History Goes Pop: Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres [1. Aufl.] 9783839411070

Geschichte hat gegenwärtig Konjunktur - besonders populäre Präsentationen prägen das Geschichtsbild nachhaltig. Dennoch

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History Goes Pop: Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres [1. Aufl.]
 9783839411070

Table of contents :
INHALT
Geschichte in populären Medien und Genres: Vom Historischen Roman zum Computerspiel
I. GESCHICHTE IN PRINTMEDIEN
Zehn Thesen zum historischen Roman
Zwischen Affirmation und Revision populärer Geschichtsbilder: Das Genre alternate history
Kleiner Hobbit und Großer Artus: Populäre mittelalterliche Mythen und ihr Potenzial für die Förderung historischen Denkens
Historische Sachbücher – Historische Fachbücher: Der Fall Werner Maser
Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs in europäischen Comics: Eine Fallstudie populärer Geschichtskultur
II. GESCHICHTE AUDIOVISUELL
Geschichte im Film: Zum Umgang mit den Zeichen der Vergangenheit im Dokudrama der Gegenwart
Zur Entwicklung dokumentarischer Formen der Geschichtsvermittlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Bundesrepublik
Ereignis und Erlebnis: Entstehung und Merkmale des zeitgenössischen dokumentarischen Geschichtsfernsehens
Fiktionalität oder Fakten: Welche Zukunft hat die zeitgeschichtliche Dokumentation?
III. ERLEBBARE GESCHICHTE
›Belebte Geschichte‹: Delimitationen der Anschaulichkeit im Geschichtstheater
Paddeln für die Archäologie: Mit dem Einbaum in die Steinzeit
Geschichte zu Fuß: Feministische Stadtrundgänge zur Frauengeschichte vor Ort
IV. GESCHICHTE UND NEUE MEDIEN
Problematische Popularität? Erinnerungskultur, Medienwandel und Aufmerksamkeitsökonomie
Repräsentation von Geschichte in Wikipedia oder: Die Sehnsucht nach Beständigkeit im Unbeständigen
»Wollen Sie wirklich nicht weiter versuchen, diese Welt zu dominieren«: Geschichte in Computerspielen
Autorenverzeichnis
Register

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Barbara Korte, Sylvia Paletschek (Hg.) History Goes Pop

Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen History in Popular Cultures | Band 1

2009-06-03 14-43-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be211933590350|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 1107.p 211933590358

Editorial In der Reihe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures erscheinen Studien, die populäre Geschichtsdarstellungen interdisziplinär oder aus der Perspektive einzelner Fachrichtungen (insbesondere der Geschichts-, Literaturund Medienwissenschaft sowie der Ethnologie und Soziologie) untersuchen. Im Blickpunkt stehen Inhalte, Medien, Genres und Funktionen heutiger ebenso wie vergangener Geschichtskulturen. Die Reihe wird herausgegeben von Barbara Korte und Sylvia Paletschek (geschäftsführend) sowie Hans-Joachim Gehrke, Wolfgang Hochbruck, Sven Kommer und Judith Schlehe.

2009-06-03 14-43-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be211933590350|(S.

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) T00_02 seite 2 - 1107.p 211933590374

Barbara Korte, Sylvia Paletschek (Hg.) History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres

2009-06-03 14-43-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be211933590350|(S.

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) T00_03 titel - 1107.p 211933590390

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kunghang, © Photocase Lektorat: Barbara Korte, Sylvia Paletschek Satz: Thorsten Leiendecker Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1107-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-06-03 14-43-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be211933590350|(S.

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INHALT Geschichte in populären Medien und Genres: Vom Historischen Roman zum Computerspiel BARBARA KORTE UND SYLVIA PALETSCHEK 9

I. GESCHICHTE IN PRINTMEDIEN Zehn Thesen zum historischen Roman PETER PRANGE 61

Zwischen Affirmation und Revision populärer Geschichtsbilder: Das Genre alternate history MICHAEL BUTTER 65

Kleiner Hobbit und Großer Artus: Populäre mittelalterliche Mythen und ihr Potenzial für die Förderung historischen Denkens NICOLA EISELE 83

Historische Sachbücher – Historische Fachbücher: Der Fall Werner Maser MARTIN NISSEN 103

Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs in europäischen Comics: Eine Fallstudie populärer Geschichtskultur KEES RIBBENS 121

II. GESCHICHTE AUDIOVISUELL Geschichte im Film: Zum Umgang mit den Zeichen der Vergangenheit im Dokudrama der Gegenwart MATTHIAS STEINLE 147

Zur Entwicklung dokumentarischer Formen der Geschichtsvermittlung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Bundesrepublik EDGAR LERSCH 167

Ereignis und Erlebnis: Entstehung und Merkmale des zeitgenössischen dokumentarischen Geschichtsfernsehens THOMAS FISCHER 191

Fiktionalität oder Fakten: Welche Zukunft hat die zeitgeschichtliche Dokumentation? STEFAN BRAUBURGER 203

III. ERLEBBARE GESCHICHTE ›Belebte Geschichte‹: Delimitationen der Anschaulichkeit im Geschichtstheater WOLFGANG HOCHBRUCK 215

Paddeln für die Archäologie: Mit dem Einbaum in die Steinzeit ERWIN KEEFER 231

Geschichte zu Fuß: Feministische Stadtrundgänge zur Frauengeschichte vor Ort BIRGIT HEIDTKE 251

IV. GESCHICHTE UND NEUE MEDIEN Problematische Popularität? Erinnerungskultur, Medienwandel und Aufmerksamkeitsökonomie ERIK MEYER 267

Repräsentation von Geschichte in Wikipedia oder: Die Sehnsucht nach Beständigkeit im Unbeständigen MAREN LORENZ 289

»Wollen Sie wirklich nicht weiter versuchen, diese Welt zu dominieren«: Geschichte in Computerspielen ANGELA SCHWARZ 313

Autorenverzeichnis 341

Register 345

GESCHICHTE IN POPULÄREN MEDIEN UND GENRES: VOM HISTORISCHEN ROMAN ZUM COMPUTERSPIEL BARBARA KORTE UND SYLVIA PALETSCHEK

Geschichte als populäres Phänomen History goes pop.1 In vielen westlichen bzw. westlich orientierten, europäischen wie außereuropäischen Kulturen ist Geschichte ein Gegenstand populärkultureller Repräsentation, Produktion und Konsumtion. Seit den 1980er Jahren ist ein steigendes öffentliches Interesse an Geschichte zu verzeichnen, das seit der zweiten Hälfte der 1990er und insbesondere in den letzten Jahren einen bisher ungekannten Höhepunkt erreicht hat (vgl. Winter 2001 und 2006: 19-39). Auch in Deutschland ist Geschichte heute omnipräsent. Sie begegnet uns in populärwissenschaftlichen Zeitschriften, in der Unterhaltungsliteratur, in Museen und Ausstellungen, in (historischen) Themenparks, auf Mittelaltermärkten, im Kino und im TV, in Computerspielen und im Internet. Um nur ein Beispiel aus der Vielzahl populärer Geschichtsdarbietungen herauszugreifen: Ende 2008 war Die Deutschen, eine zehnteilige Doku-Serie zur besten Sendezeit, dem Zweiten Deutschen Fernsehen eine Investition von fünf Millionen Euro wert; im Durchschnitt rund fünf Millionen Zuschauer und Zuschauerinnen wurden mit der Sendung erreicht.2 Wie nie zuvor ist Geschichte in den Alltag eingedrungen und scheint dabei verschiedenste Bedürfnisse zu befriedigen: nach historischer Bildung und Unterhaltung, nach Entspannung und Zerstreuung, nach Identität und Orientierung, nach Abenteuer und Exotismus, nach neuen Erfahrungen und Erlebniswelten oder auch nach einer Flucht aus dem Alltag in eine Vergangenheit, die überschaubarer und weniger komplex erscheint als die Gegenwart.

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Für die redaktionelle Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Bandes danken wir Thorsten Leiendecker sowie Doris Lechner, Christa Klein, Kathrin Göb und Katja Bay. http://diedeutschen.zdf.de/ZDFde/inhalt/10/0,1872,7413290,00.html (Zugriff am 28 März 2009). 9

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Dieser Geschichtsboom kann als integraler Bestandteil und als Antwort auf den beschleunigten Gesellschaftswandel in der sogenannten ›Zweiten Moderne‹ verstanden werden.3 Traditionelle Wertmuster, Lebensstile und Arbeitsweisen waren seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts radikalen Veränderungen unterworfen; dies gilt auch für staatliche Grenzen und Konstruktionen von Nationen und Ethnien. Kategorien sozialer Ungleichheit wie Geschlecht, Klasse, Rasse oder Alter erfuhren einen teilweise rapiden Wandel ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Platzierung und Identität des Individuums. Die Hinwendung zur Geschichte kann in dieser Situation Kontinuität, Identität und Orientierung stiften. Ein gestiegenes Bildungsniveau, vor allem aber mehr Freizeit und ein wachsendes Budget für den Kulturkonsum beförderten ebenfalls das neue Interesse an Geschichte, das auch als Ausfluss der sich seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnden modernen Wissensgesellschaft begriffen werden kann. Gerade die Beschäftigung mit Geschichte in populären Vermittlungsformen befriedigt das Bedürfnis nach Unterhaltung und neuem Wissen, nach ästhetischen wie emotionalen Erfahrungen und einer risikofreien Begegnung mit fremden Lebenswelten. Jenseits dieser individuellen Aneignungsformen wird Geschichte, gerade auch in populären Präsentationsformen, von Staaten, gesellschaftlichen Eliten und verschiedensten Gruppen dazu genutzt, politische Forderungen zu legitimieren – ob zur Erhaltung des Status quo oder zur Propagierung von Veränderungen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser populären Geschichtskultur, ihren Erscheinungsformen, ihrer Aneignung und ihrer gesellschaftlichen Funktion steckt noch in den Anfängen. Im deutschen Forschungskontext gingen hierzu wichtige Impulse von der in den letzten beiden Jahrzehnten virulenten interdisziplinären Forschung zur Erinnerungskultur aus. Sie ging insbesondere den Fragen nach, wie (historische) Erinnerung konstruiert wird, wie sie die Identität(en) von Nationen, Gruppen und Individuen prägt und wie die Vergangenheit mit der Gegenwart interagiert.4 Etwa gleichzeitig entwickelten Historiker und Didaktiker der Geschichte (wie Jörn Rüsen und Bernd Schönemann) das Konzept der Geschichtskultur. Unter Geschichtskultur versteht man die 3

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Vgl. hierzu u.a. Beck/Giddens/Lash (1996), Beck/Lau (2004); als Überblick zu Potential und Grenzen der verschiedenen Modernisierungstheorien bzw. Konzepten von Moderne vgl. Degele/Dries (2005). Zu nennen sind hier die von der neueren Erinnerungskulturforschung quasi ›wiederentdeckten‹ Arbeiten von Maurice Halbwachs aus den 1920er Jahren, ferner die Arbeiten Pierre Noras und vor allem die Synthetisierung und Weiterentwicklung dieser Ansätze durch Jan und Aleida Assmann. Vgl. den Überblick bei Erll (2005). 10

GESCHICHTE IN POPULÄREN MEDIEN UND GENRES

Erforschung des Geschichtsbewusstseins in einer Gesellschaft (Schönemann 2003: 17) sowie die Untersuchung der Geschichtsinterpretationen unterschiedlicher kultureller, kommerzieller wie staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen (z.B. Universität, Schule, Museum, Verwaltung, Geschichtsvereine) und Medien, die »die Funktion der Belehrung, der Unterhaltung, der Legitimation, der Kritik, der Ablenkung, der Aufklärung und anderer Erinnerungsmodi in die übergreifende Einheit der historischen Erinnerung« integrieren (Rüsen 1994: 4).5 Für die bisherigen Forschungen zu beiden Konzepten bzw. Themenfeldern gilt, 6 dass bislang vornehmlich die Geschichtspolitik von Staaten, Eliten und Bildungsinstitutionen sowie ›hochkulturelle‹ Geschichtsrepräsentationen (z.B. historische Romane kanonisierter Autoren, akademische Geschichtsschreibung, ›anspruchsvolle‹ Filme, nationale Monumente etc.) untersucht wurden. Eine Analyse populärer und massenmedialer Geschichtsprodukte setzte erst vor relativ kurzer Zeit ein,7 wobei die Forschungen vor allem zu den USA und teilweise auch zu Australien und Großbritannien weiter fortgeschritten sind.8 Dies hat mehrere Gründe. Generell haben die USA und Großbritannien in vielen Aspekten eine Vorreiterrolle in der Verbreitung der Popu5

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Mit Maria Grever (2008: 10f.) kann Geschichtskultur verstanden werden als »umbrella concept, including: Narratives (internal side) meaning the circulation of specific contents of historical knowledge, interests and the development of personal historical consciousness; infrastructures (external side) which facilitate and structure the production, consumption, appropriation and transmission of specific historical contents«. Beide Konzepte können unseres Erachtens ergänzend verwendet werden. Vgl. zur Diskussion der Vor- bzw. Nachteile der Konzepte auch Cornelißen (2003) und Demantowsky (2005). Zum deutschen Forschungskontext vgl. u.a. Hardtwig /Schütz (2005), Korte/Paletschek/Hochbruck (2008), Langewiesche (2008a), Groebner (2008), Nissen (2009), Paletschek (2009b) sowie die unten angeführten Arbeiten zu Geschichte im Fernsehen. In jüngster Zeit öffnet sich die Geschichtsdidaktik verstärkt der populären Geschichtskultur; vgl. die Sammelbände von Horn/Sauer (2009) und Oswalt/Pandel (2009), die für diese Publikation aufgrund ihres Erscheinungstermins jedoch nicht mehr eingesehen werden konnten. Während die theoretische Beschäftigung mit den Ansätzen Erinnerungskultur und Geschichtskultur im deutschen Forschungskontext weiter gediehen zu sein scheint, hat die ›empirische‹ Erforschung der populären Geschichtskultur im angloamerikanischen Kontext größere Fortschritte gemacht. Um den derzeitigen Forschungsstand zum Themenfeld populärer Geschichtskultur adäquat abbilden zu können, ist eine internationale Perspektive ein dringendes Desiderat. 11

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lärkultur eingenommen; in den USA hat vor allem die frühe Institutionalisierung von Public History an den Universitäten seit den späten 1970er Jahren den Forschungen zur populären Geschichtskultur Auftrieb gegeben.9 In Großbritannien etablierten sich diese Studiengänge erst jüngst; allerdings scheint es hier – vermittelt über die Tradition der history workshops und die britische Sozial- und Kulturgeschichte, vielleicht auch beeinflusst durch einen massiven heritage-Boom Ende des 20. Jahrhunderts – eine frühere Öffnung für populäre Formen der Geschichtsdarbietung gegeben zu haben. So forderte bereits 1994 Raphael Samuel nachdrücklich eine Beschäftigung mit populären historischen Narrativen: »In any archaeology of the unofficial sources of historical knowledge, the animators of the Flintstones […] surely deserve, at the least, a proxime accessit. Stand-up comics, such as Rowan Atkinson, whose Blackadder series reanimated the legendary moments of British history for a generation of television addicts, might get as much attention as the holder of a Regius chair. The impresarios of the open-air museums, and their ever-increasing staff, would be seen to have made a far more substantial contribution to popular appetite for an engagement with the past than the most ambitious head of a department« (Samuel 1994: 17).

Mittlerweile liegen mehrere substantielle Arbeiten zu Aspekten der populären britischen Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert vor.10 Neuerdings öffnet sich auch die Historiographiegeschichte für das Thema. Zwar mahnte Rudolf Vierhaus bereits 1977 an, dass die Erforschung der Geschichte der Geschichtsschreibung, »mehr als es bisher üblich ist«, auch den Geschichtsunterricht an Schulen, die Repräsentation in Museen, in der populären historischen Literatur oder durch Denkmäler berücksichtigen und »das Geschichtsbewußtsein, seine soziale und politische Funktion« untersuchen sollte (Vierhaus 1977: 111). Doch erst unter dem Einfluss des cultural turn, der Geschlechtergeschichte und der New Intellectual History bzw. der neueren Wissenschaftsgeschichte entstanden in jüngster Zeit Arbeiten, die dezidiert nach populären Formen der Geschichtsschreibung und der Interaktion von akademischer und außerakademischer Geschichtsproduktion fragten.11 Dabei wird zunehmend

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Vgl. u.a. Kelley (1978), Rosenzweig/Thelen (1998), Crane (2000) und Glassberg (2001). 10 Vgl. u.a. Bann (1986) und (1990), Mandler (1997), Mitchell (2000), Rigney (2001) und Melman (2006), die auch einen knappen Überblick über die Literatur bietet (5-10). 11 Vgl. hier die innovative Arbeit von Smith (1998), ferner auch Levine (1986), Epple (2003), Bergenthum (2004), Hardtwig (2005), Paletschek 12

GESCHICHTE IN POPULÄREN MEDIEN UND GENRES

deutlich, dass – anders als häufig unhinterfragt angenommen – die im 19. Jahrhundert entstehende moderne akademische Geschichtswissenschaft nie ein Monopol in der Geschichtsvermittlung hatte: Geschichte war im 19. wie 20. Jahrhundert, so Dieter Langewiesche (2008c: 9), zu wichtig, um sie allein den Universitätshistorikern zu überlassen. Aleida Assmanns Diagnose der gegenwärtigen deutschen Geschichtskultur kann also mit dieser Einschränkung zugestimmt werden: »Nach dem Ende des Monopols der professionellen Geschichtswissenschaft gehört Geschichte heute einer ständig wachsenden Gruppe von Sachwaltern: neben den Professoren auch den Politikern, den Ausstellungsmachern, den Geschichtswerkstätten, den Bürgerbewegungen, den Filmregisseuren, den Künstlern, den Infotainern und den Eventregisseuren. [...] Die Geschichte verlagert dabei ihren Schwerpunkt von der Universität zum Kulturbetrieb des Marktes« (Assmann 2007: 178).

Was Assmann hier treffend zum Ausdruck bringt, ist die Bedeutung, die die Medialisierung für die Präsenz des Historischen spielt: Geschichte ist allgegenwärtig, weil die Mediensysteme vielfältige Verbreitungs-, Konservierungs- und Aneignungsmöglichkeiten bereithalten. An diesem Punkt setzt der vorliegende Sammelband an, der eine Schneise in das Untersuchungsfeld der populären Geschichtskultur schlägt, indem verschiedene Präsentationsformen, Medien und Genres, die einer populären Verbreitung von Geschichte in besonderer Weise entgegenkommen, analysiert werden. Als ›populäre Geschichtsrepräsentationen‹ werden Darstellungen in textueller, visueller, audiovisueller sowie performativer Form verstanden, die Wissen über die historische Vergangenheit in einer verständlichen, attraktiven Weise präsentieren und ein breites Publikum erreichen, das aber nicht unbedingt ein Massenpublikum sein muss. Ziel der dem Band zugrunde liegenden Tagung war es, nicht nur unterschiedliche Disziplinen, sondern auch ›Theoretiker‹ und ›Praktiker‹ der Geschichtskultur in einen Austausch zu bringen.12 Dabei konnten nicht alle Genres und Me-

(2007), Langewiesche (2008a), jetzt vor allem auch Berger/Eriksonas/Mycock (2008) sowie Nissen (2009). 12 Die auf der Tagung Geschichte in populären Medien und Genres (16.-18. April 2008) an der Universität Freiburg gehaltenen Vorträge wurden für diesen Band überarbeitet und durch weitere Aufsätze ergänzt. Die Tagung wurde veranstaltet von der Freiburger DFG-Forschergruppe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart (http://portal. uni-freiburg.de/historische-lebenswelten). Die Forschergruppe untersucht anhand von Fallstudien den gegenwärtigen Schub der Popularisierung his13

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dien abgedeckt werden; auch konzentrieren sich die vorliegenden Beiträge auf Beispiele aus dem deutschen, angloamerikanischen und europäischen Raum sowie auf populäre Geschichtsdarstellungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Nach einer weiteren Klärung von Begrifflichkeiten sowie einem knappen Rückblick auf die Anfänge der populären Geschichtskultur im 19. Jahrhundert stellt dieser einleitende Aufsatz Genres und Medien der populären Geschichtsrepräsentation vor und kontextualisiert dabei die späteren Einzelbeiträge. Diese sind nach ihrer Zuordnung zu unterschiedlichen Medien geordnet, obwohl angesichts der in vielen Beiträgen konstatierten Intermedialität auch andere Ordnungsmuster denkbar wären.

Populärkultur und populäre (Medien-)Genres Trotz einer intensivierten Forschung bleibt der Begriff der ›Populärkultur‹ (popular culture) weiterhin unscharf. Grenzziehungen zwischen Populär- und Hochkultur erweisen sich zunehmend als durchlässig und überlappend; das Feld des Populärkulturellen ist in sich hoch differenziert. Populäre Kultur ist nicht einfach mit Massenkultur gleichzusetzen: Auch wenn sie oft marktorientiert ist, wird sie nicht ausschließlich kommerziell produziert; auch wenn Massenmedien für die gesellschaftliche Wahrnehmung und Wirkung von Repräsentationen von besonderer Bedeutung sind, wird populäre Kultur nicht nur über diese Medien verbreitet.13 Trotzdem macht es Sinn, ein Feld populärer Kultur anzunehmen, das sich durch das Handeln seiner Akteure, durch mediale und ästhetische Eigenschaften der in ihm erzeugten Produkte sowie durch bestimmte Formen der gesellschaftlichen Funktionalisierung bestimmen lässt. Populäre Kulturproduktion artikuliert und befriedigt zeitgenössische Bedürfnisse – auch im Bereich der Geschichtskultur, wozu Rezeptionsstudien allerdings bislang rar sind.14 In ihrer ästhetischen Gestaltung torischer und prähistorischer Vergangenheiten und will aus den Einzelbefunden einen interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Ansatz zur Erfassung und Beschreibung des Phänomens entwickeln. Sie fragt nach den soziokulturellen Funktionen des hier vermittelten Wissens, nach dessen inhaltlicher Beschaffenheit und medialen Vermittlungsformen. 13 Hier ist nicht der Ort, die Diskussion über populäre Kultur nachzuzeichnen. Vgl. aber Hügel (2003), Storey (2003), Fiske (1989a und 1989b) und Hecken (2007), der Positionen zur Populärkultur seit Schiller nachzeichnet. 14 Meyen/Pfaff (2006) konnten am Beispiel von Geschichtssendungen im Fernsehen zeigen, dass diese den Bedürfnissen der befragten Zuschauer nach Identitätsstiftung und Orientierung in der Gegenwart entgegenkamen. 14

GESCHICHTE IN POPULÄREN MEDIEN UND GENRES

streben populäre Geschichtsdarstellungen eine hohe Allgemeinverständlichkeit und Zugänglichkeit an. Sie bieten ihren Rezipienten und Nutzern neben Information auch Unterhaltung (›Infotainment‹, ›Histotainment‹), d.h. sinnliches Vergnügen, Entspannung und Spiel. Sie zeichnen sich durch sinnfällige, kohärente Narrative, durch Bebilderung und Formen der ›Belebung‹ aus – von der theatralischen Darstellung bis zur Möglichkeit der aktiven Partizipation. Geschichte soll mit möglichst allen Sinnen erlebbar gemacht werden. Fakten und Imaginäres gehen Synthesen ein, die dazu beitragen, Geschichte spannend und für die Lebenswelt der Rezipienten anschlussfähig zu machen. Oft werden explizit ›Brücken‹ zwischen Gegenwart und Vergangenheit gebaut.15 Identifikationsangebote werden durch personalisierte und affektive Elemente unterstrichen.16 Die genannten Elemente finden sich in unterschiedlicher Ausprägung und Kombination in allen Genres der populären Geschichtsvermittlung. In den jeweiligen Formaten, die die Medien bereitstellen, wird Wissen nicht nur vermittelt und zirkuliert, sondern immer auch in einer bestimmten Weise figuriert. Sie sind also nicht nur Mittel der Darstellung, sondern auch der Wissensproduktion. Die Frage nach den Darstellungsmitteln und -möglichkeiten der verschiedenen Medien und Genres erweist sich somit als grundlegend für die Untersuchungen von Geschichtskultur(en). Im Folgenden wird von einem weiten Verständnis von Medien ausgegangen: »Der historisch erweiterte Begriff des ›Mediums als Kommunikationsmittel‹ und als ›Kommunikationsorganisation‹ (nicht-technische und technische Speicher- und Verbreitungsmittel und soziale Organisationen, die ›mit einer Stimme sprechen‹) integriert die Gesamtentwicklung der Kommunikationstechniken von den oralen über die skripturalen Kulturen bis zu den modernen technischen Massen- und Individualm[edien]« (Schanze 2002: 200).

15 Die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zeigt sich häufig bereits in der Fragestellung oder in Titel bzw. Untertitel. So lief in der ARD 2006 eine sechsteilige historische Dokumentation unter dem Titel Unsere 50er Jahre: Wie wir wurden, was wir sind; auch die Fernsehserie Die Deutschen (ZDF 2008) stand unter dem Motto »Was ist Deutschland?«, »Wer sind die Deutschen?«, »Wohin führt ihr Weg?« (http:// diedeutschen.zdf.de/ZDFde/inhalt/26/0,1872,7379194,00.html. Zugriff am 24. März 2009). Die Fragen »Wer sind wir? Woher kommen wir?« tauchten im Trailer immer wieder auf. 16 So heißt es etwa im Klappentext zur DVD Unsere 50er Jahre: »Und mitten in dieser Zeit des Aufbruchs haben sich dramatische und anrührende Schicksale abgespielt. Diese sehr persönlichen Biographien stehen im Mittelpunkt«. 15

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Die Medienwissenschaft untersucht Medien und einzelne Medienangebote aus verschiedenen, miteinander verwobenen Perspektiven: als Zeichensysteme, in ihren technischen Dispositiven und in den gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen, innerhalb derer Produzenten und Konsumenten (inter-)agieren. Geschichtswissen ist historisch in vielen Medien formiert worden: in Liedern und Bildern ebenso wie in Theaterstücken. Die history plays William Shakespeares etwa waren im elisabethanischen England eine ebenso beliebte Form der Unterhaltung wie Komödien; die Geschichtsdramen Friedrich Schillers erregten auf den deutschen Bühnen Aufsehen. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Mediensysteme erweiterte das Spektrum der Darstellungsmöglichkeiten kontinuierlich, konnte aber auch dazu führen, dass bestimmte Darstellungsformen (z.B. Dioramen und Panoramen mit dem Aufkommen des Films) zurücktraten. Die Angebote der Massenmedien haben das – nicht immer realisierte – Potential, große Publika anzusprechen. Populäres Geschichtswissen wird aber auch in Formen generiert, die zumindest ihren Ursprung in der Kommunikation kleinerer Gruppen haben (wie z.B. bei Reenactments oder Mittelaltermärkten). Neben dem Begriff Medium fokussiert dieser Band den Begriff des Genres. Die literatur- und medienwissenschaftliche Forschung versteht unter Gattungen offene Systeme mit flexiblen und wandelbaren Texttypen, die einen Kern von Eigenschaften und ›Spielregeln‹ gemeinsam haben (vgl. Wenzel 2008: 230). Pragmatische Gattungsbegriffe betonen die Funktion, die Genres bei der Produktion und Rezeption von Texten einnehmen.17 Da in der Populärkultur Produktion und Konsumtion eng aufeinander bezogen sind, kommt Genres als Spielregeln in der Interaktion zwischen Produzenten, Produkten und Konsumenten eine zentrale Rolle zu. Ken Gelders Ausführungen zu populärer Literatur lassen sich auch auf andere Bereiche der populären Kulturproduktion übertragen: »The entire field of popular fiction is written for, marketed and consumed generically: it provides the primary logic for popular fiction’s means of production, formal and industrial identification and critical evaluation. Individual writers can obviously stand out in the field but they do so always in relation to the genre they write in, so that it is impossible to disentangle the two. [...W]ith popular fiction, generic identities are always visible. [...] Popular fiction announces those identities loudly and unambiguously: you know and need to know immediately that this is romance, or a work of crime fiction [...], or sci-

17 Der Literaturwissenschaftler Alastair Fowler (1982: 256) bestimmt Gattungen als Kommunikationssysteme »for the use of writers in writing, and readers and critics in reading and interpreting«. 16

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ence fiction, or fantasy, or horror, or a western, or an historical popular novel or an adventure novel« (Gelder 2004: 40-42).

Genres machen keine starren Handlungsvorgaben, sondern geben einen Rahmen vor, in dem kreativ agiert werden kann. Dies impliziert auch der auf S.J. Schmidt zurückgehende Begriff der ›Mediengattung‹, der Teil einer handlungs- und systemtheoretischen Konzeptualisierung von Medienhandeln ist: »Da in Medienhandlungssystemen Wirklichkeit hergestellt wird, indem Akteure auf Ähnlichkeit angelegte vernetzte und invariante Schematisierungen bilden, die sowohl im kommunikativen wie im kognitiven Bereich gelten, können Mediengattungen als strukturelle Kopplung von gesellschaftlichem und subjektivem Medienwissen, Medienwahrnehmung und Medienverstehen angesehen werden. Unter dieser Voraussetzung bilden Mediengattungen grundsätzlich den Ausgangspunkt dafür, dass in hochkomplexen modernen Gesellschaften konventionalisierte Handlungsroutinen für Überschaubarkeit und Handhabbarkeit des Medienhandlungssystems sorgen. Damit ist die Bedingung der Möglichkeit vorhanden, dass eine sozial anschlussfähige Zuordnung von Medienangebot und entsprechender Rezeption und Nutzung in der Praxis der einzelnen Akteure auch stattfindet« (Viehoff 2002: 126f.).

Der Wert von Gattungsregeln und -kategorisierungen gerade auf populärkulturellen Märkten ist offenkundig. Das Erstellen von Produkten innerhalb von Genrekonventionen ist noch keine Erfolgsgarantie, zumindest aber signalisieren diese Produkte den angezielten Konsumenten und Konsumentinnen, was sie zu erwarten haben und welche Handlungsmöglichkeiten das Genre gegebenenfalls bereithält. Buchhandlungen zum Beispiel offerieren populäre Literatur nach Sparten, und auch Mainstream-Spielfilme und Fernsehprogramme werden rubriziert. Labels wie ›Historischer Krimi‹, ›Historische Doku-Soap‹, ›Geschichtsdoku‹ sind heute in der historischen Angebotspalette etabliert. Eines der langlebigsten Erfolgsgenres der populären Geschichtsrepräsentation ist der historische Roman, der sich im 19. Jahrhundert in einem neuen Paradigma der Geschichtskultur manifestierte. Viele Genres der heutigen (populären) Geschichtsdarstellung haben ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert. Daher soll im Folgenden die im 19. Jahrhundert entstehende populäre Geschichtskultur kurz umrissen werden.18 18 Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass zwischen den populären Geschichtskulturen des 19. und des 20./21. Jahrhunderts vermutlich nicht nur Kontinuitäten, sondern auch Unterschiede bestehen. Angesichts des Forschungsstandes – die populäre Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts ist bisher nicht systematisch erforscht – können hier nur erste Hypothesen ge17

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Populäre Geschichtskultur im 19. Jahrhundert Erst im 19. Jahrhundert entwickelten sich die Voraussetzungen, unter denen sich eine populäre Geschichtskultur herausbilden konnte.19 Das 19. Jahrhundert war also nicht nur das Jahrhundert des Bürgertums, der Nationen, der Industrialisierung oder das Jahrhundert der Naturwissenschaften, der Ingenieurskunst und neuer Kommunikationstechnologien, sondern auch das Jahrhundert der Geschichte. Dies kann man an mehreren Befunden festmachen: Erstens wurde die Beschäftigung mit der Vergangenheit, und hier insbesondere mit der ›vaterländischen‹ Geschichte, seit dem späten 18. Jahrhundert zu einem wichtigen Mittel der individuellen wie kollektiven Identitätsstiftung. Das aufstrebende Bürgertum, die Nationalbewegungen oder neu aufkommende politische Bewegungen wie der Liberalismus und die Frauenbewegung legitimierten sich über Geschichte und machten mit Geschichte Politik. Insbesondere durch die Konstruktion von Nation über die Vorstellung einer gemeinsamen Vergangenheit erhielt die Beschäftigung mit Geschichte besonderen Auftrieb. Zweitens entstand seit Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Sicht auf Geschichte, hervorgerufen durch das Erleben eines radikalen, so noch nicht dagewesenen und auch nicht vorhersehbaren Wandels: Die Aufklärung, die amerikanische Revolution und die kolonialen Konflikte, die französische Revolution, die napoleonischen Kriege und in deren Gefolge territoriale Neuordnungen in Europa sowie die sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vollziehenden wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Veränderungen (Industrialisierung, Verkehrs- und Kommunikationsrevolution, Säkularisierung der Weltsicht) führten zu Verunsicherungen. Diese Entwicklungen zeigten gleichzeitig aber auch, dass Geschichte ›machbar‹ war. Geschichte konnte nicht mehr wie zuvor als statisch, als Wiederkehr des ewig gleichen menschlichen Verhalten angeseäußert werden, die überprüft werden müssten. So vermutet Aleida Assmann als qualitativen Unterschied eine unterschiedliche Gewichtung von Bildung und Konsum: »Was heute auf dem Geschichtsmarkt angeboten wird, präsentiert sich im Rahmen einer ›Aufmerksamkeitskultur‹ mit kurzen Konjunkturen, Impulsen und Effekten. [...] Geschichte ist – was die Präsentation angeht – vielfältiger, reizvoller, raffinierter geworden, was allerdings nicht heißt, dass sie deshalb weiter und tiefer verankert wäre. Diese Präsentation zielt weniger auf Wissen als auf emotionale Anteilnahme, Schaulust und Unterhaltung ab« (Assmann 2007: 191f.). 19 Vgl. in diesem Kontext auch Positionen der Forschung, die erst im 19. Jahrhundert eine popular culture ansetzen, z.B. Storey (2003: 1). 18

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hen werden. Erfahrungsraum und Erwartungshorizont (vgl. Koselleck 1989a und 1989b) traten auseinander. Geschichte wurde nun als prozesshaft, veränderbar und einzigartig wahrgenommen. Der Historismus, d.h. das Aufzeigen des historischen Gewordenseins gesellschaftlicher, politischer und geistiger Phänomene, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Paradigma der Weltdeutung und bestimmte auch das Denken in den Geistes- und frühen Sozialwissenschaften (Nipperdey 1983: 498-533). Der Geschichte kam damit seit den Jahrzehnten um 1800 eine neue Bedeutung zu: Sie sollte das Einzigartige jeder Zeit, das Gewordensein der Gegenwart, erklären und die Offenheit der Zukunft aushalten helfen. Durch die Erfahrung von Traditionsbrüchen erschien die Vergangenheit als von der Gegenwart distinkt; frühere Epochen wurden in ihrem Eigencharakter erkannt und mussten, so die neue Einsicht, von der Gegenwart aktiv angeeignet werden.20 Gleichzeitig wirkten jedoch auch noch die ›alten‹ Funktionen von Geschichte, nämlich moralisch, religiös und politisch zu belehren, fort. Drittens zeigte sich das verstärkte Bedürfnis nach einer Orientierung durch Geschichte in zahlreichen gesellschaftlichen und staatlichen Initiativen zur Geschichtserforschung und -vermittlung, die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelten.21 Die Etablierung und der Ausbau der Geschichtswissenschaft an den Universitäten ist hiervon nur ein Teil. Das Bedürfnis erwies sich genauso in der Entstehung einer populären Geschichtskultur. Das neue Geschichtsbewusstsein manifestierte sich »in den Künsten, in der Architektur, Malerei, Denkmalplastik und Innenraumgestaltung wie in der Geschichtsliteratur, den Historiendramen, historischen Romanen, Geschichtsballaden und -novellen« (Potthast 2007: 7). Und, so lässt sich hinzufügen, in historischen Bilderbögen oder Guckkästen, die auf Jahrmärkten präsentiert wurden, in Sammelbildern,

20 Georg Lukácz betont schon in seiner klassischen Studie zum historischen Roman diesen Umbruch im Geschichtsbewusstsein: »Erst die Französische Revolution, die Revolutionskriege, Napoleons Aufstieg und Sturz haben die Geschichte zum Massenerlebnis gemacht, und zwar im europäischen Maßstabe. Während der Jahrzehnte zwischen 1789 und 1814 hat jedes Volk Europas mehr Umwälzungen erlebt als sonst in Jahrhunderten« (Lukácz 1955: 15). Diese Erfahrung, so Lukácz weiter, »muß das Gefühl, daß es eine Geschichte gibt, daß diese Geschichte ein ununterbrochener Prozeß der Veränderung ist und daß endlich diese Geschichte unmittelbar ins Leben eines jeden einzelnen eingreift, außerordentlich erstarken«. 21 Dazu zählt z.B. auch die Einführung von Geschichtsunterricht an deutschen Volksschulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Pandel 1997: 526-527); zu den privaten, staatlichen und kommunalen Initiativen vgl. u.a. Speitkamp (1996), Kunz (2000) und Hakelberg (2004). 19

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in Dioramen und Panoramen, in historischen Festumzügen, der Darstellung lebender historischer Bilder, der Inszenierung historischer Orte als Erinnerungsstätten, der bürgerlichen Denkmalskultur sowie in historischen Artikeln der aufkommenden illustrierten Massenpresse, wie etwa der Gartenlaube.22 Schließlich waren es im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht nur die mentalen, sozialen und politischen Entwicklungen, sondern ebenso die Möglichkeiten zur massenmedialen Verbreitung und das Entstehen eines signifikanten Marktes, die das neue Interesse an Geschichte beförderten. Das Mediensystem des 19. Jahrhunderts bot zahlreiche mediale Möglichkeiten zur Befriedigung dieses Interesses, mit Angeboten in der visuellen Kultur, im Theater und nicht zuletzt im gedruckten Wort. Zeitschriften und Bücher wurden dank technischer Voraussetzungen massenhaft produziert und erreichten gegen Ende des Jahrhunderts aufgrund zunehmender Alphabetisierung ein immer breiteres Publikum, das schließlich über das (Bildungs-)Bürgertum hinausging. Nicht nur gab es eine Vielfalt von Produkten in einzelnen Mediengattungen, es kam auch bereits zu Medienkonvergenzen: Der historische Roman zum Beispiel wurde illustriert, inspirierte Gemälde und wurde für das Theater adaptiert; er selbst orientierte sich mit detaillierten Beschreibungen an der Historienmalerei und mit spannenden Handlungen und lebhaften Dialogen an Elementen des Dramas.23

22 Einen knappen Überblick zu den Erscheinungsformen populärer Geschichtskultur im 19. Jahrhundert bietet Paletschek (2009b). Vgl. ferner zu verschiedenen historischen Genres Daniel (1996), zu Historienzügen Hartmann (1976) und Bauer (2006), zu Panoramen Weidauer (1996) und Baldus (2001), zur Historienmalerei u.a. Hager (1989), zu Sammelbildern Jussen (2002). 23 Billie Melmans (2006) Beobachtungen zur Entwicklung der englischen Geschichtskultur vom frühen 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sind zum Teil auf andere (europäische) Geschichtskulturen übertragbar; vergleichende Untersuchungen hierzu stehen allerdings noch aus. Melman stellt unter anderem eine Demokratisierung von Geschichte, eine Interaktion von Geschichtsnarrativen und -bildern der verschiedenen Genres sowie zwischen Produzent/innen und Konsument/innen fest. 20

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Geschichte in Printmedien Spielarten des Romans Gerade am historischen Roman lässt sich die Geschichtskonjunktur des 19. Jahrhunderts in ihren charakteristischen Elementen veranschaulichen. Man kann auch argumentieren, dass der sensationelle Erfolg dieses Genres ein Motor des damaligen Geschichtsbooms war und Elemente etablierte, die bis heute die populäre Geschichtsdarstellung prägen. Der überwältigende Erfolg Sir Walter Scotts zu Beginn des 19. Jahrhunderts löste eine Mode aus. In Europa und in Übersee war der historische Roman vor allem im ersten und letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bei Lesern und Leserinnen überaus populär: Im deutschen Sprachraum machte er fast die Hälfte der gesamten Romanproduktion aus (Potthast 2007: 29), in anderen Ländern waren die Zahlen ähnlich hoch. Nach Waverley (1814) verfasste Scott bis zu seinem Tod im Jahr 1832 über zwanzig weitere Romane in diesem Genre, die sich bereits in den teuren Erstausgaben in für die damalige Zeit sehr hohen Zahlen verkauften. Über Leihbüchereien erreichten Scotts Romane auch Leser, für die der Kauf unerschwinglich gewesen wäre. Ein Zeitgenosse, Thomas Love Peacock, attestierte Scott »the rare talent of pleasing all rank and classes of men, from the peer to the peasant« (zit. nach Hayden 1970: 144). Auch über nationale Schranken hinweg löste Scott Begeisterung aus (vgl. für die USA Hart 1950: 73-75), und es wird kolportiert, dass Leopold von Ranke durch die Lektüre der Romane zur Geschichtsschreibung kam. Historische Romane gab es zwar schon vor Scott (vgl. Reitemeier 2001), doch erst Scott löste die Erfolgswelle aus. Er fand viele (und ebenfalls erfolgreiche) Nachfolger (vgl. Pittock 2006) auf allen ästhetischen Niveaus des literarischen Schaffens, von Leo Tolstoi, Alessandro Manzoni, Honoré de Balzac, Victor Hugo, James Fenimore Cooper und Wilhelm Hauff bis zu Edward Bulwer-Lytton (The Last Days of Pompeii, 1834), Luise Mühlbach und Felix Dahn (Ein Kampf um Rom, 1876).24 Definitionen des historischen Romans variieren, doch lässt sich als Kern des Gattungsverständnisses ausmachen, dass er sich auf ein Geschehen in einer bestimmten, dem Leser bekannten historischen Epoche bezieht: »Historisch meint hier demnach ›epochenspezifische, kollektiv vorgewußte Wirklichkeit betreffend‹« (Schabert 1981: 1). Der prototypi24 Zu Ästhetik, Ideologie, Geschichte und Vorgeschichte des historischen Romans gibt es zahlreiche Publikationen. Ina Schabert (1981) vermittelt einen fundierten Einblick zum Stand der Forschung bis in die 1970er Jahre; vgl. danach u.a. Müllenbrock (1980), Borgmeier/Reitz (1984), Aust (1994), Orel (1995), Lampart (2002), Samuels (2004) und Rigney (2008). 21

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sche historische Roman ist zudem durch eine charakteristische Erzählhaltung gegenüber der Vergangenheit, ein nachzeitiges Erzählen, gekennzeichnet. Die Betonung der Differenz zwischen der Vergangenheit und der (Leser-)Gegenwart erfolgt in Scotts Waverley bereits im Untertitel: »’tis Sixty Years Since« (Scott 1814). Scotts heterodiegetische, d.h. außerhalb der historischen Erzählhandlung stehende, Erzähler betonen die Historizität und die Fremdheit der von ihnen geschilderten Welt sowie ihre eigene Zeitgenossenschaft mit den Lesern, für die sie die Vergangenheit vergegenwärtigen. So macht der Erzähler in Ivanhoe (1819) ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Dialoge nicht in der Sprache des Mittelalters, sondern im Englisch des frühen 19. Jahrhunderts wiedergegeben werden.25 Für Autoren des historischen Romans – bzw. die sie vertretenden Erzählinstanzen im Text – stellt sich die Aufgabe, die Vergangenheit, z.T. mit Hilfe von Quellen, zu rekonstruieren und für die Leser sinnhaft zu machen. Historische Romane haben dank ihres mehr oder weniger faktischen Gehalts durchaus ein informatives Moment (das sie im 19. Jahrhundert zu einer ›respektablen‹ Form des Romans machte). Sie wollen Geschichte aber nicht nur zum Nutzen, sondern auch zum Vergnügen präsentieren: Der historische Roman verlebendigt Geschichte und veranschaulicht sie, indem er eine vergangene Lebenswelt durch zahlreiche ›authentische‹ Details – etwa in Bezug auf Kleidung und Sitten der Figuren – konstruiert.26 In der für den historischen Roman charakteristischen Synthese von Fakt und Fiktion wird eine Erfahrungswelt simuliert,27 deren Erfahrungszentrum in der Regel nicht die authentischen historischen Akteure sind (die oft nur am Rande der Handlung vorkommen), sondern imaginierte Figuren, die im historischen Szenario ihren persönlichen Lebensweg gehen und dabei von den großen Ereignissen ihrer Zeit berührt

25 »The dialogue which they maintained between them was carried on in Anglo-Saxon, which, as we said before, was universally spoken by the inferior classes, excepting the Norman soldiers and the immediate personal dependants of the great feudal nobles. But to give their conversation in the original would convey but little information to the modern reader, for whose benefit we beg to offer the following translation [...]« (Scott 1897: 26f.). 26 Scott konnte hier auf vorliegende Kultur- und Sittengeschichten zurückgreifen, wie Robert Henrys History of Great Britain on a New Plan (177193) oder Joseph Strutts Werke zu Kleidung und Sitten (1796) oder Spielen (1801). 27 Zur Debatte um den historischen Roman als hybride Gattung zwischen Fakt und Fiktion vgl. Schabert (1981: 10-17) und speziell zu Scott die Studie von Kerr (1989). 22

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werden. Diese Figuren eröffnen den Lesern Möglichkeiten der Empathie und des ›Miterlebens‹. Wie Ina Ferris (1991) zeigte, lag der Erfolg des Scottschen Modells in der Fusion von »gothic romance and antiquarian study, of the ›female‹ romance and high-status history, which ensured that it succeeded in having a broad appeal, reaching groups who would not normally have read novels, or, alternately, historiography« (Rigney 2008: 83). Nach den ersten Konjunkturen der Gattung im 19. Jahrhundert nahm das 20. Jahrhundert eine ambivalente Einstellung zum historischen Roman ein. Man kann hier eine endgültige Trennung von einem ›hochliterarischen‹ und einem ›unterhaltungsliterarischen‹ historischen Erzählen beobachten;28 letzteres wurde dann von der Literatur- und der Geschichtswissenschaft allenfalls abwertend zur Kenntnis genommen. Aber gerade in populären Formen hat der historische Roman für ein Breitenpublikum bis heute überlebt und erfüllt Geschichtsbedürfnisse.29 Mit historischen Romanen werden noch immer hohe Auflagenzahlen erzielt, sie sind im Angebot von Buchclubs vertreten,30 und sie werden im Internet diskutiert.31 Dies gilt vor allem für die Spielart der historical romance32 und ihre diversen Untergenres wie Liebesroman und Familiensaga, zu deren bekanntesten Autorinnen Victoria Holt, Catherine Cookson und 28 Diese Trennung setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein, als sich der Buchmarkt nach Leserschaften und Märkten stark differenzierte; vgl. dazu allgemein Bloom (2002: 12f.). 29 In diesem populärliterarischen Sektor konnten besonders englische und amerikanische Autorinnen und Autoren weltweite Erfolge verzeichnen: in den 1930er und 1940er Jahren z.B. Jeffrey Farnol und Georgette Heyer (mit Romanen über die Regency-Epoche) und C.S. Forester (mit seiner Hornblower-Serie). In den USA war Hervey Allen mit Anthony Adverse (1933), einem Roman über die napoleonische Ära, so erfolgreich, dass er eine Welle historischer Romane auslöste, einschließlich Margaret Mitchells Gone With the Wind (1936). Für die 1950er Jahre ist Mary Renault mit ihren Romanen über die klassische Antike zu nennen. 30 Im Bertelsmann-Angebot etwa fanden sich im Januar 2009 z.B. Tanja Kinkels Säulen der Ewigkeit, Frank Schätzings Tod und Teufel und Ken Folletts Die Tore der Welt (Internetseite für den Januar-Katalog: http:// katalog.derclub.de/januar (Zugriff am 24. März 2009). 31 Vgl. die Website histo-couch: http://www.histo-couch.de (Zugriff am 24. März 2009). 32 Im englischen Sprachraum bezeichnet romance Abenteuer- und Liebesromane. Die historical romance war dort seit den 1880er Jahren beliebt, zunächst auch bei männlichen Lesern (in Form des Abenteuerromans); erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde die historical romance zunehmend zur Lektüre für Frauen (Hughes 1993 und Gelder 2004: 46-49). 23

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Barbara Cartland gehören. Sie alle haben eine Vielzahl von Titeln produziert, Cartland in geradezu industriellem Ausmaß, mit über 600 Titeln bis zu ihrem Tod. Auf dem heutigen Buchmarkt wird mit historischen Roman(z)en, wie in vielen anderen Sparten der Unterhaltungsliteratur, vor allem eine weibliche Leserschaft adressiert,33 der neben Unterhaltung nicht selten eine ›andere‹ Geschichtsschreibung angeboten wird, die weibliche Handlungsräume ins Zentrum stellt: »›History‹ has traditionally excluded women, but paradoxically the ›historical novel‹ has offered women readers the imaginative space to create different, more inclusive versions of ›history‹, which are accessible or appealing to them in various ways« (D. Wallace 2005: 3).34 Die weiblichen Figuren dieser Romane wirken in ihren Meinungen und Verhaltensweisen oft anachronistisch modern und erweisen sich in ihrem historischen Szenario nicht selten als Rebellinnen. Für heutige Leserinnen und Leser wird damit eine Brücke in die Vergangenheit geschlagen, was zum Erfolg mancher Romane wesentlich beitragen dürfte. Als Beispiel kann die emanzipierte Protagonistin in Astrid Fritz’ Die Hexe von Freiburg (2003) angeführt werden; das Taschenbuch erschien im März 2009 bereits in 19. Auflage. Wie in diesem Fall sprechen historische Romane oft auch eine regionale oder gar lokale Leser(innen)schaft an, der historische Details etwa der Stadt- oder Landschaftsbeschreibung in besonderer Weise ›authentisch‹ erscheinen, da sie teilweise in eigener Anschauung nachvollzogen werden können. Mit dem historischen Roman aus der Sicht des ›Praktikers‹, in diesem Fall des Schriftstellers, beschäftigt sich der erste Beitrag des vorliegenden Bandes. PETER PRANGE, erfolgreicher Autor historischer Romane, die in unterschiedlichen europäischen Kulturräumen vom 17.-20. Jahrhundert angesiedelt sind und allesamt weibliche Protagonisten haben, äußert sich zur Popularität der Gattung und zu seiner eigenen Arbeitsweise.35 Pranges realistisch erzählte Romane können, so eine Kun33 Vgl. Bloom (2002: 52): »The predominance of women readers (and their concomitant demands on theme and character) meant that by the 1980s [...] more and more books used a female as a central character. Being womenled, by the late twentieth century the book market (in fiction) had no choice but to cater for such readers’ needs«. Es gibt allerdings auch populärliterarische Genres mit einer männlich dominierten Leserschaft; vgl. etwa Michael Butters Beitrag zur alternate history in diesem Band. 34 Vgl. auch McCracken (1998: 98) zur Familiensaga: »A radical function of the family saga is to put the contradictions of femininity at the centre rather than at the margins of a historical narrative«. 35 Prange verfasste eine Dissertation zur Philosophie und Sittengeschichte der Aufklärung, Das Paradies im Boudoir: Glanz und Elend der erotischen Li24

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denrezension, als »Sozialgeschichte im Gewand der leichten Muse« beschrieben werden.36 Wie der klassische historische Roman erzählen sie spannende, individuelle Geschichten, haben ein hohes Empathiepotential,37 konstruieren ihre historische Welt mit einem Reichtum authentischer Details und sind in einem historischen Setting angesiedelt, das Bezüge zu aktuellen Zeitthemen erlaubt und sorgfältig recherchiert wurde. Wie in anderen historischen Romanen bieten Anhänge und Glossare Information und teilweise auch Reflektion über das historische Erzählen.38 Auch im Kriminalroman hat Geschichte seit einiger Zeit Konjunktur,39 und sie ist selbst mit Science Fiction kompatibel. Zeitreisen in die Vergangenheit sind von jeher ein beliebtes Element dieses Genres, auch

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bertinage im Zeitalter der Aufklärung (1990). Zu Pranges erfolgreicher Weltenbauer-Trilogie gehören: Die Principessa (2002), angesiedelt im Rom des 17. Jahrhunderts, Die Philosophin (2003), über das Frankreich der Aufklärung, sowie Die Rebellin (2005), ein Roman über das viktorianische England. Die Werbeseite des Verlags im Internet betont die lebensweltliche Relevanz der Romane für die heutige Gegenwart: »Peter Prange fesselt seine Leser mit Geschichte und entführt sie in Welten, in denen ihr eigenes Denken wurzelt« (http://www.droemer-knaur.de/magazin/Peter+Prange+ %C3%BCber+sein+neues+Buch.1980.html. Zugriff am 24. März 2009). Das gilt auch für Der letzte Harem (2007), der die Genese der modernen Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Thema hat und der Leserschaft damit u.a. die Geschichte einer heutigen Migrantengruppe erschließt. Kundenrezension auf Amazon.de vom 5. Januar 2007: »Das Sitten- und Sozialgemälde, das Peter Prange zeichnet, ist lebendig, realitätsnah und liest sich spannend« (http://www.amazon.de/Die-Rebellin-Peter-Prange/ dp/3426631601. Zugriff am 15. April 2008). In einer öffentlichen Diskussionsrunde auf der Tagung am 17.4.2008 begründete Prange seine bevorzugte Schreibweise, die erlebte Rede, damit, dass die Leser dadurch unmittelbar an den Denk- und Wahrnehmungsweisen der Figuren partizipieren könnten: »Ich schreibe viel in erlebter Rede, immer jedes Kapitel aus einer anderen Figur, meistens der hauptbetroffenen Figur«. In der Rebellin etwa äußert sich der Autor im Anhang über das Verhältnis von Fiktion und Fakt: »Von der Hauptfigur […] wissen wir heute kaum mehr, als dass es sie gegeben hat. Das eröffnete mir die Freiheit, ihr individuelles Schicksal mit den großen geschichtlichen Ereignissen zu verknüpfen, in einem Wechselspiel von Imagination und historischer Rekonstruktion. […] Folgende Ereignisse, die im Roman zur Sprache kommen, gelten in der Forschung als gesichert: [...]« (Prange 2007: 546). Vgl. den Sammelband von Korte/Paletschek (2009) sowie die Monografien von Saupe (2009) und Müller/Ruoff (2007). 25

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in Film und Fernsehen.40 Da das Thema Zeitreise unmittelbar die Frage nach Zusammenhängen von Vergangenheit und Gegenwart aufwirft, kann es neben der Unterhaltung auch eine geschichtsreflexive Ebene ansprechen. Dieses reflexive Moment kennzeichnet in besonderer Weise das florierende Genre der alternate history, die ab einem bestimmten ›Verzweigungspunkt‹ eine andere Entwicklungslinie der Geschichte als die faktisch geschehene konstruiert und einen Geschichtsverlauf darstellt, der hätte geschehen können und dessen Fiktivität in gewissen Grenzen Erwartungen an historische Plausibilität und Authentizität nicht verletzt. Dieses Genre setzt also in besonderem Maße eine »kollektiv vorgewußte Wirklichkeit« (Schabert 1981: 1) voraus, da sonst die Abweichungen nicht ersichtlich werden. Der Zweite Weltkrieg und das Dritte Reich sind besonders häufig Gegenstand alternativhistorischer Romane, wie etwa in dem Bestseller Fatherland von Robert Harris (1992) oder, um ein deutsches Beispiel zu nennen, in Christian von Ditfurths Der Consul (2003). Das Genre wird in Fangemeinden rezipiert,41 ist heute aber – insbesondere auch durch Film und Fernsehen – größeren Rezipientenkreisen bekannt. Unter der Bezeichnung ›kontrafaktische Geschichtsschreibung‹ beschäftigt sich auch die Geschichtswissenschaft mit diesem Phänomen.42 Der Historiker Gavriel Rosenfeld diagnostiziert als Grund für die wachsende Beliebtheit des Genres u.a. eine Affinität zu einem postmodernen Geschichtsbewusstsein: »Of late, other cultural and political trends have promoted alternate history’s departure from the margins to the mainstream. The rise of postmodernism, with its blurring of boundaries between fact and fiction, its privileging of ›other‹ or alternate voices, and its playfully ironic reconfiguring of established historical verities, has encouraged the rise of alternate history. The gradual discrediting of political ideologies in the postwar world, culminating with the death of socialism and the end of the cold war, has eroded the power of deterministic worldviews and thus further boosted the central allohistorical principle that every40 Ein bis heute beliebter und mehrfach verfilmter Klassiker der Zeitreiseliteratur ist Mark Twains A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court (1889); ein Fernseherfolg der späten 1960er Jahre war die amerikanische Serie Time Tunnel; im Bereich des Spielfilms zu nennen sind u.a. die Back to the Future-Triologie (1985, 1989, 1990) und die Zeitreisen- und Geschichtsparodie Time Bandits (1981). 41 Die Webseite http.//www.uchronia.net (Zugriff am 24. März 2009) ist auf das Genre einschließlich seiner diversen Unterarten (wie steam punk) spezialisiert. 42 Vgl. u.a. die Beiträge in Ferguson (1997), Salewski (1999), Ritter (1999), Demandt (2001), Collins et al. (2004) sowie Rosenfeld (2005). 26

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thing could have been different. Recent trends in the world of science, such as chaos theory, have also worked to reduce the power of deterministic thinking and have thus encouraged alternate history. Lastly, the information revolution, by liberating human beings from the constraints of real space and time through cyberspace and virtual reality, has given us the confidence to break free of the constraints of real history as well« (Rosenfeld 2002: 92).

Kontrafaktisches Denken als Auseinandersetzung mit verworfenen Alternativen ist – auch jenseits der expliziten kontrafaktischen Geschichte – ein integraler Bestandteil historischen Denkens und seiner Erklärungsversuche. Der Erkenntniswert der kontrafaktischen Geschichte für die Geschichtswissenschaft liegt z.B. darin, dass die Multiperspektivität, die Offenheit, aber auch die Strukturzwänge historischer Situationen bewusst gemacht werden können und – bestenfalls – die Beschäftigung mit Geschichte reflektiert wird. Im vorliegenden Band zeigt der Beitrag von MICHAEL BUTTER anhand US-amerikanischer Beispiele, dass alternativhistorische Romane sowohl ein affirmatives als auch revisionistisches Potential haben und in einer populären Form zur Reflexion über Geschichtskonstruktionen anregen. Auch für die populärwissenschaftliche Geschichtsrepräsentation in den Medien bieten kontrafaktische Muster einen attraktiven Zugang, wie etwa in der Radioserie What If im vierten Radioprogramm der BBC.43 Das didaktische Potential kontrafaktischer Geschichte ist in jüngerer Zeit ebenfalls gewürdigt worden (vgl. Erdmann Fischer 1999). Generell haben populäre Genres für die Geschichtsvermittlung ein hohes Potential. Am Beispiel von historischen Romanen und Filmen bzw. Fantasy-Literatur, die Mittelaltermythen thematisieren oder eine auf Strukturmodellen des Mittelalters aufbauende Secondary World entwerfen, untersucht dies NICOLA EISELE. Während die herkömmliche Vermittlung mittelalterlicher Geschichte in der Schule häufig als frustrierend und unattraktiv empfunden wird, finden fiktive Mittelalterinszenierungen (wie in den Romanen Tolkiens oder in diversen Filmproduktionen) in der Jugendszene einen breiten Zuspruch und haben eine altersgemäße Anschlussfähigkeit, die sich didaktisch nutzen lässt. Fiktive oder mythische Geschichtserzählungen können einen ›Türöffner‹ zum Mittelalter darstellen und ein Interesse wecken, das dann ggf. auch mit historischen Sachbüchern weiter befriedigt wird.

43 http://www.bbc.co.uk/radio4/history/whatif/what_if.shtml (Zugriff am 10. April 2009). 27

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Historisches Sachbuch Angesichts der Markterfolge historischer Romane und der Erfolgsquoten historischer Spielfilme und Fernsehdokumentationen scheint das historische Sachbuch heute an Bedeutung zurückzutreten. Dennoch hält es sich seit dem 19. Jahrhundert konstant auf dem Markt und kann auch im 20. Jahrhundert und bis heute noch eine zahlenmäßig nicht zu unterschätzende (tendenziell eher männliche) Leserschaft erreichen.44 Geschichtsproduktionen in anderen Medien und Genres werden vielfach von historischen Sachbüchern begleitet. Historische Sachbücher als Segment des Buchmarktes machten in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Durchschnitt um die 5 bis 8 Prozent aus, in den kommerziellen Leihbibliotheken stellten sie etwa ca. 3-5 Prozent des Bestandes dar (Nissen 2009: 92; 145). Allerdings konnten selbst die populärsten ›Sachbuchautoren‹, wie Louis Adolphe Thiers, Thomas Babington Macaulay, Wilhelm Heinrich Riehl, Gustav Freytag und Johannes Scherr, nicht mit den erfolgreichen Autoren historischer Romane konkurrieren.45 In der populären Geschichtsschreibung hatten ›Außenseiter‹, die von der universitären Geschichtswissenschaft ausgeschlossen waren, wie viele ehemalige 1848er Revolutionäre, Frauen und Sozialisten, die Möglichkeit, ein breites Publikum zu erreichen. Viele der populären Geschichtsschreiber schrieben eine affir44 Zum (historischen) Sachbuch vgl. Hardtwig/Schütz (2005), Blaschke/ Schulze (2006), Estermann/Schneider (2007) sowie Oels/Hahnemann (2008). 45 Unter den historischen Sachbüchern belegten die allgemeinen Geschichten bzw. Weltgeschichten der Aufklärungshistoriker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts stets die vordersten Plätze, so etwa Karl von Rottecks Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten (1812-1816), die bis Ende des 19. Jahrhunderts in 25 Auflagen und mehr als hunderttausend Exemplaren verbreitet war. Seit den 1840er Jahren drang auch die deutsche Nationalgeschichte vor, doch war diese flankiert von einem lebhaften Interesse an anderen, nicht-deutschen Nationalgeschichten sowie um 1900 vom neuen Aufschwung der Weltgeschichte, der auf den Imperialismus und die fortschreitende Globalisierung in diesen Jahrzehnten antwortete (vgl. Bergenthum 2004). Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zählten Werke französischer und britischer Historiker – so vor allem Thomas Babington Macaulays vierbändige Geschichte von England (1849/1850 erschienen) – auch in Deutschland zu den Bestsellern. Auffällig ist ferner die große Popularität der kulturgeschichtlichen Werke Riehls oder Scherrs, die zahlenmäßig die politikgeschichtlichen Werke der führenden Universitätshistoriker übertrumpften. Vgl. hierzu und zu den folgenden Befunden im Text Nissen (2009). 28

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mative Aufstiegsgeschichte der deutschen Nation fort, doch griffen sie auch Themen auf, die von der universitären Fachwissenschaft vernachlässigt wurden (wie etwa Kulturgeschichte), oder sie ermöglichten sozialistische oder katholische Geschichtsdeutungen (Langewiesche 2008d: 88). Dieses innovative und multiperspektivische Potential wurde allerdings nicht reflektiert. Bis 1880 waren noch häufiger Universitätsprofessoren unter den Autoren der populären Geschichtsbücher vertreten, etwa von Rotteck, von Raumer, Schlosser oder auch Ranke. Nach 1880 zeichnete sich hier ein Bruch ab (Nissen 2009: 318), und die sich verwissenschaftlichende universitäre Geschichtsschreibung war nun in der Regel so spezialisiert, dass sie das breitere bildungsbürgerliche Publikum nicht mehr erreichen konnte.46 War die moderne wissenschaftliche Geschichtsschreibung in ihren Anfängen seit dem späten 18. Jahrhundert durch die Durchsetzung der Erzählung und die Abkehr von älteren, chronologischen und kompilatorischen, Darstellungen zunächst für eine breitere Öffentlichkeit interessant geworden, büßte sie mit zunehmender Verwissenschaftlichung und Spezialisierung an Attraktivität ein. Diese Trennung zwischen akademisch-universitärer und populärer Geschichtsschreibung war allerdings (und ist vermutlich bis heute) in Deutschland stärker ausgeprägt als in Großbritannien und den USA. Die Anziehungskraft der frühen modernen Geschichtsschreibung eines Leopold von Ranke oder Thomas Babington Macaulay war nicht nur durch deren Themen, sondern vor allem auch durch deren Schreibstil bedingt; so heißt es über Macaulays History of England: »The History was so popular not only because it was the success story of what so many Victorians wanted to believe in, Protestantism, progress, balance and the acceleration of improvement, but because of it style and its approach. This history was not the dry narration of facts. This was history with a hero, history with a sense of drama and the significant detail, history written by a historian who adulated Scott the writer of fiction, and felt that all historians could and should learn from him« (Calder 1977: 34).

In der populären Geschichtsschreibung wurde diese Tradition weitergeführt, gleichzeitig übernahmen die ›populären‹ Historiker und Historikerinnen selbstverständlich auch moderne wissenschaftliche Praktiken wie 46 Die in der deutschen Historiographiegeschichte als besonders einflussreich erinnerten Historiker waren beim breiteren bildungsbürgerlichen Lesepublikum also oft eher weniger erfolgreich. Eine gewisse Ausnahme stellten hier lediglich Leopold von Ranke sowie eingeschränkt auch Johann Georg Droysen und Theodor Mommsen dar. 29

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die Arbeit mit Quellen. Quellenzitate wurden sogar zu einer Methode des populären Schreibens, da die gemeinsame Quellenerfahrung ein engeres Verhältnis von Autor und Leser sowie die Möglichkeit der Identifikation mit dem Stoff bot (Nissen 2009: 324). MARTIN NISSENs Beitrag im vorliegenden Band untersucht mit Werner Maser einen Bestsellerautor zeithistorischer Sachbücher im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und fragt nach dessen Selbstverständnis und Verhältnis zur Fachwissenschaft sowie den Methoden und Formen seines populären Schreibens. Während im späten 19. Jahrhundert den populären Geschichtsautoren der explizite Bezug auf die Fachwissenschaft zunächst als Ausweis der Zuverlässigkeit und Qualität ihrer Darstellung galt, gewannen sie im 20. Jahrhundert zunehmend an Selbstbewusstsein. Sie nahmen nun für sich in Anspruch, die innovativere Geschichte zu erzählen und auch neue Fakten zu präsentieren. Das lässt sich auch am Beispiel Werner Masers festmachen, der für seine Bücher, die sich hauptsächlich mit dem Nationalsozialismus und der Biographie bekannter deutscher Nachkriegspolitiker beschäftigten, extensiv recherchierte und ein Privatarchiv aufbaute. Von der Fachwissenschaft wurde er weitgehend ignoriert und wegen seiner unstrukturierten Herangehensweise und seines positivistischen Wissenschaftsverständnisses kritisiert. Maser gelang es jedoch, sein Publikum durch die scheinbare Kraft des Faktischen und seine investigative Präsentation zu überzeugen.47 Er bot mit einer bis ins kleinste, nebensächlichste Detail ausgeschmückten und viele Aspekte relativ wahllos aneinanderreihenden Darstellung multiple Anknüpfungsmöglichkeiten an die Lebenswelten seiner Leser und Leserinnen. Geschichtscomics Sachbücher sind häufig illustriert, wollen Anschaulichkeit im wörtlichen Sinn auch über das Bild schaffen. Hat das Bild im Sachbuch (oder auch in populärwissenschaftlichen Zeitschriften) häufig einen sprachunterstützenden Charakter, ist es in anderen medialen Formen zentraler Sinnträger. Unter den Printmedien gilt dies besonders für die dezidiert populärkulturelle und intermediale Bilderzählung des Comic-Strip (bzw. der Langform der graphic novel). Elemente des Strip-Comics sind in andere Medien eingegangen: Der Film hat den Comic animiert und adapiert und dabei auch historische und zeithistorische Themen aufgegriffen, von

47 Vgl. zum popularisierenden Moment des Investigativen auch die Beiträge von Thomas Fischer und Birgit Heidtke im vorliegenden Band. 30

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Sparta in 300 (2007) bis zum Libanonkrieg in Waltz with Bashir (2008). Nicht zuletzt das Computerspiel ist durch den Comic inspiriert. Dem Comic, der nicht nur von Jugendlichen, sondern auch Erwachsenen konsumiert wird, hat die Literatur- und Kulturwissenschaft in jüngster Zeit zunehmende Beachtung geschenkt. In ihrer spezifisch historiographischen Dimension bietet die Strip-Erzählung jedoch noch viel Forschungspotential.48 Zu den bekanntesten – und gleichzeitig sehr gegensätzlichen – Beispielen historischer Comics gehören die kindertaugliche, auf Komik und Witz ausgelegte Astérix-Reihe von Sempé und Goscinny (seit 1961) und Art Spiegelmans Maus: A Survivor’s Tale (1986), dessen Darstellung des Holocaust in drastischen Schwarz-Weiß-Bildern und mit einem ›verfremdeten‹ Personal Kontroversen auslöste.49 KEES RIBBENS betrachtet im vorliegenden Band eine Reihe holländischer und französischer Print-Comics, die den Zweiten Weltkrieg thematisieren und teilweise schon während des Krieges entstanden. Auch in diesen Comics vermischen sich fiktive Geschichtsbilder mit faktischen, und sie haben eine hohe Relevanz für das Entstehen nationaler Geschichtsbilder und nationaler Identität. So stellten die untersuchten Comics zum Zweiten Weltkrieg dieses globale Ereignis ausschließlich im nationalen Kontext dar und sparten den Holocaust aus. Gemeinsam war den holländischen und französischen Comics, dass sie Kollaboration weitgehend ausblendeten, durch diese Auslassungen in ihren Narrativen eine stolze Erfolgsgeschichte konstruierten und den Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft mit früheren ›ruhmvollen‹ Epochen ihrer Nationalgeschichte – so etwa mit dem niederländischen Befreiungskriegen des 16./17. Jahrhunderts gegen Spanien – verbanden. Ribbens schließt mit Überlegungen, wie Comics zur nationalen Identitätsbildung beitragen und welche Rolle hier der Vergangenheitsbezug spielt. Er plädiert dafür, auch danach zu fragen, wie Historiker und Historikerinnen

48 Zu Spiegelman vgl. Munier (2000), Witek (1989) und Platthaus (2000). Zu Asterix vgl. Brodersen (2001). Zu Comics über den Ersten Weltkrieg vgl. Grote (2008). 49 Der Klappentext der britischen Ausgabe (1987) hält fest: »Maus is the story of Vladek Spiegelman, a Jewish survivor of Hitler’s Europe, and of his son, a cartoonist who tries to come to terms with his father, his father’s terrifying story, and History itself. Its form, the cartoon (the Nazis are cats, the Jews mice) succeeds perfectly in shocking us out of any lingering sense of familiarity with the events described, approaching, as it does, the unspeakable through the diminutive. [...] Put aside all your preconceptions. These cats and mice are not Tom and Jerry, but something quite different. This is a new kind of literature«. 31

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selbst gegebenenfalls durch Comic-Lektüre in ihren Geschichtsbildern beeinflusst werden.

Geschichte audiovisuell: Film und Fernsehen Historienfilm Das Kino und das Fernsehen gehören zu den wirkungsmächtigsten Medien, in denen Geschichtsbilder, im konkreten wie im übertragenen Sinn, heute einem Breitenpublikum vermittelt werden.50 Für den Historiker Robert Rosenstone (2006: 15) sind historische Spielfilme »the most important form of history in the visual media«. Dies erweist sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass Historienfilme explizit zu Propagandazwecken produziert wurden, wie im Dritten Reich zum Beispiel Kolberg (1945). Geschichtsfilme lösten auch, wie Robert Burgoyne (2008: 1) für die USA hervorhebt, öffentliche Debatten aus: »The history film has played an exceptionally powerful role in shaping our culture’s understanding of the past, an influence that derives not simply from the cinema’s unequaled ability to re-create the past in a sensual, mimetic form, but also from its striking tendency to arouse critical and popular controversy that resonates throughout the public sphere. American films centered on the past have often met with a dramatic public response; they typically are both celebrated for their verisimilitude and decried for their departures from accepted historical facts«.

Historienfilme können bestehende Geschichtsbilder bestätigen wie auch revidieren, indem sie historische Ereignisse etwa aus der Sicht marginalisierter Gruppen darstellen. Beispielsweise stellt der Film Glory (1989) die Beteiligung schwarzer Soldaten am amerikanischen Bürgerkrieg heraus. Für den internationalen Markt produzierte Filme können dazu beitragen, bislang eher national verbreitete Geschichtsnarrative zu globalisieren; der Stauffenberg-Film Valkyrie etwa, der Anfang 2009 in die Kinos kam, stellt den weltweit (nicht zuletzt durch den Film) verbreiteten Stereotypen über Nazi-Deutschland explizit das Bild auch eines ›anderen‹ Deutschland gegenüber.

50 Zum historischen Spielfilm vgl. u.a. Sorlin (1980 und 2001), Rother (1989), Landy (2001) und Slaniþka (2007); zur Wirkung des Spielfilms auf Geschichtsvorstellungen und ihre öffentliche Diskussion vgl. u.a. Toplin (2002: 5) und Meier/Slaniþka (2007: 7). 32

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Die Wirkungsmacht filmischer Bilder beruht nicht nur auf ihrer massenmedialen Verbreitung. Sie haben vor allem eine hohe Suggestionsund Illusionswirkung, da sie dem Publikum mit fotografischen Bildern einen unmittelbaren Blick in die Geschichte suggerieren:51 »It seems, indeed, no exaggeration to insist that for a mass audience (and I expect for an academic elite as well) film can most directly render the look and feel of all sorts of historical particulars and sensations« (Rosenstone 1995: 31). Dies ist auch die Intention des historischen Romans, aber im Historienfilm scheinen die Zuschauer zu direkten Augenzeugen der Geschichte zu werden und an der historischen Lebenswelt unmittelbar zu partizipieren. Im Unterschied zum Roman wird Geschichte im Film (wie bei einer Theateraufführung) präsentisch dargeboten, was den Eindruck des Miterlebens noch verstärkt. Dieser Eindruck wird zudem durch Fiktionalisierungen bei Handlung und Personal unterstützt, wobei eine Besetzung mit bekannten Schauspielern und Schauspielerinnen eine Identifikation mit den dargestellten Figuren ggf. noch verstärkt. Geschichte wird personalisiert und emotionalisiert dargeboten, und die nonverbale Gestaltung des Films, etwa die Musik, kann eine gefühlsmäßige Involvierung der Zuschauer noch weiter steigern. Dem populären Spielfilm, vor allem dem Hollywoodkino, ist vorgeworfen worden, Geschichte zu verharmlosen und Faktizität durch den Zwang zur stofflichen Konzentration, zur Visualisierung und nicht zuletzt zur Unterhaltung hintanzustellen.52 Dem hält der Historiker Robert Toplin (2002: 10) entgegen, dass der Mainstream-Film gerade aufgrund seines spezifischen Umgangs mit Geschichte ein Breitenpublikum ansprechen kann: »Those who berate filmmakers for giving primacy to entertainment values should recognize that cinematic history will never come to the screen if it cannot excite the interest of a wide range of viewers with different income levels, cultural interests, and educational achievements. These audiences will quickly turn away from cinematic history if they do not find its dramatic presentation compelling«.

51 Burgoyne (2008: 12) verweist auf die Tradition des Spielfilms in visuellen Darstellungsformen des 19. Jahrhunderts: Gemälden, Panoramen, historischen Tableaus; Bezüge bestehen außerdem zum Historiendrama des 19. Jahrhunderts (vgl. Richards 2008 zum Antikenfilm). 52 Solomon (2001: 32) etwa betont in seiner Studie zur antiken Welt im Kino, dass der Antikenfilm auch das konkret zeigen muss, was für Archäologen und Historiker nur Spekulation ist. 33

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Dabei kann der faktische Anspruch historischer Spielfilme hoch sein. So signalisiert schon ein früher amerikanischer Historienfilm, D.W. Griffiths Birth of a Nation (1915), in seinen Zwischentiteln eine quasidokumentarische Qualität, wenn er einzelne Szenen (wie die Ermordung Abraham Lincolns) als »facsimile«, also möglichst exakte Nachstellung, ankündigt. Viele neuere historische Spielfilme, wie etwa Schindler’s List (1993), sind ausdrücklich der Rubrik ›Dokudrama‹ zugeordnet worden: »Docudrama argues with the seriousness of documentary to the extent that it draws upon direct, motivated resemblances to its actual materials. As fictions, docudramas offer powerful, attractive persuasive arguments about actual subjects, depicting people, places, actions and events that exist or have existed« (Lipkin 2002: 4).

Geschichte im Fernsehen Das Dokudrama,53 das in jüngster Zeit Konjunktur hat, ist ein Beispiel dafür, wie sich in den vergangenen Jahren Kino- und Fernsehproduktionen einander angenähert haben.54 Die Grenzen zwischen fiktionalen historischen Kino- und Fernsehfilmen sind fließend geworden, da erstere häufig später im Fernsehen ausgestrahlt werden und zudem historische Filme oft unter Beteiligung der Fernsehanstalten produziert bzw. finanziert werden, so dass eine mediale Mehrfachverwertung von vornherein intendiert ist. Spezifisch für das Fernsehen ist nach wie vor das Format der fiktionalen Serienerzählung, die ›epische Breite‹ der Darstellung ermöglicht. Als (hoch erfolgreiche) Pionierserien gelten die amerikanischen Produktionen Roots (1977) und Holocaust (1978), denen es gelang, bis dahin wenig bekannte Facetten traumatischer Geschichte einem weltweiten Millionenpublikum nahe zu bringen. Stärker mit Unterhal-

53 Das Dokudrama kann als Film mit historischen Stoffen, die unter dem Versprechen einer true story Geschichte als Drama entfalten, und als Inbegriff des Hybrids aus fact und fiction verstanden werden. Vgl. ausführlicher dazu, und zur Problematik des Begriffs, den Beitrag von Matthias Steinle in diesem Band. 54 Allein die deutsche Produktion ist reichhaltig. Neben Dokudramen zum Dritten Reich – wie etwa Heinrich Breloers Speer und Er (2005) – ist eine große Zahl auch von Produktionen zur Nachkriegszeit, so zur Geschichte der RAF (Vohwinckel 2006) oder jüngst etwa Mogadischu (ARD, 2008), zu verzeichnen, die nicht nur für die öffentlich-rechtlichen, sondern auch die privaten Sender produziert wurden. Mittlerweile gibt es Produktionsfirmen wie etwa TeamWorx, die sich u.a. auf historische Filme spezialisiert haben und für private wie öffentlich-rechtliche Sender arbeiten. 34

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tungs- und Seifenoper-Elementen angereichert, d.h. mit Sex, Intrigen und Gewalt, sind neuere solcher Serien wie Rome (HBO/BBC, 2005) und The Tudors (BBC, 2007; Pro7, 2008). Das Fernsehen hat eigene Formate jedoch vor allem im Bereich der Dokumentation entwickelt. Auch hierbei hatten britische, aber auch einige amerikanische Produktionen häufig eine Leitfunktion. Wegweisend war u.a. eine britische Dokumentationsserie über den Ersten Weltkrieg, The Great War (BBC, 1964), in der das Mittel der Zeitzeugen erstmals eine wichtige Rolle spielte. Die von Militärhistorikern geschriebene Serie war bei der Erstausstrahlung im zweiten Programm der BBC so erfolgreich (im Durchschnitt 8 Millionen Zuschauer, damals etwa ein Fünftel der britischen Bevölkerung), dass die ersten Folgen im ersten Programm bereits wiederholt wurden, während die letzten Erstausstrahlungen noch liefen (vgl. Sternberg 2002: 209). Doch auch deutsche und französische historische Fernsehdokumentationen – so etwa Das Dritte Reich (SDR/WDR, 1960) oder die binationale deutsch-französische Produktion 1914-1918 (vgl. Steinle 2008: 183-199) – erreichten in den 1960er Jahren bereits ein großes Publikum und entwickelten innovative Formate, die angesichts der heutigen angloamerikanischen Vorreiterschaft nicht unterschätzt werden sollten.55 Ein Beispiel für ein in jüngster Zeit im englischen Bereich entwickeltes Format ist die sogenannte historische Dokusoap, die das seit den 1990er Jahren erfolgreiche reality TV in die Geschichtsinszenierung überträgt und dabei Elemente aus der experimentellen Archäologie und dem Reenactment adaptiert.56 Prototyp ist The 1900 House, das der britische Channel 4 im Jahr 2000 ausstrahlte. Historische Dokusoaps lassen Menschen der Gegenwart in einem Szenario der Vergangenheit leben, z.B. im Schwarzwaldhaus 1902 (SWR/ARD, 2001/2), und bieten diesen Protagonisten und ihren Zuschauern eine Zeitreise, bei der die eigene gewohnte Lebenswelt und die Lebenswelt der Vergangenheit in einen 55 Besonders erfolgreich und einflussreich war die amerikanische Serie The Civil War (PBS, 1990). Der Dokumentarfilmer Ken Burns vergegenwärtigte hier den amerikanischen Bürgerkrieg über Fotografien und persönliche Geschichten für ein Millionenpublikum. Die preisgekrönte Serie wurde weltweit gezeigt, ebenso wie ein weiteres Großprojekt von Burns: The War (PBS, 2007) stellt den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht von Kriegsteilnehmern aus verschiedenen amerikanischen Kleinstädten dar. Auch hier wird ein personalisierter Zugang gewählt, doch dienen als Bildmaterial nicht nur Fotografien, sondern auch dokumentarische Filmaufnahmen, und die Veteranen erscheinen als Zeitzeugen noch selbst auf dem Bildschirm. 56 Zu historischen Dokusoaps vgl. Wolf (2003: 52-80 und 2005: 1-5, 13-40), Agnew (2007), Fenske (2007) und Müller/Schwarz (2008). 35

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expliziten Kontrast treten.57 Auch hier wird Information über die Vergangenheit vermittelt – vor allem zu Sozial- und Kulturgeschichte. Im Vordergrund steht aber das Vergnügen, Menschen beim Agieren (und womöglich Scheitern) in einer fremden Umgebung zu beobachten. Ein weiteres Format, das nach Erfolgen in Großbritannien auch in anderen Ländern erprobt wird, ist die ›genealogische‹ Dokumentation. Sie schickt Prominente auf eine Reise in die eigene Familiengeschichte, über die dann weitere historische Zusammenhänge erschlossen werden. Prototyp ist die Serie Who Do You Think You Are? (BBC, seit 2004), von der ARD imitiert als Das Geheimnis meiner Familie (2008). Auch hier ist der Zugang zu Geschichte personalisiert und emotionalisiert, da die zeitreisenden Prominenten in der Regel von den Erfahrungen und Taten ihrer Vorfahren erstaunt und ergriffen werden. Ein Reiz des Genres besteht aber auch darin, dass den Zuschauern ein Zugang zu Geschichte gezeigt wird, den sie selbst beschreiten können. Seit dem unerwartet großen Erfolg von Holocaust in Deutschland – die Serie wurde hier 1979 ausgestrahlt, ihre einzelnen Episoden wurden von 10 bis 15 Millionen Menschen gesehen (vgl. Brandt 2003 und Bösch 2007) – entdeckte das deutsche Fernsehen und insbesondere das ZDF Geschichte als Quotenbringer. In den 1980er Jahren – 1984 wurde im ZDF eigens die Redaktion Zeitgeschichte unter der Leitung von Guido Knopp gegründet – und forciert in den 1990er Jahren wurden im deutschen Fernsehen zunehmend historische Themen aufgegriffen und in unterschiedlichen, zum Teil neuartigen dokumentarischen, semidokumentarischen und fiktionalen Formen behandelt. Wie eine neue Untersuchung zeigt, hat sich der Anteil an historischen Sendungen zwischen 1995 und 2003 verdoppelt; 2003 beschäftigten sich ca. 5 Prozent der Sendungen in unterschiedlichsten Formaten mit historischen Themen (Lersch/Viehhoff 2007: 96). Durchschnittlich ist bei den Geschichtssendungen mit Einschaltquoten von 7 bis12 Prozent bzw. zwei bis fünf Millionen Zuschauern zu rechnen (Wirtz 2008: 11). Das Fernsehen ist damit seit den 1980er Jahren zu einem Leitmedium der Geschichtskultur geworden. Nach einer repräsentativen Befragung eines Meinungsforschungsinstituts von 1991 gaben 90 Prozent der Deutschen an, sich regelmäßig mit Geschichte zu beschäftigen und dafür vor allem auf das Fernsehen (67 Prozent) und Spielfilme (38 Prozent) zurückzugreifen. Akademische oder schulische

57 Die DVD von The 1900 House enthält Interview-Sequenzen aus dem Casting. Als Familienmitglieder nach der Motivation für ihre Bewerbung gefragt wurden, nannten sie: »go back in time«, »time travel«,»putting the flesh on history«, d.h. sie äußerten den Wunsch nach einer anderen Lebenserfahrung als der gegenwärtigen. 36

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Institutionen der Geschichtsvermittlung (13 Prozent) belegten nur hintere Plätze (Crivellari et al. 2004: 12). Das Fernsehen hat also, wie häufig festgestellt wird, die »Grundversorgung der Gesellschaft mit Geschichtsbildern übernommen« (Wolfrum 2003: 36). Es formiert und perpetuiert das historische Bildgedächtnis.58 Die Ausweitung der Sendezeiten und Kanäle führte dazu, dass nicht nur immer mehr historische Dokumentationen oder – insbesondere bei den privaten Sendern – teuer produzierte historische Fernsehfilme die Sendezeiten füllen. Durch die Notwendigkeit, die Sendeplätze zu bedienen, werden die Zuschauerinnen und Zuschauer auch ›nicht-intentional‹ mit vergangenen Lebenswelten vertraut gemacht, wenn etwa Spielfilme aus der 1950er und 1960er Jahren wiederholt werden, die über ihr nun ›historisch‹ gewordenes Zeitkolorit ebenfalls wirkmächtig Geschichtsbilder vermitteln. Gemäß ihrer Bedeutung hat die Erforschung von Geschichte im Fernsehen unter den populären Geschichtsrepräsentationen in den letzten Jahren vielleicht den stärksten Aufschwung erfahren.59 Zunächst wandten sich Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaft dem Thema zu, während die Geschichtswissenschaft sich zögerlich zeigte.60 Von Seiten der Historiker und in der Fernsehkritik wurden die erfolgreichen Dokumentationen der ZDF-Redaktion zu NS-Themen, die mit Reenactments arbeiteten, oder neue Formate wie Dokudramen oder historische Dokusoaps zunächst sehr kritisch beurteilt. Mittlerweile vorliegende neuere Forschungen zu diesen Formaten zeichnen allerdings ein differenzierteres Bild und verweisen auf deren ›postmodernes‹ Potential. Dokufiktionale Formate oder auch Reenactments bieten die Chance, Themen, für die keine Originalbilder vorliegen, visuell zu präsentieren. Die Inszenierung ist, anders als beim ›klassischen‹ Dokumentarfilm, offensichtlicher. Die neuen ›dokufiktionalen‹ Formate wie die historischen Dokusoaps können, wie ethnographische Fallstudien gezeigt haben, innerhalb ihres meist affirmativen und wertkonservativen Plots durchaus alternative und ›widerständige‹ Lesarten zulassen und eröffnen Gedächt58 Zum historischen Bildgedächtnis im 20. Jahrhundert vgl. jetzt auch Paul (2009). 59 Vgl. dazu als frühe Arbeiten Feil (1974) und Knopp/Quandt (1988) sowie als Einstieg Hickethier (1998); an neueren Studien vgl. vor allem Wolf (2003 und 2005), Hohenberger/Keilbach (2003), Hunt (2006), Bell/Gray (2007), Lersch/Viehoff (2007), Ebbrecht (2007) und Fischer/Wirtz (2008). 60 Die vorliegenden Arbeiten aus dem deutschen Kontext konzentrieren sich dabei stark auf die Darstellung des Nationalsozialismus im Fernsehen. Vgl. Classen (1999), Bösch (1999 und 2007), Frahm (2002), Kansteiner (2003 und 2006), Fritsche (2003), Keilbach (2004 und 2008) sowie Horn (2009). 37

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nisräume, indem sie vermeintliches oder tatsächliches Wissen vergangener Lebenswelten in den Diskurs der Gegenwart einspeisen (Fenske 2007: 104; vgl. auch Klein 2008). Diese neuen Präsentationsformen können möglicherweise die Einsicht in die Konstruiertheit der dargebotenen Geschichtsbilder eher eröffnen als die ›klassische‹ Dokumentation. Mit ihrer Kompilation aus Originalfilm (und meist nicht kenntlich gemachten, eingeschnittenen historischen Spielfilmszenen), abgefilmten Quellentexten und Fotos sowie Zeitzeugen- bzw. Experteninterviews, die durch den Kommentar und die Geschichtsdeutung des voiceover zusammengehalten werden, erweckt die klassische Geschichtsdoku den Anschein und die Rezeptionserwartung einer möglichst ›objektiven‹ Geschichtsdarstellung, die einer wissenschaftlichen Darstellung noch am nächsten zu kommen scheint. Sie unterliegt aber natürlich trotz der Selbstverpflichtung zum Faktischen dem Zwang der Bebilderung, der Reduktion und eines stringenten Narrativs. Bebilderung und Kommentar des voiceover sind häufig nicht aufeinander bezogen, d.h. es handelt sich meist eher um einen Bilderteppich, der dem Text unterlegt ist, und nicht um die tatsächliche Beglaubigung bzw. Authentifizierung der faktischen Befunde und Deutungen. Die Beiträge zum Fernsehen im vorliegenden Band verdeutlichen die große Spannweite zwischen Fiktionalität und Faktizität in der Geschichtspräsentation des deutschen Fernsehens. MATTHIAS STEINLE diskutiert das deutsche historische Dokudrama seit 1989, zeigt Möglichkeiten des Zugriffs auf das Genre und untersucht seine Strategien im Umgang mit der Vergangenheit. Deutsche Dokudramen nach 1989 dienten vor allem der nationalen Identitätsstiftung: In der vorherrschenden Tendenz werden die Zeit des Nationalsozialismus als große Leidensgeschichte, die DDR als krisengeschüttelter, zum Untergang verurteilter Staat, die Deutschen in Ost wie West als Opfer und die BRD als solidarische Gemeinschaft und als wundersame Erlösung vom Leid präsentiert. Kennzeichnend für die Aneignung und die Umkodierung der Vergangenheit in diesem ›historischen Eventfernsehen‹ (Tobias Ebbrecht) ist, so Steinle, die filmische Inszenierung von Erinnerung als faktische Realität. Sekundäre Erinnerungsbilder, also Nachstellungen von zeithistorischen Fotografien als Reenactments oder die Migration bekannter filmischer Schlüsselbilder von einem Film zum anderen, führen zu einer Verdichtung der Superzeichen. Ein medienreflexives Vorgehen ist die Ausnahme, und es findet eine diskursive Selbstbeschränkung statt. Sie ist bedingt durch das Zusammenspiel erinnerungskultureller Bedürfnisse, ökonomisch bewährter Rezepte, geschichtspolitischer Interessen, technischer Möglichkeiten und genrespezifischer Aspekte.

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Wie EDGAR LERSCH darlegt, waren gerade die frühe Fernsehdokumentation und die sich daraus entwickelnde ›klassische‹ Fernsehdokumentation durch den Kulturfilm der 1920er Jahre geprägt. Lersch untersucht die Veränderung der Darstellungsformen und die Entwicklung der historischen Dokumentationen im Fernsehen am Beispiel des SDR seit den 1960er Jahren. Er zeigt Traditionen und Veränderungen auf und dekonstruiert die überkommene Form der Dokumentation als Kompilationsfilm. Lersch kann nachweisen, dass diese Gattungskonvention einerseits ein großes Beharrungsvermögen besitzt, andererseits aber schon früh fiktionalisierende Grenzüberschreitungen realisiert wurden. Die verantwortlichen Redakteure legten gerade bei der Behandlung vorfilmischer historischer Epochen einen großen Erfindungsreichtum an den Tag, arbeiteten schon in den 1960er Jahren vereinzelt mit Neudrehs und (fiktiven) Spielszenen. Die Beiträge von Thomas Fischer (SWR/ARD) und Stefan Brauburger (ZDF-Redaktion Zeitgeschichte) beleuchten aus der Perspektive der ›Praktiker‹ die Potenziale und Probleme von historischen Dokumentationen im Fernsehen. THOMAS FISCHER stellt für den Bereich der ›zeitgeschichtlichen Erzähldokumentation‹ seit Ende der 1980er Jahre eine Entakademisierung fest, d.h. eine gestiegene Orientierung an Publikumsbedürfnissen, weg vom Erklär- und hin zum Erzählfernsehen. Dies ist eine Entwicklung, die auch, aber nicht nur, mit dem Erstarken der privaten Sender und der Quotenorientierung im öffentlichen Rundfunk zu tun hat. Elemente des Erlebnisses, der Erinnerung und Erzählung erhielten größeres Gewicht, d.h. neben dem ›klassischen‹ Bestandteil des Originalfilmund Fotomaterials aus dem Archiv bringen neugedrehte Bilder von authentischen historischen Schauplätzen (Neudreh) die Zuschauer ›vor Ort‹, die Einbindung von Zeitzeugen oder eingefügte, dramatisierte Spielszenen61 erhöhen das Identifikations- und Emotionspotential und damit den Unterhaltungswert. Fragwürdig wird dies allerdings, wenn der Zwang zur Bebilderung dazu führt, dass ›alt‹ aussehende Spielfilme zur Illustration herangezogen werden und es dem Publikum überlassen bleibt, zwischen faktualer und fiktionaler Darstellung zu unterscheiden. Mit einem aktuellen Beispiel aus seiner eigenen Produktion illustriert Fischer die Form der investigativen Dokumentation, bei der die Zuschauer zu Zeugen der Recherche selbst werden. Die Dokumentation bekommt dadurch ein Moment der Spannung, nutzt die Affinität von Geschichtsarbeit und dem Kriminal- bzw. Detektivschema. Das Krimischema eignet

61 Die Rezeptionsstudie von Meyen/Pfaff (2006: 105) deutet an, dass diese Spielelemente beim Publikum nicht immer den gewünschten Anklang finden, sondern auf Kritik stoßen, weil sie eben nicht ›authentisch‹ sind. 39

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sich durch die Offenlegung des Forschungsgangs, eine Reflexion über die historische Wissensproduktion in Gang zu setzen. STEFAN BRAUBURGER betont, dass die Verfügbarkeit von Archivbildmaterial nicht entscheidend dafür sein darf, welches historische Sujet überhaupt verfilmt wird. Dies gilt nicht nur für historische Themen aus vorfilmischer Zeit; auch zu vielen Aspekten der Zeitgeschichte liegen keine Bilder vor. Der Einsatz von Reenactments, Neudrehs und Spielszenen kann eine Möglichkeit sein, Struktur- und Erfahrungsgeschichte zu verbinden und Themen anzugehen, die sonst nicht zu visualisieren sind. Maßstab jeder szenischen Darstellung muss allerdings sein, dass diese auf gesicherter Quellenbasis erfolgt und ein Nachempfinden dokumentierbarer Erkenntnisse ist. Brauburger plädiert für eine Verbindung dokumentarischer und fiktiver Präsentationsformen, denn Ziel sollte es sein, geprüftes Wissen auf verschiedene Weise zum Sprechen zu bringen. Brauburger betont die Wichtigkeit einer mediengerechten Präsentation angesichts der großen Senderkonkurrenz und -vielfalt mit ihrer enormen Reizdichte und vermutet, dass sich die Tendenz zu Spartenprogrammen verstärken wird. Deutlich wird in seinem Beitrag auch, dass trotz aller Kontinuität das Format der ›klassischen Dokumentation‹ einem ständigen Wandel unterworfen ist. Nach der Entdeckung der Zeitzeugen mit der Hinwendung zum Erzählfernsehen seit Mitte der 1980er Jahre erleben im Moment die Universitätshistoriker als Experten ein Comeback. Die Zusammenarbeit mit der akademischen Fachwissenschaft scheint, wie Brauburger beispielsweise an der Serie Die Deutschen festmacht, trotz der stärkeren Histotainmentanteile auch in den ›klassischen‹ Dokumentationen wieder zuzunehmen. Gerade an dieser Serie lässt sich die auch für Geschichtssendungen im Fernsehen mittlerweile typisch gewordene Intermedialität sowie die Aufbereitung einer Produktion für unterschiedliche Publika zeigen. Wie bei vielen anderen Geschichtsdokumentationen wurde für Die Deutschen eine Internetseite eingerichtet; neu war, dass zusätzlich Material für die Schule bereitgestellt wurde, das vor allem Schülern und Lehrern ein vertieftes Eindringen in die Materie ermöglichen sollte.

