Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko [1. Aufl.] 978-3-662-59276-2;978-3-662-59277-9

Renommierte Heidelberger Wissenschaftler haben in diesem Buch zusammengetragen, was heute über Krebserkrankungen und ihr

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German Pages XVI, 175 [180] Year 2019

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Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko [1. Aufl.]
 978-3-662-59276-2;978-3-662-59277-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVI
Neuigkeiten aus der Krebsforschung (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 1-11
Das Immunsystem und Krebs (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 13-29
HIV und Krebs – warum HIV Patienten häufiger an Krebs erkranken (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 31-37
Zucker, Fette und Übergewicht (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 39-58
Bewegungsmangel als Krebsursache (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 59-67
Bindemittel, Ballaststoffe und Darmentzündungen (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 69-78
Krebs durch gefährliche DNA Moleküle in Rindfleisch und Kuhmilch (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 79-89
Krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 91-107
Alter und Krebs (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 109-122
Stress und Krebs (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 123-135
Entzündungshemmer und Antioxidantien (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 137-147
Die Therapie der Zukunft (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 149-157
Ein Denkmal für die Maus (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 159-166
Schlusswort (Hanna Heikenwälder, Mathias Heikenwälder)....Pages 167-170
Back Matter ....Pages 171-175

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Hanna Heikenwälder Mathias Heikenwälder

Krebs

Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko

Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko

Hanna Heikenwälder · Mathias Heikenwälder

Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko Mit einem Geleitwort von Nobelpreisträger ­Professor Harald zur Hausen

Hanna Heikenwälder Heidelberg, Deutschland

Mathias Heikenwälder Chronische Entzündung und Krebs (F 180) Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ) Heidelberg, Deutschland

ISBN 978-3-662-59276-2 ISBN 978-3-662-59277-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-59277-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Fotonachweis Umschlag: © Piman Khrutmuang/stock.adobe.com Umschlaggestaltung: deblik Berlin Zeichnungen: Claudia Styrsky, München Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

„Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Max Planck (1858–1947)

Für Leopold, Ferdinand und Theresa

Geleitwort

Dieses Buch ist eine längst überfällige Offenbarung aus der Welt der Krebsforschung an die Öffentlichkeit. Es ist den Heidelberger Wissenschaftlern gelungen, verständlich und mit spannenden Anekdoten zu erklären, was wir zu diesem Zeitpunkt wirklich über Krebserkrankungen und ihre Ursachen wissen. Die Ära der modernen Molekularbiologie und Genetik hat es Wissenschaftlern und Ärzten erlaubt in den letzten Jahrzehnten auf der ganzen Welt Erkenntnisse über die Entstehungsmechanismen und Komplexität von Krebserkrankungen zu erlangen. Die wohl erstaunlichste Erkenntnis hierbei war, dass die meisten Krebserkrankungen maßgeblich durch unsere eigene Lebensweise verursacht werden. Epidemiologische Daten und Hochrechnungen bestätigen, dass wir uns auf direktem Wege in eine Zukunft bewegen, in der genau solche Krebsleiden die Oberhand gewinnen, die nach heutigem Erkenntnisstand vermeidbar wären. Während die Welt der Wissenschaft mittlerweile ein Verständnis für die meisten Krebserkrankungen besitzt, besteht weiterhin eine riesige Kluft zwischen diesem Wissen und der Umsetzung dieses Wissens in den Alltag von Ärzten und Krankenhäusern. Es bedarf einer Revolution des Verständnisses von Krebs, um diesem Trend ein Ende zu setzten und die Gesundheitssysteme dazu zu bewegen, diese neuen Erkenntnisse in die Prävention und maßgeschneiderte Behandlung von Krebspatienten einzubeziehen. Die neuen Erkenntnisse können dazu dienen, jedem Patienten die bestmögliche Therapie und ein würdevolleres Leben zu ermöglichen. Wir haben es nicht mit „neuen“ Krebserkrankungen zu tun, sondern unser Verständnis über Krebserkrankungen hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Im Laufe des Buches wird deutlich, wie unfassbar vielschichtig Krebserkrankungen sind IX

X     Geleitwort

und weshalb selbst innerhalb desselben Organs jede Krebserkrankung einzigartig ist. Einige der in diesem Buch beschriebenen krebsverursachenden oder krebsfördernden Lebensumstände sind lange bekannt und erhalten in regelmäßigen Abständen mediale Aufmerksamkeit. Jedoch geht dabei häufig die enorme Gewichtung unserer eigenen Lebensweise und bestimmter wichtiger Faktoren wie unserer Ernährung verloren. So betrachten beispielsweise die meisten Menschen Übergewicht als eine ästhetische Geschmacksfrage. Aus wissenschaftlicher Sicht stellt insbesondere starkes Übergewicht jedoch eine vermeidbare Krebsursache dar. Jeder von uns weiß, wie schwierig es ist seinen Lebensstil grundlegend und dauerhaft zu ändern. Um einen solchen fundamentalen Wandel durchzusetzen, ist es unentbehrlich zu verstehen weshalb dies wirklich notwendig ist. Dieses Buch schafft es auf bisher unerreichte Art und Weise auf die wichtigsten krebsverursachenden Lebensweisen und Umweltfaktoren hinzuweisen und gleichzeitig Lösungsansätze zu präsentieren, soweit es der heutige Erkenntnisstand zulässt. Dabei werden auch viele andere spannende wissenschaftliche Rätsel rund um das Thema Altern, Ernährung und Vitaminpräparate unterhaltsam erzählt und in das richtige Licht gerückt. Obwohl dieses Buch aufgrund seiner enormen Bedeutung für die Gesundheit für jeden Leser von großem Interesse sein sollte, wird besonders die heutige Jugend den größten Nutzen aus diesem Buche ziehen. Die Entstehung von Krebserkrankungen ist in den meisten Fällen ein jahrzehntelanger Prozess der durch unsere Lebensweise entscheidend beschleunigt oder verlangsamt werden kann. Indem junge Menschen dieses Buch lesen und den Ursprung von Krebserkrankungen verstehen, könnten zukünftig viele Krebserkrankungen vermieden werden, bevor sie unheilbares Leid verursachen. Da auch junge Menschen und selbst Kinder an Krebs erkranken können, ist es umso wichtiger ein frühes Bewusstsein für die häufigsten Formen dieser Erkrankungen und die Möglichkeiten für Prävention oder frühzeitige Diagnose zu entwickeln. Die Bedeutung dieses Werkes ist in dieser Hinsicht besonders groß und wird hoffentlich in Zukunft als Vorbild dienen, um den Dialog zwischen Wissenschaft und der Gesellschaft zu vertiefen. Um unnötige Ängste und die Verbreitung von gefährlichem Halbwissen zu verhindern, ist es unabdingbar, dass sich Forscher selbst zu Wort melden und sich die Zeit nehmen, ihr Wissen verständlich und zugänglich zu machen. Prof. Dr. Harald zur Hausen

Vorwort

Die Frage nach dem „Warum“ beschäftigt vermutlich jeden Menschen der an Krebs erkrankt intensiv. Während manche Menschen eine persönliche Vermutung haben wodurch ihre Krankheit möglicherweise verursacht oder begünstigt wurde, sind insbesondere jüngere Menschen angesichts einer Krebsdiagnose fassungslos. Wie konnte es zu dieser Erkrankung kommen? Besteht eventuell ein Zusammenhang zu anderen Krebsfällen in der Familie? Warum erkranken manche Menschen bereits in jungen Jahren und wie kann es sein, dass andere trotz scheinbar ungesunden Lebensstils uralt werden? Als Krebsforscher werden wir nicht nur in unserem Beruf, sondern auch privat regelmäßig um Hilfe und Auskunft zum Thema Krebs gebeten. Oft herrscht dabei eine große Diskrepanz zwischen wissenschaftlich anerkanntem Wissen und in der Gesellschaft verbreiteten Meinungen. Während viele Ängste weitestgehend unbegründet sind, werden die wichtigen „großen“ Krebsförderer unserer Zeit stark unterschätzt. Wir wissen mittlerweile, dass wir nahezu alle genetischen Veränderungen, die für die Krebsentstehung wichtig sind erst im Laufe unseres Lebens erwerben. Dieses Wissen basiert auf den wenigen bekannten erblichen Genmutationen, welche die Krebsentstehung begünstigen und dem verstärkten Auftreten von Krebserkrankungen mit zunehmendem Alter. Es ist natürlich unmöglich für jede Krebserkrankung eine einzelne verantwortliche Ursache zu identifizieren. Krebs entsteht in den meisten Fällen aus einem Zusammenspiel von schädlichen Substanzen, Umwelteinflüssen und chronischen Erkrankungen. Wir sind überzeugt, dass das Verständnis dieses Zusammenspiels einen Großteil der Krebserkrankungen verhindern könnte. Diese Annahme wird durch die aktuellen Daten XI

XII     Vorwort

der internationalen Agentur für Krebsforschung gestützt, laut der die Hälfte aller Krebserkrankungen verhindert werden könnte, wenn die Präventionsund Diagnosemöglichkeiten nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft umgesetzt werden würden. Heidelberg ist Standort des weltweit renommierten Deutschen Krebsforschungszentrums und einer exzellenten Universitätsklinik. Viele Menschen aus Deutschland und der ganzen Welt kommen nach Heidelberg, um sich hier behandeln zu lassen. Häufig haben diese Patienten bereits eine ganze Odyssee hinter sich und berichten von den Schwierigkeiten seriöse Informationen zu ihren Erkrankungen zu finden. Das Internet ist überschwemmt von selbst ernannten Experten und Wunder versprechenden Heilmethoden. Ziel unseres Buches war es daher zusammenzufassen, was bis heute wirklich über die Entstehungsmechanismen von Krebserkrankungen bekannt ist. Wir danken Prof. Harald zur Hausen für seine Unterstützung und die vielen hilfreichen Diskussionen. Wir danken Ulrike Grönefeld und Sibylle Kohlstädt vom Deutschen Krebsforschungszentrum für die Hilfe bei der Veröffentlichung dieses Buches. Wir danken dem gesamten Springer Team und insbesondere Renate Scheddin, Dr. Sabine Höschele, Christiane Beisel, Jasmeen Kaur, Amose Stanislaus und Wilma McHugh für die freundliche und gelungene Zusammenarbeit. Unsere tiefste Dankbarkeit gilt unseren Familien und insbesondere meiner Mutter Katrin Johannsen, ohne deren unermüdliche Hilfe und liebevolle Unterstützung das Verfassen dieses Buches für uns als Wissenschaftler und Eltern von drei kleinen Kindern unmöglich gewesen wäre. Heidelberg im April 2019

Dr. Hanna Heikenwälder

Inhaltsverzeichnis

Neuigkeiten aus der Krebsforschung 1 Das Immunsystem und Krebs 13 HIV und Krebs – warum HIV Patienten häufiger an Krebs erkranken 31 Zucker, Fette und Übergewicht 39 Bewegungsmangel als Krebsursache 59 Bindemittel, Ballaststoffe und Darmentzündungen 69 Krebs durch gefährliche DNA Moleküle in Rindfleisch und Kuhmilch 79 Krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen 91 Alter und Krebs 109 Stress und Krebs 123 Entzündungshemmer und Antioxidantien 137

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XIV     Inhaltsverzeichnis

Die Therapie der Zukunft 149 Ein Denkmal für die Maus 159 Schlusswort 167 Stichwortverzeichnis 171

Über die Autoren

Dr. Hanna Heikenwälder (geb. Bergmann) hat Molekularbiologie in Lübeck und den USA studiert. Nach ihrem Masterstudium an der ETH Zürich in Immunologie und Mikrobiologie promovierte sie an der Technischen Universität München. Dort untersuchte sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit den Beitrag bestimmter Entzündungsmoleküle zur Darmkrebsentstehung. Momentan erforscht Hanna Heikenwälder an der chirurgischen Klinik der Universität Heidelberg als Mitglied in einem Team aus internationalen Wissenschaftlern die Rolle von Immunzellen bei der Entstehung von Pankreaskrebs und neue Ansätze der personalisierten Therapie. Gemeinsam mit ihren drei Kindern leben Hanna und Mathias Heikenwälder in Heidelberg (Fotograf©Birgit Roschach).

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XVI     Über die Autoren

Prof. Dr. Mathias Heikenwälder  studierte Genetik und Mikrobiologie an der Universität Wien. Nach seiner Promotion auf dem Gebiet der entzündlichen und degenerativen Nervenerkrankungen an der ­Universität Zürich, habilitierte er in experimenteller Pathologie. Von 2010 bis 2015 war er Professor am Institut für Virologie an der Technischen Universität München, wo er mit seinem Team chronische Entzündungen und Gewebeschäden in der Leber erforschte. Seit 2015 ist er Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Prof. Heikenwälder und sein internationales Team untersuchen wie chronische Entzündungen die Krebsentstehung und Metastasierung fördern. Prof. Heikenwälder gilt als einer der weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet (Fotograf©Birgit Roschach).

Neuigkeiten aus der Krebsforschung

Krebserkrankungen verursachen jährlich weltweit 9,6 Mio. Todesfälle und sind damit nach Herzkreislauferkrankungen die häufigste Todesursache in der entwickelten Welt (2019). Die meisten krebsbedingten Todesfälle werden durch Lungenkrebs (1,76 Mio.), Darmkrebs (862.000), Magenkrebs (783.000) und Leberkrebs (782.000) verursacht, gefolgt von geschlechtsspezifischen Krebserkrankungen wie beispielsweise Brustkrebs (627.000). Während im Jahre 2018 noch 18 Mio. Menschen auf der ganzen Welt an Krebs erkrankten, werden es laut Hochrechnungen der internationalen Agentur für Krebsforschung (IACR) im Jahr 2040 schon 29,5 Mio. sein (2019a, b). Mit der Anzahl an Neuerkrankungen steigt auch die Anzahl der krebsbedingten Todesfälle. Dies bedeutet, dass der Anstieg an neuen Krebserkrankungen durch eine Zunahme von bösartigen Krebserkrankungen getragen wird und die Zahl der Neuerkrankungen nicht nur durch verbesserte Diagnoseverfahren und die frühzeitige Entdeckung von harmlosen Krebsvorläuferstufen in die Höhe getrieben wird. Obwohl diese Zahlen natürlich auch die wachsende Weltbevölkerung und die steigende durchschnittliche Lebenserwartung widerspiegeln, wird der bedeutendste Anstieg bei jenen Krebserkrankungen zu finden sein, welche wir durch unseren Lebensstil und unsere Nahrung beeinflussen können- wie beispielsweise Leberkrebs, Darmkrebs und Brustkrebs. Ungefähr jeder Zweite von uns wird in seinem Leben an Krebs erkranken. Laut der IACR, könnte die Hälfte dieser Krebserkrankungen vermieden werden, wenn der aktuelle Wissensstand genau umgesetzt werden würde (2019c). Dies beinhaltet das Vermeiden von krebsverursachenden Nahrungsmitteln, Umwelteinflüssen und © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H. Heikenwälder und M. Heikenwälder, Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59277-9_1

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2     H. Heikenwälder und M. Heikenwälder

Lebensgewohnheiten sowie die Ausschöpfung der heutigen Präventions- und Diagnosemöglichkeiten. Alleine durch Impfungen gegen Hepatitis B und humane Papilloma Viren könnten jährlich 1 Mio. Krebserkrankungen verhindert werden (Plummer et al. 2016). Wir wissen mittlerweile, dass nur etwa 5–10 % aller Krebserkrankungen auf angeborene genetische Defekte zurückzuführen sind (Aggarwal et al. 2009). Die hierfür verantwortlichen Gene sind mittlerweile gut erforscht. Die restlichen 90–95 % der Krebserkrankungen sind also auf erworbene Gendefekte zurückzuführen, welche sich im Laufe unseres Lebens mit der Hilfe von krebsfördernden Umwelteinflüssen und Lebensgewohnheiten ansammeln. Nach dem aktuellen Erkenntnisstand sind 14–20 % aller Krebserkrankungen auf starkes Übergewicht (Adipositas) zurückzuführen. Infektionen verursachen laut Untersuchungen 18  % aller Krebserkrankungen, die Ernährung 35  % und Umweltverschmutzung und Strahlung zusammen 7 % (Aggarwal et al. 2009). Für viele Krebserkrankungen sind die verursachenden Lebensgewohnheiten und Umwelteinflüsse noch nicht ausreichend erforscht. Weltweit existieren große regionale Unterschiede in Bezug auf das Risiko an Krebs zu erkranken. So erkranken beispielsweise Männer in Australien und Neuseeland mit 571,2 Erkrankungen pro 100.000 fast sechsmal häufiger an Krebs als Männer in Westafrika mit lediglich 95,6 Erkrankungen pro 100.000 (Abb. 1) (2019d). Dabei variiert auch die Häufigkeit an bestimmten Krebsarten zu erkranken zwischen unterschiedlichen Ländern erheblich. So wird der Unterschied in der weltweiten Krebshäufigkeit bei Männern insbesondere durch das besonders häufige Vorkommen von Prostatakrebs in mittel- bis hoch entwickelten Ländern verursacht. Die Untersuchung von Krebshäufigkeiten bei Migranten offenbarte eindrücklich, dass die Unterschiede in der Inzidenz (dem Auftreten) nahezu aller Krebserkrankungen nicht durch verschiedene genetische Veranlagungen von bestimmten Bevölkerungsgruppen, sondern durch die Lebensumstände in der jeweiligen geografischen Region verursacht werden. Beispielsweise ist Magenkrebs bei Japanern ungefähr 6-8-mal häufiger als bei Amerikanern. In den USA geborene Kinder von japanischen Einwanderern erkranken jedoch bereits mit derselben niedrigeren Häufigkeit an Magenkrebs wie Amerikaner. Gleichzeitig ist das Risiko in den USA an Darmkrebs zu erkranken in Abhängigkeit von den Ernährungsgewohnheiten bis zu 20-mal so groß wie in anderen Ländern der Erde. Einige wenige Krebserkrankungen treten jedoch mit einer vergleichbaren Häufigkeit in allen Bevölkerungsgruppen und Ländern dieser Erde auf. Diese Beobachtung trifft insbesondere auf Krebserkrankungen im frühen Kindesalter zu und weist darauf hin, dass diese Krebserkrankungen durch

Neuigkeiten aus der Krebsforschung     3 Männer Australien und Neuseeland Nordamerika Westeuropa Nordeuropa Südeuropa Miel- und Osteuropa Polynesien Ostasien Südafrika Südamerika Welt Karibik Mikronesien Melanesien Westasien Südostasien Zentralamerika Nordafrika Ostafrika Mielafrika Süd-Zentralasien Westafrika

Frauen 362.2

571.2

322.1

387.6

292.1

363.5

295.0

344.6

247.0

319.5

216.5

280.1 241.7

204.3

238.4

192.0 196.1

230.5 220.0

195.2

218.6

182.6 182.9

213.1

160.3

204.6

203.6

197.3

154.6

190.1

142.5

156.1 139.3

149.7

138.9

137.3 150.7

112.4

109.2

101.8

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97.5

122.0

95.6

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600

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200

0

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600

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Altersangepasste Rate pro 100 000

Abb. 1  Weltweite altersangepasste Inzidenzraten für alle Krebsarten nach Geschlecht pro 100.000 Einwohner. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Ferlay J, Ervik M, Lam F, Colombet M, Mery L, Piñeros M, Znaor A, Soerjomataram I, Bray F (2018). Global Cancer Observatory: Cancer Today. Lyon, France: International Agency for Research on Cancer. Verfügbar auf: https://gco.iarc.fr/today, accessed 12 March 2019

Prozesse im Körper gesteuert werden auf welche die Umwelt nur wenig Einfluss hat (Weinberg 2014). Die Frage, weshalb manche Krebserkrankungen bereits im frühen Kindesalter auftreten, beantworten wir in dem Kapitel „Alter und Krebs“. Interessanterweise ist die durch Krebs verursachte Sterblichkeit in entwickelten Ländern dieser Erde durchschnittlich nur circa 15 % niedriger als in Entwicklungsländern (Abb. 2) (2019d). Dies zeigt eindrücklich, wie hilflos wir trotz kostenintensiver und aufwendiger Therapien diesen bösartigen Krebserkrankungen ausgeliefert sind. In diesem Buch werden wir die einflussreichsten Lebensgewohnheiten und Umwelteinflüsse vorstellen, die in Zukunft für die Zunahme von Krebserkrankungen verantwortlich sein werden. Wir erklären, welche krebserregenden Stoffe aus unserer Umwelt und Nahrung die Krebsentstehung initiieren und durch welche Lebensgewohnheiten oder Erkrankungen das Wachstum von Krebszellen beschleunigt wird. Eine besondere Rolle kommt hierbei dauerhaften Entzündungen zu, die in unserem Körper oftmals über Jahrzehnte unentdeckt die Krebsentstehung vorantreiben. Diese ­dauerhaften

4     H. Heikenwälder und M. Heikenwälder Mortalität Mortality

Inzidenz Incidence Australien und Neuseeland Nordamerika Westeuropa Nordeuropa Südeuropa Miel- und Osteuropa Polynesien Ostasien Südamerika Südafrika Welt Melanesien Karibik Mikronesien Westasien Südostasien Zentralamerika Nordafrika Ostafrika Westafrika Mielafrika Süd-Zentralasien

92.9

463.1

91.2

350.2 323.4

105.0

316.2

101.7 100.9

278.4

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238.3

118.3

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123.2

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204.3

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204.2

101.1

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101.7

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95.1

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Altersangepasste Rate pro 100 000

Abb. 2  Weltweite altersangepasste Inzidenz- und Mortalitätsraten für alle Krebsarten pro 100.000 Einwohner. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Ferlay J, Ervik M, Lam F, Colombet M, Mery L, Piñeros M, Znaor A, Soerjomataram I, Bray F (2018). Global Cancer Observatory: Cancer Today. Lyon, France: International Agency for Research on Cancer. Verfügbar auf: https://gco.iarc.fr/today, accessed 12 March 2019

