen ‚Licht‘, ‚Fortschritt‘, und ‚Wachstum‘ äquivalentes Symbol dar, das stets ‚vorwärts‘ konnotiert.

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an Waren, die in unseren Supermärkten ausliegen, genau das auszusuchen, worauf ich gerade Appetit habe. Was wir uns beim Einkaufen gar nicht klar machen, jedes Produkt, das wir in unseren Wagen tun, trägt seinen eigenen Klimarucksack. [...] Was kann ich jetzt als Einzelner tun, der im Supermarkt steht und sagt, ich möchte mich ganz gerne klimafreundlich ernähren.“

In der Sendung Der Klimawandel und die Folgen verbindet sich die regierungstechnologische Interpellation mit dem Geldbeutel und der Moral: „Dass wir auf der anderen Seite etwas tun müssen, steht auch fest. Die Politik muss die Rahmenbedingungen stecken. Es muss auch etwas kosten. Genau da fängt natürlich immer das Problem an. ‚Wir müssen was tun‘, heißt im Alltag, wenn man es übersetzt: ‚Die anderen sollen was tun. Ich bin ja eigentlich gar nicht gemeint.‘ Das denken viele und begründen damit eigentlich ihr Nicht-Handeln und in gewisser Weise auch ihre Trägheit. In Wahrheit beginnt natürlich die Veränderung auch damit oder jede Veränderung beginnt auch damit, im Alltag, in der Alltagskultur, in der Lebenseinstellung tatsächlich anzusetzen. Und der Einzelne oder die Einzelne kann durchaus was tun. Was, das sehen Sie jetzt.“

Der Anmoderation von Gert Scobel folgt ein die Sendung beschließender Kurzbeitrag mit dem Titel Klimawandel – Eigenverantwortung, der die Zuschauer direkt adressiert und zum „Ökokonsum“ auffordert: „Wie sieht denn eigentlich Ihr ökologischer Fußabdruck aus? Und wie können Sie diesen Fußabdruck durch ihren Lebensstil verkleinern? Ansetzen können Sie bei unserer Lieblingssünde, dem Auto. Geländeauto verkaufen und modernes Sparmobil anschaffen wäre ein Weg. Aber auch mit dem Auto, das Sie haben, können Sie energieeffizienter umgehen.“

Die Empfehlungen für das Auto lauten, niedertourig zu fahren, ‚Flüsterreifen‘ zu kaufen und auf Kurzfahrten zu verzichten. Ein effizienterer Umgang wird auch mit der Waschmaschine empfohlen. Weitere Tipps raten, Flugtickets mit Emissionsablass zu kaufen oder Wochenendtrips ohne Flug zu planen. Schließlich folgen vor der Verabschiedung des Publikums noch Hinweise für das „Klimabewusstsein an der Einkaufskasse“, so könne Bio gekauft, seltener Fleisch gegessen und öfters auf die furchtbare Klimabilanz von Käse geachtet werden. Was der Beitrag unterlässt sind Ratschläge bezüglich des Umgangs mit der Konsumelektronik, die den Alltag in weiten Teilen bestimmt und zu der gerade auch das Fernsehen gehört. Ein solcher Medienentzug ist jedoch keineswegs die Regel. So offeriert das ZDF seit dem Kopenhagener Klimagipfel auf seinen Internetseiten zum Klimawandel CO2-Spartipps für die Alltagsbereiche „Mobilität“, „Strom“, „Heizen“ sowie „Ernährung und Konsum“. Unter die Kategorie „Strom“ fällt dort auch die Rubrik „Standby“:

290 | M ATTHIAS T HIELE „Brennt an ihrem Fernseher, dem DVD-Player oder der Spielkonsole permanent ein Licht? [...] Und haben der PC und die Espressomaschine keinen richtigen AusSchalter? Dann verbrauchen diese Geräte rund um die Uhr Energie, die Sie sich sparen können. Mit einer Steckdosenleiste mit Schalter oder einer funkgesteuerten Steckdose schalten sich alle ‚heimlichen Verbraucher‘ komplett aus. Achten Sie bereits beim Neukauf darauf, ob sich Geräte vollständig vom Netz trennen lassen. Besonders billige Geräte verbrauchen zudem im Standby oft unverhältnismäßig viel Strom.“ (ZDF 2010 „CO2-Sparen leicht gemacht“)

Dank Standby gewinnt die hegemoniale Perspektive der ratgebenden Zuschaueradressierung und -rekrutierung der Regierungstechnologie Fernsehen eine klare Kontur: Vor der Suffizienz werden die Klimaschutzstrategien Effizienz und Substitution präferiert – an Abschalten ist nicht zu denken.

L ITERATUR Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C. H. Beck 2002. Angres, Volker, „Klimagipfel 2009. Der Schock von Kopenhagen“, in: blogZDF.de (19.12.2009), http://blog.zdf.de/klimagipfel/2009/12/der– schock–von–kopenhagen.html (letzter Zugriff am 17.2.2011). Becker, Frank/Gerhard, Ute/Link, Jürgen, „Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II)“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1 (1997), S. 70-154. Behringer, Wolfgang, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München: C.H. Beck 2009. Berg, Jean-Michel, „Klima und Moral. Wer lebt, der stört“, in: Süddeutsche Zeitung (6.12.2007), http://www.sueddeutsche.de/kultur/klima-undmoral-wer-lebt-stoert-1.888282 (letzter Zugriff am 5.6.2011). Bergermann, Ulrike, „Das Planetarische. Vom Denken und Abbilden des ganzen Globus“, in: dies./Isabell Otto/Gabriele Schabacher (Hg.), Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, München: Fink 2010, S. 17-42. Bleicher, Joan Kristin, „Programmverbindungen als Paratexte des Fernsehens“, in: Klaus Kreimeier/Georg Stanitzek (Hg.), Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 245-260. Brinckmann, Christine N., „Die anthropomorphe Kamera“, in: dies., Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration, Zürich: Chronos 1997, S. 277-301.

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Zur Politik medialer Dispositive S AMUEL S IEBER

Politik, so scheint es, beginnt und endet medial. In Zeiten der „Mediokratie“ (Meyer 2001), des „Politainments“ (Dörner 2005) oder gar der „Postdemokratie“ (Crouch 2008) ist jede ‚Politik‘ von Medien kolonisiert. Mit dem Fernsehen in medialer Vorreiterrolle haben die ‚klassischen‘ Massenmedien längst die Öffentlichkeit anästhesiert, politische Parteien marginalisiert und jede repräsentative Demokratie degradiert (vgl. Meyer 2001: 149ff). Andernorts werden Medien dagegen als Initianten politischer Revolutionen und Grundlage moderner Demokratiesierungsprozesse gefeiert: Computer, Mobiltelefon und Internet erlauben oppositionelle Organisation, partizipative Krisenkommunikation und die simultane Information einer Weltöffentlichkeit1. Der augenscheinlichen Paradoxie zum Trotz wird das Beziehungsgeflecht zwischen Medien und Politik vorzugsweise mit teleologischen Denkfiguren von Mittel und Zweck und mittels bipolarer Machtkonzepte theoretisiert. Kommunikations- wie politikwissenschaftlich überwiegen Dependenz- und Instrumentalisierungstheorien: ‚Politik‘ wird entweder als abhängig von den Medien betrachtet, oder Medien gelten als für politische Zwecke instrumentalisiert. Im Gegensatz zu solchen Modellen sind Medien darauf hin zu befragen, welche Politiken sie selbst betreiben und inwiefern sie überhaupt als ‚politisch‘ interpretierbar sind. In ihren dispositiven Strukturen betrachtet, offenbaren sich Medien als politische Ordnungen von Sag- und Sichtbarkeiten: es

1

Schon 1978 schreibt Michel Foucault: „Die iranische Revolte breitet sich mittels Tonbandkassetten aus.“ (Foucault 2003), gleichenorts war 2009 von einer „Twitter-Revolution“ die Rede. Die Demonstrationen in Tunesien oder Ägypten im Frühjahr 2011 schienen ebenfalls von den ‚Neuen Medien‘ Twitter, Facebook oder Youtube begünstigt (vgl. von Rohr 2011). Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit „Medien in der Krise“ vgl. Sieber 2011.

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ist die Ordnungsmacht einer medialen ‚Polizei‘2, die im Feld des Politischen Aussagen und Sichtbarkeiten hervorbringt und regelt. Gleichzeitig sind Interventionen in diese Ordnungen, wie sie in medialen Störungen und Transformationen auszumachen sind, als Momente politischer ‚Teilhabe‘ und Aushandlung interpretierbar. Bevor Medien eine ‚vorgängige‘ Politik besetzen, bevor sie von Politik oder ‚Polizei‘ instrumentalisiert werden, sind sie also selbst politisch wirkungsreich. Die so oft bipolar gedachte Machtkonstellation zwischen Medien und Politik verschiebt sich damit: kein „massives und homogenes Phänomen der Herrschaft“ (Foucault 1978a: 82) prägt das medien-politische Beziehungsfeld. Vielmehr funktioniert Macht als „netzförmige Organisation“, „als etwas, das zirkuliert oder vielmehr als etwas, das nur in Art einer Kette funktioniert“ (ebd.). Zu beleuchten sind deshalb jene ‚Maschen der Macht‘, die Medien und Politik in produktive Wechselwirkung bringen: strategisch geordnete Sag- und Sichtbarkeiten in medialen Mikro- und Makrodispositiven, d.h. in Dispositiven der Einzelmedien und medial geprägten, einem ganzen gesellschaftlichen Feld immanenten Makrodispositiven. Die Politik dieser medialen Dispositive ist die ihrer „politischen Differenz“ (Marchart 2010): zwischen institutionalisierten Formen der Politik (franz. la politique), der Ordnungsmacht einer ‚Polizei‘ (franz. la police) und der Substanz und Eigenschaft eines Politischen (franz. le politique), das jeder Politik vorgängig ist.

M EDIALE M IKRO - UND M AKRODISPOSITIVE In der deutschsprachigen Film- und Medienwissenschaft war und ist der Dispositivbegriff stark durch die „metapsychologische[n] Betrachtungen des Realitätseindrucks“ Jean-Louis Baudrys (1999) geprägt. Michel Foucaults Konzept des Dispositivs fiel dagegen lange Zeit hinter diese „kinotheoretische Verbreitung“ des Begriffs eines „kinobegeisterten Zahnarztes“ zurück (Hans 2001: 22). Dabei sucht Foucaults Diskurs- und Machtanalytik gerade nach den Ordnungen der Sag- und Sichtbarkeit, um ihre Macht- und Subjekteffekte aufzudecken (vgl. Deleuze 1991: 156f). Nach Foucault verfügen Dispositive sowohl über eine charakteristische Struktur wie auch über spezifische Funktionen: erstens handelt es sich bei einem Dispositiv um ein „entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Massnahmen […], umfasst“ (Foucault 1978b:

2

‚Polizei‘ ist dabei im Foucault’schen Sinne zu verstehen: als Verwaltungs- und Ordnungsmacht, d.h. als Kalkül und Technik, „die die Schaffung einer flexiblen, aber dennoch stabilen und kontrollierbaren Beziehung zwischen der inneren Ordnung des Staates und dem Wachstum seiner Kräfte ermöglicht“ (Foucault 2004: 451).

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119), wobei das Dispositiv als das Netz zwischen diesen Elementen zu verstehen ist. Die Diskurse der Rechtsprechung und das Gefängnis oder die Diskursivierung des Sexes und der klinische Blick formen in Foucaults Analysen die Dispositive der Strafjustiz und der Sexualität (vgl. Foucault 1977; 1987); im Fokus steht immer die Verbindung diskursiver und nichtdiskursiver Elemente. Zweitens antwortet ein Dispositiv als Formation immer auf einen „Notstand“, d.h. auf eine krisenhafte Dringlichkeit, weshalb es eine vorwiegend strategische Funktion hat (Foucault 1978b: 120f). Foucaults Dispositive bilden sich durch strategische Imperative wie Hungersnöte (vgl. Foucault 2004: 62f) oder ein „Millieu der Delinquenz“ (Foucault 1978b: 122) aus. Diese Strategien diskursiver Ordnungen zeigen sich exemplarisch in einer Theorie der Interdiskursivität, wie sie unter anderen Jürgen Link entwickelt hat: Dispositive ordnen Spezialdiskurse (d.h. funktional ausdifferenzierte Diskurse wie z.B. die Wissenschaft) und Elementardiskurse (z.B. Diskurse der Alltagsrede oder des Alltagswissens) zu Interdiskursen (als Beziehungen und Transformationen zwischen Spezial- und Elementardiskursen) (vgl. Link 2006: 19). Interdiskurse, wie sie beispielsweise in der massenmedialen Vermittlung wissenschaftlicher Forschung auszumachen wären, sind das Resultat der strategischen Prävalenz eines Dispositivs, womit sich umgekehrt Interdiskursivität „als spezifische Operativität von ‚Dispositiven‘ zuordnen“ lässt (Link/Link-Heer 1990: 93). Dispositive sind auch in ihrer Größe und Ausbreitung von Heterogenität geprägt. Bei Foucault bestehen sie einerseits „aus einer diffusen, heterogenen Mannigfaltigkeit, aus Mikro-Dispositiven“ und verweisen andererseits „auf ein Diagramm, auf eine Art abstrakte Maschine, die dem ganzen gesellschaftlichen Feld immanent ist“ (Deleuze 1996: 15). Zu unterscheiden sind also Mikrodispositive und größere, komplexere Makrodispositive. In medienwissenschaftlicher Anwendung spricht Matthias Thiele von einzelmedialen „Medien-Dispositiven“, die zugleich als „konstitutive Teilelemente“ größerer Makrodispositive fungieren können (Thiele 2009: 44f). Beispielsweise sind die von Foucault aufgedeckten Dispositive der Sexualität oder der Strafjustiz nicht a priori ‚medial‘, wohl aber von bestimmten medialen und kommunikativen Praktiken wie wissenschaftlichen Taxonomien oder einem Geständniszwang geprägt. Der Vorteil einer Applikation des Dispositivbegriffs auf Einzelmedien liegt nun darin, „dass die verschiedenen Bereiche eines Mediums – wie Technik bzw. Apparatur, institutioneller Kontext, ökonomische Dimension, Raum- und Produktionspraktiken, ästhetische Verfahren und Stile, Wahrnehmungs-, Gebrauchs- und Rezeptionsweisen – zusammengedacht werden können“ (Thiele 2009: 41). Gleichzeitig sind Medien als Konglomerate mehrerer (medialer) Mikrodispositive vorstellbar, wobei immer medienspezifische und intermediale Eigenschaften hervortreten (vgl. Thiele 2009: 45). Das Dispositiv des modernen, mit Kamera, Internet, synchronisierbarem Kalender und E-Mail-Client ausgerüsteten Mobiltelefons kann beispielsweise als Konglomerat aus den Dispositiven des Telefons, des Internets, des

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Videos und Fernsehens, der Fotografie und des Büros gelten3. Als Politik medialer wie medial geprägter Dispositive sind in diesem Sinne neben der strategischen Prävalenz der Interdiskursivität auch Strategien der Intermedialität zu vermuten: politische und mediale Diskurse verbinden sich in und zwischen den Dispositiven der Medien und der Politik zugleich interdiskursiv und intermedial – und ziehen spezifische Machtverhältnisse und Subjekteffekte nach sich.