Erlebbare Geschichte Das Familiengeschichtsformat und die historische Dokusoap im Fernsehen sind Mediatisierungen der Geschichtsvermittlung, die sich unter dem Begriff der Erlebnisgenres subsumieren lassen. Unter dem Begriff der ›erlebbaren Geschichte‹ werden im Folgenden Präsentationsformen zusammengefasst, in denen das angesprochene Publikum Geschichte ›live‹

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erfährt, in denen es sinnlich-materiell, in echten oder simulierten Räumen, in Kontakt mit Objekten der Vergangenheit kommt oder performativ Zuschauer bzw. Mitspieler bei historischen Ereignissen wird. Das Publikum ist nicht nur audiovisuell, sondern mit seiner ganzen Körperlichkeit involviert; Geschichte wird ›erlaufen‹ oder gar ›erspielt‹, d.h. Geschichte wird hier nicht nur über einen Text, sondern im wörtlichen Sinn als »Re-enactment of Past Experience« (Collingwood 1946: 282302) angeeignet. Museum und Living History Museen ermöglichen ihren Besuchern traditionell einen Kontakt mit Überresten der Vergangenheit. Dieser war lange auf das Betrachten von Artefakten beschränkt, wenn auch Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Freilichtmuseen gegründet wurden.62 Heute sind Museen bemüht, ihre Besucher zu involvieren und ihnen sinnliche Erfahrung und Aktivitäten zu ermöglichen. Sie werden so immer stärker zu einem »zentrale[n] Teil unserer Freizeit- und Erlebnisgesellschaft« (Assmann 2007: 19; vgl. auch Korff 1990). Von Beginn an machten Freilichtmuseen neben einem Bildungs- auch ein Freizeitangebot und ermöglichten in besonderer Weise eine sinnlich-körperliche Erfahrung meist bäuerlicher oder handwerklicher historischer Lebenswelten. Sie waren und sind auch Orte experimenteller Archäologie und werden in den letzten Jahren häufig durch Living History-Präsentationen performativ belebt. Seit dem späten 20. Jahrhundert gibt es kaum mehr Neugründungen traditioneller Freilichtmuseen; dieser Museumstyp amalgamiert zunehmend mit konsumorientierten Themen- und Freizeitparks, d.h. auch hier rückt der Faktor der Unterhaltung, der Atmosphäre, des Spektakels und des Events zunehmend in den Vordergrund.63 Wie in einem ›klassischen‹ Museum Elemente des Entertainments und des Events Einzug halten, schildert ERWIN KEEFER für seine Wirkungsstätte, das Landesmuseum Württemberg (LMW) in Stuttgart, und am Beispiel von Visualisierung und Inszenierung in der Vermittlung von Archäologie, dargestellt am Umgang mit dem Einbaum. Bereits in den Freilichtmuseen der 1920er Jahre wurde versucht, ur- und frühgeschicht62 Zu Freilichtmuseen vgl. Ottenjahn (1985) und Zippelius (1974). 63 Diese Entwicklung kritisiert ein Roman des britischen Autors Julian Barnes, England, England (1998). In der Handlung kommt es zu der paradoxen Situation, dass ein England-Themenpark mit zahlreichen Referenzen auf die englische Geschichte ›authentischer‹ wird als das Original – trotz offensichtlicher Nicht-Authentizität, Oberflächlichkeit und Disneyfizierung. 41

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liche Lebenswelten zu visualisieren bzw. aufzuführen. Deren Bilder und Stereotype fanden schnell Eingang in Schulbücher und Filme und prägen bis heute Geschichtsvorstellungen. Erst ab den späten 1980er und in den 1990er Jahren wurden diese Vermittlungsformen quellenkritisch stärker hinterfragt. Gleichzeitig wurden Museen publikums- und handlungsorientierter, seit den letzten Jahren zudem zunehmend auf Marketing und Betriebswirtschaftlichkeit ausgerichtet. Beide Entwicklungen beförderten die Suche nach neuen Präsentations- und Aneignungsformen. Trotz einiger gelungener Neuansätze besteht die Gefahr, dass das Budget auch die Qualität bestimmt und dass, wenn kein qualifiziertes Personal für Vorführungen vorhanden ist, eine erfundene Vergangenheit präsentiert wird, die die tradierten Stereotype perpetuiert. In Anbetracht neuer museumspädagogischer Konzepte, aber auch unter zunehmendem Zwang zu kommerzieller Rentabilität, hat das LMW in den vergangenen Jahren mehrere ›populäre‹ Projekte und Aktionen durchgeführt (u.a. in Zusammenarbeit mit dem Fernsehen und einer Jugendeinrichtung), die Keefer kritisch auf ihren Erfolg hin bewertet, wobei er die Notwendigkeit weiterer Rezeptionsstudien deutlich macht und zeigt, wie wichtig Wissenschaft zur Legitimation populärwissenschaftlicher Präsentationen ist. Geschichte als Aufführung und Event hat lange Traditionslinien, z.B. in Festzügen und in Nachstellungen historischer Ereignisse. Living History (Aufführen und/oder Erzählen von Geschichte für Zuschauer) und Reenactments (Aufführung als historisches Rollenspiel, auch ohne Publikum) sind jedoch besonders ein Phänomen des 20. Jahrhunderts und erleben gegenwärtig eine Konjunktur.64 Marvin Carlson (2000: 237) diagnostiziert »an unprecedented popularity of history seen through the medium of performance, and further, an unprecedented degree of direct involvement in that medium by the general public«.65 Bei Reenactments – oder auch historischen Märkten – ist ein aktiv-kreatives Moment von Populärkultur, wie es u.a. John Fiske (1989a und 1989b) betont, ausgeprägt, denn Geschichte wird hier nicht nur konsumiert, sondern selbst (re-)produziert. WOLFGANG HOCHBRUCK arbeitet in seiner Analyse dieser spezifischen Darstellungs- und Aneignungsformen mit dem Begriff des ›Geschichtstheaters‹. Sein Aufsatz betrachtet insbesondere das Museumstheater und bewertet die Chancen, aber auch die Gefahren eines Strebens nach Veranschaulichung, Emotionalisierung und Verlebendi64 Vgl. dazu auch Lässig (2006), Schindler (2003), Cook (2004) und Hart (2007). 65 Zwar gibt es des Längeren Forschungsliteratur zu diesem Bereich, doch sind Terminologie und Zugangsweise noch stark divergent; vgl. u.a. Anderson (1984 und 1991) und besonders Hochbruck (2008); speziell zum Reenactment von Schlachten auch Thompson (2004). 42

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gung von Geschichte. Hochbruck plädiert für einen reflektierten Umgang mit Geschichte, der auf solidem Fachwissen beruht, denn nur dann »ist die theatrale Interpretation in der Lage, Brüche und problematische Aspekte des Geschichtsbildes zu thematisieren, und damit auch den eher zufälligen oder nur Diversion suchenden Zuschauer zur Auseinandersetzung mit dem Thema zu reizen«. Reenactments und Living History können an authentischen historischen, aber auch an mehr oder weniger beliebigen anderen Orten, in einer geschichtskulturellen Einrichtung oder in einem kommerziellen Rahmen, stattfinden. Sie werden zudem immer häufiger in andere Medien, wie etwa Fernsehdokumentationen, Historienfilme oder Computerspiele, eingebunden. Geschichte in unmittelbarer Verbindung mit einer Orts- bzw. Raumerfahrung wird bei speziell ausgerichteten Reisen, historischen Stadtspaziergängen oder -führungen geboten. Stadtrundgänge Historische Stadtrundgänge erleben seit den 1990er Jahren einen Boom, und zwar in unterschiedlichen Ausrichtungen und Graden der Kommerzialisierung. Aus den geführten Stadtspaziergängen der London Walks ist zum Beispiel ein gut nachgefragter Zweig des Tourismus in der britischen Hauptstadt geworden.66 Nicht wenige solcher Führungen sind aber aus einer Suche nach einer Geschichte ›von unten‹ oder aus der Sicht marginalisierter Gruppen entstanden. Mittlerweile haben viele Kommunen den Trend aufgenommen. So haben in Großbritannien einige früher am Sklavenhandel beteiligte Städte Slave Trade Trails angelegt, auf denen sich diese lange verdrängte Geschichte entdecken lässt. In Anlehnung an Michel de Certeau analysiert Elizabeth Wallace (2005: 54) das – in diesem Fall über eine Broschüre geführte – Abschreiten eines solchen Spazierwegs in Bristol als räumliche Praxis, mit der eine bedeutsame Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit hergestellt wird: »The physical act of being present becomes the catalyst to understanding, as walkers are made into active participants who ›confront‹ those who were alive during the time of the slave trade«. Eine frühe Form dieser ›anderen‹ Stadtexkursionen stellen in Deutschland die aus der Geschichtswerkstätten- und der Frauenbewegung erwachsenen alternativen Rundgänge zur Frauengeschichte dar, die mittlerweile unter dem Label Miss Marples Schwestern in einem bundesweiten Verbund vernetzt sind. BIRGIT HEIDTKE reflektiert aus der eigenen praktischen Erfahrung als Historikerin, Autorin und Führerin die

66 www.walks.com (Zugriff am 10. Februar 2009). 43

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Entstehungsgeschichte der feministischen Rundgänge aus der politischen (Frauen-)Bewegung der 1970er und 80er Jahre und analysiert die Vermittlungsformen dieser Touren. Dabei kann sie zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, einen reflektierten Umgang mit Geschichte und populäre, unterhaltsame Präsentationsformen zu verbinden. Indem nicht nur Personen oder Ereignisse, sondern auch die (manchmal schwierige, abenteuerliche oder überraschende) Recherche zu deren Geschichte auf dem Rundweg thematisiert werden, gewinnt der Vortrag ein zusätzliches dramatisches Moment und dem Publikum wird vermittelt, wie Frauen selbst Geschichte erforschen können. Auch bietet paradoxerweise gerade das Nicht-Mehr-Vorhandensein historischer Gebäude oder Orte die Möglichkeit, die Bedeutung und Konstruktion von Erinnerungsorten zu hinterfragen.

Geschichte in den Neuen Medien: Web 2.0, Wikipedia und Computerspiele Stadtführungen, Living History und Museen an geschichtsträchtigen Orten können ihren Reiz aus der Aura authentischer Objekte beziehen und reichern das Historische der Orte selbst durch Erzählungen, Bilder und schauspielerische Darbietungen an. Die authentischen Orte sprechen jedoch nicht automatisch durch sich selbst, und sie scheinen in manchen Fällen auch der Schau- und Erlebnislust eines touristischen Publikums nicht (mehr) zu genügen. So sucht man mittlerweile selbst im geschichtsträchtigen Rom nach Möglichkeiten, Touristen mehr zu bieten als die bloßen historischen Relikte. Neuerdings ist ein Rom-Themenpark in der unmittelbaren Umgebung der Stadt geplant, und das Kolosseum soll digital animiert in 3D-Technologie erlebbar gemacht werden.67 Solche Vor67 Vgl. eine Meldung vom 20. August 2008 in Spiegel Online: http://www. spiegel.de/reise/europa/0,1518,573207,00.html (Zugriff am 24. März 2009). Vgl. den ironischen Kommentar hierzu im Kölner Stadt-Anzeiger (vom 30. Dezember 2008): »Ein ›Themenpark der Antike‹ soll vor den Toren der Ewigen Stadt entstehen. Touristen sollen sich fühlen wie die alten Römer: ins Kolosseum gehen und Gladiatorenkämpfe anschauen, im Circus Maximus à la Ben Hur ihre Wagenrennen bestreiten, Gaius Julius Caesars Schlachten gegen die Gallier live erleben (mit Asterix und Obelix?), sich in den Thermen aalen wie der verrückte Kaiser Caracalla oder zündeln – ›nein, das bitte nicht!‹ – wie Nero. Der kommunale Superintendent für Archäologie, Umberto Broccoli, will das neue Erlebnis-Rom sogar mitten in die Altstadt holen. ›Weniger Erhabenheit, mehr Spektakel‹ fordert er von den Ruinen« (Kreiner 2008). 44

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haben schließen sich dem Trend an, dass auch digitale Medien in der Geschichtsrepräsentation eine immer wichtigere Rolle spielen. Digitale Präsentationsformen, ob online oder auf Speichermedien, sind, wie bereits angedeutet wurde, zunehmend mit anderen Darbietungsformen vernetzt: Für Museen, Ausstellungen, Film- und Fernsehprogramme sind begleitende Websites, oft mit weiterführenden Links, heute eine Selbstverständlichkeit. Durch das Internet werden neue historische Projekte in der Öffentlichkeit angeregt,68 wie etwa das Spiegel OnlineProjekt Eines Tages.69 Viele Geschichtsvereine und ReenactmentGesellschaften erstellen Websites mit (mehr oder weniger zuverlässigen) Informationen und Möglichkeiten zum Austausch über Geschichte. Zunehmend finden sich im Netz auch Angebote kommerzieller Agenturen zur Recherche der eigenen Familiengeschichte. Der Artikel von ERIK MEYER setzt das Internet in Bezug zu Gedenkstätten und Fernsehen und zeigt vor diesem Hintergrund, dass das spezifische Potenzial der Neuen Medien vor allem in der Involvierung der User liegt. Gerade das Web 2.0 bietet Voraussetzungen für Interaktivität und Produktivität, die in Print- und audiovisuellen Medien nicht erzielt werden können, außer wenn sie Verbindungen mit dem Internet oder digitalen Datenträgern eingehen. Das Internet schafft nicht zuletzt eine Identität von Usern und Wissensproduzenten. Grundsätzlich ist eine solche Identität nicht auf das Internet beschränkt; sie findet sich z.B. auch im Geschichtstheaterbereich, wo Laien Wissen recherchieren und aufbereiten. Aber die Reichweite des Internets ist ungleich höher und trägt das Risiko, dass auch ungesichertes bis falsches Wissen in Zirkulation gebracht wird. Das bekannteste (und meist genutzte) Beispiel hierfür ist Wikipedia. MAREN LORENZ verdeutlicht, wie in dieser OnlineEnzyklopädie (geschichtliches) Wissen eingestellt, redigiert und verwaltet wird, ohne dass allerdings eine echte inhaltliche Kontrolle erfolgen würde. Interessanterweise verweist gerade diese freie Enzyklopädie, die 68 Zum Internet und seiner Rolle beim Schaffen von Öffentlichkeit(en) vgl. auch den Band von Müller/März (2008). 69 Auf regionaler und lokaler Ebene gibt es mittlerweile ähnliche Initiativen im Internet, die in der Zusammenarbeit von Printmedien, geschichtskulturellen oder kommunalen Einrichtungen entstanden sind. Vgl. die von der Stuttgarter Zeitung und dem Stuttgarter Stadtarchiv getragenen Initiative Von Zeit zu Zeit, bei der die Nutzer Bilder, Filme oder persönliche Erinnerungen aus der Stuttgarter Stadtgeschichte und dem Alltagsleben des 20. Jahrhunderts einstellen können, wobei in der Stuttgarter Zeitung im Lokalteil täglich eines der eingestellten Bilder abgebildet und entsprechend kommentiert wird. Vgl. http://www.von-zeit-zu-zeit.de/ (Zugriff am 24. März 2009). 45

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von Menschen aller sozialer Schichten und Bildungsgrade, von ›Laien‹ ebenso wie von ›professionell‹ mit Wissenserwerb, -vermittlung und -produktion betrauten Personen und Institutionen genutzt und verfasst wird, auf die Gefahren, die mit den populären Formen der Wissenspräsentation und der potentiellen ‚›Demokratisierung‹ der Wissensproduktion einhergehen: Eine Qualitätskontrolle ist nicht gewährleistet, die Seriosität des Wissens wird nicht bewertet, das bestehende, häufig mit Vorurteilen bzw. Fehlannahmen behaftete Wissen wird fortgeschrieben. Digitale Medien können Informationen, z.B. über Bild und Animation, besonders anschaulich und nutzerfreundlich bereitstellen. Mit digitaler Technik lassen sich vergangene Welten sogar virtuell erstellen. Diese Möglichkeit wird heute auch von der Wissenschaft (etwa in der Archäologie), aber auch in Bildungseinrichtungen wie Museen genutzt. Virtuelle historische Welten, die in erster Linie der Unterhaltung dienen, werden im Computerspiel generiert. ANGELA SCHWARZ nimmt eine Typisierung von Erscheinungsformen und Funktionen der historischen Computerspiele, die ein beträchtliches Marktsegment darstellen, vor. Diese bieten Jugendlichen, aber auch Erwachsenen, Geschichte als spannende Freizeitaktivität und erreichen Adressaten, die Geschichte ansonsten wenig Interesse entgegen bringen. Wie Reenactments schaffen Computerspiele – zumal sie technisch immer perfekter werden – Möglichkeiten des Eintauchens in eine fremde, vergangene Welt, in der die Spieler sich bewegen und ›Erfahrungen‹ machen können. So entsteht der Eindruck, bei historischen Ereignissen ›dabei‹ gewesen zu sein (eine Art virtuelles Reenactment) – bis hin zur Möglichkeit, den Lauf der Geschichte durch das eigene Eingreifen verändern oder gestalten zu können. Im besten Fall können Computerspiele aber auch dazu anregen, sich über das Spiel hinaus mit Geschichte zu beschäftigen, zumal in vielen Computerspielen zahlreiche historische Fakten über die Einbindung von Dokumentarfilmen, Originalaufnahmen, Quellentexten oder den Verweis auf weiterführende Literatur greifbar werden.

Ausblicke Die Beiträge dieses Bandes, die aus verschiedenen disziplinären und aus praxisnahen Perspektiven geschrieben sind, können nur einige der vielen Medien und Genres der populären Geschichtsvermittlung beleuchten. Der Blick auf Medien und Genres ist nur eine Zugangsmöglichkeit zum Themengebiet populärer Geschichtskultur, das ein großes Potenzial für weitere Forschungen bereit hält. Dieses Gebiet steht noch an den Anfängen seiner Untersuchung durch Geschichts-, Kultur- und Medienwissen-

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schaft, auch wenn es, zieht man die vielen Tagungen und Neuerscheinungen in Betracht, im Moment der Publikation dieses Bandes fast zu explodieren scheint. Abschließend seien hier einige Forschungsfragen bzw. -desiderate benannt, die in den folgenden Beiträgen immer wieder aufscheinen. Sie zeigen auch, dass das Thema in besonderer Weise eines interdisziplinären Zugriffs bedarf: • Erweiterung der Medienpalette: Zwar sind bestimmte Medien und Genres (so etwa der Historischen Roman) relativ gut bearbeitet, andere sind jedoch noch weitgehend unerforscht, so etwa die Geschichtsvermittlung im Radio, in illustrierten Zeitschriften oder in der (Pop-)Musik; ähnliches gilt für die Vermarktung von Geschichte in Reise und Tourismus. • Medien-/Genredispositive und historische Inhalte: Wie korrelieren bestimmte Medien und Genres mit historischen Inhalten? Was ist im Rahmen ihrer Dispositive sagbar und darstellbar, bzw. was entzieht sich der Darstellung? Dass in Fernsehdokumentationen das 20. Jahrhundert dominiert, lässt sich nicht nur durch das besonders hohe geschichtspolitische Interesse an dieser noch in das kommunikative Gedächtnis fallenden Epoche festmachen, sondern ist teilweise auch mit dem vorhandenen filmischen und fotografischen Archivmaterial zu erklären. In Spielszenen lassen sich dagegen auch Steinzeit, Antike und Mittelalter inszenieren, und der sprachlichen Vermittlung sind ohnehin kaum Grenzen gesetzt. Mediale Darstellungsformen unterliegen aber auch Darstellungstabus. Der Holocaust ist zwar in Spielfilmen und Fernsehserien und sogar im Comic dargestellt worden – aber ist ein KZ-Reenactment denkbar und ethisch vertretbar? Rassistische und NS-verherrlichende Computerspiele, wie etwa KZManager, gibt es jedenfalls bereits. • Medienkonvergenzen: In mehreren Beiträgen dieses Bandes werden Medienkonvergenzen aufgezeigt, die die populäre Geschichtsvermittlung immer stärker prägen. Es ist ein offensichtlicher Trend, dass die Medien durch marktorientierte tie-ins sowie durch intermediale Zusammenhänge zunehmend miteinander verflochten sind. Eklatant ist dies im Computerspiel, das Elemente des Spielfilms und des Reenactments integriert, Texte und Gemälde zitiert, aber auch Traditionen des Cartoons weiterführt. Solche Medienkonvergenzen müssen verstärkt disziplin- und genre- bzw. medienübergreifend analysiert werden. Dies bringt allerdings methodische Probleme mit sich, die reflektiert werden müssen: Wie können die Bild, Text und Performanz verbindenden Geschichtsrepräsentationen in ihrer ästhetischen

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Dimension und in ihren kognitiven, emotionalen und gesellschaftlichen Funktionen angemessen untersucht werden? Rezeptionsstudien: Als besonders deutliches Forschungsdesiderat erweist sich der Bedarf nach Rezeptionsstudien. Gerade populäre Kulturprodukte sind oft gezielt an bestimmte Publika gerichtet. Welche Produkte welche (Teil-)Publika tatsächlich erreichen, und wie sich die Rezipienten in der Art ihrer sozialen, konfessionellen, ethnischen, alters- und geschlechtsspezifischen Zusammensetzung jeweils ausdifferenzieren, ist allerdings in vielen Fällen nur schwer zu ermitteln: Entsprechende Daten werden nicht selten von Produzenten zurückgehalten, bzw. die Produzenten verfügen gar nicht erst über Daten und haben selbst nur Vermutungen über die Erfolgs- oder Misserfolgsgründe ihrer Produktionen. Qualitative Studien und Befragungen der Rezipienten und Rezipientinnen, aber auch der Produzierenden über ihre Motive, Lesarten und Beweggründe in der Beschäftigung mit populären Geschichtsprodukten sind aufwändig und nur punktuell möglich, aber sie sind nicht verzichtbar. Gender und Diversität: Geschlechtsidentitäten und Geschlechterverhältnisse werden auch und gerade über die Aneignung von Geschichte verhandelt, so dass ›doing gender – doing history‹ vice versa gilt. Welche geschlechtsspezifischen Handlungsräume und Lesarten werden in der populären Geschichtskultur angeboten? Bietet sie ein ›emanzipatorisches‹, innovatives Potential für die Darstellung von Frauen- und Geschlechtergeschichte oder auch für die Geschichte von gesellschaftlichen Gruppen, die in der nationalen Geschichtspolitik, den öffentlichen Bildungseinrichtungen und der Geschichtswissenschaft marginalisiert sind – oder wird primär der Status quo stabilisiert? Regionale, nationale, transnationale und globale Verschränkungen: Welche räumliche Reichweite haben welche Medienprodukte und Genres, wie werden sie anschlussfähig gemacht an andere regionale oder nationale (oder religiöse, ethnische) Lebenswelten? Bei welchen Produkten und Themen ist eine transnationale bzw. globale Verwertung möglich? Wie ändert sich ihre Lesart oder Präsentationsform beim Übergang in einen anderen Kulturraum? Hier besteht ein großer Bedarf an Studien, die über den europäischen und nordamerikanischen Raum hinausgehen und/oder kulturvergleichend vorgehen. Lange Linien der Popularisierung von Geschichte: Um die heutige populäre Geschichtskultur in ihren ästhetischen, medialen, ökonomischen, sozialen und politischen Funktionen besser einschätzen zu können und Veränderungen oder Kontinuitäten in der gesellschaftli48

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chen Funktion von Geschichte herauszuarbeiten, sind Vergleiche in einer ›langen Linie‹ sinnvoll. So können beispielsweise verschiedene Popularisierungswellen seit dem 18. Jahrhundert mit ihren Medien und Genres sowie ihren jeweiligen gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründen identifiziert und in Bezug gesetzt werden. Wissenschaft und populäre Geschichtskultur: Populäre Geschichtsrepräsentationen sind gegenwärtig ubiquitär und machen auch nicht vor Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen halt, die die populären Darbietungen schließlich auch (mehr oder weniger bewusst) konsumieren. Wie interagieren Geschichts- und Kulturwissenschaften mit den populären Geschichtskulturen? Was bedeuten die populär(wissenschaftlich)en Darstellungen für den Deutungsanspruch der Geisteswissenschaften? Welche Rolle spielen die wissenschaftlichen Expertinnen und Experten in dieser populären Geschichtskultur? Gibt es populäre Medien und Genres, die für die Wissenschaft akzeptabler sind als andere?

Untersuchungen zu diesen und anderen Fragen werden einen Eindruck bestätigen, den bereits dieser Band vermittelt: Populäre Geschichtsdarstellungen schaffen ein ›buntes‹ Panorama der Vergangenheit; sie sind ein wichtiger Beitrag zu einer Geschichtskultur, die nicht monolithisch ist, sondern ein Nebeneinander unterschiedlicher Darstellungsformen, Zugangsweisen und Deutungen zulässt und nicht vorschnell als affirmativ-wertkonservativ oder simplifizierend abgetan werden sollte.

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ZEHN THESEN

ZUM HISTORISCHEN

ROMAN

PETER PRANGE Für Roman Hocke, weil er mich erfunden hat.

Eigentlich habe ich mich nie besonders für Geschichte interessiert. Was gehen mich die ollen Kamellen an? Nicht im Traum wäre mir deshalb eingefallen, dass ich jemals Autor von historischen Romanen werden könnte. Als ich dann aus der Zeitung erfuhr, dass ich genau das geworden sei – den Titel bekam ich erstmals in einer Rezension zu meinem Roman Die Philosophin verpasst –, rieb ich mir verwundert die Augen: Spinnt jetzt der Rezensent oder spinne ich? Die nachfolgenden Thesen verstehen sich weder als Begriffsbestimmung noch als Analyse eines literarischen Phänomens. Sie erheben keinen Anspruch auf was auch immer, so wenig wie ich damit irgendetwas beweisen möchte. Sie sind nur ein sehr persönliches, durch und durch subjektives Bekenntnis: Warum ich trotz meines mangelhaften Interesses an Geschichte historische Romane schreibe, und zwar mit stetig wachsendem Vergnügen. Erstens: Ein historischer Roman ist kein Geschichtsbuch Und ein Autor von historischen Romanen ist kein Historiker. Beide schildern zwar geschichtliche Ereignisse, doch mit unterschiedlichem Interesse. Während der Historiker versucht, vergangene Zeiten möglichst exakt und wirklichkeitsgetreu zu rekonstruieren, interessiert den Romanautor vor allem die sinnbildhafte Bedeutung, die er in einer bestimmten historischen Situation zu erkennen glaubt. Die Vergegenwärtigung dieses Bedeutungsgehalts einer geschichtlichen Gegebenheit in neuer und eigener Gestalt betrachte ich darum als meine eigentliche Aufgabe. Die historische Realität ist für mich nicht Sinn und Zweck meiner Arbeit, sondern ein Steinbruch: Stoff für einen Roman. Zweitens: Ein historischer Roman ist keine popularisierte Wissenschaft Natürlich können historische Romane Bildung vermitteln, und sie tun es in der Regel ja auch. Aber ist das ihr vorrangiger Daseinszweck? Wie jeder Roman ist auch ein historischer Roman vor allem ein Spiel – ein 61

PETER PRANGE

Spiel mit der Wirklichkeit. Dabei ist grundsätzlich alles erlaubt, was den Reiz dieses Spiels erhöht – selbst das, was das Strafgesetzbuch verbietet. Ein historischer Roman reproduziert darum nicht die historische Geschichte, sondern benutzt sie. Die Wissenschaft liefert die Fakten, der Erzähler erfüllt sie mit Leben und Sinn. Drittens: Ein historischer Roman handelt nicht von Geschichte, sondern vom Leben Große Geschichten aus der Geschichte haben die Menschen schon immer fasziniert. Weil bei allen Veränderungen des Lebens die entscheidenden Antriebskräfte stets dieselben sind: Liebe und Hass, Gier, Neid und Eifersucht, Streben nach Schönheit und Reichtum, nach Ruhm und Macht – all die großen Gefühle und Leidenschaften, zu denen Menschen fähig sind. Aus diesem Grund können wir Jahrtausende alte Dramen nachempfinden und verstehen. Doch das allein macht eine Geschichte aus der Geschichte noch nicht erzählenswert. Entscheidend ist, ob sie für uns heute noch von Bedeutung ist, ob sie uns widerspiegelt in unserem eigenen Selbstverständnis, uns Mut gibt und Lust macht auf das große Abenteuer des eigenen Lebens. Viertens: Ein historischer Roman ist dramatisiertes Leben Das ebenso unerreichte wie unerreichbare Vorbild eines jeden Romanschriftstellers ist der heilige Geist – schließlich hat er das großartigste Drama geschrieben, das sich denken lässt: das Leben selbst. Seine Dramaturgie ist und bleibt das Maß aller Dinge. Allerdings mit einer Einschränkung: Die historische Geschichte gehorcht den Gesetzen der Wirklichkeit bzw. der Geschichtswissenschaft, die Geschichte eines Romans hingegen gehorcht den Gesetzen der Erzählkunst. Um sie dramaturgisch zu gestalten, muss man hier und da die Chronologie der Ereignisse sowie manche Äußerlichkeit im Detail abwandeln. Nicht aus mangelndem Respekt vor den Tatsachen, sondern um einen in sich geschlossenen Erzählkreis zu schaffen und die historischen Ereignisse in einen Sinnzusammenhang zu stellen, der die ihnen innewohnenden Kräfte erfasst und zugleich über die geschichtlichen Gegebenheiten, in die sie eingebunden sind, hinausweist. Fünftens: Ein historischer Roman ist ein realistischer Roman Eine gute Geschichte funktioniert wie das Leben selbst. Glaubwürdig ist sie erst dann, wenn ihre Protagonisten nicht nur entsprechend ihrem inneren Wesen fühlen, denken und handeln, sondern auch nach Maßgabe ihrer äußeren Lebenswirklichkeit. Eine Madame Bovary ist keine Lady Macbeth! Das Schicksal meiner Protagonisten vollzieht sich darum nicht

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HISTORISCHER ROMAN

im luftleeren Raum, sondern in einer konkreten historischen Situation. Frei erfunden ist ihr individuelles Schicksal, historisch verbürgt jedoch der kollektive Rahmen, in dem sich ihr Schicksal vollzieht. Insofern sind historische Romane so realistisch wie das Leben: Während die Wirklichkeit um uns herum so ist, wie sie ist, sie uns einmal Hoffnung macht und dann wieder Angst, einmal unsere Pläne begünstigt und dann wieder durchkreuzt, erfinden wir uns täglich selbst, werden wir erst im Laufe unseres Lebens, wer und was wir sind – im Wechselspiel von Freiheit und Determination, von Selbst- und Fremdbestimmung, von innerer Vorstellung und äußerer Realität. Sechstens: Ein historischer Roman ist ein Entwicklungsroman Die Wirklichkeit stellt uns auf die Probe – nicht nur im Leben, auch im Roman. Dabei gilt die Regel: Je härter die Wirklichkeit einen Charakter bedrängt und ihm zusetzt, desto deutlicher gibt dieser sich zu erkennen. Darum nehme ich die historische Wirklichkeit, in die ich meine Protagonisten werfe, so ernst wie mein eigenes Leben. So wenig wie Gott meine Wirklichkeit verändert, um mir das Leben zu erleichtern, so wenig darf ich die Realitäten zu Gunsten meiner Heldinnen und Helden im Roman verändern – da hilft kein Bitten und kein Flehen. Nur so kann ich erfahren, aus welchem Holz meine Figuren geschnitzt sind, Kapitel für Kapitel. Willkommener Nebeneffekt: Je stärker meine Protagonisten in Bedrängnis geraten, desto größer ist die Aussicht, dass ich meine Leser gut unterhalte. Und darauf haben sie Anspruch! Schließlich zahlen sie nicht nur Geld für mein Buch, sondern investieren für die Lektüre das Wertvollste, was sie besitzen: Lebenszeit. Siebtens: Ein historischer Roman ist ein Seelenspiegel Der Stoff für einen historischen Roman liegt buchstäblich auf der Straße – doch warum greift der eine Autor ihn auf, und der andere nicht? Ein historischer Roman ist, wie jeder andere Roman auch, ein Seelenspiegel des Autors. So seltsam es klingen mag: Nur wenn ich die historischen Figuren, die ich beschreibe, in meiner eigenen Seele wieder finde, mit ihren guten und schlechten Seiten, mit ihren Vorzügen und Lastern – nur dann kann ich sie zum Leben erwecken, sie beseelen, sie anfüttern mit ihrer eigenen Wirklichkeit, wie ich sie mir in der Recherche erarbeite. Finde ich meine Protagonisten aber nicht in mir selbst, kann ich mich zu Tode recherchieren – sie bleiben immer nur leblose Gestalten, tote Buchstaben auf Papier.

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PETER PRANGE

Achtens: Ein historischer Roman ist ein Gegenwartsroman Eine Geschichte berührt uns nur dann, wenn wir uns selbst darin wieder erkennen. Geschichte ›an sich‹ hingegen lässt uns kalt. Ein historischer Roman ist auch darin wie jeder andere Roman: ein Medium der Selbstverständigung. Indem er von scheinbar fremden Epochen und Kulturen erzählt, vermittelt er uns nicht nur einen Begriff von der Gewordenheit unserer Gegenwart, sondern hält uns zugleich einen Spiegel vor, um abgestorbene Wurzeln unseres kollektiven Denkens und Empfindens zu revitalisieren. Was bedeutet Glück? Was bedeutet Freiheit? Was bedeutet Gerechtigkeit? Indem wir die Irrungen und Wirrungen unserer Vorfahren nacherleben, erwachen verstaubte Lesebuchsentenzen zu neuem Leben. Errungenschaften, für die andere Menschen in gar nicht grauer Vorzeit Kopf und Kragen riskierten, doch an die wir uns im Lauf der Zeit so sehr gewöhnt haben, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen, werden wieder sichtbar und spürbar, erlangen neue, existentielle Bedeutung – hier und jetzt. Weil wir sie nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen begreifen. Neuntens: Ein historischer Roman ist kein Abbild, sondern Sinnbild Große Geschichten aus der Geschichte – das ist der Stoff, aus dem historische Romane sind. Große Geschichten sind immer dreierlei zugleich: gute Unterhaltung, Begegnungen mit fremden Lebenswelten, sinnbildhafte Schicksalshieroglyphen. Letzteres ist entscheidend. Dabei wächst die große Geschichte über die bloße Wiedergabe der Historie hinaus. Diese erschöpft sich in der Produktion von Abbildern. Große Geschichten hingegen stiften Sinnbilder. Von Menschen, die an die Grenzen des Menschenmöglichen gehen. Um zu erkunden, was Menschsein heißt und heißen kann. Zehntens: Ein historischer Roman ist zuerst und vor allem – ein Roman.

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ZWISCHEN AFFIRMATION UND REVISION POPULÄRER GESCHICHTSBILDER: DAS GENRE DER ALTERNATE HISTORY MICHAEL BUTTER

Alternate histories sind Erzähltexte oder Filme, die von einem kontrafaktischen Geschichtsverlauf handeln.1 Sie verhandeln hypothetische Fragen wie die, was geschehen wäre, wenn die Reformation nicht stattgefunden hätte, die Südstaaten den amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen oder die Nazis im Zweiten Weltkrieg triumphiert hätten. Meist verändern die Geschichten ein zentrales Ereignis wie die Schlachten von Gettysburgh oder Stalingrad oder die Biographie einer historischen Hauptfigur wie Martin

1

Bislang existiert nur eine recht überschaubare Anzahl von Studien zur Gattung. Diese benennen zudem den Untersuchungsgegenstand unterschiedlich. So spricht Jörg Helbig vom ›parahistorischen Roman‹ (1988) und Christoph Rodiek von ›Uchronie‹ (1997). Im englischsprachigen Raum hat sich nicht die eigentlich korrekte Bezeichnung alternative history durchgesetzt, sondern der an sich irreführende Ausdruck alternate history. Da dieser sowohl von den Autoren und Lesern der Texte bevorzugt als auch in den neueren Publikationen von Karen Hellekson (2001) und Gavriel D. Rosenfeld (2005) verwendet wird, benutze auch ich ihn. Dieser Beitrag geht nicht auf zwei Sonderformen des Genres ein, nämlich secret history und future history. Secret histories gehen von kleineren Veränderungen des Geschichtsverlaufs aus, die der großen Mehrheit der Weltbevölkerung jedoch verborgen bleiben. In zahlreichen amerikanischen Romanen der letzten Jahrzehnte beispielsweise setzt Adolf Hitler nach der Inszenierung seines Selbstmords im Führerbunker seinen Kampf im Geheimen fort; die offizielle Geschichtsschreibung bleibt davon jedoch unberührt, da höchstens einige Mossad- und CIA-Agenten von seinem Überleben wissen. Future histories dagegen erzählen die Geschichte der nahen Zukunft aus der Perspektive einer ferneren. Diese meist dystopischen Zukunftsvisionen – in den 1930er und 1940er Jahren entstanden zum Beispiel in Großbritannien einige Texte, die von einer deutschen Invasion erzählten – werden, wenn die geschilderten Ereignisse nicht eintreten, zu »retroactive alternate histories« (Rosenfeld 2005: 399). 65

MICHAEL BUTTER

Luther oder Adolf Hitler und gestalten von dort ausgehend die Konsequenzen. Denn alternate histories spielen normalerweise nicht in der Vergangenheit, sondern sind in einer alternativen Gegenwart angesiedelt, die sich in der Regel beträchtlich von der Welt unterscheidet, die die Leser kennen.2 Alternate histories, so könnte man daher sagen, sind ein besonders gutes Beispiel für Aristoteles’ berühmtes Diktum, wonach die Geschichte vom Faktischen, die Literatur aber vom Möglichen handle. Die Anfänge des Genres sind allerdings eng mit den Anfängen der Geschichtsschreibung an sich verknüpft; man kann sie, wie Gavriel Rosenfeld dies zum Beispiel tut, in einigen kurzen kontrafaktischen Spekulationen Herodots sehen (vgl. Rosenfeld 2005: 5). Eigenständige alternate histories entstanden jedoch erst nach der endgültigen diskursiven Trennung von Historiographie und Roman im 18. Jahrhundert (vgl. Davis 1983). Paul Alkon zufolge ist Louis Geoffroys Napoléon et la conquête du monde – 1812 à 1832 – Histoire de la monarchie universelle von 1836 die früheste bisher bekannte alternate history.3 Systematische Studien zur diachronen Entwicklung der Gattung sowie zu ihren Vorläufern in vergangenen Jahrhunderten liegen bisher nicht vor und stellen ein echtes Desiderat dar. Aufgrund dieser Forschungslage ist auch ungeklärt, ob eine Verbindung besteht zwischen Geoffroys Roman sowie ähnlichen französischen Texten des 19. Jahrhunderts und denjenigen amerikanischen Texten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie L. Sprague de Camps Lest Darkness Fall (1939), die das Genre im anglo-amerikanischen Raum populär gemacht haben. Wie der Verweis auf de Camps bereits impliziert, sind die ersten englischsprachigen alternate histories – zu deren Vorläufern in jedem Fall eine Zeitreisegeschichte wie Mark Twains A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court (1889) zu zählen ist – als eine Unterform des Science Fiction-Romans entstanden. Seit den 1960er Jahren jedoch, so hat Andy Duncan (2003: 211) kürzlich konstatiert, wurde viel alternate history auch außerhalb des Genres Science Fiction publiziert. In einer großen Zahl von Texten der letzten Jahrzehnte spielen Science Fiction-Elemente wie Zeitreisen oder technische Innovation keine Rolle; die Trope, über die Probleme der realen Welt verhandelt werden, ist meistens nicht ›science‹, sondern ›history‹. Daher erscheint es sinnvoll, 2 3

Die Beiträge in den mittlerweile zahlreichen Foren zum Genre deuten darauf hin, dass die meisten dieser Leser männlich sind. Vgl. Alkon (1987), besonders Kapitel 4 (115-157). Geoffroys Text ist insofern untypisch für das Genre, das er mitbegründet, weil er eine utopische Gegenwelt präsentiert. Aus Gründen, die ich weiter unten diskutiere, entwerfen die meisten alternate histories dystopische Alternativwelten. 66

ALTERNATE HISTORIES

alternate history als ein eigenständiges Genre zu begreifen, das im Spannungsfeld von Science Fiction und historischem Roman sowie utopischer und dystopischer Literatur angesiedelt ist. Dieses hybride Genre erfreut sich seit einiger Zeit vor allem in den USA unerhörter Beliebtheit beim Lesepublikum.4 Jedes Jahr erscheint eine große Menge an neuen Texten, die von der Antike bis zur Gegenwart die Geschichte umschreiben; sie werden von Lesern und Autoren in Onlineforen wie uchronia.net diskutiert, und mittlerweile widmen manche Buchhandlungen der Gattung sogar eigene Sektionen und Regale. Alternate history ist somit ein Genre, in dem sich die vielfältige und vielschichtige Popularisierung von Geschichte, der der vorliegende Band gewidmet ist, besonders deutlich zeigt. Die meist als Unterhaltungsliteratur geschriebenen und vermarkteten Texte des Genres sind dabei ein guter Indikator dafür, was an historischem Wissen bei den Lesern vorausgesetzt werden kann, denn die Romane und Erzählungen funktionieren nur, wenn ihre Manipulation der historischen Ereignisse auch als solche wahrgenommen wird. Alternate histories bestätigen somit zum einen im Akt der Negation historisches Wissen, wie auch Karen Hellekson (2001: 110) betont, die schreibt: »I find the alternate history a rewarding genre to read because it reinforces my historical knowledge«. Da dieses Wissen hochgradig kulturspezifisch ist – Christoph Rodiek (1997: 28) spricht in diesem Zusammenhang explizit von »kulturellem Wissen« – sind alternate histories zum anderen meist an einen Kulturraum beziehungsweise eine Sprache gebunden. Kontrafaktische Texte über den amerikanischen Bürgerkrieg zum Beispiel würden außerhalb der USA kaum verstanden und werden deshalb meist nicht übersetzt. Ausgenommen von dieser Beschränkung sind lediglich Texte über den Zweiten Weltkrieg, da ein gewisses, wenn auch oft stark verzerrtes Grundwissen über Hauptakteure und Ereignisse des globalen Konflikts transnational vorhanden ist. In Anbetracht der in vielerlei Hinsicht noch unbefriedigenden Forschungslage soll im Folgenden eine kondensierte Einführung in die For4

Die Gründe für die immer größere Prominenz des Genres sind bisher nur in Ansätzen erforscht; auch sind die bisherigen Überlegungen dazu nur bedingt befriedigend. Rosenfeld (2005: 6-9) nennt folgende Faktoren: »the discrediting of political ideologies«, »the emergence of the cultural movement of postmodernism«, das Fakt und Fiktion immer weiter verwischt, den digital turn und die »information revolution« sowie »[t]he emergence of entertainment as one of the primary standards of value«. Rodiek (1997: 12), der sich jedoch nur mit den komplexeren und selbstreflexiveren Texten des Genres beschäftigt, argumentiert, dass alternate history in postmodernistischer Manier die Grenzen zwischen Historiographie und Literatur aufweicht und das Augenmerk auf die Konstruiertheit aller Realität lenkt. 67

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men und Funktionen des Genres gegeben werden. Dabei werde ich zwischen zwei Idealtypen der alternate history unterscheiden. Affirmative alternate histories stabilisieren durch die Projektion einer (meist) dystopischen Gegenwelt, die dem realen Verlauf der Geschichte implizit utopische Züge verleiht, etablierte historische Narrative wie beispielsweise dasjenige vom amerikanischen Exzeptionalismus – die auf Alexis de Tocqueville zurückgehende Idee von der moralischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten. An diesen zumeist einer realistischen Ästhetik verpflichteten Texten ist eine oft problematische Popularisierung von Geschichte zu beobachten, da hier komplexe Zusammenhänge nicht selten unter Rückgriff auf essentialistische Kategorien vereinfacht werden. Diese Romane teilen daher signifikante Charakteristika mit denjenigen Texten, die Ansgar Nünning (1995: 262-267) in seiner Typologie des historischen Romans der Gegenwart als »realistische historische Romane« bezeichnet. Revisionistische alternate histories dagegen hinterfragen allgemein akzeptierte Narrative, indem sie suggerieren, dass ihre dystopischen Entwürfe den realen Geschichtsverlauf wesentlich adäquater repräsentieren. Diese meist postmodernistischen Texte wirken so der Popularisierung vereinfachender und oft offiziell verbreiteter Erzählungen von der Vergangenheit entgegen. Ihre »kulturelle Arbeit« entspricht daher größtenteils der desjenigen Subgenres des historischen Romans, das Nünning (1995: 268-276) den »revisionistischen historischen Roman« nennt.5 Da das für alternate histories charakteristische dystopische Element in Geschichten über Hitler, die Nazis und den Holocaust am deutlichsten zutage tritt, werde ich hier solche Texte als Beispiele heranziehen. William Overgards The Divide (1980) und Philip K. Dicks The Man in the High Castle (1962), zwei Romane, in denen die USA den Zweiten Weltkrieg verlieren und von Deutschland und Japan besetzt werden, werden in den folgenden beiden Sektionen den affirmativen respektive revisionistischen Idealtypus des Genres exemplifizieren. Abschließend werde ich aus zwei Gründen Philip Roths kürzlich erschienenen und kontrovers diskutierten Roman The Plot Against America (2004) diskutieren: Zum einen oszilliert Roths Roman zwischen Affirmation und Revision und 5

Der Begriff der »kulturellen Arbeit« geht nicht auf Nünning zurück, der nur von Funktionspotentialen spricht, sondern auf Jane Tompkins. Diese versteht unter »cultural work« die Eigenschaft von Texten, Sinnzusammenhänge und Welterklärungsmuster für ihre Leserinnen und Leser zu produzieren. Laut Tompkins sind fiktionale Texte »attempts to redefine the social order. […] They offer powerful examples of the way a culture thinks about itself, articulating and proposing solutions of the problems that shape a particular historical moment« (1985: xi). 68

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lenkt so das Augenmerk auf die Tatsache, dass zwischen den Idealtypen, die ich identifiziere, ein breites Kontinuum von Mischformen existiert. Zum anderen zeigt seine Hinwendung zum Genre, dass alternate histories nicht nur für ein Massenpublikum, sondern auch für etablierte und angesehene Autoren immer salonfähiger werden.

Der affirmative Typ: William Overgards The Divide (1980) Ansgar Nünning zufolge ist der realistische historische Roman »durch einen Verzicht auf metafiktionale oder ontologische Selbstreflexion und Illusionsstörungen« gekennzeichnet (1995: 264). Seine meist lineare Handlung ist auf kohärente Illusionsbildung ausgelegt und kreist meist um einige wenige Hauptfiguren, die mit historisch belegten Personen interagieren und mit denen sich die Leserinnen und Leser oft identifizieren. Raum und Zeit sind in diesem Typus des historischen Romans meist »weitgehend referentialisierbar«, d.h. mit dem allgemein verbreiteten Geschichtswissen vereinbar und komplementär, während »die Figuren und die Handlung weitgehend fiktionalisiert sind« (ebd.: 265). Der realistische historische Roman suggeriert so, dass Geschichte sowohl erfahrbar als auch darstellbar ist; er bringt, wie Jörn Rüsen formuliert, »Identität durch Affirmation vorgegebener Deutungsmuster menschlicher Subjektivität […] zur Geltung« (Rüsen 1992: 46). All dies trifft auch auf die große Mehrzahl von alternate histories zu, für die William Overgards The Divide (1980) hier beispielhaft stehen soll. Eine kohärente Handlung wird hier unter fast komplettem Verzicht auf metafiktionale und andere Illusionsstörungen präsentiert. Erfundene Figuren stehen als Sympathieträger und deren Antagonisten im Zentrum des Geschehens; historisch belegte Persönlichkeiten wie Hitler, Goebbels oder Tojo tauchen nur am Rande auf. Der einzige, natürlich zentrale Unterschied zum historischen Roman ist, dass The Divide von einem Amerika der 1970er Jahre erzählt, das seit Jahrzehnten von Deutschen und Japanern besetzt ist. Die »Komplementarität […] zum Wissen der Historiographie über die geschichtliche Wirklichkeit« (Nünning 1995: 265), die den realistischen historischen Roman auszeichnet, scheint daher nicht gegeben. Ich möchte jedoch argumentieren, dass Romane wie The Divide populäre Narrative über die Vergangenheit gerade nicht in Frage stellen, sondern implizit bestätigen und so eine ähnlich affirmative Funktion in Hinblick auf die Bildung und Stabilisierung einer kollektiven, meist nationalen Identität erfüllen wie der ›klassische‹ historische Roman.

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Die Handlung von Overgards Roman spielt in den späten 1970er Jahren und kreist um ein Gipfeltreffen zwischen dem mittlerweile greisen und senilen Adolf Hitler und dem japanischen Oberbefehlshaber Tojo, das zur Feier des 30. Jahrestages des Sieges über die USA an der divide, der Grenze zwischen dem deutschen und dem japanischen Gebiet, stattfinden soll. Als die letzten Widerstandskämpfer, die sich in einer Bergfestung in den Rocky Mountains und somit in der Nähe der Grenze versteckt halten, von diesem Plan erfahren, beschließen sie, ein Attentat auf Hitler und Tojo zu verüben – mit einer Atombombe. Das Vorhaben gelingt zwar nicht ganz, da die Atombombe nur Hitlers designierten Nachfolger und einige tausend Soldaten tötet. Der unter der Führung des jungen Cooper ausgeführte Angriff ist aber trotz der enormen Verluste ein Erfolg, da er den Widerstandsgeist der Bevölkerung neu belebt: »The loss of life had been appalling but it was what the nation needed« (227).6 Trotz dieses hoffnungsvollen Endes ist The Divide insbesondere für amerikanische Leser eine dystopische Schreckensvision. Sowohl Japaner als auch Nazis herrschen in ihren Besatzungszonen mit eiserner Hand, wobei sich die Deutschen noch deutlich grausamer verhalten als die Asiaten. Sie haben den Freiheitswillen der Bevölkerung durch brutale Unterdrückung völlig ausgelöscht und fast alle amerikanischen Juden in Todeslagern vergast. Zudem haben die Nazis bis auf 50.000 Arbeitssklaven alle Afro-Amerikaner der »permanent solution« (192) zugeführt und die indianischen Ureinwohner fast komplett ausgerottet – eine Gräueltat, die mit dem Euphemismus »The Great Herding« (35) verschleiert wird. Und im Kampf gegen die amerikanischen Guerillas setzen die Deutschen konsequent Napalm ein (153). Über amerikanischen Rassismus, die Sklaverei in den Südstaaten oder den Genozid an den Ureinwohnern vom 17. bis ins 19. Jahrhundert verliert der Text dagegen kein Wort. Die dunkleren Kapitel der eigenen Geschichte von der Kolonialisierung bis zum Vietnamkrieg werden konsequent umgeschrieben und auf die Deutschen projiziert. Der umstrittene Einsatz von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki wird implizit über das Ende des Romans legitimiert, da in der diegetischen Welt der Einsatz der Bombe nicht unverhältnismäßig ist, sondern als die einzige Möglichkeit erscheint, den zahlenmäßig und ausrüstungstechnisch überlegenen Feinden Paroli zu bieten.7 Die Gruppe der amerikanischen Widerstands6 7

Die besprochenen Romane werden alle nach den im Literaturverzeichnis genannten Ausgaben zitiert. The Divide bedient sich hier der auch in vielen populären Filmen zu beobachtenden Technik, die eigentlich überlegenen Amerikaner in der Rolle des underdog darzustellen. Während nicht-kontrafaktische Texte und Filme dies meist tun, indem sie eine Gruppe von Amerikanern isolieren oder, wie 70

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kämpfer besteht zudem aus Männern und Frauen, Weißen, AfroAmerikanern und indianischen Ureinwohnern, Juden und Christen und fungiert so als Gegenentwurf zur homogenen Masse der männlichen, rassistischen und anti-semitischen Japaner und Nazis. The Divide präsentiert trotz des dystopischen Rahmens also ein idealisiertes Bild der USA und seiner Bewohner, denen in essentialistischer Manier gemeinsame Charakteristika zugeschrieben werden. Der Roman legt nahe, dass Amerikaner bei aller Diversität Grundüberzeugen wie Mut, Freiheitsliebe und Demokratiebewusstsein teilen und diese auch von einer dreißigjährigen Schreckensherrschaft nicht ausgelöscht werden können. Dies sind exakt diejenigen Eigenschaften, die Amerikanern auch in vielen nicht-kontrafaktischen Narrativen, wie sie häufig in populären historischen Romanen oder Filmen zu finden sind, zugeschrieben werden.8 In diesem Sinne sind alternate histories wie The Divide also durchaus mit dem Wissen einer populären Historiographie komplementär. Der Realismus des Textes – die Alternativwelt gehorcht denselben physikalischen und anderen Gesetzen wie unsere Welt und die Menschen denken, handeln und fühlen so, dass die Leser sich mit ihnen leicht identifizieren können – suggeriert, dass Amerikaner immer und überall, in jeder möglichen Welt dieselben Prinzipien verkörpern. Sie repräsentieren das Gute, während ihre Feinde, allen voran Hitler, für das Böse stehen. Gleichzeitig beruht die kulturelle Arbeit von The Divide aber auch auf dem Kontrast zwischen der fiktionalen und der realen Welt, in die die Leser bei jedem Schließen des Buches zurückkehren. Der Roman macht sich die Sorge der Leser zunutze, dass alles auch ganz anders hätte kommen können. In dieser Hinsicht ist es signifikant, dass die wenigen Momente, die die kohärente Illusionsbildung des Romans doch durchbrechen, den Kontrast zwischen der realen Entwicklung seit den frühen 1940er Jahren und der Schreckensvision der Fiktion noch verstärken. Insbesondere über paratextuelle Elemente wird daran erinnert, welche Geschichte durch den Sieg der Nazi ausgelöscht worden ist. Kapiteltitel wie »All About Eve’s«, der auf eine Kneipe, das Eve’s, verweist (75), oder »Strangers in the Night« (177) evozieren die Erinnerung an populäre kulturelle Artefakte, die gemeinhin als typisch amerikanisch gelten und in der Welt des Romans nie entstanden sind – in diesem Fall den Film All About Eve (1950) oder Frank Sinatras kommerziell erfolgreichs-

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zum Beispiel der Science Fiction-Film Independence Day (1996), die USA von technisch überlegenen Außerirdischen angreifen lassen, leistet Overgards Roman dies durch seine Umschreibung der Geschichte. Repräsentativ für ein unglaublich großes Textkorpus sei hier nur auf Herman Wouks The Winds of War (1971) und War and Remembrance (1978) verwiesen. 71

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te Single aus dem Jahr 1966. In ähnlicher Manier verweist die Tatsache, dass der Held des Romans, Cooper, nach dem Schauspieler Gary Cooper benannt wurde, auf dessen patriotischen und anti-faschistischen Film For Whom the Bell Tolls (1943), der in der fiktionalen Welt, in der die Invasion Amerikas 1942 begann, ebenfalls niemals existiert hat. Für den Cooper des Romans ist sein Namensgeber daher nur »some actor« (90), für die Leser ist der Name aber ein Indikator, dass die Figur bald die heldenhafte Rolle ausfüllen wird, die Gary Cooper in seinen berühmtesten Filmen immer wieder gespielt hat.9 Verglichen mit der dystopischen Welt der Fiktion erscheint der reale Geschichtsverlauf seit 1945, der die Vereinigten Staaten zur Weltmacht gemacht hat, somit in geradezu utopischem Licht als die beste aller möglichen – politischen wie (populär-)kulturellen – Entwicklungen. Selbst wenn The Divide, so sehr sich der Text auch bemüht, nicht alle Erinnerungen an Rassenunruhen oder Sklaverei auszulöschen vermag, erscheint doch im Vergleich zu den Grausamkeiten der Nazis im Roman alles, was Amerikaner in unserer Welt getan haben mögen, als weit weniger schlimm. Am Ende der wegen des Vietnamkriegs und der fortdauernden Kontroversen über die Bürgerrechtsbewegung für das Selbstbild Amerikas so problematischen 1970er Jahre wird so die real existierende globale Hegemonie der USA legitimiert. Etablierte, aber zunehmend kritisierte Narrative über die Vergangenheit, die die positiven Charaktereigenschaften von Amerikanern hervorheben, deren wohltuenden Einfluss auf die Menschheitsgeschichte feiern und so die Idee eines moralischen Exzeptionalismus fortschreiben, werden bestätigt. Ich bezeichne daher Texte wie The Divide, die meist zur Konstruktion einer positiven kollektiven Identität beitragen, als affirmative alternate histories. Alternate histories dieses Typus verrichten ihre kulturelle Arbeit somit immer über den Kontrast zwischen der Dystopie, die sie entwerfen, und dem realen Verlauf der Geschichte, dem so utopische Züge verliehen werden. Das ist besonders deutlich in Texten, die von einem Sieg der Nazis im Zweiten Weltkrieg erzählen, gilt aber auch für Texte, die sich ganz anderen Epochen widmen. So bleiben die USA in Ward Moores Bring the Jubilee (1953) nach dem Sieg der Südstaaten eine Agrargesellschaft. Der Süden wird zwar neben dem Deutschen Reich zur Weltmacht, doch ethnischen Minderheiten werden weiterhin fast sämtliche 9

Die Parallelen zwischen den Filmrollen Gary Coopers und dem Cooper des Romans lassen sich noch weiter stricken: Wie Gary Cooper in Mr. Deeds Goes to Town (1936) oder Meet John Doe (1941) ist Cooper ein unprätentiöser common man. Und wie der Marschall Will Kane in High Noon (1952) einer Horde Banditen steht auch Cooper am Ende des Romans einer Übermacht von Nazis entgegen. 72

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Grundrechte vorenthalten. Und in einem britischen Beispiel, Kingsley Amis’ The Alteration (1976), verhindert nach dem Scheitern der Reformation das dogmatische Weltbild der katholischen Kirche praktisch jeden wissenschaftlichen Fortschritt, während barbarische Praktiken wie die Kastration begabter Sängerknaben fortbestehen. Die fiktionale Welt lässt so die reale geschichtliche Entwicklung im besten Licht erscheinen.10 Daher gilt im Grunde für alle affirmativen alternate histories, was Karen Hellekson über Poul Andersons Time-Patrol-Romane gesagt hat, in denen Polizisten in der Zeit zurückreisen, um die nachträgliche Manipulation historischer Ereignisse und die damit verbundenen Veränderungen des Geschichtsverlaufs zu verhindern. Für Anderson, so Hellekson (2001: 97), gibt es »a right history and a wrong history; he wishes to lay out and enforce the right path«. Sie spricht daher von seinen Romanen, in denen immer wieder die Rettung der realen Geschichte inszeniert wird, als »anti-alternate histories«. In dem Sinne, dass die kulturelle Arbeit dieser Texte trotz aller Lust am Imaginieren des Hypothetischen letztendlich in der Rechtfertigung und Feier des status quo besteht, sind daher alle affirmativen alternate histories »anti-alternate histories«.

Der revisionistische Typ: Philip K. Dicks The Man in the High Castle (1962) Eine relativ kleine Zahl von alternate histories verrichtet diametral entgegengesetzte kulturelle Arbeit. Diese Texte stellen allgemein akzeptierte Narrative in Frage und versuchen, Alternativerzählungen zu etablieren. Indem sie implizieren, dass ihre dystopische Vision eine angemessene

10 Dieses utopische Moment ist selbst an den wenigen alternate histories zu beobachten, in denen der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs oder sogar Hitlers Aufstieg verhindert werden. Der vielleicht bekannteste Text dieser Sorte ist Jerry Yulsmans Elleander Morning (1984), der von der Ermordung Hitlers durch eine junge Schauspielerin in den 1920er Jahren erzählt. Auch in diesem Text jedoch bleiben die utopischen Basiskoordinaten einer US-amerikanischen Nationalerzählung unberührt, da der Roman Amerikaner als die ›natürlichen‹ Beschützer von Freiheit und Demokratie präsentiert. Etwas anders gelagert ist der Fall in Stephen Frys Roman Making History (1996), der als fiktionale Umsetzung der Goldhagen-Thesen gelesen werden kann. Hier sorgen Wissenschaftler dafür, dass Hitler nie geboren wird – mit dem Ergebnis, dass ein klügerer Führer Deutschland zum Sieg im Zweiten Weltkrieg führt. Der eigentliche Geschichtsverlauf erscheint so zwar nicht als utopisch, aber noch immer als der bestmögliche. 73

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Beschreibung der historischen Wirklichkeit sei, widersetzen sie sich der von affirmativen Vertretern des Genres vorangetriebenen Popularisierung simplifizierender Erzählungen. In Anlehnung an Ansgar Nünning bezeichne ich diese Romane und Erzählungen daher als revisionistische alternate histories. Sie sind das funktionale, aber nur bedingt formale Äquivalent zu Nünnings revisionistischem historischem Roman. Nünning nennt die folgenden Merkmale für dieses Subgenre historischer Fiktion, das Gegenerzählungen anbietet, bisher als wahr erachtete Erkenntnisse neu perspektiviert und den Erfahrungen traditionell unterdrückter Gruppen wie Frauen oder ethnischer Minderheiten Ausdruck gibt: Der revisionistische historische Roman zeichnet sich – im Vergleich mit dem realistischen Typus – durch eine »erhöhte […] Dichte, Häufigkeit und Streubreite« der intertextuellen Bezüge aus; die erzählte Geschichte wird, herkömmliche Narrationsstrategien durchkreuzend, als »entchronologisiertes, fragmentiertes und kontingentes Geschehen präsentiert«, das von einer recht stark ausgeprägten Erzählinstanz immer wieder unterbrochen, kommentiert und relativiert wird (Nünning 1995: 270). Die Erzählung löst sich dadurch in »kleine Erzählsegmente auf«, die traditionellen Formen historischer Sinnstiftung inhaltlich – was erzählt wird, widerspricht meist dem etablierten Wissen – und formal zuwiderlaufen. Der revisionistische historische Roman leistet so »eine Überprüfung, Zurückweisung und Veränderung vorherrschender Geschichtsbilder« (ebd.: 272). Revisionistische alternate histories sind formal wesentlich konservativer. Erzählt wird zumeist nicht in fragmentierter oder inkohärenter, sondern traditionell realistischer Manier; das Hauptaugenmerk der Texte liegt auf der Handlung und nicht auf der Vermittlung durch die Erzählinstanz, die meist unsichtbar bleibt und das Geschehen nicht explizit kommentiert oder bewertet. Stattdessen wird in den meisten revisionistischen alternate histories etabliertes historischen Wissen über das Zusammenspiel zweier diegetischer Ebenen relativiert und umgeschrieben, indem zum Beispiel Parallelen zwischen dem Verhalten der Nazis in der Alternativwelt und demjenigen der USA in der realen Welt suggeriert werden, für die in traditionellen Erzählungen kein Platz ist. Revisionistische alternate histories enthalten nämlich, anders als affirmative Texte, oft Binnenerzählungen; ihre Figuren lesen regelmäßig selbst alternate histories, deren Inhalt ausgiebig zitiert und diskutiert wird. Diese Binnererzählungen lenken dabei nicht nur metafiktional das Augenmerk auf die Fiktionalität der Romane an sich, sondern der revisionistische Impetus der Texte kommt über sie und ihr Verhältnis zu den Rahmenerzählungen erst

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zum Tragen. Dies soll an Philip K. Dicks The Man in the High Castle, dem vermutlich bekanntesten Text des Genres, kurz erläutert werden.11 Wie The Divide spielt The Man in the High Castle in einem Amerika, das nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Japanern und Nazis aufgeteilt wurde. Anders als in Overgards Roman jedoch wird die japanische Besatzung als relativ wohlwollend geschildert, was vermutlich daran liegt, dass Japan in den späten 1950er Jahren, in denen der Roman spielt, noch keine wirtschaftliche Herausforderung für die Vereinigten Staaten darstellte. Für die Leser ist Dicks Roman deshalb jedoch kaum weniger dystopisch, denn seine amerikanischen Figuren leiden schwer unter der Beschränkung ihrer Freiheit und der Relegierung zu Bürgern zweiter Klasse. Ein wenig Trost finden sie im Roman The Grasshopper Lies Heavy des mysteriösen Autors Hawthorne Abendsen, der irgendwo in der deutschen Besatzungszone leben soll. Sein Roman, der illegal verbreitet wird, da er sofort nach seinem Erscheinen von den Deutschen verboten wurde, erzählt von einer Welt, in der die Alliierten den Krieg gewonnen haben – einer Welt, die der realen Welt sehr nahe kommt, sich aber doch von ihr unterscheidet. Denn in der Welt, von der The Grasshopper erzählt, haben die siegreichen USA erfolgreich Armut und Hunger in der Dritten Welt bekämpft, indem sie nachhaltige Entwicklungshilfe geleistet und Bildung und technisches Know-how verbreitet haben. Zuhause wurde gleichzeitig die Rassentrennung überwunden: »Whites and Negroes lived and worked and ate shoulder by shoulder, even in the Deep South« (156). Diese »utopia within [the] dystopia«, wie Paul Alkon (1994: 74) treffend formuliert hat, impliziert eine scharfe Kritik am tatsächlichen Verhalten der USA nach 1945 und legt bloß, was nicht getan wurde und was sich nicht verbessert hat. Das Ende des Romans verschärft diese Kritik und fügt eine weitere Dimension hinzu. Im letzten Kapitel des Romans fragt Juliana, die Protagonistin der Geschichte, das chinesische Orakel I Ging, das für alle Romanfiguren eine Quelle der Erkenntnis und spirituellen Orientierung darstellt und das laut Hawthorne Abendsen eigentlich für den Roman verantwortlich zeichnet, warum es den Roman geschrieben habe. Das Bild der Münzen, die sie wirft, interpretiert sie folgendermaßen:

11 Rodiek (1997: 31) sieht die Binnenerzählung gar als gattungskonstitutiv an. Dies liegt jedoch daran, dass Rodiek zwischen ›seriösen‹ Uchronien und rein als Unterhaltung konsumierten »alternate time-stream novels« unterscheidet, und nur erstere untersucht. Seine Unterscheidung entspricht in etwa meiner Dichotomie von revisionistischen und affirmativen alternate histories. 75

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»›It’s Chung FU,‹ Juliana said. ›Inner Truth. I know without using the chart, too. And I know what it means.‹ Raising his head, Hawthorne scrutinized her. He had now an almost savage expression. ›It means, does it, that my book is true?‹ ›Yes,‹ she said. With anger he said, ›Germany and Japan lost the war?‹ ›Yes.‹« (247).

Die Idee, dass die wahrgenommene Realität eine Illusion ist und sich von der eigentlichen, inneren Wahrheit beträchtlich unterscheidet, findet sich in vielen von Dicks Romanen. Julia und die anderen Figuren erleben die Welt, als ob die Nazis den Krieg gewonnen hätten, weil die USA ihren Sieg eben nicht benutzt haben, um das Leid der Dritten Welt und die Rassenkonflikte im eigenen Land zu beseitigen. Der von den Nazis vollzogene Genozid an den Einwohnern Afrikas, auf den in The Man in the High Castle angespielt wird, wird so zur Metapher für die Vernachlässigung Afrikas durch die USA in unserer Welt, die die Amerikaner implizit mit den Nazis gleichsetzt. Das »progressive narrative« des amerikanischen Exzeptionalismus wird so als eine ideologische Verzerrung und unangemessene Interpretation der realen Vorkommnisse entlarvt und durch ein selbstkritisches Narrativ ersetzt.12 Derselbe kritische Impetus zeichnet auch Norman Spinrads The Iron Dream (1972) aus. Auch hier beruht die kulturelle Arbeit des Romans auf der Spannung zwischen Rahmen- und Binnenerzählung. Während der Rahmen davon berichtet, wie Hitler 1919 in die USA auswandert und dort Karriere als Science Fiction-Autor macht, wird auf der Binnenebene sein erfolgreichster Roman Lord of the Swastika wiedergegeben. Dieser spielt in einer Fantasiewelt tausende von Jahren nach dem Atomkrieg, erinnert aber stark an den Zweiten Weltkrieg. Die genetisch Reinen führen einen Vernichtungskrieg gegen die minderwertigen Mutanten des Ostens, schicken ihre Gefangenen und die ›unwerten‹ Teile der eigenen Bevölkerung in die Gaskammer und – es ist ja Hitlers Vision – gewinnen am Ende diesen totalen Krieg. Der Roman, den Spinrad seinen Hitler schreiben lässt, ist aber doppelt konnotiert – und gewinnt hierdurch sein kritisches Potential. Der Feldzug erinnert nicht nur an den Überfall auf die Sowjetunion, sondern evoziert über Landschaftsbeschreibungen, Metaphern und das gnadenlose Verhalten der Invasoren, die wiederholt mit Napalm die Hütten der Zivilbevölkerung niederbrennen, auch den Vietnamkrieg.

12 Der Begriff des »progressive narrative« geht zurück auf Jeffrey Alexander (2002), der ihn im Zusammenhang mit der so genannten Amerikanisierung des Holocaust geprägt hat. 76

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Der Roman suggeriert so Parallelen in der Kriegsführung der Nazis und der Amerikaner. Durch das Zusammenspiel von Rahmen- und Binnenerzählung wird Hitler metaphorisch zum Autor des Vietnamkriegs gemacht, und es wird impliziert, dass sein Roman Lord of the Swastika den amerikanischen Krieg in Vietnam besser und adäquater beschreibt, als populäre und glorifizierende Erzählungen dies tun. Die Idee eines wie auch immer gearteten amerikanischen Exzeptionalismus wird dadurch ad absurdum geführt. Die traditionellen nationalen Narrative, die diese Idee transportieren und perpetuieren, werden umgeschrieben.

Zwischen Affirmation und Revision: Philip Roths The Plot Against America (2004) Offensichtlich handelt es sich bei den oben skizzierten rein affirmativen und revisionistischen alternate histories um Idealtypen, die man sich als die beiden Pole eines breiten Kontinuums vorstellen muss, auf dem eine Vielzahl von Zwischenformen und ideologisch ambivalenten Texten zu finden sind. Als Beispiel für einen solchen Text soll hier abschließend Philip Roths Roman The Plot Against America dienen, da auch dieser die Idee, Amerika könnte faschistisch werden, aufgreift, aber auf andere Art und Weise imaginiert. In Roths Roman tritt Charles Lindbergh, der berühmte Pilot, 1940 bei den Präsidentschaftswahlen gegen Franklin Delano Roosevelt an und schlägt diesen. Als Präsident hält Lindbergh, der offen mit Hitler sympathisiert, die USA aus dem Krieg heraus und initiiert Maßnahmen zur ›Integration‹ der jüdischen Amerikaner, die stark an die Maßnahmen der Nazis erinnern. Die Familie des Erzählers, eines kleinen Jungen namens Philip Roth, droht an dieser Situation zu zerbrechen. Die Lage spitzt sich weiter zu, als Lindbergh plötzlich spurlos verschwindet und es im ganzen Land zu antisemitischen Pogromen kommt. Doch dann greifen die demokratischen Mechanismen wieder, Roosevelt kehrt zurück, übernimmt nochmals das Präsidentenamt und führt die USA in den Krieg. Dieser endet wie in der Realität 1945; die Alternativgeschichte mündet so wieder in die Realgeschichte. Die amerikanischen Rezensenten haben fast durchweg den kritischen Impetus des Buches betont und den Roman als Kommentar zu den Entwicklungen nach dem 11. September 2001 gelesen. So schrieb zum Beispiel die Zeitschrift Village Voice: »The references to George W. Bush’s America are impossible to miss« (Brownstein 2004). Und in der Tat ist es schwierig, beim ersten Satz des Textes – »Fear presides over these memories« (1) – nicht an das Klima der Angst nach den Anschlägen von 77

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9/11 zu denken. Zudem evoziert die Beschneidung der Bürgerrechte den Patriot Act und andere umstrittene Maßnahmen. Auch erinnert Lindberghs Auftritt in Fliegermontur auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner stark an Bushs Landung – ebenfalls in Fliegermontur – auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln im Mai 2003, wo die Invasion des Irak als Erfolg, als »mission accomplished«, verkauft wurde. Während die Bush-Regierung versuchte, über den Begriff »Achse des Bösen« den Irak in die Nähe der Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs und somit des Faschismus zu rücken, rückt Roths Roman somit über die Figur Lindberghs die Bush-Regierung selbst zumindest in die Nähe des Faschismus. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass, egal welche Faschismusdefinition man anlegt, die USA im Roman nie wirklich faschistisch werden. Lindbergh führt eine rechtskonservative, isolationistische Regierung an, die mit den Faschisten sympathisiert, aber bis auf die kurze Phase nach seinem Verschwinden demokratische Verfahrensweisen nicht außer Kraft setzt. Erkennen wir in Lindbergh George W. Buch, so erscheint dieser in der impliziten Charakterisierung des Romans, wie das New York Magazine richtig schrieb, nicht wie Hitler, aber eben sehr wie Lindbergh – als ein rechtskonservativer Populist, der mit einfachen Parolen das Volk verführt hat (vgl. Gessen 2004). Das kritische Potential des Textes wird auch durch Lindberghs plötzliches Verschwinden am Ende des Romans nicht in Frage gestellt, wie zum Beispiel Evelyn Finger (2005: 42) denkt, die dem Text deshalb »Mutlosigkeit« vorwirft. Finger argumentiert, dass »das Böse [letztendlich] doch in Berlin [haust]«, da im vorletzten Kapitel Adolf Hitler plötzlich als Drahtzieher der Verschwörung und Lindbergh nunmehr als sein hilfloses, erpresstes Opfer erscheint. Finger übersieht jedoch, dass der Erzähler hier lediglich und selbst zweifelnd berichtet, was seine Tante Evelyn ihm erzählt. Evelyn, deren geistige Gesundheit der Roman stark in Frage stellt, hat diese Geschichte von Rabbiner Bengelsdorf, dem sie wiederum von Lindberghs Ehefrau erzählt worden sein soll. Indem der Text diese Erklärung eindeutig als Gerücht kennzeichnet, zieht er den Wahrheitswert der Geschichte extrem in Zweifel. Was hier meines Erachtens vorgeführt und parodiert wird, ist die Tendenz der amerikanischen Kultur, die eigenen kulturellen und sozialen Konflikte zu externalisieren und insbesondere auf Nazideutschland zu projizieren. Diese Tendenz ist in den meisten affirmativen alternate histories wie zum Beispiel The Divide zu beobachten, wo US-Rassenkonflikte als Antisemitismus verhandelt werden und die Nazis ganz explizit für die Ausrottung der Ureinwohner und die Versklavung der Afroamerikaner verantwortlich gemacht werden.

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Ist Roths Roman somit in Hinblick auf die Bewertung der BushRegierung äußerst kritisch, so affirmiert der Text jedoch gleichzeitig ein traditionelles Vertrauen in die moralische Überlegenheit der USA. Denn in The Plot Against America setzen sich die demokratischen Verfahrensweisen in dem Moment, wo sie wirklich bedroht werden, schließlich doch durch. Zudem vollzieht der Text selbst gänzlich unironisch, was er über die absurde Geschichte von Evelyn und Bengelsdorf parodiert. Selbst wenn Hitler nicht der Schuldige ist, stellt der Roman doch die Bedrohung der demokratischen Strukturen der USA als eine Bedrohung von außen dar, als eine unamerikanische Attacke auf genuin amerikanische Werte. Das ist bereits im Titel angelegt, der von einer Verschwörung gegen Amerika kündet. Völlig egal, ob Lindbergh oder doch Hitler hinter dieser Verschwörung stecken, beide werden durch diese rhetorische Operation als das vermeintlich natürlichen amerikanischen Werten wie Demokratie, Toleranz oder Freiheit entgegenstehende Andere definiert. Dieses Argumentationsmuster, das Verirrungen der amerikanischen Demokratie als dem Wesen nach unamerikanisch charakterisiert, wiederholt genau die Struktur, nach der im Roman Lindbergh und seine Helfer argumentieren. So wie diese einen Unterschied zwischen Amerikanern und Juden machen, unterscheidet der Text zwischen echten Amerikanern, die für Toleranz und Demokratie einstehen, sowie denjenigen, die offensichtlich nur dem Namen nach Amerikaner sind, nämlich Lindbergh und seine Unterstützer. Dieses problematische Argumentationsmuster wurde in der Geschichte der USA immer wieder aufgerufen, um Dissens zu ersticken oder eine Auseinandersetzung mit den fragwürdigeren Aspekten der eigenen Kultur im Keim zu ersticken. So hat die BushRegierung nach dem Folterskandal von Abu Ghraib immer wieder betont, dass das, was dort geschah, unamerikanisch sei. In einem Moment der Krise wurden so implizit amerikanische Werte als das Gegenteil von Folter affirmiert. Jeder nuancierten Untersuchung dazu, wie die amerikanische Rhetorik der Freiheit in Folter enden kann, wurde so von vornherein eine Absage erteilt. Vor diesem Hintergrund relativiert sich auch die Kritik an der Regierung Bush, die man im Roman erkennen kann. Bush erscheint nun als eine vorübergehende unamerikanische Abkehr von amerikanischen Werten und nicht als deren logische Konsequenz, die er vermutlich ist. Bei aller Kritik inszeniert der Roman somit gleichzeitig eine Affirmation des amerikanischen Projekts, die noch dadurch verstärkt wird, dass die unamerikanischen Umtriebe Lindberghs die historische Entwicklung nicht verändern, ja nicht einmal verzögern. So zeigt sich in The Plot Against America besonders deutlich die Tendenz der meisten alternate histories, »antialternate histories« zu sein. Auf dem Kontinuum des Genres steht der

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Roman daher letztendlich dem affirmativen Pol ein wenig näher als dem revisionistischen. The Plot Against America ist jedoch nicht nur interessant, weil der Text zwischen Affirmation und Revision oszilliert. Die Tatsache, dass sich mit Philip Roth einer der bekanntesten amerikanischen Autoren der Gegenwart dem Genre zugewandt hat, zeigt, dass zumindest in den USA alternate histories weiter an Popularität gewinnen und auch für etablierte Autoren immer interessanter werden.13 Die Veröffentlichung von Michael Chabons The Yiddish Policemen’s Union (2007), in dem den Juden 1941 erlaubt wird, sich in Alaska niederzulassen, weshalb nur zwei Millionen im Holocaust ihr Leben verlieren, stützt diesen Eindruck. Über die Ursachen, warum sich Vertreter der ›Hochkultur‹ zunehmend des populären Genres annehmen, kann nur spekuliert werden. Ein Grund könnte sein, dass es in der Tat erlaubt, den Spielraum der Fiktion inhaltlich möglichst weit auszuloten, ohne jedoch formal realistische Erzählstrategien aufzugeben, denen sowohl Roth als auch Chabon zumindest oberflächlich verpflichtet sind. Die Zahl der alternate histories, die jedes Jahr entstehen, wird also weiter zunehmen. Die meisten von ihnen werden weiterhin populäre Geschichtsbilder implizit reproduzieren und stärken; andere werden solche historischen Narrative aber auch hinterfragen und umschreiben.

Literatur Alexander, Jeffrey (2002): »On the Social Construction of Moral Universals: The ›Holocaust‹ from War Crime to Trauma Drama«. European Journal of Social Theory 5.1, S. 5-85. Alkon, Paul (1987): Origins of Futuristic Fiction, Athens: Georgia University Press. Alkon, Paul (1994): »Alternate History and Postmodern Temporality«. In: Thomas R. Cleary (Hg.), Time, Literature and the Arts: Essays in Honor of Samuel L. Macey, Victoria/BC: University of Victoria Press, S. 65-85.

13 Roth selbst jedoch ist sich der Gattungstradition entweder nicht bewusst oder verleugnet sie gezielt. In einem Essay für die Sonntagsausgabe der New York Times schrieb er nämlich einige Wochen vor Erscheinen des Buches: »I had no literary models for reimagining the historical past«. Er verwies jedoch auf dystopische Texte wie George Orwells 1984 und erkannte so implizit diese Dimension des Genres an (Roth 2004b). 80

ALTERNATE HISTORIES

Brownstein, Gabriel (2004): »Fight or Flight«. In: The Village Voice vom 21. September 2004 (http://www.villagevoice.com/2004-09-21/ books/fight-or-flight/). Zugriff am 10. Juli 2008. Davis, Leonard J. (1983): Factual Fictions: The Origins of the English Novel, New York: Columbia University Press. Dick, Philip K. (2001): The Man in the High Castle, London: Penguin. Duncan, Andy (2003): »Alternate History«. In: Edward Jones/Farah Mendlesohn (Hg.), The Cambridge Companion to Science Fiction, Cambridge: Cambridge University Press, S. 209-218. Finger, Evelyn (2005): »Totale Demokratie«. In: Die Zeit vom 18. August 2005, S. 42. Gessen, Keith (2004): »His Jewish Problem«. In: New York Magazine vom 20. September 2004 (http://nymag.com/nymetro/arts/books/ reviews/9902/). Zugriff am 10. Juli 2008. Helbig, Jörg (1988): Der parahistorische Roman: Ein literarhistorischer und gattungstypologischer Beitrag zur Allotopieforschung, Frankfurt/M.: Lang. Hellekson, Karen (2001): Refiguring Historical Time: The Alternate History, Kent/OH: Kent State University Press. Nünning, Ansgar (1995): Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Band 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier: WVT. Overgard, William (1980): The Divide, New York: Jove. Rodiek, Christoph (1997): Erfundene Vergangenheit: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur, Frankfurt/M.: Klostermann. Rosenfeld, Gavriel D. (2005): The World Hitler Never Made: Alternate History and the Memory of Nazism, Cambridge: Cambridge University Press. Roth, Philip (2004a): The Plot Against America, New York: Houghton Mifflin. Roth, Philip (2004b): »The Story Behind The Plot Against America«. In: New York Times vom 19. September 2004 (http://www.nytimes.com/ 2004/09/19/books/review/19ROTHL.html). Zugriff am 10. Juli 2008. Rüsen, Jörn (1992): »Historisches Erzählen«. In: Klaus Bergmann (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Düsseldorf: Kallmeyer, S. 44-50. Tompkins, Jane (1985): Sensational Designs: The Cultural Work of American Fiction, 1790-1860, New York: Oxford University Press.

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KLEINER HOBBIT UND GROSSER ARTUS: POPULÄRE MITTELALTERLICHE MYTHEN UND IHR POTENZIAL FÜR DIE FÖRDERUNG HISTORISCHEN DENKENS NICOLA EISELE Vorbemerkungen: Der Mythos lebt!1 Die Lage der Mediävistik ist ernst, sehr ernst sogar, glaubt man den diversen Analysen von betroffenen Fachhistorikern, und der Befund ist klar: der Elfenbeinturm Universität klagt über Unverständnis seitens der Öffentlichkeit und auch der Studierenden. Nicht wesentlich davon verschieden ist der Tenor in der Geschichtslehrerschaft, fragt man nach dem Schülerinteresse an den Themen, die im Mittelalterunterricht behandelt werden. Zugleich stößt man bei den Lehrerinnen und Lehrern häufig auf mäßige Begeisterung, wenn es um das Mittelalter geht. Das hängt zum Teil mit eigenen Schwerpunkten zusammen, die eher selten im Mittelalter liegen, aber auch damit, dass das ›dunkle Zeitalter‹ – je nach Schulform und Bundesland – in den Jahrgängen sechs bis acht unterrichtet wird und damit in die Hochzeit der Pubertät fällt. Es lässt sich mithin von einem mehrfachen Frustrationspotenzial sprechen, und man könnte zugespitzt von einem Teufelskreis sprechen: Geschichtsstudierende, die lustlos Mediävistik studieren, frustrieren ihre Hochschullehrer und unterrichten später Schüler in einer Epoche, mit der sie selbst nichts als Langeweile und Unverständnis verbindet, und aus eben jenen Schülern rekrutieren sich erneut die Lehramtstudierenden von morgen. Nur wenige finden aus unten noch näher zu untersuchenden Gründen dennoch Gefallen an dem 1

In Anlehnung an »König Artus lebt!« (Zimmer 2005). Wesentliche Anstöße und weiterführende Überlegungen für diesen Vortrag verdanke ich Andreas Bihrer, Simon Maria Hassemer und Julia Ilgner sowie meinen Fachdidaktik-Veranstaltungen und den Diskussionen mit Studierenden, vor allem während des Proseminars »Europäische Artusrezeptionen im Mittelalter« im Wintersemester 2008/09. Ihnen möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank aussprechen. 83

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Gedanken, sich auf eine Karriere als Mediävist an einer Hochschule einzulassen. Neben dem wissenschaftlichen Nachwuchs der Theologie gehören damit Doktoranden der Mediävistik wohl zu denjenigen jungen Leuten, die sich bei Partys, Mitfahrgelegenheiten und Familienfesten den massivsten Angriffen auf ihre Daseinsberechtigung ausgesetzt sehen. Diese sich selbst stets neu reproduzierende akademische und schulische Frustrationsgeschichte findet statt, während ›draußen in der Welt‹ das Mittelalter boomt und in den unterschiedlichsten Medien und Genres fröhliche Urständ feiert.2 Wesentlicher Bestandteil dieses Booms sind Jugendkulturen, die sich des symbolischen wie dinglichen Zitatenschatzes aus der vermeintlichen Mottenkiste Mittelalter ausführlich und in höchst unterschiedlicher Herangehensweise bedienen (vgl. Ferchhoff 2007: bes. Kapitel 7). Inhaltliche Anknüpfungspunkte bieten dabei nicht nur prominente Personen mit mehr oder minder mythologischem Hintergrund wie König Artus oder die Fortentwicklung mythischer Figuren wie Tolkiens Hobbits und Elben. Eine ebenso wichtige Rolle spielen auch Adaptionen von Strukturmodellen, insbesondere aus der höfischen Kultur mit ihren ideellen und materiellen Werten, kurz: alles, was zu einer anderen, einer ›Secondary World‹ dazugehört.3 Voraussetzung für die Popularität von zeitgenössisch adaptierten Mythen ist die Faszination, die das Mittelalter hier offensichtlich zu transportieren vermag. Historische Lebenswelten, die mythologische Stoffe mittelalterlicher Prägung aufgreifen, sind gerade bei Jugendlichen in der fortgeschrittenen Adoleszenz populär und tragen so maßgeblich zur Herausbildung von Geschichtsbewusstsein4 auf dem Weg zum Erwachsenenalter bei.

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Siehe zuletzt Groebner (2008). Groebner resümiert das Verhältnis dieses Booms zur Fachwissenschaft: »Die populäre Mittelalterszene erlebt seit den 1990er Jahren einen richtiggehenden Boom. Sie ist wissenschaftsfern« (140 f.; vgl. auch 160-165). Vgl. auch Goetz (2007) und aus fachdidaktischer Sicht Buck (2008). Darunter versteht man im Bereich der Fiktion konstruierte in sich schlüssige Welten, die eigenen Regeln, Sprachen, Erinnerungskulturen etc. gehorchen. Eine solche ›Secondary World‹ ist z.B. Mittelerde als Schauplatz der Erzählungen von John R. R. Tolkien oder das Land Oz des L. Frank Baum, aber auch Thomas Mores Utopia lässt sich als Secondary World verstehen. Vgl. zum Begriff der ›Secondary World‹ im Kontext der Fantasy-Literatur Clute (1997) und Schmid (2008). Vgl. dazu Schönemann/Schreiber/Voit (2007), die das Projekt »FUER Geschichtsbewusstsein« vorstellen (vgl. www.FUER-Geschichtsbewusstsein. de, Zugriff am 16. März 2009). So schillernd und umstritten der Begriff des Geschichtsbewusstseins auch sein mag, so hat er die Öffnung der Fachdidaktik gegenüber außerschulischen Aneignungsformen von Geschichte vo84

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Für populäre Rezeptionen mittelalterlicher Mythologien5 durch Jugendliche ist dabei charakteristisch, dass sie gerade nicht in didaktischer oder pädagogischer Absicht verfasst wurden. Ebenso wenig gehören sie spezifisch zur Gattung des historischen Romans oder in den Bereich der Jugendliteratur.6 Umgekehrt dürfte gerade dies die Anziehungskraft des Mittelalters für Jugendliche ausmachen: niemand will sie hier vordergründig belehren, und es geht nicht darum, sich speziell an ihre Altersgruppe im Unterschied zu den ›richtigen‹ Erwachsenen zu wenden. Mythologische Stoffe, die zeitgenössisch populär interpretiert werden, sind solche, die weitgehend unabhängig von Alter und Bildungsbiographie an die Fragen von Menschen des 21. Jahrhunderts anschlussfähig gemacht werden können. Im Folgenden geht es um die Herausarbeitung der geschichtsdidaktischen Möglichkeiten, die die Mittelalterfaszination bei Jugendlichen im Sinne einer Förderung von »Kompetenzen historischen Denkens« bieten könnten (vgl. Körber/Schreiber/Schöner 2007).7 Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Frage, ob sich in der Auseinandersetzung mit dem populären Geschichtsbewusstsein Rückschlüsse über die Bedingungen gewinnen lassen, die das Mittelalter attraktiv machen. Welche Motive treiben junge Menschen dazu, sich in ihrer Freizeit freiwillig und mit

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rangetrieben und ein Bewusstsein für die Konstruiertheit von Geschichtsvorstellungen geschaffen. Ich verstehe mit Schönemann »Geschichtsdidaktik als Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft« (2003: 11). Auch in der internationalen Diskussion hat sich der Begriff Geschichtsbewusstsein durchsetzen können. Vgl. dazu diverse Beiträge im Jahrbuch der Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik 3-4 (2006/07). Als Quellen für populäre mittelalterliche Mythen beziehe ich mich v.a. auf folgende Titel, die sich mit dem Artus-Mythos und der mittelalterliche Strukturmodelle transportierenden Tolkienschen ›Secondary World‹ beschäftigen: Marion Zimmer Bradley, Die Nebel von Avalon (1983). Im Film: King Arthur (2005), 1 ½ Ritter (2008). Zu Tolkien: J. R. R. Tolkien, Der kleine Hobbit (1937); Der Herr der Ringe (3 Bde. 1966); Das Silmarillion (1977). Im Film: Die Herr der Ringe-Trilogie (2001/2002/2003). Vgl. auch Furch (1998) und Mikos et al. (2007). Damit ist selbstverständlich nicht behauptet, dass all diese Aspekte hier außen vor blieben – der Entstehungsimpetus ist jedoch ebenso davon zu unterscheiden wie das Rezeptionsverhalten der Jugendlichen in Bezug auf diese Medien. Eine Diskussion dieses Kompetenzmodells findet sich in den Beiträgen von Sauer (2008), Schönemann (2008) und Schreiber (2008) in der Zeitschrift für Pädagogik 54.2. Dort finden sich auch die Hinweise auf alternative Kompetenzmodelle der Geschichtsdidaktik. 85

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Begeisterung mit dem Mittelalter auseinanderzusetzen? Im Anschluss daran soll überlegt werden, welche Konsequenzen sich hieraus für einen kompetenzorienterten Geschichtsunterricht ergeben, der reflektiertes und (selbst-)reflexives Geschichtsbewusstsein fördern soll (vgl. Schreiber 2002). Das ebenso prekäre wie chancenreiche Potenzial der Fragestellung liegt in der immensen Unschärfe der zentralen Begrifflichkeiten »Popularität« und »Mythos« sowie dem semantischen Gehalt dessen, was im populären Mythos unter »Mittelalter« verstanden wird. Auch innerhalb der Jugendkulturen sind diese Begrifflichkeiten unscharf und naturgemäß sehr viel schwerer auf den Punkt zu bringen. Deshalb soll zunächst eine begriffliche Präzisierung von »Popularität« und »Mythos« versucht werden. Sodann stellt sich die Frage nach den Gründen für die Popularität von Mythen mit mittelalterlichen (oder auch vermeintlich mittelalterlichen) Bezügen. Von dort aus gilt es die These zu überprüfen, dass die Formen jugendlicher Begeisterung für das Mittelalter mit dem entwicklungspsychologisch dominanten Thema der Identitätssuche zusammenhängen. Diese Verbindungslinie ist grundlegend für eine Verknüpfung des populären Geschichtsbewusstseins mit den Zielen des Geschichtsunterrichts. Ob und wie mittelalterliche Mythen das Geschichtsinteresse wecken, wird exemplarisch über eine kleine Pilotstudie untersucht, die Studierende über ihre Lektüregewohnheiten im Kindes- und Jugendalter befragte. Die dabei gewonnenen Ergebnisse dienen als Ausgangspunkt für Überlegungen zu einer Konzeption von Mittelalterdidaktik, die sich der Herausforderung stellt, Kompetenzen historischen Denkens nicht gegen, sondern mit Hilfe des populären Geschichtsbewussteins zu fördern.

Popularität und Mythos Im Folgenden sollen die spezifischen Merkmale des Zusammenhangs zwischen dem Populären (vgl. u.a. Hecken 2007) und dem Mythos herausgearbeitet werden. Unter Mythos »versteht man meist mündlich tradierte Erzählungen, die im Dienste einer vorwissenschaftlichen Erklärung und Beschreibung der Lebenswelt stehen und sich meist vor der Folie eines kosmischen oder übernatürlichen Bezugsrahmens abspielen« (vgl. Simonis 2008). Ein erweiterter Mythosbegriff umfasst dabei auch Erzählungen, die mythische Themen aufgreifen. Die jüngere Kulturtheorie setzt sich mit dieser Problematik im Teilbereich der Komparatistik auseinander, die zwischen Stoff und Motivgeschichte unterscheidet bzw. beide Komplexe unter dem übergeordneten Begriff der Thematologie untersucht (vgl. Lubkoll 2008: 685). Zur präziseren Bestimmung des hier

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angewandten Mythosbegriffes erweisen sich die Fragestellungen der Thematologie deshalb als hilfreich, weil diese sich »nicht nur auf den eng umrissenen Bereich der geschichtlich überlieferten Stoffe und Motive, sondern zugleich allgemein auf thematische und formale Elemente der Literatur [bezieht], die zwar in einem Traditionszusammenhang stehen, aber nicht unbedingt intertextuell verknüpft sind (z.B. Freundschaft, Liebe, Tod)« (ebd.: 687). So könnte man Tolkiens Hobbit als einen neu entstandenen Mythos verstehen, der mit seinen nun mittlerweile rund siebzig Jahren Rezeptionsgeschichte ein neues mythisches Genre prägte. Tolkien selbst diskutierte die Gattungsfrage seines Werkes in dem später als Essay verschriftlichten Vortrag »On Fairy-Stories« aus dem Jahr 1937. Er verwendete hier den Begriff der Phantasie, was in der Folge dem Genre ›Fantasy‹ seinen Namen gab. Für Tolkien selbst ist die Phantasie ein wesentliches Merkmal seines Märchenbegriffs, den er folgendermaßen beschreibt: »I require a word which shall embrace both the Subcreative Art in itself and a quality of strangeness and wonder in the Expression, derived from the Image, a quality essential to fairy-story« (2005: 15). Wenn die Themen der Erzählung, wie z.B. Freundschaft, Liebe und Tod, sich auf den Stoff und die Motive selbst beziehen, so ist für den mythischen Aspekt einer populären Erzählung das Ansprechen menschlicher Wünsche und Sehnsüchte zentral. Tolkien begründet damit auch die elementare Bedeutung des Mythos für sein eigenes Märchenverständnis und umschreibt die anthropologischen Grundfragen mit den Begrifflichkeiten »Recovery, Escape, Consolation«.8 Dass (vermeintlich) mittelalterliche Strukturelemente wie beispielsweise Zauberkraft, Herrschaft, Traum und Bruderschaft9 in populären Mythen mit Erfolg adaptiert werden, zeigt, dass sie in der Lage sind, an zentrale anthropologische Fragestellungen anzuschließen. Von daher erschließen sich für die Identitätsfrage eine Fülle von Anknüpfungspunkten. Die Suche nach dem eigenen Selbstverständnis lokalisiert sich bewusst in der faszinierenden Umgebung einer Anderen Welt (Secondary World), die ihre dinglichen wie personellen Bezüge aus mittelalterlichen bzw. als mittelalterlich verstandenen Mythen speist. Eine zentrale Rolle spielen dabei Fragen wie: Wer bin ich? Wer bin ich in Bezug auf meine Umwelt, die Gesellschaft, die Welt? Wie kann ich Freunde finden und wie können Freundschaften bestehen? Welchen Sinn könnte mein Leben haben? Je nachdem, welche dieser Fragestellungen gerade im Mittelpunkt der Identitätsfindung steht, eröffnet der populäre Mythos mannigfache Möglichkeiten für ›Wieder8 9

So auch der Titel des entsprechenden Kapitels in »On Fairy-Stories« (vgl. Tolkien 2005: 18-24). Vgl. die Systematik in Kirchner (2007). 87

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herstellung, Flucht und Trost‹. Die Übernahme einer der angebotenen Perspektiven, z.B. der eines Hobbits, eines Elben, Ritters oder einer Zauberin bietet die Chance, sich in eine Andere Welt zu flüchten, dort im Auffinden der eigenen Nöte und vergleichbarer Konstellationen Trost zu finden, und in der Auseinandersetzung mit den hier durchgespielten Lösungsmöglichkeiten ›wiederhergestellt‹ in das eigene Leben zurückzufinden. So gewinnt das Mittelalter – quasi nebenbei – für Jugendliche einen ganz eigenen Reiz, der sehr viel mit ihrem eigenen Leben zu tun hat. Eine weitere Präzisierung der hier verhandelten populären mythischen Erzählungen ist innerhalb eines allgemeinen Verständnisses von Kinder- und Jugendliteratur erforderlich. Hilfreich sind dabei die Untersuchungen der Leseforscherin Heidi Lexe (2003). Ihrer Theorie zufolge bilden die Klassiker der Kinderliteratur einen »populären Kanon«, der sich unabhängig vom Alter der Leserinnen und Leser10 ganz allgemein über das Merkmal einer breiten Rezeption definiert. So sind die Breite des rezipierenden Publikums und die generationenübergreifende ›Haltbarkeit‹ eines Themas zentrale Kennzeichen für Popularität. Notwendigerweise gehört dazu nach Lexe (2003: 39) auch die Lebendigkeit eines klassischen Themas, und so versteht sie im Anschluss an Ergebnisse der Leseforscherin Emer O´Sullivan Klassiker »als ästhetisch uneinheitliche Textgruppe […], die sich über bestimmte Marktmechanismen über Jahrhunderte hinweg zu einem Kanon zusammengefunden hat. Marktmechanismen schließen in diesem Fall nicht nur Fragen der Distribution, sondern auch der Rezeption und intermedialen Bezugnahme mit ein«.

Mit den Bezügen zur Rezeption und Intermedialität (vgl. Rajewski 2002) wird ein weiteres Moment der Popularität von Mythen mit mittelalterlichen Strukturelementen transparent und zugleich der Begriff der ›Erzählung‹ intermedial geweitet. Kriterium ist also nicht nur das Medium oder Genre, in dem mittelalterliche Mythen zu populären Narrationen werden, sondern der aktive Umgang mit der Vorlage, in dem sich zeitgenössische Popularität niederschlägt. Prominente Beispiele hierfür sind die breite Rezeption der Tolkienschen Geschichten wie auch der Artuserzählung in unterschiedlichsten zeitgenössischen Medien, die einen Rezipientenkreis finden und dabei nie nur dem Vorbild als Abbild folgen, sondern stets die

10 Wie auch Tolkien in »On Fairy-Stories« im Kapitel »Children« sich energisch gegen einen Märchenbegriff ausspricht, der diese in die Kinderzimmer verbannt: »But fairy-stories offer also, in a peculiar degree or mode, these things: Fantasy, Recovery, Escape, Consolation, all things of which children have, as a rule, less need than older people« (2005: 15). 88

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erwarteten Publika in die neue Narration integrieren.11 Der Kernbestand des Mythos, eine bewusste Auswahl an Strukturelementen, Archetypen und Themen, bleibt aber bestehen, Narration, Medium und Genre ändern sich jedoch. Ein Thema erweist sich dann als populär im Sinne eines ›populären Kanons‹ (und wird so erst mythentauglich!), wenn diese Kette von Rezeptionen nicht abreißt, sondern sich bestenfalls über Jahrhunderte bewährt. Nur solche Narrationen finden Eingang in den ›populären Kanon‹, die eine den Inhalten wie Publika entsprechende Ästhetik, eine insgesamt hohe emotionale Ansprechbarkeit (anthropologische Konstanten in Erzählungen aus der ›Anderen Welt‹) sowie das Potenzial langfristiger Rezeption aufweisen.

Geschichtsinteresse im Jugendalter und populäre mittelalterliche Mythen Warum ist ausgerechnet das Mittelalter in mythischen Rezeptionen der Gegenwart bei Jugendlichen so populär? Merkmale eines populären Geschichtsbewusstseins lassen sich ohne Rückgriff auf das Rezipientenverhalten nicht beschreiben. Untersuchungen dieser Art sind im Grenzbereich von Fachdidaktik und empirischer Sozialforschung angesiedelt und damit fachübergreifend ausgelegt bzw. auf die Methoden der jeweiligen Referenzwissenschaft angewiesen. Diesem Pfad folgt – zumindest ansatzweise – auch der Mediävist Valentin Groebner in seinem Buch Das Mittelalter hört nicht auf (2008). Er befragte in erster Linie Vertreter der Fachwissenschaft – darunter sozusagen in Eigenanamnese auch sich selbst – nach der Genese des Wunsches, sich mit dem Mittelalter beruflich auseinanderzusetzen und ermittelte aus dieser Sicht folgende Gründe: Zunächst bietet das ›Mittelalter‹ offensichtlich einen idealen Fluchtort vor dem eigenen Alltag und auch den Ansprüchen der modernen Welt. Es folgt die klassische, auch bildungsplantaugliche Antwort, dass ohne die Kenntnis der Wurzeln des modernen Europa im Mittelalter heutige Verhältnisse nicht zu verstehen seien (vgl. Groebner 2008: 12-15; Buck 2008: 159). Hinsichtlich seiner eigenen Motivation nennt Groebner zum einen die ästhetische Faszination des »mittelalterlichen Materials« und beschreibt zum anderen Erfahrungen als junger Erwachsener und Demonstrant:

11 Zu einem solchen aktiven Umgang gehören auch (Computer-)Spiele. Der kulturwissenschaftliche Forschungsansatz der Ludologie diskutierte jüngst intensiv die Zusammenhänge von Narration und Spiel. Vgl. z.B. Frasca (2003). 89

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»Ich habe am Beginn der 1980er Jahre an den Demonstrationen gegen die Startbahn West teilgenommen und fand das wilde theatralische Spektakel damals höchst verlockend und aufregend: Leute, die sich mit schwarzen Masken vorm Gesicht für einen Nachmittag im Wald verkleideten, halblautstarke narzisstische Laienspieltruppe, halb Trachtenverein mit selbsterfundenem gewalttätigen Brauchtum. […] Das hat mich an den mittelalterlichen Karneval erinnert, über den ich zur selben Zeit eine Seminararbeit schrieb; und über dieser Mischung aus gespielter und echter Gewalt fing ich an, mich fürs Mittelalter zu interessieren« (Groebner 2008: 13f.).