Entzündungen können durch Erkrankungen und Infektionen, aber auch durch unsere Ernährung und Lebensgewohnheiten verursacht werden. Ein Paradebeispiel für eine stark zunehmende Krebserkrankung ist eine Form von Leberkrebs, das Hepatozelluläre Karzinom (HCC). Das Hepatozelluläre Karzinom macht weltweit 65 % aller Leberkrebsfälle aus und hat sich im Zeitraum von 1980–2011 beinahe verfünffacht (Ghouri et al. 2017). Als Hauptrisikofaktor für diese Krebserkrankung gilt neben einer Hepatitis Virus Infektion (HBV/HCV) und Alkoholkonsum die sogenannte „Fettleber“. Verursacht wird diese durch eine Fett- und Zuckerreiche Ernährung, Bewegungsmangel, sowie durch Begleiterkrankungen wie Diabetes, das metabolische Syndrom oder entzündliche Darmerkrankungen. Die Zahl der von einer Fettleber betroffen Patienten wird allein in Deutschland auf 10–20 Mio. geschätzt. Ärzte sprechen mittlerweile geradezu von einer Epidemie. Die weitere Zunahme der Fettlebererkrankung, wird in den nächsten Jahrzehnten weltweit zu einer enormen Zunahme an Patienten mit Leberkrebs führen (Altekruse et al. 2009; Malek et al. 2014). In einem

Neuigkeiten aus der Krebsforschung     5

Zeitraum von nur 5 Jahren entwickelt sich in 11,7 % der von einer Fettleber betroffenen Personen ein gefährliches „hepatozelluläres Karzinom“, eine bösartige Krebserkrankung der Leber. Die meisten Patienten sind zum Zeitpunkt der Diagnose gerademal 30–50 Jahre alt (Ghouri et al. 2017). Besonders erschwert wird die Diagnose durch den unauffälligen und schleichenden Verlauf der Fettlebererkrankung, die jedoch nur im frühen Stadium durch eine gezielte Umstellung der Ernährungsgewohnheiten aufgehalten werden kann. Dies setzt jedoch voraus, dass die Erkrankung frühzeitig im Rahmen von Routineuntersuchungen entdeckt wird. In diesem Fall überleben 70 % der Patienten mindestens 5 Jahre (Tong et al. 2017). Meistens wird eine Leberkrebserkrankung erst spät entdeckt, wenn harmlose Symptome wie ein andauerndes Völlegefühl oder Druck im Oberbauch durch eine vergrößerte Leber auftreten. Zu diesem Zeitpunkt ist die Krebserkrankung bereits weit fortgeschritten und die Wahrscheinlichkeit die nächsten 3 Jahre zu überleben entspricht nur noch 0–10 %. Der schleichende Verlauf und die schlechten Heilungsaussichten machen diese Form von Leberkrebs zur zweithäufigsten krebsbedingten Todesursache weltweit, mit bis zu 600.000 Todesfällen pro Jahr (Ghouri et al. 2017). Welche weiteren Auswirkungen eine kalorienreiche Ernährung und Übergewicht auf das allgemeine Krebsrisiko haben und welche Rolle dabei Zucker und Fette spielen, werden wir in dem Kapitel „Zucker, Fette und Übergewicht“ erklären. Auch dauerhafte Erkrankungen wie Infektionen können Krebs verursachen. Zu diesen Erkrankungen zählen beispielsweise Humane Papilloma Viren (HPV) im Falle von Gebärmutterhalskrebs, Hepatitisviren als Ursache von Leberkrebs oder Helicobacter pylorii Bakterien im Fall von Magenkrebs und Lymphomen. Aktuelle Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass noch weitere bisher unbekannte krebsverursachende Infektionen existieren. Viele der bekannten krebsverursachenden Infektionen sind erst dann in der Lage ihr gefährliches Potenzial zu entfalten, wenn es unserem Immunsystem nicht gelingt diese zu besiegen. Andere Infektionen wiederum werden erst im Zusammenspiel mit unserem Immunsystem zu einer ernsthaften Bedrohung für unsere Gesundheit, indem sie dauerhafte Entzündungsreaktionen in unserem Körper verursachen. Die herausragende Rolle unseres Immunsystems bei der Entstehung von Krebserkrankungen, werden wir in dem Kapitel „Das Immunsystem und Krebs“ erklären. Im Laufe des Buches werden wir zudem vielfältige Lebensgewohnheiten vorstellen, die die Funktionsweise unseres Immunsystems beeinflussen und dadurch der Entstehung von Krebserkrankungen entgegenwirken oder diese begünstigen. Interessanterweise sind viele der krebserregenden Infektionskrankheiten, wie beispielsweise Helicobacter pylorii als Ursache von Magenkrebs, in ­einigen

6     H. Heikenwälder und M. Heikenwälder

Bevölkerungen geradezu pandemisch. Dies bedeutet, dass zwar nahezu Jeder infiziert ist, allerdings nur ein geringer Prozentsatz der Infizierten ein bösartiges Magenkarzinom entwickelt, welches auf der Liste der tödlichen Krebserkrankungen den 3. Platz belegt (2019a). Neben einer Infektion mit dem krebsverursachenden Krankheitserreger, spielen also neben der persönlichen genetischen Veranlagung auch die Immunfunktion und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle für die Krebsentstehung. Viele Menschen leben ihr gesamtes Leben mit einer potenziell krebsverursachenden Infektion, welche sich in einer Art Gleichgewichtszustand mit dem Immunsystem befindet, ohne an Krebs zu erkranken. In diesem Buch werden wir die bekanntesten krebsfördernden Infektionen erklären und noch unbekannte, aber nach neustem Forschungsstand äußerst wahrscheinliche krebsfördernde Infektionen vorstellen. Soweit es der heutige Erkenntnisstand zulässt, werden wir darüber aufklären, wodurch diese Infektionen verursacht werden und wie man sich vor ihnen schützen kann. Eine weitere Ursache für ein erhöhtes Krebsrisiko sind sogenannte „Autoimmunerkrankungen“ wie beispielsweise die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Ulcerative Kolitis. Autoimmunerkrankungen werden durch eine fehlgeleitete Reaktion des eigenen Immunsystems gegen körpereigene Bestandteile verursacht, zu denen unter anderem auch die Mikroben in unserem Darm zählen. Warum manche Autoimmunerkrankungen ein erhöhtes Krebsrisiko mit sich bringen und durch welche Faktoren diese Erkrankungen beeinflusst werden können, werden wir in den Kapiteln „Bindemittel, Ballaststoffe und Darmentzündungen“ und „Krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen“ besprechen. Im Verlauf des Buches erklären wir außerdem wie Bewegungsmangel, Alter und Stress sich auf das Krebsrisiko auswirken. In dem Kapitel „Alter und Krebs“ werden wir zeigen, dass es durchaus möglich ist, die Lebensspanne von Tieren erheblich zu verlängern und dabei gleichzeitig das Auftreten von Alterserscheinungen wie Krebserkrankungen hinaus zu zögern. Wir erklären welche Mechanismen bei Tieren wie Hummern oder Blauwalen dahinterstecken und welche Möglichkeiten sich daraus für uns Menschen ergeben. Am Ende des Buches haben wir uns mit der Frage beschäftigt, welche Maßnahmen in Zukunft die größten Erfolge bei der Verhinderung und Behandlung von Krebserkrankungen erzielen könnten. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Ursachen von Krebserkrankungen auf zellulärer Ebene nahezu unbekannt. Mittlerweile existiert -zumindest in der Wissenschaft- ein äußerst detailliertes Verständnis für die Vorgänge innerhalb von

Neuigkeiten aus der Krebsforschung     7

Körperzellen, die Krebserkrankungen begünstigen. Dennoch wird dieses Wissen bisher nicht ausreichend umgesetzt, um Krebserkrankungen zu verhindern oder Krebspatienten eine bessere Therapie zukommen zu lassen. Die meisten heute in der Klinik zur Behandlung von Krebserkrankungen eingesetzten Therapiemaßnahmen, wie Operationen, Chemotherapie und Bestrahlungen, sind Methoden aus einer Zeit vor den neuen Erkenntnissen der Molekularbiologie. Der auch heute noch breitflächige Einsatz dieser standardisierten Therapien erklärt, warum sich die Sterblichkeitsraten für die meisten fortgeschrittenen Krebserkrankungen wie Darmkrebs, Prostatakrebs, Pankreaskrebs und Brustkrebs bis heute nicht verbessert haben. Erfolge im Überleben von Patienten werden hauptsächlich für die frühen Stadien von Brust- und Darmkrebs beobachtet und werden nahezu ausnahmslos auf eine frühzeitige Erkennung von gutartigen Vorläufern von Krebserkrankungen zurückgeführt (Weinberg 2014). Wir möchten mit diesem Buch darauf aufmerksam machen, dass der mangelnde Fortschritt bei der Verhinderung und Bekämpfung von Krebserkrankungen nicht hauptsächlich auf einem Mangel an Wissen und zielgerichteten Ansätzen basiert, sondern auch an einer Umsetzung der neuen Erkenntnisse. Eine langfristige Veränderung des Lebensstils und somit eine Minimierung des Krebsrisikos kann nur erreicht werden, indem man versteht, weshalb gewisse Lebensgewohnheiten oder Umweltfaktoren schädlich für uns sind. Die moderne Krebsforschung sieht enormen Handlungsbedarf vonseiten der Gesundheitssysteme im Hinblick auf die Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Der Wandel wird kommen. Wir möchten, dass er bald geschieht, um vermeidbare Krebserkrankungen zu verhindern und jedem Patienten die optimale Therapie zukommen zu lassen. Eine personalisierte Medizin, die jeden Patienten und jede Krebserkrankung individuell behandelt, ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Dennoch könnte sie zu einer enormen Verbesserung des Behandlungserfolges und der Lebensqualität von Krebspatienten führen. Bevor es losgeht, möchten wir uns noch kurz mit einem schwerwiegenden Problem beschäftigen, das die Berichterstattung aus der Krebsforschung betrifft. Obwohl es Wissenschaftlern in den letzten Jahrzehnten dank der enormen Fortschritte auf den Gebieten der Genforschung und Molekularbiologie gelang viele Rätsel der Krebsentstehung zu entschlüsseln, ist wenig von diesem Wissen und Verständnis an die Öffentlichkeit gelangt. Das Problem ist hierbei nicht die mangelnde Berichterstattung, da wir beinahe täglich mit Details aus der Krebsforschung und vielversprechenden Behandlungserfolgen konfrontiert werden. Dennoch existiert zwischen wissenschaftlich

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anerkannten und dem in der Gesellschaft verbreiteten Wissen eine große Diskrepanz. Sind unsere angeborenen Gene schuld, wenn wir an Krebs erkranken? Könnten wir das möglicherweise verhindern? Wie gefährlich ist der vereinzelte Kontakt mit krebserregenden Substanzen wie angebrannten Speisen? Was ist der Unterschied zwischen krebserregenden und krebsfördernden Substanzen? Kann man sich mit Medikamenten wie Aspirin oder bestimmten Nahrungsergänzungsmitteln vor Krebs schützen? Wissen kann in diesem Zusammenhang nicht nur Krebserkrankungen möglicherweise verhindern, sondern auch vielen unbegründeten Sorgen und Ängsten ihre Kraft nehmen. Trotz regelmäßiger Berichte aus der Krebsforschung in den Medien, sind viele Menschen schlecht informiert, wenn es um wissenschaftliche Fakten zum Thema Krebs geht. Leider führt gerade ein dauerhafter Fluss von übertriebenen und teilweise sogar widersprüchlichen Meldungen in den Medien zu einem gewissen Vertrauensverlust in die Wissenschaft. Da die meisten Medien bei der Berichterstattung vorwiegend Aussagen aus Studien herauspicken, wird es für das Laienpublikum unmöglich zu erkennen, von welcher Qualität die zitierten Daten sind. Bei wissenschaftlichen Studien gibt es jedoch erhebliche qualitative Unterschiede und es spielt in der Tat eine Rolle, wie oft etwas gezeigt werden konnte und ob sich die Studie mit demselben Ergebnis wiederholen ließ. Leider bleiben viele Studienergebnisse lange im Gedächtnis der Öffentlichkeit und werden als Fakten zitiert, die niemals wiederholt wurden oder sich nicht wiederholen ließen. Dabei werden auch sehr gute und fundierte wissenschaftliche Studien mit den anderen Studien in einen Topf geworfen. Es wird dabei unmöglich zu erkennen, welchen wissenschaftlichen Studien man vertrauen schenken kann und welchen man eher mit einer gewissen Skepsis begegnen sollte. Oftmals bleiben dabei nur die Studienergebnisse im Gedächtnis, die sich von vornherein mit der eigenen Lebensphilosophie vereinbaren lassen. Das ist ein sehr beunruhigender Trend und hat nichts mit Wissenschaft zu tun. Während also regelmäßig über bahnbrechende Erfolge berichtet wird, schenkt diesen Schlagzeilen in der Krebsforschung kaum Jemand Beachtung. Wissenschaftler wissen, dass Forschungsergebnisse erst dann wichtig und richtig sind, wenn sie sich mehrfach haben wiederholen lassen und zumindest langfristig in den Gesamtkontext passen. Was können Sie also selbst in Zukunft gegen dieses Problem tun, wenn sie eine Meldung aus der Krebsforschung lesen die zu gut oder zu einfach erscheint um wahr zu sein? Es gibt eine Suchmaschine namens Pubmed.com (2019e). Diese Suchmaschine funktioniert im Prinzip wie jede

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andere Suchmaschine auch. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass alle medizinischen Veröffentlichungen, die sie auf Pubmed.com finden aus evidenzbasierten wissenschaftlichen Studien hervorgegangen sind, welche vor der Veröffentlichung von anderen unabhängigen Wissenschaftlern (idealerweise Experten auf demselben Gebiet) geprüft und falls nötig durch weitere Experimente infrage gestellt wurden. Dieses Verfahren nennt sich „Peer Review“ (von „Peer“ englisch für „der Fachkollege; der Gleichgestellte“ und „review“ englisch für „Gutachten“) und stellt quasi die Qualitätssicherung in der Wissenschaft dar. Evidenz basierte Forschung bedeutet, dass ein Wissenschaftler nachdem er eine Theorie aufgestellt hat oder eine Entdeckung gemacht hat, nicht nur die Frage stellt, wie er seine Entdeckung weiter beweisen kann. Die bedeutendere Fragestellung ist, mit welchem Experimenten sich eine Entdeckung möglicherweise widerlegen lässt. Je mehr Experimente dieser Art von den Autoren einer wissenschaftlichen Studie erbracht wurden und je mehr unterschiedliche methodische Ansätze dafür gewählt wurden, desto wahrscheinlicher stimmt die Aussage der Studie. Dies bedeutet nun aber glücklicherweise nicht, dass sie sich nun durch jede Einzelne dieser Studien durchkämpfen müssen, um zu erfahren woran sie sind. Zur Erleichterung gibt es einen zweiten Trick. Sehr gute und aussagekräftige Studien werden häufig in Journalen mit einem hohen „Impact Factor“ veröffentlicht. Der Impact Faktor eines Journals ist eine einfache Zahl und reicht von 0 bis zu den absoluten Top Magazinen wie Science (38), Nature (43) oder dem New England Journal of Medicine (72). Der Impact Factor eines Journals ist eine errechnete Zahl, die angibt wie häufig ein wissenschaftlicher Artikel in diesem Journal durchschnittlich in einem Jahr von anderen wissenschaftlichen Journalen zitiert wird. Natürlich können auch Studien in Journalen mit einem geringeren Impact Faktor von sehr hoher Qualität sein. Es sind manchmal rein praktische Gründe warum ein Artikel es nicht in ein „höheres“ Magazin schafft und wie überall sonst auch, gibt es auch in der Wissenschaft Trend-Themen wie momentan beispielsweise die Mikrobiota (die Gesamtheit der Mikroben, die unseren Körper besiedeln). Mit diesem Wissen ausgestattet können sie nun zukünftig die Zuverlässigkeit von Daten hinterfragen. Alle Informationen aus diesem Buch entstammen der evidenzbasierten Forschung und wurden in Journalen veröffentlicht, welche mit einem Peer-review Prozess arbeiten. Es geht in diesem Buch nicht darum, sie mit unzähligen wissenschaftlichen Fakten zu konfrontieren. Wir hoffen Ihnen das Prinzip des Zusammenspiels von unserem Lebensstil, Umwelteinflüssen, dem Immunsystem und der Krebsentstehung verständlich machen zu können. Wir wünschen uns, dass dieses Buch dabei hilft Gefahren zu erkennen und zu verstehen. Vielleicht

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erkennen Sie einen Risikofaktor bei sich und gehen zur Untersuchung. Oder Sie entscheiden selbst, ob sie ein Lebensmittel reduzieren oder vermeiden möchten, bis endgültig geklärt ist, ob oder in welcher Weise es zur Krebsentstehung beiträgt. Wissen ist der wichtigste Bestandteil auf dem Weg zur Prävention und der rechtzeitigen Erkennung von Krankheiten. Wichtig ist beim Lesen dieses Buches zudem das Wissen, das Krebs in jedem Fall ein Zusammenspiel vieler Ursachen ist. Selbst Menschen, die in ihrem Erbgut die Genmutation für eine bestimmte genetisch-bedingte Krebsform tragen, müssen während ihrer Lebenszeit nicht zwangsweise erkranken. So lag beispielsweise das Risiko im Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken für Trägerinnen einer gefährlichen, für die erbliche Form von Brust- und Eierstockkrebs verantwortlichen Genmutation (BRCA1/2), vor 1940 bei lediglich 24 %. Trägerinnen derselben Genmutation, die nach 1940 geboren wurden haben ein Erkrankungsrisiko von 67 %. Damit hat sich das Erkrankungsrisiko selbst bei dieser genetisch-bedingten Krebsform trotz der heutigen Untersuchungsmöglichkeiten (inklusive der DNA-Analyse) inzwischen mehr als verdoppelt. Die Autoren dieser Studie mit mehr als 1000 von der Genmutation betroffenen Frauen, führten die steigende Erkrankungsrate unter anderem auf Bewegungsmangel und Übergewicht zurück (King et al. 2003). Der Frage, auf welche Weise diese weit verbreiteten Lebensumstände die Entstehung von Krebserkrankungen fördern, haben wir eigene Kapitel gewidmet. Für die meisten Erkrankungen einschließlich Krebs nimmt man heute an, dass sie aus einem Zusammenspiel von persönlicher genetischer Veranlagung, Umwelteinflüssen (Stoffe aus der Umwelt, Lebensstil oder Infektionen) und dem Zufall in Form von Fehlern auf Ebene der DNA Vervielfältigung oder Reparatur hervorgehen. Die Ebene der Umwelteinflüsse wird wohl noch für lange Zeit die einzige bleiben, welche wir wirklich beeinflussen können. Ein Raucher muss also nicht zwangsweise in seinem Leben an Lungenkrebs erkranken, aber er fordert sein Unglück unnötig heraus.

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Neuigkeiten aus der Krebsforschung     11

Ghouri, Yezaz, Idrees Mian, und Julie H. Rowe. 2017. Review of hepatocellular carcinoma: Epidemiology, etiology, and carcinogenesis. Journal of Carcinogenesis 16:1. King, Mary-Claire, Joan H. Marks, Jessica B. Mandell, und New Group. 2003. Breast and ovarian cancer risks due to inherited mutations in BRCA1 and BRCA2. Science 302:643–646. Malek, Nisar P., Sebastian Schmidt, Petra Huber, Michael P. Manns, und Tim F. Greten. 2014. The diagnosis and treatment of hepatocellular carcinoma. Deutsches Aerzteblatt Online 111:101–106. Plummer, Martyn, et al. 2016. Global burden of cancers attributable to infections in 2012: A synthetic analysis. The Lancet Global Health 4:e609–e616. Tong, Myron J., Alexander A. Rosinski, Claiborne T. Huynh, Steven S. Raman, und Lu David. 2017. Long-term survival after surveillance and treatment in patients with chronic viral hepatitis and hepatocellular carcinoma. Hepatology Communications 1:595–608. Weinberg, Robert A. 2014. The biology of cancer, 2. Aufl. New York: Garland Science, Taylor & Francis Group. 2019a. Cancer. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/cancer. 2019b. Cancer tomorrow. http://gco.iarc.fr/tomorrow/graphic-isotype?type=0& population=900&mode=population&sex=0&cancer=39&age_group=value&apc_male=0&apc_female=0. 2019c. Europäischer Kodex zur Krebsbekämpfung – Was können wir tun? https://cancer-code-europe.iarc.fr/index.php/de/die-krankheit-krebs/was-koennen-wir-tun. 2019d. Global cancer observatory. http://gco.iarc.fr/. 2019e. Home – PubMed – NCBI. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/.