M EDIALE O RDNUNGEN

DER

S AG -

UND

S ICHTBARKEIT

Die Vernetzung heterogener Elemente in einem Mediendispositiv deckt sich in Foucaults Dispositivbegriff mit der Verbindung von Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten. Die „Schichten oder historischen Formationen“, die Foucault mit seiner Diskursarchäologie freizulegen vermag, bestehen stets aus einer Art des Sagens und einer Weise des Sehens, aus „Diskursivitäten und Evidenzen“ (Deleuze 1992: 69ff). Vor diesem Hintergrund entwickelt die Archäologie des Wissens den methodologischen Rahmen, die Elemente dieser Schichtungen freizulegen. Den diskursiven Formationen der Aussagen stehen im Dispositiv die Sichtbarkeiten als nicht-diskursive Formationen gegenüber. Ein irreduzibles, stets wechselseitiges Zusammenspiel der diskursiven Ordnungen und der ‚Maschinen der Sichtbarkeit‘, wie Gilles Deleuze betont hat: „Sowenig die Aussagen ablösbar sind von ihren Ordnungen, so wenig sind die Sichtbarkeiten von ihren Maschinen ablösbar. Nicht dass jede Maschine von optischem Charakter wäre; aber es handelt sich um eine Zusammenstellung von Organen und Funktionen, die etwas sehen lässt, die ans Licht bringt, zur Evidenz […].“ (Deleuze 1992: 83)

Bereits die Archäologie des Wissens operiert mit Diskursen und Evidenzen, denn „Foucault war stets ebenso fasziniert von dem, was er sah, wie von dem, was er hörte oder las, und die Archäologie, so wie er sie begriff, stellt ein audiovisuelles Archiv dar […]“ (Deleuze 1992: 72f). Darin verortet Foucault das Konstitutionsmoment jedes Wissens: das Sichtbare und das Sagbare bilden das Objekt einer Epistemologie – und nicht einer Phänomenologie (vgl. ebd.). Als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“, als „das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen“

3

Als Medien-Dispositiv findet das Mobiltelefon (neben dem Fernsehen) in Giorgio Agambens Text „Was ist ein Dispositiv?“ (2008: 37) explizite Erwähnung. Allerdings verzichtet Agamben auf eine medienwissenschaftlich vertiefende Beschreibung dieses Mediendispositivs und ‚beschränkt‘ sich auf dessen Prozesse der Subjektivierung und Desubjektivierung.

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(Foucault 1973: 187f) bildet das diskursive Archiv ein Dispositiv des Wissens, das durch die Sichtbarkeiten und ihre Maschinen ergänzt wird. Sagbares und Sichtbares müssen dabei weder übereinstimmen oder korrespondieren, noch eine gemeinsame Form annehmen. Vielmehr besteht ein Gegensatz zwischen Sehen und Sprechen: „was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt“ (Deleuze 1992: 92). Das audiovisuelle Archiv ist disjunktiv; jede historische Formation ist von einem zentralen archäologischen Riss durchzogen. Gleichwohl bleiben in dieser Disjunktion Aussagen und Sichtbarkeiten in Verbindung: zwischen dem Sichtbaren und seiner Bedingung gleiten die Aussagen hin und her; und zwischen die Aussage und ihre Bedingung schleichen sich die Sichtbarkeiten ein (vgl. ebd.: 93ff). Die „Prozeduren des Wahren“ (ebd.: 91) bestehen so aus Praktiken des Sehens und Praktiken des Sagens, aus maschinellen Prozessen der Sichtbarkeit und Aussageverfahren, die zusammen Wissen konstituieren. Medien werden damit nicht nur als „das technische und logische Gesetz dessen […], was heute sagbar ist“ (Ernst 2004: 239), beschreibbar: die diskursiven Ordnungen und die Regime der Sichtbarkeit in Mediendispositiven sind fester Teil wissenskonstituierender, politischer Wahrheitsprozeduren. Die Politik medialer Dispositive operiert mittels dieser zugleich disjunktiven und verbindenden, audiovisuellen Prägung. Was Foucault als die historischen Schichten formenden Arten des Sagens und Weisen des Sehens aufzeigt, bestimmt Jacques Rancière als die Politik einer „Aufteilung des Sinnlichen“, eines „Systems sinnlicher Evidenzen“: „Die Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben. […] Die Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms geben zugleich den Ort und den Gegenstand der Politik als Form der Erfahrung vor. Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.“ (Rancière 2006: 25ff)

Den dispositiven Ordnungen medialer Elemente liegt aus der Perspektive Rancières eine politische Ästhetik zu Grunde: sie organisieren und transportieren eine Aufteilung des Sinnlichen, eine Ordnung von Diskursen und Evidenzen, die gleichermaßen die Existenz eines Gemeinsamen wie dessen Unterteilung bestimmt. Rancière hat diese Politik der Diskurse und Evidenzen exemplarisch an der Kunst verdeutlicht, die weder auf Grund ihrer Botschaften noch durch ihre Darstellung sozialer Strukturen oder ethnischer und sexueller Identitäten politisch wird, sondern durch „eine Veränderung der Beziehung zwischen den Formen des Sinnlichen und den Regimen der Bedeutungszuweisung“: „Kunst ist in erster Linie dadurch politisch, dass sie ein raum-zeitliches Sensorium schafft, durch das bestimmte Weisen des Zusammen- oder Getrenntseins, des Innen-

300 | S AMUEL S IEBER oder Außen-, Gegenüber- oder in-der-Mitte-Seins festgelegt werden. Kunst ist dadurch politisch, dass sie einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt, und dass die Gegenstände, mit denen sie diesen Raum bevölkert, und die Rhythmen, in die sie diese Zeit einteilt, eine spezifische Form der Erfahrung festlegen, die mit anderen Formen der Erfahrung übereinstimmt oder mit ihnen bricht.“ (Rancière 2006: 77)

Die Aufteilung des Sinnlichen, des Sag- und Sichtbaren in Mediendispositive hat damit insofern politischen Charakter, als „sie zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden“ (Rancière 2006: 25f). Rancières politische Ästhetik verweist damit auf die stets neu zu verhandelnde Irreduzibilität von Singularität und Alterität jeder Gemeinschaft, die sowohl aus Singularitäten, wie auch aus einer Repräsentation ihrer Allgemeinheit bestehen muss (vgl. Derrida 2000: 47). Das ‚Politische‘ medialer Dispositive liegt in ihrer Bestimmung des Gemeinsamen und der Anteile, in ihrer Strukturierung von Sag- und Sichtbarem; sie organisieren und bestimmen die „Erfahrung der (Mit-)Teilung der Gemeinschaft“ (Nancy 1988: 105, zit. nach Bedorf 2010: 30) 4. Identifizieren und repräsentieren Medien das politische Prinzip des Gemeinschaftlichen5, kommt ihren dispositiven Anordnungen weiteres politisches Gewicht zu. Als Aufteilung des Sinnlichen, d.h. gegenseitigen Durchdringung von Sag- und Sichtbarkeiten, sind Mediendispositive jenen von Foucault beschriebenen Machtsystemen zu zurechnen, die Wahrheitsregime erzeugen und stützen: „Als ‚Wahrheit‘ ist ein Ensemble an geregelten Prozeduren zu verstehen, das die Erzeugung, die Gesetzmässigkeit, die Verteilung, die Zirkulation und das Funktionieren von Äusserungen bestimmt. Die ‚Wahrheit‘ ist zirkulär mit Machtsystemen verbunden, die sie hervorbringen und stützen, sowie mit Machtwirkungen, die sie induziert und welche sie fortführen – Wahrheits-‚regime‘.“ (Foucault 1999: 29)

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Schon deshalb gibt es kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis von Politik und Medien. Politik ist a priori auf die Medialität der Medien angewiesen: Medien identifizieren und repräsentieren ein Gemeinschaftliches, ja machen es überhaupt erst fest- und vorstellbar. Als „gemeinschaftliches Dazwischen“ (Tholen 2002: 179ff) schafft Medialität jene notwendige Unterbrechung von Kommunikation, die eine (Mit-)Teilung zwischen Repräsentation und Singularität ermöglicht.

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Auch die Cultural Studies haben auf diese „erste grosse kulturelle Funktionen moderner Medien“ hingewiesen: „This is the first of the great cultural functions of the modern media: the provision and the selective construction of social knowledge, of social imagery, through which we perceive the ‚worlds‘, the ‚lived realities‘ of others, and imaginarily reconstruct their lives and ours into some intelligible ,world-of-the-whole‘, some ‚lived totality‘“ (Hall 1984: 340f).

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Die Aussageverfahren und maschinellen Prozesse der Sichtbarkeit operieren in Mediendispositiven als mediale Politiken der Auf- und Unterteilung des Sinnlichen6 und der Wahrheit. Medientechnologische Entwicklungen oder Anpassungen in der Mediennutzung sind deshalb gleichermaßen politisch zu werten. Das moderne, hochauflösende Fernsehen macht ungeahnte Details kontrastreich und in fast surreal wirkender Schärfe sichtbar7 und Webplattformen wie Facebook oder Twitter organisieren die laufende Diskursivierung, Speicherung und Verbreitung tagebuchartiger, scheinbar belangloser Details aus dem Leben ihrer Nutzer.

D IE ‚P OLIZEI ‘ MEDIALER D ISPOSITIVE Rancières ‚Politik des Ästhetischen‘, in deren Zentrum weniger die Ausübung von Macht als vielmehr die sinnliche Aufteilung eines spezifischen Raumes der gemeinsamen Angelegenheiten steht, ist in diesem Sinne zu erweitern. Denn für Mediendispositive ist gerade die strategische, machtkonstituierte wie -konstituierende Ausrichtung heterogener, medialer Elemente charakteristisch. Dispositive sind stets in ein „Spiel der Macht“ eingeschrieben und an „Grenzen des Wissens gebunden, die daraus hervorgehen, es gleichwohl aber auch bedingen“ (Foucault 1978b: 123). Die Kombinationen und Variationen von Sicht- und Sagbarkeiten erfahren nach Deleuze ihre entscheidende Ergänzung durch Kräftelinien, die eine ordnende Funktion einnehmen: „Drittens schließt ein Dispositiv Kräftelinien mit ein. Man könnte sagen, dass sie in den vorangehenden Linien [der Aussagen und der Sichtbarkeiten (SaS)] von einem singulären Punkt zum anderen verlaufen; sie ‚richten‘ die vorangehenden Kurven gewissermaßen ‚neu aus‘, sie ziehen Tangenten und entwickeln Verlaufskurven von einer Linie zur anderen, bewerkstelligen das Kommen-und-Gehen vom Sehen zum Sprechen und anders herum, wobei sie wie Pfeile agieren, die unablässig die Worte und Dinge durchkreuzen und nicht aufhören, um diese den Kampf zu führen.“ (Deleuze 2005: 154)

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Bezeichnenderweise hat Rancière selbst die Aufteilung des Sinnlichen an weiteren Medienbeispielen verdeutlicht: so an der Demokratie des Romans, d.h. in der „gleichgültige[n] Demokratie der Schrift, so wie sie vom Roman im Verhältnis zu seinem Publikum symbolisiert wird“ oder in der abstrakten Malerei, die nicht die Entdeckung der zweidimensionalen Oberfläche als ein ureigenes Medium bestimmt, sondern als Oberfläche selbst eine Aufteilung des Sinnlichen darstellt (vgl. Rancière 2006: 29ff).

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Markus Stauffs und Judith Keilbachs Ansatz in diesem Band, ‚Veränderung‘ und ‚Transformation‘ als fundamentale Merkmale des Mediums Fernsehen aufzufassen, erscheint vor diesem Hintergrund besonders vielversprechend.

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Jede Ordnung der Diskurse und Evidenzen hat strategischen Charakter und Mediendispositive richten ihre heterogenen Elemente stets mit spezifischen Zielen aus. Die Dispositive Foucaults und das apparative „Dispositiv Kino“ Jean-Louis Baudrys verbindet diese strategische Komponente: auch das Kino-Dispositiv ordnet – im Interesse des Realitätseindrucks für den Zuschauer – Apparate, Raum, Leinwand, Sitzordnung und Licht auf bestimmte Weise an (vgl. Paech 1997: 403)8. ‚Politisch‘ sind die strategischen Mediendispositive deshalb nicht in erster Linie als Politik, sondern vielmehr als ‚Polizei‘. Mit Foucault lässt sich die politische Funktion medialer Dispositive als Ordnungsmacht beschreiben, deren Wirkung auf die gemeinschaftlichen Tätigkeiten der Individuen zielt: „Die Rolle der Polizei als Form rationalen Einwirkens der politischen Macht auf Menschen besteht darin, diesen eine Art kleines Extra-Leben zu verschaffen, und indem sie das tut, gewährt sie dem Staat eine kleine Extra-Stärke. Dies geschieht mittels Kontrolle des ‚Verkehrs‘, das heißt der gemeinschaftlichen Tätigkeiten der Individuen […].“ (Foucault 1994: 87)

Die Aufteilung des Sinnlichen, das „allgemein inbegriffene Gesetz, das die Formen des Teilhabens bestimmt, indem es zuerst die Wahrnehmungsweisen festlegt, in die sie sich einschreiben“ (Rancière 2008: 31) ist als solche Polizei und nicht als Politik zu verstehen. Erst ein Aufbrechen der Ordnungen der Sag- und Sichtbarkeit ist für Rancière genuin politisch und verdient den Namen einer Politik: „Ich schlage nun vor, den Namen der Politik auf genau die bestimmte Tätigkeit […] zu beschränken: diejenige, die die sinnliche Gestaltung zerbricht, wo die Teile und die Anteile oder ihre Abwesenheit sich durch eine Annahme definieren, die darin per definitionem keinen Platz hat: die eines Anteils der Anteillosen.“ (Rancière 2002: 41)

Es sind die Politik und die Polizei der Mediendispositive, die bei Rancière ‚das Politische‘ bilden. Spätestens seit den 1980er-Jahren und den Arbeiten von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe konstatiert die politische Philosophie jene grundlegende Differenz zwischen Politik (franz. la politique) und einem Politischen (franz. le politique). Zentrale Motivation dieser Differenzierung ist die Bestimmung des essentiell Politischen als philosophischem Gegenstand, die sich von einer politischen Theorie abgrenzt, die immer nur nach den Organisations- und Legitimationsformen bereits institutionalisierter Politik fragen kann (vgl. ausführlich Bedorf 2010). For-

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So gelingt es Joachim Paech auch, das Dispositiv als „Theorie medialer Topik“ zu beschreiben: „Das Dispositiv ist die (topische) Ordnung, in der (z. B. audiovisuelle) Diskurse ihren Effekt (z. B. den Realitätseindruck) erzielen“ (Paech 1997: 410).