Für die Mittelalterexperten an der Universität, so lässt sich zusammenfassen, weisen die Begründungsmuster für die Faszination und die Begründung des eigenen Geschichtsinteresses eine hohe Übereinstimmung mit Tolkiens Märchenkriteriologie auf: Flucht, Wiederherstellung, Trost. Parallel zum hohen Frustrationspotenzial angesichts der akademischen und schulischen Vermittlungsbemühungen mittelalterlicher Geschichte existiert im populären Geschichtsbewusstsein eine aus vielfältigen Medien und Genres geprägte Vorstellung von Mittelalter, ein ›gefühltes Mittelalter‹, dessen Bilderwelt sich aus populären Filmen, Werbeplakaten, Romanen und Fiktionen speist. Dieser Vorstellungswelt ist kaum zu entkommen, und so ist davon auszugehen, dass auch künftige Lehrerinnen und Lehrer auf solche Mittelaltererfahrungen in ihrer bisherigen Biographie zurückgreifen können. Um zu überprüfen, ob und wenn ja wie populäre mittelalterliche Mythen das Geschichtsinteresse wecken, führte ich eine kleine Pilotstudie mit 18 Studierenden durch.12 Lehramt12 Ich entwickelte einen Fragebogen zur Lektürebiographie von Geschichtsinteresse, den ich in meiner Übung zur Fachdidaktik am Historischen Seminar Freiburg im Sommersemester 2008 austeilte. 18 Studierende beteiligten sich (darunter 9 Männer und 9 Frauen), die alle Geschichte in der zweiten Phase mit dem Ziel Lehramt studierten und das Praxissemester in der Schule bereits absolviert hatten. Gefragt wurde nach den Lektüregewohnheiten, wobei in die Gattungen Sachbuch, nacherzählte Geschichte in Romanform (Bezug: Ereignisgeschichte) und Fiktion mit (vermeintlich) historischen Bezügen (z.B. Helden, Abenteuer, als für ›damals‹ typisch verstandene Werte) unterschieden wurde. Es wurde auch nach den Ursachen für die damalige Faszination der genannten Bücher und schließlich nach der selbstreflexiven Begründung, weshalb gerade diese Inhalte in diesem Alter Geschichtsinteresse weckten, gefragt, wobei diese Fragen differenziert nach Lebensphasen von 6-12, 12-14 und 14-18 Jahren ausgewertet wurden. Die Fragebögen werden im Folgenden mit der Fragebogennummer (abgekürzt FB Nr. n; w für weiblich, m für männlich) zitiert. Eine Auswertung auf geschlechtsspezifische Unterschiede steht noch aus, signifikante Abweichungen lassen sich aber im Anschluss an den bisherigen Ergebnisstand 90

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studierende bilden die Schnittmenge des Frustrationszirkels: ihre Schulund Jugendzeit liegt nicht allzu lange zurück, sie haben durch die Hochschule und die im Praxissemester gewonnenen Unterrichtserfahrungen aber einen gewissen Abstand und idealerweise auch eine reflektierte Distanz zu ihrer Selbstwahrnehmung als Schülerinnen und Schüler gewonnen. Sie bilden diejenige Personengruppe, in der sich populäres Geschichtsbewusstsein, Fachwissenschaft, Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik noch am nächsten sind. Welche Rolle spielten für diese Studierende Lektüreerlebnisse der Kindheit und Jugend in Bezug auf Geschichte? Welche Motivation, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen, lässt sich daran ablesen?13 Die Beschränkung auf die Gattung Buch erwies sich in der Auswertung als pragmatisch sinnvoll, allerdings wäre eine Ausweitung auf weitere Gattungen wie Film, Musik, Comic und Computerspiel (auch Spielzeug wäre hier zu nennen) oder auch Reenactments wünschenswert. Interessanterweise erweiterten zwei Studierende die Kategorie »Lektüre« von sich aus intermedial. Eine Studentin erinnerte sich sehr gut an Kindersendungen im Fernsehen wie Ritter der Tafelrunde, König Löwenherz (FB Nr. 3/w)14, bei einer weiteren hinterließen die »Erzählungen des Nibelungenliedes durch meinen Vater« (FB Nr. 4/w) im selben Alter prägende Spuren. Innerhalb der Unterscheidung nach verschiedenen Gattungen – Sachbuch, historischer Roman, Fiktion mit historischen Strukturelementen (›Mythos‹) – nimmt das Interesse an Sachbüchern auf die gesamte Altersspanne zwischen 6 und 18 Jahren gesehen den geringsten Stellenwert ein. Dennoch überwiegt diese Gattung im Kindesalter von 6 bis 12 Jahren. So gaben vier Studierende (etwa 22 %) Lieblingsbücher aus der Was ist was Reihe an, zwei davon mit dem Schwerpunkt Ritter. Abgesehen von drei Studierenden, die durchgängig Romane zur NS-Thematik nannten (FB Nr. 6/w, FB Nr. 10/w), bevorzugten alle anderen Bücher mit mittelalterlich geprägten Mythen. Von den genannten 24 Titeln bezogen sich 21 Nennungen auf Fiktionen mit mittelalterlichen Bezügen (87,5%). Tolkiens Herr der Ringe wurde dabei fünfmal genannt (knapp 24%, darzunächst nicht ausweisen. Die Studie ist als ein erster Pilotversuch zu begreifen und die Ergebnisse als erste Befunde, die in einer umfangreicheren Untersuchung weiter geprüft werden müssten. 13 Eine gute Einführung zur begrifflichen Orientierung in der fachdidaktischen Diskussion über Motivation und Interesse bietet Günther-Arndt (2003: v.a. 27-32). 14 Die genauen Daten zu den Sendungen ließen sich leider nicht eruieren, möglicherweise hatte die Befragte die genauen Titel nicht mehr richtig in Erinnerung. 91

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unter je einmal auch Der kleine Hobbit und Das Silmarillion), die Artussage viermal (19%, davon dreimal in Form des Bestsellers von Marion Zimmer Bradley, Die Nebel von Avalon, einmal die Fernsehsendung Ritter der Tafelrunde). Als erstes Ergebnis der Pilotstudie kann als idealtypisches Entwicklungsmuster festgehalten werden, dass die Vorliebe zum Sachbuch im Alter von 6 bis 12 in der Pubertät15 von fiktionalen Erzählungen abgelöst wird, während die Altersgruppe zwischen 14 und 18 Jahren eher dem nacherzählenden Roman zuneigt, wobei es sehr viele Überschneidungen im Bereich von Roman und Fiktion gibt. Signifikant ist allerdings, dass im Altersabschnitt von 12 bis 18 Jahren kein einziger Studierender Sachbücher als Ausgangspunkt von Geschichtsinteresse nannte. Ebenso signifikant ist die Beobachtung, dass den Befragten die Bücher, die sie im Alter von 12 bis 14 Jahren lasen, am lebendigsten in Erinnerung geblieben sind, während spätere Leseeindrücke merkwürdig blass erscheinen. Dazu zwei Beispiele: ein Studierender merkte grundsätzlich an, er habe in seiner »Jugend wenige Bücher gelesen«, das einzige, woran er sich erinnerte, war das Buch Merlyn, das er im Alter von 12 bis 14 als schlechterdings »mitreißend« erlebt habe (FB Nr. 12/m). Ähnlich der Eintrag eines weiteren Befragten, der für den Abschnitt zwischen 14 und 18 Jahren angibt: »Keine Erinnerung mehr!« (FB Nr. 16/m). Beide Beobachtungen lassen darauf schließen, dass die positiven Leseerfahrungen, die während der Hochzeit der Pubertät gelingen, tiefere Spuren hinterlassen als in anderen entwicklungspsychologischen Abschnitten, und dass diese Erfahrungen nicht auf der Grundlage von Sachbuchlektüre gelingen. Es sind Romane und Fiktionen, die das Geschichtsbewusstsein im Alter ab 12 Jahren nachhaltig prägen. Welche Inhalte faszinieren in diesen mittelalterlich geprägten Erzählungen, und inwiefern sind diese Inhalte anschlussfähig an Fragen und Nöte von Jugendlichen in der Pubertät? Hierfür sind in erster Linie die (selbst-)reflexiven Aussagen bezüglich der Begründung der faszinierenden Lektüreeindrücke heranzuziehen.16 Am leichtesten fiel die Antwort darauf den drei Studierenden, die 15 Die Altersspanne von 12 bis 14 Jahren wurde der Pubertät zugeordnet, wobei die Grenzen fließend sind. Ich gehe hier von den in der Schule spürbaren ›Hochzeiten‹ aus, wohl darum wissend, dass sowohl zuvor, als auch vor allem danach von Pubertät gesprochen werden kann. 16 In diesen Aussagen spiegelt sich auch das Niveau des historischen Denkens der Lehramtsstudierenden. Nicht alle waren in der Lage, reflektiert und (selbst-)reflexiv ihr eigenes Geschichtsbewusstsein zu hinterfragen und zu begründen. Um die Vermittlung historischer Kompetenzen in der Schule zu optimieren, zeichnet sich hier auch die Frage nach den Konsequenzen für die Lehre an der Hochschule im Sinne einer Förderung historischer Kom92

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sich auf Lektüreerfahrungen im NS-Bereich bezogen.17 Demgegenüber gelang es fünf der Befragten (etwa 28%) mit mythischen Mittelalterbezügen in der Lektürebiographie weder diese Faszination inhaltlich zu beschreiben noch selbst-reflexiv zu begründen.18 Die genannten Begründungen der Studierenden können – z.T. analog zu den vorherigen Ausführungen zur Attraktivität mittelalterlicher Mythen – auf die Faszination durch Alterität, Identitätsstiftung, ethische Werte (FB Nr. 3/w und 5/w) sowie die Freude an kriminalistischer Tätigkeit im Aufspüren von »Fakt« und »Fiktion« (vgl. FB Nr. 1/m und 4/w) zurückgeführt werden. Zunächst zur faszinierenden Erfahrung des Fremden, sei es in Form anderer Zeiten, anderer Völker oder fiktiver Welten sowie zum Erkennen eigener Fragestellungen und Probleme und den im Fremden vorfindlichen Lösungsmodellen (Identität und Alterität):19 So bezieht eine Studentin die Faszination am Mittelalter auf die »Ehre und Würde der Ritter, Adel und unbedingte Verpflichtungen, Ruhmestaten«, die sie an den Referenzmythen Artus und Löwenherz festmachte (FB Nr. 3/w). Die Suche nach Alterität kommt in der selbstreflexiven Begründung zum Ausdruck: »So ganz anders als die teilweise doch antiautoritäre Welt in Schule etc. (Nehme ich mal an). Es gab den Eindrücken aus der Kindheit scheinbar Fundament.« Ethik und Alterität spielen auch für die Studentin die wichtigste Rolle, deren Referenzmythos Der Herr der Ringe war: »Fremdheit anderer Zeit, Hierarchien, Zauberei, Ritterlichkeit, z.T. Geschichte aber auch wirklich nur Hintergrund für die eigentliche Erzählung« (FB Nr. 5/w). Die Studentin erklärt sich heute ihre damalige Begeisterung aufgrund der »anderen Lebenswelt, dem Zusammenhalt der Figuren, der vermittelten Werte wie Respekt, Ehre, Mut, Durchsetzungsvermögen.« Teilweise finden sich diese Aussagen auch in den Begründungsmustern der anderen Studierenden wieder, in Wendungen wie: »Phantastische Welten [faszinieren durch] Exotik« (FB Nr. 2/m), »Mystik/Rätsel/ Magie« (FB Nr. 8/w) oder auch »Fantastische Welt mit bekanntem und petenzen der Lehramtsstudierenden ab. Nur wenn Lehrerinnen und Lehrer selbst in der Lage sind, ihr historisches Denken kompetenzsicher zu analysieren und wenn sie auch im Beruf dazu bereit sind, ihr eigenes Geschichtsbewusstsein stets kritisch zu überprüfen und für Neues offen zu bleiben, kann eine Vermittlung an die Schüler gelingen. 17 Alle drei Studierende, die die Faszination ihrer Lektüreerfahrungen im Bereich der NS-Zeit machten, konnten ihre Erfahrungen begründen, nur eine davon aber auch inhaltlich erläutern. Der Schluss, dass die größere zeitliche Nähe und Betroffenheit hier eine Rolle spielen, liegt nahe. 18 Darunter auch der Studierende, der für alle drei Altersabschnitte die Erzählungen Tolkiens angegeben hatte (FB Nr. 15/m). 19 Darunter fallen die Fragebögen Nr. 1/m, 2/m, 3/w, 4/w, 5/w. 93

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doch fremdem Klang« sind attraktiv, weil »[mich] Nebulöses mit Wahrheit über eigene Vergangenheit schon immer fasziniert [hat]« (FB Nr. 11/m). Teilweise wird die Faszination auch auf die »Mischung zwischen Fiktion und Geschichte« (Referenzmythos Deutsche Heldensagen, FB Nr. 1/m) zurückgeführt. Regelrecht provoziert und deshalb zu (historischem) Fragen angeregt fühlte sich diejenige Studierende, die wissen wollte: »Warum verschiedene Varianten einer Geschichte?« erzählt werden (FB Nr. 4/w) und die sich eine Antwort darauf erhofft, indem sie »danach schaut, was wahr und was erfunden« ist.

Mythos und Identitätsfragen im Jugendalter Der populäre Mythos bietet Jugendlichen gleich zwei attraktive Anknüpfungspunkte: einerseits eine Secondary World – andererseits Identifikationsangebote über Personen, Strukturen, Handlungsmuster und Wertsysteme. Die Anschlussfähigkeit an die Fragestellungen und Probleme des durch die Pubertät stark geprägten Jugendalters spiegelt sich in den oben entwickelten Kategorien für Mittelalterinteresse: Identität/Alterität, Ethik sowie Entdeckerfreude (›Kriminalistik‹). Das verdeutlichen auch die entwicklungspsychologischen Herausforderungen, mit denen sich Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren konfrontiert sehen: Wie finde ich Freunde? Wie verhalte ich mich zu den Veränderungen, die ich an meinem Körper erlebe? Welche Rolle habe ich in meiner Familie, der Schulklasse, der Gesellschaft? Wie finde ich einen Partner und wie lässt sich Partnerschaft leben? Wer bin ich heute, wie möchte ich mein Leben künftig gestalten? Die Attraktivität des Mythos als Ort »mit bekanntem und doch fremdem Klang« (FB Nr. 11/m) bewährt sich darin, dass diese Fragen für die Protagonisten, die in ähnlichem Alter wie die Leser sind, ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, man durch die fiktive bis phantastisch konstruierte Secondary World aber nicht Gefahr läuft, sich unvermutet im eigenen Leben wiederzufinden. So spielen die Abenteuer im Herrn der Ringe in einer »anderen Lebenswelt«, in der zugleich »der Zusammenhalt der Figuren« (FB Nr. 5/w) vorgelebt wird, den man in der eigenen Umwelt häufig so schmerzlich vermisst. Das fragile Selbstwertgefühl von Jugendlichen ist daher sehr empfänglich für ritterlich-mittelalterliche Werte wie Ehre, Mut und Durchsetzungsvermögen. Oder wie es eine Studentin hinsichtlich ihrer Begeisterung für die Nebel von Avalon formulierte: »Eine neue Welt, andere Religion, andere Werte« (FB Nr. 3/w) bestimmen das Geschehen, die Regeln sind klar.

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Die Protagonisten der populären mittelalterlichen Mythen sind überwiegend junge Menschen, die schwierige Aufgaben zu lösen haben – Schule kommt darin nicht vor. So begründeten immerhin vier der 18 Befragten ihre Lesefreude damit, dass die »Protagonisten im gleichen Alter« (FB Nr. 6/w, 9/m und 10/w) seien und die Lektüre die Neugier auf »Lebensumstände von Gleichaltrigen« (FB Nr. 13/w) befriedige. Mit der so ermöglichten Perspektivenübernahme, dem mühelosen Hineinschlüpfen in eine Figur und deren Welt, werden Antwortmodelle auf eigene Fragen verfremdet und dennoch am eigenen Leibe nachvollzogen und erlebt. Um es erneut mit Tolkien zu sagen: »If you are present at a Faerian drama you yourself are, or think that you are, bodily inside its Secondary World« (Tolkien 2005: 17). So bringt der Eintritt in die Secondary World gleichsam naturgemäß die Perspektivenübernahme mit sich und wird Teil des Ringens um die Identitätsfrage und der damit verbundenen Herausforderung. Jugendliches Ringen mit dem eigenen Ich und dem Sein in der Gesellschaft kommt in dieser Form vorreflexiv und ästhetisch provoziert quasi nebenbei zur Sprache: die Flucht aus zu engen Selbst- und Fremdbildern gerät zum Abenteuer, in dem diese Enge im Spiel auf der Suche nach sich selbst durchbrochen wird. Als Fluchthelfer sind populäre mittelalterliche Mythen also sehr gefragt.

Konsequenzen für eine kompetenzorientierte Geschichtsdidaktik des Mittelalters Der populäre mittelalterliche Mythos erweist sich in der Rückschau als eine Welt voller Widersprüche: in sich, zu den eigenen Erfahrungen, zur eigenen Welt, und auch zu den historischen Vorstellungen vom Mittelalter. Damit kommen auch historische Fragen und neben den Kategorien von Ethik und Identität/Alterität auch die ›Kriminalistik‹ ins Spiel. Getragen durch den motivationspsychologischen Antrieb der existentiellen Fragestellungen nach Gut und Böse und der Suche nach der eigenen Identität, übernimmt die historische Entdeckungsfreude – was stimmt am Mythos mit der historischen Realität überein, was nicht – die Funktion des geschichtsdidaktischen Türöffners in der Förderung historischen Denkens. Während die ethischen und identitätsrelevanten Probleme starke Motive für das Interesse an den Erzählungen darstellen, kann sich die Didaktik den entstehenden Irritations- und Frageimpetus zunutze machen. Das Geschichtsinteresse gewinnt an Relevanz, weil es im Anschluss an entwicklungspsychologisch drängende Fragestellungen entsteht. Fachdidaktisch gewendet bedeutet das nichts anderes als die Erkenntnis, dass »wissenschaftliche Konzepte […] ohne lebensweltliche 95

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Vorstellungen unfruchtbar [sind], auch weil die Relevanzzuweisung aus der Lebenswelt erfolgt. Alternative konzeptuelle Bezugsrahmen müssen jedoch im Geschichtsunterricht thematisiert werden« (Günter-Arndt 2003: 32). Zentral hinsichtlich der populären mittelalterlichen Mythen ist ihre Möglichkeit, intrinsische Motivation und Interesse für einen Bereich der Geschichte zu wecken, der ansonsten mit den eingangs geschilderten Frustrationserfahrungen verbunden wird.20 Wie demotivierend der herkömmliche Geschichtsunterricht gerade in Bezug auf das Mittelalter sein kann, zeigt folgende Aussage: »Gerade auch im Vergleich zur Neusten dt. Geschichte hat sich mein Interesse am Mittelalter erst während des Studiums entwickelt; als Jugendlicher habe ich mich kaum mit dieser Epoche beschäftigt und auseinandergesetzt – auch eine Folge meines wenig erbaulichen Schulunterrichts zum Mittelalter, der hauptsächlich im Auswendiglernen von Jahreszahlen und Ereignissen bestand. Insofern kann ich keine Titel nennen, die mich als Jugendlichen für diese Zeit einzunehmen wussten« (FB Nr. 18/m).

Auswendiglernen von Jahreszahlen und Ereignissen führt nicht zum Ziel, und diese Erkenntnis hat sich in der neueren Geschichtsdidaktik auch im Nachdenken über Kompetenzen weitgehend durchgesetzt: »Es ist also die Geschäftsgrundlage aller Kompetenzmodelle der Geschichtsdidaktik, dass es um […] die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein gehen muss, nicht um Geschichtswissen, schon gar nicht um kanonisiertes Geschichtswissen« (Körber/Schreiber/Schöner 2007: 201).

Einer kompetenzorientierten Geschichtsdidaktik geht es um das Fördern und Entwickeln historischen Denkens mit dem Ziel eines reflektierten und (selbst-)reflexivem Geschichtsbewusstseins. Sich Mythen spielerisch anzueignen, die Frage nach Fakt und Fiktion zu stellen und Methoden kennenzulernen, die diese Unterscheidung ermöglichen (und dabei natürlich auch dafür relevante Jahreszahlen und Ereignisse memorieren) könnte eine Möglichkeit sein, auch für das Mittelalter den Frustrationszirkel im Vermittlungsprozess zumindest punktuell zu durchbrechen. Hans-Jürgen Pandel hat 1996 bereits Überlegungen über die Möglichkeiten von Mythen im Geschichtsunterricht vorgestellt. Er nennt darin auch das Stichwort, das für eine Didaktik der mythologi-

20 Häufig überwiegt in der Schule die extrinsische, also von außen über den Leistungsdruck aufgebaute Motivation. Die Nachhaltigkeit solchen Lernens ist deutlich geringer als ein Lernen, das aufgrund intrinsischer Motivation geschieht (vgl. u.a. Heckhausen 2005). 96

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schen Narration zentral ist, nämlich der methodische Zugriff über die Dekonstruktion. Der didaktische Rahmen, den er für den Einsatz von Mythen steckt, beinhaltet die klassischen Instrumente der historischkritischen Quellenanalyse, geht darüber aber auch hinaus: »Sie [die Analyse einer Legende] kann sich dabei aber nicht erschöpfen. Die Fragen nach den sozialen Interessen und Funktionen sind wichtiger. […] Die Dekonstruktion von Mythen geht von der Frage nach ihren Wirkungen aus, sie fragt nach den Bedingungen, die die Langlebigkeit der Mythen erklären« (Pandel 1996: 19).

Der Mythos bietet jedoch didaktisch weit mehr als die Frage nach den Entstehungsbedingungen und seiner Rezeptionsgeschichte. Das zeigt sich dann, wenn man die vier Kompetenzbereiche historischen Denkens des von Andreas Körber, Waltraud Schreiber und Alexander Schöner entwickelten Modells (2007) auf den Umgang mit populären mittelalterlichen Mythen anwendet. Interessanterweise entsprechen diese vier Bereiche – Fragekompetenz, Methodenkompetenz, Orientierungskompetenz, Sachkompetenz – in auffälliger Weise der mythentheoretischen Analyse des Kulturtheoretikers Jean-Jacques Wunenburger (2003). Diese Parallele aufgreifend soll im Folgenden an populären Adaptionen des Artusstoffes gezeigt werden, wie, ausgehend von der intrinsischen, durch das vorfindliche Geschichtsbewusstsein geweckten Motivation, die vier Kernkompetenzen historischen Denkens entwickelt und gefördert werden könnten.21 Eine erste zentrale Kernkompetenz besteht darin, eine historische Frage stellen zu können. Historische Fragen entstehen durch Irritation, durch Verunsicherung und das Erkennen von Widersprüchlichem – und durch pointierte Fragen wie: »Wieviel Lancelot steckt in Lanze?«, d.h. der Hauptfigur der Kinokomödie 1 ½ Ritter: Auf der Suche nach der hinreißenden Herzelinde (vgl. Fiedler 2009). Weitere historische Fragen können sich hier anschließen: Welche mittelalterlichen Autoren greifen die Figur des Lancelot wie auf? Gibt es im Verlauf der mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte Entwicklungen dieser Figur? Wie lassen sich diese mit den zeitgenössischen Kontexten der Autoren, ihren Auftraggebern und Rezipienten in Verbindung bringen? Was bedeutete es beispielsweise im 12. Jahrhundert, über Ritter zu sprechen und welche gesellschaftli21 Ich greife dabei auf Ergebnisse und Erfahrungen zurück, die ich im Wintersemester 2008/09 in meinem Proseminar »Europäische Rezeptionen der Artussage im Mittelalter« am Historischen Seminar der Universität Freiburg gemacht habe. Hier habe ich keinen Fragebogen ausgeteilt, sondern an die Ergebnisse der Gespräche mit den Studierenden in den Sprechstunden angeknüpft. 97

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chen Gruppierungen beeinflussten das in den Epen vorherrschende Ritterideal? Der zweite Bereich, die Methodenkompetenz, besteht im vorliegenden Fall darin, die mittelalterlichen Motive des Filmes aufzuspüren und mit den Methoden der Fachwissenschaft zu überprüfen. So kann das im Film gezeigte Kampfgeschehen im Burginnenhof auf die Elemente eines höfischen Turniers hin untersucht werden. Dies führt beispielsweise zu dem Schluss, dass im Film »Lanze von mehreren Kriegern gleichzeitig angegriffen [wird], was mit dem Ritterideal unvereinbar gewesen wäre« (ebd.). Wunenburger nennt diese dem Mythos eignende Einladung zur Dekonstruktion die »Hermeneutik der Entleerung«, das Aufspüren der »mythischen Matrix« (2003: 294 f.). Auch der Film 1 ½ Ritter selbst ist eine historische Rekonstruktion, die aber bewusst ohne geschichtswissenschaftlichen Anspruch erfolgt, sondern mit dem offenen Ziel, zu unterhalten (und für die Produzenten Geld einzuspielen). Diese Rekonstruktion ist ein Vorgang, der bei Wunenburger als »mythische Bastelarbeit« beschrieben wird und an das Konzept der Secondary World erinnert: »Die zeitgenössische fiktionale […] Schöpfung präsentiert sich oft als freie Neuschöpfung« (ebd.: 297). Der dritte Bereich, die Orientierungskompetenz, dient dazu, eigene historische Vorstellungen zu hinterfragen. Am hier gewählten Beispiel sieht das folgendermaßen aus: Vage Vorstellungen über Lancelot konnten durch den fachwissenschaftlichen Nachweis mittelalterlicher Partikel im Film konkretisiert22 und der Grundverdacht, alle mittelalterlichen Bezüge im Film seien vollständig aus der Luft gegriffen, z.T. revidiert werden. Die Vermutung, dass es dabei gelungen sein könnte, das Welt- und Fremdverstehen (Alterität) wie auch das Selbstverstehen (Identität) zu reflektieren und zu erweitern, liegt nahe, bleibt letztlich aber schwer überprüfbar. Ob sich das potentiell gewandelte Geschichtsbewusstsein zudem in einer veränderten Handlungsdisposition (Praxis) niederschlägt, ist ebenfalls schwer überprüfbar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Wahrnehmung populärer Mittelalteradaptionen geändert hat, und Verdikte über historische ›Wahrheit‹ zumindest vorsichtiger ausgesprochen werden. Der vierte Bereich, die historische Sachkompetenz, d.h. das Erarbeiten historischer Begrifflichkeiten und Strukturierungsmöglichkeiten, kann ausgehend von dem Thema des Films – z.B. Ritterschaft, Turnier, Liebesvorstellung – und im eigenständigen Umgang mit fachwissenschaftlicher Methodik und Forschungskonzepten erfolgen.

22 Wunenburger (2003: 300) nennt diesen Vorgang die »Metamorphose des Mythos«. 98

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Die Auseinandersetzung mit einer populären Mythenadaption wie 1 ½ Ritter kann dazu dienen, die Vorstellungen über die Artusgeschichte zu reflektieren und sich die Ungewissheit der ›historischen Wahrheit‹ über die Artusfigur bewusst zu machen. Zur spezifischen Verantwortung eines Historikers gehört es, sich mit den Mitteln der Fachwissenschaft den populären historischen Rezeptionen zu stellen. Das bedeutet aber nicht, sich dabei den eigenen Spaß als Leser oder Kinobesucher nehmen zu lassen, sondern dieser kann auch als Horizonterweiterung begriffen und in vollen Zügen genossen werden.

Fazit Sowohl die Auswertung der Umfrage als auch die Erfahrung und Gespräche mit Studierenden über die Artussage und den Herrn der Ringe bestätigen die Annahme, dass Jugendliche in Form populärer Mythen auf mittelalterliche Themen mit hoher intrinsischer Lernmotivation und einem bereits vorhandenen Geschichtsinteresse reagieren. Dieser Beobachtung müsste im Lehrangebot Rechnung getragen werden, und die Behandlung populärer Mittelalteradaptionen und -mythen müsste in die Bildungspläne der verschiedenen Schulstufen und Schularten Eingang finden. Dabei ist die Beteiligung mehrerer Fächer in der Behandlung mittelalterlicher Mythen wünschenswert. Das Bildungsziel des vernetzten Denkens (in diesem Fall in den Fächern Deutsch und Englisch, Geschichte, Sozialkunde und Ethik/Religion) könnte so an das vorhandene Interesse anknüpfen und in Form von Projektunterricht umgesetzt werden. Auch für den bilingualen Geschichtsunterricht bieten populäre mittelalterliche Mythen einen idealen Ausgangspunkt, da die populären Vorlagen meist englischsprachig sind. Weil in der Grundschule die Trennung zwischen den Fächern durch Fächerverbünde häufig bereits aufgebrochen ist, fällt dort die Integration solcher Projekte in den Schulalltag sicher leichter als in den Sekundarstufen. Unabhängig davon, ob als Projekt oder als klassischer Fachunterricht, müsste ein an populären Mythen orientierter Unterricht zunächst nach den Konstruktionsbedingungen der Schülervorstellungen vom Mittelalter fragen. In einem zweiten Schritt ginge es um die Erarbeitung von historischen Fragen, die die Schüler an den Lehrer als Mittelalterexperten oder ganz grundsätzlich an die Geschichtswissenschaft haben. Im Anschluss an die Systematisierung der ersten beiden Schritte fallen dann die Grundentscheidungen über die Themen, Medien und Methoden, die die Schüler an eigenes De- und Rekonstruieren heranführen und in den Kompetenzen historischen Denkens fördern. In der Auswahl der Medien ist große Sorgfalt vonnöten, um das

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Interesse nicht von vornherein erneut zu blockieren. Eine breite Auswahl, die den Schülern Spielraum für eigene (zu begründende) Entscheidung lässt, ist möglicherweise ein Weg aus diesem Dilemma. Dass dabei auf das Sachbuch nicht grundsätzlich verzichtet werden muss, zeigen die Ergebnisse einer Studie von Carlos Kölbl (2004) zum Geschichtsbewusstsein von Schülern. Er weist nach, dass Schüler überwiegend positivistisch geprägte historische Fragen stellen und ein großes Interesse an ›gesicherten‹ Aussagen über die historische Wahrheit haben.23 Dieses Bedürfnis entsteht jedoch erst dann, wenn sich zuvor ein historisches Feld mit unmittelbar ansprechenden Fragestellungen eröffnet hat, so dass das Sachbuch als ein wichtiger Begleiter, vermutlich aber nicht als Initiator auf dem Weg der Dekonstruktion verstanden werden kann. Zur Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins eignet sich die Behandlung unterschiedlicher Gattungen historischer Erzählungen wohl am besten. Die Dekonstruktion in ihren verschiedenen Überlegungen und Schritten, bis hin zur Rekonstruktion und Schlussreflexion dürfte dabei in den Sekundarstufen ein wichtiger Bestandteil der Förderung (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins sein.24

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I Das Sachbuch als Begriff und literarische Form gab es im 19. Jahrhundert noch nicht. Zum ersten Mal verwendet wurde der Begriff in der Folge des Ersten Weltkriegs in Bezug auf die älteren Realienbücher, d.h. unterhaltend-belehrende Hand- und Lehrbücher für den Schulunterricht und häuslichen Gebrauch (vgl. Kreuzer 1983; Oels 2005; Diederichs 1978; Nissen 2008). Größere Verbreitung fand der Begriff Sachbuch in Deutschland erst seit den 1960er Jahren, insbesondere nach Einführung der Spiegel-Bestseller-Liste im Jahr 1961. Auch wenn der Begriff Sachbuch mittlerweile in der Alltagssprache angekommen ist, bleibt er einer der unschärfsten Begriffe für literarische Formen überhaupt. Innerhalb der Warengruppen-Systematik des deutschen Buchhandels ist die Warengruppe 9 »Sachbuch« zunächst ein Auffangbecken für Werke, die sich keiner anderen Gruppe zuordnen lassen (vgl. Rutz 2007). Die Zuordnung von Verlagsseite folgt hier vorwiegend verkaufsstrategischen Argumenten der Marketing- und Vertriebsabteilungen, hinter die literaturwissenschaftliche und gattungsgeschichtliche Überlegungen zurücktreten. Die germanistische Sachbuchforschung wiederum verzichtet aufgrund der willkürlichen Verwendung des Begriffs weitgehend auf Definitionen und untersucht zunächst die Phänomene, die sich aus der Zuordnung eines Werks zu einer bestimmten Warengruppe ergeben.1 In diesem Beitrag wird die Sachliteratur als Teil der nicht-fiktionalen Literatur behandelt, die sich im Bereich der wissenschaftlichen Literatur erst im 19. Jahrhundert von der fiktionalen Literatur abgegrenzt hat (vgl. 1

Damit grenzt sich die neue Sachbuchforschung explizit von der älteren Tradition der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Sachbuch ab, die sich vor allem durch ihren Blick auf die erzieherisch-volksbildnerischen Aspekte dieser Textsorte auszeichnete (vgl. Oels 2005: 8). 103

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Scheuer 1979: 231; Kreuzer 1983: 7f.). Der Reiz der historischen Sachliteratur beruht jedoch gerade auf ihrer Nähe zur belletristischen Literatur, der sie sich im 20. Jahrhundert wieder stärker annäherte. In Bezug auf das gesamte Feld historischer Sachliteratur ist die strikte Unterscheidung in fiktionale und nicht-fiktionale Literatur nicht immer möglich, da viele Sachbuchautoren bewusst die Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen in die Textproduktion einbeziehen (vgl. Nissen 2008: 40f.). Noch schwieriger erscheint eine klare Trennung in Sach- und Fachliteratur. Als entscheidender Unterschied wird hierbei der jeweilige Publikumsbezug angenommen. Das Fachbuch richtet sich danach an ein fachwissenschaftliches Zielpublikum, somit vor allem an Historiker und einen darüber hinausgehenden Wissenschaftsbetrieb. Das Sachbuch zielt auf ein breiteres Lesepublikum jenseits der Fachöffentlichkeit ab. Kennzeichnend für das historische Sachbuch ist somit zunächst die Wissensorientierung bei »primär privatem Nutzwert« (Rutz 2007: n.p.). Weitere Charakteristika wie die Illustrierung der Werke und die größere Rolle, die den Verlagen im Entstehungsprozess zufällt, treten dahinter zurück bzw. ergeben sich aus den Intentionen, die Autor und Verlag mit der Produktion des Werkes verbinden. Im 19. Jahrhundert lagen populäre und stärker spezialisierte Geschichtsschreibung noch so eng beieinander, dass sich die wachsende Kluft auf der diskursiven Ebene kaum widerspiegelte (vgl. Nissen 2009). Der entscheidende Einschnitt war hier der Erste Weltkrieg, in dessen Folge die Geschichte des historischen Sachbuchs in Deutschland erst beginnt. Das Lesepublikum weitete sich nun erheblich aus und wurde durch neue Vertriebs- und Verleihformen besser erreicht. Zudem wandelte sich die Erinnerungskultur durch die politischen Umbrüche der frühen Weimarer Republik grundlegend, so dass ein Markt für neue, nun auch demokratische Geschichtsbilder entstand. Im Streit um die sogenannte »Historische Belletristik« brach die Auseinandersetzung zwischen akademischer und populärer Geschichtsschreibung zum ersten Mal offen aus (vgl. Gradmann 1993). Führende Universitätshistoriker wie Heinrich von Srbik und Wilhelm Mommsen verwahrten sich gegen die preußenkritischen Werke von populären Historikern wie Emil Ludwig, Herbert Eulenberg, Stefan Zweig und Werner Hegemann (vgl. Historische Zeitschrift 1928). In der Folge traten die außeruniversitären Populärhistoriker nach und nach aus dem Schatten der Fachhistorie hinaus und der Graben zwischen akademischer Geschichtswissenschaft und außeruniversitärer Geschichtsschreibung vertiefte sich. Beim Vergleich der historischen Sachliteratur des 20. Jahrhunderts mit der populären Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts fallen mehrere Unterschiede auf, die den Begriff ›Historisches Sachbuch‹ in der

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ausschließlichen Verwendung für das 20. Jahrhundert rechtfertigen. Neu war erstens die stärkere Rolle, die die Verlage im Entstehungsprozess spielten. Die Verlage regten Geschichtswerke jetzt vielfach selbst an, gewährleisteten im Vorfeld die Finanzierung der Projekte und koordinierten bei größeren Sammelwerken die Absprachen zwischen den einzelnen Autoren. Zweitens wandten sich die Sachbuchautoren jetzt nicht mehr an ein mehr oder weniger schmales, bürgerliches Zielpublikum, sondern zielten mit den populäreren Werken auf ein breites Massenpublikum ab. Dies wurde auch durch die rapide fallenden Preise für Sachbücher ermöglicht. Drittens trat der unterhaltende Charakter der Wissensvermittlung in den Vordergrund, der die belehrend-didaktische Ausrichtung der älteren Werke überlagerte. Viertens wurde die Fiktionalisierung der Werke seit den 1920er Jahren zunehmend als Mittel erfolgreicher Wissensvermittlung erkannt und eingesetzt. Die Grenzen zum realistischen Roman verschwammen im 20. Jahrhundert zusehends (vgl. Kreuzer 1983: 9f.). Fünftens führten neue drucktechnische Möglichkeiten sowie der Erfolg des Mediums Fernsehen dazu, dass einer Visualisierung mit Bildern seit den 1970er Jahren eine größere Bedeutung zukam, selbst wenn sie im historischen Sachbuch noch immer nicht so wichtig wie in anderen Gebieten der Sachliteratur war. Die hier aufgegriffene Trennung in Sach- und Fachliteratur schließt keine grundsätzliche Unterscheidung in wissenschaftliche und populäre Geschichtsschreibung ein. Einerseits sind Fachhistoriker zunehmend als Berater und Experten bei größeren Sachbuchprojekten und Fernsehproduktionen beteiligt. So wurde etwa Guido Knopps ZDF-Erfolgsserie Hitler – eine Bilanz seit Mitte der 1990er Jahre von dem britischen Historiker Ian Kershaw betreut. Andererseits können populäre Geschichtsbücher nicht nur innovativ, sondern auch von nachhaltiger Bedeutung für das wissenschaftliche Feld sein: Wichtige Themen wie der Umgang mit dem Nationalsozialismus wurden erstmalig von Journalisten und Schriftstellern aufgebracht. Auch waren Sachbuchautoren häufig die ersten, die innovative Forschungsmethoden wie die Oral History systematisch einsetzten. Das Verhältnis der Sachbuchautoren zu den Fachbuchautoren lässt sich anhand des Vermittlungsverständnisses bestimmen, das sich aus dem jeweiligen Publikumsbezug ergibt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Selbstverortung des Verfassers innerhalb des Autorenfeldes, die für das Verständnis des Textes von entscheidender Bedeutung ist. Folgende vier Typen lassen sich dabei unterschieden: Der erste Typ, dem z.B. Paul Sethes populäre Bücher zur deutschen und russischen Geschichte aus den 1950er und 60er Jahren zuzurechnen sind, zeichnet sich durch ein sich der Fachwissenschaft unterordnendes Vermittlungsver-

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ständnis aus.2 Es handelt sich hier um den Prototyp der Popularisierung von Wissenschaft im Sinne einer bloßen Übertragung des Wissens vom Bereich der Wissenschaft in den Bereich der Öffentlichkeit. Die Sachbuchautoren dieses Vermittlungstyps ordnen sich der Fachwissenschaft unter und beanspruchen lediglich, das wissenschaftliche Wissen an einen breiteren Leserkreis weiterzugeben. Diesem Typus nahe stehend ist zweitens die der Fachliteratur gleichgeordnete Wissenssynthetisierung. Ein Beispiel hierfür ist Joachim Fests 1973 erschienene Hitler-Biographie. Fest betreibt keine eigenständigen Forschungen, sondern fasst die vorhandene Fülle an Forschungsliteratur zusammen. Auf den rund 1200 Seiten kommt er jedoch zu durchaus eigenständigen und neuen Ergebnissen, wobei er Hitler nicht weiter als reinen Machtpolitiker interpretierte, sondern in einem psychologisierenden Zugriff dessen frühe ideologische Prägungen in den Mittelpunkt stellte. Noch schärfer ist die Abgrenzung bei den Sachbuchautoren, die sich bewusst von der Fachwissenschaft abgrenzen und dabei eigenständige, teilweise innovative Forschungsansätze entwickeln. Unter diesem dritten Typus versammelt sich eine ganze Reihe von unterschiedlichen Ansätzen und Darstellungsformen. Der Erfolg bei den Lesern versetzt die Autoren in die Lage, sich den methodischen und darstellerischen Zwängen der Fachwissenschaft, wie der Reflektion des eignen Forschungsansatzes und dem Nachweis der verwendeten Quellen- und Forschungsliteratur, zu entziehen. Diese Freiheit führte zu Synthesen wie Golo Manns Deutsche Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts (1958), zu intellektuellen Glanzleistungen wie Sebastian Haffners Anmerkungen zu Hitler (1978) und zum Aufgreifen früher vernachlässigter kulturgeschichtlicher Themen wie in Wolfgang Schivelbuschs Geschichte der Genussmittel (1983). Diesem, mit der Fachwissenschaft in Konkurrenz tretenden Vermittlungsverständnis sind auch die Werke Werner Masers zuzurechnen. Beim vierten Typus haben die Sachbuchautoren das unmittelbare Verhältnis zu den Fachhistorikern verloren. Die Orientierung kehrt sich geradezu um. Deutlich wird dies bei den Werken, die seit Mitte der 1990er Jahren unter dem Label Guido Knopp firmieren. Knopps Bücher beziehen sich nur noch dann auf die geschichtswissenschaftliche Forschung, wenn sich der Forschungsprozess selbst anschaulich vermitteln lässt. Eine gezielte Abgrenzung von der Fachwissenschaft ist aufgrund des Erfolgs auf dem Buch- und Fernsehmarkt hier nicht mehr notwendig. 2

Beispiele hierfür sind Sethes Kleine Geschichte Russlands (1953), Epochen der Weltgeschichte: Von Hammurabi bis Kolumbus (1955), Zwischen Bonn und Moskau (1956) und Geschichte der Deutschen (1962). 106

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Spätestens seit den 1970er Jahren lässt sich ein zunehmender Rückgang eines sich der Fachwissenschaft unterordnenden Vermittlungsverständnisses feststellen. Die Sachbuchautoren orientieren sich nicht mehr vorwiegend an den Fachhistorikern der Universitäten, sondern beanspruchen ihrerseits, die ›bessere‹, da innovativere Geschichtsschreibung zu betreiben (vgl. Hardtwig 2005: 20). Dies spiegelt insgesamt einen mit dem Ende der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts verbundenen Deutungsverlust der geschichtswissenschaftlichen Forschung in der Öffentlichkeit wider.

II Auch der Bestsellerautor Werner Maser ordnete sich der fachwissenschaftlichen Forschung nicht unter. Maser verstand sich nicht als Mittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, sondern vielmehr als Geschichtsforscher, der lediglich andere Wege der Wissensproduktion und Wissensvermittlung ging. Welcher literarischen Tradition ist Masers historisches Werk somit zuzurechnen? An welches Zielpublikum richtete er sich? Was waren Gründe für seinen Erfolg? Und weshalb fanden die Werke innerhalb der Fachöffentlichkeit nicht die erhoffte Anerkennung? Trotz seines umfassenden Werks von insgesamt 26 Monographien, trotz seines außergewöhnlichen Erfolges auf den internationalen Buchmärkten und trotz seiner erstaunlichen Forschungsleistungen ist Maser in Fachkreisen weithin unbekannt. Zu seiner Person und zu seinem Werk gibt es bisher keinen einzigen Forschungsbeitrag.3 Verhindert hat dies die in Deutschland stark ausgeprägte Tradition, die als populärwissenschaftlich qualifizierte Geschichtsschreibung mit der Ächtung innerhalb der Fachöffentlichkeit zu belegen. Förderlich ist ein starkes Politisieren und Polemisieren, wie es in Teilen von Masers Werk festzustellen ist, für eine akademische Karriere bis heute nicht. Aufgewachsen ist Werner Maser (1922-2007) unter dem Eindruck der Naziherrschaft und ihrer Folgen. Er wurde mit seiner Familie aus Ostpreußen vertrieben, widersetzte sich auch deshalb der Verschiebung der deutschen Ostgrenzen, trat dann in der Nachkriegszeit für die Westintegration der BRD ein und machte das Ziel eines wiedervereinigten 3

Wie David Oels zutreffend feststellt, liegt das Forschungsdefizit bei den Sachbüchern auch darin begründet, dass ihr kommerzieller Erfolg sie der akademischen Fachwissenschaft als unseriöser Forschungsgegenstand erscheinen ließ. Diese aus der germanistischen Didaktik der 1960er Jahre stammende Tradition wird erst in jüngster Zeit stärker in Frage gestellt (vgl. Oels 2005: 7). 107

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Deutschland zu seinem politisch-historischen Bekenntnis. Zur Regierungszeit Helmut Kohls stieg Maser zu einer Art Hofhistoriograph der Bonner Republik auf. Wie bei vielen seiner Generation wurzelt die Arbeit als Historiker zunächst in seinen eigenen Erfahrungen. Ohne die Kenntnis seines Lebenswegs bliebe diese Untersuchung deshalb unvollständig. Maser wurde 1922 als Sohn eines Landwirts und Pferdezüchters auf dem ostpreußischen Gut Paradeningken in der Nähe von Königsberg geboren.4 Nach dem Abitur nahm er als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil und studierte nach einer mehrjährigen russischen Kriegsgefangenschaft seit 1949 Theologie, Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte in Berlin, München und Erlangen. Ab 1950 arbeitete Maser in Berlin als Assistent von Ernst Niekisch, der ihm auch das Thema für seine Dissertation Die Organisierung der Führer-Legende (1954) stellte. Seit Mitte der 50er Jahre war Maser als Schriftleiter verschiedener Werkzeitschriften in Frankfurt, Bochum, Leverkusen und Mannheim tätig. Mitte der 60er Jahre ließ er sich als freier Autor und Publizist in Mannheim, später in Speyer nieder. Daneben nahm Maser Lehraufträge an der Hochschule für Politik in München wahr. 1991 bis 1993 übernahm er die Vertretung des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er starb 2007 in Speyer. Erfolgreich war Maser nicht als Fachhistoriker oder Hochschullehrer – sein einziger bekannter, von ihm allerdings ungeliebter Schüler war Guido Knopp –, sondern als freier Autor, der sich vorrangig dem Themenkreis der totalitären Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmete. Den größten Erfolg erreichte er mit der Hitler-Biographie Adolf Hitler: Legende, Mythos, Wirklichkeit von 1971, die im Bechtle-Verlag bis 2001 18 Auflagen mit insgesamt rund 90.000 Exemplaren erlebte und mit 22 Übersetzungen das am häufigsten übersetzte Buch zur NS-Zeit ist.5 Zudem erreichte seine kommentierte Ausgabe von Hitlers Mein Kampf (1966) mit zehn Auflagen bis 2002 unter den Hitler-Editionen die weiteste Verbreitung. Hinzu kommt ein thematisch breit gestreutes Werk mit Titeln zur Revolution von 1918, zur Geschichte der Weimarer Republik oder zur Geschichte der Kirchenkritik des Kommunismus. Daneben schrieb Maser Biographien zu Friedrich Ebert, Paul von Hindenburg, Heinrich George und Helmut Kohl und gab mehrere Editionen der Memoiren ehemaliger NS-Größen heraus. Selbst eine mit Am Anfang war 4 5

Die Zusammenstellung der biographischen Daten geschah mit der freundlichen Unterstützung von Frau Ingrid Maser. Für die Angaben danke ich Gerhard Koralus von der Verlagsgruppe Langen-Müller, Herbig und Nymphenburger in München, mit denen der Bechtle Verlag im Buchbereich einen Kooperationsvertrag abgeschlossen hat. 108

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der Stein betitelte Geschichte der Bodenschätze, die auf seine Erfahrung als Schriftleiter von Bergwerkszeitschriften zurückging, wurde 1984 vom Verlag Droemer Knaur mit der hohen Erstauflage von 15.000 Exemplaren gestartet. Innerhalb der Fachöffentlichkeit blieb Maser jedoch ein Außenseiter. Der Erfolg als Publizist und freier Autor erlaubte es ihm, sich ab Mitte der 60er Jahre ganz auf seine historischen Forschungen zu konzentrieren. Dass ihm dabei mehr Zeit als den meisten Fachhistorikern für Recherche und Schreibarbeit zur Verfügung stand, zeigt sich bereits an dem bloßen Umfang seines Oeuvres. Dennoch richtete sich Maser mit seinen Werken primär an ein breiteres historisch interessiertes Publikum. Insgesamt war Maser damit erfolgreicher als die meisten deutschen Historiker. Eine Lehrtätigkeit an einer deutschen Universität übte er nur relativ kurz aus, nachdem er die Pensionsgrenze bereits überschritten hatte. Die Anerkennung durch die Historikerkollegen war Maser jedoch keinesfalls gleichgültig. Erst durch sie konnte er sich gegenüber seinem Lesepublikum als Mitglied der internationalen Forschungsgemeinschaft ausweisen. So nahm er beispielsweise in das Vorwort zur zwölften Auflage seiner Hitlerbiographie Ausschnitte aus fachwissenschaftlichen Rezensionen auf, bei denen die Gesamtaussage durch den gewählten Textauszug in verzerrter Weise wiedergegeben wird. Ein Beispiel ist eine Rezension Andreas Hillgrubers aus der Historischen Zeitschrift von 1973, die wie folgt zitiert wird: »Eine Fülle von Einzelheiten, die bisher unbekannt, umstritten oder legendenumwoben waren, erscheinen nun in einem klaren [im Original ›klareren‹] Licht« (Maser 1989: 8). Entgegen dem Eindruck, den dieses Zitat beim Leser hervorruft, handelt es sich bei der Rezension Hillgrubers eigentlich um eine kritische Auseinandersetzung mit Maser, die den Wert seines Werkes stark relativierte. Besser wiedergegeben wird der Tenor der Rezension durch den folgenden Textausschnitt, der von Maser bezeichnenderweise aber nicht ausgewählt wurde: »Nimmt man seine nicht sehr ausführlichen Bekundungen zur Grundlage, sah er seine Hauptaufgabe darin, neue Quellen aufzuspüren, um viele ungeklärte Details des Lebensweges Hitlers, vor allem aus seiner Kindheit und Jugend, aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und der ›Kampfzeit‹, zu sichern« (Hillgruber 1973: 456).

Der Unterschied zwischen den beiden Textauszügen ist offenbar, erschließt sich dem historischen Laien jedoch nicht. Maser provozierte und polemisierte. Er schied damit das Lesepublikum in verschiedene Lager. Großes Aufsehen erregte die von ihm kommentierte elfteilige Serie von Hitler-Briefen, die Der Spiegel im Jahr 109

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1973 abdruckte.6 Bereits im ersten Beitrag versprach Maser den Lesern eine bisher nicht erreichte Intimität im Umgang mit biographischen Details. Die neuen Quellenfunde sollten ermöglichen, dem »Führer und Reichskanzler« so nahe zu kommen wie nie zuvor: »Zum erstenmal lernt die Nachwelt den privaten Hitler kennen. Gleichsam Hitlers Hitler, denn die neuen Papiere zeigen Hitler, wie er sich selbst gab« (Maser 1973: 47). Zahlreiche Leserbriefe zeugen von der großen Aufmerksamkeit, die Maser mit diesen und anderen publizistischen Arbeiten erreichte. Auf Einwände und Berichtigungen reagierte er meist im nachfolgenden Heft. Für die Gegendarstellungen wurde ihm dabei vom Spiegel viel Raum zugestanden. Was machte Maser aus Sicht der Fachöffentlichkeit so problematisch? War die Ablehnung von universitärer Seite berechtigt, oder spricht aus ihr nur der Dünkel einer elitären Zunft, die sich jedem Emporkömmling widersetzt, der bei den Lesern auf größeres Interesse stößt? Zunächst: Masers Fachkompetenz ist, an klassischen geschichtswissenschaftlichen Maßstäben gemessen, unbestritten. In rund 40-jähriger Recherchearbeit hat er eine Unmenge an Informationen insbesondere zum Leben Hitlers und anderer NS-Größen zusammen getragen und ein gewaltiges privates Archiv aufgebaut. In seinen Untersuchungen stützt Maser sich auf ein Quellenensemble, das von Archivdokumenten, Zeugenaussagen, parlamentarischen Akten und journalistischen Quellen bis zur umfangreichen Auswertung der Sekundärliteratur reicht. Über die rastlose Durchforstung verschiedenster Archive legte er jeweils in den Vorworten der Werke Zeugnis ab. Maser erschloss im Rahmen der Nachforschungen für seine Doktorarbeit als erster das in die USA verbrachte Hauptarchiv der NSDAP. Ihm gelang der Fund der bis 1970 als verschollen gegoltenen medizinischen Gutachten zum Gesundheitszustand Hitlers aus der Zeit von 1905 bis 1945 (vgl. Maser 1989). Bei dem Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher im Jahr 1983 war er einer der ersten, der die Tagebücher als Fälschung entlarvte und ausdrücklich eine Untersuchung des Bundeskriminalamtes forderte. Die persönliche Bekanntschaft mit zahlreichen Zeitzeugen brachte ihn den Erben Hitlers näher, die ihn daraufhin als dessen Nachlassverwalter einsetzten, auch wenn die 6

Eröffnet wurde die Serie mit dem Aufmacher »Adolf Hitler. Aufriß über meine Person« (Maser 1973). Seit der Gründung des Spiegels war dies zwar das fünfte Mal, dass Hitler auf dem Cover abgebildet war; angesichts der Selbstverständlichkeit im Umgang mit Details aus Hitlers Privatleben steht die Serie jedoch am Beginn eines erneuerten Umgangs mit Hitler und dem Nationalsozialismus. Beim ersten Abdruck eines Porträts Hitlers war das Bild aus Rücksicht auf »die ausländischen SPIEGEL-Leser« noch grob gerastert worden (Der Spiegel 1973, Heft 14: 3). 110

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Rechte am Hitler-Nachlass weiterhin beim Bayerischen Finanzministerium liegen. »Man muss jetzt zurück zu den Quellen« war ein Leitmotiv seiner historischen Arbeit (Maser 2004b). Von populären Sachbuchautoren wie Sebastian Haffner oder Guido Knopp grenzte Maser sich explizit ab. Joachim Fest hielt er für einen historisierenden Feuilletonisten, der die Quellen nicht kenne und die verwendete Sekundärliteratur nicht korrekt angebe.7 Er selbst folge im Gegensatz zu den »Pseudohistorikern und Scharlatanen« (Maser 2004a: 5), die die historische Wahrheit »verfälscht, verfremdet und ›zeitgeistgerecht‹ umgeschrieben« (ebd.: 11) hätten, dem Diktum Thukydides’ und Rankes, die Geschichte lediglich so darzustellen, wie sie »eigentlich gewesen« (Maser 1992: xi).8 Einen besonderen Schwerpunkt legte Maser dabei auf nur ihm zugängliche Geheimquellen, etwa die Zeugenaussagen von führenden Alt-Nazis, mit denen er sich einen Wissensvorsprung gegenüber der Fachwissenschaft verschafft hatte, der es ihm erlaubte, dieser wiederholt Fehler im wissenschaftlichen Arbeiten nachzuweisen. So musste etwa Eberhard Jäckel auf den Nachweis Masers hin die Aufnahme gefälschter Hitlerbriefe in eine Edition von 1980 einräumen. Gemessen an den Maßstäben Archivarbeit, Quellenkenntnis, Kenntnis der Sekundärliteratur, Kontakte zu Experten und Zeitzeugen sowie Einsatz verschiedenster Forschungsmethoden entspricht Masers historische Arbeit voll und ganz dem Standard der Geschichtswissenschaften. Maser konnte als einer der besten Kenner des Nationalsozialismus in Deutschland gelten und war im Aneinanderreihen von Fakten vielen Fachhistorikern weit überlegen. Was wurde ihm somit zum Vorwurf gemacht? Und: Wieso war er trotz seines hoch spezialisierten Vorgehens so erfolgreich? »Masers Stärke, Fülle der Details und unermüdliches Bohren an Einzelfragen, ist zugleich seine Schwäche«, schrieb der Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher in einer Rezension zu Masers Hitler-Biographie im Spiegel von 1972 (Bracher 1972: 163), und der amerikanische Zeithistoriker Robert Waite merkte herablassend im American Historical Review von 1981 nach einem Totalverriss von Masers Adolf Hitler: Das 7

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Maser beschwerte sich 1973 auf der Buchmesse in Frankfurt darüber, dass Fest an mehreren Stellen von ihm abgeschrieben habe, ohne die Quelle anzugeben. Zudem wies er ihm zahlreiche handwerkliche Fehler nach. Fest wiederum bezeichnete Masers polemische Abwehrschlachten als »Aktivitäten mit manischem Charakter« (vgl. Der Spiegel 1973, Heft 42, S. 200f.). Geradezu ins Groteske gesteigert wird das Ranke-Diktum in der Einführung zu seiner Göring-Biographie: »Diese Biographie wird zu zeigen versuchen, was und wie Hermann Wilhelm Göring wirklich gewesen ist« (Maser 2000: 10). 111

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Ende der Führer-Legende an: »Maser is much better at collecting information« (Waite 1981: 875). Angesichts des »Sammelsuriums zahlreicher, unzusammenhängender Einzelbetrachtungen«, die in häufig sinnverzerrender Weise aneinandergereiht würden, gelinge es Maser nicht, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden (Schwarz 2004). Deutlich wird diese berechtige Kritik anhand eines Beispiels aus Masers Hauptwerk Adolf Hitler: Legende, Mythos, Wirklichkeit. In dem Kapitel »Der kranke Führer, Reichskanzler und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht« beschreibt Maser Hitlers Gesundheitszustand über Jahrzehnte hinweg en detail. So heißt es über seine gesundheitliche Verfassung im Jahr 1936, die anhand der Protokolle seines Leibarztes Dr. Theo Morell dargestellt wird: »Sein linkes Bein weist ein Ekzem auf, das Morell schließlich als Folge einer gestörten Verdauung diagnostiziert. Er läßt in Dr. Nissles Bakteriologischem Institut Freiburg/Breisgau aus Hitlers Exkrementen Bakterienkolonien züchten, um sich über den Zustand der Darmflora zu informieren. Das Ergebnis bestätigt eine Dysbakterie des Darmes, was Morell veranlaßt, seinem Patienten Mutaflor zu verschreiben. […] Er behandelt Hitler wegen seiner Magen-Darm-Störungen mit Mutaflor und versucht, die durch die vegetarische Kost erzeugten Blähungen durch die Strychnin und Belladonna enthaltenden Dr. Kösters AntigasPillen zu verhindern, von denen Hitler von 1936 bis 1943 (mit gelegentlichen Unterbrechungen) täglich 2 bis 4 einnehmen soll, womit er es jedoch oft nicht genug sein läßt« (Maser 1989: 378f.).

In höchst problematischen Ableitungen schließt Maser dann von dem jeweiligen Gesundheitszustand auf fundamentale politische und militärische Entscheidungen Hitlers zurück. Der relativistische Charakter dieses für die Leser durchaus faszinierenden methodischen Vorgehens liegt auf der Hand. Weitere Vorwürfe, wie die Verwendung unklarer und uneinheitlicher Begrifflichkeiten (Feldmeyer 1995: 10) sowie ein in penetranter Weise auf sich selbst zurückweisender Zitationsstil (Michalska 2001: 9), schließen sich an den zentralen Vorwurf der mangelnden Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem an. Durch die Technik der Faktenmontage kompiliert Maser bedeutende, jedoch häufig unzusammenhängende Ereignisse, wodurch sich überraschende Sinnüberschüsse ergeben, die von dem Autor jedoch nicht eingeordnet werden und den Lesern so eine Vielzahl von Assoziationen eröffnen. Deutlich wird dies anhand des folgenden Abschnitts aus der Biographie Helmut Kohls, in dem Maser die Zeitverhältnisse im Geburtsjahr seines Protagonisten wie folgt einführt:

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»Der 3. April 1930, ein Tag, an dem in der Chemiestadt am Rhein die Mittagstemperaturen fast 20 Grad aufweisen, wird nicht nur in der Hohenzollernstraße 89 im Ludwigshafener Stadtteil Friesenheim, wo Helmuts Großmutter lebt, als besonders ereignisreich registriert. Das Luftschiff ›Graf Zeppelin‹ ist zur ersten ›Fahrt‹ des Jahres aufgestiegen, Cosima Wagner, die 1837 geborene berühmte Tochter Franz Liszts, in Bayreuth eingeäschert, in Leipzig der fünfzehn Jahre später auf Weisung Hitlers als maßgeblicher Verschwörer um Stauffenberg hingerichtete Hitler-Gegner Friedrich Karl Goerdeler Oberbürgermeister geworden« (Maser 1990: 17).

Gerahmt wird dieses Panorama von der Beobachtung, dass die SPD sich 1930 der »staats- und demokratieerhaltenden Verantwortung« entzogen habe, woraufhin Maser eine unmittelbare Parallele zu dem »von seiner Partei im Stich gelassenen SPD-Kanzler« (ebd.) Helmut Schmidt zieht, dem am 1. Oktober 1982 Helmut Kohl als Regierungschef nachfolgte. Gerade dem konservativen bürgerlichen Leser bietet diese Faktenmontage die Möglichkeit, angesichts der staatstragend vorgebrachten Impressionen zur Lage der Nation sich den nachfolgenden Details aus dem Privatleben Kohls, die im Stile der Massenmedien Zeitschrift und Fernsehen aufbereitet werden, beruhigt hingeben zu dürfen. Die Freude an der Faktenmontage reicht jedoch zur Erklärung des Phänomens Maser nicht aus. Sie allein rechtfertigt weder die ablehnende Haltung der Fachwissenschaft noch den Erfolg beim breiteren Lesepublikum. Etwas anderes ist für den Charakter seiner Werke bedeutender: Maser kombiniert in seinen Werken ein konservatives Staats- und Gesellschaftsbild mit einem innerhalb der historischen Fachwissenschaft als unreflektiert und überholt geltenden, positivistischen Wissenschaftsverständnis, das in der breiteren Öffentlichkeit jedoch noch immer als wissenschaftlicher Standard gilt. So verglich Maser Röntgenaufnahmen von Hitlers Kopf mit Befunden des von den Russen für Hitler gehaltenen Toten, er stellte Vergleiche der Gesichtspartien von Hitler und dessen vermeintlichem Sohn Jean Marie Loret an, er ließ Gutachten von Stimmexperten und Graphologen erstellen und in Speziallabors Quellentexte anhand von Wasserzeichen und Papierqualität auf ihre Authentizität hin überprüfen. Zudem trug er in seinem Privatarchiv Quellenmaterial zusammen, das ihm von Zeitzeugen zur Verfügung gestellt worden war und zu dem nur er exklusiv Zugang hatte. Mit all dem beförderte Maser seinen Ruf als historischer Kriminalist, der seinen Fällen mit – wie er es selbst nannte – »aktendetektivistischer Gründlichkeit« nachging (dpa 1992: 16). Das Ergebnis davon ist, wenn auch von Maser möglicherweise nicht intendiert, ein durchaus gegensätzliches. Der Bezug auf vermeintlich ›klassische‹, quellenkritische Methoden der Geschichtswissenschaft, er113

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gänzt durch Methoden, die der Leser zunächst in Mordkommissionen und Speziallabors vermuten würde, führt dazu, dass die Vergangenheit durch die schnelle Abfolge von Einzelergebnissen emotionalisiert und bis zur Unkenntlichkeit remythisiert wird – also gerade nicht wie von Maser vorgegeben, »emotionslos, pragmatisch und ohne Besserwisserei« erscheint (1992: x).9 Gerade in Adolf Hitler: Legende, Mythos, Wirklichkeit ist dies offensichtlich, da Maser hier vergeblich versucht, Legenden und Gerüchte über Hitlers Abstammung, Gesundheit und sexuelle und psychische Verfassung zu widerlegen, sich dabei jedoch in Untiefen vorwagt, aus denen er bei seinen Aufklärungsversuchen nicht wieder herauskommt. Hitler wird in Masers Biographie nicht entzaubert, sondern im Gegenteil aus dem Dasein des gewöhnlichen Sterblichen herausgerissen und zu einer dämonischen Übergestalt verklärt. Maser kommt der historischen Wirklichkeit dadurch nicht näher.10 Über die Ursachen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, über Befehlsketten und kollektive Verantwortlichkeiten erfahren die Leser nichts. Alles läuft in der Person Hitlers zusammen, durch dessen Entzauberung und Verbürgerlichung die Geschichte des Nationalsozialismus selbst unerklärt bleibt. Der alte Vorwurf der Fachhistorie gegenüber der außeruniversitären Geschichtsschreibung, nicht auf die Kenntnis der Fakten, sondern auf die Deutung der Zusammenhänge komme es an, erhält hier seine Berechtigung (vgl. Nissen 2009: 69). Auch die fehlende Anerkennung durch die Fachwissenschaft trug dazu bei, dass Maser auf der politischen Skala zunehmend nach rechts rutschte. Scharfen Widerspruch hatte er zum ersten Mal mit dem Werk Nürnberg: Tribunal der Sieger herausgefordert, in dem er die These vertrat, dass die alliierten Siegermächte die Möglichkeiten der Siegerjustiz dazu genutzt hätten, ihre »Kriegs- und Menschheitsverbrechen« gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung zu verschleiern, das Korrespondieren dieser Verbrechen mit dem Holocaust zu leugnen und die Deutsch9

Zu einer ähnlichen Beurteilung kommt Hans W. Gatzke in einer Besprechung der englischen Übersetzung von Masers Hauptwerk Adolf Hitler: Legende, Mythos, Wirklichkeit (vgl. Gatzke 1974). Schärfer noch in seiner Kritik ist Emil Fackenheim, der Maser vorwirft, durch die Beschäftigung mit Details den Charakter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft insgesamt zu relativieren (vgl. Fackenheim 1975). 10 Deutlich wird dies etwa bei dem scheinbar faktengesättigten Beginn seiner Göring-Biographie, in dem er auf einer über eine Seite reichenden Aufzählung Görings Rolle und Ämter aneinanderreiht und dadurch ein mosaikartiges Gemälde zeichnet, das zwar das Interesse des Lesers auf die »schier sagenhaft erscheinende […] Vita Görings« lenkt, nicht jedoch zur Abgewogenheit des Gesamturteils beiträgt (Maser 2000: 7f). 114

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land auferlegten Kriegslasten weiter zu verschärfen (vgl. Maser 1977).11 Widerspruch erregte auch sein Buch Der Wortbruch: Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg (1994), in dem Maser behauptete, dass sowohl Hitler als auch Stalin jeweils Präventivkriege geplant hätten und Hitler Stalin mit dem Überfall auf die Sowjetunion lediglich zuvorgekommen sei. Gleich mehrfach revidierte er das Bild von Hitler, der den Lesern zunächst als mächtiger Führer, dann entscheidungsschwacher Zauderer und zuletzt tragisch-brillanter Kriegsherr entgegentritt. Spätestens mit seiner letzten Veröffentlichung, Fälschung, Dichtung und Wahrheit über Hitler und Stalin (2004), stellte sich Maser gänzlich ins Abseits (vgl. PfahlTraughber 2005). Gefeiert wurde er jetzt nur noch in der rechtsextremistischen Presse, die ihm in seinen Thesen von der Überlegenheit Hitlers gegenüber dem Generalstab, der Tapferkeit der Wehrmacht, den Ausmaßen der alliierten Kriegsverbrechen und der Rechtsverdrehung in den Nürnberger Prozessen bereitwillig folgte.12 Die Lust an der Provokation, das Bedürfnis nach öffentlicher Aufmerksamkeit und die fehlende Anerkennung innerhalb der Fachöffentlichkeit hatten Maser zuletzt auch von den wissenschaftlichen Leistungen seiner früheren Werke abgeschnitten.

III In Bezug auf die historische Literatur handelt es sich bei dem Begriff Sachbuch um einen zwar weit verbreiteten, jedoch kaum sinnvoll eingrenzbaren Begriff. Definiert wurde das Sachbuch hier pragmatisch als Teil der nicht-fiktionalen Literatur, die sich an Leserkreise jenseits der Fachöffentlichkeit wendet und von zunächst privatem Nutzwert ist. Masers Arbeiten werden hier der historischen Sachliteratur zugerechnet. Dabei bewegte Maser sich fortwährend auf der Grenze zwischen Sach- und Fachliteratur. Er verzichtete ausdrücklich auf Techniken der Ästhetisierung und grenzte sich im Gegensatz zu den Autoren der Tatsachenromane der 1950er und 60er Jahre, wie C.W. Ceram und Rudolf Pörtner, ausdrücklich von der belletristischen Literatur ab. Zudem bliebt das ambivalente Verhältnis zur internationalen Fachwissenschaft für den Charakter und den Entwicklungsgang seines Werkes von entscheidender Bedeutung. Seine Werke, insbesondere zu den totalitären Diktaturen der 11 Vgl. dazu auch das Interview mit Gerhard Frey (Maser 2004b). 12 Vgl. die Interviews Masers in der Nationalzeitung, in der auch Masers Werke Nürnberg. Tribunal der Sieger und Fälschung, Dichtung und Wahrheit über Hitler und Stalin zustimmend aufgenommen wurden. (Nationalzeitung 42.6, 13. Oktober 2006; Nationalzeitung 28.6, 15. September 2006). 115

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ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, beruhten auf jahrzehntelanger Forschungsarbeit, überzeugten durch einen detaillierten Darstellungsstil, beeindruckten durch ihren schieren Umfang und stellten die Fachwissenschaft wiederholt vor unangenehme Herausforderungen. Möglich wurde der Erfolg Masers nur aufgrund von zwei Besonderheiten, die die historische Sachliteratur von anderen Gebieten der Sachliteratur unterscheidet: Zum einen sind isoliert arbeitende Historiker und Historikerinnen – dies gilt auch für andere Geisteswissenschaften – nicht wie z.B. in den Naturwissenschaften zum Scheitern verurteilte Außenseiter geworden. Noch immer haben sie die Möglichkeit, erfolgreicher und öffentlichkeitswirksamer zu arbeiten als ihre Fachkollegen, die sich zu größeren Forschungsverbünden zusammengeschlossen haben. Zweitens ist es Historikern möglich, auch neue Forschungsergebnisse in einer Sprache zu vermitteln, die sich einer breiteren Öffentlichkeit ohne Vorkenntnisse erschließt. Maser tat dies mit einer Liebe zum Detail, die ihm nicht zum Nachteil gereichte, sondern im Gegenteil bei ihm zu einer Methode populären Schreibens wurde. Maser gelang es mit Hilfe seines detailbiographischen Zugriffs, sein Publikum aufgrund der exzessiven Untersuchung von Einzelfragen von der Bedeutung des jeweiligen Protagonisten zu überzeugen. Die Schilderung dieser (Alltags-)Details ermöglichte ihm eine Anknüpfung an die Lebenswelt seiner Leserschaft. Durch die Verlagerung der Darstellung auf Nebenschauplätze ging zwar das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verloren, den Lesern boten sich dadurch aber eine Vielzahl von Relativierungen und Neuinterpretationen an. Weiter verstärkt wurde dieser Effekt durch provokante Einzelthesen und ein fortwährendes Polemisieren gegenüber Fachkollegen, womit sich Maser auf eine höhere Stufe stellte und die Leser wiederum einer absehbaren Polemik innerhalb der Fachöffentlichkeit entgegensehen durften. Die Detailflut verhinderte somit nicht die Kommunikation zwischen Autor und Leserschaft, sondern entfaltete vielmehr ein Panorama interpretatorischer Möglichkeiten, aus dem sich diese das jeweils Passende heraussuchen konnten. Letztlich ging es Maser auch immer darum, Recht zu behalten. Dass die Gruppe derjenigen, die ihn unterstützten, dabei zunehmend schmaler wurde, störte ihn nicht. In seiner Forschungsarbeit hat Maser unzählige Informationen zusammengetragen. Dabei wollte er nicht einsehen, dass er durch deren bloße Verkettung der historischen Wirklichkeit nicht näher kam. Die so erreichte Emotionalisierung, Vieldeutigkeit und Remythisierung funktionierte zwar. Ein Preis für die erfolgreiche Vermittlung historischer Bildung darf sie jedoch nicht sein.

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DIE DARSTELLUNG

ZWEITEN WELTKRIEGS EUROPÄISCHEN COMICS: EINE FALLSTUDIE POPULÄRER GESCHICHTSKULTUR DES

IN

KEES RIBBENS

Comics und Geschichtsdarstellungen Comics verweben Wörter und (unbewegte) Bilder zu ganzheitlichen Geschichten.1 Als eigenständiges narratives Genre haben Comics in drei verschiedenen Teilen der Welt eine je eigene Entwicklung vollzogen. Zunächst entstand in Japan jene graphische Kunstform, die sich zu den sogenannten Mangas weiterentwickelte, welche sich heutzutage nicht nur in Ostasien, sondern auch in vielen Ländern Europas und Nordamerikas großer Beliebtheit erfreuen. Zweitens gibt es die europäische Tradition der broadsheets, in denen moralische, religiöse oder politische Geschichten für ein großes, teilweise analphabetisches Publikum bebildert wurden. Mit der Zeit entstanden hieraus die uns bekannten Comic-Strips in Kinderheften und satirischen Magazinen für ein erwachsenes Publikum. Drittens liegen die Wurzeln visueller Narrative in den editorial cartoons amerikanischer Zeitungen, deren Redakteure sich die wachsende Popularität von Comics im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zu Nutze machten, um mit anderen Massenmedien konkurrieren zu können.2 Seit über einhundert Jahren also erscheinen Comic-Strips in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern sowie, seit den 1990er Jahren, auch im Internet. Dabei haben sie sich in Inhalt und Form weiterentwickelt. Comics haben zudem die Filmproduktion angefacht: Nicht nur wurden Trickfilme und Cartoons gedreht, sondern auch Comics zu Spielfilmen adaptiert, in denen die imaginäre Welt der Bilder in eine ›realere‹ der ›Fotografie‹ übersetzt wurde. Comics wurden in Videospiele verwandelt,

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Ich danke Christa Klein und Jonas Takors für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen. Empfehlenswerte Titel unter den zahlreichen Einführungen in die Geschichte des Comics sind Knigge (2004), Sabin (1996), Kunzle (1973a und 1973b). Einen eher technischen Ansatz verfolgt McCloud (1994). 121

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und eine eigene Merchandisingindustrie produziert Spielzeug, Bekleidung, Souvenirs, Geschenkpapier und vieles mehr. Bezüge zu ComicStrips finden sich heutzutage überall, auf der Straße, in Geschäften und Wohnhäusern, aber auch in Sonderausstellungen und eigenen Museen, die ausschließlich Comics zum Thema haben. Und natürlich erscheinen Comics noch immer in den Massenmedien, aus denen sie einst hervorgingen. Ihre Omnipräsenz suggeriert einen unmittelbaren Einfluss der von ihnen vermittelten Narrative. Bisher weiß man nicht viel darüber, wie genau Comics sich auf unser Weltbild auswirken, aber der Versuch einer Inhaltsanalyse stellt einen grundlegenden ersten Schritt dar. Die Themenvielfalt von Comic-Strips hat sich im 20. Jahrhundert ungemein erweitert. Der Name des Mediums verweist zwar immer noch auf die für viele der illustrierten Geschichten typischen komischen, humoristischen Elemente, doch sind die sogenannten funnies nur noch eine Minderheit im Gesamtrepertoire der Themen und Ansätze. Comics können ernst oder unterhaltsam sein, manchmal sogar beides in derselben Geschichte. Viele Erzählungen sind gut zugänglich, während manch eine Geschichte ob ihrer Komplexität eine Herausforderung für den Leser darstellt. In den letzten Jahren wurden Comicerzählungen mit komplexen Storys vermehrt als graphic novels bezeichnet. Dieser Terminus fungiert nicht selten als Qualitätssiegel um bestimmte Comics (in Buchlänge, meistens ohne Superhelden) für ein erwachsenes Publikum attraktiv zu machen. Die Bezeichnung ignoriert jedoch nicht nur die Tatsache, dass Erwachsene immer schon Teil der Comic-Leserschaft waren, sondern auch den Umstand, dass bereits in den Anfangstagen des Mediums Comic auch komplexere Narrative im Umlauf waren. Dennoch muss man natürlich feststellen, dass sich Comics in Inhalt und Form vor allem seit den 1970er Jahren weiterentwickelt haben. Allerdings dürfte die frankoiranische Comiczeichnerin Marjane Satrapi – eine der wenigen weiblichen Comic-Künstlerinnen – Recht haben, wenn sie feststellt, das Label graphic novel sei »a word that publishers created for the bourgeois to read comics without feeling bad« (Brophy-Warren 2007). Nichtsdestotrotz können Comics nur begrenzt als Medium für Kinder bezeichnet werden. Denn nicht nur lesen Erwachsene gerne Comic-Strips, die eigentlich Kinder zur Zielgruppe haben; sie konsumieren auch ihre eigenen graphic novels. Desweiteren muss man feststellen, dass es Erwachsene sind, welche die Comics erschaffen, vermarkten, kaufen und verkaufen, wobei die Lesegewohnheiten und Bilder ihrer Kindheit sie eventuell ein Erwachsenenleben lang begleiten. Über die Jahre entwickelten Comics sich zu einem Medium mit einer Vielzahl von Subgenres (und Crossovers). Es gibt, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, Abenteuer-

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comics, Romanzen, komische, politische, autobiographische und schließlich auch Geschichtscomics. Comics können sich auf zwei verschiedene Weisen auf Geschichte beziehen. Erstens werden Comics stets in einem bestimmten historischen Kontext geschrieben und gezeichnet. Daher spiegeln sie, normalerweise eher implizit als explizit, die Meinungen und Vorstellungen ihrer Schöpfer wider, die von den Umständen ihrer eigenen Zeit geprägt werden. Zweitens entscheiden sich viele Autoren bewusst dafür, nicht ihre Gegenwart, sondern andere Epochen darzustellen. Während manche die unbekannte Zukunft in Science-Fiction Erzählungen porträtieren, entscheiden sich andere dafür, Comicgeschichten über die Vergangenheit zu schaffen. Es gibt keine Epoche zwischen der Steinzeit und 9/11 – bzw. sogar der Zeit danach –, die noch nicht in Comics repräsentiert worden ist. Ein guter Teil dieser historischen Darstellungen beschäftigt sich mit dem Zweiten Weltkrieg. Da auch während des Zweiten Weltkriegs weiterhin Comics produziert und vermarktet wurden – natürlich von (teilweise internalisierten) politischen Rahmenbedingungen wie Propaganda und Zensur beeinflusst –, stellen solche zeitgenössischen Produktionen die erste Variante der Schilderung dieses Krieges dar. Zweitens sind auch die nach 1945 entstandenen Geschichtscomics eine Quelle für die spätere Darstellung dieses globalen Konflikts.3 Zehntausende Geschichtscomics handeln von den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Das Sujet war vor allem bei Lesern in den USA und Großbritannien ungemein populär. Vor allem die militärische Komponente, die Schlachten selbst, erregten großes Interesse. Viele Comics wurden für den europäischen Markt übersetzt. Die meist günstigen (Pulp-)Publikationen erschienen in Serie, und die neueste Folge konnte wöchentlich an jedem Kiosk und in jedem Eckladen günstig erworben werden. Diese Heftchen erschienen in Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien und den skandinavischen Ländern. Ihr Fokus waren Schlachtfelder weltweit; sie spielten nicht nur auf dem europäischen Kriegsschauplatz, sondern auch in Asien und im Pazifik. Protagonisten waren fast immer heroische Militärs oder eine Gruppe Soldaten der alliierten Streitkräfte, die als Sympathieträger fungierten, und mit denen sich der – üblicherweise männliche – Leser identifizieren konnte. Der Unterschied zwischen ›guten‹ und ›bösen Jungs‹ – Frauen waren meist nicht vertreten – war klar erkennbar und die Reproduktion

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Vgl. Witek (1989), Munier (2000), McKinney (2008) und Ribbens/Sanders (2006). 123

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nationaler Stereotype alles andere als ungewöhnlich. Diese Publikationen waren in jeder Hinsicht in Schwarz-Weiß gehalten. Außer in Großbritannien, wo die Reihe Commando immer noch herausgebracht wird – und das öffentliche Interesse an militärischen Themen im Allgemeinen und an den beiden Weltkriegen im Besondern größer als irgendwo sonst in Europa ist –, wurde die Publikation dieses Genres in den 1980ern eingestellt. Währenddessen haben sich aber neue Erzählformen für Geschichtscomics über den Zweiten Weltkrieg entwickelt. Aus einem globalen Blickwinkel dürften die bekanntesten Werke Art Spiegelmans Maus: A Survivor’s Tale (Maus: Die Geschichte eines Überlebenden) und Keiji Nakazawas Hadashi no Gen (Barfuß durch Hiroshima) sein: Diese Werke haben auch für europäische Comics neue Standards gesetzt. Sie entstanden in den frühen 1970er Jahren und wuchsen bis zu ihrer Erscheinung in Buchform zu mehrbändigen Geschichten an.4 Beide Comics – oder graphic novels – wählen einen sehr persönlichen Ansatz, um zwei der tragischsten und gewaltträchtigsten Ereignisse des Zweiten Weltkriegs darzustellen: den Holocaust in Europa und den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. So außergewöhnlich diese beiden Comics sein mögen, sind sie in mancherlei Hinsicht auch Produkte der spezifischen Kultur, in der sie entstanden. Nakanzawas Zeichenstil weist typische Merkmale des Manga auf, während Spiegelmans Arbeiten an Walt Disney-Figuren wie Micky Maus und dessen Doppelgänger in Underground-Comics, die seit den 1960ern erschienen, erinnern. Amerikanische und japanische Comics haben schon seit Längerem auch in Europa Konjunktur, aber dennoch kann man hiesige Publikationen immer noch von ihnen unterscheiden. Comics als Produkte der Kulturindustrie können letztlich kaum von ihrem kulturellen und sprachlichen Kontext getrennt werden. Asterix und Tim und Struppi mögen überall in Europa populär sein, aber hätten sie außerhalb Frankreichs bzw. Belgiens entstehen können? Ein weiterer erwähnenswerter Umstand ist der inzwischen scheinbar globale Markt für Comics. Vor allem Europäern – und zweifellos auch den Deutschen – ist heutzutage eine Vielzahl von Übersetzungen bekannt, auch wenn die meisten Comics diesen Vermarktungsschritt nie 4

Die ersten Folgen von Hadashi no Gen erschienen 1973 im ComicMagazin Shûkan Shônen Jampu und ab 1975 in Heftform. Eine allgemeine Einführung in japanische Comics bieten Gravett (2004) und Schodt (1996). Spiegelmans erste Geschichte war ein dreiseitiger Comic, der 1971 veröffentlicht und nachfolgend erweitert wurde. Der erste Buchband, My Father Bleeds History, erschien 1986. 1991 folgte And Here My Troubles Began. Siehe hierzu z.B. Platthaus (2000). 124

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schaffen. Dennoch mag die Verfügbarkeit von ausländischen Comics, insbesondere Geschichtscomics, den Blickwinkel der ›einheimischen‹ Leserschaft auf die von ihnen wertgeschätzten Geschichtsbilder erweitern. Und auch Comicautoren haben – wie alle Produzenten der internationalen Kulturindustrie – immer besseren Zugang zu ausländischen Produkten und könnten fremdartige Ansätze in ihre Narrative aufnehmen. Diese Entwicklung könnte (zumindest manche) Comics auf lange Sicht ›globaler‹ und einheitlicher machen. Doch welche Erwartungen die künftige Verschmelzung nationaler und kontinentaler Comictraditionen auch wecken mag, einige nationale Charakteristika bleiben derzeit noch bestehen. Um eine Vorstellung von der Vielfalt europäischer Comics zu vermitteln, werde ich als Beispiel drei Comics – eigentlich Comicreihen – über den Zweiten Weltkrieg vorstellen, die in den letzten zehn Jahre erschienen sind. Das erste Beispiel ist La Guerre d’Alan des französischen ComicKünstlers Emmanuel Guibert. Die Serie hat drei Bände und beruht auf Gesprächen des Autors mit einem pensionierten US-Soldaten namens Alan Ingram Cope, der 1999 verstarb. In einem schlichten Stil schildert der Comic die Ausbildung des Soldaten in den USA und beschreibt sein Handeln während der Offensive der US-Armee in Frankreich, Deutschland und der Tschechoslowakei von Februar bis Mai 1945, wobei der letzte Band in beschleunigtem Erzähltempo auch die Geschichte seines Nachkriegslebens erzählt. Diese Geschichte verdeutlicht das gesteigerte Interesse an biographischen Erzählungen ›einfacher‹ Soldaten, ohne dass der Autor diese persönlichen Erlebnisse als Heldentaten darstellen würde.5 Ein weiteres Beispiel gegenwärtiger Kriegscomics ist der deutsche Titel Krigstein von Haimo Kinzler.6 Die vier bisher erschienenen Bände handeln vom alltäglichen Wahnsinn inmitten des Zusammenbruchs des ›Dritten Reichs‹ im Jahr 1945. Charaktere wie der fiktive Colonel Krigstein werden als Tiere im Disney-Stil dargestellt und bedienen die internationalen Klischees von Offizieren, Nazis, Amerikanern und Russen. Die Geschichte ist zynisch und lustig zugleich und beinahe jeder Akt (potentiellen) Heldentums erscheint in ihr vollkommen absurd. Dieser

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Emmanuel Guibert: La Guerre d’Alan 1 (2000), La Guerre d’Alan 2 (2002), La Guerre d’Alan 3 (2008). Krigstein ist kein deutsches Wort, aber -stein ein gebräuchliches Suffix in Nachnamen. Krigstein ist zudem der Nachname des amerikanischen Comic-Künstlers Bernie Krigstein, der eines der ersten Comic-Narrative schrieb, die vom Holocaust handeln. Einen Überblick über die deutsche Comicwelt bietet Knigge (1996). 125

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entlarvende Ansatz ist relativ neu,7 insbesondere für den kleinen Kreis deutscher Comic-Künstler, der sich in den letzten Jahrzehnten dem Thema Nationalsozialismus gewidmet hat. Allerdings meidet der Autor auffälligerweise alle Reizthemen wie etwa den Holocaust oder den alliierten Bombenkrieg.8 Natürlich bieten diese deutschen Comics keine faktische Darstellung des Zweiten Weltkriegs. Der Krieg ist nur der historische Hintergrund eines fiktionalen Narrativs, durch den der Comic aber zugleich unser Bild vom Zweiten Weltkrieg mitprägt. Krigstein ist gewiss keine historische Quelle für die Ereignisse zwischen 1939 und 1945. Aber wie andere Comicerzählungen ist er eine Quelle, anhand derer die Repräsentation dieser Epoche in der Populärkultur analysiert werden kann. Diese spezifische Darstellung des Krieges wird sich dem historischen Wissen beigesellen, das Individuen durch Schullektüre und Romane, Fernsehdokumentationen und Filme sowie Gespräche im Familienkreis und die Teilnahme an öffentlichen Gedenkfeiern gesammelt haben. Das öffentliche Bild des Zweiten Weltkriegs basiert, wie das jeder in der Populärkultur fortlebenden Epoche, nicht nur auf Fakten. Wenn der historische Hintergrund akkurat dargestellt ist, kann ein Narrativ – auch wenn die erzählte Story fiktional ist – einen guten Eindruck davon vermitteln, wie sich eine Epoche ›anfühlte‹. Dieses Phänomen erfährt inzwischen gesteigerte Akzeptanz, wie man anhand zweier niederländischer Comics sehen kann, die eigens als Unterrichtsmedien für weiterführende Schulen entwickelt wurden. Unter Mithilfe der Amsterdamer Anne Frank-Stiftung und Ruud van der Rols schuf der Comic-Künstler Eric Heuvel zwei Bücher, die 2003 als De Ontdekking (Die Entdeckung) und 2007 als De Zoektocht (Die Suche) erschienen.9 Das erste Buch handelt von einer niederländischen Familie, deren Mitglieder während der Nazi-Herrschaft schwierige Entscheidungen fällen müssen. Helena, das jüngste Kind und die Protagonistin der Geschichte, erlebt, wie ihr Vater versucht, als Polizist in Kriegszeiten das Richtige zu tun, während ihr Bruder Theo sich der deutschen Armee anschließt. Helena dagegen dient der Widerstandbewegung als Kurier. Die ausgewogene, feinfühlige Geschichte über kleine Taten mit großen Wirkungen wird auf einer persönlichen Ebene erzählt, was dem 7

8 9

Weitere Beispiele finden sich in den Adolf (Hitler)-Comics von Walter Moers: Adolf: Äch bin wieder da!! (1998); Adolf: Äch bin schon wieder da! (1999); Adolf: der Bonker (2005). Haimo Kinzlers Krigstein 1 (1999); Krigstein 0 [sic] (2007); Krigstein 2 (2007); Krigstein 3 (2008). Im Gegensatz zu den bisher erwähnten Comics sind diese Unterrichtsmedien die Werke von Autorenkollektiven. 126

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Leser die Identifizierung mit den Protagonisten erleichtert. Die dargestellte Wirklichkeit fügt sich nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema ein. In der Fortsetzung Die Suche wird die Geschichte von Helenas jüdischer Freundin Esther und ihren Verwandten erzählt, wobei der Comic versucht, dem Leser die Bedeutung der Judenverfolgung nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Zuschauer zu verdeutlichen. Diese drei neueren westeuropäischen Comics teilen – bei allen Unterschieden hinsichtlich Faktizität, Protagonisten10 und Handlungsrahmen – eine Abneigung gegen plumpen Heroismus. Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass die heroische Darstellung von Menschen und ihren Handlungen – das für einige Zeit dominante Erzählmuster für die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs – in diesen Erzählungen größtenteils fehlt. Teilweise kann dies zumindest dadurch erklärt werden, dass der Zweite Weltkrieg für uns in weite Ferne gerückt ist; dies gilt umso mehr seit dem Ende des Kalten Kriegs, der lange für Kontinuitäten zum vorhergehenden Konflikt sorgte. Der zunehmende zeitliche Abstand macht es uns leichter, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg einer Anschauungsform anzunähern, die in der europäischen Populärkultur in den letzten Jahrzehnten für alles Geschichtliche verwendet wird: Geschichte mag in zeitgemäßer, visualisierter Form durchaus beachtenswert sein, man weiß aber trotzdem zunächst keinen rechten Bezug zu ihr herzustellen, einfach weil die Vergangenheit allgemein als irrelevant, da weit entfernt erscheint (Ribbens 2002). Natürlich spiegelt dieser Zugang der modernen Populärkultur nicht die offizielle Position der Regierungen dieser drei Länder wider, die den Zweiten Weltkrieg weiterhin als wertvolle Erinnerung behandeln, als ein Ereignis, das des Gedenkens würdig ist und hohe politische und moralische Relevanz aufweist. Daher stellt sich die Frage, welche Rolle Heldentum in früheren europäischen Comics über den Zweiten Weltkrieg spielt. Wegen besonderer Charakteristika des deutschen Comicmarktes kann der intereuropäische Vergleich holländischer, französischer und deutscher Comics hier nicht fortgeführt werden. Denn obwohl Deutschland eine Tradition satirischer und sogar politischer Bilderbögen und Bildergeschichten hat, die bis in das 19. Jahrhundert zu Wilhelm Busch zurückreicht, bestand ein Großteil der nach 1945 in (West-)Deutschland erschienenen Comics aus Übersetzungen, vor allem aus dem Englischen und Französischen. Vor den 1980ern gab es kaum deutsche Comic-Künstler, deren

10 Interessant ist auch die gegenwärtige Betonung der Rolle von Frauen, vor allem in niederländischen Comics, in gewissem Ausmaß aber auch im deutschen Krigstein. Zur Geschichte niederländischer Comics bietet Kousemaker/Kousemaker (1979) eine erste Orientierung. 127

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Arbeiten sich (auch nur zum Teil) diesem dunklen Abschnitt der deutschen Vergangenheit gewidmet hätten.