Das Immunsystem und Krebs

Stellen sie sich vor, Ihr bester Freund wäre gleichzeitig Ihr größter Feind. Vor genau diesem schwerwiegenden Problem steht die moderne Krebsforschung im Moment. Und der Freund mit den zwei Gesichtern ist unser eigenes Immunsystem. Das Immunsystem dient seit Urzeiten der Verteidigung unseres Körpers gegen Bakterien und Viren, aber auch dem Aussortieren von fehlerhaften Zellen. Zu diesen zählen neben alten und kaputten Zellen auch Krebszellen. Häufig werden wir uns der Bedeutung unseres Immunsystems erst im Krankheitsfall bewusst. Dabei arbeitet es unser gesamtes Leben lang auch dann, wenn wir uns scheinbar gesund fühlen. Um eine bessere Vorstellung von der enormen Leistung des Immunsystems zu bekommen, genügt es daran zu denken, was nach dem Tod mit unserem Körper geschieht, wenn man der Natur freien Lauf lässt. Aus der Sicht von Mikroben stellt unser Körper einen idealen Nährboden dar und trotzdem gelingt es unserem Immunsystem die große Mehrheit aller Bakterien, Viren und Pilze in Schach zu halten, ohne dass wir uns überhaupt krank fühlen. Gleichzeitig besitzt unser Immunsystems die Fähigkeit, sogenannte „kommensale“ Bakterien und Pilze zu erkennen und zu tolerieren, die unseren Körper dauerhaft besiedeln. Diese „Kommensalen“ unterstützen unseren Körper bei einer Vielzahl von Funktionen, wie beispielsweise der Verdauung („kommensal“ stammt von dem lateinischen Wort ‚commensalis – der Tischgenosse‘ ab). Diese „guten“ Mikroben bilden zusätzlich eine natürliche Barriere gegen fremde oder gesundheitsschädliche Keime, indem sie nahezu jeden Platz an unserer inneren und äußeren Körperoberfläche besiedeln. Die Gesamtzahl aller in und auf unserem Körper lebenden Mikroben nennt sich „Mikrobiom“ und übersteigt mit © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H. Heikenwälder und M. Heikenwälder, Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59277-9_2

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einer Anzahl von 100 Billionen (1014) sogar die Zahl unserer eigenen Körperzellen um ein Zehnfaches (Bär 2009). Dennoch besitzt unser Immunsystem die beeindruckende Fähigkeit in diesem Durcheinander Krankheitserreger zu finden und zu beseitigen. Eines der größten Arbeitsgebiete in der Krebsforschung war in den letzten beiden Jahrzehnten die Erforschung der Zusammenhänge von dauerhaften Entzündungen und Krebs. Lange Zeit galt das Immunsystem als unser stärkster Verbündeter im Kampf gegen Krebs. Diese Annahme ist auch heute noch gültig. Allerdings gehen wir inzwischen davon aus, dass die schützende Funktion des Immunsystems insbesondere zu Beginn einer Tumorerkrankung zum Tragen kommt und mit dem Voranschreiten des Tumorwachstums immer mehr an Wirkung verliert. Der Beitrag von Entzündungen zum Tumorwachstum hingegen kann zu jedem Zeitpunkt einer Krebserkrankung beobachtet werden. Einige Tumoren entstehen durch die Hilfe von Entzündungen, aber nahezu jeder Tumor wächst und metastasiert mit ihrer Hilfe (Grivennikov et al. 2010). Aufgrund dieser zweischneidigen Rolle des Immunsystems haben wir dieses Kapitel in die Abschnitte „Freund“ und „Feind“ unterteilt. Im Abschnitt „Freund“ erklären wir, wie das Immunsystem Krebszellen erkennen und bekämpfen kann. Gleichzeitig erlaubt das Verständnis dieser Mechanismen es uns zu verstehen, warum es beispielsweise so schwierig ist einen passenden Organspender zu finden. Im folgenden Abschnitt „Feind“ werden wir erklären, wie das Immunsystem durch Entzündungen Krebs verursachen kann und sogar das Krebswachstum unterstützt. Zusätzlich wird durch dieses Wissen verständlich, warum Impfungen funktionieren und was Autoimmunerkrankungen und Allergien sind. Wir werden versuchen Sie sicher durch eines der komplexesten Gebiete der menschlichen Biologie zu manövrieren- die molekulare Immunologie. Bei vielen Medizinern und Biologen ist dieses Gebiet äußerst unbeliebt, scheinbar unmöglich scheint es in dem Durcheinander an Zellen und Signalmolekülen den Überblick zu behalten. Dabei liegt gerade darin die Genialität dieses ausgearbeiteten Systems.

1. Freund Zu den Hauptfunktionen unseres Immunsystems gehört neben der Erkennung und Bekämpfung von Krankheitserregern auch die Erkennung und Beseitigung von Krebszellen in unserem Körper. Das Prinzip ist hierbei ähnlich. Die Zellen unseres Immunsystems besitzen die einzigartige Fähigkeit zu erkennen was zu unserem Körper gehört und was fremd ist. So

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muss das Immunsystem beispielsweise in der Lage sein unsere Nahrung und die an der Verdauung beteiligten Bakterien zu tolerieren. Die Rolle unseres Immunsystems bei der Krebsbekämpfung konnte in den 90iger Jahren erstmals dank der Entwicklung von genetisch veränderbaren Mäusen bewiesen werden. So erkrankten Mäuse, welche aufgrund einer genetischen Veränderung eine bestimmte Art von Immunzellen (T-Zellen) nicht besitzen wesentlich häufiger an Krebs, nachdem sie einer krebserregenden Substanz ausgesetzt wurden. Zudem entwickelten sagenhafte 50 % dieser Mäuse in einem Alter von 18 Monaten spontane Tumoren in ihrem Verdauungstrakt. Auch wenn 18 Monate in Hinsicht auf ein Mäuseleben durchaus ein fortgeschrittenes Alter darstellen, sind solche Krebserkrankungen bei Mäusen mit funktionierenden T-Zellen in diesem Alter extrem selten (Weinberg 2014). In vielen folgenden Studien konnten die Wissenschaftler nach und nach beweisen, dass unsere Immunzellen die Fähigkeit haben, Krebszellen anhand ihrer „unnormalen“ Proteine als fremd zu erkennen. Zum Schutz vor Virusinfektionen und Krebserkrankungen präsentieren unsere Körperzellen alle Proteine, die sie besitzen kontinuierlich auf der Zelloberfläche dem Immunsystem. Krebszellen besitzen aufgrund ihrer hohen Mutationsrate häufig krankhafte Proteine, die von den Immunzellen als fremd erkannt werden. Aber nicht nur mutierte und somit krankhafte Proteine könnten ein Alarmsignal an das Immunsystem darstellen. Häufig produzieren Krebszellen auch Proteine, die von normalen Körperzellen nur während der rasanten Wachstumsphase der Embryonalentwicklung hergestellt wurden. Auch sehr große Mengen von ansonsten normalen Proteinen können dazu führen, dass eine Immunantwort ausgelöst wird. Ein bekanntes Beispiel ist die „Telomerase“, ein Enzym, das entscheidend für die unendliche Teilungsfähigkeit von Krebszellen ist. Eine wichtige Gruppe von Proteinen, die „Humane Leukozyten Antigene“ genannt werden, übernehmen dabei die Aufgabe alle Proteine aus unseren Körperzellen für unser Immunsystem sichtbar auf der Zelloberfläche zu präsentieren. Man kann sie sich am einfachsten als eine Art Personalausweis unserer Körperzellen vorstellen und wir werden sie daher im Folgenden als „Ausweis-Proteine“ bezeichnen. Bei diesem Prozess wird nicht nach gesunden oder kranken Proteinen sortiert, sondern die Ausweis-Proteine binden vielmehr fest an alle beliebigen Proteinstückchen die ihnen im Inneren einer Körperzelle in die Fänge geraten und präsentieren diese anschließend auf der Zelloberfläche. Die unzählig vielen Ausweis-Proteine, die auf der Außenseite einer einzigen Körperzelle sitzen, stellen in ihrer Gesamtheit also eine aktuelle Bestandsaufnahme aller in einer Körperzelle vorhandenen Proteine dar. Wird die Körperzelle von Immunzellen inspiziert und auf einem Ausweis-Protein befindet sich ein

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krankhaftes oder unbekanntes Protein, wird die Körperzelle von unserem Immunsystem angegriffen und vernichtet. Die Ausweis-Proteine spielen allerdings nicht nur bei der Erkennung kranker Zellen eine wichtige Rolle. Jeder Mensch besitzt mehrere unterschiedliche Gene für die Herstellung von Ausweis-Proteinen. Dieser Punkt ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, wer als unser passender Organspender infrage kommt. Ein passender Spender sollte eine möglichst ähnliche Zusammenstellung an Ausweis-Proteinen haben wie wir selbst, da fremde Varianten eines Ausweis-Proteins von unserem Immunsystem als eine Kombination von Ausweisprotein und fremden (oder krankhaften) Protein erkannt und bekämpft werden. Dies ist die Grundlage von gefürchteten Abstoßungsreaktionen nach Organtransplantationen. Besonders erschwerend wirkt in diesem Zusammenhang die enorme Vielfalt der menschlichen Ausweis-Proteine. Insgesamt existieren mehr als 5000 Gen-Varianten für die Herstellung von Ausweis-Proteinen und jeder einzelne Mensch verfügt über sechs dieser Varianten. Organspenden sind natürlich aus evolutionärer Sicht eine äußerst neue Erscheinung und so ungünstig uns die Vielfalt der Ausweis-Proteine erscheinen mag, so nützlich ist sie doch im Laufe unserer Evolution gewesen. Eine wichtige Funktion spielen sie beispielsweise bei der Partnerwahl. Wir Menschen sind scheinbar in der Lage die Ausweis-Proteine auf bisher unbekannte Weise zu riechen und fühlen uns besonders zu Partnern hingezogen, deren Ausweis-Proteine sich stark von unseren unterscheiden (Garver-Apgar et al. 2006). Gleichzeit verhindern die Ausweisproteine auf natürliche Weise Inzest, da wir Menschen mit ähnlichen Kompositionen an Ausweis-Proteinen wie beispielsweise nahe Familienmitglieder nicht sexuell anziehend finden. Vermutlich hat es im Laufe der Evolution gesundheitliche Vorteile für unseren Nachwuchs gehabt, möglichst viele verschiedene Ausweisproteine zu besitzen, da es unseren Immunzellen erlaubt hat besonders viele unterschiedliche Bestandteile von Krankheitserregern zu binden und dem Immunsystem zu präsentieren. Gleichzeitig stellt eine möglichst große Bandbreite von diesen Ausweis-Proteinen in einer ganzen Art wie der Menschheit sicher, dass beim Ausbruch einer hoch ansteckenden Infektionskrankheit immer zumindest ein paar Vertreter der Art überleben. Die Ausweis-Proteine auf unseren Körperzellen spielen aber noch eine weitere wichtige Rolle bei der Erkennung von Krebszellen in unserem Körper. Krebszellen, die ihre krankhaft veränderten Proteine auf der Zelloberfläche präsentieren, werden sehr bald von Immunzellen erkannt und getötet. Aber gerade dadurch setzt das Immunsystem die Krebszellen auch gleichzeitig einem gefährlichen Selektionsdruck aus. Die Folgen sind vergleichbar

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mit der gefürchteten Entwicklung von Antibiotika-Resistenzen bei Bakterien oder der Resistenzentwicklung von Krebszellen gegen eingesetzte Chemotherapeutika. Werden kontinuierlich alle Krebszellen beseitigt, die vom Immunsystem erkannt werden, bleiben am Ende nur die Krebszellen übrig, die zufällig wenig Ausweisproteine auf ihrer Zelloberfläche tragen und daher nicht erkannt werden können. Glücklicherweise besitzen wir Immunzellen die darauf spezialisiert sind genau solche Krebszellen aufzuspüren. Unsere natürlichen Killer-Zellen patrouillieren wie Ausweiskontrolleure kontinuierlich alle Zellen in unserem Körper. Finden sie auf einer Körperzelle genügend passende Ausweisproteine, unterdrückt dies ihre „Killerfunktion“ und sie zeihen weiter. Treffen sie aber auf einen blinden Passagier und finden nicht genügend Ausweisproteine, töten sie diese Zellen. Die sehr individuelle Zusammenstellung von Ausweis-Proteinen in jedem Menschen hat dabei eine weitere interessante und wichtige Schutzfunktion. Es ist von Natur aus sinnvoll, dass Zellen eines anderen Menschen nicht in uns überleben und weiterwachsen können. Dies ist der Grund, warum Krebs nicht ansteckend ist. Die Krebszellen werden genau wie die Körperzellen eines anderen Menschen (oder unpassenden Organspenders) anhand ihrer fehlenden passenden Ausweisproteine von den Immunzellen erkannt und getötet. Wie im Beispiel oben, können auch sie den Ausweiskontrolleuren unseres Immunsystems keinen gültigen Ausweis präsentieren. Dieser Schutzmechanismus kann allerdings durch ein lang anhaltendes Inzestverhalten zu Nichte gemacht werden. Ein trauriges Beispiel ist eine Krankheit, die man in einer sehr seltenen und vom Aussterben bedrohten Tierart findet. Der „tasmanische Teufel“ war einst auch in Australien weit verbreitet und lebt heute nur noch auf der Insel Tasmanien. Obwohl er bereits als bedrohte Tierart gilt und unter Schutz steht, könnte ihm nun eine Krebserkrankung den Todesstoß verpassen. Durch den stark geschrumpften Lebensraum und die geringe Zahl an noch existierenden Exemplaren, lebt der tasmanische Teufel in einer Art Inzestverhältnis. Die Tiere sind sich genetisch so ähnlich geworden, dass die Krebszellen eines tasmanischen Teufels in einem anderen weiterleben können (Peel und Belov 2018). Die Tumoren wachsen im Gesicht der Tiere und werden vermutlich durch Bisswunden übertragen, die bei Rivalen-Kämpfen und Futterstreitigkeiten entstehen. In der Biologie gibt es für Tierarten eine kritische Zahl, die nicht unterschritten werden darf. Geschieht dies doch, so ist eine Tierart aufgrund der zunehmenden Infektanfälligkeit und der schnellen Verbreitung von Krankheiten dem Tode geweiht. Viele heute bedrohte Tierarten haben diese kritische Zahl bereits unterschritten.

18     H. Heikenwälder und M. Heikenwälder Unser Immunsystem überwacht unsere Körperzellen regelmäßig auf bösartige Veränderungen. Verdächtige Zellen werden durch unsere Immunzellen getötet, bevor daraus eine Krebserkrankung entstehen kann. Nur in den allerseltensten Fällen gelingt es einer Krebszelle alle Schutzmechanismen des Körpers zu überwinden und einen Tumor zu bilden.

Trotz der genialen Methoden, die unser Immunsystem entwickelt hat, um uns vor Krebs zu schützen, gelingt es leider dennoch extrem selten einer kleinen Anzahl an Krebszellen zu entkommen. Warum? Es bedarf mehrerer Veränderungen der Krebszellen, um alle Schutzmechanismen unseres Körpers außer Kraft zu setzen. Das Spektrum reicht von Mutationen, die das Absterben der genetisch schwer geschädigten Krebszellen verhindern, bis hin zur gezielten Unterdrückung von Immunzellen durch die Krebszellen. Dieses ist der gefürchtete Punkt, an dem ein Tumor endlich losgekoppelt von seinem mächtigen Wächter sein rasantes Wachstum aufnimmt und nun von klinisch erkennbarer Größe zu einer ernsthaften Bedrohung für unser Leben wird. Tatsächlich wissen wir nicht, wie viele Krebszellen durch unser Immunsystem direkt nach ihrer Entstehung erkannt und beseitigt werden. Dies liegt in der Natur der Tatsache, dass es sich um einzelne Zellen mit nur kurzer Existenz handelt. Aufgrund der Beobachtungen an Mäusen und Menschen mit einem geschwächten Immunsystem wissen wir aber, welch enormen Beitrag zu einem Krebsfreien Leben unsere Immunzellen im Verborgenen leisten. Oftmals befindet sich ein Tumor im frühen Stadium auch in einer Art Gleichgewichtszustand mit dem Immunsystem. Die Tumorzellen werden in demselben Maße vom Immunsystem getötet, wie sie nachwachsen. In diesem Zustand verweilt das empfindliche Gleichgewicht, bis es auf einer Seite gestört wird und die Waage kippt. So genügt eine kleine Veränderung der Krebszellen oder eine kurzzeitige Störung des Immunsystems, um nach Monaten oder Jahren des Stillstands einen Tumor oder eine mikroskopisch kleine Metastase in unserem Körper zu erwecken (Weinberg 2014). Ein anschauliches und zugleich sehr trauriges Beispiel sind die dokumentierten Fälle von Patienten, welche ein Spenderorgan erhalten haben, in dem sich winzig kleine Metastasen aus dem Körper des Organspenders versteckt hielten. Nach erfolgreicher Transplantation und der üblichen Verabreichung von Medikamenten zur Unterdrückung des Immunsystem gegen die Abstoßungsreaktion, begannen diese Zellen im Organempfänger ihr aggressiven Wachstum.

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2. Feind Zu unserem Feind wird das eigene Immunsystem immer dann, wenn es ihm nicht gelingt den Auslöser einer Immunreaktion zu beseitigen. In diesem Fall wird die normalerweise nützliche Immunreaktion zu einer dauerhaften Entzündung mit fatalen Folgen für unsere Gesundheit. Die Ursache einer dauerhaften Entzündung können beispielsweise Infektionen sein, welche vom Immunsystem nicht beseitigt werden können und die oft vollkommen unbemerkt über Jahrzehnte bestehen bleiben. Eine chronische Entzündung kann aber auch durch einen andauernden Gewebeschaden verursacht werden, an dem keine Infektion beteiligt ist. Solch ein andauernder Gewebeschaden kann durch verschiedenste Umwelteinflüsse und Erkrankungen verursacht werden, die wir im Detail in dem Kapitel über krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen erklären werden. Um die Vorgänge zu verstehen die zur Krebsentstehung führen, werden wir Sie schrittweise durch die Ursachen und die Mechanismen von Entzündungen führen. In diesem Abschnitt wird auch klar, warum Impfungen funktionieren, was Autoimmunerkrankungen sind und wie Allergien entstehen.

Wodurch entstehen Entzündungen? Im Laufe der Evolution hat unser Körper eine Reihe äußerst zuverlässiger Mechanismen zur Abwehr von Infektionen und Krebserkrankungen entwickelt. So besitzen einige Zellen unseres Immunsystems die einzigartige Fähigkeit Gefahren zu erkennen und den anderen Immunzellen das Startkommando zu erteilen (sogenannte „myeloide“ Zellen). Diese hoch spezialisierten Zellen entscheiden, ob überhaupt eine Immunreaktion gestartet wird und wenn ja, welche. Sie untersuchen ihre Umgebung kontinuierlich auf Gefahren und erkennen, um welche Art von Gefahr es sich handelt. Wie ein Dirigent seinem Orchester, teilen sie den anderen Immunzellen mit, wer an der Reihe ist und welches Programm gespielt werden muss- je nachdem ob es sich um Bakterien, Viren, Pilze oder kaputte Zellen handelt. Werden beispielsweise Bakterien entdeckt, schütten die Immunzellen Signalmoleküle in das Gewebe aus, die zu einer gezielten Immunantwort gegen Bakterien führen. Werden hingegen Virusbestandteil entdeckt, produzieren die Immunzellen andere Signalmoleküle und zwar solche, die das Immunsystem dazu bringen, Virus-infizierte Zellen zu töten. Aber auch Bestandteile von kaputten Zellen können erkannt werden und eine Immunreaktion auslösen. Die Folge ist eine sogenannte „sterile“ Entzündung, da in diesem Fall

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keine Krankheitserreger beteiligt sind. Sterile Entzündungen begleiten neben klassischen Verletzungen aber auch viele Infektionskrankheiten. Durch die Arbeit des Immunsystems im Kampf gegen eine Infektion zerstörte Körperzellen feuern die Entzündungsreaktion dabei weiter an. Sterile Entzündungen können durch die verschiedensten Ursachen entstehen. So können beispielsweise chemische Substanzen wie Medikamente oder Alkohol, physikalische Reize wie Reibung oder Hitze und auch Virus-Infektionen (z. B. Hepatitis Viren) das Absterben von Körperzellen verursachen und somit eine sterile Entzündungsreaktion auslösen.