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men institutionalisierter Politik – vom Staat über das Parlament bis hin zur Demokratie – werden angesichts dieser politischen Differenz ebenfalls als eigene Mikrodispositive oder Elemente in Makrodispositiven denkbar, die Diskurse des Politischen auf je spezifische Weise ordnen und transformieren. Rancière verortet diese Differenz zwischen Politik und Polizei; das ‚Politische‘ besteht gerade im Aufeinandertreffen von „Regierung im weiten, fast Foucaultʼschen Sinne des Begriffs der Regierungstechnologien (la police) und […] Emanzipation (la politique)“ (Marchart 2010: 180). Politik im Sinne einer „Intervention in das Sagbare und Sichtbare“, als „Demonstration des Dissens“ (Rancière 2008: 32f) wird durch die Kräftelinien der Mediendispositive also gerade verunmöglicht. Niemals bleiben Medien bei einer blossen Repräsentation von Gemeinschaft: vielmehr ordnen und inventarisieren sie und entziehen zugleich ihre dispositive Struktur und strategische Ausrichtung jeder politischen Intervention oder Verhandlung. Die mediale Ordnung, Inventarisierung, Kartographierung oder Normierung des (imaginierten) Gemeinschaftlichen wird gemeinschaftlich weder geteilt noch mitgeteilt. Als Dispositive gedacht, verdeutlicht sich die heterogene Komplexität medialer Diskurse, Institutionen, Einrichtungen, Entscheidungen und Gesetze zur politischen Ordnungsmacht einer medialen ‚Polizei‘. In dieser machtdurchzogenen Verunmöglichung einer Intervention findet sich schließlich auch die von Deleuze beschriebene vierte DispositivDimension, nämlich der „Individuierungsprozess“ der „Subjektivierungslinien“ (Deleuze 2005: 155f). Die „Maschinen der Sichtbarkeit“, wie sie Foucault anhand der Maschinen Roussels, aber auch anhand des panoptischen Gefängnisses und des klinischen Blicks beschrieben hat, sind Dispositive von Aussagen und Sichtbarkeiten, die Wissen und Subjektivitäten formieren. Die Bedingung der Sichtbarkeit in Mediendispositiven ist dementsprechend keine subjektive Sichtweise; das Subjekt ist vielmehr „seinerseits eine Stelle innerhalb der Sichtbarkeit, eine abgeleitete Funktion der Sichtbarkeit […]“ (Deleuze 1992: 82). Diskursiv finden sich die Subjektivierungsprozesse in der strategischen Interdiskursivität des Dispositivs: ihr Geflecht aus Elementar- und Spezialdiskursen generiert laufend „kompatible Subjektivität und reintegrierende Diskurselemente“ einer „Kollektivsymbolik“ (Link 2001: 78). Die mediale ‚Polizei‘ basiert damit auf jenem produktiven Zusammenspiel von Macht und Wissen, das Foucault ins Zentrum seines Dispositivbegriffs gestellt hat. Mediendispositive repräsentieren, ordnen und subjektivieren: als Wahrheitsregime diktieren sie Handlungs- und Wahrnehmungsweisen im Feld des Politischen, das sie zugleich freisetzen und einschränken. Sie operieren mit spezifischen „Subjektivierungslinien“, mit einem „Individuierungsprozess“ des Selbst, „der sich auf Gruppen oder Personen bezieht und sich den etablierten Kräfteverhältnissen sowie den konstituierten Wissensarten entzieht“ (Deleuze 2005: 155f). Der abendliche Fernsehzuschauer wird als „zappeur“ (de-)subjektiviert (vgl. Agamben 2008: 37), die Internetbesucherin als Kommentatorin ihres Privatlebens und der

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Computerspieler als Operator zwar narrativ gerahmter, aber maschinell vorgegebener Steuerbefehle. Genau deshalb werden Mediendispositive auch Teil gouvernementaler Machtbeziehungen; sie transportieren und regulieren gleichermaßen Regierungspraktiken und Selbsttechnologien. Im Zeittaler der Gouvernementalität werden Medien zu „handhabbaren Gegenständen mit ‚Potenzialen‘ und ‚Gefahren‘ […], deren rationale Handhabung wiederum weitere Gegenstände – Praktiken, Familienverhältnisse, Subjektivitäten, Bevölkerung – reg(ul)ierenden Zugriffen zugänglich macht“ (Stauff 2005: 108). Die Gouvernementalität der Medien gründet in ihrer disponierenden ‚Polizei‘: Mediendispositive zählen zu jenen „Institutionen, […] Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken“, deren komplexe Machtform „als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“ (Foucault 2000: 64f). Zu Recht hat Christoph Engemann deshalb Gouvernementalität zu einer „Gouvernemedialität“ weitergedacht: „Über Medien geben sich Individuen und der Staat jenes Wissen über sich selbst und andere, das Gegenstand der modernen Regierungen ist. Regierungswissen ist ohne Medien nicht denkbar und moderne Regierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Medien selbst zum Gegenstand ihrer Politik machen.“ (Engemann 2011)

Die selbst- und regierungstechnologische Funktion einer medialen Ordnungsmacht verdeutlicht sich in (inter-)medialen Mikrodispositiven genauso wie den medial geprägten Makrodispositiven. Das moderne Mobiltelefon ‚diktiert‘ via Textnachrichten und ständiger Erreichbarkeit Kommunikationsrhythmen, verortet mittels Satellitennavigation auf interaktiven Karten, ‚verbildlicht‘ dank eingebauter Kamera den Alltag und verpflichtet zugleich durch Netzanbindung, anwendungsfreundliche Applikationen und stete Verbindung zu ‚sozialen‘ Online-Portalen zur ständigen Mitteilung. Gleichsam finden sich die gouvernementalen Machttechniken auf Ebene der Makrodispositive wieder, wie Johanna Dorer anhand des historischen Übergangs von einem „Informationsdispositiv“ hin zu einem „Kommunikationsdispositiv“ gezeigt hat: in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdrängen die technische Entwicklung der Massenmedien, das Aufkommen von Public Relations- und Werbediskursen und ein omnipräsenter, öffentlicher ‚Geständniszwang‘ das von Zensur und Repression geprägte Informationsdispositiv und formen ein Kommunikationsdispositiv der „ständigen mehrdimensionalen Rede“ und des „unablässigen Sprechens in der Medienöffentlichkeit“ (Dorer 1999: 302; ausführlich Dorer/Marschik 1993). Die umfangreichen Kommunikations- und Werbebemühungen politischer oder wirtschaftlicher PR sind vor diesem Hintergrund genauso als Interdiskurs eines medial geprägten Dispositivs zu sehen, wie die aktuell vieldiskutierten ‚partizipativen‘ Publikationsmöglichkeiten ‚sozialer Medien‘ im ‚interaktiven‘ Web 2.0.

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M EDIALE I NTERVENTIONEN

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P OLITISCHEN

Zeigt sich die Politik medialer Dispositive in der ordnenden, subjektivierenden, selbst- und regierungstechnologisch geprägten Aufteilung der Sag- und Sichtbarkeiten, so ist diese Macht der Medien wesentlich einer eingeschränkten Wahrnehmbarkeit medialer Dispositive geschuldet. Diese werden scheinbar erst in dem Moment reflexiv, „in dem das Dispositiv problematisch wird, nicht mehr bruchlos funktioniert oder misslingt“ (Paech 1997: 410)9. Auch Foucaults Dispositive der Sexualität und der Strafjustiz bleiben unbemerkt; ihre Aussagen verborgen, solange nicht ihre Bedingungen zu Tage gefördert werden; ihre Sichtbarkeiten unsichtbar, wenn deren Untersuchung bei den Objekten, den Dingen und den Sinnesqualitäten stehen bleibt (vgl. Deleuze 1992: 77ff). Die eingeschränkte Wahrnehmungsmöglichkeit der Mediendispositive lässt sich in der Mediengeschichte durchgängig verorten: die dispositive Anordnung des Zaubertricks einer verschwindenden Frau auf der Theaterbühne verdeutlicht sich nach Joachim Paech erst bei dessen Verfilmung, in der ein Zauberkasten (in dem eine Frau verschwand) selbst verschwindet und sich in Filmkamera und -projektor „totalisiert“ (Paech 1991: 773ff). Gleichsam befinden sich modernere „Medientechnologien in Auflösung“ (Stauff 2001), wenn trotz der diskursiven Evidenz der Medien als stabile Objekte eine stetige Streuung und Verflüchtigung derselben stattfindet und wir einer „ununterbrochenen Umformung des medialen Systems und einer fortlaufenden Erneuerung seiner Komponenten“ gegenüberstehen (ebd.: 83). Erst intermediale Transformationen und Repräsentationen ermöglichen überhaupt die Reflexion medialer Dispositive: das Fernsehprogramm auf dem Mobiltelefon durchbricht dessen Raumanordnung des Wohnzimmers, das Kunstwerk im Fernseh-Kulturmagazin ist den Techniken und Praktiken des Museums entrissen10 und das dreidimensionale Kino beginnt vielleicht gerade, dessen althergebrachte, zweidimensionale Leinwand zu demontieren11. Anders als eine omnipräsente, mediale ‚Polizei‘ scheint mediale ‚Poli-

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Bei Baudry ist die „Verbannung aller Spuren von (technisch-apparativer) Arbeit aus der Repräsentation und Rezeption“ (ebd.: 401) ebenfalls festes Charakteristikum des Dispositivs Kino.

10 Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Nadja Elia-Borer in diesem Band. 11 Gegen ein ausschliessliches ‚Reflexiv-Werden‘ medialer Dispositive und Technologien in Momenten von Störung und Dysfunktionalität spricht, dass Medien ihre technisch-apparative Dimension gelegentlich selbst ausstellen – beispielsweise, wenn sie sich „durch diskursive Versprechen und technische Andeutungen als Vorstufe eine perfektionierten und somit endgültigen Mediums präsentieren“ (Stauff 2001: S. 84). Allerdings liegt nahe, dass in derartigen medialen ‚Selbstthematisierungen‘ die Macht- und Subjekteffekte medialer Dispositive aussen vor bleiben.

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tik‘ im Sinne ‚des Politischen‘ nur an medialen Bruchstellen und in Momenten intermedialer Transformationen möglich. Aus Perspektive der politischen Differenz ist die Anordnung der heterogenen Elemente in medialen Dispositiven vorab als institutionalisierte Politik oder als ‚Polizei‘ und nicht als genuin ‚politisch‘ interpretierbar. ‚Politisch‘ werden Mediendispositive dagegen im Moment eines „kontingenten Ereignis der Störung“ (Krasmann 2010: 81), wenn „die natürliche Ordnung der Herrschaft unterbrochen ist durch die Einrichtung eines Anteils der Anteillosen“ (Rancière 2002: 24). Mediale Bruchstellen, Dysfunktionalitäten und Wandlungsprozesse sind damit nicht nur Ausgangspunkt der Fragen nach medienspezifischen Materialitäten und nach Prozessen einer synthetischen, formalen, transformationalen, oder gar ontologischen Intermedialität (vgl. Schröter 1998): sie bilden zugleich jenes Moment, das die disponierende (An-)Ordnung medialer Dispositive verdeutlicht, indem diese aus Einzeldispositiven neue ‚Konglomerate‘ bilden. Medienumbrüche als die genuin politischen Momente der Intervention und eines Anteils der Anteillosen festzusetzen, wird Foucault jedoch nicht gerecht. So sehr intermediale Transformationen ehemals feste mediale Rahmen zur Verhandlung stellen mögen: sie bleiben stets von der strategischen Prävalenz eines Dispositivs geprägt. Jedes Dispositiv hat zu einem gegeben historischen Zeitpunkt auf einen Notstand reagiert, hierin liegt seine strategische Natur. Dispositive zeichnen sich eben nicht nur durch eine Struktur und Vernetzung heterogener Elemente aus, sondern auch durch einen bestimmten Typ von Genese (vgl. Foucault 1978b: 120f). Die Prozesse der „funktionellen Überdeterminierung“ und der „strategischen Wiederauffüllung“ dieser Genese sind einerseits politisch, geht es doch um eine Readjustierung der heterogenen Elemente im Dispositiv. So mag beispielsweise das Internet in politischen Revolutionen denjenigen eine Stimme geben, die in den staatlich kontrollierten Massenmedien Fernsehen, Radio und Presse nicht zu Wort kommen. Andererseits zielen mediale Transformationen stets darauf, Widersprüche und Gegensätze wieder in Einklang zu bringen. Die Genese neuer Ordnungen der Sag- und Sichtbarkeit basiert auf der Harmonisierung gewollter und ungewollter Wirkungen – und ist damit immer von der bestehenden strategischen Zielsetzung eines Dispositivs geprägt. Politische Intervention bleibt selbst stets diskursiv und ‚evident‘ konstruiert und wird auch in ihrem politischsten Moment immer noch von einer strategisch ausgerichteten Polizei organisiert. Prozesse medialer ‚Selbstthematisierung‘, wie sie beispielsweise in Fernsehserien, Kinofilmen oder Computerspielen durch die Ausstellung der jeweils eigenen medialen Möglichkeiten zu beobachten sind (z.B. mittels der Thematisierung des Fernsehgeräts in einer Fernsehserie oder der narrativen Rahmung von Steuerungsoptionen in Computerspielen), sind deshalb gleichsam als strategisch-disponierende Effekte der Mediendispositive aufzufassen. In den sich historisch wie aktuell transformierenden Mediendispositiven stehen Politik und ‚Polizei‘ deshalb in einer ständigen, irreduziblen Bezie-

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hung: als ‚Polizei‘ repräsentieren sie Gemeinschaft, ordnen, normieren und selegieren die Aufteilungen der Diskurse und Evidenzen und subjektivieren durch Selbst- und Regierungstechnologien; als Politik müssen sie in die eigenen audiovisuellen Archive eingreifen und schaffen durch Umbrüche sowohl Dissens als auch Raum für Interventionen, der allerdings stets strategisch besetzt bleibt. Jede Kritik der medialen ‚Polizei‘ und jede Dekonstruktion medialer Politik bewegt sich auch deshalb zwangsläufig in jenem „privilegierten Gebiet“ der Diskursarchäologie: „Die Analyse des Archivs umfasst also ein privilegiertes Gebiet: gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität verschieden, ist es die Randung der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, zu ihr einen Überhang bildet und sie anzeigt in ihrer Alterität; es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt. Die Beschreibung des Archivs entfaltet ihre Möglichkeiten (und die Beherrschung ihrer Möglichkeiten) ausgehend von Diskursen, die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein […].“ (Foucault 1973: S. 189)

Im Feld der Medien ist der Ausgangspunkt jeder Politik in diesem Sinne ein medienwissenschaftlicher. Einerseits, weil ‚das Politische‘ unbedingt auf eine Medialität als gemeinschaftliches Dazwischen angewiesen ist und andererseits, weil erst eine Dekonstruktion medialer wie medial geprägter Dispositive deren Politiken freizulegen vermag. Erst eine „Profanierung der Dispositive“ – das heisst das Verfahren, „mittels dessen das, was in ihnen eingefangen und abgesondert wurde, dem allgemeinen Gebrauch zurückgegeben wird […]“ (Agamben 2008: 41) erlaubt politische Interventionen, die diesen Namen verdienen.