Der Zweite Weltkrieg in niederländischen und französischen Comics der Nachkriegszeit Da der Fokus auf den ersten Nachkriegscomics liegen soll,11 muss der Vergleich auf Comics aus den Niederlanden und Frankreich beschränkt bleiben, die jeweils vorgeben, einen allgemeinen Überblick über das Kriegsgeschehen zu liefern. Die im Folgenden diskutierten Comics wurden jeweils in zwei Bänden publiziert: La Bête est morte (Calvo 1977) aus Frankreich und 1945 Ons land uit lijden ontzet (van Tast 1945a), bzw. Ooorlogsprentenboek 2e deel (van Tast 1945b) aus den Niederlanden. Beide entstanden in Demokratien, die seit 1940 von den Deutschen besetzt waren; die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Kriegslage in beiden Ländern können hier aber nicht en detail berücksichtigt werden. Der Zweite Weltkrieg bei Ton van Tast Die niederländischen Comics stammen aus der Feder von Anton van der Valk (1884-1975), der ab 1923 regelmäßig eine in dem liberalen Wochenblatt Haagsche Post12 erscheinende Chronik des Tagesgeschehens unter dem Titel »De Davernde Dingen Dezer Dagen« zeichnete (dt. ›Die donnernden Dinge dieser Tage‹).13 Sein Künstlername Ton van Tast (ausgesprochen als Fan-Tast) impliziert nicht, dass seine Bildergeschichten und Karikaturen erfunden wären, sondern spiegelt sein Ziel wider, die Betrachtungen mit humoristischen Elementen anzureichern. Früh in der deutschen Besatzungszeit stellte er seine Arbeit für das Magazin ein, aber seine Arbeiten erschienen bereits kurz nach der Befreiung wieder, wenn auch nicht in der Haagsche Post, die erst ab Mai 1946 wieder publiziert werden durfte. Das erste Buch wurde schon im Frühjahr 1945 veröffentlicht, ein zweites folgte nur wenige Monate später. Die beiden

11 Noch während des Zweiten Weltkriegs erschienene Comics sind nicht Teil dieser Untersuchung. 12 Das Magazin hatte in den 1930ern den Ruf, antideutsche Gefühle zu kultivieren, vgl. Hemels (o.J.). 13 Der Name der Kolumne wurde auch zum Übertitel auf dem Cover des ersten Bandes 1945 Ons land uit lijden ontzet. 128

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recht schmalen, nur zwanzig Seiten starken Bände verkauften sich gut.14 Der erste von Ton van Tasts Kriegscomics erschien in einfachem Schwarz-Weiß-Druck und beginnt mit einer Seite über den Mai 1940, in dem die deutsche Armee die Niederlande in einem fünftägigen Feldzug eroberte. Die letzten sechs Seiten sind der Befreiung durch alliierte Streitkräfte vom September 1944 bis Mai 1945 gewidmet. Die Seiten dazwischen, denen jegliche Chronologie fehlt, greifen willkürlich Geschehnisse der fünfjährigen Besatzung auf. Der zweite Band, ebenfalls mit nur loser chronologischer Abfolge auf den ersten Seiten, illustriert die ersten Wochen bis Monate im befreiten Land. Er veranschaulicht die allgemeine Freude sowie Versuche, Ordnung und Gerechtigkeit wiederherzustellen. Der zweite Band hat einen simplen, neutralen Titel: Oorlogsprentenboek 2e deel (›Kriegsbilderbuch 2ter Teil‹). Aber der Titel des ersten Teils, 1945 Ons land uit lijden ontzet (›1945 Unser Land vom Leid befreit‹), zieht einen interessanten Vergleich. Obwohl der Bezug auf 1945 im Titel zunächst den Eindruck erwecken könnte, die Geschichte drehe sich nur um die letzten Kriegsmonate, betont es den Befreiungsgedanken, den es zugleich phonetisch mit dem historischen Ereignis ›Leidens Ontzet‹ (3. Oktober 1574) verknüpft. Das Jahr in dem Holland seinen Status als freier und demokratischer Staat wiedererlangte (1945), wird so mit der Befreiung Leidens während der Anfangsjahre des SpanischNiederländischen Befreiungskrieges (1568-1648) verbunden. Dieser erfolgreiche und im Allgemeinen glorifizierte Aufstand wurde bereits während des Weltkriegs vor allem in Untergrundpublikationen als motivierendes historisches Beispiel für den erfolgreichen Kampf gegen einen anderen Besatzer dargestellt. An sechs weiteren Stellen im Comic gibt es solche Verweise (inklusive zweier Erwähnungen des berühmtesten Dramatikers zu Zeiten des Spanisch-Niederländischen Krieges, Joost Van Vondels), die den Kampf gegen die Nazi-Besatzung mit dem Gründungsmythos der Niederlande verbinden.15 Da die Anzahl der im Comic erwähnten Daten und Jahreszahlen recht gering ist, werden im ersten

14 Genaue Verkaufszahlen sind nicht bekannt, aber der Druck eines zweiten Bandes und die Leichtigkeit, mit der man heute noch Exemplare in Buchantiquariaten auftreibt, weisen auf eine hohe Verbreitung hin. 15 Vergleich mit der Hungersnot in Leiden 1574 (van Tast 1945a: 3); NSB wird als Balthazar Gerards (Mörder Wilhelms von Oranien) beschrieben, 1940 wird mit 1584 verglichen (4); ›Leidens Ontzet‹ (18); Leiden 1574 (19). Die aus der Zeit des niederländischen Befreiungskrieges stammenden Vondel-Zitate aus dem Stück Gysbreght van Aemstel von 1638 finden sich in (van Tast 1945b: 2), die aus dem Stück Palamedes von 1625 in (16). 129

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Band Ereignisse des frühneuzeitlichen Befreiungskrieges sogar genauso oft datiert wie Begebenheiten des Zweiten Weltkriegs.16 Bis zu einem gewissen Grad erscheint es sogar logisch, eine Zeit voller einschneidender Veränderungen mit der bekanntesten – und in ehrenvollem Andenken gehaltenen – Revolution der Vergangenheit zu vergleichen. Doch ist es bemerkenswert, dass Ton van Tast durch die Wahl dieses Interpretationsrahmens der Größenordnung des Konflikts nicht mehr gerecht werden kann, da dieser im 20. Jahrhundert ganze Kontinente und nicht nur zwei Nationen einbezog. Diese isolierte Darstellung der Ereignisse in den Niederlanden wird auch dadurch verstärkt, dass keine Informationen über Geschehnisse vor dem Mai 1940 vergeben werden, was ansonsten das internationale Szenario des globalen Krieges verdeutlicht hätte. Aber der Rahmen, den van Tast wählt, ist nicht nur zeitlich und räumlich eng gesetzt; der historische Rahmen ist auch alles andere als neutral. Über Jahrhunderte wurde die Geschichte des SpanischNiederländischen Krieges in ein Schwarz-Weiß-Schema gepresst, das tapfer entschlossene und vereinte Niederländer glorifizierte, die bösen Spanier hingegen beinahe dämonisierte. Weiterhin ist es für einen Kriegscomic bemerkenswert, dass außer einer explodierenden V1, einem Angriff des Widerstandes und deutscher Soldaten, die in eine Menge schießen (1945a: 17, 14; 1945b: 3), keine Schlachten oder anderen Gewalttaten gezeigt werden. Weder die deutsche Invasion im Mai 1940 noch die militärische Offensive der Alliierten ab September 1944 werden explizit dargestellt. Fremde Soldaten, meist Deutsche, aber auch Alliierte, werden zwar gezeigt, stehen aber nicht im Vordergrund. Natürlich tauchen Deutsche mehrmals in der Geschichte auf, sie werden oft aber nur symbolisch, etwa durch einen einfachen Soldatenstiefel, dargestellt (1945a: 2, 12). Es sind Angehörige der Wehrmacht, nur ein einziges Mal erscheint der gefürchtete Sicherheitsdienst (1945a: 5, 10; 1945b: 16). Aber die Deutschen bleiben eine mehr oder minder anonyme Macht. Adolf Hitler und der Reichskommissar für die Niederlande, Arthur Seyß-Inquart, werden nur zweimal mit den Spitznamen »Adolf« bzw. »6 ¼« erwähnt,17 andere prominente Nazis gar nicht. Im Allgemeinen überwiegt die Darstellung der niederländischen Nationalsozialisten über die der Deutschen. Auf dem ersten Bild (nach dem Titelblatt) werden die Deutschen und Mitglieder der niederländischen Nationaal-Socialistische Beweging (kurz: NSBler) jeweils nur durch ge16 Mai 1940: Deutsche Invasion (1945a: 2); 1940 (4); ›Dolle Dinsdag‹ (›Verrückter Dienstag‹), 5. September 1944 (17). 17 »6 ¼« spielt mit der holländischen Aussprache von Seyß-Inquarts Nachnamen (1945a: 14 und 1945b: 10). 130

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waltige Lederstiefel symbolisiert. Beide erscheinen gleichermaßen brutal und grausam, allerdings müssen die NSBler auf dem Boden Platz nehmen, während die Deutschen – die Machtverhältnisse reflektierend – auf Stühlen sitzen (1945a: 2). Die Wut des Comiczeichners, der den Niederländern hier aus der Seele zu sprechen scheint, richtet sich gegen die »üblen Verräter« unter seinen Landsleuten. Diese Bezeichnung prägt die Stimmung der anschließenden Erzählung, in der die NSBler als selbstsüchtig, ja als das ›letzte Gesindel‹ dargestellt und bezeichnet werden.18 Diese Schwerpunktsetzung auf die Faschisten im eigenen Land, die auch in verschiedenen Auftritten ihres Führers Anton Mussert personalisiert werden (1945a: 6, 14, 16; 1945b: 10, 15), passt gut in den stark national geprägten Charakter der Comicerzählung mit ihrem klar nach innen gerichteten Ansatz. Wenn irgendein Protagonist in van Tasts Arbeiten hervorgehoben werden kann, so ist es das ›niederländische Volk‹ als eine Einheit. Auf fast allen der vierzig Comicseiten liegt der Fokus auf den Niederlanden. Einzig und allein im zweiten Band wird am Rande der geographische Rahmen etwas ausgeweitet – so als habe der ComicKünstler etwas Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass nicht nur die Niederlande von den Kriegsereignissen betroffen waren. Hier wird das Bild eines ruinierten Europas gezeichnet – aber auch auf dieser Seite zieht ein triumphierender niederländischer Löwe fast die gesamte Aufmerksamkeit auf sich (1945b: 2). An anderer Stelle wird das in Trümmern liegende Deutschland dargestellt (1945b: 16), aber Pearl Harbor, D-Day, das Vorrücken der Roten Armee in Osteuropa oder der Abwurf der Atombomben werden überhaupt nicht erwähnt. In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass zahlreiche niederländische Nationalsymbole (insbesondere Fahnen) und -parolen verwendet werden (vgl. 1945a: 18), von denen sich auch viele auf dem Deckblatt des ersten Bandes wiederfinden. Im zweiten Band, in dem die Freude über die Befreiung der Nation zum Ausdruck kommt, liegen die Dinge kaum anders. Auffällig sind auch die wiederkehrenden Verweise auf die im Exil lebende Königliche Familie. Auch wenn deren Angehörige selbst nicht dargestellt, sondern nur erwähnt werden, drücken diese Referenzen den Respekt für die Monarchie und deren Popularität aus.19 Auf unbestimmte Art und Weise symbolisiert die verehrte Monarchie das, wofür die ›wahren‹ oder ›guten‹ Niederländer stehen – im Gegensatz zu dem verräterischen Verhalten der niederländischen Nationalsozialisten. Das wahrscheinlich interessanteste Beispiel dafür lässt sich im ersten Band finden: Hier werden die niederländischen Nazis als Nachkommen

18 Van Tast (1945a: 2, 4-6, 11, 15-16 und 1945b: 10, 15). 19 Vgl. van Tast (1945a: 1, 4, 11, 14, 15, 18 und 1945b: 3, 6, 7). 131

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Balthasar Gerards beschrieben, also desjenigen, der 1584 im Niederländischen Aufstand Wilhelm von Oranien umbrachte, den Vater der Nation und Vorfahr der zeitgenössischen Königlichen Familie (1945a: 4).20 Im zweiten Band wird der Chef der NSB direkt als Balthasar Gerards bezeichnet (1945b: 10). Ein großer Teil des ersten Bandes handelt von allen möglichen praktischen Schwierigkeiten, insbesondere Nahrungsengpässen, aber auch Kleidungs-, Heizungs- und Transportproblemen. Diese resultierten aus der Rationierung, die durch Kriegsumstände und Plünderungen der deutschen Besatzer hervorgerufen wurden. Van Tast richtet ein besonderes Augenmerk auf diejenigen Leute, die Profite auf dem Schwarzmarkt machten (1945a: 8, 13, 17; 1945b: 15)21. Wie wichtig diese praktischen und handfesten Themen in der Kriegswahrnehmung des Zielpublikums waren, wird durch die Art und Weise, wie die Befreiung illustriert wird, bestätigt: Der Sieg wird durch Nahrungsmittel, Kleidung und Luxusgüter verkörpert (1945a: 19). Im Vergleich dazu wird politischen und ideologischen Angelegenheiten relativ wenig Beachtung geschenkt. Der Eindruck entsteht, dass die Regierung auf Bezirks- ebenso wie auf kommunaler Ebene vollkommen von Deutschen und NSBlern übernommen wurde – als ob kein Kontakt und keine Kooperation zwischen den verbleibenden Beamten und deren neuen Herrn bestanden hätte (1945a: 3f.). Die Mehrheit der Bevölkerung wird so dargestellt, als habe sie die NSB nach Möglichkeit würdevoll ignoriert (1945a: 5f.). Dass einige Menschen untertauchten wird zwar gezeigt, die politischen Beweggründe dafür jedoch nicht erwähnt (1945a: 12). Einige Comicbilder sind den Sabotageakten der Widerstandsbewegung gewidmet, deren Mitglieder respektvoll als ›wahre Helden‹ präsentiert werden. Aber der begrenzte Anteil, den die Widerstandsbewegung an dieser Kriegserzählung hat,22 kann leicht den Eindruck erwecken, dass sich deren gefährliche Aktivitäten und Aufopferungsbereitschaft nicht wirklich von der Einstellung eines Durchschnittsniederländers unterschied. Dies verstärkt das vereinfachende Schwarz-Weiß-Schema dieser nationalen Kriegserzählung: Die Angehörigen der niederländischen natio20 1940 wird hier mit 1584 verglichen, dem Jahr, in dem Wilhelm von Oranien (›Wilhelm der Schweiger‹) ermordet wurde. 21 Diejenigen, die von diesen Schwarzmarktgeschäften profitieren, werden zwar durchgehend in menschlicher Gestalt dargestellt, ihre Hautfarbe jedoch wird stetig dunkler, je weiter sich ihr illegaler Handel entwickelt. 22 Van Tast (1945a: 14). In dem Moment, in dem das Land befreit wird, wird öfter und immer noch sehr positiv auf sie Bezug genommen (vgl. 1945b: 8f.). 132

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nalsozialistischen Bewegung werden als die (Einzigen) identifiziert, die ihr Vaterland an die Deutschen verraten haben. Die Mehrheit der Niederländer hingegen, die nicht mit der NSB assoziiert war, mag zwar unter den ungünstigen (praktischen) Kriegsumständen gelitten haben, hätte es aber nach der Darstellung van Tasts geschafft, die von innen und von außen kommende (politische) nationalsozialistische Gefahr zu überleben, indem sie das Übel einfach ignorierte. Eine derartige Repräsentation kann nur auf der Annahme konstruiert werden, dass es so gut wie keinen Kontakt zwischen den Nationalsozialisten auf der einen und den ›guten Niederländern‹ auf der anderen Seite gab und dass dieser durch eine erfolgreiche Ignoranzpolitik begrenzte Kontakt wahrscheinlich auch dazu führte, die Zahl der Opfer gering zu halten. Tatsächlich werden in van Tasts Comic mit Ausnahme derjenigen, die Gewinne auf dem Schwarzmarkt machen, keine Gruppen oder Individuen dargestellt, die zwischen den Protagonisten und deren Unterdrückern stehen. Die unartikulierte Botschaft ist, dass es (fast) keine Kollaborateure gab, so dass die niederländische Nation unschuldig und fernab des Bösen der Okkupationspraktiken blieb.23 Es bleibt bemerkenswert, dass die Verdienste und die Heldenhaftigkeit der Widerstandsbewegung im Unterschied zu anderen Publikationen der ersten Nachkriegszeit kaum reflektiert werden, obwohl sich daraus auch schließen lässt, dass damit die heldenhafte Rolle auf die Nation als Gesamtheit verschoben wird. Nichtsdestotrotz entspricht dieser Comic auch einer Tendenz früher Nachkriegserzählungen: Der Verfolgung der Juden wird kaum Beachtung geschenkt. In zwei Abbildungen wird die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und die Zerstörung ihrer Betriebe (in diesem Fall durch niederländischen Nazis) illustriert (1945a: 3f.), aber Deportationen, Massenhinrichtungen und -vergasungen werden überhaupt nicht erwähnt. Anderswo in den Comics entsteht der Eindruck, als seien die meisten KZ-Häftlinge – ohne zwischen verschiedenen Häftlingsgruppen zu differenzieren – aus der sogenannten ›Deutschen Hölle‹ wieder zurückgekehrt (1945a: 18; 1945b: 12). So bleibt der Holocaust in dieser Geschichtsdarstellung aus der sehr frühen Nachkriegszeit genauso unthematisiert wie die vielen Opfer, welche die Konzentrationslager nicht überlebten. Die Tatsache, dass der gesamte zweite Band dieses niederländischen Kriegscomics den Ereignissen der ersten Nachkriegswochen und -monate der Befreiung gewidmet ist, kann als Ausdruck einer Freude darüber interpretiert werden, dass die Niederländer nun nicht mehr gezwungen waren, sich mit Kriegserfahrungen zu konfrontieren. Vielleicht steht dahin-

23 Eine Ausnahme findet sich in van Tast (1945a: 3), auf der linken Seite. 133

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ter aber auch ein direkter Widerwille dagegen, sich selbstkritisch mit den schmerzhaften Erinnerungen an die Kriegsjahre auseinanderzusetzen. Der Rahmen, in den die Erzählung eingespannt ist, entwickelt sich im zweiten Band überhaupt nicht weiter, der geographische Rahmen z.B. bleibt weiter eng. Beweise dafür, wie herzlich die Alliierten in den Niederlanden willkommen geheißen wurden, finden sich reichlich, mehrmals wird dies in einem gemeinsamen Auftreten von niederländischen und ausländischen Flaggen symbolisiert (1945b: 1f., 3f., 7, 11-13). Aber der Comic-Künstler nutzt die Präsenz der ausländischen Truppen nicht dazu, die vielen anderen internationalen Aspekte des Zweiten Weltkriegs zu beleuchten. Nur aus den letzten Seiten des zweiten Comic-Bandes kann abgeleitet werden, dass der Weltkrieg nach Mai 1945 außerhalb der Niederlande noch weiter tobte. Hier wird deutlich, dass ›unsere schönen Insulinde‹, also Niederländisch-Ostindien – welches genauso wie die niederländischen Kolonien in Niederländisch-Westindien überall sonst im Comic ignoriert wird – immer noch nicht befreit, bzw., wie es heißt, durch »stämmige« niederländische Burschen von dem »japanischem Pack« »bereinigt« worden ist. Das hintere Comic-Cover deutet in die Zukunft, wo zwei Wappenlöwen, von denen der eine für die Niederlande, der andere für Niederländisch-Indien steht, einträchtig Seite an Seite marschieren (1945b: 19f.). Diese hoffnungsvolle Repräsentation eines vereinigten Königreichs ist nur in dem Sinne realistisch, als dass keine einzige indonesische Person auftaucht, die diesen kolonialen Wunsch begrüßen würde. Hier zeigt sich wieder einmal, dass die politische Interpretation dieser Comicerzählung überaus selektiv und bedeutungsgeladen ist. La Bête est morte Die Niederlande waren nicht das einzige Land, in dem kurz nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen auf eigenem Territorium Comicbücher zum Zweiten Weltkrieg publiziert wurden.24 Auch französische Verlage nahmen ein interessiertes Publikum wahr und widmeten einige ihrer Comicausgaben den jüngsten Kriegsereignissen. Einer dieser ersten Comics wurde schon im November 1944 veröffentlicht, also Monate vor der deutschen bedingungslosen Kapitulation. Dieser Comic trug den Titel Quand la bête est déchaînée (›Wenn die Bestie entfesselt ist‹) und wurde der erste Teil einer zweibändigen Serie mit dem Titel La Bête est morte! La Guerre mondiale chez les animaux (›Die Bestie ist tot! Der 24 Diejenigen Comicstrips, die während der ersten Nachkriegszeit nur in Zeitungen und Zeitschriften erschienen und nicht in Form von Büchern gedruckt wurden, können hier nicht berücksichtigt werden. 134

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Weltkrieg im Tierreich‹). Der zweite Band, Quand la bête est terrassée (›Wenn die Bestie niedergestreckt ist‹) erschien im Mai 1945.25 Wie die beiden oben beschriebenen niederländischen Comics müssen die Bände sehr weit verbreitet gewesen sein. Außerdem wurde die Geschichte, in Farbe und insgesamt 75 Seiten lang, übersetzt und mehrfach wiederaufgelegt: Sie ist immer noch erhältlich.26 Der Text für diese französischen Comics wurde von Victor Dancette und Jacques Zimmermann verfasst, gezeichnet wurden sie von EdmondFrançois Calvo (1892-1958). Während die beiden Autoren der Erzählung weniger bekannt sind, war Calvo ein sehr produktiver und populärer Comic-Künstler, der vor, während und nach dem Krieg verschiedene Comicreihen für französische Verlage zeichnete.27 Das zweibändige Werk stellt die wichtigsten Ereignisse dieser turbulenten Zeit dar und entwirft gleichzeitig ein Bild der politischen und sozialen Situation in Frankreich und Deutschland in den 1930er Jahren. Auch wenn auf dem Deckblatt Hitler ganz offensichtlich als ein sehr böser Wolf porträtiert wird, präsentiert dieser Comic nicht seine Biographie, da die Hauptcharaktere nicht Individuen, sondern Nationen sind. Dass Tiere in dieser Comic-Allegorie als Protagonisten auftreten, erinnert an eine Fabel. Der somit evozierte Märchencharakter wird noch dadurch verstärkt, dass ein fiktiver Großvater28 die eigentliche Geschichte seinen drei Enkeln erzählt.29 Damit wird die (Geschichte der) Nation als (Geschichte einer) Familie – dem Prototyp einer selbstverständlichen Gemeinschaft – dargestellt. Der gealterte Großvater erinnert sich als Veteran an den Krieg –

25 Obwohl die Comicforschung in Frankreich viel weiter entwickelt ist als in den Niederlanden, gibt es kaum Veröffentlichungen zu Calvos Werken in der Kriegszeit. Die wichtigste Ausnahme stellt Nayak-Guercio (2006) dar. Weiterführend zu französischen Comics vgl. Groensten (2000). 26 Der erste Band wurde bis ca. 1948 verkauft, die erste Neuauflage, welche die zwei Bände zusammenfasste, erschien 1977 [1983, 1985], 1995 und 2007. Die niederländische Übersetzung erschien 1946, die zweite Auflage 1977. Die Ausgaben wurden auch auf Deutsch (1977) und Englisch (1984) herausgegeben. Die Quellenangaben zu Calvos Werk beziehen sich hier auf die Niederländische Neuauflage von 1977. 27 Es wird angenommen, dass Calvo den Schöpfer von Asterix, Albert Uderzo, beeinflusst hat, vgl. http://bd.blogsudouest.com/2007/04/25/interviewdalbert-uderzo/ und http://lambiek.net/artists/c/calvo_ef.htm (Zugriff am 16. November 2008). 28 Dieser Großvater ist das (mit Orden ausgezeichnete) Kaninchen Patenmois – ›patte en moins‹ (fehlendes Bein), vgl. Nayak-Guercio (2006: 101). 29 Diese Zahl ist im französischen Kontext besonders symbolisch, da sie für die Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit steht. 135

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er wurde im Herbst 1940 an der ›Livarot‹ (Maginot) Verteidigungslinie verletzt. Als Zeitzeuge kommt seiner Erzählung eine besondere Autorität zu.30 Die Erzählung über den Zweiten Weltkrieg ist damit in die Rahmenhandlung einer nicht näher datierten Zukunft eingefasst, während der Zweite Weltkrieg zu der Zeit, als die Geschichte geschrieben und gezeichnet wurde, noch keineswegs beendet war. Tatsächlich war die Bestie Nazi-Deutschland selbst noch nicht offiziell als tot deklariert worden. Comic-Charaktere im Kontext des Zweiten Weltkriegs als Tiere darzustellen, erinnert heute an Spiegelmans Maus. Calvos Comics stehen aber vielmehr in der Traditionslinie der französischen Fabeln von Jean de la Fontaine aus dem 17. Jahrhundert und der Tradition der zeitgenössischen amerikanischen Comics und Filmcartoons von Walt Disney31 und Pat Sullivan (dem australisch-amerikanischen Schöpfer von Felix the Cat). Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, wenn auch nicht besonders überraschend, dass Hitler hier als Wolf gezeichnet wird, wie dies schon in dem amerikanischen Filmcartoon Blitz Wolf von Tex Avery der Fall war, der 1942 von Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) produziert worden, aber während der Besatzung Frankreichs nicht erhältlich war (vgl. Kovacevic 2007). Die ersten Seiten der Kriegsillustration von Calvo zeigen das Bild eines fröhlichen Landes in der Vorkriegszeit. Obwohl das Land selbst sowie die Personen nicht benannt werden,32 ist leicht zu erkennen, dass es sich um Frankreich in den 1930ern handelt. Im Gegensatz zu den niederländischen Comics wird hier der Zeitrahmen weiter gespannt und beinhaltet auch den Vorkriegskontext, wie z.B. den deutschen Angriff auf Polen im September 1939. Daraus folgt auch, dass diese französische Erzählung nicht auf das eigene Land beschränkt ist. Der geographische Rahmen umfasst die meisten führenden Nationen des Zweiten Weltkriegs, wodurch ein Gefühl für die globalen Auswirkungen dieses Konflikts geschaffen wird. Das NS-Deutschland der Vorkriegszeit wird als Barbarei (›Barbaria‹) vorgestellt, ein Land der grausamen Wölfe, die drauf und dran sind, sich die Tiere der sie umgebenden Länder einzuverleiben. Ihre Führer werden als Großer Wolf (Hitler), Ordenbehängtes Schwein (Göring) und Redseliger Iltis (Goebbels) präsentiert. Die Fran30 Der Großvater verkörpert den Geist und die Weisheit der französischen Kultur und Geschichte, während die jungen Enkel die Hoffnung der Nation darstellen. 31 Tatsächlich musste die Wolfsschnauze auf Forderung Walt Disneys hin geändert werden, weil diese als Imitation einiger Disneykreaturen empfunden wurde, vgl. Wayne (2008: 70-83). 32 Ausnahmen sind die beiden Boote namens ›Winston‹ und ›Churchill‹ (Calvo 1977: 34) sowie Feldmarschall Montgomerys Spitzname ›Monty‹. 136

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zosen hingegen werden vor allem als friedvolle Eichhörnchen und Kaninchen porträtiert, aber oftmals auch als heroisch beschrieben.33 Die Geschichte, wie sich der Zweite Weltkrieg rund um die Welt entwickelte, wird insbesondere im ersten Band hauptsächlich chronologisch erzählt. Der Schwerpunkt liegt auf den Erfahrungen der französischen Bevölkerung und auf den Aktivitäten der Freien Franzosen außerhalb des Landes. Um den politischen Kontext mit zu berücksichtigen, werden aber auch einige ausgewählte militärische Ereignisse, in welche die Achsenmächte und die Alliierten eingebunden sind, dargestellt, z.B. der Blitzkrieg gegen Großbritannien, der deutsche Angriff auf die Sowjetunion und weitere Entwicklungen an der Ostfront. Auch Ereignisse und Schlachten in den französischen Kolonien in Nordafrika, der japanische Einmarsch in Südostasien und die amerikanische Beteiligung am Krieg werden erwähnt. Die Geschichte zeichnet alle beteiligten Charaktere nach einem »klaren Schwarz-Weiß-Schema« (Nayak-Guercio 2006: 122), und nichts Positives, wie klein oder unwichtig auch immer, wird über die Deutschen erwähnt. Die Darstellung der deutschen Kriegsverbrechen – oder vielmehr: Massaker – gegen die Zivilbevölkerung in Tulle und Oradour-surGlane am 9./10. Juni 1944 hinterlässt keinen Zweifel an der kollektiven Schuld aller Deutschen (Calvo 1977: 74f.). Der Erzähler berichtet, dass diese Massaker von regulären Wölfen ausgeführt wurden und dass die gesamte Deutsche Nation eine Rasse von Monstern, Tyrannen und Kriminellen sei, allesamt ohne Herz geboren. Allerdings ist der Hass des Erzählers auf die Italiener, die einen kleinen Teil Frankreichs besetzten, mindestens genauso lebendig: Sie werden als feige Hyänen im Wolfspelz dargestellt (ebd.: 26, 39). Die Darstellung der Japaner ist ähnlich, auch diese werden als Nachahmer der Deutschen dargestellt und zwar in Form einer agressiven und gefährlichen Rasse kleiner gelber Affen. All dies steht in scharfem Kontrast zu den viel positiveren Darstellungen der anderen Opfer der faschistischen Okkupation sowie der Alliierten. Die Russen erscheinen als Polarbären34 – groß und stark, geführt von einem schlauen Großen Bären (Stalin), die Briten als getreue Bulldoggen, die Amerikaner als gut ausgebildete Bisons, während Belgier, Niederländer und Dänen als Löwen, Kühe und Dänische Doggen auftauchen. Abgesehen von diesem internationalen Kontext nimmt der Comic aber unbestreitbar eine stark französische Perspektive ein. Das Leiden 33 Franzosen werden in verschiedenen Tierformen präsentiert, bspw. als Hunde, Tauben und Frösche. Diese Vielfalt wird durch die Repräsentation der französischen Kolonialtruppen als (aggressivere) Panther und Leoparden noch weiter ausgebaut. 34 Das Französische »ours« (Bär) entspricht der Abkürzung der URSS. 137

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der Franzosen, die ihre Unabhängigkeit nach dem Sieg der Deutschen an der Westfront im Juni 1940 verloren, ist ein wichtiger Teil des Comics. Noch bedeutender ist die Beachtung, die dem Beitrag der Freien Franzosen im Exil, angeführt von Charles de Gaulle (dem Großen Storch – »notre grand Cigogne nationale«35), sowie den Widerstandskämpfern im Inland zukommt. Dass Calvos Kriegserzählung nichtsdestotrotz international erscheint, kann zumindest teilweise als ein bewusster Versuch interpretiert werden, diejenigen Kriegsschauplätze, in welchen die Franzosen mitsamt ihrer kolonialen Truppen eine vorteilhaftere Rolle spielten, wie z.B. Nordafrika und Italien, stärker zur Geltung zu bringen. Ereignisse in anderen Teilen der Welt, an der Ostfront oder in Asien, werden zwar erwähnt, aber nur am Rande. In Hinblick darauf ist die letzte Illustration des ersten Bandes geradezu symbolisch: Sie zeigt eine fliegende Reihe tapferer Störche (das Symbol der Freien Franzosen), während der erzählende Großvater berichtet, dass sowohl die unterdrückten Bürger, die in Frankreich blieben und litten, als auch die Militärs im Exil den Geist und die Seele der französischen Nation in Erwartung des nahenden Sieges bewahrt hätten. Gelegentlich werden die Aktivitäten und das Anwachsen der Widerstandsbewegung, die implizit als eine einzige und vereinigte Organisation dargestellt wird (Nayak-Guercio 2006: 102), aufgezeigt.36 Ihre Rolle scheint mehr oder weniger in den Pariser Aufständen im August 1944 zwei Monate nach der D-Day-Invasion zu kulminieren. Calvos Verbildlichung dieser Ereignisse, in welcher der revolutionäre Hauptcharakter in der Mitte die nationale Trikolore hochhält (Calvo 1977: 80), repräsentiert den Kampf für Freiheit gegen Unterdrückung und basiert auf der Vorlage des berühmten Gemäldes von Delacroix, La Liberté guidant le peuple (›Die Freiheit führt das Volk‹) von 1831, das sich auf die Französische Revolution 1789 bezieht.37 Die Verbindungslinie, die hier zwischen 1789 und 1944 gezogen wird, demonstriert nicht nur eine Kontinuität im französischen Kampf um Freiheit und Menschenrechte, sondern trägt auch die Botschaft, dass der Geist der französischen Nation ohne Zweifel immer noch ungebrochen ist. Der herausragende Beitrag der alliierten Mächte zur Befreiung Frankreichs wird zwar keineswegs geleugnet, nichtsdestotrotz wird den Lesenden vermittelt, dass Frankreich einen erheblichen Anteil an dem Sieg über die Deutschen hatte. Dieses patriotische Gefühl wird am Ende des Comics explizit ausgedrückt: Am Ende 35 Der Storch soll außerdem auch ein »Symbol von Reinheit und Neuem Leben« darstellen (Dekkers 1977: 7). 36 Calvo (1977: 29, 31, 45, 53, 61f., 70, 76-78). 37 Inspiriert wurde dieses Gemälde von der Julirevolution 1830 gegen König Karl X, vgl. Nayak-Guercio (2006: 160). 138

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des zweiten Bandes wird der Leser dazu ermutigt, die Nation zu lieben, nach Einheit zu streben und stets wachsam zu sein. Tatsache ist, dass das Publikum dazu aufgefordert wird, Opfer für die Nation und die Armee zu bringen (Calvo 1977: 84). In diesem Rahmen ist es nicht überraschend, dass die Nation selbst und ihre Einheitlichkeit nicht hinterfragt werden.38 Auch wenn die Teilung Frankreichs in einen besetzten und einen unbesetzten Teil im Comic erwähnt wird (ebd.: 53), bleibt das Phänomen der Kollaboration mit den deutschen Militärautoritäten völlig unklar, genauso wie das Ausmaß, in dem diese auf erzwungener oder freiwilliger Basis in beiden Teilen des Landes stattfand. Nur ein oder zwei Mal werden französische Verräter dargestellt (ebd: 24, 28), aber ihre Rolle in der französischen Kriegserzählung ist sehr begrenzt. Nicht nur ist der Platz, der ihnen in der Geschichte gewidmet wird, minimal. Sie werden auch ganz anders als die anderen bzw. die ›eigentlichen‹ französischen Charaktere dargestellt, nämlich als Eulen und Vipern statt als Kaninchen oder Eichhörnchen. Damit wird impliziert, dass sie nicht wirklich Teil der nationalen Gemeinschaft sind. Französische Kollaborateure, ganz gleich, welcher Grad an Autorität ihnen in der Vichy-Regierung und Verwaltung zukam, existieren in Calvos patriotischer Kriegsdarstellung einfach nicht (NayakGuercio 2006: 103, 163). Im Gegensatz zu all den anderen klar erkennbaren Leitfiguren in diesem Comic bleiben Philippe Pétain oder Pierre Laval unsichtbar. Was die Verfolgung der Juden als eine der bedeutendsten Tragödien des Zweiten Weltkriegs betrifft, muss angemerkt werden, dass nur zwei Illustrationen den Holocaust (in einem frühen Stadium) thematisieren. Gegen Ende des ersten Bandes sieht man deutsche Soldaten, die harmlose Kaninchen in einen Zug stoßen. Der Begleittext erklärt, dass die Wölfe auf die totale Vernichtung dieser friedliebenden Tiere hinzielten. Die viktimisierten Tiere werden einerseits als Kaninchen, und somit als Franzosen, dargestellt. Andererseits berichtet der zweideutige Text auch von Juden, die von Franzosen geschützt und versteckt wurden,39 als seien sie kein integraler Teil der französischen Gesellschaft. So wie die Rolle der französischen Administration und ihrer Befürworter in verschiedenen Entwicklungen in Frankreich zwischen 1940 und 1944 ausgespart wird, 38 In ähnlicher Art und Weise wird auch keine Kritik bezüglich des Kolonialismus oder des zukünftigen Status in den französischen Kolonien geäußert, obwohl es während des Krieges Diskussionen darum gab. 39 In dem nächsten Bild werden Widerstandskämpfer von Wölfen erschossen. Das daneben an einer Wand hängende Poster deutet auf eine Verbindung zwischen diesen zum Tod verurteilten Widerstandskämpfern und Juden an; vgl. Calvo (1977: 31), Nayak-Guercio (2006: 166), Näpel (1998). 139

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wird auch unterschlagen, dass die französische Polizei einen wichtigen Beitrag dazu leistete, die jüdische Bevölkerung auf dem Land zusammenzutreiben. Anders als in der niederländischen Kriegserzählung, in der einheimische Verräter der eigenen Nation ein wichtiges Thema sind, wird diesen negativen Elementen von innen kein bedeutender Platz zugewiesen. Diese passen einfach nicht gut in die hier gewählte Form einer patriotischen Präsentation, die hauptsächlich eine Erzählung über das Opfer für ein höheres Ziel, nämlich das Wohl der Nation, ist. Dies ist von Anfang an klar, denn als der Erzähler nach seinem hölzernen Bein gefragt wird, betont er, dass dies bloß ein winzig kleiner Vorfall in der weltweiten Qual und Pein war, die über mehrere Jahre anhielt. Dieses Element von Opferbereitschaft kehrt explizit am Ende der Geschichte wieder, wenn die Leser in einer Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dazu aufgerufen werden, Opfer für ihre Nation und ihre Armee zu bringen. Es gibt noch einen anderen, pragmatischeren Grund, warum die französische Comicerzählung keine Details in Bezug auf die Kollaboration erwähnt. Einer von Calvos Mitautoren, Victor Dancette, hatte 1943 ein Pro-Pétain-Kinderbuch herausgebracht, Il était une fois un pays heureux (›Es war einmal ein glückliches Land‹). Dieses Buch wurde für die Dokumentationsabteilung der Vichy-Regierung geschrieben (vgl. Proud 1998: 18-43) und von Editions GP (Editions de la Générale Publicité) verlegt, demselben Verlag, der später auch den Nachkriegscomic von Calvo vertrieb. Darin werden moderner Lebensstil und Ausländer für die Dekadenz der französischen Gesellschaft verantwortlich gemacht. Aus der angeblichen (Fehl-)Entwicklung führe nur die Politik der PétainAdministration (Nayak-Guercio 2006: 109f.). Für Dancette und seine Verleger mag La Bête est morte! deswegen ein sehr später Widerstandakt gewesen sein – der Comic wurde schon zur Zeit der deutschen Besatzung vorbereitet –, allerdings vermied er aus gutem Grund das Thema Kollaboration so weit wie möglich.

Fazit Der Rahmen, in dem sich diese beiden frühen Comicerzählungen der frühen Nachkriegszeit aus den Niederlanden und Frankreich bewegen, ist in beiden Fällen auf den Nationalstaat beschränkt. Ganz gleich, wie weit sich der globale Konflikt des Zweiten Weltkriegs in den Jahren zwischen 1939 und 1945 ausbreitete: Die Bühne, auf der die dominante Erzählung vom Leiden, der stolzen Entschlossenheit und des Sieges präsentiert wird, verbleibt in den Comics innerhalb der traditionellen kulturellen

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Grenzen des Nationalstaats. In beiden Comics hat die Nation selbst die Rolle eines kollektiven Protagonisten inne und lässt wenig Raum für mehr oder weniger individuelle, möglicherweise abweichende Erfahrungen. Daraus folgt, dass sowohl in den hier analysierten französischen wie auch in den niederländischen Comics die Verfolgung der Juden weitgehend vergessen wird – auch wenn einschränkend bemerkt werden muss, dass es einige Zeit dauerte, bevor die befreiten Gesellschaften die endgültigen Implikationen des NS-Antisemitismus wirklich realisierten.40 In diesem sehr frühen Stadium des Umgangs mit den Eindrücken von und der Erinnerung an den Krieg und die Besatzung, zu einem Zeitpunkt, als die Kampfhandlungen auf dem asiatisch-pazifischen Kriegsschauplatz noch immer nicht beendet waren, ist es kaum überraschend, einen emotionalen Ansatz in diesen Comics zu finden. Dieser äußert sich in einer Dichotomie zwischen den unschuldigen Repräsentanten der (französischen und niederländischen) Nation auf der einen und den bösen Nationalsozialisten auf der anderen Seite. Damit bestätigen die Geschichten das verehrte Ideal einer guten Nation, das nur zeitweilig von Menschen, denen nun der Ausschluss gebührt, gestört wurde. Die Reflexion dessen, was in den vorhergehenden Jahren passiert war, führte zu keiner ernsthaften Selbstkritik. Diese Tendenz wurde wahrscheinlich durch den Umstand verstärkt, dass beide Comics eine wichtige Periode der nationalen Vergangenheit heranziehen, um die letzten Kriegserfahrungen einzurahmen und zu interpretieren. Dies ist sicherlich verständlich, vermindert aber wiederum die Wichtigkeit der globalen Auswirkungen dieses Weltkriegs. Es lässt sich vielleicht behaupten, dass in beiden Comics die Kolonien in Übersee einen Platz in den Erzählungen erhalten, aber auch hier fällt die selektive Wahrnehmung auf: Die Kolonien werden allein aus der Perspektive des kolonisierenden Mutterlandes dargestellt. Der herausragendste Unterschied zwischen den französischen und den niederländischen Comics ist die Berücksichtigung der Einheimischen, die mit den Deutschen kollaborierten. Die niederländischen Comics schenken der nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande große Beachtung, sehen ihre Mitglieder aber als eine Minderheit und Ausnahme an; sie werden nicht als ›eigentliche‹ Niederländer präsentiert. Den französischen Autoren muss die weit verbreitete Kollaboration in beiden Teilen Frankreichs aus eigener Erfahrung bewusst gewesen sein. 40 Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Thema deswegen ignoriert wurde, weil diese Comics normalerweise auf ein kindliches Publikum abgestimmt gewesen wären. Ein umfassendes Verständnis beider Comicerzählungen erfordert ein Erwachsenenwissen über die Kriegsumstände. Im Gegensatz zu Nayak-Guercios Annahme (Nayak-Guercio 2006) hatten Calvos Comics keineswegs nur Kinder zum Zielpublikum. 141

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Als Ausweg aus diesem Dilemma kam nur infrage, das Thema möglichst zu ignorieren, indem die Deutschen und ihre Führer so stark wie möglich dämonisiert wurden. Abgesehen von der militärischen und ideologischen Konfrontation zwischen Nazis und Patrioten bleiben politische Belange in beiden Erzählungen weitgehend unthematisiert, als ob Unterschiede und Spaltungen zwischen nationalen Gemeinschaften einfach nicht existierten. Nur indirekt können gewisse politische Einstellungen unterschieden werden. So berücksichtigt Calvos Comic nicht nur die Rolle der Sowjetunion, sondern scheint auch dem Kommunismus gegenüber positiv eingestellt zu sein (1977: 64), während van Tast die Sowjetunion einfach ignoriert. Zwischen den wehenden Fahnen der Alliierten, die er mehrmals verbildlicht, fehlt immer die sowjetische. Westeuropäische Kriegscomics der letzten Jahre scheinen Heldentum und Heroismus hinter sich zu lassen. Obwohl der nationale Rahmen immer noch ein hervorstechendes Merkmal dieser Comics ist, deutet das spezifische Feld der Geschichtscomics darauf hin, dass Comics inzwischen weniger eindimensional sind. Comics sind zu einem komplexeren und subtileren Medium geworden, das auch von Akademikern immer ernster genommen wird. Die Forschenden zeigen eine steigende Bereitschaft, die Wichtigkeit dieser und anderer Aspekte der visual culture zu akzeptieren – zum Teil, weil sie sich endlich dazu entschlossen haben, sich als Konsumenten von Populärkultur und als (ehemalige) ComicLeser zu outen. Populärkultur ist nichts, wovon Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerinnen sich abheben. Ein wenig Selbstbeobachtung im Hinblick darauf, was Comics für Historiker und andere Wissenschaftler bedeuten, könnte dazu beitragen, eine essentielle Frage für zukünftige Forschungen zu beantworten: Wie verhält sich die ›Konsumtion‹ von Comics zu kollektiver Identität? Wie verbinden Comics Menschen von heute mit der Vergangenheit, und welche verschiedenen (nationalen und andere) Rahmenhandlungen, durch die Comic-Leser ihre soziale Identität wahrnehmen, spielen darin eine Rolle? Ob Comicerzählungen sich allgemein von anderen Repräsentationsformen, sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas unterscheiden, muss noch ermittelt werden. Geschichtscomics stellen eine spezifische Repräsentation der Vergangenheit dar, aber wir haben erst vor kurzem angefangen, die Bedeutung und die Auswirkungen dieses faszinierenden Phänomens zu verstehen.

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KEES RIBBENS

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DER ZWEITE WELTKRIEG IN EUROPÄISCHEN COMICS

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GESCHICHTE IM FILM: ZUM UMGANG MIT DEN ZEICHEN DER VERGANGENHEIT IM DOKUDRAMA DER GEGENWART MATTHIAS STEINLE

Bereits der Hollywood-Pionier David Wark Griffith dachte über die Rolle von Geschichte in populären Medien nach. 1915, kurz bevor sein monumentales Epos Birth of a Nation (Geburt einer Nation, USA) noch unter dem Titel The Clansman in die Kinos kam, erklärte er in einem Interview: »The time will come, and in less than ten years, when the children in the public schools will be taught practically everything by moving pictures, certainly they will never be obliged to read history again«.1 Wenn auch knapp ein Jahrhundert später die Kinder in der Schule immer noch Geschichtsbücher lesen müssen, so wird kaum jemand an der Feststellung des Historikers Edgar Wolfrum zweifeln, dass heute »das Fernsehen die Grundversorgung der Gesellschaft mit Geschichtsbildern übernommen« hat (Wolfrum 2003: 36). Dabei sind es nicht nur historisch ausgerichtete Programminhalte im gegenwärtigen medialen »HistoryBoom« (Urbe 2005), sondern auch die Verankerung des Fernsehens im Lebensalltag und der einfache Zugang, dem das Fernsehen – trotz Konkurrenz und Diversifizierung noch immer ein Leitmedium – seine zentrale Rolle als Geschichtsbildproduzent und -vermittler verdankt. Anklänge an das Fernsehdispositiv finden sich bereits im eingangs zitierten Interview, in dem Griffith seine Vision der öffentlichen Bibliothek der Zukunft folgendermaßen entwickelte: »There will be long rows of boxes or pillars, properly classified and indexed, of course. At each box a push button and before each box a seat. Suppose you wish to ›read up‹ on a certain episode in Napoleon’s life. Instead of consulting all the authorities, wading laboriously through a host of books, and ending bewildered, without a clear idea of exactly what did happen and confused at every point by conflicting opinions about what happened, you will merely seat your-

1

New Yorker Magazine, 28. März 1915, zitiert nach Stevens (1997: 1). 147

MATTHIAS STEINLE

self at a properly adjusted window, in a scientifically prepared room, press the button, and actually see what happened« (Stevens 1997: 2).

Nicht nur aufgrund des Versprechens, Geschichte per Knopfdruck in visueller Selbstevidenz zur Anschauung zu bringen, ließe sich Griffith als ›Ahnherr des Dokudramas‹ bezeichnen, vereinigt Birth of a Nation doch zahlreiche charakteristische Elemente dessen, was heute unter dem Label Dokudrama im deutschen Fernsehen zur Prime Time ausgestrahlt wird. Auf der ›Doku-Seite‹ zeigt Griffiths Epos: • als Rahmen der Handlung mit dem amerikanischen Bürgerkrieg ein realgeschichtliches Ereignis, das für die US-amerikanische Geschichte prägend ist und als nationaler Gründungsmythos einen Erinnerungsort im Sinne Pierre Noras konstituiert (vgl. Nora 1990); • eine von historischen Quellen inspirierte Bildfindung mit direkten Bildzitaten, darunter vor allem die frühe Kriegsfotografie wie beispielsweise von Mathew Brady (vgl. Paul 2004: 65-68);2 • dokumentarische Authentisierungsstrategien, die Wert auf historische Genauigkeit bei Kostümen und Dekors legen sowie Detailinformationen geben, wie z.B. die genaue Uhrzeit des Lincoln-Mordes im Zwischentitel.3 Die ›Drama-Seite‹ bietet: • die Dramatisierung der Historie durch eine bewegende Story nach dem aristotelischen Modell von Geschlossenheit, Kausalität und Emotionslenkung; • Schauwerte dank innovativer Filmtechniken (Nacht-, Außen-, Großaufnahmen, lange Kamerafahrten, cross cutting) sowie aufwändige Dekors und Massenszenen (18.000 Darsteller, 3.000 Pferde); • Helden und ein wörtlich zu nehmendes Schwarz-Weiß-Schema von gut und böse mit der Verherrlichung des Ku Klux Klans einerseits und animalisch dargestellten Südstaaten-Schwarzen andererseits. Nicht zuletzt handelt es sich um eine bereits damals stark umstrittene Repräsentation und Interpretation der Geschichte, die heftige politische und soziale Auseinandersetzungen zur Folge hatte.4

2 3 4

Siehe auch das Kapitel »Visual Sources« in »The Making of The Birth of a Nation« auf der DVD-Edition von Eureka Video (2000). Das ging so weit, dass Griffith jedem 10.000 Dollar anbot, der dem Film einen historischen Fehler nachweisen konnte (vgl. Simmon 1993: 110). Gegen die rassistischen Stereotype protestierte die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), so dass z.T. die Auffüh148

GESCHICHTE IM FILM

Griffiths Kommentar zur Bibliothek der Zukunft, in der die Ansicht des Geschehenen es einem erspare, sich qualvoll durch Bücherberge und widersprüchliche Meinungen zu quälen, ließe, sich kritisch gewendet, durchaus als Kommentar zur aktuellen Produktion deutscher Dokudramen lesen, zeichnen diese sich doch durch standardisierte visuelle und narrative Konventionen aus, die im Zusammenspiel mit etablierten dokumentarischen Authentisierungsstrategien für ein einheitliches, geschlossenes Geschichtsbild sorgen (vgl. Ebbrecht 2007b: 227-228). Im Folgenden soll, anstatt weitere Anachronismen im Zusammenhang mit dem ohnehin schon nebulösen Begriff ›Dokudrama‹ zu bemühen, dieser zunächst kurz problematisiert werden. Darauf aufbauend möchte ich einen pragmatischen Zugriff auf das Genre bzw. das mediale Phänomen vorschlagen. In einem zweiten Schritt soll die deutsche Produktion grob thematisch geordnet werden, um drittens charakteristische Strategien im Umgang mit den Zeichen der Vergangenheit im Dokudrama der Gegenwart vorzustellen.

Dokudrama als Hybrid Kaum ein Konzept ist so schwer zu fassen wie das des ›Dokudramas‹ als Inbegriff des Hybriden aus fact und fiction. Während ›Doku‹ für das Versprechen von Information/Aufklärung, Bildung und Authentizität steht, verspricht ›Drama‹ Unterhaltung, Schauspiel, Emotionen und sinnliche Attraktion. In der Mischform aus scheinbar Gegensätzlichem liegt der Reiz des Dokudramas begründet; gleichzeitig kann der hybride Charakter die Zuschauer verwirren und beinhaltet das Risiko von Grenzüberschreitungen, die ethische Fragen aufwerfen sowie politische und nicht zuletzt juristische Auseinandersetzungen nach sich ziehen können. Im weitesten Sinne werden unter Dokudrama Filme mit zeithistorischen oder aktuellen Stoffen gefasst, die unter dem Versprechen einer true story ihre Geschichte im Modus des Dramas entfalten (vgl. Paget 1990). Darunter können so unterschiedliche Filme fallen wie Bronenosets Potyomkin (Panzerkreuzer Potemkin, 1925), Shoah (1985) oder JFK (1991).5 Im engsten Sinne der deutschen Fernsehgeschichte bezeichnet Dokudrama die von Heinrich Breloer zusammen mit Horst Königstein seit Anfang der 1980er Jahre entwickelte fernsehspezifische Form, dokumentarisches Archivmaterial mit Zeitzeugeninterviews und nachge-

5

rung des Films verhindert wurde. Das änderte aber nichts daran, dass Birth of a Nation auch kommerziell zu einem der erfolgreichsten Filme in den USA wurde. So weit reicht z.B. die Spannbreite im Sammelband von Rosenthal (1999). 149

MATTHIAS STEINLE

stellten Spielszenen in einen sich gegenseitig ergänzenden und reflektierenden Zusammenhang zu setzen (vgl. Wolf 2003: 99).6 Nach einem ähnlichen Muster arbeitet für das ZDF das Team Guido Knopp und HansChristoph Blumenberg. Die Filme dieser Gestaltungsart zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie z.T. über Spielfilmbudgets verfügen. Vor allem bei den ZDF-Produktionen, aber auch in den jüngeren BreloerFilmen, geht die Tendenz dahin, die verschiedenen Bildsorten nahtlos in einen selbstreferentiell-autolegitimatorischen Zirkel zu verschweißen und in eine geschlossene Erzählung zu überführen. Im gegenwärtigen deutschen Kontext werden als Dokudramen ebenfalls aufwändige Spielfilme mit Staraufgebot bezeichnet, die im 20. Jahrhundert – verstanden als ›Das deutsche Jahrhundert‹ (vgl. Jäckel 1996) – spielen und in denen die historischen Ereignisse die Handlung generieren. Stilbildend dafür stehen die Produktionen von Bernd Eichinger und die Event-Movies der Firma teamWorx, deren Name für international marktfähige Zeitgeschichte auf der Höhe computeranimierter Spezialeffekte steht (vgl. epd medien 2007). Entsprechend der hohen Produktionskosten gehorchen die Filme einer »quotenorientierten Regelpoetik« (Wenzel 2004: 76), die sich am klassischen Hollywood-Modell orientiert. Die Arbeit von teamWorx sowohl für öffentlich-rechtliche wie auch private Fernsehsender munitioniert die Konvergenzthese von einer Annäherung der beiden Systeme. Statt Genredefinitionen, die im Bereich hybrider Formen doppelt prekär sind, möchte ich die verschiedenen Ausprägungen des Dokudramas im Folgenden unter dem von Tobias Ebbrecht entwickelten Begriff des »historischen Eventfernsehens« (2007b: 226) diskutieren, d.h. aus einer medienpragmatischen Perspektive die filmischen Geschichtskonstruktionen betrachten, die im Rahmen von Events auf eine größtmögliche Breitenwirkung zielen (vgl. Ebbrecht/Steinle 2008). Das Ereignisfernsehen steht für eine Reihe zeittypischer soziokultureller, medialer, technologischer und ökonomischer Entwicklungen: • Es schreibt sich ein in den gewandelten historischen Kontext nach den Umwälzungen im Zuge von 1989. Für die Bildung einer neuen nationalen Identität im vereinigten Deutschland spielt der Umgang mit der eigenen Geschichte eine zentrale Rolle. Dabei werden nicht nur Gedenktage und öffentliches Erinnern als Event inszeniert, auch die Diskussion um die Erinnerung wird zum medialen Ereignis. • Im Umgang mit der Vergangenheit haben sich neue Formen ihrer medialen Vermittlung entwickelt: So wurde die oral history in der

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Zur Entwicklung früherer hybrider Formen im deutschen Fernsehen siehe Hickethier (1979). 150

GESCHICHTE IM FILM



Figur des Zeitzeugen aufgewertet, dem in den 1990er Jahren eine immer größere diskursive Funktion zukam (Keilbach 2002: 113). Neben der Rolle als Authentizitätsgarant dient der Zeitzeuge auch der affektiven Bindung der Zuschauer und eröffnet so einen transgenerativen und emotionalen Zugang zur Geschichte (Ebbrecht 2008: 90). Nicht zuletzt haben sich neue Produktionspraktiken etabliert, die sich ästhetisch und ökonomisch an Kino-Standards orientieren und auf Stars und special effects setzen. Erst die Entwicklung der digitalen Technik hat es möglich gemacht, dass deutsche Produktionen Hollywood imitieren können.

Auch aus Perspektive des sozialen Gedächtnisses bietet sich ein übergreifender Zugriff auf das historische Ereignisfernsehen an. Wie Harald Welzers Forschungen gezeigt haben, besteht die Wirksamkeit der »medialen Bilderflut auf die individuellen Vergangenheitsbilder« weniger in Eigenschaften wie fiktional/nicht-fiktional, sondern vielmehr in der Unterstützung biografischer Sinnstiftung für den Rezipienten (Welzer 2002: 175). Welzer macht zwei Richtungen aus, in die Bilder ihre Gedächtniswirkung entfalten: Einerseits werden visuelle Versatzstücke und Filmszenen ununterscheidbar in die Schilderung autobiografischer Erinnerung verwoben, andererseits ziehen die Erinnernden »gerade filmische Vermittlungen und insbesondere die des Spielfilms« als historischen Beleg heran, wie es wirklich gewesen ist (ebd.). Emotionen fördern die Erinnerungsleistung – an eigenes Erleben ebenso wie an Filmbilder. Die Koppelung emotionalisierender Dramatik mit dem dokumentarischen Versprechen des Dokudramas macht es für das soziale Gedächtnis so interessant.

Repräsentation deutscher Geschichte im Dokudrama Im Hinblick auf die Repräsentation der deutschen Geschichte lassen sich die Produktionen des historischen Ereignisfernsehens grob drei Bereichen zuordnen: 1. ›Drittes Reich‹, 2. westdeutsche Nachkriegsgeschichte/BRD und 3. DDR. Der Komplex ›Drittes Reich‹ konzentriert sich zum einen auf prominente Funktionsträger, wie sie Guido Knopps ZDF-Reihen mit »Hitler als Quotenbringer« (vgl. Linne 2002) in den 1990er Jahren eingeführt haben. Ihre dokudramatische Fortsetzung haben diese in Jo Baiers Stauf-

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fenberg (teamWorx/ARD, 2003)7 sowie Heinrich Breloers Speer und Er (Bavaria/ARD, 2005) erfahren. Zum anderen bildet das Kriegsende einen Schwerpunkt mit Filmen wie Roland S. Richters Dresden (teamWorx/ ZDF, 2005), Hans-Christoph Blumenbergs Die letzte Schlacht: Berlin, April 1945 (Cinecentrum/ZDF, 2005) und Die Kinder der Flucht (Cinecentrum/ZDF, 2006) sowie Kai Wessels Die Flucht (teamWorx/ARD, 2007). Prototypisch vereint Oliver Hirschbiegels Der Untergang (2004) die beiden Stränge. Charakteristisch für den personalisierten und auf Deutsche reduzierten Zugriff dieser Dokudramen ist die Entlastungstendenz, die Verantwortung auf wenige Funktionsträger oder ›die Nazis‹ abzuschieben und die deutsche Bevölkerung primär als Opfer des Nationalsozialismus zu zeichnen (Ebbrecht 2007a: 41). Jüngere deutsche Melodramen, die Judenverfolgung und -vernichtung thematisieren, von Comedian Harmonists (1997) über Aimée & Jaguar (1999) bis zu Rosenstraße (2003), inszenieren rückwirkend positive deutsch-jüdische Identitätsstiftung und spielen im unreflektiert-nostalgischen Ufa-Stil »Versöhnungsmelodien« (Schulz 2005: 88). Bezeichnenderweise lautet der Titel einer jüngeren teamWorx-Produktion von Jo Baier zu diesem Thema Nicht alle waren Mörder (ARD, 2006). Auch wenn der Inhalt des Films nicht für einen »Anti-Goldhagen« taugt (Sichtermann 2006: 23), ist der thematische Zugriff charakteristisch für den aktuell im Film dominierenden Entlastungsdiskurs: »So wird der Engel der Geschichte wieder bei der Hand genommen und gezwungen, nach vorn zu schauen: auf die harmonische Leinwand« (Schulz 2005: 88). Und zwar nach vorne, auf die Geschichte der Bundesrepublik: Diese ist voller Wunder und Fußballmärchen, die, wie Das Wunder von Bern (2003), das gewonnene Endspiel mit dem Wirtschaftswunder zum Generationen versöhnenden Gründungsmythos verschmelzen, auch wenn es sich bei der Mythologisierung des WM-Sieges um eine ex-post Konstruktion der 1990er Jahre handelt (vgl. Binz 2004). Wenn eine Bedrohung erfolgt, dann von außen, wie die Blockade in Dror Zahavis Die Luftbrücke: Nur der Himmel war frei (teamWorx/SAT.1, 2005), jenem Ereignis, in dem aus den ehemaligen Gegnern – Deutschen bzw. Berlinern und Westalliierten – Verbündete im Kalten Krieg wurden. Oder eine 7

Im Folgenden wird neben der Fernsehanstalt auch die Produktionsfirma genannt. Dabei zeigt sich deutlich die Marktdominanz einiger weniger Akteure, was sich auf der Ebene der Schauspieler in der Wiederkehr der Ewiggleichen (vor allem Veronika Ferres, Heino Ferch, Sebastian Koch) fortsetzt. Die auftraggebende Sendeanstalt innerhalb der ARD wird aus Gründen der Platzökonomie nicht aufgeführt. Zahlreiche Filme hatten ihre Premiere auf ARTE, wahrgenommen wurden sie aber erst mit ihrer Ausstrahlung von ARD und ZDF, die entsprechend hier angegeben wird. 152

GESCHICHTE IM FILM

Gefährdung resultiert aus Unglücken und Katastrophen: Kaspar Heidelbachs Das Wunder von Lengede (Zeitsprung Film+TV/SAT.1, 2003) zeigt mit großem Staraufgebot die Rettung verschütteter Bergleute nach einem Grubenunfall 1963, die die Deutschen erstmals kollektiv live im Fernsehen mitverfolgen konnten (vgl. Hißnauer 2006). Auch Naturkatastrophen provozieren in Westdeutschland Krisen, wie in Jorgo Papavassilious Die Sturmflut (teamWorx/RTL, 2006), die 1962 über Hamburg hereinbrach. Die Rettung zahlreicher Menschen während der Nacht der großen Flut (Cinecentrum/ARD, 2005) war unter anderem dem vom damaligen Innensenator Helmut Schmidt initiierten, verfassungsrechtlich nicht unbedenklichen Einsatz von Bundeswehr und NATO zu verdanken. Interessieren sich die Retro-Katastrophen-Produktionen auch weniger für politische Implikationen als für nostalgische Bilder, dramatische Effekte, Familien- bzw. Liebesgeschichten und visuelle Schauwerte, zeigen sie alle gemeinschaftsstiftende Erfahrungen, in denen Krisen kollektiv bewältigt werden. Das Bedürfnis nach dem Austritt aus der Geschichte als politisch konfliktuellem Feld und nach nationaler Mythenbildung – »Jedes Volk braucht eine Legende«, verkündet der Trailer zu Das Wunder von Bern – findet seinen Höhepunkt in der affirmativen Abwandlung des Heine-Zitats zu Deutschland, ein Sommermärchen (2006). Die einzige thematische Ausnahme stellt der Komplex ›Terrorismus‹ mit der RAF als aus der eigenen Gesellschaft erwachsenen Bedrohung dar. Bezeichnenderweise endet Breloers wegbereitender Zweiteiler Todesspiel (Multimedia/ARD, 1997) über die Schleyer- und LandshutEntführung mit der Befreiung der Flugpassagiere, dem Mord an Schleyer und dem Selbstmord der Terroristen. Widersprüche, nach wie vor offene Fragen und vor allem die Konsequenzen des ›deutschen Herbstes‹ mit seinem langfristig vergifteten Klima und dem Generalverdacht gegen links, kommen durch die Beschränkung auf den Krisenmoment nicht in den Blick (vgl. Hoffmann 2007). Dokudramen mit kritischen Tönen zur westdeutschen Geschichte schaffen es nur selten zum Event und wenn, dann greifen andere mediale Mechanismen, wie z.B. im Fall von Contergan (Zeitsprung Film+TV/ARD, 2007). Dass Adolf Winkelmanns Zweiteiler über den Pharma-Skandal im November 2007 zum Ereignis wurde, lag vor allem an dem von der Berichterstattung ausführlich begleiteten zweijährigen Rechtsstreit um die Mischung aus Fakt und Fiktion in diesem Dokudrama, der sich auch nach der um zwei Jahre verzögerten Ausstrahlung fortsetzte. Im diametralen Kontrast zur mythologisierenden Geschichtsschreibung der Bundesrepublik im historischen Ereignisfernsehen steht als dritter thematischer Komplex die DDR. Die Wahrnehmung des ›anderen‹ deutschen Staats erfolgt ausschließlich unter den Vorzeichen krisenhafter

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Ereignisse anhand dreier Fixpunkte: 17. Juni 1953, 13. August 1961 und 11. November 1989, mit dem zugleich die DDR in den bundesdeutschen ›Wunder-Diskurs‹ überführt wird. Zum 50. Jahrestag 2003 wurde des Aufstandes am 17. Juni mit einer außergewöhnlichen Intensität gedacht: Hans-Christoph Blumenberg rekonstruierte unter der Redaktion von Guido Knopp die Ereignisse in der Stalinallee mit Der Aufstand (Cinecentrum/ZDF, 2003), wozu ausgiebig Zeitzeugen befragt wurden. Die ARD machte sich untereinander Konkurrenz mit Peter Keglevics Zwei Tage Hoffnung (teamWorx/ARD, 2003) und Thomas Freundners Tage des Sturms (Saxonia Media/ARD, 2003), die sich thematisch allerdings ergänzten, indem ersterer den Blick auf das Epizentrum des Bebens in Berlin und letzterer auf die Auswirkungen in der Bitterfelder Provinz warf. Den 13. August 1961 riefen die beiden teamWorx-Produktionen Der Tunnel (SAT.1, 2001) von Roland S. Richter sowie Die Mauer – Berlin ’61 (ARD, 2006) von Hartmut Schoen ins Bewusstsein. Die wenigen Dokudramen, die nicht an den krisenbesetzten Schlüsseldaten ansetzen, orientieren sich zumindest an den damit verbundenen Erinnerungsorten wie Die Frau vom Checkpoint Charlie (Ufa/ARD, 2007) von Annette Hess und Miguel Alexandre, der den siegreichen Kampf einer von Veronica Ferres gespielten (Super-)Mutter nach ihrem Freikauf durch die Bundesrepublik um ihre in der DDR verbliebenen Kinder in den 1980er Jahren zeigt. Die letzte Etappe inszeniert der Zweiteiler Deutschlandspiel (Cinecentrum/ZDF, 2000) von Blumenberg und Knopp, unter Aufbietung zahlreicher prominenter Politiker, der mit einer kriselnden DDR an ihrem 40. Jahrestag einsetzt und mit dem Vereinigungsfeuerwerk endet. Wenn die DDR ein Wunder erleben darf, dann das ihres Endes, wie in Roland S. Richters Das Wunder von Berlin (teamWorx/ZDF, 2007). Die Wahrnehmung der DDR unter krisenhaften Vorzeichen schreibt sich auch in die Zukunft fort, wie das jüngste Projekt von Nico Hofmann verspricht: Seit Sommer 2007 entwickelt der teamWorx-Produzent einen Film, der von Separationsbestrebungen im deutschen Osten handelt, als deren Konsequenz die Mauer wieder aufgebaut wird (hse 2007: 19). Der unterschiedliche Zugriff auf die Geschichte von Bundesrepublik und DDR reflektiert erinnerungskulturelle Bedürfnisse ebenso wie geschichtspolitische Interessen. Affirmative Dokudramen zum ›Sparwasser-Wunder von Hamburg‹ oder ›Jähn – ein Weltraummärchen‹ sind aufgrund der ideologischen Instrumentalisierung durch die SED weder opportun noch wünschenswert. Bergwerks- und andere Unglücke sowie Naturkatastrophen hat es auch in der DDR gegeben, doch ist der ›realexistierende Sozialismus‹ in der Retrospektive aktueller Dokudramen kein Ort gemeinschaftsstiftender Ereignisse. Die Konzentration auf die drei Krisen-Daten als einzig signifikante Erinnerungsorte der DDR ver-

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mittelt die teleologische These von der DDR als »Untergang auf Raten« (vgl. Mitter/Wolle 1993). Auf der Strecke bleibt dabei die Interaktion von Herrschaft und Gesellschaft, die nach Schließung der DDR-Grenzen die relative Stabilität bis in die 1970er Jahre erklärt (vgl. Sabrow et al.: 2006). Die Reduktion der DDR auf einen failed state rechtfertigt auch nach wie vor bestehende mentale und ökonomische Probleme mit der Einheit. Diese zwangsläufig sehr grobe, als Tendenz verstandene Kategorisierung (die einzelnen Filmen bestimmt Unrecht tut), zeigt im Ensemble der Produktion die Themenwahl als symptomatisch für mediale Wahrnehmungsraster der Zeitgeschichte. Zugespitzt lassen diese sich zu folgenden Meta-Narrativen zusammenfassen: das ›Dritte Reich‹ als große Leidensgeschichte für alle, die DDR als krisengeschütteltes »Phänomen« (Kurt Georg Kiesinger) mit den Deutschen beiderseits der Grenze/Mauer als Opfer und die Bundesrepublik als solidarische Gemeinschaft und wundersame Erlösung vom Leid.

Aneignung und Umkodierung historischer Zeichenkomplexe Im letzten Abschnitt soll der Umgang mit den Zeichen der Vergangenheit an konkreten Filmbeispielen beleuchtet werden. Im Fokus steht dabei, wie die Umkodierung und Aneignung historischer Zeichenkomplexe unter spezifisch deutschen erinnerungskulturellen Wahrnehmungsmustern erfolgt. Bei der Verwendung von historischem Bildmaterial, das als solches erkennbar in den Dokudramen verwendet wird, fällt auf, dass die Archivbilder generell nicht auf ihren Dokumentwert hin befragt werden. Das gilt sowohl für Produktionen im Stil von teamWorx, in denen zeithistorisches Bildmaterial binnendiegetisch etwa als Filmprojektion im Film für Zeitkolorit sorgt. Aber auch die Filme von Knopp/Blumenberg und Breloer reflektieren nur in Ausnahmefällen die Herkunft, Aussagekraft und ästhetische Präformierung der extensiv verwendeten Archivbilder.8 Charakteristisch für die deutschen Dokudramen sind Prozesse der Bildmigration, die als Spiel von Zitaten und Gegenzitaten auf frühere Darstellungen verweisen, ohne dass deren Herkunft erkennbar wird. Dieses »Echo-Kino« (Lindeperg 2003: 68) bedient sich historischer Schlüsselbilder, die adaptiert und umkodiert werden.

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Das hat eine lange Tradition in dokumentarischen Filmen, siehe dazu Lersch (2008: 134). 155

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Die im Auftrag des WDR und SWR hergestellte teamWorxProduktion Zwei Tage Hoffnung9 von Peter Keglevic schildert die Ereignisse des 17. Juni 1953 mit Sebastian Koch in der Hauptrolle als RIASReporter. Am Filmende wird sein in der Ostberliner Verwaltung arbeitender Informant verhaftet. Beim Anlegen der Handschellen wird eine eintätowierte Nummer auf dem Arm des Verhafteten erkennbar, filmisch betont durch eine Großaufnahme, womit der SED-Funktionär deutlich als ehemaliger KZ-Häftling zu erkennen ist (Abb. 1-3). Abbildung 1-3: Zwei Tage Hoffnung

Quelle: Videostills Zwei Tage Hoffnung 9

3,34 Mio. Zuschauer/11,3 % Marktanteil (vgl. Braun 2003: 20-21). 156

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Mit der tätowierten Nummer auf dem Unterarm rekurriert Zwei Tage Hoffnung auf ein »Superzeichen« (Köppen 1997: 146) der Erinnerung an die Judenvernichtung. Es kommt in dieser Szene zu einer »Ablösung ästhetischer und narrativer Formen aus dem Kontext des Holocaust-Films, die auf […] das Schicksal der deutschen Bevölkerung übertragen werden« (Ebbrecht 2006: 42). So wird die Konstruktion der Deutschen als Opfer des Nationalsozialismus, wie sie sich durch die Dokudramen zum ›Dritten Reich‹ zieht, auf die DDR-Bevölkerung übertragen. Gleichzeitig nutzt Zwei Tage Hoffnung die Umkodierung des Zeichens, um den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR zu delegitimieren und gegen das System zu wenden: Die Stasi hat die Rolle der Gestapo übernommen, implizit schwingt die Botschaft ›DDR = KZ‹ mit. In diesem Kontext ist auch Viktor als Deckname des Informanten kein Zufall: im Geiste von Casablanca (1942) arbeiten die Antifaschisten für West-Berlin. Zum Modell für Strategien der Zeichenaneignung aus dem etablierten Bildergedächtnis einer transnationalen Holocaust-Ikonografie hat sich Steven Spielbergs Schindler’s List (1993) entwickelt. Spielbergs Film ist auch beispielhaft für die szenische Festschreibung von Erinnerungsbildern, indem er z.B. die Schilderung eines Zeitzeugen in Claude Lanzmanns Dokumentarfilm Shoah über die Todesgeste mit dem Daumen am Hals in die Spielhandlung von Schindler’s List integriert. Auf diesem Prinzip »sekundärer Erinnerungsbilder« fußen weite Passagen der Dokudramen von Knopp/Blumenberg. Die filmische Inszenierung von Erinnerung als faktische Realität führt zu z.T. polemisch und emotional geführten Auseinandersetzungen mit Fachhistorikern.10 Interessant ist, dass wenn »sekundäre Erinnerungsbilder« als tragendes Prinzip der Narration verwendet werden wie in Der Untergang, der weitgehend auf den Erinnerungen von Hitlers Sekretärin Traudel Junge und den Gesprächen Joachim Fests mit Albert Speer basiert, dagegen kaum Einspruch erhoben wird. Entsprechend hat Michael Wildt (2005: 2) den Untergang als »Historikerfalle« apostrophiert. In der Eichinger-Produktion spielt auch noch eine weitere Form der Aneignung von Bildern der Vergangenheit eine tragende Rolle: Es handelt sich um die detaillierte Nachstellung von Schlüsselbildern, wie beispielsweise die Aufnahmen der Ritterkreuz-Auszeichnung des Hitlerjun-

10 Siehe z.B. die Kritik an Hans-C. Blumenbergs Der Aufstand (2003) von Schanett Riller (2003). Auf Blumenbergs Reaktion antwortete Riller: »Dass ein Dokumentarfilmer sich in unklaren Situationen überhaupt auf eine Fassung festlegen müsse, ist eine Fehlannahme, die das Kernproblem des Doku-Dramas ist« (Blumenberg/Riller 2003: 29). 157

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gen.11 Diese explizit nachinszenierten Zitate werden als ›sekundäre Anschauungsbilder‹ in die Spielhandlung eingebunden. Der Vorteil bei diesem Vorgehen besteht in der Möglichkeit, verschiedene Zeichenkomplexe zu kombinieren und zu verdichten. Diese Verdichtungs- und Verschränkungsprozesse stehen in einem engen Zusammenhang mit dem entworfenen Geschichtsbild, wie die erste teamWorx-Produktion Der Tunnel zeigt.12 In dem Film spielen Heino Ferch und Sebastian Koch die Hauptrolle beim Bau eines Tunnels, um Verwandte aus Ostberlin in den Westen zu holen. Abbildung 4: Tunnel teamWorx

Quelle: Videostill Der Tunnel Abbildung 5: Der Sprung Original

Quelle: Videostill TV-Dokumentation Der Tunnel: Die wahre Geschichte

11 Diese Szene findet sich bereits in Der letzte Akt (1955), der die letzten Tage im Führerbunker zeigt. Im Unterschied zum Pabst-Film, in dem sich die Szene im Bunker abspielt, inszeniert Hirschbiegel die historischen Aufnahmen im Freien detailgetreu nach (vgl. Ruf 2004). 12 7,19 Mio Zuschauer (19,9% Marktanteil) und 6,61 Mio. Zuschauer (19,5% MA) (vgl. Riepe 2001: 31-33). 158

GESCHICHTE IM FILM

Der Titelvorspann ist in Archivmaterial eingebettet (Abb. 4), bevor die eigentliche Spielhandlung einsetzt, die bekannte zeithistorische Bilder als Reenactment nachstellt: Die Wochenschau-Aufnahmen vom fliehenden NVA-Soldaten Conrad Schuman, der in der Bernauer Straße beim Sprung über den Stacheldraht sein Gewehr wegwirft (Abb. 5), inszeniert Der Tunnel detailgetreu nach (Abb. 6-8). Abbildung 6-8: Sprung teamWorx

Quelle: Videostills Der Tunnel Der einzige Unterschied zum historischen Ereignis besteht darin, dass sich die Szene in Der Tunnel vor dem Brandenburger Tor ereignet. Die Kombination und Verdichtung von ›Superzeichen‹ der Teilungsgeschichte dient aber nicht nur der Wiedererkennung und Steigerung von Schau159

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werten, sie affiziert auch die Erinnerungsfunktion: Das Verschmelzen vom Bild des flüchtenden NVA-Soldaten als westdeutsche Ikone des Mauerbaus mit dem Brandenburger Tor als Wahrzeichen der deutschen Geschichte schlechthin, stellt den gesamtdeutschen Erinnerungsort ›Brandenburger Tor‹ (vgl. Seibt 2001) unter die Vorzeichen westdeutscher Erinnerungskultur. Die Sicht auf die Geschichte im Dokudrama erfolgt nicht nur personell, sondern auch symbolpolitisch vom Westen aus. Der Tunnel verzichtet mit Ausnahme des Vorspanns auf den außerdiegetischen Einsatz von Dokumentarmaterial. Stattdessen schafft er solches selbst, wie die Inszenierung des Fernsehteams zeigt. Der historische Tunnelbau war von einem Filmteam des amerikanischen Fernsehsenders NBC begleitet worden (Abb. 9, 10),13 das in die Spielhandlung von Der Tunnel integriert ist. Mehrfach sind mit der Handkamera gedrehte, grobkörnige Schwarzweißbilder von den Grabungsarbeiten eingeschnitten, nur dass nicht dokumentarische Aufnahmen aus den 1960er Jahren zu sehen sind, sondern in Großaufnahme gut erkennbar die Gesichter der Schauspieler des Jahres 2001 (Abb. 11, 12). Damit schafft der Film den Spagat, den fiktionsstörenden Blick in die Kamera binnendiegetisch einzubinden und gleichzeitig im Verweis auf das historische Material den fiktionalen Charakter der Bilder auszustellen. Abbildung 9: Tunnel 1960er Jahre

Quelle: Videostills TV-Dokumentation Der Tunnel: Die wahre Geschichte

13 Ausschnitte aus der 90-minütigen NBC-Reportage The Tunnel (1962) liefen in gekürzter Fassung von Matthias Walden neu kommentiert auch im westdeutschen Fernsehen (ARD, 1962) (vgl. Steinle 2003: 186). Zu Hintergründen siehe die Dokumentation Der Tunnel: Die wahre Geschichte (1999), Kauf-DVD: Alive 2003. 160

GESCHICHTE IM FILM

Abbildung 10: Tunnel 1960er Jahre

Quelle: Videostills TV-Dokumentation Der Tunnel: Die wahre Geschichte Abbildung 11-12: Tunnel teamWorx

Quelle: Videostills Der Tunnel So wird nicht nur die Historizität der Vorlagen deutlich; die offen ausgestellte Aneignung in Form sekundärer Anschauungsbilder führt auch die Medialität der Geschichte vor Augen und verweist auf die Prägekraft der Medien in der Wahrnehmung des Historischen. 161

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Ein spielerisches und in Ansätzen medienreflexives Vorgehen wie in Der Tunnel ist die Ausnahme – nicht nur in diesem Film, sondern im Dokudrama des historischen Ereignisfernsehens in Deutschland generell. Dieses meint es ernst mit seinem »konkretistischen Illusionsnaturalismus« (Koch 2003: 226) und bedient in seiner Vereindeutigung von Form und Inhalt Griffiths bequeme Vision, nie mehr Geschichte lesen und sich mühevoll durch Bücherberge sowie widersprüchliche Ideen quälen zu müssen, sondern stattdessen selbstevident vor Augen geführt zu bekommen, was passierte. Dabei zeigt der Blick in die Geschichte – mit Beispielen wie Peter Watkins Culloden (BBC, 1964) oder Franz Peter Wirths Operation Walküre (ARD, 1971) – ebenso wie ein Blick gegenwärtig über die deutschen Grenzen hinaus,14 dass weder die ästhetischen noch die diskursiven Selbstbeschränkungen des populären Genres zwingend sind. Vielmehr sind sie dem historischen Ort geschuldet in einem unheilvollen Zusammenspiel aus erinnerungskulturellen Bedürfnissen, ökonomisch bewährten Rezepten, geschichtspolitischen Interessen, technischen Möglichkeiten und genrespezifischen Aspekten.

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ZUR ENTWICKLUNG DOKUMENTARISCHER FORMEN DER GESCHICHTSVERMITTLUNG IM ÖFFENTLICHRECHTLICHEN FERNSEHEN DER BUNDESREPUBLIK EDGAR LERSCH

Theoretische und methodische Voraussetzungen In der Reihung der geschichtskulturellen Vermittlungsprozesse, die in diesem Band beschrieben, analysiert und in Bezug auf ihre Inhalte, Gestaltungsformen und Wirkungsweisen bewertet werden, darf der – vermutlich – massenwirksamste unter ihnen nicht fehlen.1 Dabei besteht durchaus keine Einigkeit über die Kriterien, nach denen das Geschichtsfernsehen einzuordnen und einzuschätzen ist. Diskutiert und gestritten wird – in Deutschland – über die spezifischen Leistungen wie Defizite der Geschichtssendungen, der dokumentarischen Beiträge zumal, und dies, seitdem sie im expliziten Sinne als eigenständige Programmgattung existieren, d.h. seit etwa 1960. Im weiteren Verlauf wurde die diesbezügliche Debatte diskontinuierlich geführt, sie war abhängig von mehr oder weniger spektakulären Programmereignissen und eher zufällig zustande gekommenen Zusammenkünften von Historikern und Fernsehleuten. Sie nahm sowohl an Umfang und auch an Schärfe zu, seitdem sich ab der Mitte der 1990er Jahre das Angebot vermehrte und sich vor allem das Zweite Deutsche Fernsehen auf die Person des Führers und das Führungspersonal des Dritten Reiches in bisher nicht gekanntem Ausmaß konzentrierte. Hinzu kam, dass die Zuspitzung einiger fernseh- bzw. gestaltungsästhetischer Hilfsmittel vielfältige, vor allem publizistische Kritik provozierte. Die gelegentlich sehr emotional geführte Debatte fand vorwiegend auf den Medienseiten und im Zeitungsfeuilleton der Qualitätsblätter statt. Soweit sich die Fernsehmacher an ihr beteiligten und in ihr engagiert sind, verweisen sie auf die massenmedialen Voraussetzungen, Umstände 1

Es handelt sich hier um die durchgesehene und im ersten Abschnitt veränderte Fassung des Beitrags von Lersch (2008). 167

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und Zwänge, etwa auf die Erwartungen und das situative Nutzungsverhalten, die Reaktionen des Publikums. Im Kontext einer an Schärfe zunehmenden Konkurrenz um Marktanteile und immer subtilerer Strategien, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu gewinnen, werden von ihnen – häufig allzu wohlfeil formulierte – Forderungen nach mehr Differenzierung zurückgewiesen. Auch ohne detaillierte, empirisch abgesicherte inhaltsanalytische Studien (vgl. Crivellari 2008: 165-168) kann mit einiger Plausibilität die These vertreten werden, dass im Printjournalismus die Haltung gegenüber der televisionären Geschichtsvermittlung überwiegend kritisch bis ablehnend ist – verständlich angesichts der größeren Differenzierungsmöglichkeiten, die selbst noch in populären Abhandlungen im Medium der Schrift bzw. des schriftlichen Textes gegeben sind. Die Anmerkungen, die zwar vorwiegend feuilletonistisch formuliert und als programmkritische Einwürfe zu Einzelsendungen in Bezug auf die Gesamtproblematik eher pointillistisch zu kennzeichnen sind, orientieren sich explizit und oft auch implizit an den Kriterien, wie sie für Geschichtsvermittlung im Medium der schriftlichen Darstellung gelten, etwa für (qualitäts-) journalistische, aber erst recht für wissenschaftliche Darstellungen. Es liegt nahe, dass der Horizont von Geschichtswissenschaftlern bei der Behandlung des Themas auf den eigenen Erfahrungshintergrund der fast ausschließlich im geschriebenen Text vermittelten Geschichtsdarstellung beschränkt ist. Beklagt werden somit der Mangel an Differenzierung und fehlende Kontextualisierung von Aussagen und vor allem der präsentierten Zeugnisse. Die Fähigkeit, sich produktiv mit den fernsehspezifischen Anforderungen auseinander zu setzen, ist dagegen wenig entwickelt. Vertreter der Geschichtswissenschaft haben sich bisher kaum systematisch und kontinuierlich mit der medialen Geschichtsvermittlung als einem wesentlichen Bestandteil der Geschichtskultur beschäftigt (vgl. ebd.: 161-65).2 Einzelne Stellungnahmen von Historikern zu wichtigen Teilaspekten der historiographischen Grundprobleme, die auch für das Fernsehen bzw. die Geschichtsvermittlung im Schrift-Bild-Medium gelten, enthielt zwar schon der Sammelband, den Guido Knopp und Siegfried Quandt 1988 herausgaben. Hierauf musste bis vor kurzem jeder zurückgreifen, der sich kompakt über das Thema ›Geschichte im Fernsehen‹ informieren wollte. Allerdings stehen in diesem Band die Überlegungen bzw. Annäherungen von Historikern an das Vermittlungsproblem und die Berichte aus der Praxis nicht nur weitgehend unverbunden nebeneinander. Zum Zeitpunkt des Erscheinens war es – verständlicherwei2

Diesen breiteren Ansatz gewählt zu haben, ist ein wesentliches Verdienst der Freiburger Forschergruppe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart. 168

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se – den Herausgebern nicht möglich, die Autoren auf ein einheitliches Problembewusstsein, geschweige denn auf eine aneinander angenäherte Begrifflichkeit zu verpflichten. Eine solche hätte sich an den für alle Geschichtsvermittler gültigen Basisproblemen der Konstruktion von Vergangenheit – in welchem Medium auch immer – zu orientieren. Denn nur so ist es möglich, weniger disparat, vielmehr kreativ und interdisziplinär die Probleme der Popularisierung von Geschichte im Sprach-BildMedium ›durchzubuchstabieren‹ und nicht aneinander vorbei zu reden.3 Im letzten Jahrzehnt, und insbesondere in den letzten fünf Jahren, haben sich nicht nur einige Fachhistoriker mit einem die Fachgrenzen überwölbenden Begriffsinstrumentarium der Wirklichkeit der audiovisuellen Geschichtsvermittlung anzunähern versucht (vgl. Bösch 1999; Borries 2001; Brockmann 2006: 74-93). Medienwissenschaftliche Studien verbesserten mit inhaltanalytischem Instrumentarium das Wissen um das Angebot.4 Schließlich haben einige Historiker darüber hinaus die oft verkannten und zumindest nicht explizit formulierten medialen Aspekte des ›Rohstoffs‹ ihrer Wissenschaft herausgearbeitet. Quellen sind ein Ergebnis (medien-)kommunikativer Prozesse ebenso wie fachwissenschaftliche Ergebnisse medial vermittelt sind.5 Somit wird im Licht der Einsichten in das historiographische Problem der ›Darstellung‹ die These aufgestellt, dass sowohl die Präsentation der Ergebnisse der Geschichtswissenschaft als auch deren popularisierende Vermittlung – unter anderem im Fernsehen – auf eine (gemeinsame) Metaebene bezogen werden müssen. Einerseits sollte daher in einem ersten Zugriff jede historiographische Vermittlungsform nach eigenem Recht betrachtet, und die verschiedenen Gattungen und Medien nicht von vornherein gegeneinander ausgespielt werden. Erst nach einer sorgfältigen Prüfung der jeweils spezifischen Voraussetzungen und Zwänge kann dann mit einiger Zurückhaltung verglichen, über Defizite und über ihre mögliche Minimierung oder gar Überwindung diskutiert werden. Die Konfrontation mit diesen historiographischen Grundproblemen regte den Verfasser zu einer Untersuchung der Geschichtsvermittlung im Fernsehen in historischer Perspektivierung an. Auch in Bezug auf das Fernsehen ist ein Rückblick auf die Herkunft und Weiterentwicklung der spezifischen historiographischen Methodik ebenso hilfreich wie die Be-

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Gleichwohl war der Band von Knopp und Quandt (1988) zum Zeitpunkt seines Erscheinens verdienstvoll. Siehe etwa zu den dokumentarischen Sendungen für die Zeit 1995 bis 2003 Lersch/Viehoff (2007). Dies wird mit großem Nachdruck in der Einleitung von Crivellari et al. (2004: 9-45) vertreten. 169

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schäftigung mit der Geschichte der wissenschaftlichen Historiographie.6 Letztere hat dazu beigetragen, jahrzehntelang als selbstverständlich gegebene Standards geschichtswissenschaftlichen Argumentierens und Darstellens in ihrer ganzen Zeitbedingtheit zu erkennen. Pluralisierung der Methoden, Relativierung allzu optimistischer Absolutheitsansprüche an den Wahrheitsgehalt der Erkenntnisse sind wichtig für den beiderseitigen Dialog. Analog zur wissenschaftlichen Darstellung von Geschichte kann man zeigen, dass auch die Präsentations- bzw. Darstellungsroutinen der Fernsehhistoriographie an ihrem Beginn nicht einfach vom Himmel gefallen sind. Letztere haben eine Vorgeschichte in den Traditionen des Dokumentar- und des Kulturfilms, die sie prägten und die vielfach unbesehen übernommen wurden. Diese Traditionen zu erkennen heißt einerseits, den Mainstream zu verorten, aber gleichfalls Abweichungen und Traditionsbrüche erkennen zu können. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, einen Zusammenhang zwischen Veränderungen in der Darstellungsform und ihren medialen und außermedialen Ursachen herzustellen. Unter diesem Aspekt ist gerade eine historische Dekonstruktion der überkommenen Formen der Geschichtsdokumentation sinnvoll, ja notwendig. Mit welchem Recht wird – wie das immer noch häufig geschieht – das klassische Schema des aus historischen Filmaufnahmen und einem meist aus dem Off verlesenen Kommentar kompilierten Films kanonisiert und als einzig legitime Form der dokumentarischen televisionären Geschichtsvermittlung angesehen? Es wird zu zeigen sein, dass diese Gattungskonvention einerseits ein großes Beharrungsvermögen besitzt, dass aber andererseits insbesondere fiktionalisierende Grenzüberschreitungen und damit Mischformen von Anfang an die verantwortlichen Redakteure beschäftigten und auch realisiert wurden. Sowohl das Beharrungsvermögen als auch der gegenwärtige Erfindungsreichtum ändern jedoch nichts an der Aufgabe, das klassische Verfahren ebenso wie die seither in immer höherem Maße dazu gekommenen Erweiterungen und Veränderungen auf ihre historiographische Legitimität zu befragen. Schlussendlich steht der vorliegende Beitrag in der Tradition (rundfunk-)programmgeschichtlicher Forschung. Sie sah und sieht einen Weg, mit Hilfe gattungsgeschichtlicher Überblicke, jenseits der schier unübersehbaren Menge von Einzelbeiträgen, einzelne Genres über einen größeren Zeitraum hinweg zu beschreiben. Zweifellos ist es bei dieser Vorgehensweise nur sehr bedingt möglich, thematische Schwerpunkte und vor

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Anregend und weiterführend etwa die Beiträge von Hardtwig (1998a und 1989b), vgl. Lersch/Viehoff (2007: 59-61). 170

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allem spezifische Argumentationsmuster zu erfassen. Ausführungen dazu müssen in diesem Beitrag daher unterbleiben.

Zur Geschichte der zeitgeschichtlichen Fernsehdokumentation7 Vorstufen ›zeitgeschichtlicher‹ Dokumentationen bis 1945 Der dokumentarische Geschichtsfilm stand lange Jahrzehnte im Schatten des fiktionalen Kinofilms mit historischen Sujets, doch seine Anfänge gehen auf die Jahre unmittelbar nach der Erfindung der Kinematographie zurück. Dass der (nichtfiktionale) Film von gestern quasi ein historisches Dokument sei, somit ein stetig anwachsender Fundus an ›Actualités‹ einmal als historische Quelle ersten Ranges verwendet werden könne, forderte ein aufmerksamer Beobachter der Szenerie bereits um 1898. Als Konsequenz daraus regte er an, Filmarchive einzurichten (vgl. Leyda 1964: 14f.). Schon älteste ›historische‹ Dokumentarstreifen wie etwa ein Kurzfilm von 1899 zur Affäre Dreyfuss, lassen den bis heute beobachtbaren problematischen Einsatz dokumentarischer historischer Bilder erkennen: Eine Militärparade, ein großes Gebäude in Paris, Aufnahmen von einem Hafen mit abfahrenden Schiffen und Aufnahmen aus dem Nildelta mit Sümpfen und Palmen stehen erstens für den zu Unrecht beschuldigten Offizier der französischen Armee in Amt und Würden vor seiner Verurteilung, zweitens für seinen Prozess, drittens für seine Verbringung per Schiff auf die Teufelsinsel und viertens seinen Aufenthalt dort (vgl. ebd.: 13f.). Manfred Hattendorf hat gezeigt, welche Relevanz der sogenannte ›Erklärdokumentarismus‹ lange Zeit für den Dokumentarfilm hatte und immer noch hat: Die Wahrheit über das angesprochene Ereignis wird seit Einführung des Tonfilms im Wesentlichen über die Sprache, das gesprochene Wort, vermittelt. Für die unmittelbar nicht vorführbare Wirklichkeit haben in diesem Konzept dann Bilder illustrative Funktion, um den Authentifizierungsprozess im Kopf des Rezipienten zu unterstützen (vgl. Hattendorf 1994: 312). Der Kraft eines persuasiv angelegten Kommentars (in Zwischentiteln auch schon vor der Ära des Tonfilms) in Verbindung mit ›eindrucksvollen‹ Bildern bedienten sich bereits die Kriegsparteien des Ersten Weltkriegs und deren publizistische Helfershelfer: Sie entdeckten den dokumentarischen Film als Propagandainstrument. In Deutschland wie an-

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Der Überblick orientiert sich an Wagner (2000) und verdankt manche Information den Beiträgen von Matthias Steinle (2005 und 2007). 171

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derswo griff man zur Illustration des Kriegsgeschehens jedoch kaum auf ›authentische‹ Filmaufnahmen des Kriegsgeschehens zurück, sondern sehr häufig auf Filmaufnahmen von Manövern aus den Jahren vor 1914. Filmausschnitte dieser Art beherrschten auch noch die historischen Rückblicke auf den Weltkrieg in den 1920er Jahren. Diese wie auch nachgestellte Kampfhandlungen (u.a. aus fiktionalen Kinofilmen) und ein insgesamt relativ schmaler Fundus historischer Aufnahmen von den Kriegsschauplätzen bebilderten die Rückerinnerung an den Ersten Weltkrieg. Sie tun dies teilweise bis in die Gegenwart (vgl. Jung 2005: 487489). Auf dem Weg zum zeitgeschichtlichen Dokumentarfilm, der später dann als zeitgeschichtlicher ›Kompilationsfilm‹ bezeichnet wurde (weil aus Filmsequenzen verschiedener Provenienz und dem gesprochenen Kommentar zusammengefügt), war die Kinopropaganda im Zweiten Weltkrieg eine weitere wichtige Etappe, jetzt aber als Tonfilm mit gesprochenem Kommentar. So wurde in Großbritannien historisches wie aktuelles Wochenschaumaterial zu Filmbeiträgen darüber zusammengestellt, wie es zum Krieg mit Deutschland gekommen war. Wenn die Macher an ›historischen‹ Aufnahmen nahmen, was sie bekommen konnten, dann hatte dies, so Steinle, sowohl mit schmalen Budgets als auch mit den besonders schwierigen Produktionsbedingungen im Krieg zu tun. Insofern war nicht viel mehr möglich, als die ›Botschaft‹ mit eher beliebigen historischen Aufnahmen, meist aus der Wochenschau, zu illustrieren (vgl. Steinle 2005: 296). Es offenbart sich also sehr früh im dokumentarischen Geschichtsfilm ein Paradoxon. Nicht der Inhalt der anscheinend so wirklichkeitsgetreuen – authentischen – Abbildung der Wirklichkeit ist von Belang,8 sondern der Umstand, dass es sich um eine fotografische Wiedergabe handelt, die dem Zeitpunkt des Ereignisses zeitlich nahe steht. Das konkret Abgebildete selbst erlangt bei der audiovisuellen Vermittlung komplexer Zusammenhänge aus der Vergangenheit kaum einmal Beleg- oder Beweischarakter, sondern dieser wird weitestgehend sprachlich vermittelt. Unter diesen Umständen ist es auch nachvollziehbar, dass es selten erforderlich ist bzw. davon Gebrauch gemacht wird, dem Zuschauer auch nur in rudimentärer Form etwas über den konkreteren Entstehungszusammenhang, die Referenz zur Wirklichkeit der vorgeführten Bilder oder Filmausschnitte mitzuteilen. Sie dienen weitgehend, unabhängig vom konkreten Ereignis, Ort und Gegenstand, der assoziativen Illustration der Aussageintentionen. Diese stehen häufig zum Ausgangskontext der einge-

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Zum besonderen Rang des Fotos als Mittel der Authentifizierung in historischer Perspektive siehe Wortmann (2003). 172

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schnitten Foto- und Filmaufnahmen in keinem Zusammenhang, was zu erheblichen Bedeutungsverschiebungen, ja bis zum Gegenteil der ursprünglichen Aussageintention führen kann. In der Tradition des dokumentarischen Erklärfilms – einschließlich seiner Anfälligkeit für eine mehr oder weniger propagandistische Instrumentalisierung – stehen auch die ersten Geschichtsdokumentationen, die sich mit der nationalsozialistischen Ära nach dem Zweiten Weltkrieg befassen. Im Kinofilm wurden zuerst in audiovisueller Form die Fragen nach dem Woher, dem Warum und dem Geschehen im Krieg und in Nazideutschland bearbeitet. Es entstanden noch vor Beginn des eigentlichen dokumentarischen Geschichtsfernsehens in beiden deutschen Staaten der 1950er Jahre zwei Klassiker des historischen Dokumentarfilms als Kompilation von historischen Fotografien, Filmausschnitten und gesprochenem Kommentar: Dem in der DDR von Andrew und Anneli Thorndike hergestellte Dokumentarfilm Du und mancher Kamerad (1954-56) folgte wenige Jahre später für die westliche Seite Mein Kampf von Erwin Leiser (1960) . Die beiden Thorndikes und Leiser hoben im Vorspann ihrer jeweiligen Filme ausdrücklich hervor, dass jede ›Aussage‹ authentisch sei und ein Beleg für die im kommentierenden Text formulierten Feststellungen zur deutschen Geschichte bzw. zum Nationalsozialismus. Beweisfunktion mochten manche Aufnahmen für die Zuschauer – die jüngeren zumal – insofern haben, als etliche Sequenzen etwa in Leisers Film die Faktizität des Holocaust und die besonderen Begleitumstände der Judenvernichtung belegten. Erstmals sahen sie die einem breiteren Publikum nach 1945 nur kurzzeitig zugänglichen Bilder von der Judenvernichtung, die für über ein Jahrzehnt fast völlig aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden waren.9 Doch das waren Ausnahmen in Leisers Film ebenso wie bei den Thorndikes: Genauere visuelle Belege oder gar ›Beweise‹ für das, was geschehen war bzw. auch für dessen Ursachen, konnten kaum präsentiert werden. Vielmehr wurde in beiden Filmen über weite Strecken zum gesprochenen Wort das historische Wochenschaumaterial in assoziativ-illustrativer Weise montiert. Es steht meist nur in mehr oder weniger lockerer Verbindung mit dem jeweils Erzählten und wird kaum als audiovisuelle Quelle benutzt. Neben dem Verfehlen des erwähnten eigenen Anspruchs wird dieser in beiden Filmen auch noch auf jeweils spezifische Weise desavouiert. 9

Vgl. dazu Knoch (2001). Zum Funktionswandel der »Ikonen der Vernichtung« (Brink 1998) nicht zuletzt durch die mediale Vernutzung und damit zu deren Erstarrung zu »Monumenten« und Symbolbildern, die praktisch in jeder Dokumentation mit Bezug zum Holocaust auftauchen; vgl. Weidenman (2004). 173

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Bei den Thorndikes stellt sich ein Beleg für die Verquickung des Nationalsozialismus mit dem Großkapital als plumper Fake heraus – eigentlich für jeden aufmerksamen Zuschauer erkennbar.10 Vor allem Leiser missachtete – wie inzwischen oft und auch für andere Dokumentationen auf Basis von NS-Wochenschauen und NS-Propagandafilmen festgestellt – den Umstand, dass die propagandistischen Absichten der Ausgangsmaterialien (etwa Sequenzen aus dem Parteitagsfilm Triumph des Willens von Leni Riefenstahl, 1935) durchaus noch in der Lage waren, die einst intendierten ›Wirkungen‹ zu erzielen (Zimmermann 2000). Das Dritte Reich und zeitgeschichtliche Dokumentationen im bundesdeutschen Fernsehen Fast zeitgleich11 mit den erwähnten Dokumentationen über die Zeit des Nationalsozialismus im Kino und parallel zu den Experimenten mit Dokumentationen der vorfilmischen Epoche wurde als erste große zeitgeschichtliche Fernsehdokumentation die 14-teilige Reihe Das Dritte Reich 1960/61 produziert und ausgestrahlt (Produktion: SDR und WDR). Mit den einzelnen Folgen wurden – vermutlich erstmals im Fernsehen der Bundesrepublik12 – aus fotografierten schriftlichen Einzeldokumenten, Fotografien und Filmausschnitten montierte, zeitgeschichtliche Kompilationsfilme dem Publikum vorgestellt.13 Das Bildmaterial illustriert in der beschriebenen Manier über weite Strecken auch hier den von einem nicht sichtbaren Sprecher vorgetragenen Kommentar, der den geschichtlichen Zusammenhang verdeutlichen soll. Erst 15 Jahre nach dem Ende der NS-

10 Es geht um die Szene, in der die unschwer als Reenactment erkennbare Rede Hitlers vor Industriellen 1932 im Haus des Bankiers von Schroeder nachgespielt wird. Bei dieser Montage hatte SED-Chefpropagandist KarlEduard von Schnitzler seine Hand im Spiel, wie Prase/Kretzschmar (2003: 40-42) herausgearbeitet haben. Zu Anneli und Andrew Thorndike und ihrem wichtigsten Werk vgl. auch Heimann (1997). 11 Es ist davon auszugehen, dass die Redakteure und Autoren die beiden oben erwähnten Filme kannten, insbesondere den Film von Leiser. 12 Eine Übersicht über zeitgeschichtliche Sendungen des Ersten Programms liegt dem Verfasser vor, doch geben einschlägige Sendetitel bzw. Kurzangaben in den Programmzeitschriften – etwa der Hörzu - keinen Aufschluss darüber, ob es sich bei diesen Beiträgen mit zeitgeschichtlichen Themen um Kompilationsfilme handelt. Somit kann über die nicht vollständig erhaltenen Produktionen nicht gesagt werden, wie sie im Einzelnen gestaltet gewesen sind. 13 Die bis dahin erschienene Literatur zu dieser Reihe fasst Fritsche (2003: 200-202) zusammen. 174

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Herrschaft dienen zusätzlich fotografierte Schriftstücke, in denen z.B. einschlägige Passagen bzw. Formulierungen durch Leuchtschrift hervorgehoben werden und so lange sichtbar bleiben, dass man sie in Gänze lesen kann, als Beleg für die Wirklichkeit im Dritten Reich und für die ungeheuerlichen Verbrechen der nationalsozialistischen Machthaber und ihrer Anhänger. Einige historische Filmausschnitte haben Belegfunktion und tauchen – wie in Mein Kampf – als Bildzeugnisse der Vernichtung wieder auf. Die Reihe insgesamt ist von dem Impetus getragen, im Fernsehen Belege für die Wirklichkeit der Verbrechen im NS-System zusammenzutragen: In der 8. Folge etwa wurden unter dem Titel Der SSStaat (ARD, 1961) Filmausschnitte von Erschießungen bzw. von den später immer wieder gezeigten Sequenzen aus dem Film über das Warschauer Ghetto gezeigt. Alles dies war in der vergangenheitspolitischen Situation dieser Jahre notwendig, um bei denen, die die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft noch selbst miterlebt hatten, also der Mehrheit einer insgesamt noch relativ geringen Zuschauerschaft, dem Verdrängen und Vergessen entgegenzuarbeiten, den Jüngeren aber auch visuelle Eindrücke von der Wirklichkeit des Dritten Reiches zu vermitteln. 1964 trat das Zweite Deutsche Fernsehen – Programmstart war am 1. April 1963 – mit seiner ersten zeitgeschichtlichen, medienästhetisch ähnlich wie Das Dritte Reich gestalteten Reihe über die Weimarer Republik und ihren Untergang an die Öffentlichkeit. In unterschiedlichen Abständen und unterschiedlicher Intensität setzte mit den beiden genannten Serien eine bis in die Gegenwart fortdauernde permanente Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Themen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein. In den 1980er Jahren kamen erste Rückblicke auf die Zeit nach 1945 hinzu. Meist waren die zeitgeschichtlichen Erinnerungsdaten an den Beginn und das Ende der Weltkriege und an den Beginn der nationalsozialistischen Zeit Anlass für umfängliche Dokumentationen oder Sendereihen. Eine historisch-medienwissenschaftliche Gesamtanalyse des dokumentarischen Geschichtsfernsehens steht indes noch aus.14 Das Aufkommen der Zeitzeugen Die große Masse der zeitgeschichtlichen Fernsehdokumentationen der 1960er und 1970er Jahre im Stil eines »Quellenkompendiums«, wie sie 14 Vgl. die Zusammenstellung der Produktionen bis 1967 bei Feil (1974: 5052). Unter anderem wegen fehlender Unterscheidung der Gattungen (ob Fernsehspiel oder Dokumentation) ist die Zusammenstellung heute nur noch als erster Einstieg in das Angebot brauchbar. Zimmermann (1994) fasst die Entwicklung der Geschichtsdokumentation in der Bundesrepublik bis ca.1990 sehr pauschal zusammen. 175

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der Historiker Frank Bösch abweichend von der sonst üblichen Terminologie des Kompilationsfilms bezeichnet,15 setzt den Zeitzeugen nur relativ selten ein. Nur vereinzelt kommen Zeitzeugen in einigen Folgen der Serie Das Dritte Reich zu Wort, ähnliches gilt für die ZDF-Serie über die Weimarer Republik. Sie enthält z.B. einen heute merkwürdig anmutenden Auftritt des ehemaligen Staatssekretärs in der Reichskanzlei Hermann Pünder in der Folge Die verratene Republik (ZDF, 1964). Nach kurzer, frei gesprochener Schilderung der näheren Umstände einer Begegnung mit dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg wenige Wochen nach dem 30. Januar 1933 verliest Pünder die im Anschluss daran von ihm niedergeschriebene Aufzeichnung über das Gespräch. Das Verlesen des zeitgenössischen Aktenvermerks verleiht dem Gesagten Authentizität und Dignität. Vorbehalte gegenüber dem Eintreten von Zeitzeugen lassen sich auch auf den Mangel an Erfahrung mit ihren Aussagen als Quelle der Zeitgeschichte zurückführen. Hinzu kamen gestaltungsästhetische Überlegungen und technische Gründe: Der damalige Stand der Aufnahmetechnik für filmische Produktion erlaubte kaum Aufnahmen von Interviews und flexible Kollagen.16 Die zeitgenössische Darstellungsästhetik förderte zudem eine distanzierte, diskursiv angelegte Machart der frühen Geschichtsdokumentationen, in der das subjektive Zeugnis der Miterlebenden im Ensemble der das Schicksal der Nation verhandelnden Dokumentationen weitgehend verpönt war (vgl. Kansteiner 2003: 627). Allerdings wurden in den 60er Jahren im bundesrepublikanischen Fernsehen durchaus einige historische Beiträge ausgestrahlt, die wesentlich von der Befragung und dem Gespräch mit Augen- bzw. Zeitzeugen – teilweise im Studio mit der Fernsehkamera aufgenommen – bestimmt sind. Bezeichnenderweise repräsentieren die Personen nicht den hochpolitischen Bereich, sondern bewegen sich außerhalb dieser Sphäre. Dazu gehört neben vereinzelt produzierten reinen Interview-Filmen17 zum Beispiel die in der ersten Hälfte der 60er Jahre beim SDR produzierte Reihe Augenzeugen berichten: Die Katastrophe von Lakehurst (SDR/ARD, 1964). In diesen Produktionen spielt einerseits der Belegcharakter durch Zeitzeugenaussagen eine Rolle, klar erkennbar z.B. bei der minutiösen Rekonstruktion der Ursachen für die Zeppelin-Katastrophe von 1937 auf 15 Der Beobachtung ist zuzustimmen: Auf der Bildebene werden mehr oder weniger unkommentiert filmische Quellenzitate aneinandergereiht, so als würden schriftliche Quellenzitate ohne Auswertung bzw. Interpretation und weitere Erläuterung nacheinander präsentiert (Bösch 1999: 206). 16 Vgl. Keilbach (2003a: 305; 2008) und Bösch (2008). 17 Siehe etwa Thomas Mann (SDR/ARD, 1955); Daniel Henry Kahnweiler (SDR/ARD, 1959). 176

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dem Landeplatz in der Nähe von New York mit Hilfe der Aussagen von Beteiligten. Hier wie in anderen Beiträgen erzählen Miterlebende ihre persönlichen Erfahrungen und Empfindungen und stiften damit einen emotionalen Verstehenszugang für die Zuschauer, der zur Identifikation mit den Geschehnissen einlädt. Ohne dass dies bisher genau belegt wäre, spricht vieles dafür, dass sich der Zeitzeugenfilm parallel zu Veränderungen im Dokumentarfilm insgesamt etablierte. Wie in derselben Zeit das filmästhetisch ambitionierte Direct Cinema möglichst unverstellt und nicht inszeniert Menschen beobachten und zu Wort kommen ließ, die sonst in den Medien, in Film und Fernsehen nicht präsent waren, so erhielten auch im zeitgeschichtlichen Dokumentarfilm die bis dahin meist unbekannten und unbenannten Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungen, aber ebenso Angehörige der unteren sozialen Schichten und Angehörige randständiger Gruppen, mit ihren Lebensgeschichten Identität und Stimme.18 Entweder beziehen die ›reinen‹ Zeitzeugenfilme ihren Reiz aus der konzentrierten Beschäftigung mit Einzelpersonen oder aus der hochartifiziellen Montage von Äußerungen vieler Zeitzeugen, wie in den Filmen von Eberhard Fechner über die Comedian Harmonists (SDR/ARD, 1976) und den Maydanek-Prozess (BRD 1975/84). Mit derartigen Darstellungsästhetiken gelang es dem Zeitzeugenfilm, ein facettenreicheres Bild der Vergangenheit zu entfalten als in den bisherigen klassischen Dokumentationen. Sie leisteten damit auch einen Beitrag dazu, dem Zuschauer multiperspektivische Einblicke in die Rekonstruktion der Vergangenheit zu vermitteln. In dieser Zeit begannen Ausschnitte von Zeitzeugeninterviews zum Bestandteil nahezu jeder historischen Dokumentation zu werden. Für den Einsatz der Zeitzeugen spielte einerseits die Belegfunktion eine wichtige Rolle. Andererseits kam durch den vermehrten Einsatz der Miterlebenden auch eine Geschichtsauffassung zum Tragen, die Alltagsphänomene sowie persönliche Erfahrungen der Beteiligten in die Darstellung einbezieht. Von der wissenschaftlichen Geschichtsforschung möglicherweise nicht befragte Sekretärinnen und Chauffeure, die Aussagen nichtadliger und nicht (groß-)bürgerlicher Widerstandskämpfer aus den Gewerkschaften usw. wurden in der Geschichtsdokumentation bereits als Quelle genutzt. Die Geschichtsdokumentationen nahmen also zu einem früheren Zeitpunkt als die Wissenschaft Strategien der Oral History auf, ohne dass derzeit klare Aussagen darüber gemacht werden könnten, wann genau und wie im einzelnen Zeitzeugen zum unentbehrlichen Be-

18 Zur ›Entdeckung des Alltags‹ vgl. Roth (1982: 60), zu den Beiträgen über Faschismus und Drittes Reich vgl. (ebd.: 118-120). 177

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standteil der Dokumentation wurden. In den 1990er Jahren jedenfalls wurde die Authentifizierung des in historischen Fernsehdokumentationen Thematisierten durch die Zeitzeugen immer wichtiger (vgl. Keilbach 2002: 113). Und spätestens seit der Jahrtausendwende dienen sie zunehmend und teilweise überwiegend der affektiven Bindung der Zuschauer an das geschilderte Geschehen (vgl. Keilbach 2003a: 518f.). Das erweiterte Repertoire: Quelle, Schauplatz, Nachdreh Das Aufsuchen von Originalschauplätzen zur Zeit der Produktion einer Geschichtsdokumentation findet sich vereinzelt auch in älteren Produktionen, gehört aber in zeitgeschichtlichen Dokumentationen erst später zum festen Repertoire. Die neu produzierten Bilder vom Ort des Geschehens – in großem Umfang eingesetzt etwa 1982/83 in Europa unterm Hakenkreuz und dort Teil der heiß umstrittenen Gesamtkonzeption – hat im Wesentlichen folgende Funktionen: Sie stehen häufig pragmatisch als Ersatz für nicht vorhandene historische Filmaufnahmen (vgl. Bösch 1999: 216). Nachdrehs bedienen sich zusätzlich der fortbestehenden Aura eindrucksvoller Originalschauplätze wie z.B. des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg. Sie stellen durch die Vorstellung der Erinnerungsorte und ihre historische Vergegenwärtigung im Bild auch kritische Gegenwartsbezüge her. Zweifellos bedienen sie auch den unaufhaltsamen Trend zur stärkeren Emotionalisierung, denn inzwischen werden die Neudrehs so gestaltet, dass »viele Zuschauer glauben, unmittelbar Zeugen eines im Moment ablaufenden außergewöhnlichen Geschehens zu sein« (Wagner 2000: 35; vgl. Fischer 2004: 523f.). Dokumentaristen des SDR waren übrigens unter den ersten, die bereits aus dem gängigen Schema der Geschichtsdokumentation ausbrachen. Bereits 1970 produzierten sie – nach britischen Vorbildern – eine mehrteilige Reihe über den deutsch-französischen Krieg 1870/71. Dessen Verlauf wurde nicht mit einem durch Bildteppiche unterlegten Kommentar, sondern durch eine fiktive Spielhandlung dokumentiert, die den historischen Inhalt über die Presse- und anachronistische Fernsehberichterstattung über den Krieg und die Arbeitsbedingungen der Journalisten vermittelte. Dies entsprach ähnlichen Versuchen, den Ereignisverlauf in fiktiven Spielhandlungen zu präsentieren. Historische Ereignisse wurden z.B. mit Hilfe von Nachinszenierungen tatsächlicher – d.h. auf Basis von Protokollen – oder fiktiver Gerichtsverhandlungen aufbereitet. Ein Jahr vor der Serie zum Krieg 1870 war dies 1969, ebenfalls beim SDR, mit dem Zweiteiler Der Prozeß Liebknecht-Luxemburg (SDR/ARD, 1969)

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versucht worden.19 Die gewählten Formen – die Spielszenen werden immer wieder durch Schilderungen des Autors Dieter Ertel als Experten unterbrochen – substituieren einerseits den empfindlichen Mangel an Bildern, obwohl die Handlung bereits in ›filmischer‹ Zeit datiert. Sie sind aber andererseits darauf angelegt, durch eine – wenn auch verhaltene – Dramatisierung den Zuschauer an das Geschehen zu binden. Diese investigativen und rekonstruierenden Formen der Geschichtsvermittlung setzten sich von den Wirklichkeitsillusionen nährenden Dokumentarspielen etwa des ZDF ab und stellen frühe Formen des Dokudramas dar, das seit den späten 1990er Jahren und dann nach der Jahrhundertwende stärker verbreitet ist. Der Regisseur Wolfgang Vernohr begann Anfang der 70er Jahre ebenfalls damit, das entwickelte Schema der Geschichtsdokumentation aufzubrechen und integrierte in zeitgeschichtliche Dokumentationen sowie vor allem auch in solche mit Thematiken aus ›vorfilmischer‹ Zeit Rezitationen zeitgenössischer Texte und zeitgenössischer Musik, z.B. in der Sendung über den Dreißigjährigen Krieg Oh wie hat gehaust der Tod aus der ZDF-Serie Dokumente deutschen Daseins (ZDF, 1977).20 Nach eigener Aussage wurde er dazu angeregt, weil er »den Leuten das Verständnis erleichtern« und »dem (seriösen) Inhalt eine unterhaltsame Verpackung« geben wollte. Vernohr berichtet, dass Julia Dingwort-Nusseck, die damals beim WDR für ihn zuständige Chefredakteurin, mit Entrüstung von sich gewiesen habe, dass Spielszenen integriert werden sollten. Immerhin wurden sie ihm nicht untersagt (Venohr 1988: 82; 87). Abgesehen von den angesprochenen frühen Beispielen des Dokudramas und jenseits einer gewissen Durchlässigkeit zwischen dokumentarischen und fiktionalen Gattungen bei Sujets aus vorfilmischer Zeit haben sich die zeitgeschichtlichen Dokumentationen bis in die 1990er Jahre weitgehend abstinent gegenüber dem Einfügen szenischer Elemente verhalten. Nur so lässt sich die helle Aufregung und die Heftigkeit der Auseinandersetzung um die zuerst in den Beiträgen der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte eingesetzten szenischen Zitate und Reenactments erklären, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre aufkamen. Der bis dahin geübte Verzicht auf solche Darstellungsmittel ist von den Autoren und Redak19 Bereits 1959 war in einem Dokumentarbeitrag über die Französische Revolution eine fiktive Gerichtsverhandlung über Ludwig XVI unter dem Titel Prozessakte Louis Capet eingesetzt worden (SDR/ARD, 1959). Ich interpretiere dies so, dass schon sehr früh das Ungenügen der rein dokumentarischen Form der Kommentar-Bildcollage empfunden wurde. 20 Eingeschnitten waren auch Streitgespräche über die Deutung des Geschehens zwischen dem Publizisten Sebastian Haffner und dem Erlanger Historiker Hellmut Diwald. 179

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teuren immer damit verteidigt worden, dass das Reenactment die Authentifizierungsstrategien des Genres insgesamt diskreditiere. Als allerdings unglaubwürdigstes Argument wird aufgeführt, dass die Reenactments in Zukunft von sorglos recherchierenden Filmemachern als echte Dokumentaraufnahmen verwendet werden könnten, ähnlich dem schlampigen Umgang mit Spielfilmausschnitten aus den 1920er Jahren. Mit dem Einfügen von Spielszenen und von Zeitzeugenstatements in zeitgeschichtliche Dokumentationen wurde das ästhetische Gestaltungsrepertoire von Geschichtssendungen im Fernsehen im Laufe der letzten Jahrzehnte ergänzt und erweitert. Ansonsten hat sich dieses Repertoire im Prinzip bis in die Gegenwart nicht stark gewandelt. Sowohl in den Beiträgen der von Guido Knopp geleiteten ZDF-Redaktion wie auch in anderen Produktionen dominiert nach wie vor die Montage von Ton und Bild, d.h. die Inszenierung einer Bildebene, die erst durch den gesprochenen Kommentar in historische Zusammenhänge sinnhaft eingeordnet wird. Die dabei durchgängig feststellbare geringe Referentialität der eingesetzten Bilder zum gesprochenen Kommentar ist und bleibt die ungelöste Problematik aller Geschichtsdokumentationen (vgl. Zimmermann 2000: 67; Keilbach 2002: 113). Der Anteil der Zeitzeugen-Berichte und damit ihr Anteil an der Gesamtdauer hat sich in den zeitgeschichtlichen Beiträgen stark erhöht, wobei sie seit einiger Zeit zur affektiven Stimulierung des Zuschauers eingesetzt werden, um die erwähnte »Entwicklung vom Erklärfernsehen zum Erzählfernsehen« zu ermöglichen (Fischer 2004: 518). Im Kontext des geläufigen Umgangs mit den Bildern werden diese in aufwändigen Verfahren bearbeitet, zuweilen eingefärbt, nacheinander aufgerissen usw. Ebenso wird auf die Tonbearbeitung großes Gewicht gelegt, insbesondere auf den Einsatz von Musik; stumme Originalfilmausschnitte werden fast ausschließlich mit Musik oder Geräuschen unterlegt. Erheblich verändert hat sich bei unveränderter Kompilation der beschriebenen Elemente das Tempo der Sendungen: Die Einstellungsdauer der Einzelsequenzen hat sich gegenüber früheren Zeiten deutlich verkürzt.