Was passiert während einer Entzündung? Obwohl sich Immunantworten je nach ihrer Ursache unterscheiden, haben sie doch alle Eines gemeinsam: sie werden von einer Entzündungsreaktion begleitet, die dem Immunsystem in vielerlei Hinsicht die Arbeit erleichtert. Zu Beginn der Entzündungsreaktion locken Immunzellen durch Signalmoleküle weitere Immunzellen an den Ort des Geschehens. Um den anderen Immunzellen die Ankunft zu erleichtern, produzieren sie Substanzen, die Blutgefäße erweitern und dadurch die Durchblutung der betroffenen Region verstärken. Es folgt die klassische Rötung und Wärme, die man bei Entzündungen beobachtet und die ihr den Namen verleihen. Durch die vermehrte Durchblutung schwillt die betroffene Region an und beginnt zu schmerzen. In großen Mengen wandern nun kleine weiße Zellen in das Gewebe ein, die sich „Neutrophile“ nennen und über 50 % unserer weißen Blutzellen (Leukozyten) ausmachen. Eine erhöhte Anzahl von Neutrophilen im Blutbild ist ein bedeutender Hinweis auf eine Entzündungsreaktion in unserem Körper. Zur Bekämpfung von Krankheitserregern produzieren Neutrophile aggressive chemische Moleküle- sogenannte „reaktive Sauerstoffverbindungen“. Gleichzeitig erscheinen die großen Riesenfresszellen (Makrophagen) am Tatort, die den Neutrophilen dabei helfen, die getöteten Krankheitserreger zu zerstörten und zu beseitigen. Dazu fressen sie die zerstörten Krankheitserreger und Zelltrümmer auf und zersetzen sie anschließend in ihrem Inneren. Nachdem Verdau der Krankheitserreger können sie einzelne kleine Überreste der Erreger mithilfe der Ausweis-Proteine auf ihrer Oberfläche anderen Immunzellen präsentieren, die daraufhin aktiviert werden und sich stark vermehren. Hierbei werden insbesondere solche Immunzellen aktiviert und vermehrt, die in der Lage sind, Krankheitserreger oder infizierte Körperzellen direkt zu töten (beispielsweise T-Zellen). Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Immunzellen miteinander in Kontakt treten, wandern sie mit der Lymphflüssigkeit in die überall in unserem

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Körper verteilten Lymphknoten. Diese sind sozusagen die „Dating-Center“ unseres Immunsystems. Theoretisch gesehen kann unser Körper 1 Billiarde (1015) unterschiedliche Immunzellen produzieren, die sich in ihrer Fähigkeit unterscheiden bestimmte fremde Proteinstückchen zu erkennen (Lythe et al. 2016). Das ist viel mehr als es beispielsweise Sterne in der Milchstraße gibt (300 Mrd., das ganze Universum hat vergleichsweise ungefähr 1024 Sterne). Durch diese gigantische Vielfalt ist sichergestellt, dass es immer ein paar wenige Immunzellen gibt, die zufälligerweise mit den Proteinen eines Krankheitserregers in Kontakt treten können. Gelingt dies einer Immunzelle, so entstehen Millionen Klone dieser Zelle und der Krankheitserreger wird besiegt. Übrigens dauert es vom Eintritt des Krankheitserregers in unseren Körper bis zur Bildung der exakt auf den Krankheitserreger abgestimmten Immunzell-Armee in der Regel 5 Tage (Murphy and Weaver 2018). Viel schneller kann unser Immunsystem nicht reagieren. Es ist also keine Überraschung, wenn nach circa einer Woche die Besserung eintritt, unabhängig davon welches Medikament oder Hausmittel verwendet wurde. Einige der Immunzellen bleiben danach über Jahre oder sogar unser ganzes Leben als sogenannte „Gedächtniszellen“ in unserem Körper zurück. Treffen wir in unserem Leben noch einmal auf denselben Krankheitserreger, reagieren diese Gedächtniszellen sofort, indem sie sich explosionsartig vermehren und die Eindringlinge beseitigen, bevor wir uns krank fühlen. Die Immunzellen können, wie oben beschrieben, an den Ausweis-Proteinen der Riesenfresszellen immer nur einzelne kleine Bestandteile der aufgefressenen und verdauten Krankheitserreger erkennen. Für die Aktivierung einer Immunantwort spielt es also keine Rolle, ob der Bestandteil von unseren Immunzellen erschaffen wurde oder von Menschenhand in einem Labor. Genau dies ist das Prinzip einer Impfung und der Grund warum der Schutz durch eine Impfung sich in keiner Weise von dem einer natürlich durchlaufenen Infektion unterscheidet. Die Zusätze der Impfung dienen dabei der Simulation der natürlichen Entzündungsreaktion, die für die Immunantwort essenziell ist. Nur wenn eine Entzündung stattfindet und die Immunzellen somit zusätzlich ein Gefahrensignal erhalten, werden sie einen Angriff starten. Dies stellt sicher, dass nicht jeder fremde Proteinbaustein angegriffen wird wie beispielsweise Nahrung oder eingeatmete Partikel. Mit dem genialen Verfahren einer Impfung kann das Immunsystem grundsätzlich gegen jeden nur denkbaren fremden Proteinbaustein „abgerichtet“ werden. Gleichzeit ermöglicht eine Impfung mit einer Kombination aus körpereigenem Protein und einem Gefahrensignal aber auch die Auslösung einer sogenannten „Autoimmunreaktion“. Während einer Autoimmunreaktion greift unser Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Strukturen an (auto- ist lateinisch und bedeutet „selbst“). Diese Technik

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ist für die Erforschung von Autoimmunerkrankungen von großem Nutzen. So wird beispielsweise zur Erforschung der Multiplen Sklerose an Mäusen eine Impfung verwendet, die einen Bestandteil des „Myelin-Proteins“ enthält, das unsere Nervenzellen isoliert und somit die Leitungsgeschwindigkeit der Nerven erhöht. Dieses „Myelin-Stückchen“ wird zusammen mit einem Warnsignal, in diesem Fall das Gift des Keuchhusten Bakteriums und abgetöteten Tuberkulose Bakterien gespritzt. Die Mäuse entwickeln in Folge eine Krankheit, die sich experimentelle Autoimmunencephalomyelitis nennt und der Multiplen Sklerose in vielerlei Hinsicht ähnelt. Was im Menschen zum Verlust der Toleranz gegen dieses Protein und zum Ausbruch der Erkrankung führt, ist bisher nicht bekannt. Eine mögliche Ursache wäre die Existenz eines Krankheitserregers, dessen Bausteine dem unseres Myelins ähneln und die Erkrankung somit durch eine tragische Kreuzreaktion mit unserem Immunsystem verursachen. Es existieren viele Hinweise, dass dies tatsächlich die Ursache von Autoimmunkrankheiten wie Multipler Sklerose sein könnte. Jedoch sind viele der denkbaren Krankheitserreger die bisher infrage kamen, wie beispielsweise das Epstein Barr Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber), sehr weit verbreitet und viel häufiger als die Multiple Sklerose Erkrankung. Vermutlich handelt es sich also um eine Erkrankung, an der sowohl eine persönliche genetische Veranlagung, als auch eine gestörte Immunantwort und unter Umständen eine Infektion beteiligt sind. Autoimmunerkrankungen ähneln übrigens den wesentlich häufiger vorkommenden Allergien. Während es bei Autoimmunerkrankungen zu einer ungewollten Immunreaktion gegen einen Körperbestandteil kommt, reagiert das Immunsystem bei einer Allergie fälschlicherweise gegen einen fremden aber harmlosen Stoff aus der Umwelt. In beiden Fällen sollte also eigentlich keine Immunreaktion stattfinden. Wie bei den Autoimmunerkrankungen besteht also der Verdacht, dass ein falsches Gefahrensignal dem Immunsystem den Startschuss gegeben hat. So ist beispielsweise bekannt, dass die gefürchtete Erdnussallergie bei vielen Menschen durch eine erdnussölhaltige Windelcreme im Babyalter ausgelöst wurde. Dies zeigte eine Studie aus England, die 14.000 Babys von der Schwangerschaft an bis zu einem Alter von 6 Jahren untersuchte (Lack et al. 2003). Besonders hoch war das Risiko, wenn Eltern die erdnussölhaltigen Cremes zum Zeitpunkt eines wunden Pos bei ihrem Kind verwendet hatten. Babys leiden häufiger an einem wunden Po, denn die Feuchtigkeit in der Windel und der längere Kontakt mit dem Stuhl führen zum Wachstum von Pilzen und Bakterien, welche die schmerzhaften Rötungen verursachen. In diesem Fall gibt also die durch Bakterien und Pilze entzündete Haut im Windelbereich den Startschuss für das Immunsystem gegen den ansonsten harmlosen Erdnussbestandteil der Creme

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v­orzugehen. Interessanterweise entwickelten Babys, deren Mütter Cremes mit Erdnuss-Öl zur Pflege ihrer wunden Brustwarzen verwendeten und ihre Babys stillten kein erhöhtes Erdnussallergie-Risiko. Dies passt zu dem immunologischen Prinzip der „oralen Toleranz“, welches darauf basiert, dass Dinge die wir essen keine Allergien auslösen, sondern vom Immunsystem toleriert werden. Da Menschen aus evolutionärer Sicht Alles-Esser sind, ist dies eine wichtige Voraussetzung, um sich den wandelnden Nahrungsmöglichkeiten anzupassen. Man vermutet daher, dass die meisten Allergien nicht durch die Nahrung, sondern über andersartigen Kontakt in sehr geringen Mengen ausgelöst werden. Übrigens entwickelten auch Babys die sojahaltige Pflege-Produkte erhielten häufiger Erdnussallergien. Dies ist auf verwandte Proteine von Erdnüssen und Sojapflanzen zurückzuführen und beruht auf der oben beschriebenen Möglichkeit von Kreuzreaktionen des Immunsystems. Solche Kreuzreaktionen sind auch für viele andere Pflanzen und Lebensmittel bekannt wie beispielsweise Gift-Efeu und Mangos. Nicht immer ist der Allergieauslöser aber so eindeutig wie in diesem Beispiel und auch bei Allergien spielt die persönliche genetische Veranlagung eine große Rolle. Der Ratschlag bei entzündeten Hautarealen möglichst Produkte ohne unnötige Inhaltsstoffe zu verwenden (auch nicht, wenn sie natürlich sind!) ist allerdings sicherlich hilfreich, um der Entstehung von Allergien vorzubeugen.

Wie verursachen Entzündungen Krebs? Die letzten Jahrzehnte der Forschung haben ergeben, dass Entzündungen eine sehr entscheidende Rolle sowohl bei der Entstehung als auch beim Voranschreiten von Krebserkrankungen spielen. Während viele Krebserkrankungen direkt durch Entzündungsreaktionen im betroffenen Organ verursacht werden, können auch Entzündungen in anderen Körperregionen die Krebsentstehung durch erhöhte Werte von Entzündungsstoffen im Blut beeinflussen. Sogar bei Krebserkrankungen, die scheinbar eindeutig auf karzinogene Substanzen zurückzuführen sind, spielen Entzündungen nach neusten Erkenntnissen einen bedeutenden Beitrag. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die krebserregende Wirkung von Zigarettenrauch nicht nur auf den über 60 verschiedenen krebserregenden enthaltenen Substanzen beruht, sondern auch auf einer durch die kontinuierliche Inhalation des Rauchs verursachten Entzündungsreaktion (Takahashi et al. 2010). Beeindruckender Weise konnte die Entstehung von Lungenkrebs durch Zigarettenrauch in Mäusen beinahe vollständig verhindert werden, wenn

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ein wichtiger Signalweg in Entzündungszellen ausgeschaltet wurde. Vermutlich verursachen Partikel im Rauch die dauerhafte Entzündungsreaktion in der Lunge, die ähnlich wie Asbestpartikel das Lungenkrebsrisiko steigern ohne dabei selbst Mutationen in den Zellen der Lunge verursachen zu können. Zudem ist heute bekannt, dass nahezu jede Krebserkrankung ab einem gewissen Stadium von einer ausgeprägten Entzündungsreaktion begleitet wird, da die Zellen in der Mitte eines schnell wachsenden Tumors irgendwann nicht mehr ausreichend mit Nährstoffen versorgt werden und absterben (Karin 2006; Mantovani et al. 2008). Der Tod der Krebszellen wird vom Immunsystem fälschlicherweise als Gewebeschaden interpretiert. Immunzellen regen daraufhin mit Botenstoffen die Durchblutung der Region im Inneren des Tumors an und rekrutieren weitere Immunzellen für Reparaturarbeiten an den Ort des Geschehens. Somit gelangen zunehmend Entzündungszellen in den Tumor, die verbliebene Körperzellen- in diesem Fall die Krebszellen- zur Teilung anregen, um die abgestorbenen Zellen zu ersetzen. Es handelt sich dabei also um eine irrtümlicherweise ausgelöste Wundheilungsreaktion mit fatalen Folgen. Gleichzeitig ermöglicht die Auflockerung des Gewebes durch die Immunzellen und die gesteigerte Durchblutung es den Krebszellen, sich im erkrankten Organ auszubreiten und sogar über die Blutbahn in andere Körperregionen zu gelangen. Diese Vorgänge markieren den über Leben und Tod entscheidenden Übergang eines gutartigen Tumors zu einem bösartigen Tumor. Die Fähigkeit zur Metastasierung ist das Hautmerkmal von bösartigen Krebserkrankungen und es sind letztendlich die Metastasen, die in 90 % der Fälle für das Versterben an Krebs verantwortlich sind (eine Ausnahme bilden beispielsweise Gehirntumoren, da im Gehirn aufgrund des durch die Schädelknochen limitierten Raums jede Krebserkrankung potenziell tödlich ist). Entzündungen sind also maßgeblich für die Metastasierung von bösartigen Tumoren und den tödlichen Verlauf von bestimmten Krebserkrankungen verantwortlich. Auf welche Weise können nun Entzündungen selbst Krebs verursachen? Hier ist es wichtig anzumerken, dass nur dauerhafte sogenannte „chronische Entzündungen“ das Potenzial besitzen Krebs zu verursachen. Eine vorübergehende (akute) Entzündung im Rahmen einer akuten Infektion oder einer über wenige Wochen bis Monate bestehenden Verletzung sind nicht in der Lage die Entstehung von Krebserkrankungen zu fördern. Eine chronische Entzündung kann sehr schmerzhaft sein oder auch jahrelang in unserem Körper unbemerkt bleiben. Besteht die Entzündung über lange Zeit, werden auch gesunde Körperzellen durch Substanzen geschädigt die von Immunzellen produziert werden. Im Verlauf dieses Buches werden wir die häufigsten Ursachen von chronischen Entzündungen vorstellen. In diesem

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Abschnitt möchten wir kurz erklären weshalb chronische Entzündungen nach Jahren bis Jahrzehnten überhaupt Krebs verursachen können. Hierbei spielen die bereits vorgestellten Immunzellen namens „Neutrophile“ eine wichtige Rolle, die anderen Immunzellen bei der Zerstörung von Mikroorganismen helfen, indem sie angriffslustige kleine Moleküle in das erkrankte Gewebe ausschütten. Bei diesen kleinen Molekülen handelt es sich um hoch reaktive Sauerstoffverbindungen zu denen beispielsweise auch Wasserstoffperoxid (H2O2) zählt, welches man aufgrund seiner Verwendung beim Haare blondieren kennt. Auf zellulärer Ebene ist es ebenfalls sehr aggressiv. Obwohl es dem harmlosen Wassermolekül (H2O) ähnelt und problemlos in Zellen und Mikroorganismen eindringen kann, zersetzt es sich anschließend rasch zu einem aggressiven Hydroxyl-Radikal, das andere Moleküle und Proteine angreifen und schädigen kann. Die reaktiven Sauerstoffverbindungen helfen sowohl bei der Zerstörung von Mikroorganismen außerhalb unserer Zellen als auch bei der Verdauung von aufgenommenen Bakterien oder kaputten Zellbestandteilen im Inneren der Neutrophilen. Die reaktiven Sauerstoffverbindungen sind wichtiger Bestandteil einer Entzündungsreaktion im akuten Krankheitsfall. Genau diese reaktiven Sauerstoffverbindungen können aber im Falle einer chronischen Entzündung großen Schaden in unserem Körper anrichten. Der entscheidende Hinweis, dass Entzündungen tatsächlich in der Lage sind Mutationen in der DNA von Körperzellen zu verursachen, stammt aus Studien an Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Ulcerativer Kolitis. Von diesen Darmerkrankungen betroffene Patienten haben ein deutlich erhöhtes Risiko an bösartigen Darmtumoren zu erkranken (Waldner und Neurath 2009). Die Studien zeigten, dass viele der genetischen Veränderungen und Mutationen, die in Krebszellen gefunden wurden, auch bereits in Darmzellen nachgewiesen werden konnten, die noch keine Krebszellen sind, aber sich in entzündeten Abschnitten des Darms befanden (Kraus und Arber 2009). Heute weiß man, dass auch bei chronischen Leberentzündungen (beispielsweise Hepatitis B oder C, Fettleber oder chronischer Alkoholkonsum) die massiven genetischen Schädigungen der Leberzellen der Krebsentstehung zeitlich vorausgehen (Boege et al. 2017). Dies ist ein eindeutiges Indiz, dass die chronischen Entzündungen als Vorbote der Krebserkrankungen bereits mit der Schädigung der DNA beginnen. Lange vermutete man, die oben beschriebenen reaktiven Sauerstoffverbindungen könnten direkt DNA Mutationen verursachen. Mittlerweile geht man davon aus, dass diese Sauerstoffverbindungen bereits kurz nach dem Eintritt in Körperzellen mit Proteinen reagieren, ehe sie zu der geschützt im Zellkern liegenden DNA vordringen können. Dies ist jedoch nicht weniger

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fatal für die Zellen und den gesamten Organismus. Insbesondere, wenn Proteine, die für die DNA Vervielfältigung oder Reparatur wichtig sind durch diese Sauerstoffverbindungen angegriffen werden, kann es zur rasanten Anhäufung immer weiterer Mutationen in den betroffenen Zellen kommen. Chronische Entzündungen fördern die Entstehung geschädigter und mutierter Zellen. Gleichzeitig wird das Überleben der schwer geschädigten Körperzellen durch Wachstumsfaktoren gefördert, die ebenfalls von den anwesenden Immunzellen produziert werden, um geschädigte Körperzellen durch die Vermehrung von gesunden Zellen zu ersetzen. Dieses Zusammenspiel aus schädigenden Substanzen in Gegenwart einer Wundheilungsreaktion ist das grundlegende Prinzip der Krebsentstehung durch chronische Entzündungen. Der berühmte deutsche Arzt Rudolf Virchow bezeichnete Krebs bereits 1858 als „eine Wunde die niemals heilt“ (Flier et al. 1986). Die neuen Erkenntnisse der Krebsforschung verleihen dieser Feststellung eine ungeahnte Aktualität.

Die Entzündungsreaktion innerhalb eines Tumors kann durch Bestrahlungen und Chemotherapie verstärkt werden, da diese Methoden Krebszellen in großen Mengen töten. Die Auswirkung dieser Entzündungsreaktion auf den Ausgang einer Krebserkrankung ist schwer abzuschätzen. Zum einen können die zerstören Zellen vom Immunsystem als Gefahrensignal wahrgenommen werden und eine gegen den Tumor gerichtete Immunantwort in Gang setzten (Zitvogel et al. 2008). Wenn es dem Immunsystem jedoch nicht gelingt die Krebszellen als fremd zu erkennen und erfolgreich zu bekämpfen, könnte die durch das Absterben der Krebszellen verursachte Entzündungsreaktion das Voranschreiten der Krebserkrankung sogar beschleunigen (Ammirante et al. 2010). Je weiter eine Krebserkrankung fortschreitet, desto mehr wird unser Immunsystem zu unserem Feind und zu einem Verbündeten der Krebserkrankung. Besonders im fortgeschrittenen Stadium gibt es bei manchen Krebsarten jedoch große individuelle Unterschiede, in welchem Maße das Immunsystem das Voranschreiten der Erkrankung beschleunigt oder verlangsamt. Bei einigen Krebsarten wie beispielsweise dem kolorektalen Karzinom, einer Form von Darmkrebs, entscheidet die Menge der im Tumor vorhandenen T-Zellen maßgeblich über das Überleben der Patienten. In einer Studie mit über 400 Patienten mit diesem Karzinom, sagte das Vorhandensein von T-Zellen zu jeder Stufe der Krebserkrankung das langfristige Überleben (180 Monate) voraus und das Fehlen dieser Zellen ein baldiges Versterben innerhalb von 20 Monaten nach der ersten Operation (Galon et al. 2006). Ähnliche Zusammenhänge wurden in vielen anderen Tumoren beobachtet, wie

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beispielsweise dem bösartigen Melanom (schwarzer Hautkrebs), Eierstockkrebs, Brustkrebs, Blasenkrebs und Prostatakrebs. Die Erforschung dieser Zusammenhänge zum Zwecke der Entwicklung von Therapien mithilfe des Immunsystems ist das Gebiet der Immuntherapie. Die Beobachtungen sind bisher allerdings meistens korrelativ und nicht zwangsweise ursächlich. Selbst in einem Tumor, in dem Immunzellen aktiv gegen Krebszellen ankämpfen, können gleichzeitig auch die gefährlichen Vorgänge einer Entzündungsreaktion ablaufen, die dem Tumor zu mehr Wachstum und zur Metastasierung verhelfen. Eine reine Einteilung der Immunantwort innerhalb eines Tumors in gut oder böse ist nur in den seltensten Fällen möglich. Genau darin liegt die Schwierigkeit bei der Wahl der wirksamsten Behandlungsmethode. Am Ende des Buches werden wir in dem Kapitel „Die Therapie der Zukunft“ darauf zu sprechen kommen, auf welche Weise es in Zukunft durchaus möglich sein könnte für jeden Patienten und jede Tumorerkrankung eine möglichst exakte Entscheidung zur treffen, ob die vorhandene Immunantwort nützlich oder schädlich für das Überleben des Patienten ist. Dazu wäre es notwendig für jeden neu diagnostizierten Tumor zu bestimmen, welche Art von Immunzellen er beherbergt und welche Substanzen die Immunzellen produzieren. Gemeinsam mit den klinischen Daten zum Verlauf der Krebserkrankung würde dies der Forschung äußerst hilfreiche Daten darüber liefern, wie wir Krebserkrankungen mithilfe des eigenen Immunsystems zukünftig besiegen können und in welchen Fällen eine medikamentöse Unterdrückung der Immunantwort das Überleben deutlich verbessern würde. Interessanterweise können chronische Entzündungen auch das Blutkrebsrisiko erhöhen, indem sie durch die dauerhafte Aktivierung der Immunzellen deren Entartungsrisiko steigern. So steigt bei einigen häufig unbemerkten chronischen Infektionskrankheiten wie beispielsweise Chlamydien und Helicobacter pylorii die Gefahr an einem MALT Lymphom zu erkranken. Eine Infektion mit dem Epstein-Barr Virus (Pfeiffrisches Drüsenfieber) kann verschiedene Lymphome verursachen- darunter das Burkitt’s Lymphom und Hodgkin’s Lymphom (Ferreri et al. 2009). Chronische Entzündungen, dauerhafte Stimulation von Immunzellen und Autoimmunerkrankungen gelten als Risikofaktor für chronische lymphatische Leukämie, die 30 % aller Leukämien ausmachen (Grivennikov et al. 2010). Vermutlich wird auch das multiple Myelom, eine weitere bösartige Krebserkrankung des Blutes, durch dauerhafte Entzündungen begünstigt.