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Mars-Viskurse De- und Re-Kontextualisierungen von wissenschaftlichen Bildern R ALF A DELMANN

1. ‚F ASCINATING !‘ Erkenntnis und Faszination sind keine Gegensätze. Vielleicht haben sie nichts miteinander zu tun oder werden zwei Kategorien zugeordnet, die jeweils Unvereinbares klassifizieren. Wissenschaftliche Gegenstände oder Naturphänomene können faszinierend sein, ohne dass die über sie zu gewinnenden Erkenntnisse davon berührt werden; das Wissen über ein Objekt oder einen Vorgang muss nicht unbedingt zu seiner Faszinationskraft beitragen. Diese Sichtweise auf Erkenntnis und Faszination geht von einem rationalen Prozess der Wissenschaft aus, in dem die Faszination in den Bereich der Persönlichkeit der Wissenschaftlerin/des Wissenschaftlers oder der Wirkung massenmedialer Verbreitung von Wissenschaft fällt.1 Faszination wird vor diesem Hintergrund entweder als individuelles und subjektives Empfinden oder als erkenntnisfremde Ästhetisierung durch die Massenmedien verstanden. Analog zum Unterschied zwischen Schrift und Bild wird Erkenntnis der „ernstzunehmende[n] Signifikation“ und Faszination dem „triebgeleiteten Unbewußten“ zugeordnet (Stafford 1998: 309). Bilder werden demnach schon aufgrund ihrer medialen Beschaffenheit der Seite der Faszinati-

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Während ‚Faszination‘ selten in wissenschaftshistorischen und -theoretischen Überlegungen angesprochen wird, gibt es reichlich Überlegungen zu Begriffen wie ‚Staunen‘, ‚Neugier‘ oder ‚Einbildungskraft‘ (siehe z.B. Daston 2001: 77125). Diese Eigenschaften und Handlungen werden der Wissenschaftlerin/dem Wissenschaftler im Erkenntnisprozess zugesprochen. Neben diesen aufs Individuum zielenden Begriffen bezieht ‚Faszination‘ entsubjektivierte Massenphänomene mit ein, die Produkt medialer Produktion und Rezeption sein können.

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on zugeschlagen. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass gerade „Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft“2 in den Fokus wissenschaftssoziologischer und -historischer Forschung geraten. Die Produktivität des Zusammenspiels der Kategorien – Faszination und Erkenntnis – wird insbesondere in der Astronomie deutlich. Visualisierungstechniken und Bilder sind konstitutiv für die Astronomie.3 Gleichzeitig erfährt sie ein öffentliches Interesse, wie es nur wenigen Naturwissenschaften zuteil wird. Anhand der Bilder vom Mars werden im Folgenden die gegenseitigen Austauschverhältnisse von Erkenntnis und Faszination thematisiert.4 Diese Beteiligungen, Einflüsse und Einbrüche des Faszinierenden finden auf sehr unterschiedlichen Ebenen der wissenschaftlichen und populären Wissensproduktion statt: • • • •

Faszination kann am Anfang einer Fragestellung stehen, indem sie für die Auswahl von Objektfeldern, denen sich eine Wissenschaft zuwendet, mitverantwortlich sein kann. Faszination kann bestimmte Forschungsfragen in den Vordergrund bringen. Faszination ist ein Element der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnis. Darstellungsoptionen in der innerwissenschaftlichen Auseinandersetzung und im populären Wissenstransfer können nach Kriterien der Faszinationserzeugung selektiert werden.

Mit den Bildern vom Mars präsentiert sich ein ‚spannendes‘ Gegenstandsfeld, anhand dessen die wechselseitigen Austauschverhältnisse auf den unterschiedlichen Ebenen zwischen Erkenntnis und Faszination exemplarisch dargestellt werden können. Die Faszinationsproduktion steht nicht am Ende der wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse; statt dessen entstehen wechselseitige Austauschprozesse sowie De- und Re-Kontextualisierungen der Bilder, die stetig Brücken zwischen Faszination und Erkenntnis in der Aktuali-

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So lautet der Untertitel des Sammelbandes von Bernd Hüppauf und Peter Weingart (2009). Boehm betont „den erstaunlichen Sachverhalt – den wir schon lange hätten bemerken können –, dass man die Astronomie samt ihrer technischen Augen mit Fug und Recht auch eine Art Bildwissenschaft nennen könnte“ (Boehm 2007: 94). Die Überlegungen basieren auf Arbeiten aus einem BMBF-Forschungsprojekt mit dem Titel „Visualisierungen in der Wissenskommunikation. Analysen zur Frage einer ‚digitalen Zäsur‘ und ihrer Konsequenzen in der Forschungspraxis und der Kommunikation in der Öffentlichkeit“. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind in Adelmann et al. (2009) publiziert. Teile des vorliegenden Aufsatzes wurden zuvor in einer erheblich kürzeren Version in Adelmann/Hennig/ Heßler (2008) veröffentlicht.

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sierung von unterschiedlichen Wissensformen bauen. In diese Zirkulation dringen ständig Faszinationselemente und -verfahren in die wissenschaftliche Praxis von außen ein und gleichzeitig speisen die Bildpraktiken der Naturwissenschaften Faszinierendes als ‚Nebenprodukt‘ der Forschung in den Kreislauf ein. Mit der visuellen Erkundung der Planeten und Monde unseres Sonnensystems (und mittlerweile darüber hinaus) ist eine lange gemeinsame Geschichte von Erkenntnisgewinn und Faszinationsproduktion verbunden. Ein paradigmatischer Fall in der Geschichte sind die Zeichnungen des Mondes von Galilei. Einerseits befindet Galilei sich in einem wissenschaftlichen Wettbewerbsfeld, das – angetrieben durch das Teleskop als neuem Instrument – andere Beobachtungen des Mondes ermöglicht. Andererseits besitzen seine in Zeichnungen niedergelegten Wahrnehmungen ästhetische Qualitäten, die neben einer Kartierungsfunktion der Mondoberfläche eine Faszinationsfunktion auf den Betrachter ausüben. Der Mond wird in visueller Analogie zur Erde als Himmelskörper mit einer zerklüfteten Oberfläche, mit Bergen und Tälern entdeckt (vgl. Bredekamp 2007). Diese parallel laufenden und sich immer wieder gegenseitig anspornenden Erkenntnis- und Faszinationsproduktionen lassen sich in besonderer Weise für die Erforschung des Mars feststellen. Der Mars steht seit mehr als hundert Jahren im Zentrum der Planetenforschung und wurde in den letzten Jahren im Zusammenhang mit zahlreichen Orbiter- und Landungsmissionen immer wieder aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Technologien visualisiert. Diese neueren Visualisierungen des Mars werden in ihrer Doppelfunktion als Erkenntnis- und Faszinationsobjekte unter folgenden Gesichtspunkten betrachtet: historische Dimension, epistemologische Effekte und populärkulturelle Rückkopplungen. Die Beurteilung der Intensität dieses Austausches zwischen Erkenntnis und Faszination fällt sehr unterschiedlich aus. Während die Faszinationsproduktion in den Medien gerne auf die Möglichkeitsräume von Wissenschaft oder genauer, der wissenschaftlichen Erkenntnisse verweist, versucht sich Wissenschaft fortdauernd von der Faszinationsproduktion abzugrenzen und nur bewusste Grenzüberschreitungen zu zulassen. Während der science consultant zum festen Crew-Mitglied aktueller Fernseh- oder Filmproduktionsteams geworden ist (Kirby 2003), wird der Visualisierungsprofi aus der kalifornischen Fiktionsindustrie selten in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess integriert. Dieses Reputationsgefälle in den Bildpraktiken ist – neben vielen anderen offensichtlichen Begründungszusammenhängen – mitunter dadurch erklärbar, dass nach Link sich die naturwissenschaftlichen Fachrichtungen als Spezialdiskurse verstehen, die neues Wissen produzieren und die Faszinationsproduktion in den Medien als Interdiskurs dieses Wissen neu kontextualisiert und zirkulieren lässt (Link 1997: 50). Dass diese so gesetzten Trennlinien nicht unbedingt den lebhaften Austausch in beide Richtungen verhindern, hat schon Haraway (1989) in ihrer Untersuchung zur Primatenfor-

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schung gezeigt. Die nachgewiesene Vermischung von ‚fact‘ und ‚fiction‘, wie Haraway die duale Struktur analog zu Erkenntnis und Faszination begrifflich fasst, ist nicht als Vorwurf an die Adresse der Naturwissenschaften formuliert, sondern als beobachtbares diskursives Ereignis in der naturwissenschaftlichen Praxis auffindbar. Vor diesem Hintergrund sind die Bilder vom Mars nicht allein Ausdruck von wissenschaftlichem Wissen oder von Faszinationsproduktion. Die Marsbilder als konkrete Visualisierungen entstehen erst im Kontext ihrer gemeinsamen technischen und medialen Generierung. Um in das Umfeld dieser Generierung einzusteigen, erscheint es sinnvoll, auf historische Entwicklungen und visuelle Tradierungen einzugehen.

2. D REI V ISUALISIERUNGSPHASEN

DES

M ARS

In der wissenschaftlichen Planetenbeobachtung existiert eine Präferenz von der direkten Beobachtung auszugehen und Analogieschlüsse zu ziehen.5 Insbesondere mit der Entstehung der modernen Planetenforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden Planeten mit der Erde visuell verglichen, so dass die Kategorisierung ‚erdähnlich‘ durchaus eine wissenschaftliche Aussage darstellt (Markley 2005: 1)6. Gerade die Geschichte der Marsbeobachtung bietet für die Produktion von visuellen Vergleichen exzellentes Anschauungsmaterial. Schon William Herschel stellt als Ergebnis seiner Marsbeobachtungen während der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts eine Ähnlichkeit zwischen Mars und Erde fest: „Herschel entdeckt in Mars einen nahen Verwandten der Erde“ (Abret/Boia 1984: 25). Diese Planetenkomparatistik mit ihren visuellen Vergleichen stellt bis heute ein in der Astronomie übliches Verfahren dar. In Bezug auf die Marsbilder lassen sich drei historische Phasen dokumentieren:

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Das Spektrum zwischen Beobachtung und Interpretation ist epistemologisch schwer zu bestimmen. Im Verständnis und in der Praxis einer Wissenschaft wie der Astronomie können Beobachtungen sehr unterschiedlich gemacht werden: durch das Teleskop, durch das Auffangen nicht-sichtbaren Lichts, Teilchenrezeptoren, durch die Messung an umgebenden Objekten usw. Für eine weitere Diskussion des Beobachtungsbegriffs in der Astronomie siehe Schickore (1999); zum Verhältnis von Theoriebildung und Beobachtung im Vergleich geomorphologischer Strukturen von Mars und Erde siehe Baker (2001: 228). Dass in der Planetenforschung durchaus auch deduktive Theorien eine Rolle spielen, beweist die historische These von Lowell, dass alle Planeten bis zu ihrem endgültigen Absterben sechs Stadien durchlaufen, die er in drei Büchern zum Mars konkretisierte (Lowell 1895; 1906; 1908).

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2.1 Kartographie des Mars Ein erster Höhepunkt der Produktion von Marsbildern entsteht im Gefolge eines zunehmenden astronomischen und allgemeinen Interesse am Mars seit 1850.7 Das bekannteste Beispiel dieser boomenden Planetenforschung und ihren Visualisierungen sind sicher Schiaparellis „canali“ auf seinen 1878 veröffentlichten Marskarten.8 Schiaparellis Marskarten und die von ihm beobachteten riesigen Rinnen auf der Marsoberfläche sind ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Faszination durchaus am Anfang der Forschung stehen kann und dass die Wissenschaft sich in der Auswahl ihrer Untersuchungsobjekte mitunter durch das Faszinierende leiten lässt. Schiaparellis Marskarten unterstreichen die Bedeutung der kartographischen Visualisierung für die Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Besondere an Schiaparellis Karten sind nach Lane (2006: 199) die harten Linien und die Farbgebung, die stärker Land und Wasser trennen und dadurch ihre Existenz visuell implizieren als jede andere Marskarte dieser Zeit. Obwohl es von ihrer ersten ‚Entdeckung‘ an, Zweifel an der Existenz der Marskanäle gibt, beschäftigen und bestimmen sie die Marsforschung der nächsten Jahrzehnte.9 Ein weiterer bekannter Marsforscher, Percival Lowell, bestätigte 1894 nicht nur Schiaparellis Karte, sondern entdeckte über hundert weitere Marskanäle, die er auch auf einer Marskarte veröffentlichte. Im Zusammenhang mit diesen Karten entwickelt sich eine lebhafte öffentliche und wissenschaftliche Diskussion über Leben auf dem Mars.10 In dieser ersten Phase der Marskartierung hat – wie Lane (2006: 202ff) belegt – kein Astronom je die Rinnen auf dem Mars durch das Teleskop beobachtet. Stattdessen entstehen die detailreichen Marskarten mit ihrem Netzwerk der Kanäle aus vielen Skizzen, die im kartographischen Prozess

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Eine statistische Auswertung astronomischer Artikel zeigt, dass sich der Anteil astronomischer Fachartikel zum Thema Mars von 1,4 Prozent im Jahr 1856 auf 7,4 Prozent im Jahr 1877 steigert (Abret/Boia 1984: 42ff). 8 Zur Verbindung von Geographie und Mars-Euphorie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts siehe Lane (2005). Ein weiteres gutes Beispiel für den Mars-Boom am Ende des 19. Jahrhunderts ist Claude Flammarions äußerst erfolgreiches Buch Astronomie populaire (Flammarion 1881); zu den Mars-Abbildungen in Flammarions Astronomie populaire siehe auch Utzt (2004: 57ff). 9 „Diese Erscheinungen [die Rinnen auf dem Mars (R.A.)] beflügelten natürlich die Fantasie der Marsbeobachter. Manche versuchten, sie als reine Beugungserscheinungen abzutun. Da aber künstliche Kanäle als eine der größten Errungenschaften des 19. Jahrhunderts galten, lag eine andere Vermutung nahe: Könnten es nicht komplizierte Bewässerungsanlagen sein, mit denen superintelligente Marsbewohner auf ihrer öden, trockenen Welt um jeden Tropfen Wasser kämpfen?“ (Reichert 2004: 19) 10 Siehe dazu auch Flammerion (1881: 465-498).