Der dokumentarische Geschichtsfilm als Kulturfilm Geschichte des Kulturfilms Neben der jüngeren Vergangenheit im zeitgeschichtlichen Dokumentarfilm wurden in Geschichtsdokumentationen des Fernsehens von Anfang an auch die Zeitepochen behandelt, für die keine Fotos und vor allem 180

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keine Filmaufnahmen vorliegen. Diese besondere Variante nonfiktionaler Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat offensichtlich ihre Wurzeln im so genannten Kulturfilm. Unter diesem Begriff wurden schon in den 1920er Jahren Filmbeiträge zusammengefasst, die die ›Dingwelt‹ mit dem laufenden Bild fixieren und sie im weitesten Sinne zu bildenden Zwecken einsetzen sollten.21 Ältere Jahrgänge werden sich noch an die Vorfilme nach der Wochenschau und vor dem Hauptfilm in jeder Kinovorstellung erinnern, eine Praxis, die aus der Weimarer Republik stammt und dem anspruchsvolleren Kulturfilm das Überleben sicherte. Die Vorfilme waren häufig Städte- und Landschaftsporträts, oder historische Gebäude wurden vorgestellt. Hinzu kamen Filme über Kunsthistorisches im weitesten Sinne; über antike Trümmerlandschaften wurde ebenso berichtet wie darüber, wie in archäologischen Ausgrabungen historische Gebäude wiederentdeckt und rekonstruiert wurden. Eingeblendete Kurztexte und ein erst mit Beginn der Tonfilmära ab ca. 1930 gesprochener Kommentar vermittelten jeweils die zum Verständnis wichtigen historischen Informationen. Soweit der Kulturfilm also historische Themen behandelt, geht er in der Regel von konkreten und damit visuell präsentablen historischen Objekten aus, so wie man sie als Tourist oder Besucher vor Ort betrachtet. Der den Bildern hinzugefügte Kommentar erhellt die geschichtlichen Kontexte und erzählt davon, wie z.B. eine Burg- oder Schlossanlage oder eine Stadt im Ensemble einer Landschaft und dem historischen Umfeld entstanden ist, mit Informationen über den Finanzier, den Erbauer, den Architekten und anderes mehr. Wichtig ist jedoch, dass eben nicht der Anspruch besteht, einen geschlossenen thematischen Zusammenhang von Ereignissen (etwa die Reformation oder die Französische Revolution) oder eine komplette Biographie zu präsentieren. In solchen Fällen steht der Autor nämlich vor der Aufgabe, die gesamte Dauer der Erzählung, d.h. des Kommentars, zu bebildern. Bei einem biographischen Künstlerfilm türmen sich die Schwierigkeiten der Bebilderung ebenfalls weniger auf. Insofern liegt es nahe, dass es sich dann, wenn beim Kulturfilm Biographisches im Zentrum stand, häufig um Künstlerporträts und/oder Portraits von Bauherren handelte, deren Leben sich im Wesent21 Einzelproduktionen und institutionelle sowie massenmediale Kontexte des Kulturfilms wurden umfassend in der jüngst erschienenen Geschichte des Dokumentarfilms aus dem Haus des Dokumentarfilms aufgearbeitet (Zimmermann et al. 2005). Vgl. in Bd. II: Goergen (2005: 151-153), Ziegler (2005a: 219-221) und Bd. III, Kap. 3: »Kulturfilm und Wochenschau im Kino« (verschiedene Autoren), S. 103-105 sowie Kap. 5: »Deutschlandbilder zwischen Tradition und ›neuer Zeit‹. Heimat, Volkstum und Kultur« (verschiedene Autoren), S. 309-311. 181

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lichen in ihrem Schaffen, den von ihnen inspirierten und/oder finanzierten Kunst- und Bauwerken manifestierte. Mit Bildern vom Werden der Objekte ließ sich dann wesentlich leichter ein Film herstellen. Nicht von ungefähr ist ein frühes Beispiel der 1938/40 entstandene Langfilm Michelangelo von Curt Oertel.22 Untersucht man die ersten Geschichtssendungen des Bayerischen Rundfunks als Beiträge zum Gemeinschaftsprogramm des Deutschen Fernsehens, so stellt man fest, dass es sich bei diesen bis zum Beginn des Dritten Fernsehprogramms – als so genanntes »Studienprogramm« – Mitte der 1960er Jahre ausschließlich um Filme mit mehr oder weniger stark ausgeprägtem kunsthistorischen Bezug handelt, die noch ganz in der Tradition des Kulturfilms stehen.23 Ähnliches gilt für das Fernsehen des Südwestfunks Baden-Baden, der 1958 einen kulturfilmgleichen Beitrag über die Klosterinsel Reichenau mit dem Titel Augia Dives (ARD, 1958) ausstrahlte. Er verband Elemente des kunstgeschichtlichen mit dem des Reise- bzw. Landschaftsfilms. Ähnliche Beispiele lassen sich auch beim Hessischen und dem Süddeutschen Rundfunk nachweisen. Das unverwüstliche Genre ist als Landschafts- und Reisefilm (etwa: Reiseweg zur Kunst, eine Sendung der dritten Programme von 1972) übrigens bis in die Gegenwart in Gebrauch. Stuttgarter Dokumentaristen Pioniere des dokumentarischen Geschichtsfilms des SDR waren in der Redaktion »Dokumentar« versammelt, die sich an der Schwelle der 1950er zu den 1960er Jahren mit der historischen Dokumentation in dem Sinne beschäftigten, dass sie nun ein fest umrissenes historisches Thema in den Mittelpunkt ihrer Beiträge stellten und offensichtlich die mit Su-

22 Im Geschichtsangebot des frühen bundesdeutschen Fernsehens wurde er 1956 noch einmal als Beitrag des Hessischen Rundfunks gezeigt. Vgl. dazu Ziegler (2005b: 323-325). Der Stuttgarter Pionier des Geschichtsdokumentarfilms Heinz Huber bezieht sich in einem Exposé zum Geschichtsfilm für die Stuttgarter Fernsehwerkstatt ausdrücklich auf Oertel, vgl. Personendossier »Heinz Huber« im Historischen Archiv des SDR, jetzt: SWR Historisches Archiv Stuttgart. 1956 drehte Oertel im Übrigen für den Hessischen Rundfunk einen Film über das wieder aufgebaute Goethehaus in Frankfurt/M. (1956). 23 Paradigmatisch etwa die Produktion: Die Fugger (ARD, 1959). Neben den Filmen über historische Orte zählen dazu kürzere oder längere Beiträge zu (kunst-)historischen Ausstellungen. Autor der Beiträge ist in der Regel Manfred Schwarz (1914-1967), der einige Semester Kunstgeschichte studiert und sich als Antiquitätenhändler betätigt hatte. 182

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jets aus vorfilmischer Zeit gefüllte Dokumentation ›erfanden‹.24 Dies geschah gerade zu dem Zeitpunkt, als das Fernsehen mit seinem journalistischen Anspruch im Kontext des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags, also Information, Bildung und Unterhaltung zu vermitteln, ernst machte. Im Zuge von Ausweitungen des Programmangebots emanzipierte es sich vom bis dahin einflussreichen Vorbild des Kinos in Form und Inhalt und entwickelte nun neue Programmformen für Informations- und Bildungssendungen. Beim SDR experimentierte die erwähnte Dokumentarabteilung auch mit Dokumentationen über Zeiträume, zu denen kein fotografisches Bild überliefert war. Es handelte sich dabei teilweise auch um dieselben Autoren bzw. Redakteure, namentlich Artur Müller und Heinz Huber. Die neuen Dokumentationen mit Themen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren so konzipiert, dass auch hier die gesprochene zusammenhängende Erzählung dominierte. Der gesprochene Text wurde mit aktuellen Filmaufnahmen von den angesprochenen locations – hier setzte sich die Kulturfilmtradition fort – und historischen Bildern unterlegt. Eine Dokumentation über Ignatius v. Loyola (SDR/ARD, 1961) repräsentiert schon die entwickeltere Form. Sie besteht aus einer Collage von Architektur- und Landschaftsaufnahmen sowie historischem Bildmaterial. Hier wie in anderen frühen Beispielen stammte das Bildmaterial nicht in allen Teilen aus der Zeit der filmischen Handlung. Hauptsache schien und scheint bis heute zu sein, dass der Anschein des Historischen erweckt wird. So feiert(e) die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts in den inzwischen seltener gewordenen Beiträgen mit ›Bildteppichen‹ fröhliche Urständ. Schon drei Jahre vor dem Ignatiusfilm war nicht nur in Stuttgart mit Sendungen experimentiert worden, die ausschließlich aus einer raschen Folge historischer Stiche und Gemälde bestanden, so über den deutschen Kaiser Karl V. oder über die Französische Revolution.25 Die Funktion der Bilder ist auch hier – wie schon erwähnt – fast ausnahmslos illustra24 Erinnert sei daran, dass nur von einem geringeren Teil der noch vorhandenen Sendungen genauer bekannt ist, wie sie gestaltet waren. Insofern fehlt ein genauerer Überblick darüber, was sich konkret hinter einzelnen Beitragstiteln verbirgt, die auf eine Geschichtssendung schließen lassen. 25 Religion und Macht. Vom tragischen Leben Kaiser Karls V. (SDR/ARD 1958) repräsentiert die kargere Variante mit wenigen Bildern (darunter zwei Tizian-Gemälden) und einigen Kartenaufnahmen mit Trick. Nicholas Chamfort berichtet. Die Französische Revolution in Bildern und Dokumenten (SDR/ARD 1959) unterlegt einem komplexen Text zum Verlauf der Revolution in rascher Folge eine Fülle von zeitgenössischem Bildmaterial und Aufnahmen von – in der Regel nicht lesbaren – Dokumenten. 183

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tiv, sie stehen lediglich in einem mehr oder weniger engen assoziativen Zusammenhang mit den geschilderten historischen Ereignissen. Hin und wieder werden Schriftdokumente gezeigt, die in der Kürze der Zeit vom Zuschauer nicht entziffert, geschweige denn zusammenhängend gelesen werden können. Relativ selten wird mit Bildern ein Ereignis belegt, ein Ereigniszusammenhang visualisiert und über die sprachliche Vermittlung hinaus erklärt. Um 1970 war die Mischung aus den drei Gestaltungselementen: Kommentar, aktuelle Filmaufnahmen von den Schauplätzen und historisches Bildmaterial gängiges Produktionsschema geworden, wie etwa der SDR-Film Das Hundeleben des Johannes Kepler (1971) belegt. Die Produktionsroutine wurde immer wieder auch um den Auftritt von Experten ›im On‹ ergänzt. Im Detail muss das frühe Geschichtsfernsehen der Bundesrepublik wissenschaftlich noch genauer aufgearbeitet, müssen die Verbindungslinien zur Vorkriegszeit oder zu möglichen Vorbildern im Ausland hergestellt werden.26 Erschwert wird die Rekonstruktion der Wahl ästhetischer Gestaltungsmitteln dadurch, dass sich dies alles entwickelte, ohne dass bisher in den Akten der Redaktionen ein Nachdenken darüber entdeckt werden konnte, aus welchen Gründen ein Beitrag in dieser Art und Weise und nicht anders gestaltet wurde: Archivstudien des Verfassers brachten bisher kaum Ergebnisse und neue Erkenntnisse. Ein rares Dokument über einige Grundsätze des frühen Geschichtsfernsehens ist das erwähnte Exposé von Heinz Huber, das einem Vortrag in der so genannten Fernsehwerkstatt des SDR zugrunde lag. Interessanterweise werden in ihm gerade nicht die Probleme des Zusammenhangs von Bild- und Textebene oder die Frage nach dem Rang des Bildes für die Argumentation angesprochen, sondern Huber räsonierte in erster Linie darüber, was dem in Geschichte nicht vorgebildeten Zuschauer im Kontext des sonstigen Angebots zugemutet werden könnte. Es wäre nun weiter zu verfolgen, ab wann und in welcher Weise die unter der Bildernot leidenden Dokumentarfilmer sich mehr und mehr der Spielhandlung bedienten, auch mit anderen Formen experimentierten und sich dabei nicht scheuten, etwa das Thema Preußen im Stile einer Kabarettrevue aufzuarbeiten. Wie statistische Übersichten belegen (vgl. Lersch/Viehoff 2007), ist bis in die Gegenwart die unaufwändige und damit kostengünstige, nichtfiktionale Montage von Kommentar, historischen Bildern und Schauplatzdokumentationen durchaus gängiges Programmelement. Dazu kommen wechselnde Konjunkturen des Erscheinens von Experten auf dem

26 Der Verfasser hofft, in nicht allzu ferner Zeit dazu eine umfassendere Studie vorlegen zu können. 184

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Bildschirm, insbesondere in den Dritten Fernsehprogrammen der Landesrundfunkanstalten mit landesgeschichtlichen Themen. Die können dann übrigens nur beschränkt in den anderen Dritten Programmen der Landesrundfunkanstalten verwertet werden. Prime Time-Dokumentationen der Hauptprogramme über Zeiten vor der Erfindung der Fotografie kommen gegenwärtig nicht mehr ohne zum Teil aufwändig produzierte Spielhandlungen aus, z.B. mit Nachstellungen von Schlachtgetümmel wie in der Serie über Napoleon Bonaparte oder in der vierteiligen Reihe Die großen Schlachten (ARD 2006) aus. Dieses ermöglichen aber preisgünstige Computeranimationen.

Defizite und Alternativen Fassen wir zusammen: Die historische Dokumentation im Fernsehen hat sich aus einem mixtum compositum entwickelt. Anfangs wurden im Wesentlichen im Medium der Sprache (re-)konstruierte Ereignisverläufe und -deutungen bebildert. Bei dem Bilderbogen handelt es sich der Terminologie der Historiker nach meist um die Präsentation weitgehend unkommentierter und unausgewerteter Quellen eigener Art, Quellen jenseits der Schriftzeugnisse. Später kamen weitere Zeugnisse hinzu: Zeitzeugenaussagen (in Analogie zu Aussagen im Kontext der Oral History) gleichfalls in meist illustrierender, oft auch das Vorgestellte authentifizierender Funktion. Neu gefilmte Sequenzen von Denkmälern, bildliche Repräsentationen dessen, was von den Schauplätzen des geschilderten Geschehens übrig geblieben ist, haben die gleiche Aufgabe. Insofern stellen die Dokumentationen – versucht man sich einmal von vertrauten Einschätzungen und Begriffen zu lösen – in der Tat schon merkwürdige »Quellenkompendien« dar, die um Expertenmeinungen und in letzter Zeit häufiger eben auch um Spielszenen erweitert werden. Sie greifen mal mehr, mal weniger kunstvoll den Fluss der Geschichtserzählung und den Bilderstrom auf, führen die Handlung weiter, erläutern und erklären sie und sind daher nicht nur uninterpretierte Zeugnisse der Vergangenheit.27 Ungewöhnlicherweise – etwa im Vergleich zur wissenschaftlichen Historiographie und zum historischen Sachbuch – bleiben die präsentierten Quellen meist unausgewertet. Am krassesten werden unter ihnen die historischen – bewegten und unbewegten – Bilder vernachlässigt. Zwar werden auch Zeitzeugenstatements insbesondere in den ZDF-Sendungen oft rein illustrativ verwendet, aber sie beglaubigen und authentifizieren die Ge-

27 Ich verwende hier nicht exakt die Terminologie von Bösch (1999). Er führt als dritte Kategorie den (reinen) Zeitzeugenfilm an. 185

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schichtserzählung, wenn auch manchmal auf sehr umstrittene Weise (vgl. Keilbach 2003b). Die Bilder werden – unkommentiert, wie mehrfach betont – als vielfach aussagenoffene und mehrdeutige Zeugnisse nicht in ihren Entstehungszusammenhang gerückt, was ihre Deutungsmöglichkeiten verringert. Der historischen Fernsehdokumentation – und natürlich auch dem Bildgebrauch in vielen Büchern – genügt jedoch die unbestimmt bleibende Authentizitätszuschreibung und das Realitätsversprechen des fotografischen (und auch des bewegten) Bildes.28 Matthias Steinle interpretiert die Verwendung von derartigen »Archivbildern« als »dokumentarische Selbstevidenz« und als einen Vorgang ihrer »Nobilitierung«. Sie führe zu einer »Monumentalisierung zum historischen Artefakt«, das »mehr an Vergangenes erinnert, als Konkretes bezeugt. Gerade der scheinbar eindeutige Status bedingt die Offenheit in der Verwendung, ebenso wie in der Lektüre. Monument und Dokument sind die Pole, zwischen denen Archivbilder changieren« (Steinle 2005: 299). Aber was sind die Alternativen in der Gestaltung, wenn man der Forderung nachgibt, bei den Zeitzeugenaussagen und in erster Linie bei den Bildern jeweils mehr oder weniger detaillierte Aussagen über den Entstehungskontext zu machen, sie eingehender zu interpretieren? Bei ersteren mag dies unproblematischer sein und geschieht ja auch häufiger. Dies auf historische Fotos und Filmaufnahmen angewandt unterbricht nicht nur den Fluss der Erzählung (vgl. Keilbach 2008: 91f.), sondern führt in Dokumentationen mit zahlreichen zeitgenössischen Aufnahmen dazu, dass diese rasch zu fotografie- bzw. dokumentarfilmhistorischen Quellenkunden mutieren, d.h. zu einer Sendeform werden, die nur einen eingeweihten Kreis von Experten interessiert.29 Die von Eva Hohenberger und Judith Keilbach in ihrem Sammelband von 2003 beschriebenen genrekritischen Formen bzw. Produktionsbeispiele mit z.T. avantgardistisch anmutenden Vorgehensweisen erwecken nicht den Eindruck, dass sie als ernstzunehmende Anregungen für die Gestaltung von selbstreflexiven und die beschriebenen Defizite der Quellenkompendien vermeidenden Geschichtsdokumentationen herangezogen werden könnten (vgl. Hohenberger/Keilbach 2003). Sie passen nicht in den Angebotskontext der Fernsehhauptprogramme, die nun einmal von Erwartungen an Unterhal28 Dazu im kulturgeschichtlichen Kontext Wortmann (2003). 29 Interessant ist, dass das Institut für Film in Wissenschaft und Unterricht (FWU) auf Sammelbändern längere Ausschnitte dokumentarischen und fiktionalen Materials zu einem bestimmten Thema (etwa über die Russische Revolution) anbietet, um derartige quellenkundlich orientierte, unbearbeitete Sammlungen jenseits der massenmedialen Bearbeitung im Unterricht auswerten zu können. 186

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tung und an leicht rezipierbare Kost geprägt sind. Insofern bleibt noch viel Raum für Experimente und Kreativität der Fernsehmacher und für hoffentlich weiterführende Debatten mit Historikern und Medienwissenschaftlern darüber, wie Geschichte im Fernsehen ›richtig‹ und gleichzeitig zuschauerfreundlich präsentiert werden kann.

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EREIGNIS UND ERLEBNIS: ENTSTEHUNG UND MERKMALE DES ZEITGENÖSSISCHEN DOKUMENTARISCHEN GESCHICHTSFERNSEHENS THOMAS FISCHER

Dass Geschichte in den letzten zwanzig Jahren aus den Nischen von Schule und Universität herausgetreten ist und zu einem Thema des breiten öffentlichen Interesses wurde, ist inzwischen fast ein Gemeinplatz und für niemanden eine Neuigkeit. Und dass das Fernsehen maßgeblich dazu beigetragen hat, wahrscheinlich auch nicht. Klar scheint allgemein: Das Fernsehen hat Geschichte populär gemacht, indem es die Geschichte popularisierte; aus meist trockenen Geschichtssendungen für fachlich interessierte Minderheiten wurde Ende der 1980er Jahre ein Geschichtsfernsehen für ein Massenpublikum, bei dem es nicht mehr um fachwissenschaftliche Analyse ging, sondern um Erlebnis, Erinnerung und Erzählung. Ich möchte im Folgenden auf einige Punkte eingehen, die meines Erachtens die Besonderheiten dieses Wandels audiovisueller Geschichtsvermittlung im Massenmedium Fernsehen verdeutlichen.1 Dabei konzentriere ich mich auf eine einzige Fernsehgattung, nämlich die zeitgeschichtliche Dokumentation von fünfundvierzig Minuten Länge. Im deutschen Fernsehen ist dies das klassische Dokumentationsformat, das im Ersten, dem ZDF, den Dritten, bei Arte, Phoenix, 3Sat und anderen öffentlich-rechtlichen Kanälen noch immer am häufigsten vertreten ist.2 Meine Fragen sind folgende. Erstens: Wieso mussten die akademischen Experten im zeitgeschichtlichen Fernsehen der achtziger Jahre abdanken und den Zeitzeugen Platz machen? Zweitens: Wie sahen die Geschichtsdokumentationen aus, die an die Stelle des Expertenfernsehens traten? Drittens: Was bedeutet ›Popularisierung der Geschichte‹ im Fernsehen

1

2

Es handelt sich hier um die gekürzte und veränderte Fassung meines Aufsatzes »Erinnern und Erzählen: Zeitzeugen im Geschichts-TV (Fischer 2008). Bei den ›Privaten‹ ist fast nur Spiegel TV regelmäßig mit zeitgeschichtlichen Dokumentationen präsent. 191

THOMAS FISCHER

konkret? Und viertens: Wie sieht die Zukunft des Geschichtsfernsehens aus?

Das Ende der Expertendokumentation Erfunden wurde die zeitgeschichtliche Dokumentation in Großbritannien. Im Fernsehen der Bundesrepublik tauchte sie vermehrt seit den 1960er Jahren auf. Zeitgeschichte gehörte damals noch überwiegend zu den Programmbereichen der Chefredakteure der Sender. Deshalb befassten sich die meisten zeitgeschichtlichen Dokumentationen auch vorzugsweise mit Politikgeschichte. Die zuständigen Fachredakteure, nicht selten zugleich Autoren, hatten häufig ein politikgeschichtlich ausgerichtetes Studium hinter sich und verstanden sich in dieser Zeit vielfach als verlängerter Arm der Wissenschaft. Fernsehen war für sie eine Art Telekolleg mit der Aufgabe politischer Bildung. Sie schrieben deshalb häufig zunächst ihr Manuskript und suchten sich dann die zum Text passenden Wochenschau-Bilder. Fotos und Filme aus den Archiven dienten damals noch nicht so sehr der Dokumentation von Ereignissen, sondern der Illustration von Texten. Die Vorherrschaft des Textes über die Bilder, die Dominanz des Gedankens über die Anschauung zeigte sich auch darin, dass vielfach unspezifische Bildmotive ohne starke Ausdruckskraft gewählt wurden, und dass auf Nahaufnahmen zugunsten von Totalen nicht selten verzichtet wurde. Die so absichtlich reduzierte Eindrücklichkeit der Bilder sollte verhindern, dass sich die Bildaussage gegen die Textaussage stellte. So erklären sich manche ›Bildteppiche‹ und ›Bild-Ton-Scheren‹ in vielen zeitgeschichtlichen Dokumentationen der frühen Fernsehjahre. Dazu gehört auch, dass Zeitzeugen bis Ende der siebziger Jahre nicht oder nur selten zu Wort kamen. Ihre Subjektivität und Emotionalität wurde als störend empfunden: Sie passten nicht zum Aufklärungsgestus der Erklärdokumentation. Stattdessen traten nicht selten Historiker auf, die das Erklärte in den wissenschaftlichen Kontext einbetteten. Zeitgeschichte wurde also nicht als Ereignis für ein Massenpublikum inszeniert, sondern war ein Bildungsprogramm für fachlich interessierte Minderheiten.3 3

Bildungsbürgerliche Konzepte aus der Weimarer Zeit prägten das gesamte Rundfunk- und Fernsehprogramm der frühen Bundesrepublik. Rundfunk und Fernsehen sollten in allen kulturellen Sendeformen auch alle Schichten bilden. Das galt speziell für die Dritten Programme, die in der Zeit des damals vielfach beschworenen »Bildungsnotstands« seit den 1960er Jahren aufgebaut wurden. Zum Zeitgeschichtsfernsehen der DDR siehe das DFGProjekt »Programmgeschichte des DDR-Fernsehens – komparativ«, Spre192

DOKUMENTARISCHES GESCHICHTSFERNSEHEN

Dieses Erklärfernsehen geriet Mitte der 1980er Jahre in die Krise. Das war die Zeit, in der die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten unter wachsenden Konkurrenzdruck durch die ›Privaten‹ gerieten – ablesbar in geringeren Marktanteilen. Der damalige RTL-Chef Helmut Thoma sprach 1984, dem Geburtsjahr des privaten Fernsehens, von der »Entdeckung des Zuschauers«. Gemeint war damit die Entdeckung des Massengeschmacks, der nun in erster Linie die Programmplanung der ›Privaten‹ bestimmte und neue massenattraktive Sendeformate hervorbrachte.4 Mit der raschen Zunahme der privaten Sender und Kanäle sowie der damit verbundenen Vervielfachung des vor allem unterhaltenden Programmangebotes wurde für die Programmmacher die Aufmerksamkeit des Publikums zu einem knappen Gut. Bei allen Sendern, auch den öffentlichrechtlichen, entwickelte sich die Einschaltquote deshalb zu einem immer wichtigeren Kriterium bei der Produktion von Sendungen und der Verteilung der Sendeplätze. Programme mit zwar stabilen, aber vergleichsweise niedrigen Einschaltquoten, zu denen auch die meisten zeitgeschichtlichen Erklärdokumentationen gehörten, wurden nach und nach aus der Prime Time abgezogen und rutschten auf Randtermine.

Erzählen statt erklären Wenn Marktanteile eine Rolle spielen und der Programmerfolg zunehmend an Einschaltquoten gemessen wird, dann sucht man auch als Macher von zeitgeschichtlichen Dokumentationen eine größere Nähe zum Publikum. Die stellt man am besten dadurch her, dass die nüchterne Ausbreitung von Wissensbeständen reduziert wird und stattdessen Ereignisse mit konkreten Orten, benennbaren Personen und erzählbaren Handlungsabläufen in den Vordergrund gerückt werden. Das Massenmedium Fernsehen verlangte, so wurde vielen Autoren bewusst, eben auch bei historischen Dokumentationen populäre Formen. Und das wiederum erforderte Erzählweisen, bei denen die Lebens- und Leidensgeschichten von Individuen im Mittelpunkt standen. Eine solche Hinwendung zum Konkreten und Überschaubaren, zum Ereignis und Erlebnis, zum emotionalen Erinnern und Erzählen war Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre ein geradezu revolutionärer Akt im westdeutschen Zeitgeschichtsfernsehen.

4

cher: Reinhold Viehoff (Halle) und Rüdiger Steinmetz (Leipzig), http:// www.ddr-fernsehen.de/6dokumentarfilm/default.shtml, Zugriff am 21. November 2008. Z.B. Hugo Egon Balders Stripshow Tutti Frutti (RTL), Schreinemakers live (SAT.1) oder Seifenopern wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten (RTL). 193

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Der Umschwung vom Erklär- zum Erzählfernsehen brachte einerseits die audiovisuellen Möglichkeiten des Mediums Fernsehen besser ins Spiel: zum Beispiel die Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit der persönlichen Erlebnisse von Zeitzeugen oder die Evidenz und Eindringlichkeit von historischem Foto- und Filmmaterial. Der Formenwandel bewirkte aber auch, dass sich die zeitgeschichtlichen Dokumentationen auf Augenhöhe mit den Zuschauern begaben, indem sie Zeitzeugen und deren lebensweltliche Art, Ereignisse wahrzunehmen, zu erinnern und zu erzählen, in die Dokumentationen einbauten und für das eigene Erzählen nutzten. Das wirkte sich natürlich auch auf die Auswahl und Darstellung der zeitgeschichtlichen Themen aus: Wenn nicht mehr die Wissenschaft allein vorgab, was erzählenswert war, sondern auch die lebendige Erinnerung der Zuschauer, dann stellte sich die Frage, welche Ereignisse es denn waren, die von den Menschen vorrangig wahrgenommen und erinnert wurden, und wie diese Ereignisse vom Fernsehen und im Fernsehen dann erzählt wurden. Im Verständnis der Zeitgenossen waren das zuerst die persönlichen Erinnerungen an die Höhen und Tiefen der letzten sechzig bis siebzig Jahre: Zustimmung und Widerstand, Verfolgung, Terror und Vernichtung in der NS-Zeit; Not, Verbrechen und Unmenschlichkeit im Krieg; Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung; Neuanfang und Wiederaufbau; Teilung und Wiedervereinigung – davon wollten die Menschen erzählen, und darüber sollte ihrer Meinung nach auch das Fernsehen berichten, und zwar auch aus der Sicht und in der Sprache der Betroffenen: also weniger gelehrtes Wissen und stattdessen ein intensives Fragen nach dem persönlichen Erleben und Verhalten, nach den Handlungsspielräumen und den Verantwortlichkeiten. Das bedingte eine veränderte Erzählweise, nämlich weg von der historischen »Draufsicht«, hin zur »Nahsicht« auf die Zeitgeschichte (Frei 2005: 9). Wer also zeitgeschichtliche Ereignisse und Themen einem breiten Fernsehpublikum vermitteln wollte, der musste aus der kognitiven und formalisierten Darstellungswelt der Wissenschaft heraustreten und sich der abstrakten Begriffssprache der academic community enthalten. Er musste durch die Verknüpfung von objektivem Wissen und subjektiven Erinnerungen, von Kognition und Emotion, von sachlicher Erklärung und lebendiger Erzählung, Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur miteinander verbinden. Diesen Weg hat die zeitgeschichtliche Dokumentation seit Mitte der achtziger Jahre beschritten. Aus dem Erklärfernsehen ist ein Erzähl- und Zeitzeugenfernsehen ge-

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worden, das sich in Serien und Mehrteilern an ein breites Publikum wendet und ab und zu sogar Fernsehereignisse schafft.5

Bausteine des audiovisuellen Erzählens Die Erzähl- und Zeitzeugendokumentationen stellen die Autorinnen und Autoren vor die schwierige Aufgabe, die geordneten akademischen Wissensbestände mit der subjektiven Erinnerungsflut der Zeitzeugen zu verbinden. Diese Balance zwischen subjektiv erlebtem »Ereignis« und historischer »Struktur« herzustellen, steht heute im Zentrum der filmischdokumentarischen Arbeit der zeitgeschichtlich orientierten Fernsehjournalisten (vgl. dazu auch Suter/Hettling 2001). Sie beginnt mit der Lektüre von wissenschaftlichen Texten zum gewählten Thema und setzt sich fort in vielen Gesprächen mit Historikerinnen und Historikern über zentrale Aspekte und Akzentuierungen. Danach verlassen die Autorinnen und Autoren die wissenschaftliche Darstellungsebene. Der Blick richtet sich nun nicht mehr auf die Texte, sondern auf das Publikum; die Aufgabe ist nicht mehr Analyse, sondern Vermittlung. Dazu reduzieren die Autorinnen und Autoren komplexe Argumentationsgänge, bilden pointierte Thesen, beschränken die Stoffmenge auf wenige vermittelbare Aspekte und wechseln vom Erklärmodus zum Erzählmodus, der durch konkrete Schauplätze, konkrete Akteure, konkrete Situationen und Handlungsabläufe konstituiert wird. Die Hauptarbeit liegt dann darin, eine spannende Erzähllinie für die Dokumentation zu finden, damit, zumindest im Prime Time-Fernsehen, ein Millionenpublikum auch ›dran‹ bleibt. Und das gelingt eben meist nur dann, wenn Geschichte populär, d.h. allgemeinverständlich und emotional erzählt wird. Dennoch bleibt ein solches ereignisorientiertes, filmisch-dokumentarisches Erzählen der Geschichtswissenschaft insofern verpflichtet, als es die Grundprinzipien historischen Arbeitens weiterhin beachtet: Faktentreue, Kausalität und Perspektivenwechsel.

5

Die ARD hat bereits in den achtziger Jahren mit dem Fünfteiler Krieg der Bomber (1985) sehr viele Zuschauer erreicht. Dann war es das ZDF, für dessen sechsteilige Serie Hitler – eine Bilanz (1995) sich Millionen Zuschauer interessierten. Es folgten beim ZDF u.a. Hitlers Helfer (1996), Holokaust (2000) und andere Reihen. Die ARD zeigte im ersten Programm auf ihrem Dokumentationsplatz (montags 21.45-22.30 Uhr) Mehrteiler wie z.B. Heimatfront (1999), Soldaten hinter Stacheldraht (2000), Die Vertriebenen (2001), Vier Kriegsherren gegen Hitler (2001), Hitlers Eliten nach 1945 (2002), Mythos Rommel (2002) u.v.m. 195

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Die drei wichtigsten Bausteine des populären Geschichtsfernsehens sind: erstens Film- und Fotomaterial aus dem Archiv, zweitens neugedrehte Bilder von historischen Schauplätzen, drittens Erinnerungen von Zeitzeugen. Diese ›Materialien‹ werden verbunden und zusammengehalten durch eine Erzählerstimme und durch Musik, und es entsteht das TVFormat Zeitgeschichtliche Erzähldokumentation. Sie unterscheidet sich von allen anderen Fernsehgattungen dadurch, dass sie – wie auch die zeitgeschichtliche Erklärdokumentation – den Anspruch auf historische Authentizität erhebt (vgl. Hattendorf 1994).6 Den Zuschauern wird versichert, dass alles, was in der Dokumentation erzählt und gezeigt wird, tatsächlich auch geschehen ist. Sine ira et studio werde mit Hilfe von Archivfilmen und Zeitzeugen die historische Wirklichkeit rekonstruiert. Historische Dokumentationen sind, wie man weiß, nicht Abbild einer vergangenen Wirklichkeit, sondern Konstruktionen von historischer Wirklichkeit. Aufgabe der Filmemacher ist es dabei, durch eine glaubwürdige Erzählstrategie, d.h. durch Montage authentischer Bilder und Töne, den Zuschauern die Gewissheit zu vermitteln, dass die erzählte filmische Wirklichkeit sich auf eine tatsächliche historische Begebenheit bezieht. Wenn die filmisch-dokumentarischen Mittel so gewählt werden, dass bei den Zuschauern der Eindruck entsteht, dass das Erzählte beglaubigt ist und die Geschichte deshalb als authentisch und ›wahr‹ akzeptiert wird, dann handelt es sich um das Format Zeitgeschichte (vgl. Rüsen 1982). Die Glaubwürdigkeit des Materials ist allerdings ein kritischer Punkt. Falsche Bilder und Fakten würden den Anspruch der Filmemacher, eine wahre Geschichte aus der Vergangenheit zu erzählen, erschüttern und dem TV-Format Zeitgeschichte seine Legitimation nehmen. Der quellenkritische Umgang mit den audiovisuellen Archivmaterialien ist deshalb auch beim Geschichtsfernsehen ein absolutes Muss.7 Archivmaterial erzeugt beim Betrachter den unmittelbaren Eindruck, dass die in den Bildern gezeigten Personen, Orte und Situationen tatsächlich die Zeit repräsentieren, in welche die Dokumentation die Zuschauer führt. Archivbilder haben, insbesondere dann, wenn die Quelle in der Untertitelung genannt wird, die Überzeugungskraft beglaubigter Dokumente. Die Autoren werden solches Material in ihren Dokumentationen deshalb in starkem Maße verwenden: etwa ein Viertel bis ein Drittel der Fotos und Filmbilder kommt aus den Archiven. Der zweite wichtige Baustein zur Authentisierung von zeitgeschichtlichen Dokumentationen 6 7

Zur Bedeutung von Gattungsschemata für Produzenten und Konsumenten vgl. Rusch (1993) und Fischer (2008). Er ist allerdings in der Regel nicht Teil der Sendung, sondern findet vorher am Schneidetisch in Rücksprache mit Archivaren und Fachhistorikern statt. 196

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sind die Erinnerungen von Zeitzeugen. Augenzeugen bilden durch ihre lebendigen Erinnerungen an selbst erlebte, meist dramatische historische Ereignisse eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Filmisch werden sie in einer Weise präsentiert, die ihr Zeugnis schon vor dem ersten gesprochenen Wort als bedeutsam erscheinen lässt. Meist geschieht dies durch eine ›dramatische‹, mit Licht und Schatten spielende Ausleuchtung von Person und Raum, sowie eine nahe Kameraeinstellung, die die Zeitzeugen dicht (aber auch nicht zu dicht) vor das Auge des Betrachters rückt. Wenn die Zeitzeugen dann in der Sprache der Zuschauer sprechen, sich bildstark und lebendig ausdrücken und ganz dicht entlang des erlebten Geschehens erzählen, dann stärkt das zusätzlich ihre Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt der erinnerten Ereignisse. Die in den Erzählstimmen der Zeitzeugen mitschwingende Emotionalität und Authentizität der Erlebnisse ist in der Zuschauerwahrnehmung genauso wichtig wie der Inhalt der Aussagen. Beim Erzählen auftretende Erinnerungslücken, Hinzufabuliertes, Ungefähres, Unentschiedenes – also all das, was vor Gericht meist unberücksichtigt bliebe und was auch Neurophysiologen am Nutzen von Zeitzeugenaussagen für die Geschichtswissenschaft zweifeln lässt8 – ist im zeitgeschichtlichen Film unverzichtbar zur Herstellung einer authentischen Atmosphäre. Das audiovisuelle Medium Fernsehen verbindet den vielstimmigen Chor der Zeitzeugen mit empfangsbereiten Zuschauern und schafft so – worauf es den Zuschauern (und Machern) vor allem ankommt – einen »Erlebnisraum«, in dem sich Gefühle wie Betroffenheit, Mitleid, Trauer entfalten können. Wenn Zeitzeugen sprechen, wird fachliche Verortung der historischen Ereignisse, wird die rationale, durch Schriftsprache erzeugte Distanz aufgehoben zugunsten emotionaler stimmsprachlicher Nähe (vgl. Epping-Jäger/Linz 2003). Von Zeitzeugen erwarten die Zuschauer Ereignis und Erlebnis, nicht Fachwissen und Erklärung. Letzteres wird nicht bei den Zeitzeugen gesucht, sondern beim filmischen Erzähler. Die durch das Archivmaterial und die Zeitzeugen erzeugte Authentizität wird weiter dadurch verstärkt, dass sich die Kamera an die Schauplätze der Ereignisse begibt. Solche Neudrehs dienen aber nicht nur der weiteren Beglaubigung des dokumentarischen Films durch das Stilmittel der Vor-Ort-Reportage. Durch suggestive Bildausschnitte, durch die Einnahme überraschender, ungewöhnlicher Perspektiven oder emotionalisierender Bild-Montagen im weiteren Prozess der Filmbearbeitung, werden 8

So hat Wolf Singer im September 2000 in seinem Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags auf das Dilemma verwiesen, »dass wir im Prinzip nicht wissen, welcher der möglichen [von Zeitzeugen vorgenommenen] Rekonstruktionsversuche der vermuteten ›wahren‹ Geschichte am nächsten kommen« (Singer 2002: 86). 197

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die Orte der Erinnerung auch ganz dicht an die Gegenwart herangezoomt und die Bildwirkung so sehr verstärkt, dass viele Zuschauer meinen, unmittelbar Zeugen eines im Moment ablaufenden außergewöhnlichen Geschehens zu sein. Das wichtigste Element des Formats Zeitgeschichte ist allerdings der Sprecher. Er erscheint nicht im Bild und ist nur als Off-Stimme präsent; dennoch steuert er im Verborgenen die Abfolge der Bilder von Archiv, Zeitzeugen und Neudrehs und ist in seiner Rolle als Erzähler Herr über das filmische Geschehen.9 Der Autor, dem die Instanz des Erzählers im Format Zeitgeschichte eine Stimme verleiht, hat sich ja vorab bei Historikern über den tatsächlichen Lauf der Dinge, über Strukturen und Kontexte erkundigt und ist bemüht, seine Geschichte in Kenntnis der Makrohistorie zu erzählen, auch wenn das nicht immer expressis verbis geschieht. Der Erzähler steht somit einerseits im linearen filmischen Geschehen, rundet gerade gelaufene Sequenzen ab oder schafft Kontexte für das Bildverständnis. Er steht aber andererseits auch über dem filmischen Geschehen, kann vorausdeuten und zurückverweisen, weil er als Stellvertreter des Autors sowohl Anfang als auch Ende des Films sowie dessen Botschaft kennt. Bei all dem achtet er auf die chronologische und inhaltliche Richtigkeit der Ereignisse und hält sich damit an das methodische Gattungspostulat der dokumentarischen bzw. wissenschaftlichen historischen Erzählung, dass alles, was erzählt wird, verbürgt, d.h. auf Augenzeugen, Gewährsleuten oder anderen glaubwürdigen Quellen beruhen muss (vgl. Koselleck 1973: 561). Es gibt neben den Erklär- und den Erzähldokumentationen noch einen dritten Typus zeitgeschichtlicher Fernsehfilme, der Augenzeugenschaft, Expertenwissen, Dokumente und Neudrehs in den Dienst eines investigativen Erzählens stellt. Das Erzählmotiv solcher detektivischer Dokumentationen ist die Aufdeckung unbekannter, vertuschter oder verheimlichter Ereignisse und Geschichten. Investigativ ausgerichtete Autoren wollen also nicht bereits erforschte oder in Vergessenheit geratene Stoffe neu oder anders erzählen, sondern selbst Geschichte schreiben und dabei eine breite Öffentlichkeit erreichen. Auch bei der investigativen Dokumentation spielen Zeitzeugen eine große Rolle, aber hier haben sie eine andere Funktion: Sie sind Teil der Beweisführung, manchmal Zeugen der Anklage, wenn es um Unrecht oder Verbrechen geht, oder Mitwisser und Akteure von verdeckten oder geheimen Aktionen. Diese Zeitzeugen stehen also im Dienst der Aufklärung von historischen Sachverhalten.

9

Im Unterschied zum Dokumentarfilm, der in seiner Reinform auf einen auktorialen Erzähler verzichtet. 198

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Hierzu ein Beispiel: 2003 lernte ich bei Recherchen zu einem SWRFilm über die Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen einen solchen Zeitzeugen kennen: Dino A. Brugioni, früher Mitarbeiter der CIA. Als nach dem Krieg britische und amerikanische Geheimdienste die Heimkehrer aus der Sowjetunion ausfragten, um Informationen über die Standorte der sowjetischen Waffenproduktion zu erhalten, wertete Brugioni diese Angaben in den USA aus und wurde so bei der CIA zum Russlandexperten für Industrieanlagen. Später analysierte er Luftbilder von Spionageflügen der US Air Force. Nachdem ich Brugioni in Washington für meinen Heimkehrer-Film interviewt hatte und die Kamera ausgeschaltet war, fragte er mich, ob ich vielleicht auch etwas über Adenauers Spionageflug nach Moskau hören wollte. Zwischen 1954 und 1955 hätte die CIA alles versucht, um vom Boden aus an Radarstellungen für Lenkwaffen heranzukommen, aber die seien extrem gut bewacht worden, so dass man keinen Schritt weiterkam. Durch die Einladung Adenauers nach Moskau im Mai 1955 ergab sich, so Brugioni, eine einmalige Gelegenheit: »Man kam auf die Idee, eine Kamera in Adenauers Flugzeug einzubauen.« Am 8. September 1955 hätte Adenauers Maschine dann beim Anflug auf den Moskauer Flughafen Vnukovo eine der Raketenstellungen wie geplant überflogen, und die eingebaute Kamera hätte hochauflösende Fotos von dem Radar und der dazugehörigen Raketenstellung gemacht. Länger als ein Jahr habe ich Brugionis Geschichte beiseite geschoben. Der deutsche Kanzler im Dienst der CIA? Und das noch dazu auf einer Reise, bei der es um die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen ging? Das alles erschien mir dann doch kaum glaubhaft. Aber die Geschichte ließ mich nicht los, und 2005 ging ich gemeinsam mit einigen Redaktionskollegen auf Spurensuche. Wir fuhren in die Flugausstellung Hermeskeil, wo die Originalmaschine D-ALIN noch immer steht. Leo Junior, der Ausstellungschef, war einverstanden, dass wir den Flieger ›auseinandernahmen‹. Wer sich diese Maschine genauer ansieht, entdeckt am hinteren, unteren Ende des Rumpfes eine kleine Ventilationsklappe, die sich bei Höhen unter 2.500 m vom Cockpit aus unbemerkt öffnen ließ. Hätte man an dieser Stelle eine Kamera mit Fernauslöser installiert, dann hätte man, von außen unbemerkt, tatsächlich Aufklärungsfotos machen können. Eine zweite Spur führte uns in das Archiv der Lufthansa. Hier sind noch fast alle Unterlagen des Moskaufluges erhalten: Daten zum Wetter, zur Flugstrecke und Funktelegramme. Auf der Grundlage dieser Daten haben wir den Flug nach Moskau exakt rekonstruiert. Und es zeigte sich tatsächlich, dass die AdenauerMaschine bei schönstem Spätsommerwetter und optimaler Sicht in nur etwa 1.000 m Höhe genau über eine der 52 Abwehrstellungen flog – un-

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mittelbar bevor sie, als damals erste westliche Zivilmaschine überhaupt, auf dem Flughafen Vnukovo landete. Auch im Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin sind Vorbereitung und Verlauf des Fluges minutiös dokumentiert. Die Unterlagen zeigen, dass die Maschine gleich nach der Landung von Beamten des Bundeskriminalamtes streng bewacht wurde, und dass sie auf Drängen der Lufthansa nach einem nur kurzen, neunzigminütigen Aufenthalt leer nach Deutschland zurückflog. Natürlich haben wir nach den Fotos gesucht, um einen schlagenden Beweis zu haben, aber wir haben sie nicht bekommen. Immerhin konnten wir inzwischen freigegebene Akten der CIA einsehen. Aus ihnen geht zweifelsfrei hervor, dass es der Luftaufklärung tatsächlich schon ein Jahr vor den ersten U-2 Flügen gelang, hochauflösende Luftbilder von einem Lager für Raketenteile mit angrenzender Radarstellung zu bekommen, und ein Dokument sagt auch, wann das war: »im September 1955«, dem Monat, als Adenauer nach Moskau flog. Gemeinsam mit meiner Kollegin Susanne Kampmann habe ich aus diesen detektivischen Recherchen einen zeitgeschichtlichen Beitrag für das SWR-Magazin Report Mainz verfasst, in dessen Mittelpunkt die Aussagen von Dino Brugioni, die Dokumente der CIA und des Lufthansa-Archivs standen. Der Beitrag erhielt die Form einer investigativen Reportage, so dass die Zuschauer den Gang der Ermittlung mitverfolgen konnten: die Spurensuche, das Sammeln von Indizien und Beweisen, die Zeugenbefragungen, das Zusammentragen von Erkenntnissen, die neue Tatsachen begründeten und das historische Wissen erweitern. Am Ende der filmisch rekonstruierten Recherche stand das Erstaunen darüber, dass die USA wohl tatsächlich Adenauers Moskauflug zu Spionagezwecken genutzt haben. Die detektivischen Geschichtsdokumentationen sind vergleichsweise selten. Das liegt zum einen daran, dass ihnen vor Produktionsbeginn oft langwierige Recherchen vorausgehen, die das für Dokumentationen normalerweise veranschlagte Budget beträchtlich übersteigen können. Nur wenige Autoren können sich zudem zeit- und kostenaufwändige Vorab-Recherchen leisten. Viele schreckt auch das Risiko ab, am Ende der Recherchen vielleicht keine durchschlagenden Ergebnisse in der Hand zu haben und dann auf dem Film sitzen zu bleiben. Andererseits ist es natürlich für jeden Sender, insbesondere jeden öffentlich-rechtlichen, in hohem Maße profilbildend, wenn er investigative, exklusiv recherchierte zeitgeschichtliche Dokumentationen in seinem Programm hat.10 Aber wie stark auch immer die Sender sich hier engagieren, die Zahl der

10 Wie es zuletzt dem NDR mit dem Film Das Schweigen der Quandts (2007) gelang. 200

DOKUMENTARISCHES GESCHICHTSFERNSEHEN

investigativen Stücke wird stets kleiner bleiben als die Zahl der auf Erinnerungen und Emotionen aufbauenden Zeitzeugendokumentationen.

Zukunftsperspektiven Fernsehen ist von seiner medialen Beschaffenheit her von Anfang an ein Populärmedium. Anders als beim Buch, das Lesefähigkeit voraussetzt, muss man beim Fernsehen nur die Augen öffnen, um einzutauchen in eine scheinbar lebendige audiovisuelle Welt. Als Zuschauer begegnet man dieser Fernsehwelt manchmal mit derselben Unmittelbarkeit und emotionalen Intensität wie den Ereignissen der natürlichen Welt, eben weil das audiovisuelle Medium es genau darauf anlegt, diese ›Natürlichkeit‹ zu simulieren. Geschichte im Fernsehen ist also in diesem – medialen – Sinne schon allein deswegen populär, weil sie in diesem Medium stattfindet. Aber es gibt erfolgreiche und weniger erfolgreiche Formate. Nicht ganz so erfolgreich ist heute die klassische Erklärdokumentation, die in den sechziger bis achtziger Jahren ihre beste Zeit hatte. Sehr erfolgreich ist dagegen bis in die Gegenwart die Erzähldokumentation, weil sie die Nahsicht sucht, ›Geschichte‹ in einzelne konkrete Geschichten auflöst und dabei die historischen Tatsachen mit den subjektiven, emotionalen Erinnerungen von Zeitzeugen verknüpft: ›Gewusste‹ und ›gefühlte‹ Geschichte in engster Verbindung. Stellt sich noch die Frage nach der Zukunft des dokumentarischen Geschichtsfernsehens. Ich wage die Prognose, dass die ganz große Zeit des Zeitzeugenfernsehens mit vier bis fünf Millionen Zuschauern pro Sendung vorbei ist, weil es für das bisherige Hauptthema der Fernsehzeitgeschichte – die NS-Zeit, die Verbrechen und die Opfer – immer weniger Zeitzeugen gibt. Für die nachfolgenden historischen Etappen – Nachkriegszeit, Geschichte der Bundesrepublik, DDR usw. – sind zwar noch viele Erinnerungen von Zeitzeugen abrufbar, aber sie stoßen doch, abgesehen von Einzelereignissen, auf ein in Zahlen nicht mehr ganz so großes Publikumsinteresse. Dennoch wird die Erzähl- und Zeitzeugendokumentation weiterhin ein wichtiges Format des Zeitgeschichtsfernsehens bleiben. An Bedeutung zunehmen wird aber wohl wieder die Erklär- und Expertendokumentation. Zum einen, weil das nachwachsende Publikum verstärkt an Faktenwissen und Hintergrundanalysen interessiert ist, zum anderen weil es für zahlreiche Historiker inzwischen kein Problem mehr ist, historische Sachverhalte für ein breites Publikum vereinfachend zuzuspitzen. Hier wird sich für Historiker und Fernsehredakteure vielleicht bald ein gemeinsames Arbeitsfeld öffnen, das zu einer

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THOMAS FISCHER

engeren Verknüpfung von Geschichtswissenschaft und öffentlicher Geschichtskultur im Fernsehen führen kann.

Literatur Epping-Jäger, Cornelia/Erika Linz (2003): Medien/Stimmen: Mediologie, Köln: DuMont. Fischer, Thomas (2008): »Erinnern und Erzählen: Zeitzeugen im Geschichts-TV«. In: Thomas Fischer/Rainer Wirtz (Hg.), Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz: UVK, S. 33-49. Frei, Norbert (2005): 1945 und wir: Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München: Beck. Hattendorf, Manfred (1994): Dokumentarfilm und Authentizität: Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Konstanz: UVK. Koselleck, Reinhart (1973): »Ereignis und Struktur«. In: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Geschichte: Ereignis und Erzählung, München: Fink, S. 560-570. Rusch, Gebhard (1993): »Fernsehgattungen in der Bundesrepublik Deutschland: Kognitive Strukturen im Handeln mit Medien«. In: Knut Hickethier (Hg.), Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 1: Institution, Technik und Programm. Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens, München: Fink, S. 289-321. Rüsen, Jörn (1982): »Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft: Skizze zum historischen Hintergrund des gegenwärtigen Diskurses«. In: Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München: DTV, S. 14-35. Singer, Wolf (2002): »Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen: Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft«. In: Ders., Der Beobachter im Gehirn: Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 77-86. Suter, Andreas/Manfred Hettling (Hg.) (2001): Struktur und Ereignis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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FIKTIONALITÄT HAT DIE

FAKTEN: WELCHE ZUKUNFT ZEITGESCHICHTLICHE DOKUMENTATION? ODER

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Wer bestimmt über die Zukunft des dokumentarischen Genres – die Macher? Oder diejenigen, für die Fernseh-Dokumentationen gemacht werden? Redaktionen, die wöchentlich Sendeplätze zu bestücken haben, obendrein auch noch zur Prime Time, genießen nicht wirklich den Luxus, in dieser Frage abwägen zu können. Wem es nicht gelingt, Formen zu entwickeln, die ein breites Publikum und gerade auch jüngere Zuschauer ansprechen, wird bald vor ziemlich leeren Rängen und überwiegend hoch betagten ›Abonnenten‹ spielen. Und gerade öffentlichrechtliche Anbieter sollen und wollen Menschen aller Bildungsgrade und Altersstufen ansprechen. Doch Anspruch ohne Zuspruch hat gewiss keine Zukunft. Was aber hat das mit der Frage nach Fiktion und Fakten zu tun? Erwartet nicht jeder Zuschauer von einer Doku ›Wahrheitstreue‹ und ›Objektivität‹, egal in welchem Alter, auf welchem Platz und zu welcher Sendezeit? An diesem Anspruch hat sich in der Tat wenig geändert, was Umfragen bestätigen (vgl. ZDF-Medienforschung 2008): Begriffe wie ›seriös‹, ›authentisch‹, ›glaubhaft‹, ›Tatsachen‹ oder ›echte Geschichten‹ werden nach wie vor mit der ›Dokumentation‹ assoziiert. Verändert haben sich jedoch die Erwartungen an Form und Gestaltung: Nähe und Spannung, nachgespielte Szenen auf hohem Niveau, aufwändige Grafiken und Animationen, tolle und beeindruckende Bilder, etwas fürs Auge, Einsatz von Musik, nicht zu viele Fakten, Emotionen, keine Belehrung und wenn möglich auch etwas Unterhaltung. Dieser Erwartungshorizont, der auch für zeitgeschichtliche Dokumentationen gilt, ragt unverkennbar in die Sphäre des Fiktionalen, zumindest was gestalterische Standards anbelangt. Tritt da womöglich das Faktische in den Hintergrund, wenn man den formalen Ansprüchen des Publikums genügen will? Manches ist im dokumentarischen Fernsehen längst etabliert; Fritz Wolf hat darauf in seiner Studie Alles Doku – oder was? aus dem Jahr 2003 hingewiesen. Szenisches ist auf dem Vormarsch. An die Seite, wenn nicht sogar an die Stelle, klassischer Dokumentationen sind diverse 203

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Hybridformen, Mischtypen gerückt. Reine Archivfilme sind selten geworden, bestimmen jedenfalls nicht mehr das Bild vom Genre. Szenische Dokumentationen und Dokudramen hingegen haben Konjunktur. Muss da das Faktische dem Fiktionalen weichen?

Szenische Rekonstruktion Nicht das Publikum, aber manche Historiker und Journalisten nahmen – vor allem in den 1990er Jahren – Anstoß an szenischen Sequenzen in Dokumentationen der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Ausgelöst hatte die Debatte seinerzeit die zweite Staffel der Reihe Hitlers Helfer (ZDF, 1997). Die sogenannten Reenactments wurden von manchen Beobachtern als Grenzbruch bezeichnet – als Übergang zum Fiktionalen. Nie zuvor hatte eine Dokumentarreihe über die NS-Zeit so viele Zuschauer erreicht (fast 8 Millionen), selten zuvor wurde so viel über die Form diskutiert. Die Kritik am Reenactment, die dann schließlich eine ganze Reihe von Produktionen auf dem nationalen und internationalen Markt betraf, war eigentlich rasch zu entkräften. Es wurde betont, dass szenische Elemente zwar formal aus der fiktionalen Werkstatt stammen, der Inhalt aber durch Dokumente oder mehrere Zeitzeugen belegbar war. Wenn man Momente aus dem Leben der NS-Täter Mengele oder Eichmann rekonstruiere, sei dies keine Fiktion, sondern das szenische Nachempfinden von dokumentierbaren Erkenntnissen, so lautet die nach wie vor gültige Argumentation von damals. Von Eichmann etwa gibt es aus der Kriegszeit kein einziges bewegtes Bild; Mengele ist nur auf einigen wenigen Fotos zu sehen. Ohne szenische Hilfsmittel wäre es äußerst schwer gewesen, die NS-Täter zu porträtieren. Szenische Rekonstruktionen sind somit kein Selbstzweck, sondern schließen Lücken, geben die Chance, Schlüsselmomente in den Kontext dokumentarischer Geschichtsvermittlung einzufügen. Das gilt für die Entführung Eichmanns in Argentinien ebenso wie für die Flugblattaktion der Weißen Rose in der Münchener Universität oder Hintergrundszenarien auf dem Weg zur deutschen Einheit. Gewiss lässt sich darüber streiten, ob die szenischen Darstellungen der Vergangenheit immer in gleichem Maß gelungen und filmisch geglückt waren, ob die gewählte Form auch wirklich für die inhaltliche Botschaft förderlich war. Es mag durchaus sein, dass es in manchen Fällen besser gewesen wäre, auf die dokumentarische Kraft von Fotos zu vertrauen und auf szenische Zitate zu verzichten. Generell aber gilt, dass Reenactments die Möglichkeit bieten, Lücken zu schließen und Themen

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anzugehen, die sonst nur schwer oder gar nicht visualisierbar wären. Allein die Verfügbarkeit von archivarischem Bildmaterial kann ja nicht entscheidend dafür sein, welches Sujet überhaupt verfilmt wird. Quellenkritisch gesehen lässt sich womöglich manches Ereignis durch eine szenische Rekonstruktion authentischer wiedergeben als durch historisches Archivmaterial, dessen Initiatoren der Nachwelt bewusst ihre eigene Sicht der Zeit hinterlassen wollten. Wenn international auf Messen und Fachtagungen von einer Renaissance der Dokumentation die Rede ist, dann zählt die Spielszene zu den attraktiven Formen des Genres. Maßstab muss hier allerdings bleiben, dass die Darstellung auf authentischen Grundlagen beruht, dass ihr Inhalt belegbar ist und dass Szenen vor allem dann zum Tragen kommen, wenn es keine filmischen Alternativen gibt.

Emotion statt Information? Aus der Sicht mancher Kritiker erscheinen auch die beiden Kategorien Emotion und Information schwer vereinbar. Personalisierung, erschütternde Zeitzeugenberichte, Einsatz von Mitteln wie Szene und Musik, sprich affektive Elemente – all das sei in Dokumentationen gerade über düstere Kapitel der Vergangenheit fragwürdig und verstelle den Blick für die Wirklichkeit. Aufklärung bleibe da auf der Strecke. In der Tat gab es in der Vergangenheit hoch gelobte Filme, deren Macher ganz bewusst auf jegliche affektive Elemente verzichteten, auch über das ›Menschheitsverbrechen‹, den Holocaust. Doch was geschah gegen Ende der 1970er Jahre? Erstmals wirkliche Beachtung beim Publikum fand das Jahrhundertthema ausgerechnet durch ein fiktionales Programm, der amerikanischen Fernsehserie Holocaust aus dem Jahr 1978, welche die Judenverfolgung anhand der Geschichte zweier deutscher Familien darstellte. Vor der Ausstrahlung wurde die Serie in der deutschen Presse unter anderem als triviale Seifenoper abgetan. Der negativen Kritik zum Trotz, erreichte Holocaust ein Millionenpublikum und löste eine breite Debatte aus. Gerade die kritisierten Elemente wie Personalisierung, Dramatisierung und Emotionalisierung erwiesen sich als ihre Stärken. Experten kamen zu dem Ergebnis, dass die Sendung einen »gefühlvollen, an die Aufnahmefähigkeit der Rezipienten angepassten Einstieg in die Thematik ermöglicht habe« (Dohle/Vorderer/Wirth 2003: 289). Dieter Weichert (1980) stellte auf der Basis einer empirischen Begleitstudie fest, dass die emotionale und fiktionale Handlung weder eine politische Rezeption verändert noch negative Wirkung auf die Glaub-

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würdigkeit der Serie gehabt habe. Im Gegenteil: Sie habe Barrieren überwunden sowie nachhaltig antisemitische Tendenzen abgebaut und wie nie zuvor breite Bevölkerungsschichten mit dem Thema in Berührung gebracht. Ein angebliches Kitsch-Produkt hatte also mehr bewirkt als vielfältige vorherige Aufklärungsbemühungen zum Thema. Das musste Historikern, Publizisten, Psychologen und Filmemachern zu denken geben. Doch was hat das mit dem Thema Dokumentation zu tun? Mehr als 20 Jahre später sendete das ZDF die fünfteilige Reihe Holokaust (ZDF, 2000). Auch hier gab es Einwände, die auf bestimmte stilistische Mittel sowie Emotionalisierung und Personalisierung zielten. »Wenn Gefühlsduselei die Fakten verdeckt, bleibt die Aufklärung auf der Strecke«, lautete eine Kritik (Dohle/Vorderer/Wirth 2003: 289). Im Jahr 2001 initiierten Medienwissenschaftler der Universitäten Düsseldorf, München und Los Angeles eine empirisch-qualitative Studie zur Wirkung der Reihe auf junge Zuschauer (vgl. Dohle/Vorderer/Wirth 2003). Drei unterschiedliche Ausschnitte aus einem der Filme wurden ausgewählt und Neunt- und Zehntklässlern an Gymnasien und Gesamtschulen vorgeführt. Es ging um das Geschehen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Ein Ausschnitt war eher sachlich deskriptiv abgefasst, der zweite enthielt einige emotionale Komponenten, die dritte Passage zeigte ein bewegendes persönliches Schicksal und war auch darstellerisch gefühlsbetonter angelegt. Die Wirkung auf Einstellungen der Schüler war bei der zuletzt genannten Form der Darstellung besonders nachhaltig. Einer der an der Studie beteiligten Medienpsychologen, Werner Wirth, resümierte: »Gerade das Arbeiten mit Emotionen wurde Guido Knopp angekreidet. Das sei Gefühlsduselei […]. Deshalb haben wir gemessen, ob emotionsgeladene Darstellungen, natürlich stets in Kombination mit sachlichen Passagen, den Antisemitismus abbauen helfen. Und wir haben festgestellt: nur mit stark emotionalen Szenen lässt sich dieses Ziel erreichen. Wissensvermittlung allein reicht nicht aus; ohne den Appell an die Gefühle geht es nicht« (Streitbörger 2005: 50).

Die Wirksamkeit der Wissensvermittlung in historischen Fernsehdokumentationen hängt demnach auch davon ab, inwieweit es gelingt, Verstand und ›Herz‹ des Zuschauers anzusprechen. Der bewusste Umgang mit der Emotionalität von Geschichte ist neben der Darstellung von Fakten eine zentrale Herausforderung. Auch die Geschichtsdidaktik hat längst die Bedeutung von Emotionen für historisches Lernen entdeckt und diskutiert die gezielte »Kultivierung der Affekte«. Der Historiker Siegfried Quandt hat dies so formuliert: 206

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»Es geht in der Geschichtskultur um Erkenntnisse und Erlebnisse [...] Gefühlszugänge zur Geschichte sensibilisieren für historisch Anderes und setzen Anker für weiter reichendes Geschichtsinteresse. Geschichtskultur wird im MultiMedien-Zeitalter mehr als bisher auch Gefühlskultur sein und sein müssen« (Quandt 2000: 235).

Wer auf den nationalen und internationalen Markt schaut, wird erkennen, dass sich die dokumentarischen Formate mehr vom erklärenden zum erlebnisorientierten Fernsehen entwickeln. Der Trend geht weg vom Analytischen, hin zu Geschichten, hin zu Menschen, hin zu mehr Drama – hier ist das Genre den Spuren der BBC gefolgt. Diese hat, wie der Produzent und Regisseur Carl-Ludwig Rettinger es einmal formulierte, den deutschen Kollegen frühzeitig meisterhaft vorgeführt, »dass eine Dokumentation eben nicht dem Schema des deutsch-gymnasialen Besinnungsaufsatzes (These, Gegenthese, Synthese), sondern narrativen Strukturen folgt, mit lebendigen Hauptcharakteren, ihren Konflikten und Emotionen« (Witzke/Ordolff 2005: 274).

Der wohlmeinende filmische Besinnungsaufsatz hat in der Tat ausgedient. Erzählen statt Berichten, Erleben statt Erfassen, Menschen statt Strukturen – darin spiegeln sich wesentliche Entwicklungen. Wer meint, lediglich philosophische oder wissenschaftliche Texte bebildern zu müssen und Dramaturgie, Spannungsbögen, Hauptfiguren, Formvielfalt oder auch Musik ignorieren zu können, der wird nicht nur auf Publikum verzichten müssen, sondern möglicherweise auch feststellen, dass vier von fünf Zuschauern sich zwar irgendwie informiert fühlen, aber vielleicht nur einer von ihnen wiedergeben kann, was der Film eigentlich sagen wollte.

Der Zeitzeuge Auch die Vermittlung von Zeitgefühl vergangener Epochen möglichst durch Zeitzeugen erwarten Zuschauer von der geschichtlichen Doku. An Polemik mangelt es auch in diesem Kontext nicht. Der Zeitzeuge sei der natürliche Feind des Zeithistorikers, wird immer wieder zitiert, auch von der »Fiktion des Zeitzeugen« (so der Historiker Norbert Frei in van Bebber 2006: 28) ist die Rede. Die Chancen und Risiken von Oral History wurden vielfältig und ausgiebig diskutiert. Natürlich kann niemand, der bei einem historischen Ereignis zugegen war, die Verlässlichkeit seiner Beobachtung und Schilderung garantieren. Nachträglich über Medien Wahrgenommenes oder 207

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Angelesenes beeinflusst die Erinnerung. Menschen zimmern sich ihre Geschichte zurecht. Vielleicht auch, um sich freizusprechen oder aus Furcht vor dem Vorwurf, sich doch irgendwie in die Machenschaften eines verbrecherischen Regimes verstrickt zu haben. Doch diskreditieren diese Vorbehalte wirklich den Zeitzeugen? Den Verdacht auf Geschichtsklitterung, Beschönigung oder Vertuschung erwecken andere Quellen auch. Und es gibt bekannte Methoden damit umzugehen, z.B. Quellenkritik eben. In der Menschenrechtsprechung, bei der Rekonstruktion justiziabler Vorgänge aller Art, haben Augen- oder Zeitzeugenberichte eine wichtige Funktion – im Kontext anderer verfügbarer Quellen. Warum soll das nicht für zeitgeschichtliche Dokumentationen gelten? Glaubt denn wirklich jemand allen Ernstes, man könne bei der filmischen Darstellung so entscheidender Wendepunkte wie 1933, 1939, 1945, 1949, 1954, 1961, 1968, 1970, 1977, 1989, 2001 generell auf Zeitzeugen verzichten? Wer sich wirklich die Mühe macht, Hunderten von Menschen zuzuhören, gewinnt Erfahrungen, welche Momente eines (oft mehrstündigen) Interviews für die inhaltliche und filmische Auswertung geeignet sind. Ob zu Hitlers ›Machtergreifung‹, zu Krieg und Holocaust, zum 8. Mai 1945, zu den Aufbaujahren, zu den 9. Novembern des vergangenen Jahrhunderts – es sind eben nicht nur Zahlen und Strukturen, sondern auch Augenzeugenberichte, die Geschichte darstellbar machen und mit Leben erfüllen. Wer das ignoriert, läuft Gefahr, wesentliche Facetten der Vergangenheit auszuklammern. Was spricht denn dagegen, Struktur- und Erfahrungsgeschichte miteinander zu verbinden? Die »Begegnung von Zeitzeugenschaft und Zeithistorie« könne, »wenn man die fundamentale Differenz nicht überspielt, sondern in Rechnung stellt, höchst fruchtbar sein«, schreibt der Historiker Hans Günter Hockerts, und fügt an: »Im Übrigen gilt für lebensgeschichtliche oder themenzentrierte Erinnerungsinterviews dieselbe Regel wie für Quellen jeglicher Art: Ihr Wert lässt sich nicht abstrakt und pauschal beurteilen, sondern nur in Relation zu der Forschungsfrage, um die es jeweils geht« (Hockerts 2001: 20).

Natürlich ist vor allem dort Kritik angebracht, wo die Rolle des Zeitzeugen nicht klar markiert ist, wo ihm eine Deutungskompetenz zugemessen wird, die ihm nicht zusteht, wo seine Aussage nicht adäquat eingeordnet oder – gegebenenfalls – relativiert wird.

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Historiker Wenn der Zeitzeuge der natürliche Feind des Zeithistorikers sein soll, dann müssten namhafte Vertreter der Zunft einen weiten Bogen um zeitgeschichtliche ZDF-Sendungen schlagen. Davon ist nichts zu spüren, und in den vergangenen Jahren ist sogar eine Art Comeback zu beobachten. Denn es gab Zeiten, in denen sich die Zuschauer keine Historiker auf den Bildschirmen wünschten. Inzwischen nehmen ihre Ausführungen in den geschichtlichen Dokumentationen einen immer größeren Raum ein. Man kann sogar behaupten, der Historiker habe den Zeitzeugen ein Stück weit verdrängt. Seit jeher hat die ZDF-Redaktion Zeitgeschichte auf wissenschaftliche Begleitung Wert gelegt. Keineswegs nur, um Fehler zu vermeiden – mehr denn je geht es auch um die Gesamtwirkung des Filmes, das Geschichtsbild. Auch bei der Konzeption von Sendungen werden Wissenschaftler intensiver als in früheren Jahren einbezogen. Das steht einer zuschauergerechten Darstellung keineswegs entgegen, denn immer mehr Historiker sind mediengerechten Formulierungen gegenüber aufgeschlossen. In zahlreichen Sendungen erhalten sie eine Plattform, um pointiert Ergebnisse ihrer Forschungen darzulegen und Stellung zu beziehen. Bei Dokumentarreihen wie Die großen Diktatoren (ZDF, 2006), Die Wehrmacht (ZDF, 2007), Hitlers Österreich (ZDF, 2008) waren wissenschaftliche Publikationen geradezu konstitutiv für die Programmentscheidung und die Gestaltung der Sendungen. Bei dem Gemeinschaftsprojekt Die Deutschen (ZDF, 2008), einer zehnteiligen Dokumentarreihe zur deutschen Geschichte, die von den ZDF-Programmressorts Kultur und Zeitgeschichte betreut wurde, wirkten insgesamt mehr als 20 Historiker mit. Bei diesem und weiteren Projekten, wie dem Dreiteiler Die Machtergreifung (2009), gibt es überdies eine Kooperation mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD), um zu den betreffenden Themen begleitend zur Reihe Unterrichtsmaterialen zu entwickeln.

Abschied vom Dokument? Der Trend scheint eindeutig: Immer seltener geht es um die Abbildung des historischen Dokuments, dafür mehr um die mediengerechte Darstellung und Illustration von dokumentierbarem Wissen. Doch die Suche nach zeitgenössischem Filmmaterial und Dokumenten gehört nach wie vor zu den Kernaufgaben und -kompetenzen des Genres, auch wenn die Frage im Raum steht, welches Archivmaterial denn zu dem einen oder anderen historischen Thema überhaupt noch entdeckt werden kann. Aber 209

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es gibt sie noch, die Funde in den Archiven, auch in Kellern und auf Dachböden. In den vergangenen Jahren waren überraschende Trouvaillen geradezu konstitutiv für zwei Projekte der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte: Göring – eine Karriere (ZDF, 2006) und Hitlers Österreich (ZDF, 2008). Die Materialien waren nicht nur von herausragender technischer Qualität, sondern auch inhaltlich in einer Weise aufschlussreich, dass Wissenschaftler die Filme als Gewinn für die Forschung erachteten. Aber auch die Entdeckung oder Freigabe schriftlicher Dokumente gibt immer wieder Anstoß, über neue Projekte nachzudenken. Die vor drei Jahren veröffentlichten britischen Abhörprotokolle zu Gesprächen hoher deutscher Militärs im Offiziers-Gefangenenlager Trent Park bildeten eine wesentliche Grundlage für die fünfteilige Reihe Die Wehrmacht (vgl. Neitzel 2006). Die szenische Dokumentation Das Wunder von Mogadischu (ZDF, 2007) konnte sich von früheren Filmen zum Thema Landshut-Entführung auch dadurch unterscheiden, dass Dokumente aus dem Archiv des Bundesaußenministeriums eigens für das Projekt deklassifiziert wurden. Selbst ein überwiegend szenischer Film wie Die Hölle von Verdun (ZDF, 2006) war insofern dokumentarisch, als über weite Strecken fast wörtlich die Tagebucheintragungen deutscher und französischer Soldaten – in gesprochenen Monologen – wiedergegeben wurden.

Glaubwürdigkeit Sicher entscheidet auch die Glaubwürdigkeit beim Zuschauer über die Zukunft zeitgeschichtlicher Dokumentationen. Mehr als 90 Prozent der Teilnehmer einer repräsentativen, ZDF-internen Befragung (ZDF Medienforschung 2007) schätzten zeitgeschichtliche Dokumentationen des vergangenen Jahres als »glaubwürdig«, »seriös«, »kompetent« und »informativ« ein. Mehr als 80 Prozent (Mehrfachnennungen waren möglich) empfanden sie als »modern« und »zeitgemäß«, etwas weniger als 70 Prozent als »spannend«, weniger als acht Prozent als »oberflächlich«. In den Jahren 2002-2006 erhielten die Dokumentationen – quer durch alle Milieus – folgende Noten: 85 Prozent der befragten Zuschauer bewerteten zum Beispiel die Reihe Sie wollten Hitler töten (ZDF, 2004) mit gut oder sehr gut. Bei der Großen Flucht (ZDF, 2004) waren es 82 Prozent, bei der Reihe Goodbye DDR (ZDF, 2005) 68 Prozent. »Informativ«, »glaubwürdig« und »verständlich« waren die drei am häufigsten genannten Bewertungsattribute der Dokumentationen. Sie wurden von 70 bis 90 Prozent der Befragten angegeben. Bei der Sendereihe Die große Flucht wurde nur von zwei Prozent der Zuschauer beanstandet, die Dokumentation sei etwa zu emotional. Während fünf Prozent der Zuschauer, die nur

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eine oder zwei Folgen gesehen hatten, noch Hintergrundinformationen vermissten, gab es unter den Zuschauern, die drei oder vier Folgen gesehen hatten, kaum jemanden, der die Dokumentationsreihe als zu wenig informativ empfand.

Perspektiven Im Grunde sieht die Prognose für historische Dokuformate keineswegs düster aus. Laut Demoskopie sind in Deutschland neun Prozent »sehr stark« an Geschichte interessiert und über 27 Prozent »stark«. Zugestanden wird von Seiten vieler Befragter auch, dass man Lehren aus der Vergangenheit ziehen könne (ZDF Redaktion Zeitgeschichte 2008: 22). Doch dann sind da die Gegenprogramme – aus den Genres ›Heile Welt‹, ›Show‹ und ›Action‹ – glasklar formatiert und etabliert. Die Anzahl der empfangbaren Sender hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht, eine regelrechte Lawine von Dokumentationen mit mehr und weniger Bezug zu historischen Sujets ergießt sich tagtäglich mehrspurig über die Sendelandschaft. Zuschauer, die über 50 Jahre sind, planen ihr Programm noch irgendwie, doch je jünger sich das Spektrum darstellt, desto zufälliger gestaltet sich die Wahl. Da müssen Sekunden genügen, um Ansprache zu erzeugen. Da ist von erforderlicher Reizdichte die Rede, um den Verbleib zu sichern. Die Bindungen der Zuschauer an einzelne Programme, an traditionelle Formate, lockern sich. Die modernen Übertragungstechniken werden für noch mehr Schnelligkeit und immer größere Programmvielfalt sorgen. Die Tendenz zu Spartenprogrammen wird sich weiter verstärken bis hin zu hoch spezialisierten Angeboten für kleinere Zielgruppen. Eine weitere Veränderung kündigt sich durch die Verbindung zwischen Fernseher und Computer zu einem riesigen multimedialen Kosmos an. Grenzen von Film, Fernsehen und neuen Medien weichen auf. Die Genres lassen sich schon lange nicht mehr »in das Korsett technisch, pragmatisch oder akademisch begründeter Regeln und Präsentationsformen pressen, sondern experimentieren mit allen Mischformen und Aufnahmetechniken«, konstatierte Peter Zimmermann schon im Jahr 2001, und er führte weiter aus: »Unter dem Eindruck digitaler Produktions- und Distributionstechniken sowie der rasanten Entwicklung des Internets, zeichnet sich ein neuerlicher Umbruch ab, der eine Vielzahl weiterer hybrider Formen generiert, die sich nicht länger in die etablierten Schubladen Film, Fernsehen, Videokunst, InternetPräsentation usw. stecken lassen, die die Medien- und Filmwissenschaften sowie die Filmkritik für sie bereithalten« (Zimmermann 2001: 2). 211

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Die Frage nach Fakten und Fiktion im dokumentarischen Genre wird also aktuell bleiben. Doch zeigt sich, dass fiktionale Formen und dokumentarisch belegbare Fakten durchaus miteinander vereinbar sind. Dokumentiertes und geprüftes Wissen kann auf sehr verschiedene Weise zum Sprechen gebracht, ja zum Leben erweckt werden, ohne dass dabei die inhaltliche Aussage an Substanz einbüßen muss. Darin liegt auch künftig ein erhebliches Potenzial.

Literatur Dohle, Marco/Peter Vorderer/Werner Wirth (2003): »Emotionalisierte Aufklärung«. Publizistik 48.3, S. 288-309. Hockerts, Hans Günter (2001): »Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft«. Aus Politik und Zeitgeschichte 28, S. 15-30. Neitzel, Sönke (2006): Abgehört: Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945, Berlin: Propyläen. Quandt, Siegfried (2000): »Fernsehen als Leitmedium der Geschichtskultur? Bedingungen, Erfahrungen, Trends«. In: Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hg.), Geschichtskultur: Theorie – Empirie – Pragmatik, Weinheim: Deutscher Studien-Verlag, S. 235239. Streitbörger, Wolfgang (2005): »Aufklärung und die Macht der Gefühle«. Psychologie Heute 32.6, S. 50. van Bebber, Frank (2006): »Aversionen gegen Herrn K: Geschichtssendungen von Guido Knopp sind beliebt: Historiker kritisieren die Qualität der Berichte«. In: Der Tagesspiegel vom 25. September 2006, S. 28. Weichert, Dieter (1980): »Holocaust in der Bundesrepublik: Design, Methode und zentrale Ergebnisse der Begleituntersuchung«. Rundfunk und Fernsehen 28, S. 488-508. Witzke, Bodo/Martin Ordolff (2005): »Dokumentation, Feature und Dokumentarfilm«. In: Martin Ordolff (Hg.), Fernsehjournalismus, Konstanz: UVK, S. 261-281. Wolf, Fritz (2003): Alles Doku – oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen, Düsseldorf: Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. ZDF Medienforschung (2007): PAP (Program Appreciation Panel): Redaktion Zeitgeschichte, unveröffentlichte Studie einer repräsentativen Befragung der GfK Fernsehforschung im Auftrag der ZDF Medienforschung.

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ZDF Medienforschung (2007): ZDF-Programmcheck, unveröffentlichte Studie des Instituts forsa im Auftrag der ZDF-Medienforschung. ZDF Medienforschung (2008): Grundlagenstudie ZDF-Dienstagsdokumentationen, unveröffentlichte Studie des Instituts psyma im Auftrag der ZDF-Medienforschung. ZDF Redaktion Zeitgeschichte (2008): History: Deutsche Geschichte, unveröffentlichte Studie einer repräsentativen Befragung der Forschungsgruppe Wahlen e.V. im Auftrag der ZDF Redaktion Zeitgeschichte. Zimmermann, Peter (2001): Hybride Formen: Neue Tendenzen im Dokumentarfilm, München: Goethe Institut. Fernsehproduktionen Hitlers Helfer: Täter und Vollstrecker (ZDF, 14. Januar 1997). Holocaust (NBC, 16. April 1978). Holokaust (ZDF, 17. Oktober 2000).

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›B E L E B T E G E S C H I C H T E ‹: D E L I M I T A T I O N E N D E R ANSCHAULICHKEIT IM GESCHICHTSTHEATER WOLFGANG HOCHBRUCK

Noch 1996 konnte das im Keltenmuseum Hochdorf verkaufte Buch Experiment Hochdorf: Keltische Handwerkskunst wiederbelebt behaupten, die Schar derer, die mehr und Genaueres über die keltischen Vorfahren wissen wollten, sei klein, ein »harter Kern, ein Fanclub«, und im nächsten Atemzug noch hinzusetzen: »Und in der Zunft der Archäologie besteht auch nicht gerade ein Überangebot an Kommunikationstalenten. Man gibt sich spröde, als gehöre sich das so für die seriöse Wissenschaft« (Offenbach 1996: 86). Mittlerweile sehen dem Zuschauer allenthalben aus internationalen wie nationalen Fernsehprogrammen Historiker und gerade Archäologen entgegen, von den Zeitschriften ganz zu schweigen. Nun ist diese Praxis der sogenannten talking heads zur Auflockerung, Personalisierung und damit veranschaulichenden Authentifizierung in britischen und besonders nordamerikanischen Kontexten sozusagen old hat, aber damit einher geht eine plethorische Ausbreitung medialisierter Veranschaulichungstechniken in der Geschichtsvermittlung, die speziell aus dem Feld des Geschichtstheaters hervorgegangen sind (vgl. Hochbruck 2008). Die folgenden Ausführungen sind konzentriert auf Museen und auf historische (Fernseh-)Dokumentationen, wobei die Grenze insofern fließend ist, als viele Museen gerade da, wo sie keine eigenen oder regelmäßigen Museumstheaterprogramme haben, mittlerweile mit Videomaterial arbeiten. Kurioserweise scheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass eine Reenactment-Gruppe im Fernsehen Auftritte hatte, oder dass ein Thema im Fernsehen gelaufen ist, bereits als der Qualitätsnachweis zu gelten, den es im Bereich des freien Geschichtstheaters bisher nicht gibt – möglicherweise eine gefährliche Entwicklung, wie an Beispielen von ›Geschichts‹-Dokumentationen im zweiten Teil gezeigt werden soll. Wenn nun allerdings im Weiteren kritische Positionen gegen manche Formen des Geschichtstheaters bzw. vor allem gegen deren medialisierte Einsatzformate zum Ausdruck kommen, dann deshalb, weil hier praktikable Reichweiten und notwendige Grenzen der Anschaulichkeit über215

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schritten werden und damit dem expliziten wie impliziten Bildungsauftrag der Geschichtsvermittlung zuwider laufen. Prinzipiell ist gegen Anschaulichkeit nichts Apriorisches einzuwenden. Da, wo die Wendung zu größerer Anschaulichkeit in Pädagogik und Didaktik, in Schulen wie in Museen, eine Abkehr von Frontalunterricht und Schautafeln nebst -kästen bedeutete, wird die Vorgängerform ebenso wenig vermisst wie die Didaktik des erhobenen Zeigefingers, mit der sie einherging. Aber schon wenn man versucht, angesichts der führenden Rolle britischer und amerikanischer Institutionen im Bereich der Museumspädagogik analoge englische Termini für ›Anschaulichkeit‹ zur Begriffsklärung heranzuziehen, werden Reichweite und Problematik dieses Metonyms deutlicher: Eine 1:1 Übersetzung existiert wie so oft nicht. »Graphic quality« und »vividness« gibt der Langenscheidt als Varianten – das eine betont die bildhafte Seite der Anschaulichkeit, das andere ihre Lebhaftigkeit. Damit ist auch – recht anschaulich – erfasst, was in der Umsetzung des ubiquitären Anspruchs auf Anschaulichkeit als bereits in sich geschlossenes Ziel der Wissensvermittlung passieren kann und im Zweifelsfall passieren wird: • Zurückdrängung der Textebene zugunsten von Bildern und Figurativem, am liebsten noch kombiniert als belebte Bilder auf einem Videoschirm. Vor dem ballen sich dann die Zuschauer, so, wie sie es zu Hause auch tun; wo früher allenfalls Photographien und Skizzen zum Text und zur • Schautafel gereicht wurden, sind heute animierte 3-D-Modelle möglich und erreichen mancherorts flimmernde Normalität; • wenn dann noch sozusagen jemand aus dem Fernseher heraussteigt, wenn also museumstheatrale Darbietungen fragwürdiger oder zumindest ungesicherter und für die Zuschauer in aller Regel nicht exakt bestimmbarer Qualität zum Programm gehören – also Personen in historischen Kostümen, die vorführen und erklären – dann ist die Begeisterung der Zuschauer perfekt; • noch einfacher geht das natürlich und sind dieselben affektiven Reaktionen zu beobachten, wenn man das Museum gleich ganz weglässt und statt dessen eine historische Dokumentation als Film mit nachgespielten Dokumentarszenen anbietet, also Geschichtstheater im filmischen Medium einsetzt. Schon weil sie das Extrem spielhafter Veranschaulichung in der Geschichtsvermittlung darstellen, werde ich mich im Folgenden auf zwei konkrete Formen des Geschichtstheaters und ihren Einsatz beschränken, das Personenspiel in der ersten Person im Museum, und das Personenspiel in der ersten Person in der Fernsehdokumentation. Dabei heißt Ge216

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schichtstheater das, was im englischen und gelegentlich auch im deutschen Sprachraum unter dem oxymoronischen Sammelbegriff Living History firmiert, also die kostümierte Präsentation von Geschichte – im doppelten Sinne: als Vorführung (weshalb der Begriff des Geschichtstheaters m.E. sinnvoller ist als die englische, von Jay Anderson in den frühen 1980er Jahren geprägte Bezeichnung) und als Verlegung in die Gegenwart. Innerhalb des Geschichtstheaters gibt es, wenn man die Typologie etwas vereinfacht, drei Hauptformate im Sinne von Untergruppen, die voneinander getrennt verstanden werden sollten: Ich unterscheide zwischen Reenactment, historischem Spiel und Museumstheater. Diese Termini sind z.T. in der Fachliteratur auch anders oder nur ähnlich besetzt: So heißen Formen dessen, was ich als Museumstheater bezeichne, bei Markus Walz »historisches Spiel« (2008: 15 et passim) und bei Michael Faber »Gespielte Geschichte« (2008: 80), wobei in beiden Fällen durchaus sinnstiftende Argumente für die Wortwahl vorgetragen werden. Aus der Perspektive des Kulturwissenschaftlers, der letztlich das Ziel einer übergreifenden und komprehensiven Typologie und historischen Semantik des Geschichtstheaters im Blick haben muss, wird dagegen hier vorgeschlagen, zunächst einmal alle Formate, die im Museum angesiedelt sind, aufgrund ihres sozialen Ortes als Museumstheater zu bezeichnen und dann in einer Binnendifferenzierung über Art und Qualität zu verhandeln. Davon eindeutig verschieden, wiederum wegen des sozialen Ortes, an dem die Formate dieses Typs angesiedelt sind, ist das Reenactment. Damit gemeint ist das kostümierte Spiel mit und aus der Geschichte als Hobby, das je nach Selbstverständnis des Individuums oder der Gruppe in mehr oder weniger authentischer historischer Kostümierung vor Publikum oder (öfter) in dafür ausgewiesenen Rückzugsräumen betrieben wird. Gegen diese häufig auf militärische Auseinandersetzungen von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg fokussierte Hobby-Geschichte ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Der Schaukampf und die (nach-) gespielte, meist männliche Bewährungsprobe scheinen anthropologische Konstanten zu sein, die in vielen Kulturen zu beobachten sind. Selbst Ernest Callenbachs Ecotopia kennt Kampfspiele (1975: 77f., 149f.). Im Zusammenhang des hier verhandelten Themas ist es wichtig (und problematisch), dass in der Terminologie der Medien auch jene Spielszenen Reenactment heißen, in denen in historischen Dokumentationen mehr oder weniger sorgfältig ausstaffierte Darsteller Bewegung ins Bild bringen. Die eigentlich unpassende Verwendung des Terminus für dieses Medienformat lässt Rückschlüsse darauf zu, aus welchen Kreisen sich die Fernsehsender in der Regel für ihre ›gespielte Geschichte‹ bedienen – mit gelegentlich durchaus zweifelhaftem Erfolg, wie zu zeigen sein wird.

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Das dritte in diesem Zusammenhang als wesentlich abgrenzbare, durch einen sozialen Ort charakterisierte Format verdient nun wirklich den Namen des historischen Spiels als ungefähre analoge Übertragung des englischen pageant. Besonders in den Städten der amerikanischen Ostküste war diese Form der Geschichtsvermittlung des (klein-)städtischen Bürgertums an sich selbst, die um 1900/1910 in Nordamerika als theatrale Spielform aus den Prozessionen und Festzügen der frühen Neuzeit entwickelt wurde, enorm populär. Als Phänomen nie ganz ausgestorben, erlebt diese Form des historischen Spiels im Zuge der Mittelalterbegeisterung seit ca. 1985 auch in Deutschland eine Renaissance, etwa in Schwerte, Endingen oder Staufen.1 In der Ausstaffierung und hinsichtlich der Erwartungshaltung der Zuschauer sind die Grenzen zu den seit den 1990er Jahren extrem proliferierenden so genannten ›Mittelaltermärkten‹ fließend. Die von Mittelaltermärkten und historischen (Stadt-)Spielen generierten Erwartungshaltungen beeinflussen wiederum das Sehverhalten des breiten, nicht wissenschaftlich vorgeprägten Fernsehpublikums. Museumstheater ist also von Reenactment wie vom Historischen Spiel sowohl im Anspruch als auch funktional verschieden, wobei personale Trans-Formationen bzw. Identitäten natürlich möglich sind: Reenactor-Hobbyisten können durchaus am nächsten Wochenende im Museum konsequent qualitativ hochwertiges Museumstheater vorführen, und wiederum eine Woche darauf an ihrem Heimatort an einem historischen Spiel teilnehmen. Die Unterschiede werden also nicht vom Personal bestimmt, sondern von den unterschiedlichen Funktionen, die Ausstattung, Fachwissen, didaktische Konzeption und Auftrittsform in den jeweiligen Kontexten haben. Museumstheater an sich sind alle Formen der interpretierenden Interaktion mit Zuschauern bzw. Besuchern in einem historischen Museum. Dabei ist wiederum zwischen drei Typen zu unterscheiden: • Personenspiel in der ersten Person Singular bzw. Plural, in dem die Akteure so zu agieren suchen, als seien sie die von ihnen präsentierten historischen Figuren; • Personenbericht in der dritten Person, der die Distanz zwischen dem Hier und Jetzt und der erzählten Zeit beibehält; und drittens gibt es natürlich, und in deutschen Museen nach wie vor, • mehrheitlich nicht-historisch aufgemachte Führungen und Interpretationen. Wie so oft ist die Frage die, was man mit den Medien- und Texttechnologien macht, die hier zur Verfügung stehen. Tatsächlich eröffnen diese 1

Vgl. Glassberg (1990), Müller (2005), Loftus (2008), Müller (2008). 218

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Szenarien nämlich, ob im Film oder als Museumstheater, immer die Möglichkeit zu Grenzverschiebungen. Das kann heißen, und in dieser Richtung habe ich bisher Geschichtstheater immer verstanden und jahrelang als Spielleiter der Geschichtstheatergesellschaft auch selbst betrieben, dass man bewusst in der Maske der historischen Figur versucht, historische Fakten zu verlebendigen und damit einen aktiven Bezug der Zuschauer zum Dargestellten provoziert. Der Begriff der Provokation ist an dieser Stelle mit Bedacht gewählt – sicherlich nicht im Sinne des postmodernen Regietheaters, aber ein bisschen schwingt darin noch mit vom ›epatez les bourgeois‹. Als Text und Schaubild ist die theatrale Interpretation in der Lage, Brüche und problematische Aspekte des Geschichtsbildes zu thematisieren, und damit auch den eher zufälligen oder nur Diversion suchenden Zuschauer zur Auseinandersetzung mit dem Thema zu reizen: »Die Philosophie der Heritage Interpretation geht […] davon aus, dass der Besucher ein Museum oder einen ähnlichen Ort aus einer Vielzahl von Gründen aufsuchen kann, die nicht mit dem primären Ziel der Einrichtung selbst übereinstimmen – z.B. zur Erholung, zum geselligen Beisammensein mit Freunden, usw. Das Hauptziel der Heritage Interpretation ist deshalb, beim Betrachter die Bereitschaft zur Informationsaufnahme zu bewirken« (Bayer/Sturm 2006: 64).