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HIV und Krebs – warum HIV Patienten häufiger an Krebs erkranken

Das humane Immundefizienz-Virus (HIV) und Krebs scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben. Tatsächlich haben uns die letzten Jahrzehnte in denen die Menschheit mit dem HI-Virus kämpfen musste aber auch ein paar sehr wichtige Dinge über die Entstehung von Krebserkrankungen verraten. Der Grund hierfür liegt in der Natur des HI-Virus bestimmte Zellen des Immunsystems zu infizieren und nach einer unvorhersehbaren Zeitspanne deren Untergang herbeizuführen. Bei den betroffenen Zellen handelt es sich um die sogenannten „CD4-positven T-Helfer Zellen“, welche eine wichtige Vermittlerrolle zwischen dem angeborenen und dem anpassungsfähigen Immunsystem spielen. Diese Vermittlerrolle ist unentbehrlich, um eine gezielte und dauerhafte Immunantwort in Gang zu bringen. HIV infizierte Patienten erkranken, wenn sie keine Medikamente erhalten, nach einer oftmals langen und sehr variablen Zeitspanne an AIDS, dem „Acquired Immunodeficiency Syndrom“. Das bedeutet, dass die Patienten an diversen opportunistischen Infektionen mit häufig schwerem Verlauf erkranken und irgendwann auch dran versterben. Opportunistische Infektionen zeichnen sich dadurch aus, dass gesunde Patienten in der Regel nicht an ihnen erkranken oder mildere Verläufe zeigen, wohingegen sie in immungeschwächten Patienten (dazu zählen neben HIV Patienten beispielsweise auch ältere Menschen, Menschen nach einer Organtransplantation, Schwangere, Neugeborene oder Kranke) eine hohe Empfänglichkeit und schwere Verläufe zeigen. Um an AIDS zu erkrankten, muss laut Definition die Anzahl der CD4-positiven T-Zellen im Blut unter 200/μl fallen. Jeder AIDS Patient hat also HIV, aber nicht jeder HIV Patient leidet an AIDS. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H. Heikenwälder und M. Heikenwälder, Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59277-9_3

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Interessanterweise ist die tatsächliche Haupttodesursache in HIV Patienten seit einigen Jahren nicht mehr AIDS, sondern überraschenderweise Krebs (Yarchoan und Uldrick 2018). Die Todesursache ist also nicht auf das klassische Versagen des Immunsystems im Kampf gegen eine opportunistische Infektion zurückzuführen. Dies liegt an der mittlerweile stark optimierten antiretroviralen Therapie (Anm. HIV ist ein Retrovirus), welche den Patienten zur Verfügung steht. In Anlehnung an die opportunistischen Infektionen in AIDS Patienten werden diese Krebserkrankungen „opportunistische“ Krebserkrankungen genannt. Diese opportunistischen Krebserkrankungen beinhalten beispielsweise Gebärmutterhalskrebs, bestimmte Blutkrebstypen (Hodgkin und Non-­ Hodgkin Lymphom), Kaposi-Sarkome und Krebserkrankungen im Mund und Rachenraum sowie eine Form von Leberkrebs- das Hepatozelluläre ­Karzinom. Obwohl die Ursache für das vermehrte Vorkommen dieser Krebserkrankungen in HIV-infizierten Patienten nicht vollends geklärt ist, kommen hierfür drei mögliche Erklärungsansätze infrage: Der erste und am besten belegte Ansatz ist, dass diese Krebserkrankungen durch zum Teil bekannte oder unbekannte Viren verursacht werden, welche in HIV-infizierten Patienten nicht oder ungenügend durch das Immunsystem beseitigt werden können. Ein Beispiel hierfür ist der durch Typen des humanen Pappiloma Virus (HPV) verursachte Gebärmutterhalskrebs, für den HIV Patientinnen ein jährliches Screening empfohlen wird (Poynten et al. 2011). Der zweite Ansatz vermutet, dass entweder die HIV Infektion selbst oder eine andere Infektion, welche der HIV-infizierte Patient nicht bekämpfen kann, zu einer andauernden Entzündungsreaktion führt, welche die Krebsentstehung begünstigt. Der dritte Ansatz ist, dass der natürliche Schutzmechanismus des Immunsystems zur Erkennung und Eliminierung von Krebszellen in HIV Patienten nicht mehr ausreichend funktioniert. Dieser Schutzmechanismus basiert auf der Erkennung von Krebszellen durch Immunzellen anhand der auf den Ausweisproteinen präsentierten krankhaften Proteine. Es ist allerdings unklar, warum es nur bestimmte Krebsarten betrifft und wodurch sich diese im Vergleich zu anderen Krebsarten unterscheiden. Vermutlich sind diese Krebsarten für ein gesundes Immunsystem besser erkennbar und können daher unter Kontrolle gehalten werden. Die Vermutung, dass die erhöhte Krebsrate in HIV Patienten tatsächlich durch das beeinträchtigte Immunsystem verursacht wird und nicht beispielsweise durch das HI-Virus selbst, wird durch Daten aus der Transplantationsmedizin gestützt. Menschen, die ein Spenderorgan erhalten haben, zeigen ebenfalls eine Häufung vieler Krebsarten im Vergleich

HIV und Krebs – warum HIV Patienten …     33

zu gesunden Menschen (Krynitz et al. 2013). Nach einer Organtransplantation, muss das Immunsystem des Organempfängers selbst bei hoher Kompatibilität der Ausweisproteine durch Medikamente unterdrückt werden, um eine Abstoßungsreaktion gegen das neue Organ zu vermeiden. Durch die enorme Vielfalt an Ausweis-Proteinen ist ein genaues „Match“ zwischen Organspender und Organempfänger nahezu unmöglich. Ähnlich einem AIDS Patienten ist das Immunsystem von Organempfängern also stark geschwächt. Die Beobachtungen an Organempfängern haben uns ähnlich wie die Beobachtungen an HIV Patienten beeindruckende Erkenntnisse über die Leistung des Immunsystems bei der Krebskontrolle offenbart. Eine australische Studie beobachtete die Empfänger einer Spenderniere über 24 Jahre und zeigte, dass unglaubliche 72 % der Nierenempfänger in diesem Zeitraum eine oder sogar mehrere Krebsarten entwickelt hatten. Diese Prozentzahl liegt weit über dem Durchschnitt der normalen Bevölkerung. Eine andere Studie zeigte, dass Empfänger einer Spenderleber gewöhnlich innerhalb von nur 5 Jahren nach erfolgreicher Transplantation und Beginn der Medikamenteneinnahme Tumoren entwickeln (Weinberg 2014). Eine Metaanalyse (die Ergebnisse mehrere anderer Studien zusammenfassend ausgewertet) schätzt ein 3-fach erhöhtes allgemeines Krebsrisiko für Organempfänger (Grulich et al. 2007). Diese Fakten offenbaren die bedeutende Rolle unseres Immunsystems bei der Verhinderung von Krebserkrankungen. HIV Patienten und Organempfänger haben ein erhöhtes Risiko an Krebs zu erkranken. In beiden Fällen ist das geschwächte Immunsystem die Ursache für die Krebserkrankungen. Im Fall einer HIV Infektion oder während der Einnahme von Immunsuppressiva sind Krebsvorsorgeuntersuchungen daher besonders wichtig.

Krebsarten die durch Infektionen verursacht werden treten also wesentlich häufiger bei HIV Patienten und Organempfängern auf. Beispiele hierfür sind durch eine Helicobacter pylori Infektion verursachte Magengeschwüre, durch Epstein-Barr Virus verursachte Lymphome, Krebserkrankungen des Genitalund Mundrachenraums durch Humane Papilloma Viren oder das ansonsten eher seltene Kaposi-Sarkom durch Humane Herpes Viren (HHV-8). ­Hierbei ist wichtig zu betonen, dass nicht die Infektion mit den Erregern in diesen Patienten vermehrt vorkommt- sondern eine Infektion die normalerweise nur mild oder komplett symptomfrei verläuft, kann bei immungeschwächten Patienten nicht in Schach gehalten werden. Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist das Epstein-Barr Virus mit dem schätzungsweise 90 % der Bevölkerung

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infiziert sind. Meist erfolgt die Infektion in der Kindheit oder bereits als Baby durch küssende Verwandte (englisch „Kissing disease“). Erfolgt die Infektion in der Pubertät oder seltener erst im Erwachsenenalter kommt es häufiger zum sogenannten „Pfeifferschen Drüsenfieber“, welches sich unter anderem durch stark geschwollene Halslymphknoten und Fieber äußert. Unabhängig vom Verlauf der Erstinfektion bleibt das Virus danach lebenslang unbemerkt in unseren Körperzellen versteckt (z. B. Immunzellen und Epithelzellen). Kommt es allerdings zu einer Schwächung des Immunsystems wie im Falle einer HIV-Infektion, kann das „schlafende“ Virus wiedererweckt werden. Die dauerhafte Aktivierung dieses Virus führt in den infizierten Zellen zu einem erhöhten Krebsrisiko (Yin et al. 2018). Die Krebserkrankungen können wie im Falle des Epstein-Barr Virus direkt in den infizierten Zellen entstehen oder aber indirekt durch die andauernde Entzündungsreaktion verursacht werden, welche wie im Falle der Hepatitis Viren durch den Kampf der Erreger mit dem Immunsystem entsteht. Man geht inzwischen davon aus, dass mindestens 20 % aller Krebserkrankungen direkt oder indirekt durch Infektionen verursacht werden. In den meisten Teilen der Welt und besonders in den entwicklungsschwachen Gebieten machen sie mit über 1 Mio. Erkrankungen jährlich den Großteil aller Krebserkrankungen aus (z. B. HBV) (de Martel et al. 2012). Aktuelle Studien legen nahe, dass der Prozentsatz der Krebserkrankungen, die durch Infektionen verursacht werden noch wesentlich höher sein könnte. In Laborexperimenten konnten Virus-ähnliche DNA Moleküle aus unserer Nahrung zum Leben erweckt werden, die möglicherweise eine wichtige Rolle bei der Krebsentstehung spielen. Wir werden diesen Punkt in dem Kapitel „Krebs durch gefährliche DNA Moleküle in Rindfleisch und Kuhmilch“ im Detail erklären, wenn es darum geht weshalb der Verzehr von Rindfleisch und Kuhmilch in frühen Lebensjahren mit einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert sind. Weiterhin ungeklärt ist, warum auch andere Krebsarten wie Darmkrebs, Blasenkrebs, Nierenkrebs und schwarzer Hautkrebs (Melanom) in immungeschwächten Patienten vermehrt auftreten. Als mögliche Ursachen kommen nicht nur unbekannte Virusinfektionen infrage. Auch die Fähigkeit des Immunsystems kranke Zellen in unserem Körper zu erkennen ist wie wir bereits gesehen haben äußerst wichtig. Der Ausfall dieser Funktion des Immunsystems kann bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem auch zu den erhöhten Krebszahlen beitragen. Interessanterweise variiert das Krebsrisiko von Organempfängern auch je nach dem welches Organ transplantiert wurde. Das Risiko für Lungenkrebs ist bei „Herzempfängern“ beispielsweise besonders hoch. Am höchsten

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ist jedoch bei allen Organempfängern das Risiko für ein bösartiges Plattenepithelkarzinom der Haut. Das Risiko an dieser Krebsart zu erkranken ist bei Organempfängern um bis zu 250-fach erhöht und der Grund weshalb Hautkrebsvorsorge in diesen Patienten besonders wichtig ist (Krynitz et al. 2013). Unabhängig von den denkbaren Mechanismen, zeigen uns diese Daten ganz eindeutig, dass wir einen großen Teil der Krebserkrankungen normalerweise mithilfe unseres Immunsystems in den Griff bekommen können. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Verhinderung der Krebsentstehung im Anfangsstadium nicht mit der Heilung von Krebs im fortgeschrittenen Stadium zu verwechseln. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es unserem Immunsystem gelingt einen bereits entstandenen und fortgeschrittenen Tumor alleine zu besiegen. Dieses würde einer „Spontanheilung“ oder „Wunderheilung“ entsprechen, die leider so selten ist, dass selbst erfahrene Onkologen nach Jahrzehnten bestätigen noch keine erlebt zu haben. Unser Immunsystem ist jedoch durchaus in der Lage einzelne Krebszellen in ihrem Anfangsstadium zu erkennen und zu besiegen. Der einzige Unterschied zu dem Wunder einer Spontanheilung besteht darin, dass das Wunder ständig in unserem Körper geschieht – und ohne dass wir es jemals erfahren.

Die Einnahme von Medikamenten zur Unterdrückung des Immunsystems ist leider auch bei einer Vielzahl von anderen Erkrankungen notwendig. Neben Organempfängern müssen auch viele Patienten mit chronisch entzündlichen Erkrankungen wie beispielsweise Autoimmunerkrankungen Medikamente zur Unterdrückung der fehlerhaften und schmerzlichen Immunreaktionen einnehmen. Leider hilft in vielen Fällen nur die dauerhafte Einnahme von Medikamenten, die das Immunsystem breitflächig unterdrücken. Grund hierfür ist unser immer noch unzureichendes Verständnis dieser Krankheiten und ihrer Entstehungsmechanismen. Da für viele entzündliche Erkrankungen noch nicht endgültig geklärt ist, welche Zelltypen oder Signalwege des Immunsystems für die Symptome verantwortlich sind, wird medikamentös ein Rundumschlag auf das Immunsystem ausübt. Insbesondere bei langjähriger Einnahme wäre es nicht verwunderlich, wenn dabei auch die schützenden Funktionen des Immunsystems in Bezug auf Krebserkrankungen unterdrückt werden. Tatsächlich kann man bei Patienten, die Kortisonverwandte „Glucocorticoide“ wie Prednisol oder Dexamethason einnehmen, ein erhöhtes Risiko für Basalzellkarzinome, Plattenepithelkarzinome, Melanome und Non-Hodgkin-­ Lymphome beobachten (Olesen et al. 2008). Das erhöhte Krebsrisiko konnte

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in diesen Studien nicht auf die entzündlichen Erkrankungen zurückgeführt werden aufgrund derer die Medikamente verschrieben wurden. Zudem ist auffällig, dass diese Krebsarten auch in HIV Patienten und Organempfängern vermehrt vorkommen. Gemeinsam weisen diese Daten darauf hin, dass die längerfristige Einnahme von weitläufig bei entzündlichen Erkrankungen eingesetzten Medikamenten das Krebsrisiko steigern kann. Dies ist ein Grund, warum die Grundlagenforschung von Erkrankungen so wichtig ist. Auch wenn man ein im Prinzip funktionierendes Medikament wie Kortison zur Verfügung hat, wäre es doch sicherlich wünschenswert ein Medikament herzustellen, welches gezielt und ausschließlich gegen den verursachenden Zelltyp oder einen Signalstoff vorgeht und alle anderen Funktionen des Immunsystems intakt ließe. In Jedem Fall sollten Patienten mit geschwächtem Immunsystem um ihr erhöhtes Risiko informiert werden und mit ihrem Arzt klären in welchem Maße Krebsvorsorgeuntersuchungen angebracht sind. Kortison wirkt entzündungshemmend und kann Immunreaktionen unterdrücken. Bei langfristiger Einnahme von Kortison wird ein leicht erhöhtes Risiko für einige wenige Krebsarten beobachtet, die nicht mit der entzündlichen Erkrankung in Zusammenhang stehen. Da viele chronisch entzündliche Erkrankungen wie beispielsweise Morbus Crohn oder Ulcerative Kolitis jedoch durch eine andauernde schädliche Immunreaktion das Krebsrisiko im betroffenen Organ deutlich erhöhen, überwiegt in diesen Fällen meistens der Nutzen der Behandlung.

Andere Medikamente wie beispielsweise Aspirin wirken entzündungshemmend, ohne dabei unsere Immunabwehr zu beeinträchtigen. Man kann jahrzehntelang Aspirin einnehmen ohne an opportunistischen Infektionen zu erkranken. Anders als Kortison richtet sich Aspirin also nicht gegen zielgerichtete Immunreaktionen, die notwendig sind um infizierte Körperzellen oder Krebszellen zu eliminieren, sondern nur gegen begleitende „ungerichtete“ Entzündungsreaktionen und Schmerzen. Interessanterweise kann Aspirin sogar vor bestimmten Krebserkrankungen schützen. Herzinfarktpatienten, die regelmäßig Aspirin zur Blutverdünnung einnehmen, erkranken seltener an Darmkrebs und anderen Krebsarten (Grivennikov et al. 2010). In dem Kapitel „Entzündungshemmer und Antioxidantien“ haben wir uns mit der Frage beschäftigt, ob eine prophylaktische Einnahme von Aspirin möglicherweise zu empfehlen ist und welche Nebenwirkungen auftreten können.

HIV und Krebs – warum HIV Patienten …     37

Die Beobachtungen an HIV-Patienten, Organempfängern und anderen Patientengruppen, die längerfristig Medikamente zur Unterdrückung des Immunsystems einnehmen, haben uns vieles über Krebserkrankungen gelehrt. Diese Patienten helfen uns zu verstehen, welche Krebserkrankungen durch Infektionen verursacht werden und welche normalerweise durch unser Immunsystem erkannt und wirkungsvoll verhindert werden können. Die Auswirkungen von verschiedenen entzündungshemmenden Medikamenten auf das Krebsrisiko, können uns ebenfalls viele wertvolle Informationen zu der Frage liefern, welche Signalwege des Immunsystems an der Entstehung von Krebserkrankungen beteiligt sind und welche uns normalerweise vor ihnen bewahren.

Literatur de Martel, Catherine, et al. 2012. Global burden of cancers attributable to infections in 2008: A review and synthetic analysis. The lancet Oncology 13:607–615. Grivennikov, Sergei I., Florian R. Greten, und Michael Karin. 2010. Immunity, inflammation, and cancer. Cell 140:883–899. Grulich, Andrew E., Marina T. van Leeuwen, Michael O. Falster, und Claire M. Vajdic. 2007. Incidence of cancers in people with HIV/AIDS compared with immunosuppressed transplant recipients: A meta-analysis. Lancet (London, England) 370:59–67. Krynitz, Britta, et al. 2013. Risk of skin cancer and other malignancies in kidney, liver, heart and lung transplant recipients 1970 to 2008—A Swedish populationbased study. International Journal of Cancer 132:1429–1438. Olesen, A.B., et al. 2008. Use of oral glucocorticoids and risk of skin cancer and non-Hodgkin’s lymphoma: A population-based case–control study. British Journal of Cancer 100:200. Poynten, Mary I., David J. Templeton, und Andrew E. Grulich. 2011. Sexually transmissible infections in aging HIV populations. Sexual Health 8:508–511. Weinberg, Robert A. 2014. The biology of cancer, 2. Aufl. New York: Garland Science, Taylor & Francis Group. Yarchoan, Robert, und Thomas S. Uldrick. 2018. HIV-associated cancers and related diseases. The New England Journal of Medicine 378:1029–1041. Yin, Huali, Jiani Qu, Qiu Peng, und Runliang Gan. 2018. Molecular mechanisms of EBV-driven cell cycle progression and oncogenesis. Medical Microbiology and Immunology. https://doi.org/10.1007/s00430-018-0570-1.

Zucker, Fette und Übergewicht

Dieses Kapitel widmet sich einem besonders wichtigen Punkt bei der Verhinderung von zukünftigen Krebserkrankungen. Obwohl es mittlerweile allgemein bekannt ist, dass eine kalorienreiche Ernährung und insbesondere Zucker nicht gut für unsere Gesundheit sind, nehmen viele Menschen dieses Wissen nicht wirklich ernst. Häufig werden die negativen Auswirkungen auf rein ästhetische Gesichtspunkte reduziert und „Normalgewichtige“ ­fühlen sich meistens gar nicht betroffen. Wir möchten in diesem K ­ apitel Klarheit darüber schaffen, weshalb dies ein gefährlicher Trugschluss sein kann und worin nach neustem Erkenntnisstand die Gefahren bestehen. Die negativen Auswirkungen von starkem Übergewicht und kalorienreicher Ernährung beeinflussen neben einer Vielzahl an Krankheitsprozessen auch den Alterungsprozess und können darüber hinaus sogar an die nächste Generation weitergeben werden. Besonders besorgniserregend sind diese neuen Erkenntnisse angesichts des weltweit steigenden Prozentsatzes an übergewichtigen Menschen in der Bevölkerung. In Deutschland sind 53 % der Frauen und 67 % der Männer übergewichtig. Ungefähr 25 % der Erwachsenen in Deutschland sind stark übergewichtig (medizinisch „adipös“) (2019). Diese Zahlen kommen denen der USA bereits erschreckend nahe, wo mittlerweile mehr als ein Drittel der Bevölkerung als stark übergewichtig gilt. Starkes Übergewicht (medizinisch „Adipositas“ genannt) gilt schon lange nicht mehr nur als Hauptursache für Diabetes, Bluthochdruck, Arteriosklerose und Schlaganfälle. Tatsächlich gilt Übergewicht als die vermeidbare Krebsursache überhaupt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist der Zusammenhang von starkem Übergewicht auf die Krebsentstehung mittlerweile beinahe so © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H. Heikenwälder und M. Heikenwälder, Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59277-9_4

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gut belegt wie der Zusammenhang von Zigarettenkonsum und Krebs. Der Prozentsatz an Übergewichtigen übertrifft in vielen Ländern bereits den Prozentsatz der Raucher und wird daher zukünftig die größte Herausforderung an die Gesundheitssysteme darstellen (Grivennikov et al. 2010; Font-Burgada et al. 2016). Epidemiologische Untersuchungen haben ergeben, dass mittlerweile 20 % aller krebsbedingten Todesfälle auf das Konto von Übergewicht gehen (Calle et al. 2003; Aggarwal et al. 2009). Als übergewichtig gilt, wer einen Body Mass Index (BMI) von über 25 kg/m2 hat (der BMI errechnet sich wie folgt: Gewicht in kg/Körpergröße in m2). Starkes Übergewicht oder Adipositas beginnt ab einem BMI von 30 (kg/m2). Aber nicht nur in entwickelten westlichen Ländern ist Übergewicht ein ernsthaftes Problem. Auch in Schwellenländern und sogar in Entwicklungsländern stieg der Anteil der übergewichtigen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten enorm. Besonders alarmierend ist dabei die starke Zunahme an Übergewicht und Fettleibigkeit bereits im Kindesalter (Font-Burgada et al. 2016).