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so entscheidend an Klarheit und Bedeutung gewinnen, dass sie im Medium der Landkarte Evidenz erlangen. Als die innerwissenschaftlichen Zweifel an der Korrektheit seiner Marskarten grösser werden, präsentiert Lowell 1905 erste Fotografien des Mars als Beweisstücke. Doch mit dem Medienwechsel von der Karte zur Fotografie werden aufgrund der niedrigen fotografischen Auflösung aus dem Netzwerk von Rinnen wieder verschwommene Areale auf der Marsoberfläche. Innerhalb der Astronomie wird mit höher auflösenden Teleskopen und einer verbesserten fotografischen Technik kurz darauf die Nicht-Existenz der Marskanäle belegt. In der Populärkultur zirkulieren die Marskarten aber noch bis in die 1950er Jahre. Die Spekulationen über Leben auf dem Mars bleiben bis heute erhalten (Zahnle 2001: 211). 2.2 Videobotschaft vom Mars Die zweite Phase intensiver Bildproduktion wird durch die Mariner- und Viking-Missionen der NASA in den 1960er und 1970er Jahren eingeleitet. Die Bilder aus den Vorbeiflügen und den Landungssonden bringen den Mars als Forschungsobjekt und Nachbarplanet näher. Die wissenschaftliche Frage, ob es Leben auf dem Mars gibt, setzt sich unter anderen Vorzeichen und mit anderen Annahmen in den Sondenmissionen fort. Mit den Vorbeiflügen und den Aufnahmen der Marsoberfläche ist die visuelle Analogie von Mars- und Erdoberfläche sehr viel schwieriger aufrecht zu halten. Ebenso werden die Vorstellungen von Marskanälen und von Marszivilisationen endgültig visuell widerlegt.11 Mit seinen vielen Kratern gleicht der Mars auf den ersten MarinerBildern sehr viel mehr dem Mond. Trotzdem geben die Bilder aus der Videokamera der Sonde der Lebensthese neue Nahrung, in dem die sichtbaren Gräben sowie die vermuteten Flussläufe und Eisflächen auf Wasser hindeuten. Außerdem gelingt nach einigen zuvor fehl geschlagenen Versuchen mit Viking 1 und Viking 2 (1976) erstmals die Landung auf der Marsoberfläche und damit werden erste Bilder direkt von der Marsoberfläche aufgenommen. Einer der beteiligten Wissenschaftler, Norman H. Horowitz, sieht einen Ursprung der Viking Lander und ihrer Suche nach Leben in den Visionen eines bewohnten Mars bei Lowell und seinen Ideen zu einer Marszivilisation (Horowitz 1986; Zahnle 2001: 212f). Mit seiner, mit ‚besseren‘ Bildern jeder Mission, nun sehr viel abwechslungsreicheren Oberfläche wird der Mars doch wieder visuell und diskursiv erdähnlicher. Zum einen verspricht man sich durch seine Erforschung auch einen Blick in die Erdgeschichte. Zum anderen kommen mit den Landungen

11 Dass solche Vorstellungen durchaus noch in der Scientific Community ernsthaft diskutiert wurden, belegen mit Bezug auf Aussagen des renommierten Planetenforschers Carl Sagan sowohl Reichert (2004: 20) als auch Markley (2005: 234).

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der Sonden erste Ideen für eine Marsmission mit Menschen an Bord und eine mögliche Besiedlung des Mars auf. Im Spielfilm Capricorn One (USA/ GB; R: Peter Hyams) von 1977 wird eine bemannte Marsmission in einem Filmstudio simuliert, um weiter Gelder für das Marsprogramm zu erhalten. Mit den Bildern von den Landesonden auf der Marsoberfläche zeigt sich eine raue, an Steinwüsten auf der Erde erinnernde Topographie. Hinsichtlich der Marsforschung ist zu vermuten, dass die detailreichen Visualisierungen der komplexen topographischen Verhältnisse auf dem Mars mit zur Projektierung weiterer Missionen und Missionsziele beigetragen und gleichzeitig neue Bedeutungspotentiale für die Faszinationsproduktion eröffnet haben (vgl. Markley 2005: 251). 2.3 Digitalisierung des Mars Die dritte und letzte Phase entwickelt sich mit den seit Mitte der 1990er Jahre gestarteten Erkundungssonden zum Mars, die erstmals systematisch die Marstopographie, -geologie und -atmosphäre erfassen und in entsprechende Visualisierungen wie Karten, Geländemodelle und Computeranimationen umsetzen. Ein Grund des aktuellen Visualisierungsschubs der Marsbilder ist die Verfügbarkeit und Modellierung digitaler Daten. Die aus den verschiedenen Messmethoden der Instrumente an Bord der Raum- und Landungssonden gewonnenen Datenmengen werden sowohl für die innerwissenschaftliche Kommunikation, als auch für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit in computergenerierte Bilder umgesetzt.12 Dieselbe Datenbasis kann in den Bildpraktiken und Bildkontexten von Wissenschaft und Öffentlichkeit unterschiedliches Wissen und unterschiedliche Faszinationen herstellen. Am Beispiel eines singulären Ereignisses der Marsforschung kann dies im Folgenden nachvollzogen werden.

12 Die Bedeutung der Messdaten zur Bilderzeugung für die Öffentlichkeitsarbeit hebt Bigg am Beispiel der Cassini-Huygens-Mission hervor: „Obwohl die meisten von Huygens gesammelten Daten definitiv nicht zur Herstellung von Bildern bestimmt waren (lediglich eines der sechs Instrumente an Bord war ein ‚imager‘ und dies auch nur teilweise) und die an die Öffentlichkeit vermittelten Informationen nicht ausschließlich visueller Natur waren (die ESA bot während des Absinkens aufgenommene Hörproben des ‚Titan-Klangs‘), waren es die Bilder, welche in dieser Mission und ihrer Vermarktung gegenüber einer breiten Öffentlichkeit die Hauptrolle spielten. Die jüngste Vergangenheit, insbesondere das Hubble Projekt, die 1990 ins All gebrachte Satellit-Sternwarte, aber auch die in den letzten 30 Jahren erfolgten Missionen zum Mars hat gezeigt, wie wichtig die Produktion und Verbreitung von Bildern geworden ist.“ (Bigg 2007: 10)

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3. B ILDER IN S CIENCE Ausgangspunkt ist ein Beitrag in der Zeitschrift Science vom 15. März 2007, in dem ein internationales Forscherteam von neuen Erkenntnissen über die Eiskappe des Mars-Südpols berichtet (Plaut et al. 2007). Die diesen Erkenntnissen zugrunde liegenden Messungen wurden mit einem Instrument der europäischen Mars Express-Raumsonde vorgenommen: Mars Advanced Radar for Subsurface and Ionospheric Sounding (MARSIS). In dem Science-Aufsatz wird neues Wissen über die Zusammensetzung, die Topographie, die Dicke und das Volumen des Eisfeldes am Südpol des Mars veröffentlicht. Die Visualisierungen sind dabei wichtige Erkenntnismittel. Ohne die Visualisierung der Messdaten könnten die Existenz und die Ausbreitung des Eisfeldes nicht auf einen Blick erfasst werden. Ausgehend von diesem Aufsatz in Science entwickelt sich Mitte März 2007 eine zwei Tage andauernde öffentliche Resonanz bis hin zu einem Beitrag in der Tagesschau der ARD. Die Wissens- und Faszinationsproduktion der Marsbilder bei diesem Durchgang durch verschiedene Diskursfelder steht im Mittelpunkt der folgenden Rekonstruktion und Analyse. 3.1 Analogie und Interpretation Einleitend verweist das Forscherteam in seinem Science-Aufsatz auf die Bedeutung der polaren Eiskappen des Mars. Hier werden die beiden größten Wasserreservoire des Planeten vermutet (Plaut et al. 2007: 92). Die angewandte Messmethode, mittels Radarwellen und ihrer Reflexion Daten über Eisvorkommen zu gewinnen, stammt aus der Gletscher- und Eisfeldbeobachtung auf der Erde. Dabei werden Eigenschaften der Ablagerungen erfasst, die Auskunft über ihre Zusammensetzung, ihre Topographie und ihr Volumen geben. Die vergleichende Planetenforschung nutzt ganz selbstverständlich Techniken der Erdbeobachtung und damit auch die Methode des Bildvergleichs. Die Methode des Bildvergleichs zur Erkenntnisgewinnung hat in der Planetenforschung eine lange Tradition. In einem Artikel in Icarus aus dem Jahre 1971 wird von den zuständigen Planetenforschern Joseph Veverka und Carl Sagan mit Donald Belcher vom Center for Aerial Photographic Studies der Cornell University ein Experte für Luftbilder bei der Auswertung der Marsbilder von Mariner 6 und 7 (1969) hinzugezogen. Diese Marsmissionen sind die letzten mit einer analogen Kamera und einem analogen Bildspeicher. Sie bilden somit eine Schnittstelle zwischen analoger und digitaler Bilderzeugung und -bearbeitung in der Planetenforschung. Der Bildvergleich als Methode wird im Icarus-Aufsatz folgendermaßen gerechtfertigt: „In the absence of a deductive physical theory of surface topographic characteristics, the geological and meteorological interpretation of surface features on the planet

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Mars as observed by Mariner spacecraft depends heavily on analogy with known terrestrial features. Not only is such an analogical approach useful; it is difficult to see what alternatives exist. […] we stress that the original interpretation was made in the absence of the supporting information. For example, the identification of the curvilinear features in 7N17 [Abb. 1] as a glacial moraine was made in the absence of a priori knowledge that this was a photograph of a polar region.“ (Belcher/Veverka/Sagan 1971: 241)

Analogien zwischen topographischen Strukturen des Mars und der Erde sind nach den Autoren des Artikels der einzig gangbare Weg („depends heavily on analogy with known terrestrial features“), da deduktive Herangehensweisen nicht zur Verfügung stehen. Die Unvoreingenommenheit des Luftbildexperten bei der Auswertung der Bilder von der Marsoberfläche wird noch zusätzlich dadurch abgesichert, in dem er keine Zusatzinformationen zu den Marsaufnahmen bekommt.13 Die Autoren sprechen durchweg von „photograph“ und gehen überhaupt nicht auf den komplexen elektronischen Aufnahme-, Speicherungs- und Übertragungsprozess der Bilder ein. Die Aufnahmen der Marinersonde werden mit einer Videoconröhre erstellt, analog gespeichert, dann für die Übertragung und die Nachbearbeitung digitalisiert. Diese Graustufenaufnahmen der Marsoberfläche werden im IcarusAufsatz mit Luftaufnahmen und Karten von Gletscherregionen auf der Erde verglichen. Strukturelle Ähnlichkeiten der Topographie führen zu Rückschlüssen auf die geologische Beschaffenheit der aufgenommenen Marsregionen. Zugespitzt ist von einer Sinn- und Erkenntnisproduktion durch Bildvergleich und Bildinterpretation zu sprechen, die unmittelbar von der Ästhetik der Bilder abhängig sind. Durch die Aufsicht-Perspektive und die starken Kontraste der Graustufenbilder werden topographische Strukturen hervorgehoben, die mit den Sehgewohnheiten des Luftbildexperten korrespondieren. Diese Vorgehensweise im Erkenntnisprozess durch visuelle Analogiebildung, durch Mustererkennung und durch ‚sinnliche‘ Erfahrung Wissen zu produzieren, verweist auf die Spezifik visueller Erkenntnis im Unterschied zu diskursiven oder numerischen Erkenntnisformen. Diese Technik des Bildvergleichs wird in der Planetenforschung bis heute praktiziert, so auch in dem schon erwähnten Science-Aufsatz. Im Unterschied zur Erdbeobachtung können die Erkenntnisse aus der Bilderproduktion der Marsforschung jedoch (noch) nicht mit weiteren Messungen am Boden abgeglichen werden. Zur Stabilisierung des prekären Wissens werden die eindeutig erscheinenden Bilder in Science, die so genannten Radargramme, als Beweise ausführlich diskutiert. Die visuellen Umsetzungen der Daten sorgen – ganz im Sinne von Knorr Cetinas Konzept des „Viskurses“ –

13 „It seems desirable to have an independent assessment of some of the vexing Martian surface features by an individual with a strong background in aerial photographic analysis of terrestrial land forms.“ (Belcher/Veverka/Sagan 1971: 241)