Das historische Bewusstsein und die bewusste und kreative Auseinandersetzung mit der Geschichte sind zwei der Faktoren, die den republikanischen Citoyen als selbstbewusstes Subjekt vom fremdbestimmten Bourgeois unterscheiden. In diesem Sinne ist die Aneignung der Veranschaulichung dessen, was ansonsten lediglich Vermittlungsaufgabe einer der Institutionen des Apparats im Sinne von Althusser und Foucault wäre, bereits demokratischer Vollzug. Insofern und so weit Formen und Adaptionen des Geschichtstheaters dazu nützlich sind, sollten sie genutzt werden. Dies schließt Formate ein, die mit partizipatorischen Anteilen arbeiten: Colonial Williamsburg etwa, ehemalige Hauptstadt des Commonwealth of Virginia und größtes amerikanisches Freilichtmuseum, bezieht in seinem 2006/2007 eingeführten Spiel-Programm »Revolutionary City« Zuschauer ein. Im Mai 2008 war zu sehen, wie ein arroganter und vorlauter ›Loyalist‹ (der Schauspieler Sam Miller, der in einer ähnlichen Szene auch den gefangenen britischen Gouverneur Guy Hamilton spielte) von ›Patrioten‹ in einem inszenierten Standgericht geteert und gefedert werden sollte. Die Patrioten-Darsteller rekrutierten dazu Zuschauer als ›Jury‹. Oft lassen sich diese Juroren und die umstehenden Zuschauer vom patriotischen (Un-)Geist inspirieren und die entsprechende MobStimmung breitet sich aus. Diesen Moment nutzen andere, geschickt unter den Zuschauern platzierte Schauspieler aus, um in Zwischenrufen und 219

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Diskussionen mit ihren Nachbarn auf die Bedeutung der freien Meinungsäußerung für das demokratische Projekt hinzuweisen: »Of course, George [Hardcastle, eine historische Figur, deren Fall belegt ist] is a bigmouth and a braggart, but shouldn’t he have the right to say what he wants?« Der Effekt ist Ernüchterung. Der ›Loyalist‹ wird mit Ermahnungen laufen gelassen, der Brecht’sche Lehrstückeffekt ist greifbar. Den Zuschauer-Patrioten sieht man den Lerneffekt der Szene, an der sie aktiv teilgenommen haben, zum Teil physisch an: Die Gefühle rangieren von milder Amüsiertheit bis zum Entsetzen darüber, dass man sich von einem Mobinstinkt über die Grenzen des demokratischen contrat social hat hinwegtragen lassen. Die hier angewendete Emotionalisierung kann natürlich in mehrere politische und ideologische Richtungen genutzt werden, sprich: Es gibt auch die Möglichkeit zur Grenzverschiebung rückwärts. ›Rückwärts‹ soll heißen, dass unter dem Label der Anschaulichkeit dieselben reaktionären Ideologiekonstruktionen wieder verkauft werden können, welche die Zeigefingerdidaktik auch schon gekennzeichnet hatten, suggestopädisch aufbereitet. Dies geschieht immer dann, wenn in der vordergründig anschaulichen Darstellung die kritische Reflektion zugunsten eines mit den Mitteln des Geschichtstheaters vorgespielten ›so ist es gewesen‹ hintangestellt oder komplett ignoriert wird. Ich möchte im Folgenden einige Beispiele und Beobachtungen hierzu anführen. Wenn ich nachstehend Einsatzformate des Geschichtstheaters kritisiere, dann ausdrücklich nicht, weil ich plötzlich auf einen Alarmismus à la Neil Postman eingeschwenkt wäre. Kritisches Museumstheater, in dessen Hintergrund eine solide fachwissenschaftliche und eine theaterpädagogische Ausbildung steht, erscheint mir die zeitgemäßeste und vermittlungsfähigste Medialisierungsform von Geschichtswissen überhaupt – kombiniert mit dem Museum, in dem diese Vermittlung stattfindet. Die Frage ist deshalb auch nicht, ob bei der Vermittlung historischer Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart eine Rückkehr zu dürftig bebilderten Textwüsten, Schautafeln und von griesgrämigen Wächtern gehüteten ›Nicht berühren‹-Schaukästen erwägenswert sind. Die Frage ist die nach der Einsatzform der zur Verfügung stehenden Mittel zur Veranschaulichung: Wo ist die Grenze von der Lern- zur Spielebene; wo wird der edukatorische Anspruch und werden die kritischen Möglichkeiten des Geschichtstheaters dem eventkulturellen Wohlfühlfaktor geopfert, wo wird der eventkulturelle Mantel zu antidemokratischen Propagandazwecken missbraucht? Wenn die Grenze nicht zwischen traditionellem Museum und neuer Bilderwelt verläuft, dann ist es nötig etwas weiter auszuholen, sowohl in terminologischer wie in historischer Hinsicht. Terminologisch hat in die-

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sem Zusammenhang Rolf Schörken eine für den Zweck dieser Erörterung brauchbare Differenzierung vorgeschlagen. Er unterscheidet sinngemäß zwischen Rekonstruktion und Vergegenwärtigung in einem Sinn, der Paul Ricœurs Begriff der Figuration nahe steht. »Der Begriff Rekonstruktion steht für die Arbeit des wissenschaftlichen Forschers und Geschichtsschreibers. Er bezieht sich auf dessen Hauptaufgabe, also auf die möglichst irrtumsfreie Erforschung der Vergangenheit, so wie sie wirklich geschehen ist, auf dem Weg über kritische Methodenhandhabung und mit dem Ziel der Einlagerung von Einzelerkenntnissen in übergreifende Zusammenhänge. Das Präfix ›Re-‹ macht deutlich, dass hier etwas wiederhergestellt wird, das nicht vorhanden, das ›vergangen‹ ist. Der Wortbestandteil ›Konstruktion‹ weist darauf hin, dass die durch Forschungsarbeit wieder freigelegte Wirklichkeit nicht etwas Vorfindliches und, einmal erforscht, Endgültiges ist« (Schörken 1995: 11).

Der wesentliche Punkt hieran scheint das kritische Bewusstsein der eigenen Begrenzung: Rekonstruktion beinhaltet die Möglichkeit ihres Scheiterns, ihrer Ungenauigkeit der Abbildung, die, obwohl nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt, ihrer hermeneutischen Position nicht zu entfliehen vermag und aus der Kombination von begrenztem Blick und fehlendem Datenmaterial Zerrbilder rekonstruiert. Beispiele dafür gibt es genug – Teilaspekte des wilhelminisch rekonstruierten Kastells Saalburg oder auch die ganze erste Generation von Freilichtmuseumsbauten, die sich in der Rückschau als teils fehlerhaft erwiesen haben oder deren dokumentierende Aussagekraft durch die brachiale Art ihrer Translokation unwiederbringlich zerstört wurde. Die Grenzen der Rekonstruktion erkannt zu haben ist eines, sie in der Vermittlung zu reflektieren ist ein zweiter, größerer Schritt – größer, weil dieser Schritt mit dem Bedürfnis zur anschaulichen Illusionsbildung in der Vergegenwärtigungspraxis kollidiert. »Vergegenwärtigung« ist bei Schörken nicht Antithese zur »Rekonstruktion« – das Verhältnis der beiden wird überhaupt nicht klar definiert: »Vergegenwärtigende Arbeit an der Geschichte ist von der rekonstruierenden zwar nicht grundsätzlich unterschieden, hat aber andere Intentionen. Es geht darum, der Vergangenheit die Qualität einer neuen (Bewusstseins-)wirklichkeit zu geben und sie zu einem Erlebnis- oder Erfahrungsraum zu machen, in dem man sich wie in einer anderen Gegenwart aufhalten und verhalten kann« (Schörken 1995: 14).

Das ist nun ziemlich genau das, was sämtliche Formen des Geschichtstheaters in der einen oder anderen Form und mit zum Teil erheblich von-

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einander abweichenden Authentizitäts- und Qualitätsansprüchen anstreben. Die Lebensweltlichkeit einer anderen Epoche ist aber nur tentativ und mit vielen Fragezeichen rekonstruierbar; zu vergegenwärtigen ist sie vermittlungstechnisch allenfalls als Erlebniswelt – und das ist etwas anderes als Schörkens »Erlebnis- oder Erfahrungsraum«, der die einander rezeptionell nachgeordneten Momente von Erlebnis und Erfahrung vermischt. Nun sind Lebenswelt und Erlebniswelten nicht voneinander trennbar; diverse Erlebniswelten sind Teil jeder Lebensweltlichkeit. Einer der Hauptunterschiede zwischen den beiden ist aber, dass Erlebnisweltlichkeit konstruierbar ist: als Abenteuer Realität, das ich mir selbst suche, aber auch als kommerziell vorgehaltenes Angebot, als Touristenreiseziel, als Themenpark, als Second Life – einschließlich der unter diesem Namen firmierenden, gänzlich computervirtuellen Variante. Interpretiert man das Computer-Heldentum in der World of Warcraft und anderen Suggestivwelten als Reenactment ohne physischen Einsatz, legen sich zumindest Vermutungen nahe, inwiefern und warum die Attraktivität dieser Ersatz-Erlebniswelten so gestiegen sein könnte; zugleich verweist dies auf ein Problem der (Re-)Konstruktion von Erlebniswelten überhaupt. Rekonstruktion und Vergegenwärtigung beschreiben also einen Forschungs- und einen Vermittlungsansatz. Sie stellen idealerweise zwei Komponenten innerhalb eines Prozesses von der Wissensschöpfung bis zur Rezeption durch andere dar. Beide gibt es in selbstkritisch reflektierten Varianten, beide aber auch mit dem Zweck und als Mittel illusionistischer Ideologie, wobei politische und kommerzielle Interessen gleichermaßen hinter dem Ideologiekonstrukt stehen können. Das hat, um diesbezüglich kein Missverständnis aufkommen zu lassen, bei dieser Fragestellung ausnahmsweise einmal nichts mit der Qualität der Darstellung an sich zu tun, und mit dem Unterschied zwischen Reenactment und Museumstheater nur insofern, als die (anders motivierten) Parahistorien der Mittelaltermärkte und die publikumsöffentlichen Reenactments ein florierendes Geschäft sind und es hier um die Distanz zwischen Anschaulichkeit als Teil von Bildung im Sinne der Aufklärung einerseits und um Anschaulichkeit als sensationalistischen Selbstzweck in der Konsumentenkultur andererseits gehen soll. Die Illusionsbildung eines ›Da-Seins‹ steht in der Hochmoderne seit dem angehenden 19. Jahrhundert als Wunschvorstellung hinter Zeitreiseromanen und -filmen. Es ist deshalb auch nicht zufällig, dass seit 1876 veranschaulichende und ab 1890 sowohl bewohnbare Drei- wie dann auch bewohnte, scheinbare Vierdimensionalität der musealen Vergegenwärtigung ihren Einzug in Ausstellungen und dann auch fest verortet in Freilichtmuseen gehalten hat (vgl. de Jong 2008: 62f.). Es ging dabei

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vom Anfang her um ein typisches Format romantisierender Restauration: Das schwedische Skansen (1891), das deutsche Cloppenburg (1934) und auch niederländische und amerikanische Beispiele wie das Nederlands Openluchtmuseum Arnhem (1918) und Colonial Williamsburg (1927) waren ursprünglich in ihrem Ansatz vierdimensionierte Geschichtsmythen und völkische Leistungsschau – erlebnisweltliche Illusionen einer Vergangenheit, die mit einer deutlichen Intentionalität rekonstruiert war, aber als Wirklichkeit posierte (vgl. Andraschko 2008: 39). Freilichtmuseen, die auf dieser Basis entstanden, weisen zudem im Besucherverhalten die typische Distanz zwischen Theorie und Praxis auf: Man trifft unter den Bedingungen des Museums als erlebnisorientiertem Themenpark auf vermutet authentische Materialien und Objekte, in den Museen mit Museumstheater-Einsatz auch auf ›historische‹ Personen in ihrer vergegenwärtigten Umgebung; man sieht, wie die dadurch repräsentierten eigenen Vorfahren angeblich gelebt haben und erhält die im kulturellen Feld bereits habituell funktionalen und auf jeden Fall residual vorhandenen Geschichtsmythen bestätigt, um danach wieder in die zentralbeheizte Gegenwart zurückzukehren. Konkrete politische Intentionalität tritt in der Gegenwart in der Extremform auch in mehr oder weniger totalitären Staaten besser getarnt auf, als dies bis tief in den Kalten Krieg hinein anscheinend für notwendig gehalten wurde. Unter den Bedingungen der postindustriellen Marktgesellschaft gestalten sich (Freilicht-) Museen heute in aller Regel so, dass sie von einem historisch weniger interessierten, aber erlebnishungrigen Publikum auch als erlebnisorientierter Themenpark besucht und ›gelesen‹ werden können. Eine solche Lesart wird vereinfacht, wenn die Vergegenwärtigung aufbereiteter Vergangenheit, wie in Nordamerika noch bis vor wenigen Jahren weit verbreitet, in der Form des Personenspiels stattfindet, also als suggerierte Lebensweltlichkeit in der ersten Person Singular bzw. Plural. Konzeptionell ist dieses Format Illusionstheater – und damit dem Lehrstückeffekt entgegengewandt, weshalb z.B. Colonial Williamsburg von diesem Ansatz auch wieder abgekommen ist (vgl. Weldon/Josey 2008). Konsequenterweise sollte man von Institutionen, die nach wie vor in der Art eines historischen Illusionstheaters mit durchgehaltenem Personenspiel operieren, auch nicht als Freilichtmuseen, sondern als historische Themenparks sprechen. Die Problematik des illusionistischen Personenspiels ist auch an anderen Stellen des Geschichtstheater-Feldes sichtbar, und während die Entwicklung speziell in einigen führenden nordamerikanischen Freilichtmuseen wieder dahin zu gehen scheint, wenigstens einen Teil der Besucher zur kritischen Reflektion anzuhalten, geht im historischen Dokumentarfilm die Tendenz dazu, Reenactment für eine eigene Verwen-

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dungspraxis nachgespielter Geschichten als Filmmaterial zu adaptieren und entsprechende (Nach-)Spielszenen unkritisch wenn nicht mit bedingtem Vorsatz geschichtsverfälschend einzusetzen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Bisher war seit den 1980er Jahren als akzeptiertes Format der Fernsehdokumentation vor allem etabliert, dass historische Schauplätze, Originalbilder und Dokumente mit dem Auftritt von Wissenschaftlern und/oder Zeitzeugen kombiniert wurden, wobei der Einsatz der Zeitzeugen bereits randständig zum Bereich des Geschichtstheaters gehörig gesehen werden kann. Hinzugetreten sind in den letzten Jahren folgende, tiefer in den theatralen und damit zwangsläufig fiktionalisierenden Bereich vordringende Typformate des Geschichtstheaters: Erstens, die Kombination aus Wissenschaftlern und/oder Zeitzeugen als talking heads mit Originalbildern und Dokumenten, versetzt mit nachgedrehten historischen Szenarien mit entsprechend historisch kostümierten Figuren. Dabei ist im Hinblick auf den letzten Punkt binnenzudifferenzieren zwischen • dialogisierten Spielszenen mit Schauspielern, mit oder ohne Kommentar; • narrativem voiceover über Spielszenen mit sichtbaren Schauspielern; • narrativem voiceover über Spielszenen mit häufig gesichtslos gezeigten Figuren (oft angeworbene Reenactors). Zweitens, Doppelung der Spielebene: So ist etwa in den Terra X-Folgen zum Thema Mythos Ägypten: Im Bann des großen Ramses (ZDF, 2006)2 eine mit narrativem voiceover kommentierte Spielebene der historischen Periode des Pharaos Ramses zu sehen, die quasi-pantomimisch gespielt wird. Die ›darüber‹ liegende Ebene ist aber nicht etwa die Erzählgegenwart, sondern die wiederum historische Periode des Entdeckungsreisenden Giovanni Belzoni, der 1816 den Ramses-Tempel von Abu Simbel kartierte. Diese Ebene besteht aus dialogisierten Spielszenen und wiederum voiceover-Kommentaren. Drittens, Doppelung der Kommentarebene: In Die Schlacht von Azincourt (ARTE, 2008) erscheint die kostümierte historische Figur des Feldkaplans sowohl auf der Spielebene als Mitspieler, als auch auf einer Zwischenebene, immer noch historisch kostümiert, als Quasi-Zeitzeuge. Insofern wichtiges Quellenmaterial von diesem Kaplan auch im voiceover enthalten ist, wird dieser in seiner Formatierung als Spielfigur auf zwei Ebenen an die talking heads herangeführt;

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Dabei handelte es sich um eine Adaptation der britischen Fernsehproduktion Egypt: The Pharaoh and the Showman (BBC, 2005). 224

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umgekehrt werden durch die Aufwertung der Dokumentarfigur die eingespielten Gegenwarts-Wissenschaftler auf die Ereignisebene gezogen. Die Medien haben zwar für die hier exemplifizierten Formen der Nähe zum Spielfilm und der Verwischung der Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion den Begriff der Dokufiktion aus dem Englischen entlehnt; gleichwohl ist die Verwendung dieses Begriffs weder vorgeschrieben noch weit verbreitet. Häufiger ist die Pose als historische Dokumentation, wobei der Einsatz von Geschichtstheater-Versatzstücken Regelfall ist. Dadurch können inhaltliche Qualitäten geschaffen bzw. Umwertungen der Rekonstruktion vorgenommen werden, die z.B. im Museum so nicht akzeptabel wären. Ein Beispiel für diese Praxis ist der Beitrag Verbotene Rettung des Spiegel TV (ZDF, 2006), die filmdokumentarisch ausgespielte Geschichte eines U-Bootes, das im März 1945 mit über 50 Menschen zusätzlich zur eigenen Besatzung von Ostpreußen nach Kiel fuhr. Tatsächlich holte Kommandant Horst Willner von U 3505 seine Frau und seine einen Monat alte Tochter Ende Januar noch rechtzeitig von der wenige Tage später versenkten Wilhelm Gustloff (deren Mythos damit auch noch gleich beschworen wird) auf sein neues, noch nicht fronteinsatztaugliches Unterseeboot vom neuen Typ XXI. Als das Boot im März schließlich zu seinem ersten Einsatz auslief, kamen zu Frau und Tochter des Kommandanten noch vier junge Frauen hinzu, bei denen es sich anscheinend um Bekannte und Verwandte von Besatzungsmitgliedern handelte. In Pillau nahm das Boot dann noch ca. 50 Hitlerjungen an Bord. Von diesen 55 zusätzlichen Menschen an Bord wird in dem Film beharrlich als von den »geretteten Frauen und Kindern« geredet, im Anschluss an den postfaschistischen Mythos von der groß angelegten Flüchtlings-Rettungsaktion durch die deutsche Kriegsmarine über die Ostsee. Problematisch wird diese Erzählung durch einen Nebensatz nach ca. 15 Minuten, in dem der historisch rekonstruierbare Tatsachenkern versteckt wird: Oberleutnant Willner holte die 50 Hitlerjungen befehlsgemäß ab; diese sollten ausdrücklich durch das U-Boot ins restliche Reichsgebiet verbracht werden – wie überhaupt die nachträglich zur zivilen Rettungsak-tion verklärte Mitnahme von Flüchtlingen zu diesem Zeitpunkt noch eher Beiprodukt seegestützter Versorgungs- und Verlegungsoperationen von Truppen und Material zum Zwecke der Weiterführung des Kriegs war (vgl. Schwendemann 2002: 13). Die Tarnung dieser Tatsache erfolgt durch eine Herz-SchmerzCamouflage aus voiceover-Erzählung (die man sich als Stimme eines allwissenden Historikers zu denken hat), Dokumentarmaterial (Wochenschau- und Propagandafilme beider Seiten, Fotos), Zeitzeugeneinspielungen und eine Reihe von nachgedrehten Spielszenen. Die Zeitzeugen

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sprechen selbst, die Spielszenen im Bootsinneren folgen weitgehend dem Typus narrativer voiceover mit sichtbaren Schauspielern – zwei Mal sind kurze Wortwechsel eingespielt, mehrfach sind Befehle hörbar. Die emotionale Dichtführung des filmischen Diskurses läuft nach ca. 50 Minuten Spielzeit in einem Treffen der vorher einzeln eingespielten Zeitzeugen aus. Dabei sind die Frau und die Tochter des 1999 verstorbenen Kommandanten Willner, einer der mitgenommenen Hitlerjungen und sechs ehemalige Besatzungsmitglieder. Die persönlichen Erzählungen sind anrührend: Der Zweite Wachoffizier hat später die UrsulinenNovizin geheiratet, mit der er sich auf der Fahrt mehrfach und lange unterhalten hatte; die Tochter des Kommandanten trifft – angeblich zum ersten Mal seit 1945 – den Torpedomechaniker, der sich an Bord befehlsgemäß um sie und ihre Mutter gekümmert hatte. In Verbotene Rettung wird Geschichtstheater zur Vergegenwärtigung von etwas scheinbar gerade erst Rekonstruiertem (siehe Titel) eingesetzt. Tatsächlich war die monatelange Unterbringung von Frau und Baby des Kommandanten an Bord des U-Bootes eine Befehlsübertretung, die Mitnahme der vier jungen Frauen beim Auslaufen war es auch. Angesichts der befehlsgemäßen Übernahme von 50 Hitlerjungen fallen diese weiteren Personen aber nicht mehr entscheidend ins Gewicht, und von einer »verbotenen Rettung« zu reden, ist zumindest sehr fragwürdig. Die hier theatral eingespielte Geschichte funktioniert in der Kombination von dokumentarisierendem Spiel unter Einsatz der allwissenden Hintergrunderzählung als Ideologiemittel. Sie kaschiert in dieser Form die Ungereimtheiten des Textes, die durch emotionale Tricks überspielt werden. Zu diesen treten technische Tricks, die für die breite Masse der nicht historisch versierten Zuschauer nicht erkennbar sind. Die meisten der eingespielten Dokumentaraufnahmen zeigen nicht U 3505, ja nicht einmal ein Boot des Typs XXI, sondern Boote des wesentlich kleineren und älteren Typs VIIc. Dazu passend sind die Innenaufnahmen in dem auf dem Bavaria-Filmgelände in München für den Film Das Boot (1981) nachgebauten U-Boot-Inneren gedreht worden – ebenfalls ein VIIc Boot. Ein theatraler Geniestreich ist in diesem Zusammenhang, dass Oberleutnant Willner in den Spielszenen von seinem ihm sehr ähnlich sehenden eigenen Enkel dargestellt wird – da der Kommandant durch mehrere Fotos eingangs eingeführt wurde, erhalten die nachgedrehten ›historischen‹ Szenen damit den Charakter einer Analogie zur historischen Realität, deren Fiktionalität zunächst ohne zusätzliche Informationen nur schwer erkennbar ist. Es ist nur angemessen, dass in dieser Form nachgedrehte ›historische‹ Szenen in der Medienterminologie als Reenactment bezeichnet werden: Den Anspruch auf die Bezeichnung als Museumstheater im Sinne sowohl historisch präziser wie kritisch reflektierender Ge-

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schichtsvergegenwärtigung kann dieser Film bzw. können die darin enthaltenen Geschichtstheaterelemente nicht reklamieren. Nun ist nicht zu verhindern, dass Individuen oder auch Gruppen ihre Rollen als Geschichtstheater-Darsteller im Reenactment für private oder politisch revisionistische Ziele verwenden: Gordon Jones berichtet von dem vielfach in der Geschichtsvermittlung eingesetzten Gestus des »You won’t read this in the history books, but what really happened ...«, mit dem bei American Civil War-Reenactments in den USA ein Geschichtsmythos erzeugt wird (Jones 2007: 429). Es ist aber ein Unterschied, ob jemand individuell bei irgendeinem Reenactment seine Privatgeschichte zu verkörpern sucht, oder ob bestenfalls überholte, schlimm-stenfalls reaktionäre oder sogar faschistische Geschichtsmythen und verfälschte Fakten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit mehreren Wiederholungen laufen und sogar in Museen Auftrittsmöglichkeiten eingeräumt bekommen. In dieser Hinsicht sind bisher vor allem einige ›Germanen‹und ›Wikinger‹-Gruppen aufgefallen. Die über Jahre innerhalb der Szene geführte Diskussion explodierte im Sommer 2008, nachdem bei einer Ausstellungseröffnung in Paderborn im April ein mit der Gruppe ›Ulfhednar‹ (Wolfskämpfer) auftretender ›Germane‹ auf seinen Körper tätowierte verfassungsfeindliche Abzeichen entblößte (vgl. Stieneke 2008; Kaiser 2008; Selders/Speit 2008). Der Schaden, den die mangelhafte Qualitätskontrolle durch Verantwortliche in Museen und Medien in diesem Fall – und möglichen weiteren – für die Museumsarbeit freier Geschichtstheatergruppen bereits angerichtet hat und absehbar noch anrichten wird, ist noch nicht zu beziffern. Zurück zur eher theoretischen Diskussion: Das angemessene Verhältnis von Rekonstruktion und Vergegenwärtigung ist nicht eine Frage der Texttechnologie an sich, sondern der Rhetorik, also des Einsatzes der zur Verfügung stehenden Mittel. Der operative Wert des Geschichtstheaters errechnet sich immer aus der Summe von vier Faktoren: Fachwissen, materiell-qualitative Authentizität der Darstellung, didaktisches Konzept sowie theatrale Vermittlung und schauspielerische Fähigkeit. Das heißt, dass z.B. im Hinblick auf die Schaffung von Orientierungswissen über Lebensformen der Steinzeit Die Sendung mit der Maus (WDR/ARD, 2003) auch für Erwachsene wegen der überzeugenden Qualität des innerfilmisch reflektierten Fachwissens und der Ausstattung sowie der didaktischen Aufbereitung auf ausgespielte Szenarien verzichten kann, während die emotionalisierte TV-Soziohistorie Steinzeit: Das Experiment von Heidi Schmidt (SWR/ARD, 2007) und erst recht die FantasySteinzeiten eines Roland Emmerich (10.000 B.C., 2007) diesen Vermittlungswert nicht erreichen können. Das heißt auch: lieber reflektiertes

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Lückenwissen des in der dritten Person erzählenden Living Historian als Geschichtspräsentation als Illusionstheater in der Ich-Form. Eine Hyper-Anschaulichkeit in der darstellerischen Praxis ist nicht nur auf der Produktions- sondern auch auf der Rezeptionsseite problematisch. Die Zuschauer gewinnen keine Erkenntnisse, sondern werden unterhalten; sentimentales Illusionstheater überdeckt die kritischen Brüche der Geschichte. Das seine Geschichten solcherart vergegenwärtigende Museum verrät die begründeten Zweifel der wissenschaftlichen Rekonstruktion und wird zum Themenpark, die so operierende Wissenschaftssendung wird zum Spielfilm. Den solcherart erlebnisweltlich abgefütterten Besuchern sollten Universität, Schulen, Museen und freie Gruppen unbedingt auch weiterhin Denkanstöße für den selbständig denkenden Citoyen entgegenstellen. Die Ästhetik der Wissenschaftssendung wie auch die des Museums muss eine der intellektuellen Selbständigkeit sein und bleiben; die Zumutung der offen bleibenden Frage ist ein intellektuelles Menschenrecht.

Literatur Anderson, Jay (1984): Time Machines: The World of Living History, Nashville/TN: American Association for State and Local History. Andraschko, Frank (2008): »Wikinger, Römer und Co.: Living History in archäologischen Freilichtmuseen und ihrem weiteren Umfeld«. In: Heike Duisberg (Hg.), Living History in Freilichtmuseen: Neue Wege der Geschichtsvermittlung, Ehestorf: Förderverein des Freilichtmuseums am Kiekeberg, S. 37-54. Bayer, Angharad Sybille/Andreas Sturm (2006): »Geschichte für Herz und Verstand: Rekonstruierte Vergangenheit als Chance für lebendige Museen«. Archäologische Informationen 29.1/2, S. 63-71. Callenbach, Ernest (1990): Ecotopia, New York: Bantam. de Jong, Adriaan (2008): »Gegenstand oder Vorstellung? Erfahrungen mit Living History vor allem am Beispiel niederländischer Freilichtmuseen«. In: Jan Carstensen/Uwe Meiners/Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Living History im Museum: Möglichkeiten und Grenzen einer populären Vermittlungsform, Münster: Waxmann, S. 61-78. Die Schlacht von Azincourt (ARTE, 2. Februar 2008). Faber, Michael H. (2008): »Nur ein Spiel mit der Geschichte... Personale Geschichtsinterpretation im Rheinischen Freilichtmuseum Kommern«. In: Heike Duisberg (Hg.), Living History in Freilichtmuseen: Neue Wege der Geschichtsvermittlung, Ehestorf: Förderverein des Freilichtmuseums am Kiekeberg, S. 79-97.

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GESCHICHTSTHEATER

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WOLFGANG HOCHBRUCK

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PADDELN FÜR DIE ARCHÄOLOGIE: MIT DEM EINBAUM IN DIE STEINZEIT ERWIN KEEFER »Es ist durchaus möglich, mit dem Einbaum von Arbon nach Hornstaad am Bodensee zu fahren. Ob das jedoch in der Steinzeit jemand gemacht hat, bleibt unbewiesen«. Archäologe, spätes 20. Jahrhundert

Von Anbeginn der vermittelnden Beschäftigung mit der heimischen Urgeschichte spielte die bildliche Ausarbeitung imaginärer Lebenswelten eine große Rolle. Museen waren und sind bis heute das Medium populärer Geschichtsvermittlung dieses »Nach allem was wir wissen, könnte es so gewesen sein«. Im vorliegenden Beitrag möchte ich diesen immer auch vom jeweiligen Zeitgeist bestimmten Vermittlungsprozess am Beispiel von Einbäumen und ihren ›Paddlern‹, die den Zeitraum der letzten 130 Jahre durchmessen, erläutern. In der Gegenwart angekommen, werde ich darauf eingehen, wie sich ein Landesmuseum heute kulturvermittelnd prähistorischer Einbäume und des Publikums im frühen 21. Jahrhundert annimmt. Doch was ist ein Einbaum? Als Einstieg bietet hier das InternetLexikon Wikipedia an: »Nachen - (ahd: Nahho, germanisch Nakwa, indogermanisch Nagua) ursprünglich ein Einbaum, ein kompaktes, flaches Boot bzw. Kahn für die Binnenschifffahrt. Heute findet man Nachen nur noch in der Literatur, insbesondere in der Poesie, in der Mythologie und entsprechend auch in den Gemäldesammlungen der Kunstmuseen: ob Lohengrin oder der Fährmann zur Toteninsel, der bayerische König Ludwig oder sonst eine Märchengestalt, man benutzte Nachen statt profaner Schiffe, Boote oder Kähne...« (Wikipedia 2009).

Der Einbaum ist demnach ein profanes Gerät zur Fortbewegung im Wasser, der Nachen heute reine Poesie.1 Letztere schließt mythische Helden

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Zu ergänzen wäre, dass diese vom Einbaum als ihrer Urform abgeleitete Fortbewegungsform auch heute noch außerhalb der Poesie ganz real im 231

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wie Lohengrin mit ein, und dieser führt uns direkt in die Vorstellungswelt Richard Wagners und insbesondere zur mich immer wieder faszinierenden Ausstattung seiner Bühnenhelden (Abb. 1). Massenhaft reproduziert wurde ihr Abbild zum allgemein gültigen, ungemein populär gewordenen Bild früher deutscher Helden, mit ihrem Kopfputz aus Adlerflügeln oder Stierhörnern. Der Hörnerhelm galt lange, wenngleich nie tatsächlich archäologisch nachgewiesen, geradezu als Inbegriff des Germanentums. Und noch heute, nach 2000 Jahren, kämpfen in manchen Köpfen imaginäre Theatergermanen gegen die Legionen des Varus. Aus dem holländischen Pesse stammt der mit 8000 Jahren älteste Urahn dieser Poesie gewordenen Wassergefährte (vgl. Hein 2006). Es ist ein schlichter Einbaum aus der mittleren Steinzeit. Vermessen, holzartbestimmt und als 1:1-Modell experimentell getestet, versieht der Nachbau seit dem späten 20. Jahrhundert wieder die allen Einbäumen obliegende Aufgabe, Wasser zu verdrängen und von Menschen mittels Paddel fortbewegt zu werden (Abb. 2). Abbildung 1: Wagners Lohengrin

Quelle: Der Gralsritter Lohengrin im Nachen, dem etwas besseren Einbaum, gezogen von Gottfried, dem Schwan der Herzogin von Brabant/LMW Taubergießen rund um den Europapark bei Rust anzutreffen ist und dort dem Naturerlebnis dient. 232

PADDELN FÜR DIE ARCHÄOLOGIE

Abbildung 2: Der Einbaum von Pesse

Quelle: LMW Abbildung 3: Neuchâtel 1889

Quelle: Eine westschweizerische Pfahlbauertruppe posiert vor der Kamera/LMW Abbildung 4: Paddeln im Museum: Ende der 1920er Jahre

Quelle: Restaurierter Einbaum aus der bronzenzeitlichen Wasserburg Buchau, frühes 1. Jhd. v.Chr. Historische Postkarte des Federseemuseums Bad Buchau/LMW 233

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Das urtümliche Boot ist einer der beiden Brennpunkte unserer Betrachtung, der andere sind die Akteure im und um das Gefährt herum. Wir setzen sie hermeneutisch miteinander in Bezug, indem wir Bilder von ihnen erzeugen, und treten so mit ihnen interpretierend in Kommunikation – genauso wie mit den kulturgeschichtlich interessierten Be-trachtern, unserem Publikum, für das die meisten dieser Bildwelten erschaffen wurden. Ein Beispiel aus der Frühzeit der archäologischen Bildwelten macht dies deutlich: Aus einer alten Schweizer Postkarte schauen uns nebulöse Gestalten entgegen, die wir als Pfahlbauern und somit als Protagonisten des im späten 19. Jahrhundert ungemein virulenten Pfahlbaufiebers und seiner ›protohelvetischen‹ Attribuierung begreifen (Abb. 3). Geradezu paradigmatisch für das Genre Museum kann die didaktische Museumspostkarte aus den späten 1920er Jahren gelten: Ein Einbaum aus dem Federseegebiet, unlängst ausgegraben und nun restauriert im Ausstellungsraum zu bewundern, besetzt mit einer Person in dienender Haltung, die sowohl die Länge des Boots verdeutlicht als auch die Methode, es sitzend fortzubewegen (Abb. 4). Lebensbilder mit prähistorisierendem oder auch antikisierendem Inhalt haben bis heute ihre Faszination bewahrt. Ein aktuelles Beispiel, auf das später noch genauer eingegangen wird, ist ein Reenactment mit zwei unerschrockenen Reisenden in jungsteinzeitlicher Fantasiewelt sowie wahrhaftigem Einbaum-Untergang, letzteres geradezu eine Schlüsselszene zum Verständnis der 2007 unter dem Label Living Science ausgestrahlten ARD-Sendung Steinzeit: Das Experiment. Leben vor 5000 Jahren (SWR/ARD, 2007).2

Das Medium Museum Doch was wäre selbst das ›prähistorische Dokudrama‹ – geschweige denn seine Vorgänger – ohne wissenschaftliche Legitimation? Die Einbindungen der besten Fachleute an den ›historischen Tatorten‹ wie Bodensee und Alpen samt Passwegen, ein von ausgewiesenen Experten verfasstes Begleitbuch (Schlenker/Bick 2007) sowie eine dazu angebotene Wanderausstellung machten den ›Wissenscontainer‹ des TV-SteinzeitExperiments zu einer für den Konsumenten überaus glaubhaft inszenierten Welt, in der Menschen wie du und ich zum Ergötzen der Zuschauer mehr oder wenig seriös über die Runden kommen mussten. Steinzeit: Das Experiment zeigte aber auch, dass im populären Bereich das archäologische oder auch ganz generell das kulturgeschichtliche Museum der

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Vgl. zu dieser Sendung auch die offizielle Webseite des SWR: http://www. swr.de/steinzeit/html/DAS_EXPERIMENT.html (Zugriff am 3. März 2009). 234

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nach wie vor unverzichtbare Lieferant ›wahrer‹, da offensichtlich wissenschaftlich fundierter Bildwelten des nicht mehr Gebräuchlichen und Versunkenen ist. Museumsarchäologen und -pädagogen, Archäotechnikern und weiteren Spezialisten aus der Schnittmenge von Museum, Denkmalpflege und Universität wird geglaubt. Sie schafften im Kontext der Sendung das nötige Vertrauen in die Seriosität des dargebotenen Steinzeit-Features, gaben ihm die nötige wissenschaftliche Legitimation. Das Museum generiert mit seinen Sammlungen und Sonderausstellungen auf die ihm eigene Art Geschichte. Es ist die Anlaufstelle für das Original. Seine Stärke sind ganz grundsätzlich seine Sammlungen von Originalobjekten, wie zum Beispiel ein Stück vorgeschichtliches Paddel samt Einbaum. Zu den weiteren Grundbedingungen der legitimierten Schaffung und Verbreitung imaginär-historischer Lebenswelten gehören die mit den Dingen beschäftigten Fachleute und eben das Museumspublikum. Aber wie populär (im Sinne von gut frequentiert) und glaubwürdig (im Sinne von Wissenschaftsvermittlung) ist das Museum heute noch? Wie effizient setzt es die ihm zur Verfügung gestellten Mittel ein, und mit welchem Impetus geschieht dies? Diesen Fragen soll im Folgenden am Beispiel des Landesmuseums Württemberg (LMW) in Stuttgart, an dem ich arbeite, nachgegangen werden. Es ist ein Mehrspartenhaus mit ca. 140 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Aus Sammeln, Forschen, Bewahren und Präsentieren bestehen die großen im ICOM-Code of Ethics beschriebenen Grundsätze der Museumsarbeit (ICOM 2003), ergänzt um die vom Deutschen Museumsbund und der ICOM Deutschland gemeinsam herausgegebenen Standards für Museen (Deutscher Museumsbund/ICOM 2006). Sie verpflichten zur fachgerechten Bearbeitung aller Bestände auf der Grundlage von Inventarisation, Dokumentation und Bestandserhalt. Die wissenschaftlich fundierte Vermittlungsarbeit gründet darauf, dass die Objekte und ihre Zusammenhänge kontinuierlich erforscht werden. Das Leitbild des LMW bemerkt zur Ausstellungskultur und damit zur Vermittlung der historischen Bestände: »Als Ort lebenslangen Lernens erfüllt das LMW einen elementaren Bildungsauftrag. Daraus leitet sich ein breites Spektrum pädagogisch fundierter Vermittlungstätigkeiten ab. Zu den zentralen Aufgaben zählen die Vermittlung eines facettenreichen Kultur- und Geschichtsbildes, das auf eigenen Sammlungen basiert und in den europäischen Kontext eingebettet wird. Die Schausammlung zeigt einen ausgewählten Querschnitt der eigenen Bestände, deren Präsentation dem Anspruch gerecht wird, sich an den Bedürfnissen der Besucher zu orientieren. Um die ausgestellten Inhalte zu vertiefen, werden unterstützend Medien eingesetzt. In Wechselausstellungen sollen Themen von wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Interesse aufgegriffen werden. Sie nehmen zeitgenössi235

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sche Tendenzen und Strömungen auf, setzen eigene Akzente und zeigen Aktualität und Relevanz der jeweiligen Forschung« (LMW 2007).

Seit dem 1. Januar 2008 Landesbetrieb, besitzt das LMW nun eine Betriebsform, die deutlich kommerziellere Form des Wirtschaftens mit Kultur angenommen hat. Man verfügt jetzt über ein Globalbudget und eine recht selbständige Mittelbewirtschaftung. Wirtschaftlichkeit steht oben an, ist doch die Effizienzrendite ein entscheidendes betriebswirtschaftliches Kriterium dieses Konzepts. Dabei folgt das Museum nicht der Beliebigkeit, sondern einer ausgearbeiteten inhaltlichen Linie, die in seinem Leitbild festgehalten ist: »Das LMW engagiert sich dafür, den zu erwirtschaftenden Eigenanteil zu erhöhen und geht Kooperationen mit externen Partnern ein. Es gewinnt Sponsoren, Förderer und Stifter und bemüht sich um bürgerschaftliches Engagement« (LMW 2007).

Primäres Ziel des Museums ist demnach die Bewahrung und Präsentation der Kulturgeschichte des Landes von den Anfängen menschlicher Kulturäußerungen in der Altsteinzeit bis heute. Das Gesamtunternehmen setzt verstärkt auf die öffentliche Wahrnehmung seiner Dauer- und Sonderausstellungen sowie seiner sonstigen kulturellen Aktivitäten. Um ein Optimum an Rückflüssen öffentlicher Aufmerksamkeit (wie Medienresonanz, Politikerstatements, Drittmittelaquise etc.) zu erlangen, wird zunehmend auf Marketingkompetenzen gesetzt, die mit den Mitteln der Marktforschung die als zukunftsträchtig erkannten Felder beackern. Das LMW ist so gesehen ein Unternehmen in Sachen Kulturschöpfung und -vermittlung, dessen Ressourcen aus den Dingen und den Leistungen der damit beschäftigten Wissenschaftler sowie den von ihnen kreierten Produkten bestehen. Deren Marktreife steuert das Museum, so dass ein spezifisches Produkt entsteht, mit dem Popularität, Identität und natürlich auch Einnahmen erwirtschaftet werden (Abb. 5). Professionell gestaltete Inszenierungen zu Kultur, Geschichte und Prähistorie werden also immer wichtiger (vgl. auch Holtorf 2005). Unterhaltung stellt dabei ein grundlegendes und ernst zu nehmendes Kriterium dar. Gute Unterhaltung erfordert immer und gerade auch im Bereich der Wissenschaftsvermittlung ein gutes Drehbuch sowie finanzielle Mittel für eine professionelle Gestaltung.3 3

Ein gelungenes Beispiel hierfür stellt zweifellos unsere im April 2008 zu Ende gegangene Große Landesausstellung »Ägyptische Mumien: Unsterblichkeit im Land der Pharaonen« dar, die mit über 220.000 Besuchern sehr erfolgreich war. Gleiches gilt für den Neufund eines der ältesten Kunst236

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Abbildung 5: Das Landesmuseum Württemberg in Stuttgart (LMW)

Quelle: Das Leitbild des LMW assoziiert lebendige Kulturvermittlung in historischem Ambiente. Nicht fehlen dürfen dabei Archäotechnik und Einbaum/LMW Inwieweit die neue Betriebsform der Staatlichen Museen als Landesbetrieb nun auch spürbar und messbar eine Neuausrichtung hinsichtlich der Inhalte von Wissenschaft, deren Vermittlung, der Sammlungsstrategien und des Marketings mit sich bringt, wie demnach künftig Bild- und Lebenswelten als historische Aussage konstruiert werden, muss die Zukunft zeigen. Wir sind hier noch ganz am Beginn. Heftig diskutiert wird, wie sich die Kommunikation mit dem Publikum entwickeln wird (vgl. Kaufmann 2008); Raum für Evaluationen ist hier reichlich vorhanden.

Bildwelten aus 130 Jahren Kehren wir an dieser Stelle vom Paddeln im Bedeutungsmeer zurück ins Boot der spezifischen Vermittlungsarbeit im Museum und damit zum Einbaum als Objekt einer museal-medialen Zeitreise. Dass ich mich für meinen Beitrag in dieses schwankende Gefährt gesetzt habe, es als Kulturvermittlungsobjekt in Bezug zum Forschungsprojekt bringe und es hierfür auch als wirklich gut geeignet betrachte, liegt daran, dass diese Mutter aller Boote mich immer wieder in der Vermittlung beschäftigt werke der Menschheit, eine kleine Schnitzerei aus der Vogelherd-Höhle auf der Schwäbischen Alb. Das Mammut, das ebenfalls 2008 für vier Tage bei uns zu Gast war, zog 11.000 Besucher an. 237

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hat. Vor allem ist der Einbaum ideologisch durchweg unverdächtig geblieben, kann weder Kelten noch Germanen oder Slawen exklusiv zugeordnet werden. Unter Luftabschluss gehalten, überdauert Holz Jahrtausende, und so ist der Einbaum auch ein nicht gerade seltenes Fundgut. Allein vom oberschwäbischen Federsee sind über 60 derartige vorgeschichtliche Bootsreste bekannt. Abbildung 6: Liebigsches Sammelbild

Quelle: Das Sammelbild von Liebig zeigt ein Pfahlbaudorf in einem der Schweizer Voralpenseen, von rechts nähert sich ein Einbaum. Die Darstellung ist typisch für die Vorstellung dieser prähistorischen, ›prohelvetischen‹ Lebenswelt/LMW Abbildung 7: Der Pfahlbauer im Einbaum

Quelle: Bandi/Zimmermann 1980 Die aufgrund anaerober Lagerung überlieferte Informationsfülle über organische Funde, vom Samenkorn bis hin zum Pfahlbau, hat seit den ersten Entdeckungen zu einer stark naturwissenschaftlich-anthropologischen 238

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wie auch ethnographischen Komponente der Pfahlbauforschung geführt. Man interessierte sich also schon früh für Ernährung, das Werden von Kulturlandschaften, die Form und Funktion der Behausungen oder die Soziologie ihrer Bewohner. Ein gern genutztes Moment der Interpretation bestand im Konstruieren formaler Analogien auf Basis ethnographischer Vorlagen. So stellen die Vorstellungen über die Behausungen der edlen Protohelveter im Kern nichts anderes dar als kreative Blaupausen der Skizzen von Entdeckungsreisenden zu den lakustren Regionen Südostasiens (vgl. Bandi/Zimmermann 1980). Solche ›Pfahlbauten‹ als Inbegriff einer durchaus real gedachten urgeschichtlichen Epoche fanden sich geradezu standardisiert alsbald in Gemälden, als Tischmodelle in ersten Ausstellungen, auf Themenwagen bei Umzügen und nahezu lebensgroß in Freilichtanlagen. Den Beginn macht ein Sammelbild von Liebig (Abb. 6). Es zeigt den Pfahlbau, bestehend aus Plattform und unterschiedlich konstruierten Hütten: Der von rechts kommende Einbaum ist notwendiges Attribut des in der Vorstellung des späten 19. Jahrhunderts wassergebundenen Pfahlbaus. Zwischen subtropisch-lasziver und verklärter Kulisse bewegen sich weitere Beispiele aus dieser Zeit. Schließlich nimmt der Einbaum – oder ist er hier schon fast mythologisch ein Nachen? – das gesamte Bild ein, in dem uns der herkulische, hörnerhelmbewehrte Pfahlbauer seine Jagdbeute im überladenen Boot stolz und wild präsentiert (Abb. 7). Abbildung 8: Pfahlbauten in Unteruhldingen am Bodensee

Quelle: Bereits in den 1920er Jahren entstanden erste Reenactments für Filmaufnahmen/LMW 239

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Mit Beginn der 1920er Jahre begann sich hierzulande die Ur- und Frühgeschichte in größerem Maße als eigenständig forschende Disziplin in den Kulturwissenschaften universitär zu etablieren; sie wurde ›professionalisiert‹. Das Freilichtmuseum in Unteruhldingen am Bodensee wurde 1922 (zunächst als Verein für Pfahlbau und Heimatkunde) gegründet; in Verbindung mit dem Urgeschichtlichen Institut in Tübingen konnte es vielversprechende interdisziplinäre Forschungsergebnisse aufweisen. Die Popularisierung im Museum ging Hand in Hand mit ersten Marketingansätzen. Der Archäo-Tourismus boomte, die fiktiven Unteruhldinger Pfahlbauplattformen mit Häusern aus den Grabungen des Federseerieds wurden zum Renner und zum Muss der Bodenseeurlauber. Die planende und bauende Firma des Tübinger Urgeschichtlichen Forschungsinstituts (UFI) besaß nicht nur eine eigene Modellwerkstatt, sie gab auch Postkartenhefte und Lichtbilder heraus. Motive waren die Pfahlbauhäuser und ihre Interieurs, oft belebt mit ›Steinzeitmenschen‹, die Brot buken, Silex schlugen, mit der Steinaxt hantierten, am Gewichtswebstuhl Textilien fertigten oder eben im Einbaum auf einen Schwatz bei den Pfahlbaunachbarn vorbeischauten (Abb. 8). Die Vorführung der scheinbar authentischen urzeitlichen Geräte, generell der vor- und frühgeschichtlichen Technologie, spielte dabei bereits eine große Rolle und vermittelte sehr glaubwürdig Authentizität (vgl. Schöbel 2001 und 2008). Zumindest aus der archäologischen Warte finden sich am Bodensee auch erstmalig von Experten entworfene Dokumentationen über eine vorfilmische, vorschriftliche Zeit im Massenmedium Film. Mit diesen Pioniertaten war ein entscheidender didaktischer Schritt gelungen: Die Prähistorie wandte sich mit eigenen Bildern, die sie aus eigenen Forschungsunternehmungen ableitete, an die große Öffentlichkeit. Die Visualisierungen – und mit ihnen auch das Gedankengut der Zeit – fanden schnell Eingang in die Schulbücher. Dort setzten sie sich als Stereotype bis weit in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts fest und prägten bei Generationen von Schülern eine Vorstellung von den Bodensee-Pfahlbauten. Nur wenige Jahre nach diesem Aufbruch in der Weimarer Zeit erfolgte der Zugriff der nationalsozialistischen Ideologie. Unser Einbaum entzog sich dem zum größten Teil; er taugt nicht zum arischen HerrenGefährt, und so gibt es wenig über ihn aus dieser Zeit zu berichten. Einbaum bleibt Einbaum – das galt aber auch für die Nachkriegsjahrzehnte, in denen zumindest im Museum rein gar nichts mehr auf der Agenda des zu Bewegenden stand. Mit kulturgeschichtlichen Interpretationen und Handlungsangeboten hielt sich das archäologische Museum von den 1950er bis weit in die 70er Jahre bekanntermaßen sehr zurück (vgl. Keefer 2006).

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Vom Lernort zum Wirtschaftsfaktor Erst vor knapp drei Jahrzehnten löste sich das bundesdeutsche Nachkriegsmuseum aus seiner positivistischen Starre und versuchte sich erneut an Lebensbildern, an Modellen und Rekonstruktionen. Nun setzte nicht zuletzt aufgrund des immens angewachsenen Forschungsstands, neuer Methoden und nachbarwissenschaftlicher Öffnungen eine Quellenkritik ein. Damit verbunden wurden konkrete Anforderungen der Öffentlichkeit an Relevanz und Legitimität der kulturwissenschaftlichen Forschung. Hierbei wurde erstmals auch der Sinn von Darstellung und Vermittlung hinterfragt und fanden erste wissenschaftlich fundierte Besucherbefragungen statt (vgl. Klein 1990). Das führte zu einer Wandlung hin zu Publikumsöffnung und damit einhergehend zur Handlungsorientierung im Museum.4 Doch erst 1990 fand in Oldenburg eine diesen Wandel dokumentierende, epochenmachende Ausstellung statt: Schlicht »Experimentelle Archäologie« genannt, sollte die von Mamoun Fansa verantwortete Schau 14 Jahre lang durch die Republik touren (vgl. Fansa 1990). Sie schlug mehr als eine halbe Million Besucher in ihren Bann. Ähnliches geschah im selben Jahr in Zürich: »Pfahlbauland« erinnerte an die lange Tradition der Schweizer Pfahlbauforschung; am Ufer des Zürichsees entstanden urgeschichtliche Häuser, in denen modellhaft Szenen urgeschichtlichen Lebens und Wirkens nachgestellt wurden. Bewusst nahm man Bezug zur früherer Forschung und traute sich auch erstmals wieder in großem Maßstab an die lange gemiedenen, emotionalen Bilder, die vieles von dem vorwegnahmen, was danach in Museen und Freilichtanlagen zur ständigen Einrichtung gehören sollte (Abb. 9). War dabei noch vor wenigen Jahren Konsens, dass das Maß des erzielten Bildungseffekts im ›Lernort Museum‹ entscheidend sei, spielt heute für die Bewertung des Erfolgs und damit sicher auch der Popularität eindeutig die Anzahl der Besucher die entscheidende Rolle. Marketing und Kulturvermittlung stehen im Vordergrund der Bemühungen. So müssen die beiden Pole Bildung und Unterhaltung gekonnt und profund miteinander verbunden werden. Die Aufgabe des Kurators, Archäotechnikers, Pädagogen und Teamers besteht also darin, Kulturwissenschaft lebendig zu formulieren und kommunizieren, wie auch darin, als erfolgreicher Anbieter im Pool der um die Gäste kämpfenden Freizeitindustrie zu bestehen (vgl. Keefer 2005; Hein 2000). Kein Geheimnis ist, dass dabei das Budget allzu häufig die Qualität bestimmt. Wo kein ausgebildetes Personal, kein Team unter einer fachlichen Leitung vorhanden ist, können weder Inhalte noch die Programmatik blühen.

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Zu einer solchen Entwicklung vgl. bereits Coles (1976). 241

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Abbildung 9: Pfahlbauland Zürich 1990

Quelle: Hier ein bezeichnendes Bild, das eine ›Steinzeitsippe‹ vor ihrem Anwesen zeigt/LMW Einst angetreten gegen Stereotype und Vorurteile, begibt sich die Lebendige Archäologie mancherorts durch Unterfinanzierung und den damit verbundenen Mangel an ausgebildetem Personal in eine unbedachte ›Wiederkehr des Immergleichen‹. Sehr real erwächst hieraus die Gefahr einer Vulgarisierung der wissenschaftlich erarbeiteten Fakten bis hin zur Unkenntlichkeit. Eine erfundene Vergangenheit ist die Folge davon. Damit meine ich aber nicht die bewusst konstruierten Szenarien der Freizeitparks, die als solche erkennbar sind. Ihr Anspruch auf möglichst gut gelungene seichte Entspannung und Urlaubsstimmung nutzt dort, wo es sinnvoll scheint, die Archäologie als Kulisse – und auch hier finden wir wieder den Einbaum, diesmal als Wasserrutschengefährt, das durch einen griechischen Tempel rauscht (Abb. 10). Abbildung 10: Europa-Park Rust

Quelle: Wasserrutsche durch einen griechischen Tempel/LMW 242

PADDELN FÜR DIE ARCHÄOLOGIE

Abbildung 11: Einladung zum Pressegespräch

Quelle: LMW

Der Stuttgarter Archäologiesommer 2007 In der Gegenwart und damit im Alltag der kulturgeschichtlichen Authentizitätsfiktionen angekommen, ›paddeln‹ nun auch wir im LMW um die Gunst des Publikums. Bei den im Jahr 2007 begonnenen Aktionen blieb es nicht bei Trockenübungen. Sie verdeutlichen über die konkreten Projektinhalte hinaus ein Spektrum von Möglichkeiten des Mediums Museum, Archäologie populär und lebendig zu vermitteln. Der vom 15. Juni bis 22. Juli 2007 durchgeführte Archäologiesommer im Stuttgarter Alten Schloss hatte das Motto: »Erlebe die Steinzeit: Komm mit in die Welt vor 5000 Jahren« (Abb. 11). Das war durchaus wörtlich gemeint, kamen diese sieben Wochen schließlich aufgrund der eingangs erwähnten ARDSendung Steinzeit: Das Experiment zustande. Begleitend hatten nämlich Landesdenkmalamt und Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg eine Wanderausstellung zusammengestellt, die von insgesamt 18 Museen gebucht wurde (vgl. Heumüller 2008). Einerseits als Werbung für das Feature gedacht und entsprechend mit Monitoren ausgestattet, auf denen sowohl Steinzeit: Das Experiment als auch die hierzu geschaffene, sehr erfolgreiche und exzellent komponierte Kindersendung Die Steinzeitkinder (SWR, 2007) liefen, waren diese Erläuterungen andererseits auch als Nachbereitung des Filmplots zu verstehen. Grundlegende Fakten wurden fachspezifisch in Grafik und Didaktik vertieft und dabei die wichtigsten jungsteinzeitlichen Kulturerscheinungen Südwestdeutschlands erklärt. Die Ausstellung im LMW hat diesen Steinzeitthemen zusätzlich das Heute gegenübergestellt: So konnten von den kleinen und großen Besuchern die unterschiedlichen Lebenswelten direkt am Objekt abgefragt werden. Das betraf vor allem andere Kleidung (heutiges 243

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Outdoor-Outfit vs. Ötzis Ausrüstung), Ernährung (Essen ohne Amerika), Handwerk und Technik (Akkuschrauber vs. Silexbohrer, Stahläxte vs. Steinbeile). Ein Spezifikum des LMW bestand darin, die herausragenden Originalfunde in der Dauerausstellung zur Steinzeit mit in das Angebot einzubeziehen. Ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Authentizität des Dargebotenen war die Folge. Ebenfalls nur im Landesmuseum fand an sechs Wochenenden während der Ausstellung ein erlebnis- und besucherorientiertes Programm zu Handwerk und Technik der Jungsteinzeit statt. Die wechselnden Themen bezogen sich u.a. auf Feuermachen mit steinzeitlichen Mitteln, Kuppelofenbau und -betrieb, Eintopfkochen und -kosten, Bogenbau, Töpfern oder Kupferguss. Als roter Faden diente der Bau eines Einbaums (Abb. 12):5 Was man am Anfang auf einem Tieflader als mehr als acht Meter langen Pappelstamm in den Schlosshof bugsiert hatte, wurde am Schluss als schlanker eleganter Einbaum – präziser als Fiktion eines prähistorischen Einbaums – zur Schiffstaufe an den Stuttgarter Max-Eyth-See gefahren, wo dann auch die erfolgreiche Jungfernfahrt stattfand. Vertrauend auf die Einschätzung, dass die an Pfingsten 2007 erstausgestrahlte Staffel von Steinzeit: Das Experiment ein Erfolg werden würde,6 der auch uns zugute kommen müsste, hatten wir uns im Museum für diesen Mix aus klassischem Museumsangebot und Erlebnisorientierung entschieden. Hierfür standen Begriffe wie ›Experiment‹, ›Steinzeit‹, ›Mitmachen‹, ›Sehen-Fühlen-Riechen‹, ›Live dabei‹. Mit diesen Themenpark-Schlagworten und ihren suggestiven Sinnzusammenhängen war im LMW aber auch die museumsspezifische Zielsetzung anvisiert, Lust auf Prähistorie als Teil unseres kulturgeschichtlichen Auftrags zu machen. Im eigentlichen Ausstellungsbereich wurde dies mit museumspädagogischen Projekten, Vorführungen und Führungen erreicht – überwie-

5

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Vgl. »Erlebe die Steinzeit: Komm mit in die Welt vor 5000 Jahren« (http://www.buehler-hd.de/landeskunde/rhein/geschichte/urundfrueg/steinz/ erleben/index.htm. Zugriff am 3. März 2009). Das in insgesamt vier Folgen ausgestrahlte Living Science-Format hatte, wie wir für unser Projekt erhofft hatten, einen guten Start, ließ aber ab der zweiten Folge an Attraktivität nach. Die Serie hatte in der letzten Folge trotz eines Verlustes von 900.000 Zuschauern immerhin noch einen beachtlichen Marktanteil von 8,0 Prozent, was 2,34 Mio. Zuschauern entsprach. Laut Mediadienst hatte die erste Folge der Erstausstrahlung in der ARD eine Quote von 12,5 Prozent, die zweite noch 8,8 Prozent, die dritte 8,2 Prozent. Bei der Kindersendung Die Steinzeitkinder verhielt es sich gerade umgekehrt: Die erste Folge hatte 7,4 Prozent, die zweite Folge 10,7 Prozent und die dritte und letzte dann 12,0 Prozent Marktanteil, d.h. insgesamt 9,79 Mio. Zuschauer. 244

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gend für die Zielgruppe aller Schularten und Kindergärten sowie Familien mit Kindern. Ebenso waren die Themenwochenenden gekennzeichnet durch sehr positiv beurteilte archäotechnische Vorführungen, die teilweise mit Rula, ›unserem Mann aus der Steinzeit‹, als Reenactments ausgestaltet wurden (Abb.13). Es gab Mitmach-Ermunterungen und intensive Gespräche durch hierfür geschulte Mitarbeiter. Durch die Faszination eines offenen Feuers, den Geruch und Geschmack frischer Fladen und eines Eintopfs, die Verwandlung von heller Birkenrinde in würzig riechendes schwarzes Pech oder den Lärmpegel der Steinbeile beim Einbaumbau erlebten die meisten Besucher eine für sie völlig ungewohnte sinnliche Wahrnehmung. »Erlebe die Steinzeit: Komm mit in die Welt vor 5000 Jahren« kennzeichnete dabei eine klar definierte Produktpalette. Hierbei stellten die Wochenendaktionen geradezu klassische Transferprojekte dar, die das Publikum neugierig auf Prähistorisches machen sollten. Abbildung 12:Einbaumbau 2007

Quelle: Im Hof des Alten Schlosses in Stuttgart, dem Sitz des Landesmuseums Württemberg/LMW

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Abbildung 13: Stuttgarter Archäologiesommer 2007 (LMW)

Quelle: Rula, der Besucher aus der Steinzeit, wunderte sich über die seltsam gekleideten Leute. Im Gespräch mit ihnen wurden die unterschiedlichen Lebenswelten deutlich – ein Versuch, selbstreflexive Anschauung zu erzielen/LMW Die Ausarbeitung prähistorischer Szenarien, das Generieren damaliger Lebenswirklichkeiten war vom Publikumsinteresse her im populärwissenschaftlich-kulturvermittelnden Sinne eine sehr erfolgreiche Angelegenheit. Zudem wurde durch Familien mit Kindern bis zwölf Jahren eine sonst im kulturgeschichtlichen Museum nicht gerade üppig vertretene Zielgruppe erreicht. Dennoch erfüllte das Projekt im Sinne von wirtschaftlichem Erfolg und Erreichen eines Massenpublikums nicht die ursprünglichen Erwartungen, die wir uns durch die Verknüpfung und Bewerbung unseres Archäologiesommers mit dem Living Science-Format der ARD erhofft hatten. Die Besucherzahlen bewegten sich mit insgesamt 8.871 gezählten Personen (in sieben Wochen) im üblichen Bereich derartiger Veranstaltungen.7 Da sich aber entgegen unserer ursprünglichen Einschätzung kaum zusätzliches Publikum aus den Fernsehzuschauern rekrutieren ließ, brachten die Erlöse lediglich einen Rückfluss von 15 Prozent der investierten Summe. Eine für uns positive Wechsel-

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Unter der Woche wurden Führungen und museumspädagogische Angebote an Kindergärten oder Schulen vermittelt. Gezählt wurden dabei knapp 1.000 Kinder und Jugendliche in 57 Führungen und 38 Projekten. An den sechs Erlebniswochenenden kamen 2.400 Besucher ins Landesmuseum. 246

PADDELN FÜR DIE ARCHÄOLOGIE

wirkung von medialem Erlebnis und Museumsangebot war demzufolge nicht herzustellen und bei unseren Besuchern nicht abfragbar.

Werden sie es schaffen? Offensichtlich folgt das Living Science-Format anderen Zielen, Mechanismen und Dramaturgien als ein von uns gesteuertes Museumsevent. Das möchte ich am Beispiel des anfangs erwähnten Einbaums und seiner in der historischen Dokusoap Steinzeit: Das Experiment durchgeführten, etwas seltsamen Fahrt auf dem Bodensee deutlich machen. Ein Boot aus dem Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, mit geringem Tiefgang, relativ schwer und ungelenk in der Steuerung, musste bei Schlechtwetter schwerstbeladen auf den Bodensee, damit die beiden Alpenüberquerer schnell weiter kommen konnten. Kein glaubwürdiges Szenario für das Medium Museum, den Archäotechniker, Schifffahrtsexperten oder Seewetterdienst – aber ein wunderbarer Plot für die Dramaturgen der DokuSoap. Hoffnung, Daumendrücken, Enttäuschung und Frust, Verzweiflung ebenso wie Momente des Glücks und Erfolgs sind der Stoff, aus dem die Sendungen gemacht sind: Dies zeigt auch der Kommentar des Sprechers aus dem Off: »Werden Henning und Ingo es schaffen? Die Bewährungsprobe steht ihnen noch bevor«. Natürlich sank ihr Einbaum vor laufender Kamera. In der Steinzeit wäre bei diesem ›Sauwetter‹ auch keiner rausgefahren, erst recht nicht mit einem derart tiefliegenden, schweren und etwas plump wirkenden Untersatz. Das ist gute Unterhaltung mit einer ordentlichen Dramaturgie im Medium Fernsehen. Als glaubhaftes Bild eines »So könnte es damals wohl gewesen sein« taugt es dagegen nicht. Museumsaktionen basieren dagegen auf einer dem Bildungsanspruch genügenden pädagogischen Form und wissenschaftlichen Grundlage (vgl. Hein 2006). Interessant wäre nun zu evaluieren, inwieweit es Schnittmengen gibt zwischen dem eigenen, unmittelbar mit Entdeckung und Begreifen verbundenen Erleben während eines besucherorientierten Museumserlebnisses und dem im Medium TV dargebotenen Living Science-Format. Ist das Medium TV tatsächlich in der Lage, den mit dem Begriff Living Science verbundenen Anspruch, Wissen zu vermitteln, einzulösen? Führt dieses medial erworbene, als solches rezipierte Grundwissen beim neugierig gewordenen Zuschauer dazu, vertiefende weiterführende Angebote, wie sie z.B. ein Museum vorweist, anzunehmen? Welche Bilder bleiben haften und was wird damit verbunden? Unterscheidet sich das Profil der Zuschauer von dem der Museumsbesucher? Und andere Fragen mehr.

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ERWIN KEEFER

Abbildung 14: Schüleraktion: Steinzeit: Forschen und Erleben 2007 (LMW/Stuttgarter Jugendhaus Gesellschaft)

Quelle: Ende des Archäologiesommers 2007: Der Einbaum schwimmt auf dem Max-Eyth-See. Doch auch in Zukunft wird er hier in gemeinsamen Programmen des LMW und der Stuttgarter Jugendhaus GmbH von Nutzen sein/LMW

Das andere Format: Ab ins Wasser mit der 5. Klasse Hauptschule Vom 14. bis 17. Juli 2008 fand eine Schüleraktion mit Einbaum statt. Was wie eine Klassenfahrt klingt, war ein sehr innovatives Projekt, um den oft als langweilig abqualifizierten Museumsbesuch zu einem attraktiven Geschichtserlebnis werden zu lassen. Dies zeigt schon die Trägerschaft durch zwei Institutionen, die zuvor aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausrichtung in Museums- bzw. Erlebnispädagogik noch nicht zusammengearbeitet hatten: LMW und Stuttgarter Jugendhaus-Gesellschaft. Das Projekt »Steinzeit: Forschen und Erleben« verband so das klassische einstündige Museumsprojekt (»Steinzeit zum Anfassen im Museum«) mit einer erlebnisorientierten Reise in die Steinzeit. Der Neugierde, Gruppenerlebnis wie auch technisches Geschick fördernde Projekttag bestand nach dem von einem Archäotechniker handlungsorientiert gestalteten Museumsbesuch am Max-Eith-See aus Aktionen wie Einbaum fahren, Eintopf kosten, eine Flechtwerkwand mit Lehm verputzen, Steinschmuck herstellen oder Feuersteinmesser kleben. Der Transfer vom Heute in die Vergangenheit fand – wie könnte es auch anders sein – 248

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mit dem Einbaum über den See statt (Abb. 14). Es hat sich gezeigt, dass derartige Entwurfsangebote von prähistorischen Lebenswelten als Unterrichtsmodell nicht gerade zum Gängigen gehören. Das Thema ist meist unbekannt und Vorwissen darüber nicht vorhanden. Der überaus positive Verlauf dieser Schulwoche mit an jedem Tag wechselnder Klasse hat jedoch sowohl das LMW wie die Jugendhaus-Gesellschaft veranlasst, das Programm 2009 wieder aufzulegen.

Literatur Bandi, Hans-Georg/Karl Zimmermann (1980): Pfahlbauromantik des 19. Jahrhunderts, Zürich: Historisch-Archäologischer Verlag. Coles, John (1976): Erlebte Steinzeit: Experimentelle Archäologie, München: Bertelsmann. Deutscher Museumsbund e.V./ICOM-Deutschland (Hg.) (2006): Standards für Museen, Berlin: Deutscher Museumsbund. Fansa, Mamoun (Hg.) (1990): Experimentelle Archäologie in Deutschland: Begleitschrift zu einer Ausstellung des Staatlichen Museums für Naturkunde und Vorgeschichte Oldenburg, Oldenburg: Isensee. Hein, Wulf (2000): »›Es recht zu machen jedermann...‹: Archäo-Technik zwischen Authentizität und Machbarkeit am Beispiel eines Hausmodellbaus«. In: Rüdiger Kelm (Hg.), Vom Pfostenloch zum Steinzeithaus: Archäologische Forschung und Rekonstruktion jungsteinzeitlicher Haus- und Siedlungsbefunde im nordwestlichen Mitteleuropa, Heide: Boyens, S. 177-185. Hein, Wulf (2006): »Abenteuer Einbaum: Experimentelle Bootsfahrt auf der sommerlichen Donau«. In: Erwin Keefer (Hg.), Lebendige Vergangenheit: Vom archäologischen Experiment zur Zeitreise, Stuttgart: Theiss, S. 46-51. Heumüller, Marion (2008): »18x Steinzeit: Rückblick auf die Begleitausstellung zur Fernsehdokumentation Steinzeit: Das Experiment: Leben wie vor 5000 Jahren«. Denkmalpflege in Baden-Württemberg 4, S. 216-220. Holtorf, Cornelius (2005): From Stonehenge to Las Vegas: Archaeology as Popular Culture, Lanham: AltaMira Press. ICOM (2003): Ethische Richtlinien für Museen (Code of Ethics for Museums), Berlin: ICOM-Deutschland. Kaufmann, Susanne (2008): »Heimat – einmal anders gesehen: Himmel oder Hölle? Was die Umwandlung zum Landesbetrieb für die badenwürttembergischen Museen bedeutet«. Schwäbische Heimat 3, S. 253-257.

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ERWIN KEEFER

Keefer, Erwin (2005): »Von der Wunderkammer ans Lagerfeuer: Zum Thema der Tagung«. Museumsblatt 38, S. 4-6. Keefer, Erwin (2006): »Zeitsprung in die Urgeschichte: Von wissenschaftlichem Versuch und lebendiger Vermittlung«. In: Ders. (Hg.), Lebendige Vergangenheit: Vom archäologischen Experiment zur Zeitreise, Stuttgart: Theiss, S. 8-36. Klein, Hans-Joachim (1990): Der gläserne Besucher. Publikumsstrukturen einer Museumslandschaft, Berlin: Mann. LMW (2007): ›Unsere Kultur: Unsere Geschichte‹: Das Leitbild des Landesmuseums Württemberg, hg. von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesmuseums Württemberg, Stuttgart: LMW. Schlenker, Rolf/Almut Bick (2007): Steinzeit. Leben wie vor 5000 Jahren, Stuttgart: Theiss. Schöbel, Gunter (2001): Pfahlbaumuseum Unteruhldingen: Museumsgeschichte Teil 1: 1922-1949, Unteruhldingen: Pfahlbaumuseum. Schöbel, Gunter (2008): »Pfahlbaumuseum Unteruhldingen am Bodensee: Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte: Stand und Aufgaben«. Archäologisches Nachrichtenblatt 13.3, S. 221-240. Steinzeit: Das Experiment. Leben vor 5000 Jahren (SWR/ARD, 27. Mai 2007). Wikipedia (2009): »Nachen.« In: Wikipedia.org (http://de.wikipedia. org/wiki/Nachen. 3.3.2009). Zugriff am 3. März 2009.

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GESCHICHTE ZU FUSS: FEMINISTISCHE STADTRUNDGÄNGE FRAUENGESCHICHTE VOR ORT

ZUR

BIRGIT HEIDTKE

Premieren Am 21. November 1984 fand in Freiburg zum ersten Mal eine »Feministische Stadtrundfahrt« statt, im Rahmen der Frauenkulturtage, die in den 1980er Jahren zum festen Bestandteil der autonomen Kulturinitiativen in Freiburg gehörten. »Auf der Suche nach der Geschichte: Freiburger Frauen (und zieht euch warm an, wir sitzen nicht nur im Bus)«, hieß es im Programmflyer, dem außerdem zu entnehmen war, dass die Rundfahrt in einem »Finale« mit anschließendem Frauenfest münden würde.1 Abbildung 1: Feministische Stadtrundfahrt 1984 in Freiburg, im Vordergrund Carolina Brauckmann

Quelle: Archiv für Soziale Bewegungen Freiburg, Bestand des (aufgelösten) Feministischen Archivs Freiburg

1

Vgl. Programm (1984: 29f.). Die Freiburger Frauenzeitung erschien von 1982 bis 1990, zeitweise auch mit dem Haupttitel tatschmi – ihaudi. Insgesamt wurden 20 Ausgaben herausgegeben. 251

BIRGIT HEIDTKE

Die Inszenierung dieses Ereignisses, das über die Frauenkulturtage hinaus mit großem Interesse aufgenommen werden sollte, übernahmen Sully Roecken und Carolina Brauckmann, beides Frauen, die sich auf öffentliche Auftritte verstanden. Sie hatten zur Vorbereitung knapp zwei Monate im Freiburger Stadtarchiv recherchiert und brachten die Fundstücke dieser Arbeit vor Ort zur Aufführung. Stationen der Rundfahrt waren z.B. der Annaplatz in der Mittelwiehre, ehemaliger Standort des Dominikanerinnenklosters Adelhausen, dem bedeutendsten Frauenkloster im mittelalterlichen Freiburg, oder das Mädchenwohnheim einer ehemaligen Garnfabrik im ersten städtischen Industriegebiet Oberau.2 Freiburg kann hier stellvertretend für lokale frauengeschichtliche Initiativen stehen, die Stadtrundgänge oder auch -fahrten als Medium wählen, um die Ergebnisse ihrer Recherchen in die Öffentlichkeit zu bringen. Diese Darstellungsform für Frauengeschichte blickt mittlerweile auf eine Geschichte zurück, die ihre Anfänge in den politischen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre hat. Der erste Frauenstadtrundgang in der Bundesrepublik fand vermutlich 1976, anlässlich der Frauensommeruniversität in Berlin statt.3 Zu Beginn der 1980er Jahre rückte die als eigene Geschichte begriffene Recherche nach Lebensrealität und Alltag von Frauen in der Vergangenheit in den Blickwinkel der Neuen Frauenbewegung. Aus dem Selbstverständnis einer autonomen feministischen Kultur heraus entstanden in vielen Städten frauengeschichtliche Projekte. Neben Stadtrundgängen waren dies auch Ausstellungen, Dokumentationen und nicht zuletzt Archive, die sich zum Ziel setzten, die feministische Politik 2

3

In Freiburg entstand aus dieser Initiative ein größeres Projekt zur Recherche der lokalen Frauengeschichte. Es wurde mithilfe einer fraktionsübergreifenden Koalition insbesondere der weiblichen Mitglieder des Gemeinderats aus dem städtischen Haushalt finanziert und führte im Ergebnis zur Veröffentlichung einer zweibändigen Freiburger Frauengeschichte (vgl. Roecken/Brauckmann 1989, Heidtke/Rössler 1995). Im Rückblick und auf der Grundlage der Recherchen zur Geschichte der Frauen in Freiburg lässt sich feststellen, dass es abgesehen von den 1980er Jahren ein vergleichbar günstiges lokalpolitisches Klima gegenüber Frauenbelangen und -projekten in Freiburg lediglich zu Beginn der Weimarer Republik gegeben hatte, zwischen 1919 und 1922. Die erste Frauensommeruniversität wurde im Juli 1976 von Dozentinnen der TU und FU Berlin organisiert. Nach dem Vorbild der US-amerikanischen Women’s Studies verband sich mit der Initiative die Forderung nach frauenspezifischen Forschungsinhalten und Studienschwerpunkten in allen Fachbereichen. Die Bandbreite an inhaltlichen Möglichkeiten wurde während der Sommeruniversität in Vorträgen und Workshops demonstriert und erprobt. Zwischen 1976 und 1983 fanden sieben Sommeruniversitäten statt. Siehe auch: FrauenMediaTurm (o.J.). 252

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und Kultur der Gegenwart zu dokumentieren. Frauengeschichtliche Initiativen entwickelten sich seit den frühen 1980er Jahren auch innerhalb der Bewegung der Geschichtswerkstätten, die sich ebenfalls als Teil der politischen Bewegungen begriffen und im Selbstverständnis einer ›Geschichte von unten‹ insbesondere zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der (Industrie)arbeit, darüber hinaus auch zum Nationalsozialismus und zum antifaschistischen Widerstand arbeiteten. Dies geschah häufig lokal, in Großstädten zum Teil explizit in Stadtteilprojekten.4 Abbildung 2: Das Team der Freiburger Frauenkulturtage 1984 vor dem Alten Wiehrebahnhof

Quelle: Archiv für Soziale Bewegungen Freiburg, Bestand des (aufgelösten) Feministischen Archivs Freiburg.

Arbeitsbedingungen in autonomen Projekten Stadtrundgänge boten sich als Vermittlungsform besonders an, weil sie als Happening arrangiert werden konnten. Wie der erste Freiburger Rundgang fanden sie gern im Rahmen von größeren kulturellen oder politischen Aktionen der Frauenbewegung statt. Rundgänge verlegten die Geschichte auf die Straße, um jeweils direkt vor Ort zu berichten oder auch in Szene zu setzen. Sie eröffneten darüber hinaus die Möglichkeit, die Recherche selbst zum Thema und Ereignis werden zu lassen. Mit dem kollektiven Aufsuchen von zuvor nicht erinnerten Orten der Frauengeschichte wurde die Suche nach der nicht dokumentierten und bislang ungeschriebenen Geschichte als Akt der Wiederaneignung gemeinsamer,

4

Vgl.u.a. Kinter/Kock/Thiele (1985), Ausstellungsgruppe Ottensen (1985), Fichter/Hombach/Niethammer (1984), Ehalt (1984). 253

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verschütteter Erfahrungen initiiert und als Vergewisserung und Vergegenwärtigung einer gemeinsamen Geschichte begangen. Diese Verortung von Frauengeschichte sollte sich als Angelpunkt und bewegendes Moment der Frauenstadtrundgänge erweisen und ist bis heute die Vermittlungsbasis für frauengeschichtliche Stadtrundgänge, die sich in ihrem Selbstverständnis als feministisch und emanzipatorisch begreifen. Stadtrundgänge boten sich darüber hinaus als unkonventionelle historische Vermittlungsform an, als Geschichte, die auf der Straße stattfand – und dies wurde zum Teil auch bewusst herausgestellt. Das sollte allerdings nicht über die Ausgangslage für Forschung zur Frauengeschichte und ihre realen Arbeitsbedingungen in den 1970er und 80er Jahren hinwegtäuschen. Die autonomen Projekte waren vor allem eine Antwort auf den so weit reichenden wie selbstverständlichen Ausschluss von Frauen aus den Institutionen der historischen Wissensproduktion. Dies verdeutlicht exemplarisch und typisch für die damaligen Zeitbedingungen die Berliner Frauen-Kultur-Initiative, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Frauenprojekten, »zum großen Teil aus bereits länger tätigen Fraueninitiativen der autonomen Bewegung« (Berliner Frauen-Kultur-Initiative 1986: 28.). Sie hatten sich 1984 unter dem Ziel zusammengefunden, Frauen angesichts der 1987 ins Haus stehenden 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin Platz und Gehör zu verschaffen. Unter dem Arbeitstitel »Kein Ort nirgends?« war eine Ausstellung zu zwei Jahrhunderten Berliner Frauenleben geplant. Die Frauen-Kultur-Initiative war eine Antwort auf die offizielle Festbroschüre des Berliner Senates, die – bis auf eine einzige Erwähnung – ohne Frauen auskam. Um gleiches für die geplante Ausstellung im MartinGropius-Bau zu verhindern, trat die Frauen-Kultur-Initiative auf die öffentliche Bühne und forderte sowohl angemessene finanzielle Mittel als auch Räume für das Ausstellungsprojekt. Konzeptionell orientierten sich die Berlinerinnen an der Ausstellung der Mailänder Frauenbewegung, Esistere come Donna, die 1983 im Palazzo Reale in Mailand zu sehen war. Epochen und wichtige Ereignisse in der Geschichte Berlins sollten aus Sicht der Frauen beleuchtet, die Lebensrealität und die Arbeit von Frauen dargestellt werden, um die Perspektive für die historische und gesellschaftliche Bedeutung von Frauen zu öffnen. Erst nach zähen politischen Auseinandersetzungen, »nach gut 1 1/2 jähriger unbezahlter, aber diskriminierter und heftig behinderter Arbeit« (ebd.) gelang es, die Zusage für eine halbe Million DM, gerade ein Drittel der geforderten Finanzen, durchzusetzen. Entsprechend musste das Konzept angepasst und nach alternativen Räumen gesucht werden. Schließlich konnte das Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz gewonnen werden, wo die Aus-

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FEMINISTISCHE STADTRUNDGÄNGE

stellung Ende 1987 unter großem Publikumsinteresse und mit einem umfangreichen Rahmenprogramm – darunter auch historische Frauenstadtrundgänge – gezeigt wurde.5

Miss Marples Schwestern Selbst innerhalb der Bewegung der Geschichtswerkstätten, die in den 1980er Jahren lokale Initiativen vor allem auf den regelmäßigen Jahrestagungen, den Geschichtsfesten, vernetzte, sahen sich Frauen in ihren Interessen nicht angemessen vertreten. Erstmals fand auf dem Geschichtsfest 1984 in Berlin ein Frauentreffen statt. Die rund 80 Teilnehmerinnen tauschten sich über ihr Verständnis von historischer Frauenforschung aus und darüber, »durch welche Maßnahmen […] sie im Rahmen der Geschichtswerkstatt vorangetrieben werden« sollte (Protokoll 1984: 39f.). Zwar war unterdessen das »Selbstverständnispapier« der Geschichtswerkstatt erweitert worden um den Aspekt, »Geschichte ausdrücklich als Geschichte von zwei Geschlechtern [zu] betrachten und dar[zu]stellen« (Selbstverständnis 1984: 5f.), doch haperte es an der praktischen Umsetzung. So vermerkt das Diskussionsprotokoll: »Nur wenige Frauen berichteten über Diskriminierungserfahrungen in gemischten örtlichen Projekten, aber noch weniger betonten die gute Zusammenarbeit mit Männern. Keine fand sich, ein solches positives Beispiel zu beschreiben. Die Mehrheit formulierte Hoffnungen auf weniger karrieristisches und solidarischeres Verhalten von Männern (und Frauen) in den Werkstätten (verglichen mit Universitäten) und auf neue Methoden historischer Arbeit, die – auch besonders auf die Erforschung von Alltag gerichtet – Frauen nicht mehr als aktiv Handelnde aussparen« (Protokoll 1984: 39f.).

Nicht nur in den Geschichtswerkstätten, sondern auch zwischen historischen Projekten der autonomen Frauenbewegung gab es Mitte der 80er

5

Vgl. Bestand BFKI (2009). Die Geschichtswerkstatt, in der die FrauenKultur-Initiative u.a. in Erscheinung trat, wurde von 1983 bis 1986 als interner Rundbrief in sehr unterschiedlicher Aufmachung, z.T. ohne Impressum veröffentlicht. Sie wurde jeweils von der örtlichen Gruppe herausgegeben, die das jährlich stattfindende, bundesweite Geschichtstreffen ausgerichtet hatte. Das Prinzip der rotierenden Redaktion wurde beibehalten, als die Geschichtswerkstatt 1987 mit Heft 11 als Zeitschrift erschien. Im elften Jahrgang erschien ein Heft zur Frauengeschichte (Brink et al. 1993), in dem einige der Miss Marples Schwestern, u.a. Gabriele Wohlauf, Elisabeth von Dücker und Gisela Lixfeld, als Autorinnen vertreten sind. 255

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Jahre erste Versuche, die Frauen, die jeweils vor Ort historisch arbeiteten, zu vernetzen. Eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung über gemeinsame Grundsätze und kontroverse Standpunkte bot sich mit der International Conference on Women’s History 1986 in Amsterdam. Dort koordinierte das Netzwerk Berliner Historikerinnen einen Workshop, der die Grundsatzfrage zum Thema hatte, ob Frauengeschichtsforschung ausschließlich von Frauen für Frauen betrieben werden sollte oder ob auch Männer zu Veranstaltungen und Arbeitstreffen zugelassen werden könnten, wie auf Entscheidung der Veranstalterinnen in Amsterdam geschehen: »Die Fragen, die wir uns zunächst stellen lauten: Was verstehen ich/wir unter historischer Frauenforschung? Was verstehen ich/wir unter feministischer Geschichtsforschung, bzw. unter feministischer Arbeit mit Geschichte? Wie sehen ich/wir das Verhältnis zwischen historischer Frauenforschung, bzw. feministischer Geschichtsforschung/Arbeit mit Geschichte und der Frauenbewegung, bzw. dem Feminismus? Die Frage der Männerbeteiligung möchten wir im Rahmen dieser Fragen angehen« (Protokoll 1984: 31f.).

In Amsterdam überlegten Frauen aus Berlin, Hamburg und Köln, wo es jeweils größere Frauengeschichtsgruppen gab, eine gemeinsame Plattform für Initiativen in der Bundesrepublik zu schaffen.6 Abbildung 3: Logo des Netzwerks Miss Marples Schwestern mit einem zur Lupe mutierten Frauenzeichen als Werkzeug für die Spurensuche nach Frauen in der Geschichte

Quelle: Miss Marples Schwestern 6

Vgl. auch Netzwerk (1986: 31f.) sowie www.miss-marples.net, Zugriff am 15. März 2008 [aufgrund des Umbaus der Website waren zur Zeit des Zugriffs bis auf weiteres nur Basisinformationen zugänglich; BH]. Zur Entstehung des Netzwerkes vgl. Unsere Geschichte (1996). 256

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Umgesetzt wurde diese Idee 1990, als auf einem ersten Treffen in Berlin das Netzwerk Miss Marples Schwestern gegründet wurde. Die Namenspatronin verweist dabei auf den nötigen, fast »kriminalistischen Spürsinn« der Geschichtsforscherin, die sich auf die Suche nach hinterlassenen Spuren von Frauen begibt (Jahrestagung 1999). Ausdrücklich begreifen sich Miss Marples Schwestern als »Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort«, als bundesweites Forum für Gruppen, Projekte und einzelne Frauen, die regionale und lokale Frauengeschichte erforschen. Mittlerweile sind im Netzwerk rund 50 Städte in Deutschland, der Schweiz und Österreich vertreten. »Unser Netzwerk ist kein markt- und profitorientiertes Dienstleistungsunternehmen, sondern versteht sich als Teil jener sozialen Bewegungen, die seit den 70er Jahren in unterschiedlichsten Kontexten kritische Geschichtsanalyse in Ost und West betreiben. […] Frauengeschichte sichtbar zu machen, ist unser aller Anliegen. Die Vielfalt und Vielstimmigkeit in Methode, Analyse und Vermittlung von Frauengeschichte bilden die Grundlage unseres Netzwerkes und sind unser politisches Programm« (ebd.).

So formulierten Miss Marples Schwestern 1999, auf der Jahrestagung in Wiesbaden, ihre Grundsätze und betonten: »Dabei wenden wir verstärkt experimentelle und forschungskritische Vermittlungsansätze an« (ebd.). Im Netzwerk sind sowohl Frauen aus der Universität und anderen Institutionen vertreten als auch Frauen, die in Vereinen, Projekten oder selbstständig historisch arbeiten. Nur ein Teil kann den Haupterwerb aus Recherche und Darstellung frauengeschichtlicher Themen bestreiten; viele der in Miss Marples Schwestern aktiven Frauen sind hier neben- oder außerberuflich engagiert. Herzstück von Miss Marples Schwestern ist die jährliche Tagung, die jeweils an wechselnden Orten und von unterschiedlichen Gruppen organisiert und vorbereitet wird. Thematisch zieht sich die kritische Auseinandersetzung mit den Methoden der Vermittlung von Frauengeschichte als roter Faden durch die Tagungen; Darstellungsmethoden für Stadtrundgänge, aber auch andere öffentliche Präsentationsformen zur Frauengeschichte werden praktisch erprobt und diskutiert (vgl. Thomas/Brummert/Schraut 1995 und Strauß/Warnstedt/Chwalitz 1999). Trotz aller Unterschiede vor Ort – im Hinblick auf Arbeitsweisen und -schwerpunkte, die finanziellen und professionellen Rahmenbedingungen der Arbeit sowie die jeweiligen regionalen Verhältnisse – kann als gemeinsame Arbeitsgrundlage des Netzwerks die Verortung von Frauengeschichte angesehen werden. Hier sehen sich Miss Marples Schwestern in der Tradition der feministischen, autonomen Kultur. Stadtrundgänge verorten die Geschichte, versuchen an bestimmten Stationen 257

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zu berichten, zu visualisieren oder zu inszenieren und zielen dabei auf eine öffentliche Aneignung von Gedächtnisorten, die unter anderem durch das kollektive Begehen einer sonst beiseite geschobenen, im öffentlichen Raum nicht sichtbaren Geschichte vollzogen wird (vgl. Bake 1997, Franken 2008 und Gélieu 1998). Sabine Lorenz und Kathrin Schafroth haben 1999, in der Nachbereitung des Schweizer Projektes Femmes Tour die Visualisierung und Inszenierung von Geschichte im öffentlichen Raum dargestellt. Femmes Tour entstand als Initiative von Historikerinnen, die in neun Schweizer Städten 1998 im Rahmen des Jubiläums zum 150-jährigen Bestehen des Schweizer Bundesstaates Stadtrundgänge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte in Szene setzten. Durch Finanzmittel des Bundes standen den Frauen im Jubiläumsjahr Mittel zur Verfügung, um intensiver mit Vermittlungsformen experimentieren zu können.7 Im Folgenden beziehe ich mich zum einen auf ihre systematische Zusammenfassung von Darstellungsmethoden und Visualisierungsformen frauengeschichtlicher Stadtrundgänge, zum anderen auf Experimente und Erfahrungen in der eigenen Rundgangspraxis (bzw. derer von Kolleginnen) und werde versuchen, einige Elemente und Darstellungsprinzipien, mit denen sich Frauengeschichte vor Ort bringen lässt, zu beschreiben.

Dramaturgische Grundregeln Auch wenn sich die ersten Experimente mit Stadtrundgängen gern über viele Stunden erstreckten, wobei die Gruppe häufig größere Wegstrecken zu bewältigen hatte, unterliegt der historische Stadtrundgang bei normalen Aufführungsbedingungen einer klaren Beschränkung an Radius und Zeit. Als Idealmaß für die Konzeption eines Rundgangs hat sich eine Dauer von eineinhalb bis zwei Stunden erwiesen, in der zwischen fünf und zehn Stationen angesteuert werden können. Der Rundgang sollte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Bewegung halten, weshalb die Darbietungen an den Einzelstationen möglichst nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch nehmen und zwischen den Stationen ausreichend Zeit zum Kommentieren, zum Austausch und Plaudern in der Gruppe bleiben sollte. Eine klare Begrenzung ist vor allem dann wichtig, wenn der Rundgang nur von einer Frau geleitet werden kann und sich die Vermittlungsform auf das Erzählen konzentriert. Rundgänge mit größerem Personalaufwand und solche, die unterschiedliche Darstellungsformen wie Schau-

7

Femmes Tour: Frauenstadtrundgänge in Schweizer Städten 2008 (www. femmestour.ch). Zugriff am 10. Oktober 2008. 258

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spiel, interaktive Elemente oder ausgedehnte Ortsbesichtigungen einsetzen, können auch mehr Zeit in Anspruch nehmen. Stadtrundgänge im Umfeld des Netzwerkes Miss Marples Schwestern zur Frauengeschichte sind in der Regel Autorinnenrundgänge: das ›Drehbuch‹ wird üblicherweise von den ausführenden Frauen geschrieben und das Quellenmaterial eigens für diesen Rundgang recherchiert. Das schließt eine Übernahme von Material, von Veröffentlichungen und auch Rundgangstationen anderer Autorinnen nicht aus; auch die Kooperation z.B. mit Schauspielerinnen, die sich auf die Darstellung konzentrieren, ist möglich. Wurde ein Rundgang nicht selbst recherchiert, fehlt zumeist das dramaturgische Moment, dass mit der Geschichtspräsentation an den aufgesuchten Orten auch die Recherche nach der Geschichte von Frauen erzählt werden kann und damit den Teilnehmerinnen Zugangswege gezeigt werden, wie sie sich ihrer Geschichte vergewissern können.

Die Orte schreiben das Drehbuch Frauengeschichtliche Stadtrundgänge versuchen, Ereignissen, historischen Lebensrealitäten, theoretischen und politischen Positionen zur Frauen- und Geschlechterfrage einen öffentlichen Ort zuzuweisen. Dabei können sowohl neue Orte etabliert, als auch bestehende dekonstruiert werden. Eine beliebte Aktionsform zur Dekonstruktion entstand in den 1990er Jahren mit der konzertierten Umbenennung von Straßen, über die feministische, aber auch pazifistische und antifaschistische Initiativen die Deutungshoheit für Gedenkorte in Frage stellten. In einem Stadtrundgang bietet es sich z.B. an, ein Denkmal aufzusuchen, um etwa über die erfolglose Suche nach vergleichbaren Monumenten für Frauen zu berichten. Eine andere Gelegenheit bietet ein Ehrenmal für Soldaten, bei dem in der Analyse vor Ort mit den Metaphern der gefallenen Helden oder der gefallenen Mädchen gespielt werden kann. Neue Gedächtnisorte können sowohl vorübergehend, z.B. nur für die Gruppe auf dem jeweiligen Stadtrundgang, als auch dauerhafter geschaffen werden. Es spielt dabei keine Rolle, ob der historische Ort noch in Teilen existiert oder ob das Monument, die Ecke in der Gasse, der Brunnen am Platz vollständig verschwunden ist. Um einen Gedächtnisort für die Frauengeschichte zu etablieren, ist es jedoch wichtig, die ausgewählte Station anschaulich in Szene zu setzen, wozu sehr unterschiedliche Methoden zur Verfügung stehen. Das reicht von einfachen Mitteln wie der Erzählung, der Präsentation von Quellen-, Bild- oder Tonmaterial bis zu aufwändigeren Darstellungsformen. Schauspielszenen, musikalische Ein-

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lagen, aber auch die Inszenierung einer Suche nach Überresten aus der Vergangenheit können für die Teilnehmerinnen Spuren legen und dem Ort eine Geschichte zuweisen. Im Unterschied zu touristischen Stadtrundgängen fällt die Frage nach der Authentizität der angesteuerten Sehenswürdigkeiten anders ins Gewicht. In den meisten feministischen frauengeschichtlichen Rundgängen ist im Gegensatz zu den ›kommerziell-touristischen‹ die schwierige Suche nach Frauenspuren im öffentlichen Raum ein explizites Thema. In diesem Zusammenhang wird auch die Konstruktion von Gedächtnisorten und öffentlichem Kulturgut kritisch hinterfragt. Stationen eines Rundgangs können deshalb auch eigens zu diesem Anlass konstruierte Orte und Objekte sein, die nicht unbedingt am historisch korrekten Platz liegen müssen. An der Peripherie Gelegenes kann ins Zentrum geholt, Zerstörtes durch an anderer Stelle Erhaltenes ersetzt werden, für verlorene Räume lassen sich neue finden. Solange dieses Spiel offen gelegt und angemessen in Szene gesetzt wird, ist alles möglich. Ein Beispiel hierfür liefert in Freiburg die Gedenktafel zur Hexenverfolgung am Martinstor, die Ende der 1980er Jahre unter der Schirmherrschaft der Stadt installiert wurde. Die Gedenktafel am Freiburger Martinstor hängt an einem ›ersetzten Ort‹, denn Frauen, die unter den Verdacht der Hexerei gestellt waren, wurden hier nicht eingetürmt. Das Martinstor ist jedoch das einzige noch erhaltene Frauengefängnis aus der frühen Neuzeit und bietet sich darüber hinaus als Gedächtnisort auch wegen seiner prominenten Stellung im touristischen Stadtbild an. Dieser ›Ortstausch‹ ist zwar auf der Gedenktafel nicht festgehalten, kann im Rundgang aber Anlass sein, nicht die Hexenverfolgung als solche, sondern die Einrichtung dieses Gedenkortes historisch zu würdigen und möglicherweise mit Berichten über Frauenvergehen zu verbinden, die in diesem Gefängnis geahndet wurden. Beispiel für die Inszenierung eines fiktiven Ortes ist der Augustinerplatz in der Freiburger Altstadt, an dem, nah beieinander, zwei Stationen eines lesbisch-schwulen Stadtrundgangs liegen. Zum einen gibt es dort mit einem öffentlichen WC, d.h. einer ehemaligen so genannte Klappe, einen historisch überlieferten Ort für sexuelle Begegnungen unter schwulen Männern. Schräg gegenüber, heute ebenfalls nur noch als anders genutztes Gebäude erhalten, befand sich Sanitas, ein alkoholfreies und vegetarisches Restaurant, über das nicht mehr als der Name und die Tatsache, dass es von einer Frau geführt wurde, bekannt ist. Im Rundgang wird es zu einem Lokal, in dem zwischen 1900 und 1930 insbesondere Frauen verkehrten, die Frauenfreundschaften pflegten und es vorzogen, in Gesellschaft von Frauen zu speisen. Das Reformspeisehaus wird eingeführt als erfundener, möglicherweise wieder gefundener Ort lesbischer

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Kultur, den es hier hätte geben können und der, wenn nicht an dieser Stelle, doch mit großer Wahrscheinlichkeit andernorts in der Stadt existierte. Darüber hinaus bietet die Nähe beider Stationen an, Vergleiche zu provozieren zwischen den fleischlosen Vergnügungen der Frauen und dem Treiben der Männer und – dabei bewusst ausschweifend und phantasierend – diesen Teil der Altstadt für die homosexuelle Subkultur der Weimarer Republik zu reklamieren. Während z.B. das Reformspeisehaus eine stellvertretende Rolle für einen in der Überlieferung verlorenen gegangenen Ort einnimmt, wird hier im Unterschied dazu mit einer romantischen Rückprojektion gespielt, die keiner historischen Realität entsprechen soll, sondern auf die Wünsche des Publikums zielt und ihrer Selbstvergewisserung dienen will. In diesem Spiel mit dokumentierter, (re-) konstruierter und phantasierter Geschichte wird es möglich, Orte sowohl mit historischen als auch zeitgenössischen Diskursen zu verknüpfen. Im besten Fall werden die Vorstellungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Bewegung gebracht und es verändert sich, zumindest für den Moment, ihre gewohnte Sicht auf die Stadt und das Bewusstsein, mit dem sie sich in ihr bewegen.8 Manchmal sind Stationen, die gerade keinen authentischen Bezug zum historischen Ereignis haben, sondern als symbolischer Ort eingeführt werden, besser geeignet, eine Geschichte zu vermitteln. Um über einen Zwischenfall auf dem Freiburger Jugendamt 1944 zu berichten, wo sich zwei Praktikantinnen der Sozialen Frauenschule weigerten, ein behindertes Kind in die Anstalt Kaufbeuren zu bringen, weil sie befürchteten, dass dem Kind dort etwas zustoßen könnte,9 wurde mit dem Sozialund Jugendamt zunächst ein authentischer Platz ausgewählt. Fast immer reagierten die Gruppen dort mit bedrücktem Schweigen auf eine Geschichte, die nicht nur vom Widerstand der Schülerinnen und von der Praxis der Ämter gegenüber der Erfassung und Ermordung behinderter Kinder erzählt, sondern auch von einer Mutter, die ihren vierjährigen Jungen mit der Bitte zum Gesundheitsamt bringt, ihn durch eine Spritze beseitigen zu lassen (Heidtke/Rössler 1995: 335-339). Die betretene Reaktion des Publikums lief dem Vermittlungsziel dieser Station, wo eigentlich eine Auseinandersetzung mit Biopolitik und Eugenik angeregt werden sollte, zuwider. Als Alternative wurde mit einem symbolischen Ort experimentiert, einem stark frequentierten und beliebten Kinder8 9

Zum Rundgang vgl. auch den Bericht aus Sicht eines Teilnehmers: Sohler (2004). Der Vorgang ist aufgrund eines 1947 geführten Ermittlungsverfahrens gegen die beteiligte Oberfürsorgerin des Jugendamtes und den Leiter des Gesundheitssamtes Freiburg gut dokumentiert (vgl. Heidtke/Rössler 1995: 335-339). 261

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spielplatz in der Altstadt. Was vielleicht zynisch oder wie ein mit dem moralischen Zeigefinger ausgewählter Platz anmutet, wird in der Praxis von der Gruppe, die zwischen spielenden Kindern und ihren Eltern sitzt, nicht so wahrgenommen. Als würde das Thema an diesem Ort in die Familien hereingeholt, fällt es hier leichter, darüber zu diskutieren. Auch können überlieferte Geschichten aus der eigenen Familie erzählt werden, über geistig und körperlich behinderte Angehörige, die ermordet wurden oder aber geschützt werden konnten.