Übergewicht erhöht die Produktion von Hormonen Übergewicht begünstigt auf vielfältige Weise die Entstehung und das Voranschreiten von Krebserkrankungen. Die jeweilige Bedeutung von Übergewicht auf die Krebsentstehung und den Krankheitsverlauf muss man dabei allerdings für jede Krebsart gesondert betrachten, da jede Krebserkrankung ihre eigenen Entstehungsmechanismen besitzt. Dies trifft sogar auf unterschiedliche Krebstypen im selben Organ zu. Beispielsweise werden im Fettgewebe Hormone wie beispielsweise Östrogen produziert, was bei einem hohen Körperfettanteil mit der Zeit zur Ansammlung kritischer Hormonmengen führen kann. Eine entscheidende Rolle spielt dies beispielsweise bei der Entstehung von einer Form von Brustkrebs, die vor allem nach der Menopause auftritt- also zu einem Zeitpunkt an dem die weiblichen Hormone normalerweise sehr niedrige Level erreichen (sogenannter Östrogen Rezeptor-positiver Brustkrebs). Gleichzeitig steht Übergewicht in direktem Zusammenhang mit einer schlechteren Prognose für allen bekannten Arten von Brustkrebs (Argolo et al. 2018). Bei diesen anderen Arten von Brustkrebs spielen nicht die vermehrt vom Fettgewebe produzierten und gespeicherten weiblichen Hormone die entscheidende Rolle für den Verlauf der Krebserkrankung. Stattdessen wird das erhöhte Krebsrisiko in diesen Fällen von gefährlichen

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Entzündungsreaktionen verursacht, die durch das Übergewicht verursacht werden. Ein hoher Anteil an Fettgewebe im Körper begünstigt einen dauerhaften Entzündungszustand, welcher sowohl zu der Entstehung von Tumoren als auch zum Wachstum von bereits etablierten Tumoren beitragen kann.

Übergewicht verursacht Entzündungen Der Entzündungszustand kann dabei zum Teil direkt durch bestimmte Fettsäuren und Stoffwechselprodukte verursacht werden. Einige Fett­ säuren wirken in unserem Körper als Signalmoleküle, indem sie ein für Entzündungsreaktionen besonders wichtiges Enzym aktivieren (dasselbe Enzym, welches von Aspirin blockiert wird) und dadurch zur Produktion von Substanzen beitragen, die das Wachstum von Darmtumorzellen unterstützen (Jain et al. 2018). Aber nicht nur bei Brustkrebs und Darmkrebs spielt starkes Übergewicht eine gefährliche Helferrolle. Fettleibigkeit steht in Verbindung mit einem erhöhten Risiko und einer gesteigerten Aggressivität von vielen bösartigen Tumorerkrankungen (Lengyel et al. 2018). Neben einem erhöhten Erkrankungsrisiko für Brustkrebs, ist bei stark übergewichtigen Menschen vor allem das Risiko für Leberkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Nierenkrebs, Gebärmutterkrebs und Krebserkrankungen des Magendarmtraktes deutlich erhöht. Der gefährliche „systemische“ (medizinisch für „den gesamten Körper betreffend“) Entzündungszustand kann nicht nur direkt durch Stoffwechselprodukte wie zum Beispiel Fettsäuren ausgelöst werden, sondern auch indirekt durch alarmierte Immunzellen im überbelasteten Fettgewebe. Die Fettdepots unseres Körpers enthalten so wie nahezu alle unsere Gewebe und Organe auch Immunzellen. Im Fettgewebe befinden sich neben den Fettzellen (Adipozyten) in denen das Fett gespeichert wird, insbesondere auch große Riesenfresszellen (Makrophagen), welche bei der Beseitigung von alten und kaputten Zellen helfen. Bei starkem Übergewicht kommt es zu einer Überbeanspruchung der Fettzellen, welche im schlimmsten Fall zu deren Absterben führen kann. Fettzellen können sich nicht durch Zellteilung vermehren und nur in gewissen Maße aus Vorläuferzellen neu gebildet werden. In übergewichtigen Menschen werden also zwar auch mehr Fettzellen gebildet- allerdings besteht die Gefahr, dass die Fettzellen bei einem übermäßigen Nahrungsangebot an zu großen Fettanlagerungen innerhalb der Zelle zugrunde gehen. Die benachbarten

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Riesenfresszellen empfangen die Trümmer der abgestorbenen Fettzellen als Warnsignale und wechseln in den Entzündungsmodus. Die von nun an produzierten Entzündungsstoffe (insbesondere TNF und Interleukin-6) können über die Blutbahn in den gesamten Körper gelangen und dort Krebszellen zum Überleben und Wachstum anregen. Einer dieser Botenstoffe fördert zudem das bösartige und metastatische Verhalten von Krebszellen (Tumor necrosis factor; TNF). Diese gefährlichen Entzündungsstoffe und noch viele weitere (wie beispielsweise IL-1β, IL-8, IL-10, IL-12, IL-17, IL-18, IL-22 und IFNγ), sind im Blutserum von übergewichtigen Patienten in erhöhten Mengen nachweisbar (Font-Burgada et al. 2016). Während die Zellen des angeborenen Immunsystems in übergewichtigen Menschen eine vermehrte Aktivität aufweisen und für die erhöhten Entzündungswerte verantwortlich sind, ist für das anpassungsfähige Immunsystem das Gegenteil der Fall. Die Zellen des anpassungsfähigen Immunsystems besitzen die wichtige Funktion Krebszellen aufzuspüren und zu vernichten. Aber gerade diese Zellen sind in übergewichtigen Menschen sowohl in geringerer Zahl vorhanden als auch in ihrer Funktion beeinträchtigt (Lamas et al. 2002). Somit trägt vermutlich auch eine verminderte Erkennung und Eliminierung von Krebszellen im Anfangsstadium durch das Immunsystem zum erhöhten Krebsaufkommen in stark übergewichtigen Menschen bei.

Unsere Ernährung beeinflusst die Darmflora Viele Studien haben in den vergangenen Jahren gezeigt, wie sehr unsere Gesundheit von unserer Darmflora beeinflusst wird. Tatsächlich weist auch die Darmflora von stark übergewichtigen Personen Veränderungen im Vergleich zu normalgewichtigen Personen auf. Dabei kommt es neben einer veränderten Zusammensetzung der Darmflora („Dysbiose“) auch zu einer bedeutenden Abnahme in der Vielfalt der vorhandenen Mikrobenarten. Ähnliche Veränderungen der Darmflora wurden auch bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie „Ulcerativer Kolitis“ und „Morbus Crohn“ beobachtet. Lange Zeit war es unklar, ob dabei die veränderte Darmflora erst in Folge der Erkrankungen oder des Übergewichts entsteht, oder ob die Veränderungen der Darmflora möglicherweise zu der Entstehung dieser Erkrankungen beitragen. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben umfangreiche Belege dafür geliefert, dass unser Lebensstil diese Veränderungen der Darmflora direkt verursachen kann. So konnten beispielsweise niedrige Mengen von zwei nahezu universell in Fertigprodukten verwendeten Bindemitteln (Carboxymethylcellulose und

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Polysorbat-80) in Mäusen zu Entzündungsreaktionen, Übergewicht und den damit in Zusammenhang stehenden Erkrankungen des metabolischen Syndroms (Diabetes, Bluthochdruck und erhöhte Blutfettwerte) führen (Chassaing et al. 2015). Wurde der Kot dieser erkrankten Mäuse in gesunde Mäuse transferiert, welche zuvor keine Darmmikroben besaßen (sogenannte „Germ-free mice“), entwickelten auch diese zuvor gesunden Mäuse eine Darmentzündung, Übergewicht und die Symptome des metabolischen Syndroms. Die Beobachtungen an Mäusen ließen sich auch im Menschen in ähnlichen Studien mit freiwilligen Versuchspersonen bestätigen. Wurde der Stuhl von gesunden Personen direkt in den Darm von Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen oder starkem Übergewicht übertragen, konnte eine Verbesserung der Krankheitssymptome oder eine Gewichtsreduktion bewirkt werden. Diese Daten zeigen in eindrucksvoller Art und Weise, welche immense Rolle unsere Nahrungsgewohnheiten auf die Zusammensetzung unserer Darmflora und damit auf die Entstehung von Übergewicht und Erkrankungen spielen können. Auf welche Weise Bindemittel unserem Darm schaden können und welche Rolle dies bei der Krebsentstehung spielt, werden wir in dem Kapitel „Bindemittel, Ballaststoffe und Darmentzündungen“ im Detail erklären. Unsere Ernährungsweise kann die Zusammensetzung unserer Darmflora beeinflussen und dadurch zur Entstehung von Übergewicht, entzündlichen Darmerkrankungen und Stoffwechselkrankheiten beintragen.

Fettgewebe kann mit Krebszellen kommunizieren Neben Immunzellen, können auch Fettzellen selbst Signalmoleküle und Hormone produzieren. Diese werden aufgrund ihrer Herkunft aus den Fettzellen (Adipozyten) als „Adipokine“ bezeichnet. Das wohl bekannteste dieser Hormone ist Leptin, welches auch als „Sättigungshormon“ bezeichnet wird, da es das Hungergefühl unterdrückt. Es wirkt direkt im Gehirn auf den Hypothalamus und gibt ihm Auskunft über unseren Ernährungsstatus. Leptin wird von Fettzellen produziert und ist im Blutserum von stark übergewichtigen Patienten aufgrund der vergrößerten Fettdepots stark erhöht (Considine et al. 1996). Anders als früher vermutet, fehlt es übergewichtigen oder fettleibigen Menschen also nicht an diesem Hormon, sondern es hat sich eine Unempfindlichkeit (Resistenz) gegen dieses Hormon entwickelt

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(El-Haschimi et al. 2000). Neben der appetitregulierenden Wirkung von Leptin, besitzt es allerdings noch eine erst seit kurzem bekannte weitere Funktion. Es wurde gezeigt, dass Leptin das Wachstum von Tumoren der Schilddrüse unterstützt, indem es die Neubildung von Blutgefäßen f­ördert (Uddin et al. 2011). Diese Funktion ist in Zusammenhang mit Krebserkrankungen äußerst bedenklich, da wachsende Tumore allgemein auf eine Neubildung von Blutgefäßen (medizinisch „Angiogenese“) angewiesen sind. Besonders befremdlich ist die Tatsache, dass Leptin in Form von Kapseln und Tabletten als Nahrungsergänzungsmittel zum Zweck der Gewichtsreduktion frei käuflich angeboten wird. Problematisch ist hierbei, dass Leptin bei stark übergewichtigen Menschen nicht zu wenig vorhanden ist, sondern zu viel. Durch die hohen vorhandenen Leptin-Mengen besteht in vielen Fällen bereits eine gefährliche Resistenz gegen die Wirkung dieses Hormons. Eine zusätzliche Einnahme von Leptin kann das Problem auf lange Sicht also eher verschlimmern als verbessern und im Krebsfall diesem möglicherweise sogar zu einem schnelleren Wachstum verhelfen. Ein weiteres in großen Mengen von Fettzellen produziertes Adipokin ist „Adiponectin“. Adiponectin hat neben einer entzündungshemmenden Wirkung auch eine wachstumshemmende Wirkung auf Tumorzellen. Die im Blut messbaren Adiponectin-Werte sind von Mensch zu Mensch verschieden und hängen neben genetischer Veranlagung von der Ernährung, dem Ausmaß an körperlicher Bewegung und der Menge an innerem Bauchfett ab (sogenanntes „abdominales“ Fettgewebe, welches besonders mit gesundheitlichen Risiken in Zusammenhang steht). In stark übergewichtigen Menschen wird Adiponection in geringeren Mengen nachgewiesen als in normalgewichtigen Menschen. Verliert ein Mensch an Gewicht, führt dies zu einem Anstieg der Adiponectin-Werte im Blut. Niedrige AdiponectinWerte korrelieren mit einem erhöhten Risiko für Diabetes, Herzkreislauferkrankungen und bösartige Tumorerkrankungen im Laufe des Lebens (Dalamaga et al. 2012). Die niedrigen Adiponectin Werte in stark übergewichtigen Menschen stellen also wohlmöglich einen Teil der Ursache dar, weshalb Tumorerkrankungen in diesen Menschen häufiger vorkommen und einen aggressiveren Verlauf zeigen. Gleichzeitig bietet dieses Wissen möglicherweise einen Ansatz für zukünftige Therapien, da neben einer Gewichtsreduktion zur Unterstützung der Krebstherapie auch eine medikamentöse Gabe von Adiponectin in Erwägung gezogen werden könnte.

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Unsere Ernährung beeinflusst die Gesundheit unserer Nachkommen Es ist bekannt, dass neben der Ernährungsweise und dem Lebensstil auch genetische Faktoren eine Rolle bei der Entstehung von Übergewicht s­pielen. Seit kurzem wissen wir, dass sogar die negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Übergewicht an die nächsten Generationen weitergegeben werden können. Dies erfolgt nicht nur während der Schwangerschaft, sondern bereits vor der eigentlichen Empfängnis. Tatsächlich ist gerade das Zeitfenster um den Zeitpunkt der Befruchtung von besonderer Bedeutung für die gesundheitliche Prägung des Nachwuchses (Fleming et al. 2018). Obwohl alle Eizellen einer Frau bereits von Anbeginn ihres Lebens vorhanden sind, befinden sich diese Eizellen in einem unfertigen Zustand. In diesem unfertigen Zustand verharren die Eizellen bis sie irgendwann im Laufe eines Menstruationszyklus zu einem Follikel und letztendlich zur fertigen Eizelle heranreifen (der Follikel reift in der ersten Hälfte es Zyklus einer Frau heran, um dann während des sogenannten „Eisprungs“ die befruchtungsreife Eizelle freizugeben). Um später erfolgreich mit einer Spermienzelle zu einem neuen Leben verschmelzen zu können, muss die Eizelle währenddessen noch den letzten Schritt der sogenannten Reifeteilung vollenden. Während dieses kurzen Zeitfensters ist der Stoffwechsel der Eizelle aktiv und sie steht im Austausch mit ihrer Umwelt. Ist die Frau zu diesem Zeitpunkt stark übergewichtig, führt dies zu einer Ansammlung von Stoffwechselprodukten und Fetten im heranreifenden Follikel und der Eizelle. Zudem wurde eine Schädigung der Mitochondrien (der Energie-Kraftwerke unserer Zellen) innerhalb der befruchtungsfähigen Eizellen bei übergewichtigen Frauen beobachtet. Da Männer keine Mitochondrien mit den Spermien an ihre Nachkommen weitergeben, beeinflussen vermutlich nur die in der Eizelle vorhandenen mütterlichen Mitochondrien den Stoffwechsel der Nachkommen direkt und dauerhaft. Zusätzlich zu der Einlagerung von Stoffwechselprodukten und der Schädigung der Mitochondrien, kommt es bei mütterlichem Übergewicht zu sogenannten „epigenetischen“ Veränderungen in der Eizelle. „Epigenetisch“ bedeutet, dass zwar nicht die DNA Information selbst verändert wird, allerdings bestimmte molekulare Strukturen an der DNA, welche für die Steuerung der Aktivität der Gene wichtig sind. Alle diese Faktoren können bei der Entstehung von Krebserkrankungen im späteren Leben des betroffenen Embryos eine Rolle spielen. Studien ergaben, dass für das spätere Leben

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des gezeugten Kindes zudem ein erhöhtes Risiko besteht an Herzkreislauferkrankungen und Stoffwechselleiden zu erkranken (Roberts et al. 2015). Aber nicht nur starkes Übergewicht vonseiten der Mutter kann um den Zeitpunkt der Empfängnis schädlich für die Gesundheit des Kindes sein. Auch wenn der Vater um den Zeitpunkt der Empfängnis stark übergewichtig ist, kann dies zur Schädigung der in den Spermien enthaltenen DNA und epigenetischen Veränderungen führen. Wie bei der Mutter wirken sich auch diese Veränderungen negativ auf die spätere Gesundheit des Kindes aus. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass sich sogar Eingriffe wie die unter Laborbedingungen stattfindende künstliche Befruchtung (In-Vitro-Fertilisation) auf die spätere Gesundheit des Kindes auswirken. Beispielsweise kommt es bei Kindern, welche durch künstliche Befruchtung gezeugt wurden häufiger zu Geburtskomplikationen inklusive erhöhter Sterblichkeit, angeborenen Anomalien oder einem niedrigen Geburtsgewicht. Zudem weisen diese Kinder ebenfalls ein erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen und Stoffwechselleiden auf (Fleming et al. 2018). Die Eizellen werden vor und nach der im Labor erfolgten künstlichen Befruchtung in einem kommerziell erwerblichen Zellkulturmedium gehalten, bevor der aus wenigen Zellen bestehende Embryo nach einigen Tagen in die Gebärmutter implantiert wird. Es existieren sehr fundierte Studien zu der Frage, welches Zellkulturmedium für diesen Zweck am besten geeignet ist. Genau diese Studien offenbarten erstmals in aller Deutlichkeit den enormen Einfluss, den die zum Zeitpunkt der Befruchtung vorhandenen Umgebung auf die Entwicklung des Kindes spielt. Kleinste Unterschiede in dem verwendeten Zellkulturmedium waren ausreichend, um zu signifikanten Veränderungen des Geburtsgewichts der Kinder zu führen, welche sogar noch in einem Alter von zwei Jahren nachgewiesen werden konnte (Kleijkers et al. 2014, 2016). Kinder und Erwachsene, die durch künstliche Befruchtung gezeugt wurden, weisen neben einem erhöhten Risiko für Herzkreislauferkrankungen auch häufiger erhöhte Ruheblutzuckerwerte, erhöhte Blutplasmafette, Insulinresistenzen und Übergewicht auf (Scherrer et al. 2012; Gkourogianni et al. 2014). Diese langfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit der durch künstliche Befruchtung gezeugten Kinder werden durch epigenetische Veränderungen um den Zeitpunkt der Befruchtung verursacht. Als Konsequenz haben diese Kinder auch ein erhöhtes Risiko an einer Reihe von ansonsten sehr seltenen sogenannten „Imprinting-Krankheiten“ zu erkranken, welche auf einer gestörten epigenetischen Bearbeitung der DNA beruhen (z. B. DNA Methylierungsfehler). Aber warum sind die Eizellen und Spermien um den Befruchtungszeitpunkt eigentlich so empfindlich für Erkrankungen der Eltern oder einen

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gestörten Ernährungszustand? Menschen haben aus evolutionärer Sicht eine extrem lange Generationszeit. Der enorme Aufwand und die Zeit, welche für die Aufzucht des Nachwuchses investiert werden muss, sind im gesamten Tierreich einzigartig. Gleichzeitig beruht der evolutionäre Erfolg der Menschheit auf seiner Fähigkeit, sich verändernden Umweltbedingungen stetig anzupassen. Die lange Generationszeit steht dabei in direktem Konflikt zu einer schnellen Anpassungsfähigkeit auf dem Weg der klassischen Evolution durch genetische Vererbung. Lange Zeit galt es als Rätsel wie die Menschheit sich innerhalb von sehr kurzer Zeit immer wieder an die unterschiedlichsten Lebensbedingungen anpassen konnte. Das Geheimnis liegt vermutlich genau in diesem kurzen Zeitfenster um den Zeitpunkt der Befruchtung. Zu diesem Zeitpunkt sind die weiblichen und männlichen Keimzellen in der Lage Informationen aus ihrer Umwelt aufzunehmen, um sie später an jede einzelne Zelle des entstehenden Embryos weiterzugeben. Diese Umweltinformationen könnten eine entscheidende Rolle bei der Anpassungsfähigkeit des Menschen spielen. So ist es beispielsweise vorstellbar, dass bei einem zu Hungerzeiten gezeugten Kind gewisse Stoffwechselprodukte, welche durch Mangelernährung oder Muskelabbau in einem oder beiden Elternteilen entstehen, bereits in den Keimzellen durch eigenetische Veränderungen zu einem verlangsamten und damit ­sparsameren Stoffwechsel führen. Jedoch stand Nahrung während der meisten Zeit der Menschheitsgeschichte äußerst selten dauerhaft und im Überfluss zur Verfügung, wie heute in der modernen Gesellschaft. Stattdessen ist unser Körper über Jahrmillionen darauf optimiert die Nahrung so effektiv wie möglich zu speichern, um längere Mangelperioden zu überbrücken. Es ist anzunehmen, dass dieser Anpassungsmechanismus dem modernen Menschen in einer Überflussgesellschaft zum Verhängnis wird. Unsere Keimzellen können bei der Aufnahme und Weitergabe der Informationen aus der Umwelt nicht unterscheiden, ob es sich um nützliche Informationen oder lediglich eine Ansammlung von schädigenden Stoffwechselprodukten handelt. Eine schlechte körperliche Verfassung und Gesundheitsprobleme der Eltern um den Zeitpunkt der Befruchtung, sowie während der gesamten Schwangerschaft, können also im Kind zu Veränderungen führen, die mit einem erhöhten Risiko für chronische Erkrankungen einhergehen. Es wäre daher wichtig dem Zeitraum direkt vor und nach der Befruchtung ein besonderes medizinisches Interesse im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge zu widmen. Auf diese Weise könnte die Entstehung vieler chronischen Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und daraus resultierenden Krebserkrankungen möglicherweise vermieden werden.