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für die Darstellung und Herstellung der „Einheit und Wissenschaftlichkeit des Feldes“ (Knorr Cetina 1999: 247). Die Adressierung der ersten Abbildung (Fig. 1. [A], siehe Abb. 2) als „MARSIS data from orbit 2753, showing typical features of the SPLD [= south polar layered deposits]“ ist symptomatisch für die spezifische Evidenzproduktion von Bildern. Die Komplexität der Messungs- und Übertragungstechnik sowie der anfallenden Datenmengen wird auf die beiden ‚typischen‘ Radargramme (Graustufenbilder A und C in Abb. 2) reduziert, die aus den Messdaten von zwei aus über 300 Orbits hergestellt werden. Das ‚Typische‘ hat in der scientific community den notwendigen Erkennungswert; es ist aber auch eine ästhetische Qualität des Bildes: Die weiße Basislinie (siehe auch die Pfeile in Fig. 1. [A und C], Abb. 2) wird als Grenze zwischen Eis und Gestein interpretiert. Diese Bildinterpretation ist das Produkt der Transformation von Messdaten in Bildpunkte und gleichzeitig ist sie durch den Bildvergleich mit anderen Radargrammen abgesichert. Die Eindeutigkeit der Radargramme ergibt sich aus dem visuellen Vergleich (als Erfahrungswissen) mit anderen Radargrammen von Eisschichten (auf der Erde) sowie dem physikalischen Wissen unterschiedlicher Reflexionseigenschaften von Eis und Gestein. Erst in der Visualisierung der Messdaten in einem Radargramm wird die Eindeutigkeit des Ergebnisses sofort erfassbar. Das Bild wird im Kontext vieler ähnlicher Bilder zum Beweis für die Existenz und Größe der Eisschicht. Die Radargramme werden aus dem Kontext der geologischen Spezifik des Mars herausgenommen (dekontextualisiert), um sie mit anderen Radargrammen von der Erde vergleichbar zu machen (re-kontextualisiert). Die Radargramme haben Evidenzcharakter in den Worten von Knorr Cetina, „dadurch, dass es sich um ‚Inskriptionen‘ (von Maschinen aus der ‚Natur‘ produzierte Signale) handelt und nicht um bloße Deskriptionen“ (Knorr Cetina 1999: 249).14 Die Bilder entspringen nicht der Augenzeugenschaft oder der Fantasie des Forscherteams und haben dadurch keinen deskriptiven Charakter wie die Marskanäle, sondern sie sind ‚Inskriptionen‘ der Natur, die durch die Radarsignale angeregt und übertragen werden. Ihre erkenntnisgewinnende Wirkung erhalten sie erst im visuellen Vergleichsfeld ähnlicher Radargramme. Die unmittelbar anschließende Abbildung B (Abb. 2) wurde aus den topographischen Daten einer anderen Marsmission gewonnen und zeigt die Oberfläche des Geländequerschnitts der ersten Abbildung. Diese Daten stammen vom Mars Orbiter Laser Altimeter (MOLA) der Mars Global Surveyor Mission zwischen 1997 und 2001, die hier als topographische Karte visualisiert, eine Aufsicht des Geländequerschnitts aus den MARSIS-Daten zeigen. Neben den Radargrammen zeigen alle weiteren Abbildungen (Fig. 2, Fig. 3 und Fig. 4, siehe Abb. 3 und 4) jeweils eine Visualisierung einer mög-

14 Knorr Cetina nimmt hier Bezug auf Latours Begrifflichkeiten.

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lichen Kombination der Daten von MOLA und MARSIS. Das Forschungsteam kombiniert mehrere Datensätze und erstellt digitale Collagen, die zu den topographischen Karten im Science-Aufsatz führen. Mit diesen auf digitalen Collagen basierenden Visualisierungen lassen sich die Größe und die Topographie der südlichen Polarkappe des Mars errechnen und darstellen. Erst in der kartographischen Aufsicht wird die südliche Polarkappe durch Koordinatennetz, Farbwahl oder schwarze Konturlinie als räumliches Phänomen sinnlich erfassbar.15 Die konventionalisierte, kartographische Darstellungsform macht das Bild lesbar. Damit wird zum einen die Polysemie der Abbildungen begrenzt – die Betrachtung der Bilder auf das ‚Wesentliche‘ gelenkt –, so dass sie als Beweis für die Existenz des Eisfelds am Mars-Südpol verstanden werden. Zum anderen entsteht im Bild eine horizontale Stapelung von Informationsebenen, die in den Abbildungen 3 und 4 weit über allgemein genutzte kartographische Darstellungsmodi hinausgehen. Wie Knorr Cetina dies als Spezifika für „Viskurse“ beschrieb, werden verschiedene Datensätze und Argumente in einem Bild zusammengefasst und so zu neuem (und visuellem) Wissen zusammengefügt. Die Reichweite des Viskurses lässt sich in Anlehnung an den Diskurs-Begriff bei Foucault über seine Verwendung bei Knorr Cetina erhöhen.16 Vorläufig und ganz allgemein lässt sich in Abwandlung einer Diskurs-Definition bei Jäger17 sagen: Die Analyse von Viskursen erfasst das jeweils Visualisierbare in seiner qualitativen Bandbreite, aber auch die Strategien und medialen Verfahren, mit denen das Feld des Visualisierbaren ausgeweitet oder eingeengt wird.

15 Dazu kommen Einzeichnungen der Messstrecken und Überflugrouten sowie Legenden, die das verwendete Farbspektrum erläutern. Beispielsweise wird ein farbverlauf gemäß kartografischer Konvention zur Höhendarstellung verwendet. Die gleiche räumliche Orientierung ließe sich über reine Höhenwerte in Tabellen kaum erreichen. 16 Knorr-Cetina definiert Viskurs folgendermaßen: „Der Begriff des ‚Viskurses‘ soll das Zusammenspiel von visuellen Darstellungen und ihre Einbettung in einen fortlaufenden kommunikativen Diskurs betonen“ (Knorr-Cetina 1999: 247). Dabei ist ihre ethnographische Beobachtung relevant, dass „visuelle Abbildungen die Einheit und Wissenschaftlichkeit des Feldes dar- und herstellen“ (KnorrCetina 1999: 247). Dies ist insbesondere notwendig, da eine große Anzahl an Wissenschaftlern an den Experimenten beteiligt ist und der kollektive Diskurs bzw. Viskurs zum „epistemischen Wissenssubjekt“ (Knorr-Cetina 1999: 248) wird. 17 „Die Diskursanalyse erfasst das jeweils Sagbare in seiner qualitativen Bandbreite […], aber auch die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder eingeengt wird“ (Jäger 2001: 299).

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3.2 Ausweitungen des Feldes In den Pressemitteilungen der European Space Agency (ESA) vom 15. März 2007 werden andere Versionen der Abbildungen aus dem Science-Aufsatz verwendet. Die komplexen Bildunterschriften fallen weg, dafür gibt es einen Link von jedem Bild zu längeren Erläuterungen darüber, was die einzelnen Visualisierungen darstellen: „Polar layered deposits hold most of the known water on modern Mars, though other areas of the planet appear to have been very wet at times in the past. Understanding the history and fate of water on Mars is a key to studying whether Mars has ever supported life, because all known life depends on liquid water.“ (ESA 2007; NASA 2007)

In diesen Pressemitteilungen der ESA wird eine Schlussfolgerung aus den Wasservorkommen auf dem Mars betont, die im Science-Aufsatz nicht angesprochen wird: die Verknüpfung von Wasser und Leben. Wasser gilt als ‚Schlüssel‘ zu möglichem Leben auf dem Mars. Die damit im Zusammenhang mit dem Science-Aufsatz aktualisierten Diskurse über außerirdisches Leben auf dem Mars im Speziellen und im Universum im Generellen bestimmen in der Folge die öffentliche Wahrnehmung dieses Forschungsergebnisses, und damit auch die Wahrnehmung der Bilder. Mit der Verknüpfung von Wasser und Leben erschließen sich für die anschließende öffentliche Reaktion auf den Science-Aufsatz, neue Bildkontexte und -traditionen, derer sich, wie gleich gezeigt werden wird, vor allem die Massenmedien bedienen. Der Viskurs wandelt sich durch neue Formen der Erkenntnis und der Faszination. Mit der Pressemitteilung wird ein relativ kleiner Schritt in der Erforschung von Wasservorkommen auf dem Mars in eine ‚Große Erzählung‘ über Leben jenseits der irdischen Biosphäre eingebunden. Neben dieser historischen Kontextualisierung spielt Wasser selbstverständlich eine Rolle bei einer möglichen Besiedlung und der Möglichkeit des so genannten Terraforming des Mars in der Zukunft. Ebenso werden durch diese Verknüpfung von Wasser und Leben auf dem Mars die populärkulturellen Kontexte aus Science-Fiction-Literatur und -Film aktiviert. Diese diskursive Veränderung des Bildkontextes führt zu einer Re-Kontextualisierung des Bilderwissens, und letztlich zur De-Kontextualisierung der Abbildungen aus dem ScienceAufsatz in der Popularisierung seiner Forschungsergebnisse. An ihre Stelle treten Bilder aus Wissens- und Faszinationsproduktionen zum Mars, die mit den spezifischen Erkenntnissen des Science-Aufsatzes nur wenig zu tun haben. Die Wasser-Leben-Verknüpfung als hegemoniale Diskurs-/ViskursFormation beherrscht die nachfolgende Wissens- und Faszinationsproduktion. Sie ist auch eine entscheidende Legitimationsstrategie der gesamten Mars Express-Mission und beeinflusst schon im Planungsprozess die Wahl

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des Erkenntnisobjektes von Marsmissionen: Lokalisierung von Wasser und Lebensspuren. 3.3 Produzierbarkeit der Bilder In den deutschen Online-Medien tauchen die ersten Berichte der InternetRedaktionen schon am selben Tag, den 15. März 2007, auf. Die Spiegel Online-Redaktion übernimmt die veränderten Bilder der kartographischen Aufsicht auf den Südpol des Mars aus der Pressemitteilung der ESA.18 Die Visualisierungen der Radardaten, die Radargramme, als Grundlage der topographischen Karten fehlen im Spiegel Online-Artikel. Ebenso fehlen die ausführlichen Bildunterschriften. Die Bilder verlieren dadurch ihre wissenschaftliche Lesbarkeit. Mit den Falschfarben der Marskarten im Unterschied zu sonstigen Kartenkonventionen sind sie vielmehr ästhetischer Ausweis für Wissenschaftlichkeit. „Die Unfähigkeit, sie zu dekodieren, wird durch den Reiz einer ästhetischen Betrachtung kompensiert“ (Hüppauf/Weingart 2009: 18). Vor diesem Hintergrund wird eine der Abbildungen (Abb. 5) bei Spiegel Online wie folgt untertitelt: „Eiskappe: Wissenschaftler haben mit einem Radar-Instrument den Mars-Südpol durchleuchtet […].“ Indem die Bilder nicht entsprechend erklärt und erläutert werden, entsteht eine Kluft zwischen dem, was sie zeigen und was der Betrachter darin zu lesen vermag, da das Verstehen ihrer wissenschaftlichen Aussage nicht mehr gewährleistet ist. Die in der Bildunterschrift verwendete Metapher des „Durchleuchtens“ ist für eine Radarmessung nicht passend.19 Diese fehlenden Informationen machen das Bild einerseits zu einem Platzhalter für naturwissenschaftliche Aktivitäten, andererseits wird es für weitere Bedeutungsanlagerungen geöffnet, wie die Durchleuchtungsmetaphorik zeigt. Ähnlich aufgebaute Berichte finden sich in den Internetausgaben der Bild und der Süddeutschen Zeitung am 16.3.2007.20 Auf der Internetseite der Süddeutschen Zeitung werden zusätzlich über eine Leiste mit ThumbnailBildern im Artikel „Neue Bilder vom Mars“ angeboten, die nichts mit dem Science-Aufsatz und seinen Ergebnissen zu tun haben, sondern Visualisierungen von anderen Mars-Missionen zeigen. Auf der Website des Stern wird am gleichen Tag zwar eine Visualisierung der Radardaten aus der Pressemitteilung übernommen, aber ohne den auch hier fehlenden erklären-

18 Der Spiegel-Online-Artikel mit dem Titel „Riesige Eismassen am Mars-Südpol entdeckt“ ist unter http://www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/0,1518,472016,00. html abrufbar (zuletzt abgerufen am 2.6.2011). 19 Die Metapher des ‚Durchleuchtens‘ kommt eher aus dem Kontext der Röntgenstrahlen oder des Röntgenbildes. 20 Beide Berichte sind leider nicht mehr online.

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den Text ist diese Abbildung kaum wissenschaftlich lesbar.21 Wieder werden Visualisierungen aus Daten anderer Instrumente der Raumsonde Mars Express und weitere Marsbilder anderer Missionen als „Bildstrecken“ (z.B. mit dem Titel „Der Rote Planet 1“) verknüpft. Dort werden so genannte „fotografische“ Bilder angeboten, die beispielsweise Eisseen oder Flussläufe darstellen. Ein populärwissenschaftliches Buch über den Mars wird auf dieser Seite ebenso beworben wie ein „Wissenstest“ zum Mars (mit entsprechendem Bildmaterial). Auf der Website der Stuttgarter Zeitung Online wird am 15.3.2007 als das alleinige Bild zum Bericht „Gefrorener Ozean am Südpol“ eine Visualisierung des „Roten Planeten“ aus 240.000 Kilometer Entfernung gestellt.22 Der Viskurs bedient sich dabei (inter)visueller Referenzen, die sich in Bezug auf den Mars im Laufe seiner wissenschaftlichen und imaginären Erforschung entwickelt haben. Die Verwendung dieses Bildes vom Mars steht in keinem direkten Zusammenhang zu den Erkenntnissen des ScienceAufsatzes. Das Bild dient allein der Kategorisierung (es geht um den Mars) und dem Anschluss an Kontexte populärer Kultur. In den Printausgaben der Tageszeitungen wird nur kurz über die Ergebnisse des Science-Aufsatzes berichtet. Die Bilder aus dem Aufsatz tauchen später in größeren Reportagen im Rahmen des Wasser-Leben-Diskurses auf den Wissenschaftsseiten von Zeitungen wieder auf.23 Diese visuelle Praxis, Bilder aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und massenmedialen Kontexten nebeneinander zu stellen, ermöglicht das Angebot, sie sich im öffentlichen Rezeptionsprozess als „produzierbare“ Texte bzw. Bilder (Fiske 1997) anzueignen. Die Bilder vom Mars geben einerseits durch ihre Kontextualisierung mit anderen Marsbildern eine bestimmte Richtung ihrer Lesbarkeit vor – wie z.B. ‚Wissenschaft‘, ‚Raumfahrtmissionen‘, ‚Nachbarplanet‘, ‚Roter Planet‘, ‚Wasser/Leben‘ usw. Andererseits bieten die Bilder durch ihre De-Kontextualisierung aus dem wissenschaftlichen Umfeld eine Offenheit für neue Re-Kontextualisierungen und für neue intervisuelle Relationen in der populären Kultur, in dem sie zu anderen Faszinationsobjekten werden.

21 Die Bildunterschrift lautet nur: „Der Südpol des Mars ist mit einer dicken Eisschicht bedeckt“, in: http://www.stern.de/wissenschaft/kosmos/:Radaraufnah men-Meer-Eis-Mars/584858.html (zuletzt abgerufen am 3.6.2011). In den Printmedien werden ansonsten nur kleinere Berichte ohne Bilder auf den Wissenschaftsseiten veröffentlicht (z.B. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.3.2007, Nr. 68, S. N1: „Steife Kruste des Mars trägt riesige Eismassen“). 22 Als Bildquelle wird die dpa angegeben: http://www.stuttgarter-zeitung.de/ stz/page/detail.php/1381488 (zuletzt abgerufen am 2.6.2011). 23 Siehe zum Beispiel: von Rauchhaupt, „Es gibt kein Bier auf dem Mars“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5. August 2007, S. 58-59.