Das offene Archiv: Erzählhaltungen und Darstellungsformen Historische Stadtrundgänge vermitteln erzählte Geschichte, die in unterschiedlichen Formen dramatisiert und dargestellt werden kann. Eine Station oder ein ganzer Rundgang kann z.B. aus der Perspektive einer fiktiven Person, die als historische Figur eingeführt wird, erzählt werden. Der fast unvermeidliche Stadtwächter mit der Laterne, mittlerweile im Standardprogramm touristischer Anbieter, ist zumeist nach diesem Muster gestrickt. Wenn, wesentlich seltener, sein weibliches Pendant zu sehen ist, dann handelt es sich in der Regel um eine mit Haube und Schürze bekleidete mittelalterlich anmutende Frau. Am anderen Ende der für einen Stadtrundgang zur Verfügung stehenden Erzählhaltungen kann der historische Kurzvortrag eingereiht werden, in dem historische Überlieferungen und wissenschaftliche Positionen zusammenfassend dargestellt werden. Zwischen diesen Polen ist vieles möglich: biografische und an Ereignissen orientierte Erzählungen, Lesungen aus Quellen oder Collagen, in denen z.B. Zitate aus Archivdokumenten oder zeitgenössischen literarischen Texten mit Gegenwartstexten vermischt werden. Welche Darstellungsformen frauengeschichtliche Stadtrundgänge wählen, hängt, abgesehen von den Vorlieben und Fähigkeiten der Rundgangsleiterinnen, nicht zuletzt von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln ab. So lassen sich schauspielerische oder musikalische Darbietungen häufig nur mit größerem Personal- und Materialaufwand realisieren, weshalb sich solche Inszenierungen zumeist nur mit Fördergeldern, wie sie z.B. zum Schweizer Staatsjubiläum flossen, realisieren lassen (Lorenz/Schafroth 1999). Kleinere Spielszenen können allerdings auch im Alltagsgeschäft eines Stadtrundgangs eingesetzt werden. So schlüpft beispielsweise eine Berliner Kollegin in einem Hof des Scheunenviertels überraschend und unvermittelt in die Rolle einer der ersten Berliner Ärztinnen, Martha Wygodzinski, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als niedergelassene Ärztin arbeitete und in der Frauen- sowie 262

FEMINISTISCHE STADTRUNDGÄNGE

Arbeiterbewegung politisch engagiert war. Auch ohne Kostüm und historische Attribute entfaltet dieser Auftritt, bei dem die Ärztin über das alltägliche Elend und die Nöte der Frauen in Arbeiterfamilien erzählt und ihre politischen Sichtweisen darlegt, seine Wirkung.10 Frauengeschichtliche Rundgänge setzen Requisiten ein. Neben Bildern, Fotos und Gegenständen können dies auch O-Töne sein: historische Reden, Lieder und Musikstücke. Wieviel Platz diesen Requisiten eingeräumt und wie hoch der Aufwand getrieben wird, um sie in Szene zu setzten, ist wiederum abhängig von finanziellen und personellen Ressourcen. So arbeitet ein historischer Frauenstadtrundgang in Münster, der für Menschen mit Sehbehinderungen konzipiert wurde, mit Puppen. Thema des Rundgangs ist Mode und Alltagsleben, und die historischen Kostüme und Frisuren können an den Puppen nicht nur gesehen, sondern auch ertastet werden.11 Ansatzpunkt für eine Station oder roter Faden für den gesamten Rundgang kann auch die Recherche der Geschichte von Frauen sein. Dies kann in Form einer Inszenierung geschehen, wie sie z.B. die Berner Historikerinnen realisierten, die vor dem Stadtarchiv Bern mittels Büchern und Archivschachteln demonstrierten, wie sie im Laufe ihrer Arbeit Hypothesen verwerfen mussten, wie statt ihrer neue Fragestellungen aufkamen und wie sich Blickwinkel und Ziele der Recherche veränderten (Lorenz/Schafroth 1999: 110). Eine andere Möglichkeit ist es, das Archiv buchstäblich auf die Straße zu holen, was sich besonders für Rundgänge mit zeitgeschichtlichem Schwerpunkt eignet, wo sehr viel Quellenmaterial zur Verfügung steht. Die Gruppe wird während des Rundgangs mit Material versorgt, in dem sie stöbern kann, beispielsweise mit Flugblättern, Zeitschriften, Fotos oder Büchern aus der Neuen Frauenbewegung. Diese Vermittlungsform fordert die Interaktion der Teilnehmerinnen heraus. Sie werden eingeladen, parallel zum geleiteten Drehbuch des Rundgangs eigene Entdeckungen zu machen, sich über Beobachtungen auszutauschen und Einschätzungen zu diskutieren. Die jährlichen Tagungen des Netzwerks Miss Marples Schwestern bieten den aktiven Schwestern jeweils Gelegenheit, sich über Vermittlungs- und Darstellungsmethoden auszutauschen und mit neuen Formen zu experimentieren.12 Seit 2007 findet in der zweiten Septemberhälfte ein 10 Frauentouren: Führungen und Vorträge zur Frauengeschichte in Berlin und Brandenburg (www.frauentouren.de); Vgl. zu Wygodzinski das Buch von Peters (2008). 11 Vgl. »Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Münster« (www.muenster. org/frauenstadtrundgang/). Zugriff am 20. März 2009. 12 In den Dokumentationen der jährlich stattfindenden Netzwerktreffen von Miss Marples Schwestern werden die Auseinandersetzung mit Geschichte 263

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Aktionstag statt. Neben der Möglichkeit, umsonst an einem Rundgang zur Frauengeschichte vor Ort teilzunehmen, finden im einen oder anderen Ort auch einmalige Aktionen statt, die in Werkstattrundgängen Neues erproben. Und manchmal kann es den Schwestern dabei auch heute noch gelingen, ein Happening daraus zu machen.

Literatur Ausstellungsgruppe Ottensen/Altonaer Museum (Hg.) (1985): Wer macht Geschichte? Ottensen: Dokumentation eines Projektes zur Stadtteilgeschichte, Hamburg: Altonaer Museum Hamburg. Bake, Rita (1997): Trotz Fleiß keinen Preis: Historischer Stadtrundgang: Arbeits- und Lebensweise von Hamburger Frauen im 18. Jahrhundert, Hamburg: Landeszentrale für politische Bildung. Bestand BFKI (2009): »Berliner Frauen Kultur Initiative«. Archiv des Frauenforschungs-, Bildungs- und Informationszentrums (FFBIZ) Datensatz 42 (www.ffbiz.de/htdocs/inventar/smdk3.htm). Zugriff am 15. März 2009. »Berliner Frauen-Kultur-Initiative e.V.« (1986): GeschichtsWerkstatt 8.2, S. 28. Brink, Cornelia et al. (1993): ›Schneewittchen im Glassarg?‹: Frauen im Museum, Garbsen: Calenberg. Ehalt, Hubert Christian (Hg.) (1984): Geschichte von unten: Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags, Köln: Böhlau. Fichter; Tilman/Bodo Hombach/Lutz Niethammer (1984): ›Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst‹: Einladung zu einer Geschichte des Volkes in NRW, Bonn: Dietz. Franken, Irene (2008): Frauen in Köln: Der historische Stadtführer, Köln: Bachem. FrauenMediaTurm (o.J.): »Die Chronik der neuen Frauenbewegung: 1976«. In: FrauenMediaTurm (www.frauenmediaturm.de/sechsund siebzig.html). Zugriff am 11. November 2008. Gélieu, Claudia von/Beate Neubauer (1998): Das Frauenviertel in der Gartenstadt Rudow: Die Namensgeberinnen des Neuköllner Frauenviertels, Berlin: Bezirksamt Neukölln.

sowie die Experimente mit Vermittlungsformen dargestellt. Diese waren z.T. auch das Leitthema der entsprechenden Tagungen, vgl. Miss Marples Schwestern (2002, 2003, 2004, 2005). 264

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Heidtke, Birgit/Christina Rössler (1995): Margarethas Töchter: Eine Stadtgeschichte der Frauen von 1800 bis 1950 am Beispiel Freiburgs, Freiburg: Kore. Jahresprogramm (1999): »Jahresprogramm Miss Marples Schwestern 1999, Wiesbaden«. In: Miss Marples Schwestern (www.missmarples.net/netzwer/geschichte). Zugriff am 10. Oktober 2008. Kinter, Jürgen/Manfred Kock/Dieter Thiele (1985): Spuren suchen: Leitfaden zur Erkundung der eigenen Geschichte, Hamburg: VSA. Lorenz, Sabine/Karin Schafroth (1999): »›Femmes Tour‹: Visualisierung von Geschichte(n) im städtischen Raum«. Itinera 23, S. 109-119. Netzwerk (1986): »Netzwerk Berliner Historikerinnen«. GeschichtsWerkstatt 8, S. 31-32. Peters, Dietlinde (2008): Martha Wygodzinski (1869-1943): ›Der Engel der Armen‹: Berliner Ärztin – engagierte Gesundheitspolitikerin, Teetz: Hentrich & Hentrich. Programm (1984): »Programm von den Frauenkulturtagen«. In: Freiburger Frauenzeitung 8 (1984), S. 29-30 Protokoll (1984): »Protokoll zum Treff ›Frauen in der Geschichtswerkstatt‹ im Rahmen des Geschichtsfestes, Berlin, Samstag 2.6. 14-17 Uhr«. GeschichtsWerkstatt 6.4, S. 39-40. Roecken, Sully/Carolina Brauckmann (1989): Margaretha Jedefrau, Freiburg: Kore. Selbstverständnis (1984): »Selbstverständnis der Geschichtswerkstatt«. GeschichtsWerkstatt 6.4, S. 5-6. Sohler, Daniel (2004): »Stadtführung – ›Klappe auf‹ am 14. Mai 2004«. In: Schwul in Freiburg 7/8, S. 31-32 (www.rosahilfefreiburg. de/pdf/0407-08_1.pdf). Zugriff am 10. Oktober 2008. Strauß, Kathrin/Claudia Warnstedt/Kerstin Chwalitz (1999): Projekt Feministische Stadtführung: Die Stadtführerin – eine feministische Spurensuche in der Stadt Magdeburg, Magdeburg: Frauenbüro. Thomas, Ilse/Ulrike Brummert/Sylvia Schraut (Hg.) (1995): Frauen, nichts als Frauen: Historischer Stadtrundgang durch Mannheim, Mannheim: Edition Quadrat. Unsere Geschichte (1996): »Miss Marples Schwestern: Unsere Geschichte«. In: Lila Archiv, S. 2-6.

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PROBLEMATISCHE POPULARITÄT? ERINNERUNGSKULTUR, MEDIENWANDEL AUFMERKSAMKEITSÖKONOMIE

UND

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Im Zusammenhang mit der Vergegenwärtigung nationalsozialistischer Vergangenheit und des Holocaust von ›Popularität‹ zu sprechen, ist ein prekäres Unterfangen. Die Popularität historischer Sujets im Allgemeinen erscheint unproblematisch, auch wenn Defizite der jeweiligen Darstellung die Kritik des Connaisseurs provozieren. Demgegenüber gelten die mit dem Populären assoziierten Konnotationen von Spannung, Unterhaltung und Vergnügen im Kontext der Thematisierung von millionenfachem Massenmord grundsätzlich als unangemessen. Gleichermaßen ist aber bekannt, dass diese historische Konstellation unabhängig von den konkreten Motiven ein immenses Interesse weckt. Insofern lässt sich also in einem deskriptiven Sinne durchaus von Popularität sprechen. »Popularität bedeutet dabei keinen Gegenbegriff zum Legitimen, Hohen oder Ernsten, sondern einen Grad an Akzeptanz und Verbreitung, der sich messen läßt anhand von Einschaltquoten und verkauften Tickets« (Dörner 2000: 56). Vor diesem Hintergrund lässt sich von einem Erinnerungsboom sprechen, der nicht nur ein räsonierendes Publikum betrifft. Das Thema ›Nationalsozialismus und Holocaust‹ hat eine darüber hinaus gehende mediale Präsenz erlangt, die sowohl durch die vermeintlich authentischen Artikulationen von Zeitzeugen als auch durch fiktionale Artefakte fortwährend angeregt wird. Den Horizont für die Expansion kommemorativer Kommunikation bildet nicht zuletzt das absehbare Ableben der letzten Zeitzeugen, das einen mediengestützten Tradierungsschub evoziert. Vor allem für die aus dieser Konstellation resultierenden Praktiken findet zunehmend der Begriff ›Erinnerungskultur‹ Verwendung.1 Diese

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Damit korrespondiert die Einrichtung des Sonderforschungsbereichs »Erinnerungskulturen« an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Auch die vorliegende Ausarbeitung ist aus einem Teilprojekt des SFB mit dem Titel 267

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Terminologie indiziert den Versuch, Missverständnisse zu vermeiden, die mit der metaphorischen Anwendung des individualpsychologischen Gedächtnisbegriffs auf kollektive Phänomene verbunden werden. In dieser Perspektive erscheint zwar auch der Begriff der ›Erinnerung‹ nicht unproblematisch, er akzentuiert aber andere Konnotationen: Werden beide Begriffe gegenübergestellt, so steht das ›Gedächtnis‹ eher für eine statische Konzeption der Speicherung von Inhalten, während ›Erinnerung‹ den Vorgang der Vergegenwärtigung betont und die Aufmerksamkeit damit stärker auf Aspekte der Aktivität und Aktualisierung richtet. Die Kombination mit dem Determinatum ›-kultur‹ markiert vor dem Hintergrund eines nicht essentialistisch verstandenen Kulturbegriffs darüber hinaus die konzeptionelle Präferenz für Prozesshaftigkeit, Pluralität und Konstruktivität hinsichtlich der Konstitution des Untersuchungsgegenstandes. Empirisch werden dabei verschiedene Formen kollektiver Bezugnahme auf Vergangenheit in den Blick genommen. Das Forschungsprogramm zu Erinnerungskulturen umfasst somit auch Konzeptionen, in deren Mittelpunkt die Vermittlung und Verwendung von historischem Wissen stehen, wie Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur (vgl. u.a. Rüsen/Jaeger 2001). Werden diese Prämissen im Hinblick auf die hier einschlägigen Funktionen von Medien reflektiert, so akzentuiert die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung zunächst den Aspekt der Speicherung als Bedingung der Möglichkeit, historische Zeugnisse zu archivieren und zu einem späteren Zeitpunkt zu aktivieren. Aus erinnerungskultureller Perspektive interessiert hingegen eher die mediale Funktion der Verbreitung. Bereits diese Begrifflichkeit deutet einen Zusammenhang zwischen Erinnerungskultur und Popularität an, denn als Absicht von kommemorativer Kommunikation in modernen Gesellschaften lässt sich auch Publikumswirksamkeit annehmen, da sie die Aussicht darauf steigert, betreffende Inhalte präsent zu halten. Mag diese Annahme unter dem Stichwort ›Reichweite‹ für audiovisuelle Massenmedien auf Anhieb plausibel erscheinen, so gilt sie gleichermaßen für Erinnerungsorte wie Denkmal, Gedenkstätte und Museum. Den erinnerungskulturellen Einrichtungen können vielfältige Funktionen zugeschrieben werden, deren Realisierung in der Regel aber voraussetzt, dass sie auch besucht werden. Diese Notwendigkeit hat Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Diskussion um die Gestaltung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas auf den Punkt gebracht, indem er anmerkte: »Ich will ein HolocaustDenkmal. [...] Aber ich möchte es in einer Dimension, vor der die Berli-

»Visualisierung und Virtualisierung von Erinnerung – Geschichtspolitik in der medialen Erlebnisgesellschaft« hervorgegangen. 268

ERINNERUNGSKULTUR IM MEDIENWANDEL

nerinnen und Berliner, vor dem die Deutschen nicht Furcht empfinden, sondern wo sie gerne hingehen, um sich zu erinnern, um sich auseinanderzusetzen.«2 Doch diese Orientierung evoziert auch Zielkonflikte. So galt die vor allem in den ersten Wochen nach der Eröffnung des Berliner HolocaustMahnmals beobachtete, bzw. publik gemachte Praxis des ›Stelenspringens‹ als Ausdruck einer Rezeptionshaltung, die nicht mit den Erwartungen korrespondierte: »Die Leute nehmen das Stelenfeld nur als Event wahr«, resümierte der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel (zitiert nach Keller 2005). In dieser Pauschalisierung verdichtet sich die Ablehnung verschiedener, in der Presse als sozial auffällig indizierter Verhaltensweisen in einem kulturkritischen Verdikt. Die Charakterisierung als ›Event‹3 fungiert hier als Gegenbegriff zum ›Gedenken‹, das jedoch inhaltlich oft unbestimmt bleibt. Obwohl es sich beim Stelenfeld nicht um einen Friedhof handelt, werden offensichtlich doch Verhaltsweisen favorisiert, die dem dort praktizierten Totengedenken entsprechen. Dabei sind die umstrittenen Verhaltensweisen mehrdeutig und können auch als eine Form der Annahme des Holocaust-Mahnmals verstanden werden: »Die Leute sitzen, stehen, springen auf allen Mahnmalen dieser Welt. Das ist doch ein Zeichen dafür, dass sie gerne dort sind. Das ist gut«, wird der Architekt des Denkmals, Peter Eisenman, zitiert (ebd.). Aber auch die Massenhaftigkeit der Rezeption provoziert Probleme: Zur Versorgung der Besucher hatte ein Unternehmer eine Imbissbude auf einem angrenzenden Areal errichtet. Dies wurde nach kurzer Zeit als ästhetisch nicht angemessen bewertet und der Betrieb seitens der zuständigen Behörden untersagt. Um die Bedürfnisse der Besucher zu befriedigen wurde dann an gleicher Stelle ein Ensemble errichtet, in dem Cafés, Restaurants, Souvenir- sowie Geschenkartikelläden und ein Buchladen angesiedelt wurden.4 Hier zeigt sich, dass eine eher touristische Nutzung der Einrichtung nicht grundsätzlich als illegitim erachtet wird. Vielmehr besteht die Bereitschaft, profane Aspekte zu berücksichtigen, sofern sie nicht als Beeinträchtigung der sakralen Dimension wahrgenommen werden. Art und Ausmaß der Aneignung des Monuments können nicht nur 2 3

4

Interview mit dem Fernsehsender SAT.1 vom 1. November 1998. Während der Begriff des ›Events‹ in der sozialwissenschaftlichen Forschungsdiskussion unabhängig vom Anlass zur Charakterisierung bestimmter Veranstaltungsformate Verwendung findet, fokussiert die öffentliche Diskussion damit Ereignisse mit Unterhaltungscharakter (vgl. Gebhardt/Hitzler/Pfadenhauer 2000). Dabei handelt es sich um eine Zwischenlösung bis zur endgültigen Bebauung des Areals, die dann u.a. ähnliche Funktionen aufweisen soll. 269

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kulturkritisch als eine Trivialisierung kollektiver Kommemoration gedeutet werden. So bemerkt Bernhard Schulz in einer Reflexion über den Wandel des öffentlichen Verhältnisses zu Geschichtszeugnissen im vereinten Deutschland: »Daß das Denkmal mittlerweile auf seiner Ostseite mit einer temporären Imbiß- und Andenkenzeile gesäumt wurde, mag man degoutant finden, es unterstreicht aber genau jenen Charakter der Eingemeindung des NS-Gedenkens in das kollektive Bewußtsein, der sich im Begriff des Patrimoniums fassen lässt« (Schulz 2006: 775). Nicht nur Denkmale und Museen fungieren als Destinationen des Kulturtourismus, auch KZ-Gedenkstätten werden mit Varianten des so genannten »dark tourism« (Skriebeleit 2005: 32) konfrontiert. Im Kontext der Diskussion um die Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption, die vor allem das finanzielle Engagement des Bundes für national bzw. international bedeutsame Einrichtungen regelt, avancierten Aspekte des Populären zwischenzeitlich sogar zu Kriterien der Gedenkstättenförderung. In einem Entwurf des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien hieß es zur Bestimmung des jeweiligen Stellenwerts unter anderem: »Indikatoren für die Erfüllung dieses Kriteriums sind: x Besucherzahl x Besucherherkunft (überregional, international) [...] x Presseberichterstattung (regional, überregional, international) x Rezeption in der Literatur x Verarbeitung im Film (Dokumentarfilm, historische Spielfilme) x Gedenkstättenbesuch von bekannten Persönlichkeiten« (Verantwortung 2007: 26).

Zwar werden die ersten beiden wie auch die letzten beiden Aspekte in der schließlich verabschiedeten Fassung nicht mehr als Indikatoren genannt (Verantwortung 2008: 30), die Vorstellung aber, dass kommemorative Angebote ohne Resonanz bleiben, erscheint – unabhängig von der Frage, wie diese zu operationalisieren ist – trotzdem abwegig. Das Problem mit der Popularität ist bei explizit erinnerungskulturellen Einrichtungen insofern besonders ausgeprägt, als die Funktionen des Gedenkens und der Vermittlung wenn nicht konkurrieren, dann doch zumindest in einem prekären Spannungsverhältnis stehen. In abgewandelter Form gilt diese Konstellation auch für die Darstellung von Geschichte in (audiovisuellen) Massenmedien. Hier konkurriert der aus historiographischer Perspektive artikulierte Anspruch auf adäquate Repräsentation der Vergangenheit mit dem medienökonomischen Primat des Publikumserfolgs als Ausdruck kulturindustrieller Verwertungsinteressen. Hinsichtlich der Situierung in ausschließlich kommerziellen Kontex270

ERINNERUNGSKULTUR IM MEDIENWANDEL

ten im Gegensatz zu öffentlich-rechtlichen Angeboten lassen sich dabei nur graduelle Differenzen konstatieren: Auch wenn letztere nicht mit der Absicht zur Realisierung von Profiten operieren, ziehen die Verantwortlichen das Kriterium der (Einschalt-)Quote ins Kalkül. In diesem Kontext kann die TV-Produktion Holocaust als exemplarisch gelten: Im April 1978 strahlte der US-amerikanische Fernsehsender NBC die Miniserie Holocaust: The Story of the Family Weiss aus und erreichte damit mehr als einhundert Millionen Zuschauer (vgl. Shandler 1999: 155-178). Auch in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Sendung im Januar 1979 in den zusammen geschalteten Dritten Programmen gezeigt wurde, wurde eine Einschaltquote von bis zu vierzig Prozent erreicht und damit die bis dahin vermutlich größte Öffentlichkeit zu diesem Thema (vgl. Hickethier 1998: 355). Ebenso bezeichnend wie die Zuschauerzahl ist die Anschlusskommunikation, die durch das Medienereignis ausgelöst wurde. In den Kommentaren wurden bereits die Thesen verhandelt, die bis heute den Diskurs über die massenmediale Repräsentation von Nationalsozialismus und Holocaust prägen. Die pejorativ konnotierten inszenatorischen Kategorien der Dramatisierung und Fiktionalisierung gelten dabei als Faktoren, welche die Popularität der jeweiligen Darstellung determinieren.5 Vor allem die Vermischung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Elementen wird fortan kontrovers diskutiert und erörtert, inwiefern die Rezipienten die dramatische Inszenierung als Vermittlung historischer Realität wahrnehmen. Peter Reichel erachtet gerade diese Fragestellung als charakteristisch für das Feld ästhetisch-expressiver Erinnerungskultur: »Die Grenze zwischen Faktum und Fiktion [...] muß fließend und tendenziell unbestimmbar bleiben, sofern es den Autoren und Produzenten erfundener Erinnerung vor allem um erzählerische Authentizität und mit Blick auf ihr Publikum um Emotionalität geht« (Reichel 2004: 14). Ähnlich kontroverse Reaktionen löste 1986 der erste Band von Art Spiegelmans zweiteiligem Comic-Buch Maus: A Survivor’s Tale (1986) aus. Dabei war nicht nur die konkrete Umsetzung des Themas umstritten. Bedenken löste bei der Kulturkritik vielmehr das Medium an sich aus, dem in der öffentlichen Diskussion eine Unterhaltungsorientierung attestiert wurde, die eine ›ernsthafte‹ Auseinandersetzung mit dem Thema grundsätzlich verunmögliche. Tendenziell wird visuellen Medien unterschiedlicher Machart und Provenienz dabei eine geringere diskursive Qualität und Seriosität zugeschrieben als der Auseinandersetzung von 5

Im Gegensatz zur zeitgenössischen Kritik akzentuiert Bösch, dass die Individualität der meist anonymen Opfer ins Zentrum des Interesses gerückt wurde. Seine historisierende Einordnung der Sendung lässt sich somit auch als eine Relativierung der Trivialisierungsthese lesen (vgl. Bösch 2007). 271

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Rezipienten mit Texten. Die Kritik gewinnt dadurch an Bedeutung, dass ›Visualisierung‹ als eine grundlegende kulturelle Tendenz in Gegenwartsgesellschaften aufgefasst werden kann: »Die Eigenart dieses kulturellen Wandels in der Moderne von der Wort- und Schriftkultur zur Bildkultur in der Folge der Institutionalisierung und Universalisierung von Fotografie, Film und elektronischen Medien besteht nicht nur in der offensichtlich steigenden Quantität der Visualisierungen, sondern das Spezifische dieses Veränderungsprozesses ist die Beherrschung der subjektiven Wahrnehmung durch die Bilder« (Müller-Doohm 1995: 439).

Die Konsequenz dieser Entwicklung wird in Anlehnung an den von Habermas konstatierten Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) als »Wandel von einer logozentrischen zu einer ikonozentrischen politischen Kultur« (Hofmann 1999: 8) und hin zu einer »ikonischen Öffentlichkeit« (vgl. Müller 1999) charakterisiert. Während diese Ansätze die inzwischen ›klassischen‹ elektronischen Massenmedien wie das Fernsehen und ›konventionelle‹ Bildmedien wie Fotografie und Film fokussieren, stellt die Digitalisierung eine weitergehende Dimension des diagnostizierten Wandels dar. Gedächtnistheoretische Ansätze akzentuieren dabei die mediale Funktion der Speicherung, und ihr gemeinsamer Nenner lässt sich mit Jan Assmann folgendermaßen resümieren: »Durch die exponentiell gesteigerten Speicherungsmöglichkeiten des Computers werden Grenzen und Selektionsmechanismen hinfällig, die von der Ökonomie und Verwaltbarkeit materieller Speichermedien diktiert sind« (Assmann 2002: 246). Die Konsequenz aus dieser Diagnose formuliert Aleida Assmann unter Verwendung kulturkritischer Catchwords: »Auf dem Weg von einer Gedächtniskultur zu einer Kultur der Aufmerksamkeit: Oberfläche, Geschwindigkeit und Supermarkt« (Assmann 2003: 19).6 Im Hinblick auf die hier interessierende mediale Funktion der Verbreitung stehen im Mittelpunkt des Medienwandels Multi-Medien, die auf der Grundlage digitaler Technologie operieren und für die vor allem die Kombination von Text-, Bild-, Audio- und Videoelementen charakteristisch ist. Darüber hinaus weisen diese Medien ein interaktives Potenzial auf – entweder im Sinne der Interaktion mit dem Medium oder durch das Medium.7 Die Folgen der Digitalisierung für die Verbreitung

6 7

Für eine Kritik der These einer durch elektronische Medien und Digitalisierung evozierten »Krise des Gedächtnisses« vgl. Zierold (2006: 79-83). Hier ist nicht entscheidend, ob auch tatsächlich alle diese Möglichkeiten realisiert werden. Vielmehr lassen sich konkrete Angebote dadurch diffe272

ERINNERUNGSKULTUR IM MEDIENWANDEL

erinnerungskulturell einschlägiger Inhalte werden bislang vor allem praxisbezogen aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik reflektiert.8 Betreffende Analysen untersuchen häufig als abgeschlossene Artefakte vorliegende CD-ROMs, die als Lehrmittel konzipiert sind und daher nicht nur individuell, sondern institutionalisiert rezipiert werden. Bereits Titel wie Lernen aus der Geschichte (Brinkmann et al. 2000) oder Erinnern für Gegenwart und Zukunft (Survivors of the Shoah Visual History GmbH 2000) indizieren dabei einen Zugriff auf das Thema, der historisches Wissen primär unter dem Aspekt der Aktualisierung anspricht. Diese Datenträger wenden sich entweder direkt an junge Menschen oder an Multiplikatoren. Somit werden Zielgruppen adressiert, die dafür relevant sind, erinnerungskulturelle Inhalte auf Dauer zu stellen. Im Mittelpunkt solcher Angebote steht häufig die Präsentation digitalisierten Quellenmaterials sowie von Auszügen aus Zeitzeugeninterviews. Die Möglichkeiten zur Interaktion mit dem Medium sind in der Regel groß, während eine Interaktion durch das Medium nur in einigen Fällen über den Umweg einer dem Datenträger zugeordneten Website angeboten wird. Der Einsatz entsprechender Artefakte wird im pädagogischen Diskurs jedoch kontrovers diskutiert: Einerseits besteht die Vermutung, dass sie in besonderer Weise dazu geeignet sind, junge Menschen anzusprechen. Andererseits existiert die Annahme, dass Neue Medien unabhängig von konkreten Inhalten eine Unterhaltungsorientierung aufweisen, die dem Thema nicht angemessen ist (vgl. Sedlaczek 2001). Der populärkulturelle Trivialisierungsverdacht gilt ebenso für ein bislang noch nicht gleichermaßen diskutiertes Genre digitaler und interaktiver Medien, nämlich das Computerspiel. Hier soll es nicht um die Exploitation des Themas Holocaust in Spielwelten gehen. Es geht vielmehr um die Bedeutung historischer Sujets für die Attraktion von Aufmerksamkeit auf einem gleichermaßen umkämpften wie profitablen kulturindustriellen Markt. So belegten Mitte 2005 Spiele über den Zweiten Weltkrieg sechs der ersten zehn Plätze der Online-Game-Charts (vgl. Moorstedt 2005). Die Relevanz resultiert dabei vermutlich aus der Verbindung von Erlebnisqualitäten mit dem Anspruch auf historische Authentizität. So wird beispielsweise Brothers in Arms (Ubisoft 2005) in der Eigenwerbung als »ein dreidimensionales Geschichtsbuch« qualifiziert und Ego-Shooter versprechen dem Spieler »ein realistisches Fronterlebnis«: »Nachdem Sie dieses Spiel erfahren haben, können Sie fast sagen: Ich bin dabei gewesen« (zitiert nach Moorstedt 2005). Zu diesem Zweck simuliert etwa Brothers in Arms das Betäubtsein nach einer Ex-

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renzieren, dass sie bestimmte der genannten Merkmale aufweisen und andere nicht. Für einen Überblick vgl. Oswalt (2002). 273

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plosion durch ein verzerrtes Bild und lautes Pfeifen. Angesichts der aufwändigen Rekonstruktion von Topografie und Taktik resümiert Tobias Moorstedt das Konzept solcher Simulationen wie folgt: »Es ist ein Realismus der Oberfläche, nicht der Geschichten oder gar der Geschichte« (ebd.). Denn die Angebote reproduzieren primär die soldatische Perspektive: »Auf dem Holodeck der Weltkriegs-Spiele kommt der Holocaust nicht vor« (ebd). Dass eine Integration entsprechender Aspekte auch ausgesprochen problematisch wäre, zeigt ein Fake: Im September 2006 wurde unter der Adresse www.totalburnout.cz ein vermeintliches Computerspiel zum NS-Massaker im tschechischen Lidice beworben. Nach wenigen Klicks landete der Nutzer jedoch bei der Aufforderung, die Website der Gedenkstätte zu besuchen: »At Lidice village it was not a game, but reality.« – »Nur mit solchen Projekten kann man heute das Interesse junger Menschen wecken«, begründete der Gedenkstättenleiter die umstrittene Aktion, die nach Protesten von Opferverbänden binnen weniger Tage beendet wurde (Die Presse 2006). Die Frage nach der Fiktionalisierung historischer Ereignisse ist, wie bereits beschrieben, auch für andere massenkulturelle Populärmedien wie Film und Fernsehen virulent. Dabei erscheint die Formulierung ›Histotainment‹ noch harmlos gegenüber der Charakterisierung bestimmter dokumentarischer Genres als »unterhaltsame Geschichtspornographie« (Kansteiner 2003: 648). Aus der Perspektive der Digitalisierung provozieren hier vor allem Verfahren digitaler Bildmanipulation, die eine »dokumentarische Suggestion« (Bösch 2007: 17) evozieren, Kritik. So werden beispielsweise nachgestellte Szenen derart verfremdet, dass sie visuell kaum noch von zeitgenössischen Aufnahmen zu unterscheiden sind. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt die Sendung Virtual History des Discovery Channel dar, in der computergenerierte und -animierte Portraits bekannter Persönlichkeiten auf die Körper von Schauspielern appliziert werden.9 Gleichzeitig fungieren vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender des Geschichtsfernsehens auch als Produzenten einschlägiger OnlineAngebote. So verantwortet das ZDF etwa die technisch avancierte und 2005 mit dem Grimme Online Award Wissen und Bildung ausgezeichnete Anwendung Holocaust-Mahnmal – Gedächtnis aus Stein.10 Nach Aus9

Vgl. www.discoverychannel.co.uk/virtualhistory/_home/index.shtml. Sofern nicht anders angegeben, wurden die Websites, auf die hier verwiesen wird oder aus denen Angaben zitiert werden, zuletzt am 29. Juli 2008 aufgerufen. 10 www.zdf.de/ZDFxt/module/holocaust. Auch die Jury würdigte explizit den »sinnvolle(n) Einsatz neuester Flash-Technologien« (www.grimmeinstitut.de/event/goa/de/preistraeger/preistraeger_2005/holocaust.htm; Zu274

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sagen des für Design und Programmierung zuständigen Dienstleisters reflektiert das Angebot strukturell die Konzeption des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin: »Gemäß dem heute.de-Konzept bietet das Modul dem User zwei unterschiedliche Zugänge, sich über das Mahnmal zu informieren und es zu erforschen: Der Weg der Erinnerung als emotional erfahrbarer Zugang und den informativen Teil ›Informationen und Fakten‹. Beide Zugänge entsprechen dem grundlegenden Ansatz des realen Mahnmals mit seinem künstlerischen und frei interpretierbaren Bauteil ›Stelenfeld‹ im Gegensatz zum informierenden und dokumentierenden Gebäudeteil ›Ort der Information‹« (clicktivities ag 2005).

Die Flash-Animation beginnt mit einem ›Intro‹, in dem die Stelen als Projektionsfläche für mit dem Thema assoziativ verbundene Bilder fungieren und das von getragener Klaviermusik begleitet wird.11 Der »Weg der Erinnerung« nimmt die multimediale Dramaturgie sowie suggestive Inszenierung des dokumentarischen Materials auf und kombiniert historische Soundbites mit animierten fotografischen Aufnahmen, die sich mit Einblicken in das Stelenfeld abwechseln. Der Bereich »Informationen und Fakten« ist in fünf thematische Rubriken untergliedert, die weitere Unterpunkte enthalten. Darunter ein 3D-Panorama-Bild aus der Perspektive eines Standpunkts im Stelenfeld, von dem aus der Nutzer in alle Richtungen navigieren kann. Diese Form der Interaktion mit dem Medium simuliert zwar ansatzweise die ästhetisch-architektonische Qualität und labyrinthische Raumerfahrung des Monuments, weist aber auch einen spielerisch-unterhaltenden Charakter auf, der der Attraktion von Aufmerksamkeit dient. Auch in den anderen Rubriken dienen virtuelle Kamerafahrten durch das Stelenfeld als Gestaltungselement. Ansonsten enthalten diese Hintergrundmaterial zum Denkmalsetzungsprozess. Bei den kurzen Texten, Bildgalerien, Einspielungen von Interviews und Links auf Texte aus dem Angebot von heute.de handelt es sich zum Teil auch um die Zweitverwertung von bereits im ZDF gesendeten Beiträgen. In dieser Perspektive dienen Online-Angebote als zusätzlicher Distributionskanal für Inhalte, die primär für das Fernsehen produziert werden. In-

griff am 1. Juli 2005). Die Rezeption dieses Formats setzt jedoch die Verfügbarkeit einer entsprechenden Bandbreite voraus, weshalb alternativ eine Modem/ISDN-Version programmiert wurde. Die hier folgenden Angaben basieren auf der DSL-Version, die offensichtlich für den Internet Explorer optimiert ist; in einigen anderen Browsern ließ sie sich im Juli 2008 nicht aktivieren. 11 Das ›Intro‹ insgesamt lässt sich überspringen, und der dramatisierende musikalische Effekt kann deaktiviert werden. 275

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sofern sind solche Angebote inszenatorisch auch von der Ästhetik der jeweiligen Fernsehformate affiziert. Während der informative Teil des von der heute-Redaktion betreuten Holocaust-Mahnmal – Gedächtnis aus Stein vom Stil der Nachrichtensendung geprägt ist, reflektiert ein anderes Angebot des ZDF das populäre Format der unter Leitung von Guido Knopp entstandenen dokumentarischen Fernsehsendungen: Bereits der Titel Schicksalsjahr 1945 deutet eine eher emotionalisierende Thematisierung des Endes des Zweiten Weltkriegs an.12 Ebenso wie bei den Fernsehproduktionen spielen dabei Ausschnitte aus Aufzeichnungen von Zeitzeugeninterviews eine wesentliche Rolle. Diese hat die ZDF-Redaktion Zeitgeschichte exzessiv erfasst, und die Auswertung des exklusiven Materials in möglichst vielen Formaten kann unter medienökonomischen Gesichtspunkten als effiziente Vorgehensweise verstanden werden. In diesem Kontext spielt ebenso der Verkauf von TV-Sendungen ins Ausland eine Rolle, bei dem das ZDF sowohl im Fall der unter der Leitung von Knopp entstandenen Produktionen, als auch in der Sparte »ernste Unterhaltung« erfolgreich war (Kansteiner 2003: 639). Nachdem zunächst Angebote US-amerikanischer Herkunft den globalen Markt dominierten, haben deutsche Produktionen inzwischen aufgeholt. Doku-Dramen aus Deutschland über Ereignisse des Zweiten Weltkriegs avancierten 2006 auf der Programmmesse Mipcom zu Bestsellern: »Der Event-Zweiteiler ›Dresden‹ (ZDF) konnte in 68 Länder verkauft werden, der ARD-Film ›Stauffenberg‹ in 82 Länder. Der von der ARD koproduzierte Kinofilm ›Der Untergang‹ ging in 145 Länder« (vgl. Urbe 2006). Auch wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht primär werbefinanziert operiert, befördert Popularität also die Generierung von Einnahmen. Insofern sind kommerzielle Erwägungen durchaus relevant und relativieren das Postulat einer strukturellen Differenz zum Privatfernsehen hinsichtlich der Berücksichtigung von Aspekten einer »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (vgl. Franck 1998). Diese ist angesichts der unüberschaubaren und ständig steigenden Anzahl von Websites auch für die Deutung der Popularität von OnlineAngeboten relevant. Im Fokus der aus dieser Konstellation resultierenden Fragestellung stehen deshalb Meta-Seiten, die andere Angebote aggregieren und auszeichnen. Die empirischen Befunde der Forschung zum Nutzungsverhalten belegen in dieser Hinsicht sowohl die Bedeutung von Suchmaschinen im Allgemeinen wie die dominante Stellung von Google im Besonderen (vgl. Wiedmaier 2007: 21). In diese Perspektive ist auch die bereits unabhängig davon zu konstatierende Relevanz der OnlineEnzyklopädie Wikipedia als »heimliches Leitmedium« (vgl. Lorenz

12 Vgl. www.zdf.de/ZDFxt/module/Kriegsende/index.htm. 276

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2006) einzuordnen, denn deren Einträge platzieren sich in der Regel unter den Top-Treffern bei entsprechenden Suchanfragen. Insofern sich ein Großteil der Nutzer mit der ersten Seite einer Suchergebnisliste begnügt (vgl. Wiedmaier 2007: 24f.), kann von einer für die Selektion konstitutiven »Google-Wikipedia-Connection« gesprochen werden (vgl. Maurer 2007). Neben der Auszeichnung von Angeboten durch die automatisierte Anwendung von Gewichtungsverfahren greifen die Suchmaschinenbetreiber aber auch aktiv in die Ausgabe der Suchergebnisse ein. So weist AOL Deutschland bei Suchanfragen für den Themenbereich Nationalsozialismus und Holocaust speziell situierte Info-Links zu über 100 einschlägigen Begriffen aus, die in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Berlin implementiert wurden. Darüber hinaus intendieren Suchmaschinenbetreiber in Deutschland im Rahmen einer Selbstverpflichtung, unter anderem die Adressen von Websites mit rechtsextremistischen Inhalten in den Trefferlisten nicht auszuweisen.13 Obgleich Suchmaschinen indirekt auch Aspekte der Popularität für das Ranking operationalisieren, dokumentieren sie weniger, welche Angebote populär sind, sondern beeinflussen vielmehr, was populär werden kann. Die prominente Platzierung in entsprechenden Trefferlisten reflektiert diverse Faktoren, und nicht jedes Angebot hat die Chance, gleichermaßen wahrgenommen zu werden.14 Bei thematisch einschlägigen aber unspezifischen Anfragen bei Suchmaschinen ist dafür zunächst der Name der Adresse relevant, unter der die Website zu erreichen ist. Nachdem holocaust.de vom Zentralrat der Juden in Deutschland unter Verschluss gehalten wird, verfügt bei einer Beschränkung auf deutschsprachige Angebote die Website shoa.de über einen Schlüsselbegriff. Des Weiteren deckt das Angebot, dessen Inhalte primär ehrenamtlich erstellt werden, durch seinen Untertitel »Informationen zu Shoah, Holocaust, Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg« mehrere prägnante Schlagworte ab, die beim Ranking berücksichtigt werden.15 Weitere Aspekte, die eine besondere Attraktivität des serviceorientierten Portals begründen, sind 13 Vgl. http://fsm.de/de/Subkodex_Suchmaschinenanbieter#2.2. 14 Die konkreten Berechnungsverfahren sind als Betriebsgeheimnis zu verstehen und daher im Detail unbekannt. Faktoren, die in die Bewertung eingehen, sind der Fachöffentlichkeit hingegen bekannt und werden vor allem unter der Perspektive der Optimierung von Online-Angeboten im Hinblick auf ihre erfolgreiche Positionierung bei Suchanfragen diskutiert (vgl. z.B. Wiedmaier 2007). 15 Zur Relevanz von Keywords in Dokumententitel und Domainname für die prominente Platzierung in Suchergebnislisten vgl. Wiedmaier (2007: 89f. und 103f). 277

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andauernde Aktualisierung, kommunikative Komponenten, Konnektivität sowie Responsivität.16 Dies gilt nicht nur für interessierte Rezipienten, sondern hinsichtlich eines Kriteriums auch für die Bewertung durch Suchmaschinen: »Google honoriert es, wenn ein Webdokument aktuelle Inhalte präsentiert« (Wiedmaier 2007: 105). Die fortwährende Generierung neuer beziehungsweise Veränderung bereits bestehender Inhalte kann jenseits des dauerhaften Engagements der für eine Website Verantwortlichen vor allem durch zwei Maßnahmen gewährleistet werden: Entweder durch die Professionalisierung von vormals privat erstellten Angeboten, die dann verstärkt die Frage der Finanzierung aufwirft, oder durch die Integration nutzergenerierter Inhalte. Abgesehen von vorgängigen Formen formeller Kooperation und informeller Kollaboration kann die Institutionalisierung der Partizipation von Nutzern an der Produktion von auf Online-Angeboten präsenten Inhalten als zentraler Aspekt des sogenannten Web 2.0 charakterisiert werden. Mit diesem Begriff wird ein ganzer Assoziationsraum angesprochen, der eine Reihe von kommunikationstechnologischen Innovationen und dadurch evozierter Veränderungen hinsichtlich des Verständnisses des World Wide Web als Verbreitungsmedium unscharf umfasst. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem unterschiedlich konfigurierte Plattformen zur Publikation nutzergenerierter Inhalte, die den ›normalen‹ Nutzer als potenziellen Produzenten von Medieninhalten ins Zentrum rücken.17 Empirische Erhebungen des Nutzungsverhaltens belegen die Popularität betreffender Angebote.18 Im vorliegenden Zusammenhang kann Wikipedia als prototypisch für dieses Phänomen verstanden werden.19 Im Hinblick auf die Vermittlung

16 Diese Einschätzung muss ab April 2008 relativiert werden: Noch im Juni 2008 datiert der letzte Eintrag auf der Startseite vom 31. März 2008. Auch der letzte von den Betreibern der Website bis dahin monatlich versendete Newsletter, der hier berücksichtigt werden kann, datiert vom 1. April 2008. In diesem wird darauf hingewiesen, dass an einem Relaunch der Website gearbeitet wird und deshalb einige Funktionen eingestellt werden. 17 Bekannte Beispiele sind unter anderem Plattformen zur Publikation von Fotos (Flickr) und Videos (z.B. YouTube), aber auch die als Social Network Sites bezeichneten Plattformen zur Publikation persönlicher Profile (z.B. MySpace oder StudiVZ). 18 Für einen quantitativen Überblick hinsichtlich betreffender Präferenzen von Onlinenutzern ab 14 Jahren in Deutschland vgl. Gscheidle/Fisch (2007). 19 Wenn im Folgenden auf Wikipedia und deren Inhalte Bezug genommen wird, ist in der Regel die deutschsprachige Ausgabe (de.wikipedia.org) gemeint. Wenn von Wikipedia als Akteur die Rede ist, ist die Betreiberor278

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historischen Wissens erscheint hier vor allem das bei den Nutzern wohl weitgehend akzeptierte Selbstverständnis von Wikipedia als OnlineEnzyklopädie problematisch, und es drängt sich ein Vergleich mit konventionell verfassten Vorbildern auf. Bei stichprobenartigen Tests schneidet Wikipedia in der Regel zwar recht gut ab,20 der Anspruch auf Aufklärung und wahrheitsgemäße Wissensvermittlung kollidiert aber immer wieder mit dem kollaborativen Charakter und partizipativen Konstruktionsprinzip der Plattform, denn prinzipiell kann jeder anonym an den Artikeln mitschreiben. Im Mittelpunkt von aus dieser Konstellation resultierenden Kontroversen steht die Point of View-Problematik:21 So hat sich etwa um den Eintrag zum komplexen und zwischen Fachöffentlichkeit und Opfergruppen divergent gedeuteten Thema der sowjetischen Speziallager, die in der Nachkriegszeit zum Beispiel im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald eingerichtet wurden, ein als ›Edit-War‹ bezeichneter Bearbeitungskonflikt entwickelt.22 Wie weit die in diesem Kontext konstituierte ›Wikiality‹ gehen kann, demonstriert exemplarisch der biografische Eintrag zu einem NS-Funktionär, dessen Existenz eindeutig erfunden war (vgl. Conrinth 2006). Inzwischen hat Wikipedia aber selbst Maßnahmen zur Qualitätssicherung ergriffen und beginnt ein Konzept zur Auszeichnung von Artikeln zu implementieren, deren Inhalte ei-

ganisation Wikimedia Foundation Inc., eine Stiftung nach dem Recht des US-Bundesstaates Florida, bzw. der mit dieser assoziierte Verein Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens e.V. gemeint. 20 Zuletzt hat der Stern in der Ausgabe Nr. 50/2007 einen entsprechenden Test im Vergleich zur Onlineausgabe des 15-bändigen Brockhaus publiziert. Zu einer positiven Einschätzung zumindest im Hinblick auf die Wiedergabe von Namen und Daten zu Ereignissen der US-amerikanischen Geschichte im Vergleich zu Microsofts Online-Enzyklopädie Encarta und American National Biography Online kommt auch Rosenzweig 2006. Für einen systematischen Vergleich von Wikipedia mit der 24-bändigen Ausgabe des Brockhaus (20. Auflage, 1996-1999) und der deutschen Ausgabe der Encarta Enzyklopädie Professional von 2004 auf DVD sowie eine Diskussion der Dynamik von einzelnen Artikeln am Beispiel des Eintrags zu Erich Honecker vgl. Schlieker (2005). 21 Dem Selbstverständnis gemäß verfolgt Wikipedia eine Politik des »Neutral Point of View« (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Neutraler_ Standpunkt). 22 Vgl. die diesbezügliche Meldung auf www.gedenkstaettenforum.de vom 18. Mai 2006. Im Kontext der intendierten Manipulation von Inhalten lässt sich zwischen trivialem und ideologischem Vandalismus unterscheiden (vgl. Frost 2006: 30-35). 279

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ner über die okkasionelle ›Public Review‹ der Nutzer hinausgehenden Prüfung unterzogen wurden.23 Im Mitmach-Netz des Web 2.0 fungiert der Begriff der ›Masse‹ nicht mehr zur kulturkritischen Kennzeichnung des vermeintlich passiven Publikums der Massenmedien. Vielmehr wird die elitäre Expertise Einzelner nun mit der »Weisheit der Massen« (vgl. Surowiecki 2004)24 konfrontiert. Dieses Motiv figuriert auch in den primär populärwissenschaftlichen Vorstellungen von ›kollektiver‹ oder ›Schwarm-Intelligenz‹, mit denen versucht wird, die qualitative Überlegenheit der Ergebnisse kollaborativer Prozesse zu argumentieren. Plausibel erscheint diese Perspektive aber vor allem im Hinblick auf die Delegation von Aktivitäten an Amateure, die als ›crowdsourcing‹ bezeichnet wird. Einschlägige Varianten dieser Vorgehensweise werden im Kontext von Online-Datenbanken praktiziert und verbinden die Möglichkeit zur Partizipation der Nutzer mit dem Prinzip der redaktionellen Prüfung. Eine dafür prototypische Anwendung mit kommemorativem Charakter verantwortet die israelische Gedenkstätte Yad Vashem. 1954 wurde dort mit der Sammlung von biografischen Angaben zu den Opfern des Holocaust begonnen. Ausgefüllt werden die »Pages of Testimony« von Bekannten und Verwandten der Ermordeten. Zusätzlich werden Angaben aus anderen Quellen erfasst und in ein Archiv integriert. Seit dem 22. November 2004 ermöglicht die Institution über ihre Website (www. yadvashem.org) den Zugriff auf The Central Database of Shoah Victims’ Names. Deren zentrale Funktion ist zunächst die Recherche nach Angaben zu Opfern. Aber es sind auch Feedback-Formulare verfügbar, mittels derer digitalisierte Fotografien und Dokumente eingereicht oder Kommentare abgegeben werden können. So können etwa Vorschläge zur Korrektur von als fehlerhaft wahrgenommenen Einträgen artikuliert werden. Die Anwendung ermöglicht auch die Eingabe von Daten zu noch

23 Die Grundlage für betreffende Bestrebungen ist, dass bislang zwar die jeweils aktuellste Version eines Artikels aufgerufen wird, frühere Versionen aber einsehbar bleiben. Seit dem 6. Mai 2008 experimentiert die deutschsprachige Wikipedia damit, von dieser Praxis abzuweichen: »Das Konzept der gesichteten und geprüften Versionen sieht vor, dass in der Standardansicht nur noch Inhalte dargestellt werden, die von einem erfahrenen Wikipedia-Autoren als frei von Verunstaltungen gekennzeichnet wurden« (Pressemitteilung von Wikimedia Deutschland vom 6. Mai 2008). Für eine vergleichende Diskussion von ›Peer‹ und ›Public Review‹ siehe Hassel (2007). 24 Firmiert in der deutschen Übersetzung zur Vermeidung von durch die Massensemantik evozierten Konnotationen auch unter »Die Weisheit der Vielen«. Zur Kritik siehe z.B. Lanier (2006). 280

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nicht registrierten Opfern in ein Formular und dessen Übermittlung an die Einrichtung. Von Nutzern übermittelte Daten werden dem Bestand aber nicht automatisch hinzugefügt, sondern wie auf anderem Weg erhobene Erkenntnisse vor einer Integration in die Datenbank im Hinblick auf ihre Plausibilität geprüft. Eine inhaltlich weitergehende Beteiligung findet im Bereich der Publikation von Zeitzeugenberichten statt. Ein Beispiel dafür ist das Lebendige virtuelle Museum Online (LeMO), das inhaltlich vom Deutschen Historischen Museum (Berlin) und dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Bonn) verantwortet wird. Im Rahmen dieses Online-Angebots wurde eine Rubrik namens ›Kollektives Gedächtnis‹ eingerichtet. Zur Einführung heißt es auf der Website: »Das Kollektive Gedächtnis bietet die Möglichkeit, persönliche Erinnerungen zu veröffentlichen, die in einem Zusammenhang mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts stehen. Wer seine persönliche Geschichte erzählen möchte und diese der Öffentlichkeit zugänglich machen will, kann den Beitrag, gerne auch unterstützt durch Bildmaterial, einfach per E-mail [...] oder mit der Post senden.«25 Während dieses Feature im vorliegenden Fall eher als Anhang zur Präsentation von Exponaten und Themen figuriert, stellt die Integration nutzergenerierter Inhalte und die Konstitution darum zentrierter Zielgruppen für Medienunternehmen einen zentralen Aspekt der Aufmerksamkeitsökonomie im Web 2.0 dar. So startete Spiegel Online im Oktober 2007 die Plattform einestages.de, die Beiträge von Nutzern mit redaktionellen Inhalten und dem Material von Kooperationspartnern kombiniert sowie als Rubrik in die Startseite von Spiegel Online integriert ist. Ein aussagekräftiger Claim dokumentiert den Anspruch des Angebots: »einestages – hier entsteht das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft«. Dieses umfasst vor allem das kommunikative Gedächtnis der Zeitgenossen, denn in der Rubrik Zeitzeugen geht es um deren ganz persönliche, subjektive »Zeitgeschichten«.26 Zur Realisierung der implementierten Publikations- und Partizipationsoptionen bedarf es der Registrierung als Mitglied. Die Wahrnehmung dieser Möglichkeiten wird vergleichsweise restriktiv gehandhabt, denn: »Diskussionsbeiträge und Hinweise, die hier veröffentlicht werden, werden Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses auf einestages. Sie werden damit sozusagen ›für die Ewigkeit‹ formuliert.«27 Die Redaktion versucht aber nicht nur, die Plau25 www.dhm.de/lemo/forum/kollektives_gedaechtnis/index.html. Die Redaktion behält sich die Freigabe der Beiträge vor. 26 »Das ›n‹ am Ende ist uns wichtig« (http://einestages.spiegel.de/page/ Tutorials.html#Tutorial_T5). 27 http://einestages.spiegel.de/page/aboutDiscussion.html. 281

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sibilität von Angaben zu prüfen, sondern kürzt oder redigiert gegebenenfalls die eingereichten Texte. Darüber hinaus werden auch ausführliche Vorgaben zur Abfassung betreffender Beiträge formuliert wie etwa der Hinweis: »Gute Zeitgeschichten sind selten länger als 5000 bis 7000 Zeichen.«28 Insofern sind hier für die Selektivität bei der Publikation nutzergenerierter Inhalte nicht nur Erwägungen hinsichtlich der Qualitätssicherung relevant, sondern es entscheiden auch aufmerksamkeitsökonomische Kriterien über die Veröffentlichung. Analog zu den Beispielen aus dem Online-Angebot des ZDF ist vor allem im redaktionellen Teil von einestages eine ähnliche Konstellation zu konstatieren. Betreffende Beiträge flankieren beispielsweise die Berichterstattung im Magazin Der Spiegel und es findet eine Zweitverwertung von Artikeln statt, die dort bereits publiziert wurden. Ebenso finden sich im Kontext von Beiträgen der Nutzer anzeigenartige Verweise auf thematisch korrespondierende Spiegel-Titel, deren Inhalte gegen Gebühr aus einem Online-Archiv abgerufen werden können. Im Rahmen der medienökonomisch gebotenen Konvergenz von Print- und Online-Angeboten steht schließlich auch die Überlegung, aus einestages ein PrintMagazin zu entwickeln. Für dieses Vorhaben spricht der Publikumserfolg: Ausgehend von den Angaben der Online-Vermarktungs-gemeinschaft der SPIEGEL-Gruppe wurden in den ersten Monaten nach dem Launch durchschnittlich pro Woche über 4,8 Millionen Seitenaufrufe gezählt29 und wurde in einer anderen Erhebung ermittelt, dass einestages in einem durchschnittlichen Monat 740.000 Unique User verzeichnet.30 Im Verhältnis zur Rezeption ist die Partizipation jedoch deutlich weniger stark ausgeprägt – am 30. Juni 2008 wurde eine Gesamtzahl von 2230 Autoren ausgewiesen.31 Dabei handelt es sich nicht nur um Amateure,

28 http://einestages.spiegel.de/page/Tutorials.html#Tutorial_T6. 29 Eigene Berechnung auf der Basis von Angaben für den Zeitraum von Oktober 2007 bis Ende Januar 2008 (vgl. www.quality-channel.de/public/documents/partner/basis/einestages_basis.pdf). Die Kategorie der Seitenaufrufe (Page Impressions) ist jedoch ein zumindest unscharfes, wenn nicht zweifelhaftes Kriterium, das insofern verzerrend beeinflusst werden kann, als beispielsweise der Aufruf eines jeden Bildes in einer Bildergalerie als eigenständiger Seitenaufruf gezählt werden kann. 30 Vgl. die für einestages aus der Studie internet facts 2007-IV der Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung e.V. kompilierten Angaben (siehe www. quality-channel.de/public/documents/Studien/AGOF_2007_IV/eines-tages _AGOF-07_4.pdf). Die Kategorie Unique User erfasst den Besuch (Visit) einer Website durch einen einzelnen Nutzer unabhängig von der Anzahl der bei einem Besuch aufgerufenen Seiten. 31 Vgl. http://einestages.spiegel.de/page/AllAuthors.html. 282

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sondern auch um Personen, die sich (semi-)professionell mit den adressierten Aspekten auseinandersetzen. In diesem Sinne betreiben etwa Autoren, die auch an anderer Stelle publizieren, Eigenwerbung oder agieren Mitglieder als Agenten für Personen, deren Zeitzeugenberichte sie beitragen. So werden beispielsweise Auszüge aus bereits in Büchern veröffentlichten autobiografischen Zeugnissen vom Verleger präsentiert.32 Ebenso hat sich der Verein Im Dialog e.V. als Mitglied registriert, den Bericht eines Holocaust-Überlebenden platziert und Ausschnitte aus der auch als DVD erhältlichen Dokumentation Zeitabschnitte des Werner Bab eingestellt. Aus der Ausrichtung des Angebots auf die Attraktion von Aufmerksamkeit resultiert schließlich ein inhaltlich unspezifisches und radikal enthierarchisiertes Verständnis von (gefühlter) Geschichte und kollektivem Gedächtnis, das durch das subjektive Erleben der Zeitgenossen geprägt ist: Politische, soziale und vor allem (pop-)kulturelle Themen, die zudem bis in die Gegenwart reichen, gehören zum Spektrum des Angebots und werden als gleichermaßen relevant ausgezeichnet. Orientierung bietet vor diesem Hintergrund primär die durch das Nutzungsverhalten bezeugte Popularität einzelner Inhalte: ›Am Häufigsten...‹, ›Gesendet‹, ›Geklickt‹, ›Gemerkt‹ lauten die Kategorien der auf einestages ausgewiesenen Ranglisten, die Inhalte nach der Häufigkeit wahrgenommener Nutzungsoptionen erschließen. Die konstitutive Orientierung am Populären reflektiert eine Situation, die für Gegenwartsgesellschaften auch außerhalb kommerzieller Verwertungszusammenhänge bedeutsam ist. So geht die kultursoziologische Zeitdiagnose der »Erlebnisgesellschaft« (vgl. Schulze 1992) davon aus, dass Angebote aller Art nicht nur einen bestimmten Zweck erfüllen, sondern zusätzlich auch einen subjektiven Erlebniswert aufweisen müssen. In dieser Perspektive konstituiert sich ein Erlebnismarkt, auf dem alle Anbieter um Geld, Zeit und Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren. Auch unterschiedliche Praktiken zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit können sich dieser Konstellation nicht entziehen und sind somit sowohl von im Medienwandel variierenden Darstellungskonventionen, als auch vom Strukturwandel der Öffentlichkeit in einer medialen Erlebnisgesellschaft geprägt. Populäre Formen kommemorativer Kommunikation in Online-Medien sind vor diesem Hintergrund nicht nur durch multimediale und interaktive Präsentationsformate charakterisiert, sondern vor allem durch die Akzentuierung subjektiver Perspektiven, die

32 Vgl. http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/300/_ich_ freute_mich_das_erste_mal_im_leben_auf_die_pruegel.html. 283

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sich in individualisierten Inhalten und der Option zur Partizipation der Nutzer an deren Produktion manifestieren.

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ERINNERUNGSKULTUR IM MEDIENWANDEL

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REPRÄSENTATION VON GESCHICHTE IN WIKIPEDIA ODER: DIE SEHNSUCHT NACH BESTÄNDIGKEIT IM UNBESTÄNDIGEN MAREN LORENZ

Die schöne neue Wiki-Welt Die neuen digitalen Medien mit ihren spezifischen Informations- und Kommunikationstechnologien, allen voran das World Wide Web, stellen auch die Historiographie vor neue Herausforderungen (Haber 2006; Epple 2005).1 »Die Grenzen zwischen historischer Fachkommunikation und der öffentlichen Verhandlung von Geschichte werden durchlässig«, und die neuen Wege der Informationsbeschaffung und -darstellung machen es darum erforderlich, nicht mehr nur nach der »Historizität der Medien«, sondern »nach der Medialität der Geschichte zu fragen« (Haber 2008: 199). Sowohl das Geschichtsbewusstsein selbst als auch die Aushandlung jeder gesellschaftlichen Selbstvergewisserung waren stets – und sind es heute um so mehr – medial bedingt (vgl. Hodel 2008a). Seit im Winter 2000 bzw. Frühjahr 2001 das kollaborative und nach wie vor primär ehrenamtlich betriebene Projekt der Wikipedia in englischer, deutscher, französischer und spanischer Version kurz nacheinander das Licht der virtuellen Welt erblickte, stehen traditionelle Medien zur historischen Erstinformation, gedruckte Enzyklopädien, zukünftig sicher auch wissenschaftliche Handbücher, unter großem ökonomischem wie fachlichem Rechtfertigungsdruck (Walther 2008). Die Form des Online-›Nachklickwerkes‹ als Wiki, einer leicht zu bedienenden OpenSource-Software, bietet schnellen Zugriff und sofortige Aktualisierungsmöglichkeiten und, last but not least, diverse Multimediafunktionen, mit deren Bequemlichkeit ein Buch oder gar ein ganzes Regalbrett schwergewichtiger Folianten im visuellen Zeitalter kaum konkurrieren kann. Das Projekt zum Aufbau nicht nur einer, sondern vieler ›freien Enzyklopädie(n)‹, – inzwischen existieren Versionen in mehr als 250 Spra1

Sämtliche Weblinks in diesem Artikel wurden zuletzt am 28. Februar 2009 überprüft. 289

MAREN LORENZ

chen – boomte gerade in den letzten beiden Jahren, denn HTML oder andere Computerkenntnisse werden nicht benötigt. Hypertextualität ermöglicht es, selbstverfasste oder einkopierte Texte beliebig mit Hyperlinks zu durchsetzen und zu vernetzen, die auch aus Bild- und Ton-Dateien bestehen können.2 Zusätzlich ermöglicht die Wiki-Software vergleichenden Einblick in sämtliche frühere Versionen eines Eintrags und bietet Diskussionsseiten, welche etwaige inhaltliche Dissonanzen verschiedener Autoren dokumentieren. Dabei lassen sich bereits jetzt für verschiedene Sprachkulturen kulturspezifische Unterschiede in der Kollaboration nachweisen (Pfeil et al. 2006). Allerdings gibt es weder eine eindeutige Zuordnung von Autorschaft und Redaktion, noch ein Peer-ReviewVerfahren, wie bei wissenschaftlichen Zeitschriften und Lexika zur Qualitätskontrolle üblich. Stattdessen existiert im Hintergrund ein vernetztes hierarchisches System von ausgewählten Personen mit mehr oder weniger technischen Eingriffsrechten, dessen weit reichende Machtbefugnisse kaum jemand wahrnimmt. Es ist schlicht falsch, wenn das größte historische Webportal Clio Online suggeriert, beim Geschichtsportal in Wikipedia handele es sich um eine »epochal und thematisch gegliederte Aufsatzsammlung verschiedener Autoren«.3 Außerdem trägt das Verschwinden der Grenzen zwischen Autor und Leser zur Irritation bei, denn Produzenten und Nutzer können identisch sein.4 Als technisch wie inhaltlich reizvolles und niedrigschwelliges ›Mitmach-Projekt‹ werden die größeren Sprachvarianten des Online-Lexikons sicherlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die allgemeine Informationsbeschaffung nehmen.5 Für verschiedene Webbrowser stehen mittlerweile kleine Werkzeuge zur Verfügung, mit denen man von jeder Website direkt auf Wikipedia zugreifen oder deren Inhalte verwalten und strukturieren kann. Für die Suchmaschinen Google und Firefox existieren tools, die die parallele Suche in Google und Wikipedia ermöglichen.

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Hypertextualität ist die »nicht-lineare Organisation von Informationseinheiten, die [so nur] in computergestützten Medien« möglich ist und in Druckwerken als ›Querverweis‹ bekannt ist (Wirth 2005: 287). http://www.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__1254/mid__10309/40208 046/default.aspx. Für dieses Phänomen wird auch neue Begrifflichkeit nötig, vgl. etwa Bruns (2008). Dieses Phänomen beschreibt Poe (2008), wenn auch aus romantisch naiver Perspektive, da er von einem »hive mind« ausgeht, das sich aus vorwiegend gebildeten Moralisten zusammensetzt. Wissenschaftlich geht Schroer (2008) die Frage an. 290

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Das lineare Wachstum der Wikipedia verläuft dabei parallel zum allgemeinen Wachstum des globalen Internet. Immer mehr Menschen gehen online, global gesehen allerdings sehr ungleich verteilt, und immer mehr werden online selbst aktiv. Das Schlagwort vom Web 2.0 bezeichnet den Trend zur Mitgestaltung (Marotzki 2008). Aus vielen reinen Konsumenten wurden Produzenten von Inhalten, auch bei der OnlineEnzyklopädie (Schroer 2008). Anfang 2009 zählt man bereits 2,7 Millionen Lemmata in der englischen Version, in deutscher Sprache sind es mittlerweile fast 900.000, in französischer Sprache um 770.000, in der polnischen Version unerwartete 583.000. Eine Studie an der Universität von Minnesota in Minneapolis untersuchte unlängst für den Zeitraum Juni bis Oktober 2006 4,2 Millionen Zugriffe von Editors (Beiträgern) und 58 Millionen Edits (Beiträge) in der englischsprachigen Wikipedia (Cassutt 2007). Die Studie ergab allerdings, dass nur ein Zehntel der angemeldeten Nutzer bis zu 50 Prozent der Beiträge pflegt und qualitativ stabil hält. Das waren in der gigantischen englischen Sprachversion im September 2006 nur ca. 4.300 Personen bzw. Identitäten6 bei 3,8 Millionen Bearbeitungen pro Monat, in der deutschen 964 Nutzer bei 739.000 Edits.7 Insgesamt ist die Tendenz seit März 2008 eher sinkend. Wenn das Nutzerverhalten dem Wunschdenken mancher Betrachter entspräche, wäre eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Struktur der Wikipedia aus geschichtswissenschaftlicher Sicht überflüssig: »Die Datenbank gilt als prima Einstieg, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen und zu orientieren« (Ludwig 2007). Dieser Aussage lässt sich getrost zustimmen. Das Nutzungsverhalten geht bei Millionen von Menschen jedoch seit Jahren weit über unterhaltsame Lektüre und Inspiration hinaus. Das unkritische Nachschlagen in und Zitieren der Wikipedia(s) ist trotz vielfältiger Kritik zur Selbstverständlichkeit geworden (Ehni 2008). Angeblich mindestens 55 Prozent der jugendlichen Nutzer vertrauen den darin dargereichten Informationen »total« (Dammler 2007), obwohl es bis heute bei Wikipedia keine Verpflichtung und auch keine technische Möglichkeit zur Offenlegung oder Überprüfung der Identität, geschweige denn Qualifikation eines Beiträgers gibt. Dennoch wurde Wikipedia bereits in zahlreichen Fällen von US-Gerichten zur Urteilsbegründung herangezogen (Cohen 2007). Auch diverse deutsche Politiker finden offenbar nichts dabei, sich in Interviews auf die ›Autorität‹ der

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Nach wie vor kann sich ein und dieselbe Person unter verschiedenen Namen mehrfach anmelden oder unangemeldet Veränderungen vornehmen. Vgl. http://stats.wikimedia.org/DE/TablesDatabaseEdits.htm, http://stats. wikimedia.org/DE/TablesWikipediansEditsGt100.htm. Die Zahlen werden nur schleppend aktualisiert. 291

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Wikipedia zu berufen (Reinboth 2008). Sogar Museen8 und Stadtverwaltungen9 sollen sich in Zeiten leerer Kassen mittlerweile auf Wikipedia als billige und schnelle Referenz verlassen. Faktisch ist die gigantische Datenbank, der immer lauter werdenden Kritik zum Trotz, auch in der Wissenschaftswelt auf dem besten Wege, zum gleichwertigen Nachschlagewerk aufzusteigen. An Fachhochschulen und Universitäten werden Lehrende in ihren Lehrveranstaltungen seit Jahren mit Versuchen, Wikipedia als Referenz zu nennen, konfrontiert (Hodel 2005).10 Der Klett-Verlag empfiehlt gar Wikipedia-Artikel auf seinen Actio-Online-Schülerseiten.11 Welches Ausmaß muss ihre Nutzung in deutschen Schulen bereits angenommen haben, wenn in diversen gymnasialen Anleitungen zum Verfassen von Hausarbeiten die Schüler vor dem Zitieren von Wikipedia gewarnt werden und gleichzeitig der Bayerische Lehrerverband seine eigenen Mitglieder darauf hinweisen muss: »Zu beachten ist, dass Wikipedia als Quelle dem wissenschaftlichen Anspruch nicht Stand hält« (Bayerischer Philologenverband 2008: 34). Die Fakultät für Physik der Universität Wien gestattet trotzdem inzwischen explizit, sie zu zitieren.12 Diese ›Wikipedianisierung‹ von Recherche und Belegpraxis bestätigt sich nicht nur an Universitäten und weiterführenden Schulen, auch in der Erwachsenenbildung gehört das Lexikon längst zum normalen Arbeitsinstrumentarium. So verlinken z.B. neben dem für die Lehrerfortbildung zuständigen Bildungsserver Hessen13 insbesondere Wirtschafts- und Beraterfirmen im Internet ihre Indizes zur Fachterminologie gern mit Wikipedia. Warum auch nicht, wenn sogar der renommierte Spiegel damit neue Leserschichten zu erschließen versucht?14 Auch die Wikipedianer selbst haben keine Hemmungen, ohne Hinweis auf die Grundproblematik der Flu-

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Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Kurier/Ausgabe_7/8_2008. Hier bei der Betextung eines neuen Straßenschildes: http://de.wikipedia. org/wiki/Bild:Erika-Mann-Bogen.jpg und http://blog.wikimedia.org/2008/ 06/30/road-sign-cites-wikipedia/. Eine interessante studentische Diskussion findet sich unter: »Wikipedia bei Facharbeit zitieren?«, http://www.uni-protokolle.de/foren/viewt/147944,0. html. http://www.klett.de/sixcms/list.php?page=lehrwerk_extra&titelfamilie=Actio &extra=Actio-Online&modul=inhaltsammlung&inhalt=kss_klett01.c.20619 9.de&kapitel=297169#Link-Empfehlungen. https://elearning.mat.univie.ac.at/physikwiki/index.php/Hilfe: Zitierregeln. http://lernarchiv.bildung.hessen.de/sek_i/geschichte/themen/themen/ausseuro/smam/edu_7394.html. Vgl. http://wissen.spiegel.de/wissen/start/home.html. 292

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idität ihrer Inhalte ihre Fachkompetenz als virtuelles Schulbuch anzupreisen.15 Viele Universitätsbibliotheken haben die Wikipedia schon vor Jahren gleichberechtigt in ihre Recherchetool-Verzeichnisse aufgenommen. Seit dem Sommer 2008 geht etwa die Staatsbibliothek Hamburg dazu über, in ihren elektronischen Katalogen durch automatische Backlinks die gesuchten Literaturangaben mit jenen Wikipedia-Einträgen zu verknüpfen, in denen diese Literatur erwähnt wird. Diese indirekte, weil automatisierte Form des social tagging,16 der individuellen Verschlagwortung, führt Nutzer einer solchen vertrauenswürdigen Uni-Datenbank auf die Abwege der ungeprüften Wikipedia-Seiten, ohne auf die zweifelhafte Qualität des hergestellten Zusammenhangs hinzuweisen.17 2007 wurde bei der zweiten Wikipedia Academy gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur die Zedler-Medaille eingeführt, mit der die besten neuen Artikel aus den Geisteswissenschaften prämiert werden sollen.18 Solche Veranstaltungen seitens des Trägervereins Wikimedia Deutschland in Kooperation mit Partnern aus der Wissenschaft zielen darauf ab, »die Wikipedia stärker im akademischen Umfeld zu etablieren. Neben der Gewinnung neuer, kompetenter Autoren dient die Veranstaltung dem Dialog zwischen Fachwissenschaftlern und Wikipedia-Autoren über die Möglichkeiten einer inhaltlichen und strukturellen Weiterentwicklung des Enzyklopädieprojektes«.19 Wikipedia beeinflusst mithin bereits heute ganz wesentlich die internationalen Wege

15 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedia_in_der_Schule. 16 Der Begriff bezeichnet gemeinschaftliches Indizieren, auch social bookmarking genannt. Es gibt bislang wenig Kritisches zum Thema. Weitgehend euphorisch aber dennoch informativ Carlin (2007) und Kroski (2007). 17 Ein Nutzen dieses Spielzeugs erschließt sich nicht, es sei denn, man hält sich vor Augen, dass das Script vom Ur-Wikipedianer Jacob Voss entwickelt wurde, der mittlerweile als Software-Spezialist für den Gemeinsamen Verbundkatalog (GBV) tätig ist und aufgrund seiner langjährigen Anbindung an die Universitätsbibliothek Göttingen u.a. die erste Wikipedia Academy 2006 mit anschob, vgl. http://www.gbv.de/wikis/cls/Benutzer:Voss. 18 Details unter http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Zedler-Medaille. Der offizielle Ausschreibungstext unter http://www.wikimedia.de/zedlermedaille wurde mittlerweile entfernt. Die Jury erhielt akademische Weihen durch sehr renommierte, teilweise emeritierte Professoren. Zu den Hintergründen dieser Public-Relation-Inszenierung vgl. Lorenz (2008). 19 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Academy. Vgl. auch http://wikipe dia-academy.de/2008/index.php. 293

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der elektronischen Informationsbeschaffung, und viele Bildungsträger springen auf den vermeintlich coolen Zug auf. 20 Der jüngste Coup der Wikimedia Foundation ist die erneute Zusammenarbeit mit dem Bertelsmann-Konzern (Lorenz 2008). Das Bertelsmann Lexikon Institut, ein Imprint des Wissen Media Verlags, brachte im Herbst 2008 eine einbändige Billigversion des Online-Lexikons heraus. Für knapp 20 Euro sind 50.000 Stichwörter erhältlich. Auswahlkriterien waren im diametralen Gegensatz zu herkömmlichen Lexika »die in 2007/08 am häufigsten recherchierten [!] Suchbegriffe der Online-Enzyklopädie« – in zusammengefasster Form, manchmal gar nur einzeilig, ›MacPedia Light‹ sozusagen. Der Verlag, so die Pressemeldung weiter, »will mit der Printausgabe der erfolgreichen Online-Enzyklopädie neue Zielgruppen erschließen«.21 Damit passt sich die Lexikonkultur den wandelnden Interessen der Konsumenten an. Bestimmt hier das Angebot die Nachfrage? Sieht so die Zukunft des ›Weltwissens‹ aus, ähnlich jenen Literaturklassikern, die für den Schulunterricht inzwischen in LightVersionen dem verarmten Wortschatz vieler Muttersprachler angepasst werden (Hartung 2004)? Der Markt der Webnutzer fragt offenbar danach.

Wikipedia und (Geschichts-)Wissenschaft Die Anerkennung der Kontextualität jeglicher Erkenntnis bzw. wissenschaftlicher Tatsachen ist in geisteswissenschaftlichen Kreisen längst kein Tabu mehr. Dies gilt auch für die aktuelle Enzyklopädieforschung: »Hinter dem, was wir in einer konkreten Enzyklopädie als Momentaufnahme fassen, steht ein Prozess: die Enzyklopädie ist der Aushandlungsort dessen, was als wissenswert gelten soll. Wie verlaufen Traditionen des Exzerpierens, Abschreibens, Ausbeutens?« (Michel/Herren 2005: 10).22 Der Kampf um die enzyklopädische Wahrheit, die doch gerade kompakte Orientierung vermitteln soll, ist darum eine besonders heikle Sache. Unlängst versuchte der Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig, unter Verweis auf »den Zedler« die Gemüter zu beruhigen:

20 Vgl. aus pro-wikipedianischer Sicht Möller (2006). 21 http://www.bildungaktuell.at/index.php/news/2008/wikipedia-ab-septemberauch-als-printausgabe/. Vgl. auch http://www.manager-magazin.de/it/arti kel/0,2828,548929,00.html. 22 Mit dieser Frage beschäftigte sich bereits 2004 die erste Diplomarbeit zu Wikipedia (Schlieker 2004). 294

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»Das Kompilieren wurde schon im 17. Jahrhundert, als das Abschreiben mangels Urheberrecht weitgehend ungestraft florierte, als echte Arbeit angesehen. [...] Wir denken in Bezug auf Enzyklopädien noch viel zu stark in Begriffen der verwissenschaftlichten Welt, und wir denken zu oft, es ginge um die Qualifizierung der Wahrheit« (Schneider 2008).

Diesen historisierenden Ausführungen zum Streit um die Wissenschaftlichkeit bzw. Perspektivität der Wikipedia sei nicht widersprochen. Allerdings darf man sicher davon ausgehen, dass Zedlers 68-bändigem, in einer Auflage von ca. 12.000 Exemplaren erschienenen und nie nachgedruckten Lexikon trotz seiner Prominenz im 18. Jahrhundert bei weitem nicht die gesellschaftliche und politische Bedeutung zukam, die Wikipedia angesichts des oben beschriebenen Rezeptionsverhaltens im Zeitalter des Web 2.0 bereits heute besitzt. Es geht auch um die alte Frage der ökonomischen und politischen Verantwortung des Wissenschaftlers oder Produzenten für das, was andere mit seinem Produkt anstellen. Darf und muss man nicht, angesichts der in Zukunft sicher noch weiter wachsenden Wirkmächtigkeit des neuen Leitmediums und seiner Offenheit für Manipulationen aller Art, andere und höhere Ansprüche an Wikipedia stellen als an ›normale‹ Printmedien, die generell an Bedeutung für die Informationsbeschaffung verlieren? Es gibt hier mehr und neue technische Dimensionen der Wissensgenese und des Wissenstransfers zu berücksichtigen als es Bibliothekswissenschaften und Ideengeschichte zu leisten vermögen (Haas 2004). Allerdings kann damit auch nicht gemeint sein, einfach den Vereinsvorstand von Wikipedia für die fluiden und gigantischen Inhalte juristisch zur Verantwortung zu ziehen, wie mehrfach vergeblich versucht wurde.23 Das bedeutete in Konsequenz das Ende der Wikipedia.

Geschichte in Wikipedia: Daten, Zahlen, Kitsch und Edit-Wars Bekanntlich ist meist auch dort Geschichte drin, wo gar nicht Geschichte draufsteht. Das macht viele politische oder scheinbar alltägliche Artikel in Wikipedia zu historisch heiklen und heiß diskutierten Schauplätzen. Auf deren gesellschaftliche Brisanz kann hier nur generell verwiesen werden. Das Geschichtsportal, darunter Subportale, etwa zur Antike oder Frühen Neuzeit, will offenbar Abgrenzung schaffen und eröffnet einen 23 http://www.wikimedia.de/2008/05/wikimedia-deutschland-gewinnt-erneutprozess/. Allerdings trifft der rein juristische Schachzug des Abwälzens der Verantwortung auf die amerikanische Mutter-Stiftung nicht den Punkt. 295

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strukturierten Zugang zu dezidiert historischen Artikeln, die von einer selbst ernannten Geschichtsredaktion als solche klassifiziert wurden.24 Es ist traditionell nach Epochen und Regionen aufgeteilt und enthält auch einen bislang mageren thematischen Bereich. Hier kann man über Zeitleisten nach Themen, Ereignissen, Biographien oder Kontinenten einsteigen. Schon immer überwogen im historischen Bereich Lemmata aus dem Bereich des Militärischen und Technischen. Gerne werden Daten und Zahlen, etwa Chroniken von Attentaten, Kriegen, Belagerungen oder Schlachten, statt Zusammenhängen präsentiert. Auch die Klassifizierung der Lemmata spiegelt weiterhin mehrheitlich ein positivistisches, ereignisorientiertes Denken von Militär-, Naturwissenschafts- und TechnikInteressierten und damit genau die Statistik der überwiegend männlichen Beiträger wider.25 Auch in der Redaktion Geschichte dominieren die Männer. Diese Redaktion hat mittlerweile unverbindliche, sehr ausführliche Empfehlungen zur Erstellung historischer Artikel formuliert, löscht Ungenügendes und bietet teilweise Review-Dienste an.26 Weder auf der Redaktions- noch auf der Portalsseite finden sich allerdings Identitäten, geschweige denn fachliche und verifizierbare Qualifikationen der wenigen ›Redakteure‹.27 Die Diskussionen der Geschichtsredaktion über wissenschaftliche Qualitätssicherung unterscheiden sich denn auch nicht von denen außerhalb des Portals.28 Entgegen der Behauptung, jeder könne überall mitmischen, findet sich gerade unter den historischen Begriffen eine Reihe von nicht mehr editierbaren Lemmata.29 Theoretisch existierten zwei Arten von geschützten Artikeln: dauerhaft gesicherte oder für unangemeldete oder neue Benutzer für vier Tage gesperrte. So wird wenigstens spontanem Vandalismus ein Riegel vorgeschoben. Doch gerade historische, biographische und aktuell politische Überblicksartikel werden zeitweise ganz

24 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Geschichte. 25 Bis heute bestätigen sämtliche Untersuchungen zur Sozialstruktur der angemeldeten Nutzer eine ca. 90-prozentige Dominanz von überwiegend ledigen Männern um die 30 (vgl. Lorenz 2006, 2009). 26 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Redaktion_Geschichte/Qualitätssi cherung/Gelöschte_Artikel und http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Review/ Geschichte. 27 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Redaktion_Geschichte. Nach einiger Suche stößt man auf: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Redak tion_Geisteswissenschaften/Ansprechpartner. Als solche identifizieren sich drei Frauen. 28 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Redaktion_Geschichte/Qualitätssi cherung. 29 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Geschützte_Seiten. 296

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gesperrt und können dann nur noch durch Administratoren verändert werden. Offenbar ist es mit dem Vertrauen in die vielbeschworenen Selbstreinigungskräfte des hive mind nicht sehr weit her, denn die Zahl der dauerhaften Sperrungen steigt rapide. Rechte Geschichtsschreibung, Geschichtsrevisionismus, Militarismus und auch Antifeminismus wurden ein immer massiveres Problem, je populärer die deutschsprachige Wikipedia wurde (vgl. Schuler 2007a: 123138, bes. 135; Schuler 2007b). Diese Manipulationen störten anfangs kaum, da viele der historisch Interessierten selbst vornehmlich militärgeschichtliche Lemmata anlegten und hegten. Längst gibt es ein Militärportal, das sich hauptsächlich der Waffentechnik, verschiedenen Armeen und ihren Waffengattungen sowie der Schlachtengeschichte widmet – mit Zahlen, die v.a. in Bezug auf die Toten und Verwundeten meist nicht einmal wirklich belegt werden können.30 Freunde der Grafik und Statistik trieben dies auf die Spitze, indem zu jeder Schlacht eine Infobox mit Positionen und Angriffswegen, Truppenstärke usw. angelegt werden sollte. Gegen diese ›Schlachtenbox‹ formierte sich Widerstand, der allerdings durch Mobilisierung der Militaria-Freunde bei der in solchen Fällen üblichen ›Meinungsbildung‹ gebrochen wurde, so dass die Boxen wieder eingefügt wurden.31 Nicht nur angesichts lang zurückliegender Kriege suggerieren solche Präsentationsformen interessierten Laien fälschlicherweise Tatsachenwissen und auch Vollständigkeit. Zwei frühneuzeitliche Beispiele sollen dies verdeutlichen: Die ›gesichtete‹ Seite zur »Belagerung von Ofen 1684/86« ist auch anderthalb Jahre nach ihrer Erstellung trotz professionell ansprechender Abbildungen inhaltlich recht oberflächlich und wird oft monatelang nicht bearbeitet.32 Es gibt nur sieben Belege aus zwei Monographien für Behauptungen, auch fehlen Hinweise auf Quellen, etwa diplomatische Briefwechsel, (Propaganda-)Flugschriften oder auch Selbstzeugnisse. Angaben zu Ursachen finden sich nicht. Der »Ausgangssituation« sind drei Zeilen gewidmet, den politischen »Folgen« ein ganzer Abschnitt. Aber die farbigen Abbildungen und die Box suggerieren Fachkompetenz und Verlässlichkeit. Sätze wie: »Ein ca. 38.000 Mann starkes Heer machte sich im Frühjahr 1684 unter Karl V. von Lothringen auf, um die Stadt 30 http://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Militär. 31 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Vorlage:Infobox_Militärischer_Konflikt, http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Meinungsbilder/Verwendung_der_ Infobox_Militärischer_Konflikt. Im Bereich Militärgeschichte gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Visualisierungskästen mit Zahlen und Fakten, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Vorlage:Infobox_Militär_ und_ Waffen. 32 http://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Ofen. 297

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Ofen von den Osmanen zu befreien«, sind in solchen Artikeln Legion und transportieren gleich auf mehreren Ebenen problematische Botschaften. Das Lemma zur »Zweiten Wiener Türkenbelagerung«, einem in der Community offenbar erheblich populäreren Ereignis, ist weit umfangreicher und wird regelmäßig bearbeitet.33 Hier enthalten die Truppenstärken der Infobox Fußnoten, und es wird häufiger auf angebliche Belege verwiesen. Allerdings sind die teilweise in Klammern gegebenen Hinweise auf »Primär«- bzw. »Sekundärquellen« häufig nutz- und bedeutungslos. So heißt es etwa in Fußnote 7: »Walter Sturminger: Die Türken vor Wien. Karl Rauch, Düsseldorf 1968, S. 32 (Sekundärquelle) zitiert Oberstleutnant Johann Georg von Hoffmann aus dem Jahresbericht des Realgymnasiums der Theresianischen Akademie in Wien 1937 S. 3–17 von Dr. Stefan Hofer (Primärquelle)«.

Andere Belege führen zu toten Links, populärwissenschaftlichen oder privaten Websites oder sind gleich in mehrfacher Hinsicht unsinnig, etwa wenn in Fußnote 10 auf die Seite 178ff. einer zeitgenössischen Autobiographie verwiesen wird, die sich als genealogischer Privatessay entpuppt, der selbst ohne Belege und Literaturverzeichnis auskommt und noch dazu nur 50 Seiten umfasst.34 Unter der Rubrik »Akteure« finden sich im Stil von Passfotos Portraits der Feldherren und des Papstes, die Rubrik »Ablauf« zählt erst einmal Geschütze auf. Die kleinteilige Chronologie der Ereignisse kommt weitgehend ohne Belege aus. Das Literaturverzeichnis enthält u.a. einen Roman. Der erste Eindruck dieser Seite suggeriert durch ansprechende graphische Gestaltung umfassende Fachinformation. Doch abgesehen von einigen Hinweisen auf die Alltagssituation der betroffenen Soldaten und Zivilisten reicht das Spektrum von anekdotischen über banale Details bis hin zur Erwähnung noch der kleinsten Militäraktion. Überwiegend geht es um Schanzarbeiten, die Zahl der abgeschossenen Kanonenkugeln, wer wann wem einen Brief überbrachte und wie viel Dukaten er dafür erhielt, um Truppenverlagerungen und Präsenzen prominenter Protagonisten. Auch ein Seitenhieb auf Frauen, die nach Meinung jenes oben genannten, nicht verifizierbaren Lebensberichtes die Männer beim Ausheben von Festungsstollen gestört haben sollen, hat sein Plätzchen. Beinahe amüsant erscheinen holprige, auch nach Monaten unveränderte Formulierungen wie: 33 http://de.wikipedia.org/wiki/Zweite_Wiener_Türkenbelagerung. 34 Ebd.: »10. Ĺ a b c Lebensgeschichte Georg Rimpler S. 178 ff«; der dahinter liegende Link: http://members.kabsi.at/familienforschung/Rimpler.pdf. 298

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»Außer einigen abgeschlagenen Köpfen konnten die Türken aber nichts erreichen. Die Überbringer dieser Köpfe an Großwesir Kara Mustafa wurden reich belohnt. Den Janitscharen dauerte es schon zu lange. Sie waren verärgert auf Großwesir Kara Mustafa wegen der langen Belagerungsdauer«.

Eine Metaebene, etwa historische, ökonomische oder religiöse Zusammenhänge, Auswirkungen des Ereignisses auf die Region, das Alte Reich oder das osmanische Reich sucht man nach längerer Lektüre (der Text umfasst rund 65.000 Zeichen, ohne Hyperlinks) vergebens. Solche oft sehr umfangreichen historischen Lemmata einzeln genau zu analysieren wäre ein lohnendes didaktisches Unterfangen, im Geschichtsunterricht oder auch im Rahmen einer universitären Übung (vgl. Hodel 2008b). Gerade manch gelungenere sachliche Nebendiskussion und die Versionsseiten machen die Genese der Meinungsbildung und den Austausch von Argumenten transparent. Hier würde eine aufwändige Textexegese jedoch mein Ziel der systematischen Kritik verfehlen. Auch erscheint es absurd, bei tausenden Lemmata, unter denen sich sicherlich einige hervorragend von kompetenten Kollegen betreute Stichworte befinden, gerade die Allerschlimmsten oder die der eigenen Spezialgebiete auseinanderzunehmen, wenn inkriminierte Formulierungen bis zur Drucklegung vielleicht längst entfernt oder überschrieben wurden (vgl. Hodel 2006). Der US-Historiker Roy Rosenzweig, der 2006 einige bekannte amerikanische Biographien in der englischen Wikipedia mit anderen Lexika verglich, fand inhaltlich an ihnen kaum etwas zu bemängeln (Rosenzweig 2006). Wie auch, wenn diese Texte größtenteils direkt aus Druckwerken transkribiert wurden, wie dies auch in der deutschen Version häufig der Fall ist. Hier stammen ältere Personenangaben meist aus der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB), die doch selbst kostenlos online zugänglich ist. In diesem Fall ist man immerhin bemüht, durch Anpassung an transnationale Bibliotheksstandards (PND)35 klare Verweisstrukturen zu schaffen.36 Bezogen auf historische Ereignisse und Analysen sind Strukturierung und Auswertung jedoch viel komplizierter. Rosenzweig folgerte aus dem gigantischen Qualitätsdefizit solcher Stichworte, Historiker sollten sich in Massen ehrenamtlich in Wikipedia engagieren, um Stil und Reflexionsniveau der historischen Artikel verbessern zu helfen. Dabei ignorierte

35 http://www.d-nb.de/standardisierung/normdateien/pnd.htm. 36 http://de.wikipedia.org/wiki/Personennamendatei, http://de.wikipedia.org/ wiki/Hilfe:PND, http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Personendaten. 299

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er in erster Linie das basale Problem der mangelnden Permanenz solchen Einsatzes.37 Grundsätzlich dramatischer bezogen auf die Rezipienten scheint jedoch die verbreitete Synthese von Ideologie, Fanatismus und Hartnäckigkeit. Seit einiger Zeit wird z.B. vermutet, Neonazis unterwanderten gezielt sämtliche ihnen relevant erscheinenden deutschen Seiten und platzierten unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit auch eindeutig Verbotenes (vgl. Schuler 2007a: 127-138). Während tatsächlich Neonazis auf ihren Webseiten offen hierzu aufrufen,38 versuchen einzelne Wikipedianer, eine Vielzahl gefährdeter Lemmata zu überwachen.39 Die Rolle einzelner Admins und User dabei ist aber ebenfalls unklar, denn es werden immer wieder auch solche Aktivisten von anderen Admins gesperrt. ›Glaubenskriege‹ werden in sämtlichen historisch-politisch umstrittenen Themenbereichen, etwa zum Nahen und Mittleren Osten, Balkan oder Kaukasus ausgetragen, mit unterschiedlicher Wucht in den verschiedenen Sprachversionen. Wegen der zunehmenden Bekanntheit der Wikipedia manipulieren auch Interessengruppen aus Politik und Wirtschaft schon länger Inhalte – ein Problem, das nicht nur für Wirtschafts- und Zeitgeschichte von Interesse sein dürfte. Der Journalist Günter Schuler, der das Treiben fast ein Jahr lang intensiv verfolgte, sieht in der Wikipedia »das zielgerichtete Hijacken von Artikel-Inhalten für die jeweilige politische Sicht sowie die Praxis des Artikel-Aufschönens zu PR-Zwecken« auf breiter Front (Schuler 2007a: 10, 173-184). Solch organisiertes Lobbying oder Diffamierungstreiben will man neuerdings mit technischer Hilfe aufdecken und publik machen. Dafür wurde 2007 privat der WikiScanner entwickelt, der IP-Adressen teilweise sogar einzelnen Unternehmen zuordnen kann.40 Vorher war dies nur sehr grob möglich (Schuler 2007a: 170-172), seitdem kann jeder IP-Adressen selbst überprüfen.41 Es handelt sich hier jedoch um einen vermeintlichen Meilenstein, der trügerische Transparenz verheißt, denn Firmenangestellte oder Parteimitglieder, die sich mit 37 Meine klare Zurückweisung dieses Vorschlags wird ausführlich begründet in Lorenz (2006). 38 Vgl. http://forum.thiazi.net/showthread.php?t=130879. Rechte arbeiten auch am »Aufbau einer freien deutschen Enzyklopädie«: http://www.ency clopaedia-germanica.org/de/index.php/Hauptseite; Ende Februar 2009 mit ca. 27.700 Artikeln. 39 http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Brummfuss/Nazipedia. 40 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikiscanner; vgl. Robert A. Gehring: »Wikiscanner für deutsche Wikipedia jetzt online« vom 25. August 2007 (http://www.golem.de/0708/54338.html). 41 http://wikiscanner.virgil.gr/index_DE.php. 300

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eigenem Nutzer-Namen anmelden werden ebenso wenig identifiziert wie jene Lobbyisten oder Politaktivisten, die sich von zu Hause oder aus dem Café anonym über einen Provider bzw. Proxy-Server einwählen.42 Gegen solche Zugriffe von nicht-statischen IP-Adressen kann die Technik ohne Gerichtsbeschluss nichts ausrichten. Schon aufgrund der weiter wachsenden Textmasse ist der Schutz der Wikipedia(s) vor gezielten Missbräuchen darum Illusion.