48     H. Heikenwälder und M. Heikenwälder Eine sehr kalorienreiche Ernährung oder starkes Übergewicht kann bereits vor dem Zeitpunkt der Befruchtung die Gesundheit unserer Nachkommen negativ beeinflussen. Eine gesundheitliche Aufklärung über die Ernährungsweise sollte daher idealerweise bereits bei möglichem Kinderwunsch und somit vor dem Eintreten einer Schwangerschaft erfolgen.

Der Einfluss der Umgebungstemperatur auf den Stoffwechsel Wir müssen glücklicherweise nicht erst neugeborenen werden, um unseren Stoffwechsel gewissen Umwelteinflüsse anzupassen. Die positiven Auswirkungen von körperlicher Betätigung und Alter auf unseren Stoffwechsel und das Krebsrisiko werden wir später in diesem Buch erläutern. Darüber hinaus spielt aber auch unsere Umgebungstemperatur eine Rolle dabei, wie aktiv unser Stoffwechsel und damit unser Energieumsatz ist. Unter streng kontrollierten Versuchsbedingungen konnte gezeigt werden, dass ein Monat bei einer leicht niedrigeren nächtlichen Umgebungstemperatur (19 Grad statt 24) ausreichen, um den Anteil an braunem Fettgewebe in unserem Körper zu erhöhen (Lee et al. 2014; Daanen und Lichtenbelt 2016). Dieses braune Fettgewebe unterscheidet sich neben seiner Farbe vor allem in der Funktion von unserem weißen Speicherfett. Braunes Fettgewebe besitzt die besondere Fähigkeit unter Energieaufwand Wärme zu erzeugen. Die größte prozentuale Menge an braunen Fettgewebe besitzen Neugeborene, wodurch sie einen gewissen Schutz vor Auskühlung besitzen. Interessanterweise befinden sich diese Depots aus braunen Fettgewebe beim Neugeborenen und auch bei Erwachsenen vor allem auf der Körperrückseite und im Nacken, was zu der Tatsache passt, dass Menschen aus biologischer Sicht „Traglinge“ sind. Somit war der Wärmeschutz auf der dem Körper der Mutter zugewandten Körpervorderseite weniger überlebenswichtig als auf der ungeschützten der Mutter abgewandten Körperrückseite. Neben der Zunahme des braunen Fettgewebes, konnte durch eine niedrigere Umgebungstemperatur auch eine Verbesserung des Zuckerstoffwechsels und eine erhöhte Empfindlichkeit für das wichtige Stoffwechselhormon Insulin nachgewiesen werden (Lee et al. 2014). Wie wir im Verlauf des Kapitels noch zeigen werden, sind sowohl ein niedriger Blutzuckerspiegel als auch niedrige Insulinwerte mit einem deutlich reduzierten Krebsrisiko assoziiert. Eine leicht niedrigere Umgebungstemperatur könnte durch die positiven Auswirkungen auf den Stoffwechsel also ebenfalls das Krebsrisiko senken. Sich für ein Leben in extremer Kälte zu entscheiden, ist jedoch leider auch keine Lösung, da für Bevölkerungsgruppen in extrem

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kalten Regionen der Erde ein erhöhtes Krebsrisiko beobachtet wird. Die Ursache hierfür ist noch unklar, jedoch scheinen bestimmte Genvarianten und sicherlich auch die Lebensweise eine Rolle zu spielen (wenig frisches Obst und Gemüse, viel Fleisch usw.).

Zucker als Krebsrisiko Das Hormon Insulin wird nach Mahlzeiten von spezialisierten Zellen der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) ausgeschüttet und über die Blutbahn im gesamten Körper verteilt. In unserem Körper fördert Insulin die Aufnahme von Zucker aus dem Blut in die Körperzellen, insbesondere Muskelzellen, welche diesen in Form von „Glykogen“ speichern und als Energiequelle für ihre Arbeit benötigten. Überschüssiger Zucker, welcher nicht von den Muskelzellen aufgenommen werden kann, bleibt im Blut zurück und muss von anderen Körperzellen aufgenommen werden. Ein Großteil des überschüssigen Zuckers wird in den Zellen der Leber ebenfalls in Form von unlöslichem Glykogen eingespeichert oder in Fett umgewandelt und im Fettgewebe gespeichert. Bei dauerhaftem Überschuss an Zucker aus der Nahrung kann es auch zu einer Ablagerung von Fett in Leberzellen kommen und eine gefährliche Fettleber entstehen. Die Fettleber als häufige Vorstufe bei der Entstehung von Leberkrebs werden wir noch im Detail in dem Kapitel Krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen besprechen. Sehr kritisch sehen wir in diesem Zusammenhang das Label „fettfrei“ auf stark zuckerhaltigen Lebensmitteln. Dies ist eine Irreführung der Konsumenten, da es ein hochgradig ungesundes Lebensmittel gesünder wirken lässt. Als weitere gefürchtete Folge eines dauerhaft hohen Zuckerkonsums entwickelt sich häufig eine Unempfindlichkeit gegen das Hormon Insulin. Diese sogenannte „Insulin-Resistenz“ wird auch als erworbene Zuckerkrankheit oder „Diabetes Typ 2“ bezeichnet. Bei dieser Erkrankung reagieren die Körperzellen nicht mehr ausreichend auf das Hormon Insulin und der Zucker verbleibt in erhöhten Mengen im Blut zurück. Selbst geringe Zuckermengen können nun einen Zustand auslösen, welcher als „Hyperglykämie“ bezeichnet wird und so viel wie Überzuckerung bedeutet. Folglich ist die erworbene Insulin Resistenz (Diabetes Typ 2) ebenfalls mit einem stark erhöhten Leberkrebsrisiko assoziiert. Unabhängig vom Zuckerkonsum kann auch Übergewicht direkt die gesundheitsschädliche Insulin Resistenz verursachen. Schuld daran sind sogenannte „Freie Fettsäuren“, welche von Fettzellen in das Blut abgeben werden. Diese „freien Fettsäuren“ besitzen die Fähigkeit, die durch Insulin-vermittelte

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Zuckeraufnahme in Körperzellen zu blockieren. Die Menge der produzierten „freien Fettsäuren“ hängt dabei sowohl von der Größe der Fettdepots ab, als auch vom Einlagerungsort. So produziert beispielsweise das als problematisch erachtete innere Bauchfett besonders hohe Mengen dieser freien Fettsäuren (Font-Burgada et al. 2016). Aus evolutionärer Sicht mag es auf den ersten Blick unlogisch erscheinen, dass unser Körper eine zusätzliche wertvolle Energiequelle wie Zucker freiwillig ablehnt. Tatsächlich ist es für den Körper aber wenig sinnvoll Zucker aufzunehmen und ihn unter Energieaufwand in speicherbares Fett umzuwandeln, wenn er direkt auf Fettsäuren zurückgreifen kann. Dauerhaft erhöhte Zuckerkonzentrationen in unserem Blut, die durch eine falsche Ernährung oder Diabetes Typ 2 verursacht werden, stellen neben dem erhöhten Leberkrebsrisiko noch ein weiteres direktes Krebsrisiko dar. Genau wie alle anderen Körperzellen, werden auch eventuell vorhandene Krebszellen den erhöhten Zuckerkonzentrationen in unserem Blut ausgesetzt. Da die meisten Krebszellen auf Zucker als Nahrungsquelle angewiesen sind, profitieren diese in besonderem Maße von dem Überangebot. In Experimenten an Mäusen konnte gezeigt werden, dass die Aufnahme von Zucker mit der Nahrung das Wachstum von Lebertumoren beschleunigt, welche durch ein injiziertes Karzinogen (Diethylnitrosamin) verursacht wurden. Interessanterweise konnte dieser Effekt sogar bei normalgewichtigen Mäusen beobachtet werden (Healy et al. 2015). Dieses Ergebnis ist von besonderer Bedeutung, da häufig angenommen wird, dass Zucker bei schlanken Menschen kein gesundheitliches Risiko darstellt. Die Auswirkungen eines hohen Zuckerkonsums auf das Krebsrisiko und das Wachstum von bestehenden Tumoren dürfen aber nicht mit dem Umkehrschluss verwechselt werden, dass der Verzicht auf Zucker Krebserkrankungen heilen kann. Häufig kommt es bei der Interpretation von Forschungsergebnissen zu einer solchen Verwechselung. Zur Veranschaulichung des Fehlers nehmen wir das Beispiel des Zigarettenrauchens. Nur weil es bewiesen ist, dass Rauchen Lungenkrebs verursachen kann, bedeutet dies nicht automatisch, dass man Lungenkrebs durch einen sofortigen „Rauchstopp“ heilen kann. Dennoch ist es richtig das Rauchen zu beenden, um die Krebserkrankung nicht unnötig zu verschlimmern. So ähnlich verhält es sich auch mit dem Zuckerkonsum. Es ist nicht verwunderlich, dass der „Verzicht auf Zucker als Krebstherapie“ jedem Leser eines Lehrbuchs der Tumorbiologie in den Sinn kommt, wenn er über den sogenannten „Warburg-Effekt“ stolpert. Der Warburg-Effekt ist benannt nach dem deutschen Arzt und Nobelpreisträger Otto Warburg, welcher vor beinahe 100 Jahren den stark

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erhöhten Zuckerbedarf von Krebszellen entdeckte. Um den Warburg-Effekt zu verstehen muss man wissen, dass gesunde Zellen normalerweise Zucker (chemisch Glukose genannt) in einem Stoffwechselvorgang, welcher sich „Glykolyse“ nennt zu einem Stoffwechselprodukt namens „Pyruvat“ abbauen. Dieses „Pyruvat“ wird dann anschließend in den Mitochondrien (den ­Kraftwerken unserer Zellen) weiter zu Kohlenstoffdioxid abgebaut (im Citratzyklus). Dieser energetisch optimale Vorgang nennt sich „Zellatmung“, da er nur in Anwesenheit von Sauerstoff stattfinden kann. Wenn nicht genügend oder kein Sauerstoff verfügbar ist, müssen die Zellen auf die Glykolyse als alleinige Energiequelle zurückgreifen. Die Glykolyse ist energetisch viel weniger effizient als die Zellatmung (18-fach weniger) und daher normalerweise ein Reserveprogramm. Anders ist dies bei den meisten Krebszellen, welche selbst in Anwesenheit von Sauerstoff die Glykolyse für ihre Energiegewinnung verwenden. Da Krebszellen also Zucker (Glukose) auf dem Weg der Glykolyse nur extrem ineffizient verwerten, müssen sie ihren hohen Energiebedarf durch eine extrem hohe Zuckeraufnahme kompensieren. Diese Eigenschaft wird in der klinischen Bildgebung auch von Radiologen genutzt, welche Tumoren mit Hilfe von radioaktiv-markierten Glukosemolekülen sichtbar machen, da diese sich schnell in Tumoren anreichern. Die Ursachen für den Warburg-Effekt sind bis heute nicht vollends geklärt und es würde den Rahmen unseres Buches sprengen hier alle zu diskutieren. Eine plausible Erklärung ist, dass Krebszellen von der Sauerstoffunabhängigkeit profitieren, da Krebszellen innerhalb von schnell wachsenden Tumoren oftmals unter einer schlechten Sauerstoffversorgung leiden. Allerdings greifen die Krebszellen auch in Anwesenheit von Sauerstoff nicht auf die energetisch viel günstigere Zellatmung zurück. Diese Beobachtung legt nahe, dass sich durch die Verwendung der Glykolyse eventuell noch andere Vorteile für die Krebszellen ergeben. Eine Hypothese ist, dass einige Zwischenprodukte der Glykolyse als Baumaterial für Proteine benötigt werden, welche das rasante Wachstum der Krebszellen ermöglichen (Weinberg 2014). Es stimmt also, dass Krebszellen Zucker brauchen und nicht wie unsere gesunden Zellen vorwiegend Sauerstoff zur Energiegewinnung verwenden. Nur ist leider der Ansatz falsch, dass man den Krebs einfach Aushungern kann, indem man auf Zucker und Kohlenhydrate verzichtet. Für viele Krebspatienten wäre das sogar fatal, denn ungewollter Gewichtsverlust bis hin zur Tumorkachexie sind eine häufige Begleiterscheinung von Krebserkrankungen. Das Wort Kachexie stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie schlechter Zustand in Anlehnung an den krankhaften und stark abgemagerten Zustand vieler Krebspatienten. Tumorkachexie

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ist lebensbedrohlich und betrifft besonders Patienten mit Magenkrebs, ­Bauchspeicheldrüsenkrebs, Darmkrebs, Lungenkrebs und S­ peiseröhrenkrebs. Hinsichtlich einer Krebstherapie wäre die Verwendung „Glykolyse-hemmender“ Medikamente der sinnvollere Ansatz, welche gezielt in Krebszellen die Zuckerverwertung blockieren und somit das Wachstum der Krebszelle ­hemmen. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine Studie die belegt, dass sich der alleinige Verzicht auf Zucker positiv auf das Überleben von Krebspatienten auswirkt. Es darf dabei zudem nicht außer Acht gelassen werden, dass unser Körper Zucker aus vielen Nahrungsmitteln selbst herstellen kann und dies bei Bedarf auch tut (beispielsweise aus Kohlenhydraten, Frucht- und Milchzucker, und unter extremen Hungersbedingungen sogar aus Fett [Kaleta et al. 2011]). Am Beispiel der Tumorkachexie können wir erahnen, wer den Kampf um die Ressourcen vermutlich verlieren würde.

Die Konsequenzen für unser Verhalten aus diesem Wissen sind simpel, aber erfordern meist viel Disziplin und Achtsamkeit angesichts der Welt in der wir leben. Um das Risiko von Übergewicht und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken (inklusive dem stark erhöhten Krebsrisiko) zu minimieren, müssen wir also die Ernährungsgewohnheiten unserer Gesellschaft besonders kritisch überdenken. Am einfachsten ist es reinen industriellen Zucker und zuckerhaltige Fertigprodukte zu meiden, da der Körper industriellen Zucker nicht braucht. Zwar sind einige Organe wie beispielsweise das Gehirn auf eine kontinuierliche Bereitstellung von Zucker angewiesen, jedoch kann unser Körper diesen Zucker aus der Nahrung selbst herstellen. Industriell hergestellter Zucker führt zudem besonders schnell zu sehr hohen Blutzuckerwerten, welche unseren Stoffwechsel belasten (Gefahr der Insulin Resistenz!) und durch Gewöhnung zu Heißhungerattacken führen können. Der Herstellung von Zucker aus der Nahrung in unserem Körper erfolgt langsamer und gleichmäßiger. Der gelegentliche Konsum von kleinen Zuckermengen hat jedoch sicherlich keine dramatischen Auswirkungen auf unsere Gesundheit und die Krebsentstehung. Komplizierter wird es bei den Fetten, da sie für die Aufnahme von fettlöslichen Vitaminen benötigt werden und es auch lebenswichtige sogenannte „essenzielle“ Fettsäuren gibt. Essenzielle Fettsäuren müssen mit der Nahrung aufgenommen werden, da unser Körper sie nicht selbst herstellen kann. Ein Beispiel für essenzielle Fettsäuren sind die bekannten Omega-3 Fettsäuren, welche beispielsweise in hochwertigen Pflanzenölen wie Leinöl, Algen oder

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in fettreichem Fisch vorkommen. Diese Fettsäuren sind unter Anderem wichtig für die Ausbildung unseres Nervensystems und eine gesunde Gehirnfunktion. Bei den Fetten empfiehlt es sich also auf die Qualität der verwendeten Fette zu achten und diese nur in gesunden Maßen zu sich zu nehmen. Die Annahme gesättigte Fette wie Butter seinen generell ungesund und verursachen Herzkreislauferkrankungen, ließ sich übrigens in wissenschaftlichen Studien bisher nicht eindeutig bestätigen. Tatsächlich kann Butter sogar eine wertvolle Quelle an hochwertigen „einfach ungesättigten“ Omega-3 Fettsäuren und Vitaminen sein- vorausgesetzt die Kühe hatten Zugang zu hochwertiger frischer Nahrung (Cholewski et al. 2018).

Übergewicht beschleunigt den Alterungsprozess Die besondere Bedeutung die unser Körpergewicht für unsere Gesundheit spielt, wird noch deutlicher, wenn man die Daten zur Langlebigkeit betrachtet. Eine der wenigen wissenschaftlich bewiesenen Maßnahmen, um länger zu leben ist eine kalorienreduzierte Diät. Diese Erkenntnis stammt aus Beobachtungen an besonders langlebigen Menschen und Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise dem Dorf der Hundertjährigen in Japan. Eine kalorienreduzierte Diät kann auch in Tieren die Lebensspanne wiederholbar um mehr als 50 % verlängern. Die verlängerte Lebensspanne geht dabei in beiden Fällen mit einem deutlich verbesserten Gesundheitszustand einher. Die lebensverlängernde Wirkung der dauerhaften kalorienreduzierten Diät beruht dabei zu einem gewissen Anteil auf einem niedrigeren Level an Stoffwechselprodukten und Schadstoffen. Übergewicht scheint sich zudem besonders negativ auf einen wichtigen zellulären Aufräummechanismus auszuwirken, welcher sich „Autophagie“ nennt und so viel wie „Selbstverdauung“ bedeutet. Autophagie ermöglicht es unseren Zellen in „Hungerzeiten“ die Bestandteile der Zelle als Nahrungsquelle und zum Aufrechterhalten der überlebenswichtigen Zellvorgänge zu nutzen. Autophagie stellt allerdings nicht nur ein Notprogramm in Hungerzeiten dar, sondern findet in einem geringeren Ausmaß ständig in unseren Körperzellen statt. Auf diese Weise verhindert Autophagie die Ansammlung von kaputten und fehlerhaften Proteinen und Zellorganellen. Die Ansammlung von kaputten Proteinen und Zellorganellen kann auf vielfältige Weise die Zelle und ihre DNA schädigen. Beispielsweise produzieren defekte Mitochondrien (unsere Zellkraftwerke) besonders aggressive Sauerstoffmoleküle, welche Proteine

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und Enzyme innerhalb der Körperzelle schädigen (Font-Burgada et al. 2016). Dies ist insbesondere dann gefährlich, wenn die betroffenen Proteine und Enzyme eine Rolle bei der DNA Vervielfältigung oder Reparatur ­spielen. Übergewicht blockiert den Vorgang der Autophagie in unseren Körperzellen und kann dadurch das Absterben dieser Zellen und im schlimmsten Fall die Entstehung von Krebserkrankungen fördern. Somit spielt Autophagie eine wichtige Rolle für die Langlebigkeit von Zellen und damit des gesamten Organismus (Lapierre et al. 2015). Studien haben gezeigt, dass in 40–75 % der Tumoren von Brust, Gebärmutter und Prostata ein besonders wichtiges Gen für Autophagie defekt ist (Beclin-1). Zusätzlich spielen gestörte Autophagievorgänge eine besondere Rolle bei der Entstehung von Krebserkrankungen der Leber und der Bauchspeicheldrüse, welche gemeinsam die aggressivsten Krebsarten mit den schlechtesten Heilungsaussichten ausmachen. Diese Daten lassen vermuten, dass Autophagie der Entstehung von Krebserkrankungen entgegenwirkt und eine gestörte Autophagie, wie sie in übergewichtigen Menschen beobachtet wird, die Krebsentstehung begünstigt (Aghajan et al. 2012). Eine kalorienreduzierte Diät kann die Lebensspanne von Menschen und Tieren deutlich verlängern. Dies beruht auf einer verminderten Produktion von schädlichen Stoffwechselprodukten, veränderten Signalwegen innerhalb von Körperzellen, niedrigeren Leveln von Wachstumshormonen und einem ungestörten zellulären Aufräumprozesses namens Autophagie. Autophagie ist wichtig für die Gesundheit unserer Zellen und somit für die Gesundheit unseres gesamten Körpers. Eine erhöhte Kalorienzufuhr und starkes Übergewicht stören den Vorgang der Autophagie und erhöhen dadurch das Risiko an bestimmten Krebsarten zu erkranken.

Heute weiß man, dass eine kalorienreduzierte Diät das Leben nicht nur verlängert indem es die Ansammlung von Zellschäden im Laufe des Lebens verhindert. Tatsächlich beeinflusst eine kalorienarme Ernährung eine ganze Reihe an Signalwegen in unseren Zellen, welche den Alterungsprozess direkt regulieren (beispielsweise Signalwege über „target of rapamycin“ (TOR), „AMP Kinase“, „Sirtuine“ und Insulin/Insulin-like growth factor-1). Interessanterweise wird die lebensverlängernde Wirkung einer kalorienreduzierten Diät in Tieren sogar noch zusätzlich verstärkt, wenn die Tiere

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schlechter Riechen oder Schmecken können. Ob dies auch bei Menschen der Fall ist, ist noch nicht endgültig geklärt. Es ist allerdings bekannt, dass alleine der Geruch von Essen ausreicht, um im Menschen die Insulinlevel in die Höhe zu treiben. Tierexperimente haben gezeigt, dass gerade die Wirkung des Hormons Insulin und der Insulin-ähnlichen Wachstumshormone die Lebensspanne entscheidend verkürzen können. Es ist daher durchaus möglich, dass das Riechen und Schmecken von industriell verarbeiteter Nahrung, welche häufig mit chemischen Hilfsmitteln zu Verbesserung des Geschmacks und des Geruchs versetzt sind, den Alterungsprozess weiter ankurbeln. Neben einer lebenslang durchgeführten kalorienreduzierten Diät, kann bei Tieren auch eine deutliche Verlängerung der Lebensspanne erzielt werden, wenn die kalorienreduzierte Diät erst in der Mitte des Lebens beginnt oder die Fütterung nur jeden zweiten Tag stattfindet (Kenyon 2010). Dies weist darauf hin, dass sich eine knappe Nahrungszufuhr direkt auf die Regulation des Alterungsprozesses auswirkt. Der Mechanismus des verlangsamten Alterns basiert dabei auf folgendem Prinzip: Wenn ausreichend Nahrung zur Verfügung steht ist der Körper auf Wachstum und Vermehrung programmiert. In Zeiten der Nahrungsknappheit jedoch schaltet der Körper auf Schutzprogramme und Erhaltungsmechanismen um, welche den Alterungsprozess verlangsamen. Interessanterweise führt die Nahrungsrestriktion in Tieren nicht nur zu einem verlängerten Leben, sondern auch zu einem verspäteten Einsetzten von Alterserscheinungen und Alterserkrankungen. Dies zeigt eindrücklich, dass es möglich ist das gesamte Spektrum des Alterns inklusive der damit verbundenen Erkrankungen auf zellulärer Ebene alleine durch die Ernährung zu beeinflussen. Welche besondere Bedeutung dem Alter für die Krebsentstehung zukommt werden wir in dem Kapitel „Alter und Krebs“ im Detail erklären. Zunehmend versucht die Nahrungsmittelindustrie uns sogenannte „Superfoods“ zu verkaufen, welche unsere Gesundheit angeblich deutlich steigern und zu einem längeren Leben beitragen sollen. Aufgrund des Mangels an Beweisen, raten wir diese Nahrungsmittel nur zu verzehren, wenn sie ihnen auch schmecken. Vermutlich möchte Jemand Geld damit verdienen und dies funktioniert nun einmal besser mit einer „Gesundheit die man kaufen kann“ als mit dem Ratschlag einfach weniger und bewusster Nahrung zu konsumieren (Abb. 1).