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3.4 Televisuelle Steigerungen Die Wissens- und Faszinationsproduktion verändert sich weiter in einem Beitrag der 20 Uhr-Ausgabe der Tagesschau (ARD)24 vom 16.3.2007. Auf der Bildebene besteht der Beitrag hauptsächlich aus digitalen Animationen. Daneben gibt es eine kurze Einstellung mit einer Abbildung aus der Pressemitteilung und die Aussage eines Forschers aus dem 24-köpfigen Autorenteam des Science-Aufsatzes. Die digitalen Animationen stammen ausnahmslos aus dem ESA-Archiv und werden den Fernsehsendern auf der Website der ESA angeboten. Sie sind digitale Produkte aus dem Einsatz einer Kamera der Mars Express-Raumsonde (insbesondere Abb. 6b, 6d, 6e und 6i). Diese High Resolution Stereo Camara (HRSC) liefert in den Worten des Experiment-Teams die Daten für eine „globale Kartierung des Planeten Mars in hoher Auflösung, in Farbe und in ‚3D‘“. Damit „wird die Erforschung des Mars gegenwärtig auf eine neue Grundlage gestellt“ (DLR 2006: 21). Im Zusammenspiel von Bildmaterial und Off-Kommentar werden im Tagesschau-Beitrag die Bedeutungsfelder und intervisuellen Relationen des Diskurses eröffnet. Schon die erste Einstellung (Abb. 6a) zeigt die digitale Animation eines vor einem schwarzen Hintergrund rotierenden roten Mars: „Der Mars, unser roter Nachbar. Immer schon hat er die Fantasie der Menschen beflügelt.“, sind die ersten Worte des Off-Kommentars. Mit „rot“, „Nachbar“ und „Fantasie“ werden wichtige diskursive Linien des Marsmythos mit der realistischen Ästhetik der digitalen Animation verknüpft. Besonders die Diskurslinie „Nachbar“ und ihre Bedeutungsfelder wie Vergleichbarkeit mit der Erde, Nähe (durch bemannte Mars-Missionen) und eine generelle emotionale Verbundenheit mit dem Mars werden dadurch aktiviert.25 Die zweite Einstellung (Abb. 6b) zeigt eine digitale Animation eines Fluges über und durch ein Marstall und im Off-Kommentar wird die Wasser-Leben-Verknüpfung aufgerufen: „Vor allem die Frage, ob in seinen Schluchten einmal Wasser floss. Wasser, in dem es vielleicht einmal Leben gegeben hat.“ Der Überflug der Marsschluchten unterscheidet sich nicht von Flugbildern einer Wüstenschlucht auf der Erde. Man könnte die Frage wiederholen, die Martin Kemp in Bezug auf ähnliche Visualisierungen von Venus-Landschaften gestellt hat: „Warum wählt man eine solche verführerische Präsentationsform, wenn unser wissenschaftliches Verständnis des Planeten durch sie offenbar nicht merklich gefördert wird?“ (Kemp 2003: 213). Und man könnte das Experiment-Team der HRSC-Kamera von Mars Express direkt antworten lassen: Sie „verbessern einerseits geologische Analy-

24 http://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/sendung3486.html (zuletzt abgerufen am 2.6.2011). 25 Das DLR zeigt beispielsweise in einer Wanderausstellung mit dem Titel „Das neue Bild vom Nachbarn Mars“ 3D-Bilder von der Marsoberfläche.

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sen, stellen aber auch immer wieder ein medienwirksames, weil spektakuläres Mittel zur Präsentation wissenschaftlicher Forschung dar“ (DLR 2006: 27). In dieser Aussage des Experiment-Teams wird noch einmal sehr deutlich, dass sich wissenschaftliches Erkenntnisinteresse und Produktion von Faszination im Wissenschaftsprozess nicht ausschließen. Diese Überflüge entwickeln sich demnach mit ihren somatischen und visuellen Effekten zu Vehikeln wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion und öffentlicher Augenzeugenschaft. „Die aus elektronischen Daten konstruierten Bilder bieten uns die Möglichkeit, bei stellaren Forschungsreisen als Augenzeugen dabei zu sein und sie als ästhetisches Schauspiel zu genießen“ (Kemp 2003: 213). Mit digitalen Animationen der Raumsonde Mars Express im Orbit (Abb. 6c) und der Polkappen wird die Faszinationsproduktion des TagesschauBeitrages fortgesetzt. Die Raumsonde wird auf der Tonspur als Akteur eingeführt, der Radarstrahlen auf Polkappen richtet (Abb. 6d und 6e: hier zoomt die Animation auf die Polkappen) und uns „diese Radarbilder geschickt hat“. An dieser Stelle wird kurz eine der digitalen Collagen der Polregion aus dem Science-Aufsatz gezeigt (Abb. 6f) – aber nicht das Radargramm. Mit diesem Bild wird zu der Aussage einer der Autoren des ScienceAufsatzes, Erling Nielsen, übergeleitet, der die Wasser-Leben-Verknüpfung als Experte bestätigt. Da diese Verknüpfung im Science-Aufsatz nicht erfolgt und erst in den Pressemitteilungen von ESA und NASA auftaucht, verbirgt sich hinter dieser Verknüpfung nicht nur ein semantisches Vehikel zu weiterer Faszinationsproduktion. Vielmehr werden die Bilder von Wasser und Eis auf dem Mars zu Legitimationsinstrumenten aktueller und zukünftiger Forschung, auch in der Astronomie. Die legitimierende Funktion der Bilder wird in den letzten Einstellungen des Tagesschau-Beitrages deutlich, wenn potentielle Meere nach einer Schmelze der Polkappen auf dem Mars simuliert werden. Ohne visuellen Bruch werden die aus Messdaten generierten Bilder mit der Simulation einer möglichen Marszukunft überblendet. Damit werden weitere Missionen, eine Besiedlung des Mars und die Möglichkeit des Terraforming impliziert, wie sie im Science-Fiction-Genre schon längst Teil der Imaginationen über den Mars sind (Markley 2005). Der nächste Schritt in diese mögliche und durch die digitale Simulation schon visualisierte Zukunft ist laut Off-Kommentar die Entsendung einer Landungssonde auf den Polkappen.

4. F ASZINATION

UND

E RKENNTNIS

In diesem exemplarischen Durchgang von einem Aufsatz in Science zu einem Beitrag in der Tageschau innerhalb von zwei Tagen (15. und 16. März 2007) lassen sich folgende vorläufigen Schlüsse für die Zusammenhänge von Faszination und Erkenntnis ziehen:

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1. Im Viskurs der Planetenforschung gewinnen die Abbildungen aus dem Science-Aufsatz innerwissenschaftlich Evidenz z.B. durch ihre Produktionsbedingungen, durch Bildvergleiche mit der Erdbeobachtung und durch die Visualisierung der digitalen Collagen in topographischen Karten. Ohne diese Bilder gäbe es diese Erkenntniswege nicht. Zudem markieren ihre Darstellungskonventionen die Zugehörigkeit zu einem bestimmten wissenschaftlichen Feld und einer bestimmten Methodologie der Astronomie als Beobachtungswissenschaft. In diesen Visualisierungen ist die Faszination als ästhetische und erfahrungsgeleitete Dimension immer präsent und lässt sich nicht von der Erkenntnisfunktion der Bilder trennen. 2. In der massenmedialen Verwertung dieser wissenschaftlichen Bildproduktion werden die Bilder durch Weglassen von visuellen sowie sprachlichen Informationen de-kontextualisiert und durch das Hinzufügen von Bild- und Diskurskontexten (Marsbilder, Science-Fiction, Lebensdiskurs usw.) in neue viskursive Zusammenhänge re-kontextualisiert. Dadurch lagern sich andere Wissenskomplexe an die Bilder an, die zwar diffuser, aber auch flexibler sind. So hat auch die Erkenntnis über die lebensfeindliche Atmosphäre des Mars die Faszinationsproduktion über eine mögliche Besiedlung nicht stoppen können. Während den Bildvergleichen und interpretationen im wissenschaftlichen Kontext bestimmte Grenzen gesetzt sind, weiten sich die Bildräume und -kontexte im Popularisierungsprozess aus. 3. Trotzdem sind die Herstellungsprozesse der Bilder nicht in einer Einbahnstraße von der Wissenschaft zur Öffentlichkeit zu verstehen. Die Aussagen der beteiligten Wissenschaftler zu Leben auf dem Mars, die doppelte Funktion als Faszinations- und Erkenntnismittel von Visualisierungen wie den digitalen Animationen und nicht zuletzt die Aussage des ScienceAufsatzes, dass die geschmolzenen Eisschichten den Mars global elf Meter tief unter Wasser setzen würden, zeigen, dass Interesse und Erkenntnis der Astronomie mit der Faszinationsproduktion der populären Kultur zusammenhängen.26 Letztlich sind beide Felder im Viskurs untrennbar miteinander verbunden.

26 Über die Zirkulation astronomischer Bilder und ihre Funktion als Machtinstrumente siehe Parks (2005: 139ff).

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ABBILDUNGEN Abbildung 1

Abbildung 2

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Abbildung 3

Abbildung 4

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Abbildung 5

Abbildung 6a: „Der Mars unser roter Nachbar. Immer schon hat er die Fantasie der Menschen beflügelt“.

Abbildung 6b: Vor allem die Frage, ob in seinen Schluchten einmal Wasser floss. Wasser, in dem es vielleicht einmal Leben gegeben hat.

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Abbildung 6c: Die europäische Sonde Mars Express hat neuen Stoff für diese Diskussion geliefert.

Abbildung 6d: Radarstrahlen hat sie auf die Polkappen gerichtet. Denn so trocken die Marsoberfläche ist, dort gibt es immerhin gefrorenes Wasser.

Abbildung 6e: Wie viel es am Mars-Südpol ist, dass Weiß man erst, seit die Sonde nun…

Abbildung 6f: diese Radarbilder geschickt hat.

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Abbildung 6g: Auch deutsche Forschungsinstitute waren an den Messungen beteiligt, die nun ein Stück mehr Gewissheit bringen.

Abbildung 6h: [O-Ton Experte:] Wir wissen nun, dass Wasser auf Mars da ist. Das ist tatsächlich gemessen worden. Und …äh… das eröffnet natürlich die Möglichkeit, dass Leben, so wie wir es kennen, irgendwann früher vorhanden war. [Ende O-Ton]

Abbildung 6i: Fast 4 Kilometer dick ist die Eisschicht. Und doch würden Südpol und Nordpol schmelzen,

Abbildung 6j: dann entstünde auf dem Mars ein Meer,

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Abbildung 6k: das gerade einmal 20 Meter tief wäre. Das haben die Wissenschaftler so erwartet. Denn sie gehen davon aus,

Abbildung 6l: dass der Mars viel von seinem Wasser ins Weltall verloren hat. Der Sonde Mars Express soll bald eine weiter folgen. Sie soll dann an einem der Pole landen.“

L ITERATUR Abret, Helga/Boia, Lucian, Das Jahrhundert der Marsianer. Der Planet Mars in der Science Fiction bis zur Landung der Viking Sonde, München: Heyne 1984. Adelmann, Ralf/Frercks, Jan/Heßler, Martina/Hennig, Jochen, Datenbilder. Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften, Bielefeld: transcript Verlag 2009. Adelmann, Ralf/Hennig, Jochen/Heßler, Martina, „Visuelle Wissenskommunikation in Astronomie und Nanotechnologie. Zur epistemischen Produktivität und den Grenzen von Bildern“, in: Renate Mayntz/ Friedhelm Neidhardt/Peter Weingart/Ulrich Wengenroth (Hg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 41-74. Baker, Victor R., „Water and the martian landscape“, in: Nature, 412 (2001), S. 228-236.

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Belcher, Donald/Veverka, Joseph/Sagan, Carl, „Mariner photography of Mars and aerial photography of Earth: Some analogies“, in: Icarus 15 (1971), S. 241-252. Bigg, Charlotte, „In weiter Ferne so nah. Bilder des Titans“, in: Horst Bredekamp/Matthias Bruhn/Gabriele Werner (Hg.), Imaginationen des Himmels (Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band 5.2), Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 9-19. Boehm, Gottfried, „Zwischen Hand und Auge. Bilder als Instrumente der Erkenntnis“, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press 2007, S. 94-113. Bredekamp, Horst, Galilei der Künstler. Die Zeichnung, der Mond, die Sonne, Berlin: Akademie Verlag 2007. Daston, Lorraine, Wunder, Beweise und Tatsachen: Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a.M.: Fischer 2001. DLR, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, „Vom Bit zum Bild. Drei Jahre schon betreibt das DLR die Stereokamera HRSC auf der Raumsonde Mars Express“, in: DLR Nachrichten 116, 2006, S. 20-27. ESA, European Space Agency, Mars Express radar gauges water quantity around Mars’ south pole (15.02.2007), http://www.esa.int/esaCP/SEM SWJQ08ZE_index_1.html#subhead2 (zuletzt abgerufen am 2.6.2011). Fiske, John, „Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur“, in: Andreas Hepp/Rainer Winter (Hg.), Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 65-84. Flammarion, Camille, Astronomie populaire, Paris: C. Marpon et E. Flammarion 1881. Haraway, Donna, Primate visions: gender, race, and nature in the world of modern science, New York/London: Routledge 1989. Horowitz, Norman H., To utopia and back: messengers of life, New York: W.H. Freeman & Company 1986. Hüppauf, Bernd/Weingart, Peter (Hg.), Frosch und Frankenstein: Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft, Bielefeld: transcript, Verlag 2009. Hüppauf, Bernd/Weingart, Peter, „Wissenschaftsbilder – Bilder der Wissenschaft“, in: dies. (Hg.), Frosch und Frankenstein: Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft, Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 11-44. Jäger, Siegfried, „Diskurs und Wissen. Methodologische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse“, in: Theo Hug (Hg.), Wie kommt Wissenschaft zu Wissen?, Bd.3: Einführung in die Methodologie der Sozial- und Kulturwissenschaften, Baltmannsweiler: Schneider 2001, S. 297–313.