Innere Struktur und Selbstmanagement Aufgrund der kritischen Berichterstattung wird darum an immer weiteren Kontrollfunktionen gefeilt. Bei allen Unterschieden im Detail zwischen den verschiedenen Sprachräumen gibt es dabei gemeinsame Grundstrukturen.43 Lange wurden Aspekte von Anarchie, Demokratie, Autokratie, Meritokratie, und Technokratie gepriesen.44 Dieses ›knackige‹ Vokabular wurde mittlerweile aus der aktuellen Einführungsseite getilgt. Anarchie bedeutete, dass jeder zunächst unangemeldet Lemmata anlegen und bearbeiten konnte. Nicht angemeldete Nutzer erscheinen zur Abschreckung von Missbrauch bei Bearbeitung auf der Versionsseite zwar automatisch mit ihrer IP-Adresse; diese (s.o.) erlaubt aber keine Identifizierung. Auch die Identitäten hinter den Nicknames aller angemeldeten Nutzer sind nicht überprüfbar, da keine persönlichen Daten erhoben werden. Zwar können nur angemeldete Nutzer an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen (Demokratie), aber auch hier ist es möglich, mit verschiedenen Identitäten mehrfach abzustimmen. Stimmberechtigt sind nur seit mindestens zwei Monaten angemeldete Nutzer, die mindestens 200 Edits vorgenommen haben.45 Als Edit zählt allerdings rein technisch jede Aktion, schon das Hinzufügen eines Kommas oder eine Absatzschaltung genügen. Die stille Autokratie spiegelte sich lange im großen persönlichen Einfluss des Gründers Jimmy Wales wider. In seiner Rolle als benevolent dictator fällte er noch bis mindestens 2006 einsame Grundsatzentscheidungen, darunter das Sperren des Anlegens neuer Artikel und das Hoch42 Über die vielen Schwächen der Identifizierungssoftware wird man offen und detailliert informiert unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia: Wikiscanner/FAQ. 43 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Machtstruktur, http://de.wikipedia. org/wiki/Wikipedia:Benutzer und http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia: User_access_levels. 44 http://meta.wikimedia.org/wiki/Power_structure. 45 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Stimmberechtigung. 301

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laden von Dateien durch Nichtangemeldete in der englischen Wikipedia im Herbst 2005.46 Allerdings bleibt er als Wikimedia-Vorstandsmitglied nach wie vor die graue Eminenz, die immer wieder stabile Lemmata ins Spiel bringt. Einen Teil seiner Rechte übertrug er Anfang 2004 in der englischen Wikipedia an ein, zunächst von ihm selbst ernanntes, später von den wahlberechtigten Teilnehmern neu gewähltes arbitration committee.47 Eine diesem Schiedsgericht vergleichbare Institution existiert noch nicht in allen Versionen. In der deutschen Wikipedia wurde das zehnköpfige Gremium 2007 etabliert.48 Das meritokratische Prinzip, das der Qualitätssicherung verpflichtet sein will, besteht aus diversen verwirrenden Ebenen. Keiner dieser mit besonderen technischen Vorrechten Ausgestatteten muss, etwa mittels eines Impressums, seine Identität preisgeben. Es handelt sich ausschließlich um Rechte, die anonymen Nutzern aufgrund besonderen Engagements innerhalb des Systems verliehen werden (Wöhner 2007: 97-103). Die Technokratie ist der mächtigste Aspekt, denn sie ist unsichtbar. Die entscheidende Macht haben die, die im Hintergrund die Wiki-Software weiterentwickeln, die entscheiden, wann und wofür automatisierte Verfahren eingesetzt werden, die Versionsgeschichten löschen und standardisierte Alarme setzen können, um Artikel oder bestimmte angemeldete Nutzer zu überwachen, die Artikel für Bearbeitung ganz sperren oder auch den IP-Adressen von eingeloggten Nutzern nachspüren können (Schuler 2007a: 139-173). Solche technischen Rechte sind auf verschiedene Ebenen verteilt, und die genauen Regeln variieren leicht zwischen den Sprachen. Sie bestehen, abgesehen von den einfachen angemeldeten Nutzern, aus folgenden sechs Stufen:49 Ganz oben stehen die Developer, eine kleine Gruppe von Systemadministratoren mit unterschiedlichen Rechten zur Arbeit an Software und Technik.50 Seit November 2005 existieren in einigen Sprachräumen 46 http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Upload. 47 http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Arbitration_committee. 48 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Schiedsgericht, vgl. auch: http://de. wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Schiedsgericht/FAQ. 49 http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:User_access_levels. 50 http://meta.wikimedia.org/wiki/Developers; diese Seite wird (absichtlich?) nicht aktualisiert, obwohl sie stark veraltet ist. Developers sind eigentlich nicht mit inhaltlichen oder formalen Fragen befasst, erledigen aber ganz nach Gusto gelegentlich auch Oversight- und Checkuser-Aufgaben (s.u.). Dazu gehören neben Jimmy Wales auch zwei Deutsche, der Wikimedia Deutschland Mitbegründer und noch bis September 2008 Geschäftsführer Arne Klempert (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Akl) und der 302

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Checkuser (Stufe 2).51 Sie können IP-Adressen von angemeldeten Usern identifizieren und sich alle Edits dieser und verwandter Adressen anzeigen lassen und mit ihnen frei verfahren, d.h. diese sogar dauerhaft sperren. Die Oversights (Stufe 3) sind meist personell identisch mit den Checkusern und verfügen zusätzlich über technische Rechte, Versionen von Lemmata komplett und dauerhaft zu eliminieren. Für die deutschsprachige Version scheint es noch immer keine eigenen Oversights zu geben.52 Denn wie bei allen versionsübergreifenden Rechten, sind es faktisch die Sprachgrenzen, die die Handlungsfähigkeit der englischsprachigen Mehrheit in der Führungsriege bestimmen. Diese letzten beiden Positionen technisch Privilegierter wurden erst aufgrund der Skandale des Jahres 2006 seitens der USA-Leitung eingeführt. Die Strukturentscheidung stellte eine ›historische‹ Zensur dar, denn entgegen der öffentlich kolportierten totalen Transparenz und Archivierung aller Ereignisse, werden seitdem besonders heikle Vorfälle (Diskussionen, Versionen, ganze Lemmata) gänzlich aus dem ›kollektiven Gedächtnis‹, sprich: den Servern der Wikipedia getilgt. Diese Neuregelung war dem teilweise juristisch erstrittenen Schutz vor persönlichkeitsverletzenden oder volksverhetzenden Einträgen geschuldet. Die quasi dann auf einer vierten Stufe angesiedelten Stewards stehen theoretisch über den einzelnen Sprachversionen.53 Sie können länderübergreifend Benutzer zu Bürokraten oder Admins (s.u.) ernennen bzw. deren Rechte wieder entziehen. Ebenfalls weitgehend unsichtbar agieren darunter die Bürokraten. Sie sind auf ihren Sprachraum beschränkt und verleihen oder entziehen nach Wahlen, aber durchaus auch nach eigenem Ermessen innerhalb ihres Projektraumes Admin-Status.54 An der Basis des einzelnen Lemmas schalten und walten die gewählten Administratoren (Stufe 6) allein. Sie können sich alle Änderungen für ›ihre‹ Seiten zeitgleich anzeigen lassen und diese umgehend revidieren, Seiten vor weiterer Bearbeitung schützen und sogar IP-Adressen oder angemeldete Benutzer kurz- oder langfristig sperren. Mittlerweile dürfen auch sie Versionen oder Diskussionen ganz löschen. Mit diesem Zuwachs an Rechten wurde, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt,

51 52 53 54

neue Vizevorstand der Wikimedia Foundation in den USA Erik Möller (vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/User:Eloquence). http://meta.wikimedia.org/wiki/Help:CheckUser und http://de.wikipedia. org/wiki/Wikipedia:Checkuser. http://meta.wikimedia.org/wiki/Hiding_revisions#Policy. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Steward und http://meta.wikimedia. org/wiki/Stewards. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Bürokraten. 303

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die Dokumentation der Genese bzw. Machtkämpfe um einen Artikel weiter geschwächt.55 Die Referenz der Admins hinsichtlich der von ihnen betreuten Lemmata, ebenso wie ihre Identität, bleibt meist undurchsichtig. Sie fühlen sich für ›ihre‹ Beiträge nur moralisch verantwortlich. Welche Lemmata sie überhaupt kontrollieren, bleibt auch unklar. Ihre Lösch- und Sperraktionen beeinflussen die Inhalte der Wikipedia jedoch maßgeblich.56 Beschwerden über Machtmissbrauch seitens einzelner Admins (›Adminpedia‹57) auf entsprechenden Beschwerdeseiten oder beim eingeführten Vermittlungsausschuss58 sind offene und unstrukturierte Verfahren per Diskussion und Meinungsbild, die oft in persönliche Kleinkriege ausarten oder irgendwann versanden.59 Widerspruch schlägt sich dementsprechend in emotionalisierten Edit-Wars, dem gegenseitigen Rückgängigmachen von Einträgen, nieder, die letztlich der Admin entweder durch einen längeren Atem oder schlicht durch Sperrung der IP-Adresse des Kontrahenten gewinnt.60 Nach wie vor findet keine formalisierte Kontrolle statt. Die Intransparenz der Verfahren wird noch dadurch verstärkt, dass Alt-Wikipedianer und Vorstände der Stiftungen auf verschiedenen Ebenen vom Admin bis zum Steward oder höher gleichzeitig aktiv sind. Die aus dieser äußerlich klar, aber intern gänzlich ungeregelten Hierarchie entstehenden Konflikte und öffentlichen Skandale führten zunächst dazu, dass seit Ende 2005 das Hochladen von Bild- und Audiodateien, in der englischen Version auch das Anlegen neuer Artikel, nur noch durch angemeldete Benutzer möglich ist. In der englischen Version wurden bereits seit 2006 immer häufiger ideologisch und emotional besetzte historisch-biographische Artikel dauerhaft gesperrt. Die Bearbeitung der auf »Qualitätssicherungs-Seiten« eingestellten und binnen 48 Stunden zu überarbeitenden mangelhaften Artikel funktioniert bis heute unkontrolliert und schleppend. Diese Funktion wurde in der deutschen Version im Februar 2006 mangels Mitarbeit sogar vorübergehend ganz

55 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Administratoren. 56 Umständlich aber unklar: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Lösch regeln und http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Schnelllöschantrag. 57 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f6/Adminpedia.png. 58 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Vermittlungsausschuss. 59 Vgl. eine ausführliche sarkastische Abrechnung eines wiederholt gesperrten Renegaten auf http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Brummfuss. 60 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Edit-War. 304

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eingestellt, mittlerweile aber wieder reaktiviert.61 Manche Nutzer versuchen nun, durch verschiedene Tricks gelöschte Versionen zu retten.62 Angesichts der eklatanten Strukturprobleme hatte Jimmy Wales schon bei der Wikipedia Academy 2006 – zunächst nur für die deutsche Version – eine einschneidende Reform angekündigt: die Einführung stabiler Artikelversionen. Dies hätte allerdings den Charakter der Wikipedia grundsätzlich verändert, darum wurde diese Reform nach intensiven internen Debatten vorerst zu Grabe getragen. Sollte es je zur Einführung stabiler Artikel kommen, müssten sich die dann offiziell für bestimmte Gebiete zuständigen Administratoren tatsächlich aus qualifizierten Fachlektoren rekrutieren. Seit Ende Mai 2008 wird eine scheinbare ›Qualitätsoffensive‹ in den Medien beworben. Durch die Einführung ›gesichteter Versionen‹, bislang allein in der deutschen Wikipedia, wird in der Öffentlichkeit gezielt der Eindruck erweckt, es fände eine Qualitätskontrolle statt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Sichtung besagt nur, dass eine Version frei von offensichtlichem Vandalismus ist, nicht, dass der Artikel fachlich geprüft wäre. Dies kann sogar bedeuten, dass die aktuelle Version besser ist als die gesichtete, nur letztere wird aber automatisch angezeigt. ›Sichter‹ greifen oft auch inhaltlich ein und erhalten damit faktisch Admin-Status, denn noch existieren keine semantisch strukturierten Suchmaschinen, die es ermöglichten, Qualität und Korrektheit von Zeichenfolgen zu prüfen, selbst wenn es theoretisch gelänge, sich jeweils auf eine richtige Beschreibung eines Sachverhaltes zu einigen. Doch Gleiches trifft auf die von Menschen kontrollierten Artikel zu, denn auch ›Sichter‹ suchen nicht generell nach subtilem Vandalismus, ideologischer Wortwahl, normativen Setzungen oder Verdrehung von Fakten. Im negativen Fall helfen solche technischen Befugnisse Freiwilliger, Artikel zu ›verschlimmbessern‹ – mangels Fachkenntnissen gerade bei historischen Themen ein Dauerproblem.63 Parallel zu solchen Reformen werden in einem ›Laborbereich‹ im Schwesterprojekt WikiBooks, erste in der Presse seit 2007 vollmundig angekündigte, »geprüfte Versionen« getestet:64 »Eine Version gilt als geprüft, wenn sie nach Meinung des Prüfers keine Fehler und keine verfälschenden Lücken enthält. Das Recht zu prüfen wird von Bürokraten an 61 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:QS. 62 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Meinungsbilder/Gelöschte_ Artikel_ im_Benutzernamensraum. 63 Im Winter 2008/2009 betrug die Quote der Sichtungen quasi dauernd über 99 Prozent, vgl. die Statistik unter http://toolserver.org/%7Eaka/cgibin/reviewcnt.cgi. 64 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Geprüfte_Versionen. 305

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fachkundige Benutzer vergeben und Benutzer mit Prüfrechten heißen Prüfer«.65 Auch ›stabile Versionen‹ tauchen hier durch die Hintertür wieder auf, allerdings nur in einem separaten Serverbereich, den Vorübersurfende gar nicht berühren.66 Das heißt, dass die massentauglichen Prinzipien der ›Anarchie‹ und ›Demokratie‹ wohl noch lange nicht in Frage gestellt werden, strukturell bleibt alles beim Alten. Die Frage der Relevanz, die bei einer gedruckten Version aufgrund der Kosten und des begrenzten Platzes eine zentrale Rolle spielen würde, bei den immer weiter wachsenden und vergleichsweise günstigen ServerKapazitäten aber in der Wikipedia kein Thema sein müsste, sorgt besonders in der deutschen Gemeinde für größte Unruhe. Offenkundig spielt die von den Nutzern empfundene Bedeutung eines Lemmas sehr wohl eine Rolle für das Maß an Aufmerksamkeit und damit auch den Aufwand an Bearbeitungen, den ein Artikel durch eine größere Zahl Interessierter erfährt (Brändle 2006).67 Obwohl es Richtlinien gibt, was in die Enzyklopädie aufgenommen werden sollte, ignorieren viele die unverbindlichen Anweisungen.68 Die durch öffentlichen Druck weiter intensivierte Relevanzdebatte führt offenbar dazu, dass immer mehr Admins Artikel, die sie für überflüssig oder zu banal halten, löschen.69 Um der komplexen Inhalte dennoch Herr zu werden und den Dauerstreit um die Löschungen einzudämmen, wurde die Diskussion (!) fachspezifischer Kriterien erneuert.70 Solche Versuche haben Tradition, indem »exzellente Artikel« ausgewiesen werden. Die Einträge werden auch hier einem unstrukturierten und ungeregelten Review-Prozess durch interessierte angemeldete Nutzer unterzogen. Gleichzeitig können selbst diese Artikel weiterhin bearbeitet werden. Derzeit absolvierten dieses Verfahren nur knapp 1.500 von fast 900.000 Artikeln, d.h. lediglich 0,17 Prozent.71 Und nach wie vor bleibt es Einzelnen vorbehalten, die gegenteilige Markierung ei-

65 http://de.wikipedia.org/wiki/Hilfe:Gesichtete_und_geprüfte_Versionen. 66 http://de.labs.wikimedia.org/wiki/Hauptseite. 67 Brändles Thesen zur Qualitätsbildung (2006: 33, 46f.) kranken allerdings an unklaren Begriffsdefinitionen, v.a. des Begriffs der Qualität, auch setzt er Relevanz mit Aufmerksamkeit gleich. 68 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Was_Wikipedia_nicht_ist. 69 Vgl. Baker (2008a, 2008b). Vgl. auch die Berichterstattung des in der Open Access-Bewegung engagierten Historikers Klaus Graf: http://archiv.two day.net/stories/4963475/ und http://archiv.twoday.net/stories/ 4848390/. Zu den Admin-Rechten vgl. umfassend http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipe dia:Administratoren. 70 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Fachspezifische_Qualitätssicherung und http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschregeln. 71 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Exzellente_Artikel. 306

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nes Artikels als qualitativ besonders fragwürdig zu setzen oder zu entfernen.72

Fazit Von den hitzigen Debatten über Ansprüche und Standards bemerkt der normale Vorübersurfende beziehungsweise durch Google oder Yahoo nach Wikipedia Verwiesene nichts, denn eine Markierung sagt nicht viel aus. Ein gesichteter Artikel suggeriert Unbedarften Qualität, für die weder ein Maßstab existiert, noch Kontrolle. Und ein gelöschter Artikel hinterlässt erst gar keine Spuren.73 Die Oberfläche der Wikipedia-See liegt immer ruhig da und suggeriert Stabilität. Auch die Funktion des Permanentlinks, die jedes Lemma bietet, löst die Probleme von Persistenz und Qualität nicht.74 Zwar sieht man, wenn man diesen Knopf bedient, in der Web-Leiste eine URL (mit Versions-ID), die immer auf die gerade zitierte »Revision« verlinkt, selbst wenn sich der Artikel mittlerweile geändert hat. An der Fragwürdigkeit der Information wie an der Fluidität des Gesamtlemmas ändert dies jedoch nichts. Mittlerweile stellen sich mehr und mehr Wikipedianer mit Steuerungsrechten diesen Grundproblemen. Man gibt sogar zu, dass unter den gegenwärtigen Strukturen gar keine Lösung möglich sein kann: »Neben dem Problem bewusster Fehleintragungen besteht das weit schwerer einzugrenzende Problem, dass sich in den Inhalten mittelfristig Halbwissen durchsetzt. In einer durch Arbeitsteilung ausgezeichneten Gesellschaft verfügt immer nur eine Minderheit über Fachwissen. Die jeweilige Minderheit läuft stetig Gefahr, von der Mehrheit ›korrigiert‹ zu werden. Die Inhalte laufen somit Gefahr, nicht den Wissensstand der Gesellschaft, sondern die vorherrschenden Vorurteile abzubilden, zu bekräftigen und zu tradieren. Dem ist selbst durch ›korrektives‹ Eingreifen von Autorenseite und administrative Vorgänge nicht vollständig beizukommen«.75

Weiterhin stellt sich die Frage nach Qualifikation und Auswahl der Lektoren/Prüfer und nach der Finanzierung dieses aufwändigen, weil dann

72 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschantrag_entfernen. 73 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Redaktion_Geschichte/Qualitätssi chercherung/Gelöschte_Artikel. 74 http://de.wikipedia.org/wiki/Permanentlink. Als ebensolcher: http://de.wiki pedia.org/w/index.php?title=Permalink&oldid=45128149. 75 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia#Entscheidungsfindung_und_Organi sationsstruktur. 307

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verbindlichen Qualitätsmanagements.76 Gegenwärtig hallt der vage Ruf nach ›Experten‹ durch die Diskussionsseiten, ohne dass man diesen Wunderwesen ein endgültiges Urteil zugestehen wollte.77 Technisch und inhaltlich verbesserte Wikipedias wären tatsächlich nur über grundlegende strukturelle Reformen, insbesondere der inneren Hierarchien und Verabschiedung formaler Qualitäts- oder auch Relevanzkriterien realisierbar. Wikipedia funktionierte höchstens ganz am Anfang einmal anarchisch und ansatzweise demokratisch; es gab immer die Diskursmächtigen und die Ohnmächtigen (vgl. Pentzold 2007). Nie war Wissensgenese in Wikipedia das Ergebnis von stets lauteren, gleichberechtigten Aushandlungsprozessen. Nur jene Artikel bleiben (relativ) lange unverändert, für die sich kaum jemand interessiert. Je populärer ein Lemma, desto häufiger wird es bearbeitet, denn ständig wollen Neue mitreden oder sich alte Kontrahenten endlich durchsetzen. Das gilt besonders für historische und politische Artikel. So bleibt als Fazit für Studierende und Schüler nur: Wikipedia ist unterhaltsam und lädt zum Stöbern ein. Gerade über Sprachgrenzen hinweg kann vergleichende Lektüre sehr erhellend sein. Gelegentlich führen die zu einem Lemma angegebenen Links sogar zu Fachliteratur oder verlässlichen Quellen, etwa Digitalisaten seitens Forschungsinstitutionen.78 Wer gesichertes Übersichtswissen sucht, sollte aber lieber zu Handbüchern oder biographischen Lexika greifen und sich weiterhin der Mühe unterziehen, aktuelle Literatur ergänzend einzubeziehen. Wer zu selteneren Themen oder unbekannteren historischen Personen sucht, wird in Wikipedia ohnehin nichts Verwertbares finden. Das quicklebendige Lexikon taugt ohne jeden Zweifel gelegentlich als wissenschaftliches Hilfsmittel, das neben Suchmaschinen oder Verzeichnissen »bei der Suche nach Adressen, Personen, Institutionen oder für die Gewinnung eines ersten Überblicks eingesetzt« werden kann (Hodel 2007: 200). Sich davon das ›Wissen der Menschheit‹, historische Orientierung oder gar wissenschaftliche Referenz zu versprechen, wäre allerdings fatal.

76 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia_Diskussion:Redaktion_Geschichte #Kritik. 77 http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Verbesserungsvorschläge#ArtikelSperrung. 78 Auch hier ist man um Standardisierung bemüht: http://de.wikipedia.org/ wiki/Wikipedia:Datenbanklinks und http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie: Vorlage:Datenbanklink. 308

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»W O L L E N S I E W I R K L I C H N I C H T W E I T E R 1 V E R S U C H E N , D I E S E W E L T Z U D O M I N I E R E N «: GESCHICHTE IN COMPUTERSPIELEN ANGELA SCHWARZ

Pacman war gestern Der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann sprach im Jahr 1993 angesichts der Möglichkeiten, die durch Technologien wie Fotografie, Tonund Videoaufzeichnung oder Fotokopie gegeben seien, von der Ubiquität von Geschichte (Bergmann 1993: 211, 213-215). Angesichts des Standes, den die Popularisierung von Geschichte heute erreicht hat, möchte man die damalige Einschätzung für übertrieben oder verfrüht halten. Denn das Diktum von damals, »so viel Geschichte wie heute war nie«, gilt im Jahr 2008 noch weit mehr als vor fünfzehn Jahren. Das liegt nicht zuletzt an einem Medium, dem man in der Frühzeit seiner Entwicklung wohl kaum zugetraut hätte, ein Milliardenpublikum zu erreichen und mitunter mit nur einem Produkt über Monate und Jahre zu fesseln oder, was die inhaltliche Seite angeht, dem Feld historischer Ereignisse und Strukturen überhaupt nahe kommen zu können: Die Rede ist vom Computerspiel. Das Medium hat schon lange die Zeit hinter sich gelassen, als es noch ein Kinderspiel war. Der Altersdurchschnitt der Spielerinnen und Spieler ist in den letzten Jahren noch einmal deutlich gestiegen, und das nicht nur, weil die ehemals jugendlichen Gamer in die Jahre gekommen wären. Im Fantasy-Rollenspiel World of Warcraft (2004) etwa, um nur eines der bekannteren Beispiele herauszugreifen, schlüpfen selbst Senioren in die Gestalten von Zwergen, Minotauren, Dunkelelfen oder Untoten und erfüllen eine Aufgabe nach der anderen. Für die fortgesetzte Attraktivität des Mediums sorgt ein stetig wachsendes Angebot an Spielen. Von den Hunderten neuer Spiele, die jedes Jahr auf den Markt kommen, ist ein nicht unwesentlicher Teil die Fort1

Frage vor dem Beenden des Spiels Imperialismus: Die hohe Kunst der Weltherrschaft (Frog City und Strategic Simulations Inc., 1997). 313

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setzung eines bereits etablierten Musters. Ein weiterer Teil greift beliebte Formen aus der allgemeinen Unterhaltungskultur auf, z.B. aus dem Sport und aus Medien wie Film und Fernsehen. Schließlich wird das Interesse an detaillierter gezeichneten Spielfiguren, komplexeren Geschichten und Kontexten mit Hilfe von Produkten befriedigt, die einen historischen Hintergrund aufweisen oder ein konkretes historisches Ereignis zur Spielhandlung erheben. Die Gründe für die Expansion des Mediums sind vielfältig: (1) Eine wichtige Grundlage bildet die Verbreitung des Computers selbst. Nach einer Forsa-Umfrage des Jahres 1999 stand in 54 Prozent der deutschen Haushalte ein Computer, im Jahr 2007 waren es bereits 77 Prozent.2 (2) Eine weitere unerlässliche Voraussetzung schuf die zunehmende Komplexität der Spiele durch immer ausgefeiltere technische Möglichkeiten. Mögen die ersten Computerspiele hinsichtlich der Grafik, Spielebenen und des Spielverlaufs schlicht gewesen sein (Pacman wäre da schon zu den aufwändigeren zu zählen3), so können heutige Spiele auf eine breite Palette technischer und stilistischer Mittel zurückgreifen, die nur noch wenig mit den ersten so genannten (reinen) Arcade-Spielen oder den Textadventures gemein haben, in denen die Interaktion mit dem Computer über das Drücken weniger Tasten oder die Eingabe einfacher Imperative nicht hinauskam (Hölzer 1995: 53). (3) Die zunehmende Komplexität der Spiele hat ihrerseits Folgen. So bieten variantenreichere Spiele mehr Anknüpfungspunkte für diejenigen, die sich mit ihnen beschäftigen. Folglich lässt sich feststellen, dass das Medium heute eine große Bandbreite von Funktionen und Bedürfnissen erfüllt. (4) Die Tatsache, dass mit der Vernetzung, also mit den OnlineSpielen, eine neue Dimension der Interaktion erreicht ist, verweist auf die Verwobenheit von technischen Möglichkeiten und den Wünschen oder Erwartungen der Anwender. Hier entsteht eine völlig neue Ebene der Kommunikation sowohl im Spiel (Chat-Funktion) als auch außerhalb des Spielgeschehens etwa über Foren und Chatrooms. Das gilt auch für die Konstruktion des Sozialen, für die virtuelle Gesellschaft, die Elemente der realen Gesellschaft widerspiegelt und ungeahnte Chancen des Experimentierens bietet (Kücklich 2007: 67f.). 2

3

Vgl. Computerwoche.de (2007): »Über drei Viertel der deutschen Haushalte haben Computer«. Meist steht in diesen Haushalten mehr als ein Computer. Pacman wird inzwischen als »Popstar des Computerspiels« bezeichnet, ein Spiel, das schätzungsweise 60 Milliarden Mal gespielt worden ist, vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (2008). 314

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(5) Schließlich darf man bei den Gründen für eine Expansion des Mediums nicht vergessen, dass es sich um einen überaus lukrativen Markt mit Milliardenumsätzen handelt.4 Durch zahlreiche Mechanismen wie Fachzeitschriften, Spielemessen und Foren, die Hersteller und Nutzer zusammenführen, besteht in diesem Bereich vielleicht ein noch engerer Zusammenhang von Angebot und Nachfrage als üblicherweise. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert aber nicht nur die bloße Ausweitung, sondern speziell die Bedeutung von Spielen mit historischem Inhalt. Wie vermögen sie sich auf dem umkämpften Markt zu behaupten? Welche Spieltypen und Themen finden innerhalb der Kategorie den größten Anklang? Was vermittelt ein Spiel an Informationen, an Geschichtsbildern? Welche Funktionen erfüllen gerade Spiele, die sich für den historischen und nicht etwa für den Fantasy- oder Science FictionHintergrund entschieden haben? Ausgehend von der Grundannahme, dass Computerspiele Einfluss auf die Vorstellungen und das Wissen nehmen, das ihre Nutzerinnen und Nutzer von Geschichte haben, sollen im Folgenden die Inhalte des vermittelten Wissens und seine individualpsychologischen und soziokulturellen Funktionen im Mittelpunkt stehen. Leitlinie bildet die – auf breiter empirischer Grundlage noch nicht überprüfte – These, dass sich die Popularität der historischen Spiele, abgesehen vom Unterhaltungswert oder Spielspaß, zu einem wesentlichen Teil aus folgendem Umstand erklären lässt: Die Spiele machen das Angebot, Geschichte in scheinbar unmittelbarer Weise nachzuerleben, in den eigenen Horizont zu holen, und zwar in einer anderen, einer intensiveren Form als der Geschichtsunterricht, ein Sachbuch, ein Film oder eine Dokumentation im Fernsehen. Sie machen ein solches Angebot allen und erreichen somit selbst jene Menschen, die sich sonst eher als uninteressiert an Geschichte bezeichnen würden. Geschichte bzw. das, was in den Spielen als solche präsentiert wird, kann dadurch eher in die Lebenswelt integriert werden. Man mag bezweifeln, ob das noch die Geschichte ist, die an Hochschulen gelehrt wird oder im Schulunterricht vermittelt wer4

Wenn man neben den Spielen Lernsoftware und Hardware der Bildschirmspiele mit einrechnet, kommt man für 2006 allein für Deutschland auf die Summe von 1,77 Milliarden Euro – bei steigender Tendenz (Salisch/ Kristen/Oppl 2007: 9). Nach Informationen des Bundesverbandes Interaktive Unterhaltungssoftware e.V. (BIU) stieg der Gesamtumsatz 2007 bei Computerspielen in Deutschland um 21 Prozent und erreichte damit einen neuen Rekordstand: 1,362 Milliarden. Euro, wobei der Wachstumstreiber in den Spielen für mobile Videospielkonsolen wie Playstation oder Nintendo DS zu sehen sei. Als weiterer Trend wurde genannt, dass sich immer mehr Frauen für Computerspiele begeisterten, vgl. Computer Bild (2008a: 10). Dieser Trend setzte sich 2008 weiter fort. 315

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den soll.5 Sich auf die Untersuchung dieses Aspektes zu beschränken, würde jedoch die mindestens ebenso interessante Frage ausklammern, was denn in den Spielen als Geschichte vermittelt und aufgenommen wird und welche Bedürfnisse damit befriedigt werden. Denn wirkungslos, das ist wohl unstrittig, sind die Spiele nicht.

Aggressiv, dumm, dick, traurig? Bisherige Schwerpunkte in der Erforschung des Mediums Seit Computerspiele den engeren Kreis der Programmierer und Ausbilder in Militär und Flugtraining verlassen haben, werden sie und ihre Wirkung vor allem auf Kinder und Jugendliche als vermeintliche Hauptnutzergruppe untersucht, ein Arbeitsfeld in erster Linie der Pädagogik (Spielpädagogik, Medienpädagogik), der Psychologie, der Sozialwissenschaften und der Medienwissenschaften.6 Die obere Altersgrenze der Befragten in den meisten empirischen Erhebungen lag und liegt noch immer bei zwanzig Jahren, so dass die älteren Spieler, die nach Umfragen immerhin knapp die Hälfte aller Anwender von Computerspielen ausmachen, nur selten von den Analysen erfasst werden (Holowaty 1997: 159f.). Anfang der 1980er Jahre gerieten Video- und Computerspiele zunächst als vorübergehende Modeerscheinung und dann als ein Element jugendlicher Lebensentwürfe und Alltagskultur in den Blick (Opaschowski 1983; Dittler 1993). Angesichts fortgesetzter und weiter steigender Popularität der Spiele wandte sich die Forschung noch stärker der Frage nach den Langzeitwirkungen auf Einstellungen und Sozialverhalten zu. Denn nicht selten wurde der Schritt vom Teddybär zur Software mit Skepsis oder sogar Ablehnung betrachtet, galten und gelten die Spiele den Angehörigen der Elterngeneration als stupide, gewaltverherrlichend,7 rassistisch, sexistisch, süchtigmachend und Ursache für eine vermeintlich unausweichliche Vereinsamung. Müssen nicht, so die Be5

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Vgl. etwa das Interview mit dem Historiker Rainer Pöppinghege, der zusammen mit Studierenden historische Computerspiele auf bestimmte Fragen hin untersucht hat (Drösser 2007: 46). Zu den neueren Veröffentlichungen zählen etwa die Arbeiten von Salisch/Kristen/Oppl (2007), Klimmt (2006), Bevc (2007), Distelmeyer/Hanke/Mersch (2008). Vgl. etwa das Forschungsprojekt »Krieg im Computerspiel«, das der Psychologe Ralf E. Streibl im Fachbereich Informatik an der Universität Bremen durchführte (1996a und b). 316

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fürchtung, die nachgespielte Aggression, die Feindbilder und die Gewalt bei den Spielenden ihre Spuren hinterlassen (vgl. Streibl 1996a: 51)? Wird nicht Denken und Handeln zwangsläufig dadurch beeinflusst, dass die komplexe Wirklichkeit auf Situationen mit einfachen Lösungen8 oder auf Schwarz-Weiß-Muster reduziert wird, auf gut oder böse, schießen oder nicht schießen, Herrscher oder Beherrschter?9 Die Welt des Computerspiels und die Denkwelt ihrer Nutzer besteht in diesem »BesorgnisDiskurs« (Röser 2005: 82) aus Monster[n], Macht und Mordmaschinen oder Götter[n], Geld und große[n] Taten, wie es zwei Publikationen in den 1990er Jahren andeuteten (Poeplau 1992; Osenberg 1993). Den ersten, oft von dieser Besorgnis getragenen Annäherungen folgte eine wahre Flut von Untersuchungen, Spielanalysen und Ratgebern für Eltern (vgl. Greenfield 1987; Hoelscher 1994; Zey 1994; Meyer/ Ulrich/Fabian 1995; Steckel 1998). Diese Tendenz setzt sich bis in die Gegenwart fort, wie die öffentliche Diskussion nach dem Amoklauf eines Schülers in Erfurt im April 2002,10 in Winnenden im März 2009 oder Studien mit einschlägigen Titeln wie etwa ›Friendly fire‹ im Kinderzimmer belegen (Gieselmann 2002, Hänsel 2005, Gesmann 2006, Geyer 2006). Die Ansicht, intensives Computerspielen mache aggressiv, dick, dumm und traurig, wird noch immer vertreten, zumal die abschließende Antwort auf die Frage noch aussteht, welche Wirkungen die Spiele denn nun tatsächlich haben. Bisher konzentriert sich die Medienwirkungsforschung auf eine mögliche Gefährdung der Anwender, selbst dann, wenn sie nicht Erklärungen von Gewalt,11 sondern generell einer Übertragung von Elementen der virtuellen Welt auf die mentale und/oder die reale Welt12 (in der Fachsprache als intermondialer Transfer bezeichnet) auf die Spur kommen will.13

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So versprechen Lösungsbücher unter der Überschrift »Macht und Moneten« den Weg zum Erfolg, womit die rasche Lösung des Simulations- oder Strategiespiels gemeint ist. Vgl. Schmitz/Schmidt (1996). 9 Parallelen zu den (kultur-)kritischen Äußerungen beim Siegeszug von Film und Fernsehen sind offensichtlich. 10 Zu den Spielen, die der Täter häufig nutzte, gehörten die indizierten EgoShooter Return to Castle Wolfenstein (Activision/Gray Matter Interactive, 2001), Hitman (Eidos Interactive, 2000) und Half-Life (Sierra/Valve Software, 1998). 11 Die Rezeption der Gewaltdarstellung steht noch immer im Vordergrund der Wirkungsforschung. Trotz der geschätzten rund 5.000 Untersuchungen zu dieser Frage fehlen konsistente Ergebnisse nach wie vor (Röser 2005: 83). 12 Von Gefährdung wird dabei im weiteren Sinne gesprochen, und zwar in der Weise, »daß ›etwas‹ in der virtuellen Welt den Spieler so stark ›beein317

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Um historisches Wissen oder Geschichtsbilder geht es in solchen Studien der Wirkungsforschung äußerst selten. Überhaupt ist die Frage nach der inhaltlichen Beschaffenheit und den soziokulturellen Funktionen dieser Art der Vermittlung bzw. Popularisierung von Wissen noch nicht eingehend untersucht worden, weder für die jüngeren Nutzer noch für die gesamte Spielergemeinde. Selbst wenn man eine der bemerkenswerten Ausnahmen betrachtet wie den Beitrag Stefan Weseners über »Geschichte in Bildschirmspielen«, steht am Ende doch wieder der Lerneffekt oder pädagogische Nutzen, folglich nur eine bestimmte Wirkung und eine begrenzte Gruppe, nämlich die der unter Zwanzigjährigen, im Mittelpunkt (vgl. Wesener 2007: 161-163). Dabei sollte man dieses Feld nicht der Geschichtsdidaktik allein überlassen, so wie es die Fachwissenschaft mit der nach wie vor bewahrten Zurückhaltung gegenüber dem Genre tut.14 Denn es lässt sich nicht leugnen, dass sich Computerspiele neben Fernsehen und Film (Video/ DVD) zu einem wichtigen medialen Sozialisationsfaktor und damit zu einem bedeutsamen Element der Lebenswelt entwickelt haben (vgl. Streibl 1996a: 51). Als Teil der Kultur und im Besonderen der Geschichtskultur zählen sie zu den Formen der öffentlichen Präsenz und Präsentation von Geschichte (Grütter 1997: 601, Rüsen 1995: 513). Sie sind Medien, die Geschichte nach einem Prozess der Auswahl und Deutung rekonstruieren (Jeismann 1993: 42), d.h. Geschichtsbilder anbieten. Und als solche sollten sie analysiert werden.

druckt‹, daß er dadurch ›etwas‹ in die mentale und reale Welt so transferiert, daß es nicht folgenlos bleibt« (Fehr/Fritz 1997: 2). 13 Das Modell geht auf Jürgen Fritz zurück, der zwischen inter- und intramondialen Transfers unterscheidet, solchen zwischen Spiel und Wirklichkeit und solchen zwischen den Spielen (Fritz 1997: 230). 14 Die Geschichtsdidaktik hat sich trotz des Vordringens des Computers in viele Lebensbereiche bis etwa zum Jahr 2000 nur sehr wenig mit dem neuen Medium und seinen Auswirkungen auf die Begegnung mit Geschichte befasst. So gibt es erst seit 1998 in der Fachzeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht überhaupt eine Rubrik »Informationen Neue Medien«. Bis zum Themenheft der GWU zu »Computer und Internet« mit Erfahrungsberichten aus Schule und Universität im gleichen Jahr beschränkte sich die fachdidaktische Auseinandersetzung mit einem damals schon wichtigen Instrument lebenslangen Lernens auf vereinzelte Beiträge. Dagegen gibt es seit Anfang des Jahrtausends deutlich mehr Arbeiten zu dem Thema, darunter auch schon Monographien wie die von Grosch (2002). Die Fokussierung auf Schule, Kinder und Jugendliche ist allerdings nicht zu übersehen. 318

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»... anstatt über grosse Herrscher zu lesen m a l s e l b e r e i n e r s e i n « : 15 C o m p u t e r s p i e l e a l s Quelle und Handlungsraum Das Quellenkorpus und seine Kategorisierung Angesichts des inzwischen merklich aufgefächerten Mediums und Angebots ist es erforderlich, den Quellenbestand vorzustellen und im Hinblick auf die Inhalte zu kategorisieren. Die Entscheidung für eine Kategorie wirkt sich nicht zuletzt darauf aus, welche Informationen und Bilder als Historie eingebunden werden. Trotz einiger Vorarbeiten in einzelnen Bereichen liegt bislang weder eine Liste der Spiele mit historischen Inhalten noch eine einheitliche Zuordnung der Titel zu Kategorien vor. Beides soll im Folgenden vorgenommen werden. Wenn man für den Zeitraum von der Markteinführung der IBM-PCs im Jahr 1981 bis zum Ende des Jahres 2008 anhand von Herstellerseiten, Spielezeitschriften, Foren und Online-Händlern jene Produkte des deutschsprachigen Marktes erfasst, die geschichtlichen Inhalts sind, ergibt sich eine Gesamtzahl von 955 PC-Spielen.16 Gemessen an den Hunderten von neuen Spielen, die alljährlich auf den Markt kommen, mag das wenig erscheinen.17 Verglichen mit Anteilen anderer Angebote wie Spiele vor einem Fantasy- oder Science Fiction-Hintergrund, Sportspiele wie Fußball und Autorennen oder Geschicklichkeits- und Gesellschaftsspiele lässt sich die Zahl aber durchaus sehen, wobei die Auflagenzahl, die bei den historischen Spielen oft sehr hoch ist, noch gar nicht berücksichtigt ist. Überdies hat sich der Bestand an historischen Computerspielen in den letzten Jahren stetig erweitert, so dass man ein weiteres Wachstum in den nächsten Jahren erwarten kann (vgl. Abb. 1).18 15 Eintrag von »chrdidt« vom 8. Januar 2008, in: Privates Geschichtsforum (2004-2008). 16 Die tatsächliche Gesamtzahl liegt sicher noch höher, da vor allem ältere Spiele nur schwer zu ermitteln sind. Ich danke Jan Pasternak für die Bereitstellung der erforderlichen Daten. 17 Diese Zahl schließt die ›Minigames‹ und weitere Spiele, die meist sehr kostengünstig produziert werden, mit ein. Hingegen zählen historische Spiele überwiegend zu den teureren Großproduktionen, unter denen sie dann durchaus eine ansehnliche Zahl ausmachen. Der Onlinehändler computeruniverse.net bietet zur Zeit 2.275 verschiedene PC-Spiele an, darunter 232 Neuerscheinungen aus den letzten zwei Monaten und 289 Produkte in der Vorankündigung (Computeruniverse 2009). 18 Obschon es früher bereits viele solcher Spiele gab, blieb der Nutzerkreis relativ überschaubar. Den Durchbruch als Massenmedium verschafften den 319

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Abbildung 1: Neuerscheinungen der Computerspiele mit historischem Inhalt

Wie lassen sich so unterschiedliche Spiele wie Cleopatra: Schicksal einer Königin (2008), Peacemaker (2006) und World in Conflict (2007) einteilen? Es fällt zunächst auf, dass sich historische Computerspiele in der Gesamtheit des Mediums auf bestimmte Spieltypen konzentrieren. Damit ist bereits als gegeben vorausgesetzt, was so noch immer nicht existiert: eine konsequente Kategorisierung der Computerspiele.19 Die Schwierigkeiten bei ihrer Bestimmung ergeben sich nicht nur aus den Perspektiven verschiedener Disziplinen, die eine solche Einteilung vorgenommen haben, sondern ebenso aus dem Umstand, dass die Spiele oft die unterschiedlichen Elemente mischen, die zu ihrer Einordnung herangezogen werden. Hier werden für den Bestand an Computerspielen mit historischem Inhalt die folgenden sieben Hauptgenres vorgeschlagen: (1) Der Shooter oder Ego-Shooter versetzt die Spielenden in eine realitätsnah gezeichnete Welt, in der es darum geht, die Spielfigur durch eine kämpferische Bewährungsprobe zu führen. Meist wird die Schusswaffe eingesetzt, um die Gegner außer Gefecht zu setzen. Battlefield 1942 Historienspielen vor allem Civilization (MicroProse Software 1991) und Age of Empires (Microsoft/Ensemble Studios 1997). 19 Es gibt einen breiten Konsens, doch sind in Überschneidungsbereichen die Einteilungen mitunter nicht konsequent, z.B. bei der Differenzierung zwischen Shootern und Action-Games oder Wirtschafts- und Aufbausimulationen. Vgl. die unterschiedlich angelegten Einteilungen von Baur (1999: 84f.), Fehr/Fritz (1993: 67-88) und Krambrock (1998: 172-75). Die Liste abweichender Kategorisierungen ließe sich fortführen. 320

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(2002) oder Brothers in Arms (2005), die im Zweiten Weltkrieg angesiedelt sind, oder das Wildwest-Szenario Call of Juarez (2006) mit seinem an das 19. Jahrhundert angelehnten Hintergrund sind gute Beispiele hierfür. Dieses Genre ist wegen der sehr realistisch wirkenden Gewaltdarstellungen in einigen seiner Fälle in erster Linie für den schlechten Ruf der Computerspiele verantwortlich. (2) Bei Aufbausimulationen sollen die Spielerinnen und Spieler ein funktionierendes Gemeinwesen, meist eine Stadt, eine Kolonie oder ein Territorium errichten. Dabei geht es weniger um militärische Bewährung im Wettstreit mit Konkurrenten – obwohl das ebenfalls eingebunden sein kann20 – als um die Entwicklung. Die Wirtschaft in diesen Spielen ist von den komplexen ökonomischen Mechanismen der realen Welt zwar noch weit entfernt, doch bietet dieser Typus mehr Einblicke in die – meist eher an modernen als an historischen Mechanismen orientierte – Gesellschaft als jener, in dem es letztlich um die Ausschaltung der Konkurrenz in kriegerischen Aktionen geht. Die spielende Person nimmt hier eine überaus einflussreiche Position ein, insofern sie das Geschehen bestimmt. In den neueren Spielen hingegen erscheinen die virtuellen Untertanen nicht mehr nur als bloße Schachfiguren in der Hand der Spielenden. Denn sie sind nun in der Lage, sich ihrem oder ihrer SpielHerrschenden in Erinnerung zu bringen, etwa durch Auswanderung oder Revolten. Überdies besitzen sie die Fähigkeit sich zu artikulieren und verfügen sogar über so etwas wie Individualität.21 Caesar (1993), Stronghold (2001) und Anno 1602 (1998) könnte man dieser Kategorie zuordnen. (3) Wirtschaftssimulationen wie Railroad Pioneer (2003) oder Der Patrizier (1993) stellen den Handel oder die Produktion von Waren und Dienstleistungen in den Vordergrund. Eine Binnendifferenzierung würde Produktionssimulationen, die die spielende Person mit der Führung eines Unternehmens und der Herstellung von Waren betraut, und Handelssi20 In Caesar III (1998) haben Kampfhandlungen die gleiche Funktion wie Flugzeugabsturz oder nuklearer Super-GAU in Sim City (seit 1989). Sie sind ein Katastrophenereignis, dem die Spielenden begegnen müssen. Die dazu zur Verfügung stehenden Militäreinheiten lassen sich nur zur Verteidigung der eigenen Siedlung nutzen, nicht zum Angriff auf die Nachbarn – ein Angriffskrieg, wie ihn der historische Caesar gegen die Gallier führte, ist folglich nicht möglich. 21 »Lernen Sie Ihre Bürger kennen: jeder Einwohner verfügt über eine einzigartige Persönlichkeit und ist dabei schlauer als je zuvor«. Werbetext auf der Rückseite der Hülle von Der erste Kaiser: Aufstieg des Reichs der Mitte (Sierra/Impression Games, 2002), dem Nachfolger von Caesar III und Pharao (1999) sowie dem Vorgänger des aktuellen Caesar IV (2006). 321

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mulationen mit Schwerpunkt auf dem Warenaustausch ergeben. Historisch aufgezogen sind vor allem die Handelssimulationen. Vom Spielprinzip her identisch sind Politiksimulationen wie etwa Tropico (2001), in denen Spielerinnen und Spieler an der Spitze eines Staates agieren. (4) Der Begriff der Fahrzeugsimulationen erfasst all jene Spiele, in denen die Spielenden am Lenkrad, Steuerrad oder Steuerknüppel sitzen. Flugzeug- und Rennsimulatoren gehören zu den bekanntesten Varianten. Die meisten dieser Spiele sind in der Gegenwart angesiedelt, doch scheint es auch hier einen wachsenden Markt für die historische Version zu geben, etwa in Form eines Rennens in der Vergangenheit, wie in Spirit of Speed 1937 (1999). Meist liefert allerdings ein Krieg den Hintergrund, z.B. in Their Finest Hour: The Battle of Britain (1989), IL2 Sturmovik (2001) und 1914: Die Schalen des Zorns (2006). (5) Das Adventure ist das PC-Kino zum Mitmachen. Eingebettet in eine Rahmenhandlung schlüpfen die Spielenden in die Rolle des oder der Titelhelden der Geschichte und agieren in der Weise, dass die Handlung vorangetrieben wird und zu einem erfolgreichen Abschluss gelangt. Deshalb wird für diesen Typ auch der Begriff des Rollenspiels bzw. Role Playing Game verwendet. Dabei können die Vorgaben so strikt sein, dass letztlich nur ein Ziel erreicht werden kann. Die Alternative ist ein offenes Szenario, das unterschiedliche Enden haben kann. Dieser Spieltyp ist für die Umsetzung von geschichtlichen Ereignissen oder Entwicklungen, bekannten Büchern oder Filmen ideal. Zu den bekanntesten Vertretern mit historischem Hintergrund gehören Titanic: Adventure Out of Time (1997), Undercover: Operation Wintersonne (2006), und Assassin’s Creed (2008), angesiedelt im Heiligen Land im Jahr 1191. (6) Das so genannte Jump & Run Spiel, bekannt durch Klassiker wie Super Mario (1985), bildet eigentlich eine Untergruppe des Adventures. Der Unterschied zum reinen Adventure besteht im Zeitdruck und den geforderten schnellen Reaktionen, so dass sie treffender als Geschicklichkeitsspiele beschrieben wären. Historische Inhalte, falls sie überhaupt eingebaut werden, sind auf ein geringes Maß reduziert, etwa bei SchachVarianten mit historischen Persönlichkeiten, Puzzle- und Kombinationsspielen, die vor einer geschichtlich orientierten Kulisse angesiedelt sind oder bei den Übergängen von einem Level zum nächsten einige historische Details liefern. Zu den Vertretern dieser Sammelkategorie zählen Spiele wie Cradle of Rome (2008) oder Schach gegen die Achse des Bösen (2008). 22

22 Die Figuren sind unter anderem George Bush, Osama Bin Laden und Saddam Hussein nachempfunden. Vgl. auch die Werbung für das Spiel bei dem Onlinehändler Amazon (2008). 322

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(7) Die weitaus größte Zahl von Spielen mit historischem Inhalt lässt sich der Kategorie der so genannten Strategiespiele zurechnen. Nach dem Spielemodus lassen sie sich in rundenbasierte und die inzwischen populäreren Echtzeitstrategiespiele einteilen, nach der Größe der zur Verfügung stehenden Spielfläche oder Karte in globale – Europa Universalis (2000), Victoria: An Empire under the Sun (2003), Hearts of Iron (2003) und räumlich begrenzte wie Age of Empires (1997), Cossacks: European Wars (2000), Rise of Nations (2003). Wirtschaft, Handel, Diplomatie und Krieg sind in der Regel die Mittel, mit denen sich Spielende als Bevölkerungsgruppe, Kultur oder Nation behaupten und gegen die Konkurrenz der anderen durchsetzen müssen. Die Weiterentwicklung des eigenen Territoriums und seiner Bevölkerung, eine Aufgabe, die sich nicht nur auf Ressourcenanhäufung für die Waffenproduktion beschränken muss, sondern Kulturtechniken wie etwa Wissen einschließen kann, ist Ausgangspunkt dafür, im Wettbewerb zu obsiegen. Dieser wird fast ausschließlich kriegerisch ausgetragen.23 Age of Empires, in seinen ersten beiden Teilen zusammen mit dem Reihenprodukt Age of Mythology allein zwischen 1997 und 2004 weltweit mehr als 15 Millionen Mal verkauft,24 ist eines der populärsten dieser Kategorie und für die Spiele mit historischem Inhalt generell eines der wichtigsten Produkte. Aber auch die Cossacks-Reihe (2000-2006), mehr als zwei Millionen Mal verkauft, Sudden Strike (2000-2007) und Blitzkrieg (2003-2007) lassen sich zu dem Umfeld zählen. Krieg ist Sinn und Ziel des Spiels und, so könnte man meinen, raison d’être und Motor der Menschheitsgeschichte. Dadurch, dass die spielende Person für die jeweilige Gruppe oder Nation allein entscheidet, besitzt sie nicht nur große, sondern meist gottähnliche Macht und Kenntnis, keineswegs Elemente, die der Realität – gegenwärtig oder vergangen – entsprechen würden. Ordnet man die erfassten 955 Spiele in diese Kategorien ein, ergibt sich folgende Verteilung (vgl. Abb. 2):

23 Der Spielmodus »Weltwunderwettstreit« in Age of Empires kommt ohne Krieg aus, im Spiel Europa Universalis kann man friedlich, etwa durch Diplomatie, zu Gebietserwerb kommen. 24 »Best-Selling Age Franchise Tops 15 Million Mark« (Microsoft Games Studios 2008). 323

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Abbildung 2: Einordnung der historischen Spiele nach Kategorien

Die Präferenz für Strategiespiele ist mit 45 Prozent eindeutig. Dabei ließe sich erwarten, dass gerade die Vergangenheit als Handlungsraum, als Reiseziel für neugierige Spielende einem anderen Typus die größte Beliebtheit bescheren würde, nämlich den Adventures bzw. Rollenspielen – wie auch schon so mancher Spieler in einem Forum angemerkt hat.25 Denn diese versprechen mit der Übernahme einer Rolle ein unmittelbareres Eintauchen in eine fremde frühere Welt und mehr noch als historischer Roman und Film ein hohes Maß an Interaktion. Dass dennoch die Strategiespiele nach wie vor den ersten Rang einnehmen, hat viele Gründe, darunter ökonomische, technische sowie solche, die der Entwicklungsgeschichte des Mediums entstammen, oder sich aus dem Aufbau der Erzählstruktur, der jeweiligen Adressatengruppe und aus dem gewählten historischen Sujet ergeben.26 Das leitet über zu den Inhalten und Bildern der Spiele mit Geschichte.

25 Vgl. Eintrag von »Ashigaru« vom 8. Januar 2008, in: Privates Geschichtsforum (2004-2008). 26 Viele dieser Erklärungsansätze greifen natürlich zugleich die Frage auf, wie sich die Art von Struktur und Inhalt eines Spiels mit historischem Inhalt generell, d.h. unabhängig davon, ob Rollenspiel oder Strategiespiel, begründen lässt. 324

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»Da ist ja ein Karl May Buch geradezu ein Lexikon der Geschichte!«27 Inhalte, Bilder und ihre Rezeption: Eine erste Annäherung Die Zahl der Spiele, die ihr Geschehen in einem historischen oder historisierenden Rahmen ansiedeln, nimmt zu. Wie differenziert dieser Rahmen ist, variiert zwischen den Produkten sehr stark. Man darf nicht vergessen, dass die Beschäftigung mit ihnen freiwillig und in der Freizeit geschieht, dass die Angebote ihr Publikum faszinieren und fesseln müssen. Es rangiert folglich »Spielspaß« vor historischer Genauigkeit oder Korrektheit. 28 Eine inhaltliche Überfrachtung bzw. Ausdifferenzierung zum »Pädagogen-Gähn-Spiel«,29 wie es ein User in einem Forum genannt hat, kann aus Sicht der Herstellerfirmen somit nicht das Ziel sein. Dennoch wird die Annahme, die Spiele mit historischen Inhalten böten nur Fantasie, ein vereinfachtes oder verzerrtes Geschichtsbild, Geschichte – oder Geschichten – nicht nur zum Anfassen, sondern gleich zum Selbermachen, der Sachlage nicht gerecht, obschon die erzeugte virtuelle Welt völlig auf die Spielenden und ihr Interesse an einem erfolgreichen Abschluss des Spiels zugeschnitten scheint. Wie geht die Vermittlung überhaupt vonstatten? Welche Inhalte wurden für die bislang veröffentlichten Spiele ausgewählt? Wie sind sie dargestellt? Mit welchen Geschichtsbildern sind sie verknüpft? Drei allgemeinere Bemerkungen seien der Annäherung an diese Fragen vorangestellt. Es gibt erstens hinsichtlich der Themen oder Epochen, die zum Gegenstand gemacht werden oder als Hintergrund für das Spiel dienen, eine ähnlich klare Tendenz wie bei den Spielekategorien. Ein gewisser Zusammenhang von Gegenstand eines Spiels und Typus, etwa von Krieg und Strategiespiel, ist nicht von der Hand zu weisen (vgl. Abb. 3). Die Hälfte aller Historienspiele entfällt auf das 20. Jahrhundert, bei einer klaren Dominanz des Zweiten Weltkriegs (30 Prozent). Das lässt sich unter anderem damit erklären, dass besonders der Zweite Weltkrieg für heutige Spielerinnen und Spieler relativ zeitnah und in der Erinnerungskultur vor allem der westlichen Welt präsent ist – das gilt mit deutlichen Abstrichen auch für andere große Kriege des 20. Jahrhunderts. Sie werden in anderen populären Medien regelmäßig thematisiert und bieten als Rahmen für eine Spielhandlung vielfältige Möglichkeiten und, im Duktus der Hersteller gesprochen, epochale Herausforderungen. 27 Eintrag von »Lynxxx« vom 14. Februar 2007, in: Privates Geschichtsforum (2004-2008). 28 Eintrag von »Admiral Nelson« vom 2. Oktober 2004 (ebd.). 29 Eintrag von »Jago« (angehender Lehrer) vom 1. Februar 2007 (ebd.). 325

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Abbildung 3: Zuordnung der Spiele zu den einzelnen Epochen

Hier einzugreifen oder die Geschichte einmal anders verlaufen zu lassen, reizt offensichtlich viele. Für die Antike mit zehn Prozent wirkt sich unter anderem die traditionelle Begeisterung für das Land der Pharaonen und den Herrschaftsbereich der römischen Kaiser aus. Das Mittelalter erscheint mit acht Prozent auf einen der hinteren Ränge verwiesen, obwohl es in gewisser Weise von der Faszination für die meist aus pseudomittelalterlichen Welten bestückten Fantasy-Handlungen – und in dieser Rubrizierung nicht berücksichtigten Produkte – profitieren könnte. Spiele mit einem Rahmen in der Frühen Neuzeit (acht Prozent) machen sich nicht selten den »Aufbruch in eine Neue Welt« oder die absolutistischen Herrschaftssysteme zunutze, um ihre Adressaten anzusprechen. Zweitens ist das, was ein Spiel im einzelnen als historischen Kontext präsentiert, im Laufe der vergangenen zehn Jahre immer detaillierter geworden – nicht zuletzt aufgrund der verbesserten technischen Möglichkeiten. Die Spielenden werden jedoch nicht nur im Spiel selbst mit Informationen versorgt. Vielmehr erhalten die Käufer umfangreiche Handbücher von nicht selten mehr als hundert Seiten Umfang,30 Literaturlisten zum Weiterlesen (in den Handbüchern oder den Online-Hilfen zum Spiel), Faltblätter, Diagramme, Hinweise auf Internetseiten des Herstellers und anderes mehr, um ihre Kenntnis der thematisierten Epoche oder Kultur zu vertiefen. All das dient der besseren Absolvierung der Aufga30 Vgl. etwa die Handbücher zu Sid Meiers Railroad Tycoon (MicroProse Software, Hunt Valley 1990) mit einem Umfang von 180 Seiten, Sid Meiers Colonization: Create a New Nation (MicroProse Software, Hunt Valley 1994) mit 129 Seiten, und Empire Earth (Sierra On-Line, 2001) mit 239 Seiten. 326

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ben im Spiel, wirkt aber zugleich – zumindest bis zu einem gewissen Grad – über das Spiel hinaus (Wesener 2004, bes. Kap. 5). Die große Zahl an entsprechenden Diskussionsbeiträgen in Internetforen verweist darauf, dass solche Angebote durchaus angenommen werden, wenn auch die Korrektheit und der Informationswert des angebotenen Pakets oft kontrovers diskutiert werden. Das wiederum geschieht mitunter mit großem Engagement und Interesse am jeweiligen historischen Gegenstand. Während manche – jeweils bezogen auf ein bestimmtes Spiel – durchaus von einem Lerneffekt sprechen oder die gelieferten Details loben, glauben andere nicht ganz zu unrecht, man müsse das Präsentierte kritisch sehen. Im »Nachschlagsbuch« könne man »Informationen über die Zivilisationen, Hintergründe, Techniken, Waffen, etc. herauslesen«,31 man finde hier »immer ganz informatife [sic] Kurzzusammenfassungen der Geschichte der einzelnen Völker«,32 heißt es etwa über Age of Empires. Dagegen warnen andere hinsichtlich der neuesten und dritten Version des Spiels, hier sei ein Karl May-Buch näher an der Wirklichkeit.33 Selbst in Wikipedia stehe es »nicht so falsch drin«.34 Ein dritter genereller Aspekt verweist auf den intermedialen Charakter des Mediums. Längst bilden die Spiele nicht mehr isolierte Erzeugnisse eines hochspezialisierten Segments der Freizeitkultur. Denn um die Illusion eines Eintauchens in vergangene Zeiten zu erzeugen und zu vertiefen, werden nicht nur animierte Sequenzen neu erstellt, sondern oft zeitgenössische Materialien wie Zeitungsausschnitte, Fotografien, Audiodokumente und Filmsequenzen eingebunden. Außerdem finden zahlreiche Crossovers statt, indem aus Filmen Spiele werden oder aktuelle Spielfilme und selbst Fernsehfilme ihren Niederschlag in Computerspielen finden.35 Das geschieht entweder in der Weise, dass die Filmhandlung etwa von The Great Escape oder Saving Private Ryan36 in ein Spiel

31 Eintrag von »Mariat_San« vom 4. Januar 2007, in: Privates Geschichtsforum (2004-2008). 32 Eintrag von »Lukrezia Borgia« vom 25. Juni 2004 (ebd.). 33 Vgl. Eintrag von »Lynxxx« vom 14. Februar 2007 (ebd.). 34 Ebd. 35 Wie Spielfilme nach Vorlage eines Computerspiels wie etwa Tomb Raider (2001), Wing Commander (1999) und Resident Evil (2002) belegen, funktioniert dies ebenso in die andere Richtung. 36 Anlehnungen an den Spielberg-Film finden sich in vielen WeltkriegsShootern. In Sudden Strike (CDV/Fireglow Games, 2000) gibt es ein Szenario mit dem Namen »Private Bryan«. Die Aufgabe besteht darin, »möglichst authentisch« die Handlung des Spielfilms Saving Privat Ryan nachzuspielen. Fast alles ist aus dem Film übernommen, wobei sich durch das jeweilige Spielvermögen ein anderes Ende als im Film ergeben kann. 327

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konvertiert wird, oder so, dass Filmszenen in ein Spiel als Einführung oder Überleitung zum nächsten Spiellevel integriert werden. Die PCSpiele Alexander37 mit zehn Minuten unveröffentlichtem Material zum gleichnamigen Kinofilm von 2004 oder Napoleon mit fünfundvierzig Minuten aus dem Fernsehmehrteiler von 2002 gehören zu den Fällen, in denen die Hersteller dieses Mittel einsetzen, um das Spiel für die User abwechslungsreicher, anschaulicher und attraktiver zu gestalten und von der Popularität des anderen Mediums zu profitieren. Man kann noch in anderem Sinne als dem quantitativen von einer merklichen Ausweitung der Crossovers in den letzten Jahren sprechen. Denn neben dem großen Kinofilm und der aufwändigen Fernsehproduktion werden immer häufiger noch weitere Genres populärer Geschichtsdarstellung in das Medium Computerspiel integriert. So finden etwa Reenactments von Schlachten Verwendung, um in die Welt der jeweiligen Spielhandlung einzuführen.38 Damit ist bereits die Vermittlung von Geschichte im Spiel selbst angesprochen. Anstatt sie anhand eines einzelnen Spiels detailliert vorzustellen, stehen im folgenden Überblick die Ebenen im Mittelpunkt, auf denen Geschichte präsentiert wird. Einige Beispiele sollen konkretisieren, wie sich das auf die Geschichtsdarstellung auswirkt. (1) Wer neu in das Spielgeschehen eintauchen will, lässt sich meist vom Intro in die andere Welt entführen. Dabei handelt es sich in der Regel um musikalisch untermalte animierte Filmsequenzen, mitunter auch um Collagen zeitgenössischen Bild- und/oder Filmmaterials. Es geht primär um Dramatisierung des übergeordneten Kontextes oder Gegenstandes und emotionale Einstimmung der Spielenden, also nicht um Fakten, historische Genauigkeit oder Ausgewogenheit. Dennoch suggerieren die Bilder, vor allem die ›authentischen‹ Dokumente eben dies: den Blick in eine Zeit, die einmal war – und wie sie einmal war. So lässt das Intro zum Spiel Victoria: An Empire under the Sun in einer Sequenz von vierzig Sekunden eine Reihe rasch hintereinander eingeblendeter Fotos der Epoche auf den Betrachter einwirken. Anfang und Ende bildet eine USamerikanischen Vorbildern nachempfundene Dampflokomotive, die auf den Betrachter zurast bzw. hinter ihm weiterfährt. Die Einstimmung wirkt nicht nur durch die Kürze, die vermutlich den Puls der Zeit und 37 Auf der Hülle wird betont, das Spiel sei »basierend auf Oliver Stones Erfolgsfilm«, siehe Alexander (Ubisoft/GSC, 2004). 38 So bspw. in Cossacks II (CDV/GSC, 2005) und dem zugehörigen Add-On (die Intros und die In-Game-Sequenzen sind identisch), und in einer Fanmodifikation von Cossacks I: Back to War – Imperia MOD, die mit einem zusätzlichen eigenen Introfilm aufwartet, der ebenfalls ein Reenactment einer Schlacht zeigt. 328

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Dynamik symbolisieren soll, sondern zugleich durch die Bildauswahl ungewöhnlich. Denn wer Fotos aus dem Britischen Empire erwartet hat, wird mit anderen Signalen auf die Welt des Spiels eingestimmt, darunter Fotos von Native Americans, Soldaten aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg oder Sigmund Freud, vom Revolutionsgeschehen am Ende des Ersten Weltkriegs, vermutlich in einer kontinentaleuropäischen Stadt, und von Anlagen der Schwerindustrie, die den Aufstieg der industriellen Produktionsweise in diesen Jahrzehnten ins Gedächtnis rufen sollen. Da es keine Zusatzinformationen gibt, bleibt es der spielenden Person selbst überlassen, die Bilder in die eigenen Vorstellungen und den eigenen Kenntnisstand einzuordnen, sie als kurze Impulse wahrzunehmen und schnell wieder zu vergessen oder vollständig zu ignorieren. (2) Auf die Einstimmung folgt das Einstiegsmenü, auf dessen Oberfläche die ersten Weichenstellungen für das Spiel erfolgen: Einzel- oder Mehrspielermodus, Einstellungsoptionen wie Schwierigkeitsgrad, Tempo, Speicherungsoptionen. Sind sie vorgenommen, hat die meist in Form eines unbewegten Bildes oder Fotos dargebotene Seite ihren Zweck erfüllt. Manche Spiele setzen hier jedoch auch schon bewegte Sequenzen ein. In Axis & Allies: Real Time Strategy (2004) zum Kriegsgeschehen der Jahre 1939 bis 1945 rollen auf fünf leicht abgewandelten Bildern im Vordergrund Panzer an angetretenen Truppenkontingenten Deutschlands, der Sowjetunion, Großbritanniens, der USA und Japans vorbei, wie nachempfundene Uniformen und Flaggen andeuten, während in der oberen Bildhälfte Flugzeuge zu sehen sind, die auf den Betrachter zufliegen. Die gesamte Sequenz wird untermalt mit militärisch klingender Musik. Auch hier steht noch die Einstimmung im Vordergrund. Allerdings geht es dabei weniger um die Epoche oder das Ereignis als vielmehr um das konkrete Spielgeschehen, in das sich mit ein paar Klicks als nächstes eintreten lässt. (3) Die eigentliche Spieloberfläche, die die spielende Person die meiste Zeit vor Augen hat, gliedert sich noch einmal in mehrere Ebenen. (a) Bei den Spielaufträgen handelt es sich um eine Mischung aus Text und Bild. Der Text dient im Wesentlichen der Übermittlung von Anweisungen für das Spiel, die aber zugleich Details über die jeweils nachgestellte Epoche oder das Ereignis enthalten. Bei den Bildern, in der Regel neu erstellte Computergrafiken, geschieht dies meist in stark stilisierter Form. (b) Der Hintergrund bzw. Raum, in dem sich das Geschehen abspielt, dient zur Visualisierung der jeweils thematisierten Vergangenheit in einer Weise, die sich eng an die Bildmuster der Zeit anlehnt oder sich bis zur Überzeichnung oder Karikatur von ihr entfernen kann.

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(c) Registerkarten zeigen spielrelevante Informationen an, Quantität und Qualität der Ressourcen, Waffen, Diplomatie usw. Sie schaffen primär die Ausgangslage für das Spiel. Die auf ihnen thematisierten Elemente wie Waffen, Technologien oder Wirtschaftsgüter scheinen sich eng an die historische ›Wirklichkeit‹ zu halten, kommen in ihrer Quantifizierbarkeit wie ›harte Fakten‹ daher. Die potenzielle Auswirkung dieses Elements auf das Geschichtsbild sollte nicht unterschätzt werden. (d) In-Game-Sequenzen können als visualisierter Kommentar zu dem verstanden werden, was die Spielenden gerade ausführen lassen. Wenn in Cossacks II (2005) Befehle zur Bildung einer bestimmten Formation der Truppen gegeben werden, erscheint im unteren Bildfeld die Einspielung einer entsprechenden Reenactmentszene. Das Computerspiel sucht damit den Reiz des Nachspielens historischer Gegebenheiten auf die virtuelle Umsetzung zu übertragen und das Gefühl zu erhöhen, ›dabei‹ gewesen zu sein – vielleicht sogar als bedeutsamer Akteur mit Einfluss auf den Ausgang des Geschehens. (e) Einführungs- und Zwischentexte tragen unter anderen dazu bei, Kampagnen den Charakter eines Spiels im Spiel zu verleihen. Die zumeist eingesprochenen und abgebildeten Texte stellen Bezug zu konkreten historischen Ereignissen her, in die die Kampagne eingebettet und somit weitaus stärker kontextualisiert wird als in dem ansonsten freier gestalteten Spielgeschehen. Die Intensität, in der das geschieht, kommt scheinbar jenen Usern entgegen, die mehr von dem historischen Rahmen erfahren wollen, als kurze Bilder oder animierte Sequenzen vermitteln können. (4) Gelangt das Spielgeschehen von einem Level auf das nächste, wird gerade bei Kampagnen eine Zwischensequenz eingebaut. Als animierte Filmsequenz aus einem Kino- oder Fernsehfilm wie in den Kampagnen von Age of Empires III (2005) oder als eine für das Spiel produzierte Filmsequenz wie in Command & Conquer: Alarmstufe Rot 3 (2008) spinnt sie den Faden der Geschichte fort, deren Ablauf die spielende Person bestimmt bzw. zu bestimmen scheint, denn die Variationsmöglichkeiten des Verlaufs sind in der Regel sehr beschränkt. (5) In der Schlusssequenz wird die Geschichte, die sich im Spielverlauf entwickelt hat, mit einer letzten Szene abgespielt. Inszeniert wird in einem letzten Tableau, einer letzten Collage oder animierten Sequenz, was sich bei einem Sieg oder einer Niederlage einstellen könnte. Die Bilder werden in der Regel mit Musik oder eingesprochenen Kommentaren unterlegt. Das Übergewicht der Strategiespiele mit ihrer Ausrichtung auf den Sieg über den Gegner lässt die Vermutung aufkommen, dass die ›Geschichtsspiele‹ simple Botschaften vermitteln: Geschichte ist Kampf um

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Selbstbehauptung, der zumeist in Form von Krieg mit der spielenden Person in der Position eines Oberbefehlshabenden ausgeführt wird. In diesem Rahmen gibt es kaum Graustufen, nur schwarz und weiß. Shooter, mit der spielenden Person als Teil der kämpfenden Truppe, und Wirtschaftssimulationen, mit ihr oder ihm als Industrietycoon, der sich im Stile eines Monopolkapitalisten gegen seine Mitspieler durchsetzen muss, scheinen ein solches Geschichtsbild ebenfalls nahezulegen. Aber das ist bestenfalls ein Teil der Wahrheit. Was zunächst auffällt, ist eine erstaunliche Informationsfülle. Viele Strategiespiele und Shooter, besonders die zu den Weltkriegen, offerieren ein Konvolut an Fakten. Was erstaunt, ist weniger die Tatsache, dass sie längst nicht immer korrekt sind, als vielmehr der Kontext, also die Aufnahme in ein Freizeitmedium. Ein Blick auf die Konzentration vieler Spiele auf militärische Ausrüstung, Taktik und historische Kriegsverläufe erhöht die Verwunderung darüber, dass diese nicht selten als »die bessere Geschichtsstunde« (Duisburg 1992: 64) oder das detailliertere Geschichtsbuch gelobt werden. Der Hinweis darauf, dass solche Spiele die digitale Version der Zinnsoldaten des 19. Jahrhunderts seien, mit denen schlachtenbegeisterte männliche Jugendliche ihr Faible für Ausrüstung und Kaliber ausleben, reicht angesichts einer zunehmend heterogenen Spielergemeinde als Erklärung für die Faszination und den Glauben an deren Authentizität kaum aus. In der weiteren Entwicklung der Spiele blieb es aber nicht bei der Informationsflut. Vielmehr wurde der Grad der Differenziertheit stetig ausgebaut. Graphische und inhaltliche Darstellung haben zu einem höheren Maß an Realitätsnähe geführt. Sachverhalte und Entwürfe von Szenarien, die sich an ein historisches Vorbild anlehnen, wirken sorgfältiger recherchiert. Spielerinnen und Spieler werden sorgsam in die Geschichte wie in eine Roman- oder Filmhandlung eingeführt, die nicht platt oder weitgehend fiktiv sein muss und selbst unterschiedliche Perspektiven zulässt, eine der zentralen Forderungen der Geschichtsdidaktik und generell der seriösen Geschichtsvermittlung. Das lässt sich etwa schon von Age of Empires sagen, das noch heute bei der Frage, welches Spiel einem Interessierten Geschichte nahe bringen könne, vielfach genannt wird.39 Im zweiten Teil der Reihe aus dem Jahr 1999 wird die grundsätzliche Offenheit historischer Prozesse dadurch bewusst gemacht, dass ein Spiel durchaus zu einem anderen Ende als dem aus der Geschichte vertrauten führen kann – und z.B. Cortés mit der Eroberung von Tenochtitlan, so wie sie in den Geschichtsbüchern steht, scheitert. Die »even stronger 39 Es sei »ein klassiker [sic], der einem die geschichte europas [sic] etwas näher bringt und wirklich süchtig machen kann«. Eintrag von »Elster79« vom 20. November 2007, in: Gutefrage (2007). 331

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historical experience« (Paradox Interactive 2008a), die der Entwickler von Europa Universalis III (2007) verspricht, scheint daher denkbar, erst recht im Vergleich zu älteren Spielen. Ob damit allerdings eine bessere Annäherung an historische Realitäten erfolgt, ist eine Frage, die eine detaillierte inhaltliche Analyse eines Spiels erfordert und daher an dieser Stelle offen bleiben muss. »Da kann man sich die Geschichte von 1700 und 1800 für ein paar Euro reinziehen«:40 Funktionen von Geschichte im Computerspiel »So viel Geschichte wie heute war nie« könnte auch der Werbeslogan eines der großen Hersteller von Spielesoftware im Jahr 2008 lauten. Und er wüsste sich sogar in einer Übereinstimmung mit weiten Teilen seiner Käuferschicht. Was hat diese wiederum von dem Boom? Welche Funktionen erfüllt die Geschichte im Computerspiel für die User? Dies ist ebenfalls ein Komplex, der bislang von der Geschichtswissenschaft bestenfalls oberflächlich untersucht ist. Ist die Wirkung oder Rezeption verschiedener populärer Medien und ihrer Vermittlung von Geschichte noch zu wenig erforscht, so gilt das für das junge Medium Computerspiele ganz besonders. Die nachfolgend genannten Funktionen sollen dazu beitragen, eine weitere Annäherung an den Gegenstand anzuregen. (1) Kontextualisierung des Spielgeschehens und Kolorit: Die für das Spiel selbst bedeutendste Funktion besteht darin, dem Geschehen einen Rahmen zu geben, der sich mit Details ausschmücken lässt. Das kann erstens so eng an den historischen Inhalt angelehnt geschehen, dass die Spielenden ein historisches Ereignis nachspielen oder simulieren. Ort und Zeit sind meist genau angegeben. Originaldokumente oder gar Filmsequenzen werden herangezogen, um Spielende einzustimmen und den Eindruck von Authentizität zu erhöhen. Die Anforderungen an die Spielenden sind insofern hier am höchsten, als die erfolgreiche Absolvierung des Geschehens kaum ohne sorgfältige Lektüre des Handbuchs möglich ist. Noch immer überwiegen in diesem Bereich, wie Peter Wolf bereits 1996 feststellte, die Spiele zu Ereignissen der Kriegsgeschichte vor allem des 20. Jahrhunderts (vgl. Wolf 1996: 538). Ob der Spielende die historischen Schlachten nun getreu nachspielt oder ihren Ausgang verändert: In beiden Fällen gibt es unendlich viele Versuche, unendlich viele Leben, um die Aufgabe zu lösen. Das zugrunde liegende historische Geschehen verliert dabei allerdings an Bedeutung.

40 Eintrag von »Stipan« vom 26. Juni 2004 über Cossacks, in: Privates Geschichtsforum (2004-2008). 332

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Bei anderen Spielen liefert das historische Detail den Spielanlass. So erhält der Spieler von Christoph Kolumbus (1994) einen Heimathafen zugewiesenen, um von dort aus eine immer wieder veränderte Welt mit fiktiven Ländern und Meeren zu entdecken und Handel zu treiben. In gewisser Weise kommt die Handlung so der historischen Realität näher als eine Simulation nach dem erstgenannten Schema. Denn die zu entdeckende Welt ist den Spielenden (zumindest in ihrer Geographie) ebenso unbekannt wie die Neue Welt es 1492 für Kolumbus war. Vermittelt wird demnach das Bild von historischen Momenten als offene Situationen – obwohl die vermeintliche Offenheit hier natürlich auch nur Fiktion ist. Als drittes kann Geschichte den Rahmen der Handlung abgeben. So macht etwa die Handelssimulation 1869: Hart am Wind (1992) Spielende glauben, sie würden in die Welt hineinversetzt, wie sie so oder sehr ähnlich im Eröffnungsjahr des Suezkanals existierte. Ähnliches gilt für Anno 1602 (1998) oder den Nachfolger Anno 1701 (2006), die nicht auf das Nachspielen historischer Verläufe, sondern auf eine von den Spielenden gesteuerte Entwicklung vor dem Hintergrund des 17. Jahrhunderts setzen (vgl. Baur 1999: 86). Das Spiel Imperialismus (1997) erklärt Spielende zu Herrschenden einer fiktiven oder historisch gegebenen Großmacht in einer, laut Handbuch, »dem 19. Jahrhundert äußerst ähnlichen Welt«.41 Wenn die konkrete historische Situation bis zur Unkenntlichkeit hinter den Strukturen einer historischen Epoche verschwunden ist, erscheint Geschichte viertens in der Funktion eines Handlungsmodells. Die Einbettung in eine scheinbar realistisch (re-)konstruierte Situation in der Vergangenheit, so kommentieren Spieler, mache mehr Sinn als »das blöde rumgeballere [sic]«42 oder eröffne die Chance, sich Geschichte in mehrfacher Hinsicht billig ›reinzuziehen‹.43 Aus Sicht der Hersteller bietet sich die Vergangenheit als Steinbruch für ein großes Spektrum leicht zu erschließender und faszinierender Spielfelder geradezu an. Denn sie profitieren von diesem Interesse der User ebenso wie vom Umstand, dass sie den thematischen Rahmen eines Spiels nicht neu und damit kostenintensiv entwickeln bzw. erfinden lassen müssen.

41 Vgl. Imperialismus, Frog City und Strategic Simulations (1997), Handbuch, S. 1. Das Frontispiece des Handbuchs suggeriert mit seinem Layout und der Titelgebung bereits den Beginn des Eintauchens in das vergangene Jahrhundert. Das höchst moderne Medium soll hinter dem Schein eines konstruierten historischen Artefakts (Buch/Buchtitel) zurücktreten. 42 Eintrag von »Sissi« vom 26. Juni 2004, in: Privates Geschichtsforum (2004-2008). 43 Eintrag von »Stipan« vom 26. Juni 2004 (ebd.). 333

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(2) Vergangenheit zum Nacherleben: Wie immer sich dies jeweils vollzieht, historische Computerspiele eröffnen einen eigenen Zugang zur Vergangenheit. Geschichte – das, was als solche präsentiert und rezipiert wird – wird auf gewisse Weise lebendig, erlebbar, denn Spielerinnen und Spieler reisen in eine andere Zeit und können, wie es suggeriert und nicht selten rezipiert wird, Ereignisse nacherleben, was sie in Foren immer wieder als besonderen Reiz der Spiele hervorheben.44 Sie nehmen gar am Geschehen teil, interagieren mit »wahren historischen Ereignissen und Personen«, wie der Hersteller von Europa Universalis II (2001) verspricht, oder schlüpfen gleich in ihre Haut. Motive, Abläufe, Handlungsspielräume, so rudimentär die historische Korrektheit und so gering die Authentizität der ›nacherlebten‹ Vergangenheit sein mag, vermögen auf diese Weise weitaus verständlicher und nicht zuletzt faszinierender zu erscheinen als die Fakten, die ein Buch oder der klassische Schulunterricht dagegensetzen können. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass die Spielenden im Unterschied nicht nur zum Unterricht, sondern ebenso zu anderen populären Medien Art, Dauer und Intensität der Beschäftigung selbst bestimmten. (3) Geschichte in die eigene Hand genommen: In diesem Nacherleben einer reduzierten Geschichte – wobei Reduktion den Ausgangspunkt jeder Geschichtsvermittlung bildet – erfahren sich die Spielenden überdies nicht bloß als involvierte Akteure, sondern nicht selten als diejenigen, die alles entscheiden oder entscheiden können (vgl. Spiegel Netzwelt online 2006). Sie bleiben nicht länger Objekte, sondern rücken in die Rolle des Subjekts auf. »Live history or change it«45 lautet die Botschaft. Ganz gezielt setzen Hersteller in ihrem Marketing auf dieses Bedürfnis, einmal selbst die Entscheidungen zu treffen, ›große‹ Geschichte zu machen: »Play as the leader of a glorious dynasty, amass prestige and piety and the world will whisper your name« (Paradox Interactive 2008b), verspricht die Werbung zum Spiel Crusader Kings. Man ist eben »selbst der Gestalter«, kann selbst der große Herrscher oder ein Akteur mitten im Geschehen sein, dessen Ausgang bestimmen oder sich sogar über die Historie hinwegsetzen und somit einer »Gängelung durch histo44 »... seien wir mal ehrlich [sic] Schlachten a [sic] la Braveheart und der Patriot wollten wir doch schon alle mal erleben«. Eintrag von »Hänsel« vom 13. Dezember 2004, (ebd.). Selbst die Welt, in die man eintauche, die vermittelte Atmosphäre, wird als authentisch gelobt: »man sieht richtig [sic] wie das im Mittlealter [sic] war«, Eintrag von »Stipan« vom 7. Juli 2004, (ebd.). 45 Frage vor dem Beenden des Spiels Imperialismus: Die hohe Kunst der Weltherrschaft (Frog City und Strategic Simulations Inc., 1997); vgl. auch Lehner (2007). 334

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rische Fakten«46 entgehen – alles Elemente, die von Spielerinnen und Spielern an Geschichtsspielen gelobt werden.47 Diese Liste ließe sich noch fortsetzen, insbesondere nach einer detaillierten Analyse einzelner Spiele und ihrer Rezeption, die an dieser Stelle nicht erfolgen kann.48

»Now you are in command«: Ein kurzes Fazit Die Tatsache, dass viele Menschen ihre Geschichtskenntnisse und -bilder aus populären Medien beziehen, ist noch immer nicht angemessen untersucht. Für das Medium Computerspiele, das bisher meist als eine Angelegenheit der jüngeren Generation betrachtet worden ist, trifft das in besonderem Maße zu. Dass Geschichte überhaupt in Computerspielen auftaucht und zunehmend populärer wird, ist nicht der einzige Faktor, der einer Erklärung bedarf. Als noch bedeutsamer ist anzusehen, mit welcher Intensität Geschichte zum Spielgegenstand gemacht wird, einerseits von Herstellern, andererseits von den Usern. Die Darstellung von Geschichte im Computerspiel sollte nicht nur ein Arbeitsgebiet von Didaktikern und Pädagogen sein. Ob die Vergangenheit holzschnittartig, fehlerbehaftet oder auf Bereiche wie Militär und Wirtschaft beschränkt bleibt, ein Merkmal, an dem sich immer wieder die Kritik entzündet, ist in gewisser Weise sekundär. 49 Als wesentlicher erscheint zum einen der Umstand, dass die in den Spielen präsentierte Geschichte fasziniert, wobei das Ansinnen, das Spielvergnügen zu erhöhen, ebenso interessant und untersuchenswert sein sollte wie die Funktion, einen Zugang zu einem Themenfeld zu eröffnen, das zuvor als spröde und langweilig angesehen und aus der eigenen Lebenswelt ausgeklammert wurde. Zum anderen sollte nicht unterschätzt werden, dass die Spiele eine Wirkung haben, die selbst bei einem weit gefassten Verständnis mit dem 46 Vgl. »Empire: Total War. Kampf um die ganze Welt«, Computer Bild (2008b: 10), S. 6-10, hier S. 10. 47 So lobt der ›angehende Sozialpädagoge‹ Jonas Wegener die Spiele trotz eines eher altbackenen Geschichts-bildes als gutes Mittel, um Geschichte lebendig zu machen: »Kein Medium ist so geeignet, einem [sic] eine bestimmte Epoche am eigenen Leib [meine Hervorhebung] nacherleben zu lassen« (Haubner 2007: 6). 48 Zu verweisen ist auf die einzelnen Beiträge des Sammelbandes Schwarz (2009), sowie auf die in Arbeit befindliche Dissertation zum Thema ›Geschichte im Computerspiel‹ von Jan Pasternak, Universität Siegen. 49 Vgl. Interview mit Rainer Pöppinghege (Drösser 2007: 46). 335

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Begriff einer Gefährdung der spielenden Person nur sehr vage beschrieben ist. Obschon es sich um ein noch weitgehend unerforschtes Feld handelt, ist von Transfers zwischen virtueller und realer Welt auszugehen. Das Geschichtsverständnis der Einzelnen bleibt nicht, so eine weitere empirisch zu prüfende These, unbeeinträchtigt, wenn ein intensiver Umgang mit Spielen historischen Inhalts erfolgt. Bei ihrer Überprüfung dürfte allerdings das Wort vom Geschichtsverständnis nicht auf die Bedeutung von Aufnahme oder Wiedergabe historisch korrekter Details oder Zusammenhänge beschränkt sein, sondern müsste alle Vorstellungen einschließen, die die Spiele von Vergangenheit bei den Nutzerinnen und Nutzern erzeugen (vgl. Wesener 2007: 144f.). Denn letztlich geht es bei der Betrachtung von populären Medien und Genres weniger um die Frage, ob sie eine Norm oder Normen angemessen vermitteln, sondern vielmehr darum, was sie überhaupt vermitteln, wie sie das tun und wie dieses Angebot rezipiert wird.

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Wolf, Peter (1996): »Der Traum von der Zeitreise: Spielerische Simulationen von Vergangenheit mit Hilfe des Computers«. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9, S. 535-547. Zey, René (1994): Bildschirmspielereien: Der Elternratgeber über Video- und Computerspiele, Weinheim: Beltz.

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AUTORENVERZEICHNIS Stefan Brauburger ist stellvertretender Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte. Er ist Autor und Redakteur zahlreicher, zum Teil preisgekrönter Fernsehsendungen und Dokumentarreihen, u.a. Die Wahrheit über Auschwitz (1995), Die Nervenprobe – Kubakrise ’62 (2002), Stalin (2003), Die Deutschen (2008). Zudem verfasste er zahlreiche Buch- und Zeitschriftenbeiträge zu politischen und zeithistorischen Themen. Dr. Michael Butter ist Junior Fellow der School of Language and Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS). Er studierte Anglistik, Germanistik und Geschichte in Freiburg und Norwich und promovierte in Bonn und Yale im Fach Amerikanistik. Gegenwärtig arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zu Verschwörungstheorien in der amerikanischen Kultur von den Puritanern bis zu McCarthy. Dr. Nicola Eisele ist Studienrätin im Hochschuldienst für mittelalterliche und Frühneuzeitliche Geschichte am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Zurzeit arbeitet sie u.a. an einem fachdidaktischen Projekt zu Mythos und Geschichte. Weitere Forschungsschwerpunkte sind populäre Fiktion im Geschichtsunterricht, englische Geschichte der Frühen Neuzeit, das Goldene Zeitalter der Piraten sowie Lernmotivation und Geschichtsinteresse. Birgit Heidtke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut Freiburg (SoFFI F.) an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Nach ihrem Studium der Germanistik und Geschichte in Freiburg arbeitete sie zunächst als Redakteurin, freiberufliche Historikerin und Stadtführerin. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind soziale Problemlagen und Gesundheit, vor allem Frauengesundheit und Gesundheitsförderung. Prof. Dr. Wolfgang Hochbruck ist Professor für Nordamerikanische Philologie und Kulturwissenschaften an der Universität Freiburg und Projektleiter der DFG Forschergruppe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart. Er studierte Englisch, Deutsch 341

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und Geschichte in Freiburg, Halifax und Berkeley. Zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten gehören die Popularisierung historischer Lebenswelten, Ecocriticism, Sicherheit und Gesellschaft sowie das Drama des späten 19. Jahrhunderts. Dr. Thomas Fischer ist Leiter der Redaktion Bildung und Zeitgeschehen beim Fernsehen des Südwestrundfunks in Baden-Baden. Er studierte Germanistik und Geschichte in Hamburg und Freiburg. Beim Südwestfunk arbeitete er zunächst als Redakteur für Telekolleg und Schulfernsehen, dann für den Bereich Fernsehen Kultur. Unter seiner Verantwortung entstanden zahlreiche Geschichtsdokumentationen, u.a. die 52-teilige Reihe 100 Deutsche Jahre (SWR/ARD 1998). Dr. Erwin Keefer ist Leiter der archäologischen Abteilung des Württembergischen Landesmuseums und konzipierte dort zahlreiche Dauerund Sonderausstellungen. Seit 1994 ist er zudem Mitglied der Jury der Kieler CINARCHEA, dem einzigen deutschsprachigen Archäologiefilmfestival, und betreut die wissenschaftliche Redaktion der Zeitschrift Archäologie in Deutschland. Prof. Dr. Barbara Korte ist Professorin für Anglistische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg und Sprecherin der DFG Forschergruppe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart. Sie studierte Anglistik und Germanistik an der Universität Köln. Zu ihren gegenwärtigen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Geschichtsrepräsentationen in populären Genres vom 19. Jahrhundert bis heute sowie British Cultural Studies. Prof. Dr. Edgar Lersch ist Leiter des Historischen Archivs des SWR sowie Mitglied der Historischen Kommission der ARD. Er studierte Philosophie, Katholische Theologie und Pädagogik und veröffentlichte zahlreiche Studien zur Rundfunk- und Mediengeschichte sowie zur Kulturgeschichte der Nachkriegszeit. Er ist Honorarprofessor für Mediengeschichte und Archivkunde der Medien an der Universität Halle-Wittenberg. PD Dr. Maren Lorenz ist Privatdozentin am Department Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg. Nach ihrem Studium der Geschichte, Politikwissenschaften und Psychologie an den Universitäten Heidelberg, Wien und Hamburg arbeitete sie zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und forschte 2007/2008 als Visiting Fellow am Deut-

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schen Historischen Institut in Washington. Gegenwärtig untersucht sie protoeugenische Diskurse in Deutschland und den USA (1750-1870). Dr. Erik Meyer ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Gießen sowie Principial Investigator des dortigen International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC). Nach seiner Promotion zum Thema Die Techno-Szene: Ein jugendkulturelles Phänomen aus sozialwissenschaftliches Perspektive (2000) arbeitete er am Gießener SFB Erinnerungskulturen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Jugendkultur, politische Kommunikation sowie Geschichtspolitik. Website: www.memorama.de. Dr. Martin Nissen ist Bibliotheksreferendar an der TIB/UB Hannover. Er studierte Geschichte, Deutsch und Englisch in Freiburg und Dublin und promovierte in Berlin zum Thema Populäre Geschichtsschreibung: Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848-1900) (2009). Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Historiographiegeschichte sowie Bibliotheks- und Buchhandelsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Prof. Dr. Sylvia Paletschek ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg und Sprecherin der DFG Forschergruppe Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart. Sie studierte Geschichte, Germanistik, Geographie und Erziehungswissenschaften in München und Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie Geschichtskultur. Dr. Peter Prange ist freier Schriftsteller. Er promovierte mit einer Arbeit über die erotische Libertinage der Aufklärung. Nach seinem Durchbruch mit dem deutsch-deutschen Roman Das Bernstein-Amulett (als Zweiteiler für die ARD verfilmt) hat er sich mit seinen historischen Romanen Die Principessa, Die Philosophin, Die Rebellin und Der letzte Harem auch international einen Namen gemacht. Seine Bücher wurden in insgesamt 19 Sprachen übersetzt, mit einer Gesamtauflage von 2,5 Millionen Exemplaren. Im Herbst 2009 erscheint sein Roman Die Gottessucherin. Dr. Kees Ribbens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Historical Culture der Universität Rotterdam und am Netherlands Institute for War Documentation in Amsterdam. Er studierte Neuere und Neueste Geschichte in Nijmegen, promovierte 2001 an der Universität

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Utrecht und war als Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Nijmegen und Utrecht tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind populäre Geschichtskulturen und kollektives Gedächtnis, Geschichtskanon und multikulturelle Gesellschaft, Lokalgeschichte und Zweiter Weltkrieg sowie Comicgeschichte. Prof. Dr. Angela Schwarz ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen. Sie studierte Anglistik, Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Duisburg und Reading (GB). Die Schwerpunkte ihrer Forschung liegen im Bereich der Europäischen und Britischen Geschichte, der Regionalgeschichte, der Kulturund Mediengeschichte sowie der Wissenschafts- und Technikgeschichte. Dr. Matthias Steinle ist Maître de conférence am Fachbereich Cinéma et audiovisuel der Universität Sorbonne Nouvelle – Paris III. Er studierte Film- und Medienwissenschaft, Germanistik und Geschichte in Mainz, Marburg und Paris und promovierte 2002 über die gegenseitige Darstellung von BRD und DDR im Dokumentarfilm. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen mediale Geschichtsbilder, Dokumentarfilm, DEFA sowie deutsch-französische Medienbeziehungen.

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REGISTER Alltag 9, 45, 89, 116, 147, 252, 255, 263, 316 alternate history 26-27, 6581 Animation 44-46, 150, 185, 203, 216, 274-75, 327-30 Anschaulichkeit 30, 42, 46, 106, 194, 215-22, 228, 259, 328 Antike 23, 33, 44, 181, 234, 326 Archäologie 35, 41, 44, 181, 215, 231-50 Assmann, Aleida 10, 13, 18, 41, 272 Assmann, Jan 10, 272 Authentizität 22-26, 38-44, 113, 148-151, 171-80, 185, 196-97, 203-04, 21523, 227, 240, 243, 260-61, 267, 271-73, 327-28, 33134

Computerspiel 9, 30, 43-47, 91, 273-74, 313-40 Denkmal 11, 19-20, 173, 186, 255, 259, 265, 268-70, 275 Der Untergang 152, 157, 276 Deutschland 9-10, 13-16, 21, 26, 28-32, 35-39, 43, 6872, 75, 78, 80, 103-09, 111, 114, 124-42, 148-49, 160-61, 167, 171-74, 19294, 199-201, 204-05, 24243, 268-71, 276-77, 281, 289, 299-301, 314, 325 Die Deutschen 9, 40, 209, 341 Digital 27-29, 44-45, 67, 151, 211, 280, 289, 308, 331 Disneyfizierung 41, 124-25, 136-38 Dokudrama 34, 38, 147-65, 179, 234 Dokumentation 28, 34-40, 43, 47, 126, 140, 170, 173-86, 191-201, 203-11, 215-17, 224-25, 235, 240, 251, 283, 304, 315 Doku-Soap 17, 35, 37, 40, 246 Dramatisierung 15, 44, 63, 148, 153, 175, 197, 205, 255-56, 271, 300, 328 Drittes Reich 30, 37-39, 47, 91-93, 105, 108-11, 114, 126, 136, 141, 151-52,

Bild 15-17, 20, 30-33, 37-47, 90, 105, 121, 127, 148, 150-51, 155-60, 171-86, 192, 196-200, 203-05, 216, 224, 231-37, 240, 247, 259, 263, 272-75., 282, 290, 319, 328-30 Breloer, Heinrich 34, 149-155 Buchmarkt 23-24, 28 Comic 12, 30-31, 47, 52, 5657, 60, 91, 121-145, 271 345

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155-57, 167-69, 173-76, 194, 201, 204, 253, 267, 271-79

Fantasy 17, 27, 87-88, 227, 313-15, 326 Feminismus 43, 251-65 Fernsehen 9, 11, 15, 26, 32, 34-40, 42-44, 91, 105, 113, 147-53, 162, 167-97, 201-03, 207, 211, 215, 227, 272-76, 314-18 Fernsehprogramme – öffentlich-rechtlich 34, 150, 164-66, 175, 183, 188, 191-93, 200, 203, 227, 270, 274-76 – private 34, 37, 39, 150, 19193, 227, 276 – ARD 15, 34-36, 39, 152-54, 162, 175-80, 182-83, 185, 190-91, 195, 223, 227, 234, 243, 246, 276 – SAT.1 152-54, 269 – SDR 35, 38, 174, 176-78, 182-84, 196 – SWR 35, 39, 156, 195-96, 242, 249 – WDR 35, 156, 174, 179, 190, 227 – ZDF 9, 36-39, 105, 150-54, 167, 175-76,179-80, 185, 191, 203-06, 209-13, 22425, 274-75 fiktional/fiktiv 26-27, 31, 3340, 69, 71-74, 92-94, 98, 103-05, 125-26, 135, 151, 160, 170-71, 178-80, 18486, 188, 203-05, 212, 224, 226, 240, 260-62, 267, 271, 274, 331-33 Film 11, 13, 16-17, 26-27, 3039, 41, 43-47, 65, 71-72, 91, 98, 121, 126, 136, 14765, 170-86, 194-201, 20313, 216-18, 222-23, 225-

Emotionalisierung 10, 20, 33, 36, 42, 47, 89, 114-16, 141, 151, 157, 167, 17778, 192-97, 201, 205-06, 210, 220, 226-27, 271, 275-76, 304, 324 Enzyklopädie 45, 275-76, 279, 289-312 Erinnerungskultur 10, 38, 44, 104, 154-55, 160-62, 178, 258, 267-73, 325 Erlebnis 8, 15, 18, 23, 39-42, 44, 64, 91, 95, 191-97, 207, 221-23, 228, 243-48, 273, 283, 315, 322, 334 Event (vgl. Erlebnis) 13, 34, 38, 41-42, 150, 153, 162, 220, 245-46, 265, 274-76 Erster Weltkrieg 23, 31, 35, 103-04, 109, 124, 171-72, 175, 327, 329, 331 Erzählung 27, 29-31, 34, 39, 44, 67-68, 73-77, 84-95, 100, 122-27, 131-42, 150, 183-86, 191, 194, 198, 220-21, 259, 262 Europa 8, 14, 18-21, 24, 31, 48, 52, 80, 89, 97, 121-27, 131, 142, 178, 235, 268, 275, 323, 329, 332-34 Experte(nwissen) 29-30, 38, 40, 49, 89-91, 98-99, 104116, 164, 179, 184-86, 191-92, 197-200, 205, 218-20, 227, 236, 240, 246, 293, 307-08, 318

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REGISTER

28, 240, 243, 270-74, 276, 314-15, 318, 322, 324, 327-28, 330-32 Frankreich 18-19, 25, 29-31, 35, 66,123-25, 127-28, 134-41, 171, 178-79, 18183, 210 Frauenbewegung, neue (vgl. Feminismus) 18, 43, 252256, 263 Frauengeschichte 43, 251-59 Freilichtmuseum 41-42, 21923, 238-40

Geschichtswissenschaft 13, 19, 23, 26-32, 37, 48, 6162, 83, 98-99, 103-19, 157, 167-70, 192-98, 20102, 209, 215, 256-58, 263, 291, 299, 332 Gottfried von Brabant 232 Großbritannien 11-12, 16, 22, 25, 28-31, 35-36, 41-43, 65-67,123-24, 137, 172, 192, 216-18, 224, 325 Historiker, vgl. Geschichtswissenschaft Historischer Roman 17, 2030, 61-64, 65-81, 85, 9092, 105, 324 Historiographie 11-13, 28-29, 66-67, 69-71, 104-07, 114, 168-70, 270, 289 Histotainment 15, 40, 274 Hochkultur 11, 14, 23, 80 Holocaust 31-36, 47, 68-71, 76, 79-80, 114-15, 124-27, 133, 139, 141, 149, 152, 156-57, 162, 173-74, 205, 208, 267-83

Gedenkstätte 45, 268-70, 274, 280, 286 Gender 10-12, 23-24, 28, 48, 66, 90-91, 123, 217, 25165, 296, 331 Genre 9-60, 66-69, 74-75, 7980, 85-91, 100, 103-04, 121-24, 149-50, 162, 16770, 175, 179-82, 191, 19697, 203-09, 234, 273-74, 318, 321,23, 328, 336 Geschichtsboom 10, 12, 21, 43, 84, 147, 240, 267, 332 Geschichtsdidaktik 10-12, 27, 40, 83-102, 103, 126, 20607, 216-18, 227-28, 24344, 248, 273, 316-18, 331, 335 Geschichtskultur/Geschichtsbewusstsein 10-20, 26-27, 46, 49, 84-86, 89-93, 96100, 206, 268, 318 Geschichtsreflexion 27, 40, 100, 270 Geschichtstheater 42-45, 21530, 258-59, 262-63 Geschichtswerkstatt 13, 43, 253 ,255, 265

Identität 9-10, 18, 31, 38, 45, 48, 69, 72, 86-87, 9395,98, 142, 150-52, 177, 218 Intermedialität 14, 30, 40, 47, 88, 327 Internet 9, 23, 40, 45, 67, 121, 211, 273-84, 289-312, 326-27 Jugendkultur 27, 31, 46, 83102, 291, 313, 316-18, 331

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Knopp, Guido 36-37, 105-06, 108, 111, 150-51, 154-57, 168-69, 180, 206, 276 Kolonialismus 18-19, 28, 70, 134, 137-39, 141, 313, 333 Kommerz 11, 14, 28, 41-43, 107, 149, 222, 236, 260, 270-71, 276 Konsum 9-10, 16-20, 41-42, 122-42, 222, 291, 294 Kriminalroman 25-26, 39-40 Kulturfilm 39, 170, 180-83 Kulturgeschichte 12, 29, 36, 106, 234-36, 240, 243-46 Kulturindustrie 124-25, 270, 273

– audiovisuelle 13, 32-40, 147-65, 167-90, 191-202, 203-13, 270 Medienkonvergenz 20, 47-48, 150, 282 Massenmedien 11, 14, 16, 33, 113, 121-22, 167, 191-93, 240, 270-74, 280 Multimedia 211, 272-75, 283, 289 Museum 11-12, 41-42, 21528, 231-50, 268, 277, 281 Nachkriegszeit 30, 125, 12829, 133-34, 140-41, 151, 201, 279 Nation 11, 18, 31-32, 38, 48, 69, 77, 123, 131-32, 14042, 150, 153 Nationalsozialismus (vgl. Drittes Reich) Niederlande 31, 123, 126, 128-34, 140-42, 223

Lebenswelt 10, 15, 22, 25, 30, 33-38, 41-42, 48, 64, 8486, 93-96, 116, 168, 194, 220-23, 231, 235-39, 243, 248, 315, 318 Living History 41-44, 215-30 Living Science 234, 244-47

Öffentlichkeit 9, 29, 32, 45, 106-07, 113, 115, 126, 150, 173, 191, 198, 236, 240-41, 252-55, 258-60, 271-72, 281, 289, 305-06, 317-18 Oral History 105, 150, 177, 185, 207

Mainstream 17, 26, 33, 170 Markt 14, 16, 20, 24, 28, 38, 46-48, 67, 88, 106, 12228, 132-33, 150-52, 162, 168, 193, 207, 223, 236, 244, 270-73, 276, 282-84, 289, 294-95, 315, 324 Marketing 42, 103, 236-37, 240-42, 334 Mittelalter 27, 47, 83-102, 218, 262, 326 Mittelaltermärkte 9, 16, 218, 222 Medien 11, 13-17, 20, 34, 38, 47, 88, 100, 122, 147, 155, 161, 168-70, 267-87, 289, 312-14

populäre Wissenschaft 9, 27, 30, 42, 107, 246, 280, 298 Populärkultur 9-20, 49, 61, 67-68, 86-89, 103, 106, 142, 169, 191, 267, 313 Print 21-32, 83-102, 103-19, 121-45, 282, 295 Publikum 13, 20, 23, 28, 3234, 39, 41-42, 69, 104-05,

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REGISTER

109, 121-22, 141, 191-95, 203, 207, 223, 237, 241, 246, 261, 273, 280, 294, 313

Vergegenwärtigung 22, 61, 178, 221-23, 226-28, 254, 267-68 Visualisierung 33, 40, 105, 127, 184, 205, 258, 272, 328, 330

Quote 28, 36-39, 150, 193, 244, 271

Web 2.0 (vgl. Internet) 44-45, 278-81, 291, 295 Wikipedia 231, 276-79, 289312, 327

Reenactment 35-39, 43, 159, 179-80, 204, 217-18, 22223, 226-27, 244-47, 330 Rezeption 14-15, 38, 48, 85, 88-89, 205-06, 228, 26972, 282, 334-35

Zeitgeschichte 150, 155, 17180, 191-202, 203-13, 28182 Zeitzeuge 35, 38, 110-13, 136, 149-51, 157, 175-78, 180, 185-86, 191-99, 201, 204-09, 224-26, 267, 273, 276, 281 Zweiter Weltkrieg 26, 65-68, 75-76, 115, 121-45, 17273, 273, 276-77, 321, 325, 331

Sachbuch 28-30, 91-92, 103119 Science Fiction 17, 25, 66-67, 315 Secondary World 84, 87, 9498 Stadtrundgang 43-44, 251-65 Suchmaschine 276-78, 290, 305, 308 teamWorx 150-61 Themenpark 9, 41, 44-45, 222-23, 228, 232, 242-44 Tourismus 43, 47, 240, 270 Unterhaltung 9-11, 15-16, 2324, 26, 44, 63, 122, 149, 179, 186-87, 203, 228, 236, 267, 273-76, 315 Ur- und Frühgeschichte 4142, 239-40 User 15, 45-46, 274-75, 27784,290-94, 300-06, 31618, 325, 328-35 USA 11-12, 18, 29, 32-35, 66-80, 121-24, 215-16, 219, 223, 227, 276

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2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240