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Autorinnen und Autoren

Adelmann, Ralf, Dr. phil, Universität Paderborn, Akademischer Rat am Institut für Medienwissenschaften. Momentane Forschungsschwerpunkte: Medienökonomien der Populärkultur, mobile Medien, dokumentarische Bildformen. Aktuelle Publikation: als Co-Autor Datenbilder. Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften, Bielefeld: transcript Verlag 2009. Für weitere Informationen siehe: http://homepages.uni-paderborn.de/ra delman/ Elia-Borer, Nadja, Lic. Phil., studierte Medienwissenschaft, Kunstgeschichte, Geschichte und Italianistik an den Universitäten Basel und La Sapienza in Rom. Seit 2009 forscht sie zum Thema „Televisuelle Blickregime des Kulturfernsehens“ im Forschungsmodul „Intermedialität des Kulturfernsehens“ im Rahmen des vom SNF finanzierten ProDoc-Graduiertenkollegs Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz an der Universität Basel (siehe: http://intermediale.unibas.ch). Veröffentlichungen: „Images of the Cassinga Massacre – Contested Visualities“, in: Giorgio Miescher/Lorena Rizzo/Jeremy Silvester (Hg.): Posters in Action. Visuality in the Making of an African Nation, Basel: Basler Afrika Bibliographien 2009, S. 141-152; „Der ‚blinde Fleck‘ des Kulturfernsehens“, in: Katharina Klung/Susie Trenka/Geesa Tuch (Hg.): Dokumentation des 24. Film- und fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, Marburg: Schüren (erscheint 2011). Fahle, Oliver, Film- und Fernsehwissenschaftler, seit 2009 Professor für Filmwissenschaft mit dem Schwerpunkt Filmtheorie und Filmästhetik an der Ruhr-Universität Bochum. Wichtigste Publikationen: Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz: Bender-Verlag 2000 (Dissertation); Bilder der Zweiten Moderne, Weimar: vdg 2005; Philosophie des Fernsehens, München: Fink-Verlag 2006 (hg. zusammen mit Lorenz Engell); Technobilder und Kommunikologie. Die Medientheorie Vilém Flussers, Berlin: Parerga-Verlag 2009 (hg. zusammen mit Andreas Ziemann und Michael Hanke).

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Imesch Oechslin, Kornelia, Professorin für moderne und zeitgenössische Kunst und Architektur an der Universität Lausanne. Wissenschaftliche Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Theorien und Methoden des Faches, das westliche und außerwestliche Kunstsystem, die Kunst- und Architekturszenen der Gegenwart, Kunst und Film. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Le film sur l’art entre histoire de l’art et documentation de création, hg. zusammen mit François Albera, Laurent Le Forestier, Mario Lüscher und Valentine Robert (erscheint 2011); Utopia and the Reality of Urbanism in the 20th Century, hg. zusammen mit Edmond Charrière (erscheint 2011); Inscriptions/Transgressions. Kunstgeschichte und Gender Studies – Histoire de l’art et études genre – Art History and Gender Studies, hg. zusammen mit Jennifer John, Daniela Mondini, Sigrid Schade und Nicole Schweizer (Kunstgeschichten der Gegenwart, vol. 8), Bern/Berlin et al. 2008; Art & branding. Principles – interaction – perspectives, hg. zusammen mit HansJörg Heusser (outlines, 3), Zürich 2006. Keilbach, Judith, Ass. Prof., arbeitet am Department Media & Culture Studies der Universität Utrecht. Sie beschäftigt sich mit der Geschichte und Theorie des Fernsehens, dem Verhältnis von Historiographie und Medien sowie Tieren, Flugzeugen und Archiven. Zuletzt erschienen: „Archiver les débuts de la télévision allemande“, in: Gilles Delavaud/Denis Maréchal (Hg.), Télévision, le moment expérimental, Rennes: Apogée 2011; Fasten your Seatbelt! Bewegtbilder vom Fliegen (hg. zusammen mit Alexandra Schneider) Münster: Lit 2009. Leeker, Martina, PD Dr. phil., Theater- und Medienwissenschaftlerin; theaterpraktische Ausbildung bei E. Decroux und J. Lecoq sowie in Tanz und Schauspiel; bis 2010 Juniorprofessorin für Theater und Medien an der Universität Bayreuth; Dozentin in Theater- und Medienwissenschaft sowie in der Theaterpädagogik, Kuratorin von Symposien und Akademien sowie im Format des „Theorie-Theaters“ zur theatral-performativen Veranschaulichung von kulturwissenschaftlichen Analysen. Forschungsschwerpunkte: Theater, Tanz, Performance und Medien; Theorie und Geschichte der Intermedialität; Wissensgeschichte des Computers; diskurskritische Medientheorie; Medienkunst sowie Geschichte und Theorie selbstorganisierter Systeme. Publikationen (Auswahl): Mime, Mimesis und Technologie, München: Fink 1995; Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin: Alexander Verlag 2001; Tanz und Technologie. Auf dem Wege zu digitalen Inszenierungen, Berlin: Alexander Verlag 2002; Tanz Kommunikation Praxis, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London: Lit Verlag 2003 (hg. zusammen mit Antje Klinge; McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, hg. zusammen mit Derrick de Kerckhove, Kerstin Schmidt, Bielefeld: transcript Verlag 2008; Entfesselte Technische Objekte. Mensch – Kunst – Technik 2010, Online Publikation 2010 [http://entfesselt.kaleidoskopien.de].

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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Lutz, Nadja, Lic. Phil., studierte Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Ethnologie an der Universität Basel. Während und nach dem Studium als freie Kulturjournalistin und im Bereich PR und Unternehmenskommunikation tätig. Seit April 2010 forscht sie zum Thema „Die Welt als Spiegel. Konstruktionen nationaler Identität in der Schweizer Filmwochenschau aufgrund von Selbst- und Fremdbildern“ im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts „Kunst, Kunstbetrieb, Wissensgesellschaft Schweiz. Konstruktionen kultureller Identität in der Schweizer Filmwochenschau 1940-1975“ (ICS, ZHdK in Zürich und an der Université de Lausanne). Lüscher, Mario, Lic. Phil., Doktorand an der Universität Lausanne im Rahmen des SNF-Projektes „Kunst, Kunstbetrieb und Wissensgesellschaft Schweiz. Konstruktionen kultureller Identität in der Schweizer Filmwochen 1940-1975“ unter der Leitung von Prof. Dr. Kornelia Imesch Oechslin (UNIL) und Prof. Dr. Sigrid Schade (ICS/ZHdK). Mayer, Michael, PD Dr. habil., Studium der Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Religionswissenschaft/Theologie in Freiburg i. Br. und Berlin. Promotion mit einer Arbeit über Lévinas und Heidegger; Habilitation mit einer Arbeit über den Begriff der Passibilität. Privatdozent an der Universität Potsdam. Freier Autor für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, u.a. NZZ und Magazin artnet.de. Aktuelle Publikationen: Humanismus im Widerstreit – Versuch über Passibilität, München: Wilhelm Fink Verlag 2011; Tarkowskijs Gehirn. Essay zur Aktualität des Kinos, erscheint 2011; Zone. Medienphilosophische Exkursionen, erscheint 2012. Nessel, Sabine, Dr. phil., vertritt derzeit eine Filmprofessur an der Freien Universität Berlin. Davor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt a.M. sowie als Gastprofessorin an der Universität Wien tätig. Habilitation über den Zusammenhang zwischen Kino, Zoo und Moderne. Zuletzt erschienen: Kino und Ereignis. Das Kinematografische zwischen Text und Körper, Berlin: Vorwerk 8 2008; „Das Andere denken: Zoologie, Kinematografie und Gender“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 4, 1/2011; Zoo und Kino als Schauanordnungen der Moderne, Frankfurt a.M./ Basel: Stroemfeld Verlag 2011 (hg. zusammen mit Heide Schlüpmann). Ochsner, Beate, Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Medien- und Bildtheorie, Intermedialität, mediale Konstruktionen des Anderen und nationales Kino. Aktuelle Publikationen (Auswahl): DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, München: Synchron 2010; Medium und Gedächtnis. Von der Überbietung der Grenze(n), Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004 (hg. zusammen mit Franziska Sick); „‚We’ll always have Paris‘ oder : Paris, exception cinématographique?“, in: Andrea von Hülsen-

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Esch (Hg.), Produktion von Kultur/Production de la culture, dup : düsseldorf university press 2011, S. 41-65; „Foto/Filme oder: Filmische (Re-)animation des fotografischen Stillstandes“, in: Gregor Schuhen/Marijana Erstić/Warburga Hülk-Althoff (Hg.), Körper in Bewegung. Impulse und Modelle der italienischen Avantgarde, Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 221-238. Pauleit, Winfried, Professor an der Universität Bremen mit den Arbeitsschwerpunkten Film- und Medienwissenschaft, Filmvermittlung und Medienpädagogik sowie Vorsitzender der Bremer Akademie für Film und Medien. Publikationen (Auswahl): Filmstandbilder. Passagen zwischen Kunst und Kino, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2004, Das ABC des Kinos. Foto, Film, Neue Medien, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2009. Er ist außerdem Herausgeber der Bremer Schriften zur Filmvermittlung und Mitherausgeber des Internetmagazins Nach dem Film, (www.nachdemfilm.de). Schneider, Irmela, Professorin für Medienwissenschaft; bis Ende 2008 stellvertretende Geschäftsführende Direktorin des SFB/FK „Medien und kulturelle Kommunikation“, Leiterin des Teilprojekts „Sondierungen der Mediennutzung“; Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Theorie technischer Medien, insbesondere Verbreitungsmedien. Veröffentlichungen u.a.: Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Bd. 1-3, hg. zusammen mit Peter M. Spangenberg/Christina Bartz/Torsten Hahn/ Isabell Otto, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002-2004. „Zur Archäologie der Mediennutzung. Zum Zusammenhang von Wissen, Macht und Medien“, in: Barbara Becker/Josef Wehner (Hg.), Kulturindustrie Reviewed. Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft, Bielefeld: transcript Verlag 2006; Formationen der Mediennutzung I: Medienereignisse, hg. zusammen mit Christina Bartz, Bielefeld: transcript Verlag 2007; Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung, hg. zusammen mit Isabell Otto, Bielefeld: transcript Verlag 2007; Formationen der Mediennutzung III: Dispositive Ordnungen im Umbau, hg. zusammen mit Cornelia Epping-Jäger Bielefeld: transcript Verlag 2008. Sieber, Samuel, MA, forscht und lehrt am Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel. Studium der Medienwissenschaft, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Fribourg und Basel. Seit Januar 2010 Doktorand im ProDoc-Graduiertenkolleg Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz mit dem Projekt „Politik und Medien. Interdiskursive Beziehungen“. Forschungsschwerpunkte sind Diskursanalyse, Interdiskursivitätstheorie, Medientheorie und -philosophie sowie Game Studies. Aktuelle Publikationen: „Politik und Medien in der Schleife der Iterationen. Medien in Krisen, Katastrophen und Revolten“, in: kultuRRevolution 60/2011, S. 53-58. Stauff, Markus, Dr. phil., arbeitet am Department Media Studies der Universität Amsterdam (UvA). Forschungsschwerpunkte: Fernsehtheorie, Cultural Studies, Mediensport. Jüngste Publikationen: Mediensport. Strategien

A UTORINNEN

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der Grenzziehung, München: Fink 2009 (hg. mit Felix Axster u.a.); The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung, München: Fink 2011 (hg. mit Arno Meteling und Marcus Krause). Thiele, Matthias, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Fakultät Kulturwissenschaften der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte portabler Aufzeichnungsmedien, Fernsehtheorie, Migration und Rassismus in den Medien. Veröffentlichungen u.a.: Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen, Konstanz: UVK 2005; Portable Media. Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon, München: Fink 2010 (hg. mit Martin Stingelin). Tholen, Georg Christoph, Prof. Dr., ist Ordinarius für Medienwissenschaft mit kulturphilosophischem Schwerpunkt an der Universität Basel und Leiter des ProDoc Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Medien, Zeit und Raum, Erinnern und Vergessen, Aisthesis und Medialität. Veröffentlichungen u.a.: „Dazwischen – Die Medialität der Medien“, in: Heike Adam/Gisela Fehrmann/ Ludwig Jäger (Hg.), Medienbewegungen, München: Fink 2011; „Das Erhabene und Undarstellbare bei Jean-François Lyotard“, in: Simone Bernet/Christine Blättler (Hg.), Kant Nietzsche gewidmet. Eine virtuelle Begegnung, Berlin: Kadmos 2009, S. 99-106; „Mit und nach McLuhan. Bemerkungen zur Theorie der Medien jenseits des anthropologischen und instrumentellen Diskurses“, in: Derrick de Kerckhove, /Martina Leeker/Kerstin Schmidt (Hg.): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 127-139; Mnêma – Derrida zum Andenken, Bielefeld: transcript Verlag 2007 (hg. mit Hans-Joachim Lenger); Schnittstellen. Basler Beiträge zur Medienwissenschaft, Basel: Schwabe 2006 (hg. mit Sigird Schade/Thomas Sieber); Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002; Computer als Medium, München: Fink 1999 (hg. mit Norbert Bolz/Friedrich Kittler); Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Fink 1999 (hg. mit Sigrid Schade). Wodianka, Bettina Anita, MA, studierte Theaterwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gleichzeitig machte sie eine Ausbildung zur Sprecherin und Redakteurin im Rundfunk und assistierte bei Produktionen im Theater, Tanz und Radio in der Regie und Dramaturgie. Seit Januar 2011 ist sie Doktorandin der Medienwissenschaft und realisiert bei Prof. Georg Christoph Tholen ihre Dissertation mit dem Arbeitstitel „Körperlose Stimmen zu Gast. Radiophonie, Literatur und Theater – Intermediale Strategien im Hörspiel der Gegenwart“ im Rahmen des Graduiertenprogramms ProDoc Intermediale Ästhetik. Spiel – Ritual – Performanz der Universitäten Basel und Bern.

MedienAnalysen Anton Bierl, Gerald Siegmund, Christoph Meneghetti, Clemens Schuster (Hg.) Theater des Fragments Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne 2009, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-999-2

Regine Buschauer Mobile Räume Medien- und diskursgeschichtliche Studien zur Tele-Kommunikation 2010, 364 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1246-2

Till A. Heilmann Textverarbeitung Eine Mediengeschichte des Computers als Schreibmaschine Oktober 2011, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1333-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

MedienAnalysen Till A. Heilmann, Anne von der Heiden, Anna Tuschling (Hg.) medias in res Medienkulturwissenschaftliche Positionen Oktober 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1181-6

Stefan Münker Philosophie nach dem »Medial Turn« Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft 2009, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1159-5

Claudia Reiche Digitale Körper, geschlechtlicher Raum Das medizinisch Imaginäre des »Visible Human Project« April 2011, 398 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1713-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

MedienAnalysen Andy Blättler, Doris Gassert, Susanna Parikka-Hug, Miriam Ronsdorf (Hg.) Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte

Anna Tuschling Klatsch im Chat Freuds Theorie des Dritten im Zeitalter elektronischer Kommunikation 2009, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-952-7

2010, 262 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1191-5

André Eiermann Postspektakuläres Theater Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste 2009, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1219-6

Michael Harenberg, Daniel Weissberg (Hg.) Klang (ohne) Körper Spuren und Potenziale des Körpers in der elektronischen Musik 2010, 256 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1166-3

Dominik Landwehr Mythos Enigma Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt 2008, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-893-3

Joachim Michael Telenovelas und kulturelle Zäsur Intermediale Gattungspassagen in Lateinamerika 2010, 404 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1387-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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