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Abb. 1  Mechanismen, durch die eine erhöhte Kalorienzufuhr und starkes Übergewicht zur Krebsentstehung beitragen können

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Bewegungsmangel als Krebsursache

Die evolutionäre Erfolgsgeschichte der Menschheit ist untrennbar mit der Entwicklung des aufrechten Ganges vor rund 2 Mio. Jahren verknüpft. Diese Errungenschaft ermöglichte es dem Menschen mit geringem Energieaufwand enorme Strecken zu Fuß zu bewältigen und extrem ausdauernd zu rennen. Von nun an war es den Menschen möglich große Lebensräume für ihre Nutzung zu erschließen, erfolgreich vor Gefahren zu fliehen und zu jagen (Bramble und Lieberman 2004). Zwar sind andere Tierarten wie ­beispielsweise Geparden mit bis zu 100 km/hin noch wesentlich schneller als Menschen- die Ausdauerleistung (sog. „Kardiorespiratorische Fitness“) des Menschen nimmt jedoch im gesamten Tierreich eine herausragende Position ein und übertrifft sogar die von Pferden. Diese erstaunliche Ausdauergabe muss einen überlebenswichtigen Vorteil für die damaligen Menschen dargestellt haben. Vermutlich erlaubte es unseren Vorfahren ihre Beutetiere so lange zu verfolgen, bis diese vor Erschöpfung zusammenbrachen. Zusätzlich zu seiner herausragenden Ausdauer besitzt der Mensch noch eine bemerkenswerte körperliche Anpassungsfähigkeit an körperliche Anstrengungen und Bewegungen. Zusätzlich zu dem äußerlich sichtbaren Wachstum der Muskulatur, geschehen auch im Inneren des Körpers bei Anstrengung und Belastung unzählige Veränderungen. Das Besondere hierbei ist, dass diese Veränderungen in einer Vielzahl von Organsystemen in einer koordinierten Weise ablaufen. Dadurch kann regelmäßiger Sport, neben einer Vergrößerung des Muskelgewebes auch das Herzkreislaufsystem, die Knochendichte, das Fettgewebe, unsere Blutgefäße, das Immunsystem und die im Blut verfügbaren Hormone und Nährstoffe beeinflussen (Koelwyn et al. 2017). © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H. Heikenwälder und M. Heikenwälder, Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59277-9_5

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60     H. Heikenwälder und M. Heikenwälder Körperliche Belastungen wie beispielsweise Sport besitzen die einzigartige Fähigkeit alle Organsysteme unseres Körpers (Skelett, Muskulatur, Gefäßsystem, Immunsystem, Nervensystem, Hormonsystem und den Nährstoffgehalt des Blutes) in einer koordinierten Weise zu verändern. Dadurch stellt Sport eine extrem wirkungsvolle Möglichkeit dar, den Verlauf von komplexen Erkrankungen wie Krebs zu beeinflussen.

Unsere heutige Lebensweise hat zu einem großen Ungleichgewicht in diesem System geführt, welches auf körperliche Arbeit und Anstrengung optimiert ist. Selbst Menschen, die regelmäßig Sport treiben, erreichen heute nur noch selten das Ausmaß an täglicher körperlicher Anstrengung, welches für unsere Vorfahren üblich war. Bewegungsmangel ist zu einem bedeutenden Risikofaktor für die Entstehung von Krebserkrankungen geworden. Die Auswertung von mehr als 300 Studien zu der Frage, ob Bewegungsmangel das Krebsrisiko steigert und das Wachstum von bereits entstanden Tumoren fördert, kam zu einem eindeutigen Ergebnis (Kruk und Czerniak 2013). Am deutlichsten ist der Zusammenhang zwischen Bewegungsmangel und Darmkrebs, gefolgt von einer Form von Brust- und Gebärmutterkrebs, die nach den Wechseljahren auftritt. Weitere Krebsarten für die das Erkrankungsrisiko durch dauerhaften Bewegungsmangel um bis zu 30 % steigt sind vor den Wechseljahren auftretender Brustkrebs, Lungenkrebs, Prostatakrebs, Eierstockkrebs, Magenkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Laut Schätzungen könnten bis zu 330.000 der jährlich mit diesen Erkrankungen diagnostizierten Fälle allein in Europa vermieden werden, wenn die Bevölkerung sich ausreichend bewegen würde (Friedenreich et al. 2010). Darüber hinaus senkt Sport bekanntermaßen auch das Risiko für viele andere häufige Erkrankungen und Todesursachen wie Herzkreislauferkrankungen, Schlaganfälle und neurodegenerative Erkrankungen. Bewegungsmangel erhöht das Risiko an folgenden Krebsarten zu erkranken: Darmkrebs, Brust- und Gebärmutterhalskrebs, Lungenkrebs, Prostatakrebs, Eierstockkrebs, Magenkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Durch ausreichende Bewegung könnte ein bedeutender Anteil dieser Erkrankungen vermieden werden.

Körperliche Betätigung hat also eine schützende Funktion in Hinblick auf das Risiko an manchen Krebsarten zu erkranken. In Zukunft könnte Sport auch als Unterstützung der Krebstherapie eingesetzt werden. Wie bereits erwähnt, kann Sport gleichzeitig und dauerhaft mehrere Organsysteme

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beeinflussen, die sowohl bei der Krebsentstehung als auch beim Krebswachstum eine wichtige Rolle spielen. In einer Studie konnte beispielsweise gezeigt werden, dass körperliche Betätigung das Krebswachstum verlangsamt und die Sterblichkeitsrate reduziert (Friedenreich et al. 2016). Obwohl die positiven Auswirkungen von Sport auf das Krebsrisiko und den Krankheitsverlauf seit langem bekannt sind, ist bisher nicht eindeutig geklärt was die genauen Gründe für diese positiven Auswirkungen sind. Im vorherigen Kapitel haben wir erklärt, warum starkes Übergewicht eine bedeutende Rolle bei der Entstehung vieler Krebserkrankungen spielt. Da regelmäßige körperliche Betätigung das Körpergewicht reduziert, werden dadurch auch die damit verbundenen Krebsrisiken minimiert (wie beispielsweise erhöhte Entzündungswerte, erhöhte Leptinwerte, niedrige Adiponectinwerte, freie Fettsäuren, schädliche Stoffwechselprodukte und die aus dem Fettgewebe freigesetzten Sexualhormone (z. B. Östrogene)). Zusätzlich zum Gewichtsverlust bewirkt körperliche Betätigung aber auch noch eine Reihe weiterer interessanter körperlicher Veränderungen, die das Krebswachstum beeinflussen. Da diese Veränderungen den gesamten Körper betreffen, erreichen sie somit auch die direkte Umgebung des Tumors, die in vielfältiger Weise über dessen Wachstumsverhalten bestimmt (das sogenannte „Tumormicroenvironment“). Das Wachstumsverhalten von Körperzellen wird von Signalen aus ihrer Umgebung gesteuert. Unsere Körperzellen können sich nur dann teilen und vermehren, wenn sie durch Wachstumsfaktoren und Hormone die Erlaubnis dazu erhalten. Diese Regelung stellt sicher, dass alle Zellen in einer koordinierten und dem Nährstoffangebot entsprechenden Weise wachsen. Regelmäßige Bewegung führt zu niedrigeren Konzentrationen von Nährstoffen und Hormonen im Blut. Dies beruht jedoch nur teilweise auf dem während der Aktivitätsphase erhöhten Nährstoffverbrauch. Viele Hormone und Wachstumsfaktoren werden bei regelmäßiger körperlicher Betätigung auch dauerhaft in geringeren Mengen produziert, wie beispielsweise Östrogen, Insulin und Insulin-ähnliche Wachstumsfaktoren. Sportliche ­Menschen weisen zudem eine erhöhte Empfindlichkeit für das Hormon Insulin auf. Diese erhöhte Empfindlichkeit für Insulin bewirkt, dass Zucker schneller und effektiver aus dem Blut in Zellen aufgenommen wird und dadurch langfristig auch insgesamt weniger Insulin nach Mahlzeiten ausgeschüttet werden muss. Insulin und die Insulin-ähnlichen Wachstumshormone („Insulin-like growth factors“) spielen eine besondere wichtige Rolle im Zusammenhang mit Krebserkrankungen. Insulin besitzt zusätzlich zu seinen Funktionen im Zuckerhaushalt auch noch eine anregende Wirkung auf das Wachstum und die Vermehrung von Zellen (und damit auch Krebszellen). An Mäusen

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konnte beobachtet werden, dass körperliche Betätigung in Form eines Laufrads ausreichte, um die Entstehung von Brustkrebs zu verlangsamen. Dabei konnte im Blut der „sportlichen“ Mäuse eine Reduktion von Insulin, IGF-1 (einem Insulin-ähnlichen Wachstumshormon) und Leptin im Vergleich zu „unsportlichen“ Mäusen beobachtet werden. All diese Hormone stehen unter Verdacht in hohen Konzentrationen die Krebsentstehung und das Krebswachstum zu begünstigen und können durch regelmäßige moderate körperliche Betätigung gesenkt werden (Thompson et al. 2010). Viele weitere Studien konnten die schützende Wirkung vor Krebserkrankungen durch regelmäßige Bewegung bestätigen. Allerdings scheint es bei bereits fortgeschrittenen Krebserkrankungen je nach Krebsart und sogar je nach Patient erhebliche Unterschiede zu geben, in welchem Ausmaß regelmäßige Bewegung das Krebswachstum verlangsamen kann. Beobachtungsstudien an Krebspatienten konnten zeigen, dass die hemmende Wirkung von regelmäßiger Bewegung auf das Krebswachstum von bestimmten genetischen Veränderungen innerhalb der Tumorzellen abhängt (Koelwyn et al. 2017). Körperliche Betätigung nach einer Krebsdiagnose konnte die Sterblichkeitsrate der Patienten nur senken, wenn in deren Tumorzellen noch keine Veränderungen an bestimmten Signalwegen stattgefunden haben, die für das Zellwachstum wichtig sind (beispielsweise dem WNT-Signalweg). Waren diese Veränderungen bereits erfolgt, ermöglichte dies den Krebszellen unabhängig von Wachstumshormonen oder Wachstumsfaktoren aus ihrer Umgebung zu wachsen. In diesem Fall kann eine durch Sport bewirkte Reduktion von Wachstumshormonen im Blut das Krebswachstum nicht mehr verlangsamen. Die Krebszellen sind bereits unabhängig von diesen Signalen aus der Umgebung geworden. Um entscheiden zu können, in welchem Ausmaß Sport zur Unterstützung der Krebstherapie sinnvoll ist, müsste also zuerst bestimmt werden, welche Mutationen die Krebszellen bereits erworben haben. In Krebszellen herrscht häufig ein Zustand der sich „genetische Instabilität“ nennt. Dieser Zustand der „genetischen Instabilität“ entsteht, wenn in Krebszellen Veränderungen an Genen und Proteinen stattgefunden haben, welche für die Kontrolle der DNA Vervielfältigung und die DNA Reparatur verantwortlich sind. Sind diese wichtigen Kontrollinstanzen erst einmal außer Kraft gesetzt, häufen sich in rasantem Tempo immer weitere Mutationen an. Welch enorme Bedeutung der Identifizierung dieser genetischen Veränderungen im Rahmen der individuellen Krebstherapie zukommt, werden wir in dem Kapitel ‚Die Therapie der Zukunft“ erklären.

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Sport kann das Krebswachstum durch eine Reduktion der im Blut verfügbaren Wachstumshormone und Wachstumsfaktoren verlangsamen. Diese Wirkung kann jedoch nicht mehr erzielt werden, wenn die Krebszellen durch bestimmte Mutationen bereits unabhängig von äußeren Signalen zur Wachstumskontrolle geworden sind.

Sport kann noch auf anderen Wegen der Entstehung und dem Wachstum von Krebs entgegenwirken. Regelmäßige sportliche Betätigung führt zur Neubildung von Blutgefäßen im Skelettmuskel, um eine ausreichende Versorgung des wachsenden Muskels mit Sauerstoff und Nährstoffen zu gewährleisten. Dabei führt Sauerstoffmangel in den arbeitenden Muskelzellen zur Aktivierung von Genen und Signalwegen (z. B. HIF-1α), die für die Neubildung von Blutgefäßen verantwortlich sind (Angiogenese). In Tumoren herrscht infolge des rasanten Wachstums der Krebszellen häufig ebenfalls eine schlechte Sauerstoffversorgung. Wie im arbeitenden Skelettmuskel führt der Sauerstoffmangel in Tumoren zur Ausbildung von neuen Blutgefäßen. Allerdings sind die neu gebildeten Blutgefäße in Tumoren unnormal oder krankhaft (pathologisch) geformt. Diese krankhaften Blutgefäße innerhalb von Tumoren leisten nur eine schlechte Sauerstoffversorgung und kurbeln dadurch die Ausbildung weiterer krankhafter Blutgefäße an. Die minderwertige Gefäßausbildung scheint für den Tumor einen gewissen Vorteil zu liefern, denn durch das krankhafte und spärlich ausgebildete Gefäßnetz gelangen auch weniger Immunzellen (und auch Medikamente!) in das Innere des Tumors (Koelwyn et al. 2017). Während körperlicher Anstrengung erfolgt eine Umverteilung des Blutvolumens in unserem Körper, um eine Versorgung der arbeitenden Muskulatur, Herz und Lunge zu sichern. Dazu wird in Organen, welche nicht direkt an der Arbeit beteiligt sind (z. B. Magen-Darm-Trakt) die Durchblutung gedrosselt. Dies geschieht durch Wirkung der Neurotransmitter Noradrenalin, Adrenalin und Dopamin (sogenannte „Katecholamine“), die auf bestimmte Rezeptoren der Blutgefäße andocken können (α-Adrenorezeptoren). Es war daher eine spannende wissenschaftliche Frage zu untersuchen, auf welche Weise regelmäßige körperliche Betätigung die Sauerstoffversorgung und damit das Wachstum von Tumoren beeinflusst. Bei Mäusen konnte freiwilliges „Laufrad-Training“ die Blutgefäßbildung und dadurch Sauerstoffversorgung in Brusttumoren verbessern („vaskuläre Normalisierung“). Erstaunlicherweise führte diese verbesserte Gefäßversorgung in den aktiven Mäusen zu einem verlangsamten Tumorwachstum im Vergleich zu Mäusen die kein Laufrad zur Verfügung hatten. Diese Befunde konnten

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in weiteren Mausexperimenten für Brust- und Prostatakrebs untermauert werden. Eine weitere Studie konnte zeigen, dass die Durchblutung von Prostatatumoren entgegen aller Annahmen während körperlicher Anstrengung um 200 % steigt. Vermutlich funktioniert also die Gefäßverengung, welche normalerweise die Durchblutung der nicht direkt an der körperlichen Arbeit involvierten Organsysteme drosselt, nicht ordnungsgemäß innerhalb von Tumoren (da beispielsweise die Katecholamin-vermittelten Gefäßverengung beeinträchtigt ist). Durch Sport kann also die Blutgefäßbildung und die Sauerstoffversorgung von Tumoren verbessert werden. Dadurch wird scheinbar ein Teufelskreis durchbrochen, welcher durch eine schlechte Sauerstoffversorgung weiteres Wachstum von krankhaften Blutgefäßen und damit verbundenen gefährlichen Zellprogrammen ankurbelt. Besonders erschwerend kommt hinzu, dass manche Immunzelltypen sauerstoffarme Bereiche meiden. So konnte für die seltene Krebserkrankung des pulmonaren Fibrosarkoms (ein bösartiger Tumor der aus Bindegewebszellen in der Lunge entsteht) in Mäusen gezeigt werden, dass eine verbesserte Sauerstoffversorgung zu einer vermehrten Einwanderung von natürlichen Killerzellen in den Tumor führte und langfristig das Überleben verbesserte. In welchem Ausmaß die Verbesserung der Blutversorgung eines Tumors durch körperliche Betätigung zur unterstützenden Therapie von Krebserkrankung eingesetzt werden kann, wird momentan intensiv erforscht. Im Rahmen der Krebstherapie werden häufig Medikamente eingesetzt, welche der Gefäßneubildung in Tumoren entgegenwirken und dadurch ein Absterben von Teilen des Tumors bewirken sollen. Es handelt sich um sogenannte „Angiogeneshemmer“, welche aber tatsächlich nur bei einer geringen Prozentzahl von Patienten die gewünschte Wirkung erzielen (im besten Fall 20–30 % der Patienten). Da diese Medikamente eine schlechtere Sauerstoffversorgung im Tumor verursachen, welche mit einer schlechteren Prognose und einem aggressiveren Wachstum in Verbindung steht, ist der Einsatz dieser Medikamente bedenklich. Zukünftige Therapien sollten nach aktuellem Wissensstand also vielmehr darauf abzielen, die Gefäßversorgung innerhalb von Tumoren zu verbessern (die Gefäße zu „normalisieren“). Eine verbesserte Gefäßversorgung des Tumors könnte helfen Medikamente und Immunzellen an ihren Zielort zu bringen. Gleichzeitig könnte die verbesserte Durchblutung des Tumors den gefährlichen Auswirkungen einer schlechten Sauerstoffversorgung auf das Tumorwachstum entgegenwirken. Im Moment scheint körperliche Betätigung die einzige Möglichkeit zu sein diesen Effekt in Tumoren zu erzielen (Koelwyn et al. 2017). Regelmäßige Bewegung hat darüber hinaus bemerkenswerte Auswirkungen auf die Funktionsweise unseres Immunsystems. So ist beispielsweise bekannt,

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dass Sport die Anzahl der im Blut befindlichen Entzündungszellen reduziert und auch deren Fähigkeit zur Produktion von Entzündungsfaktoren und gefährlichen Sauerstoffverbindungen verringert. Gleichzeitig konnte gezeigt werden, dass in sportlich aktiven Mäusen die Metastasierung von Hautkrebszellen verhindert werden konnte und die Riesenfresszellen effektiver in der „Tötung“ von bösartigen Hautkrebszellen waren. Auch im Menschen wurde eine verbesserte Immunreaktion auf Krebszellen bei regelmäßiger körperlicher Betätigung beschrieben. Dafür war bei einer bestimmten Form von Brustkrebs ein mehrwöchiges moderates Training ausreichend. Während körperlicher Anstrengung wandern Immunzellen, die Krebszellen töten können, vermehrt vom Blut in das Gewebe ein und weisen einen höheren Aktivierungsstatus auf. Auf diese Weise kann Sport zu einer besseren Bekämpfung von Krebszellen im gesamten Körper führen. In älteren ­Menschen kann regelmäßiger Sport zudem das Überleben der Immunzellen verlängern. Allerdings ist es wichtig, das Training nicht zu übertreiben und dem Körper ausreichend Zeit zur Erholung und Regeneration zu geben. Als Folge eines „Übertrainings“ kann nämlich die Funktion des Immunsystemsinklusive der Überwachung auf Krebszellen beeinträchtigt werden. Bei starkem Übertraining wird dies insbesondere durch die bekannte gesteigerte Anfälligkeit für Infektionen deutlich (Koelwyn et al. 2017) (Abb. 1). Es gibt keine wissenschaftlichen Daten die darauf hinweisen, dass Sport alleine Krebs heilen kann. Der Zusammenhang zwischen regelmäßiger Bewegung und einem verminderten Krebsrisiko, sowie einer Verlangsamung des Tumorwachstums ist allerdings sehr gut belegt. Die schützende Wirkung von regelmäßiger Bewegung beruht dabei neben der Gewichtsreduktion auf einer verminderten Verfügbarkeit von Nährstoffen und Wachstumshormonen im Blut, einer verbesserten Durchblutung und Sauerstoffversorgung des Tumors, niedrigeren Entzündungswerten im Blut, sowie einer verbesserten Tumorbekämpfung durch Immunzellen.

Weitere Untersuchungen und Experimente sind notwendig, um herauszufinden welche Krebserkrankungen und Patientengruppen besonders von den Auswirkungen des körperlichen Trainings profitieren könnten. Zudem wird es notwendig sein, im Rahmen einer unterstützenden Krebstherapie die richtige Trainings-Dosis zu finden, ohne die Gesundheit des Patienten unnötig zu belasten. Studien belegen, dass sich körperliche Aktivität sehr positiv auf den oftmals kritischen Gemütszustand von Krebspatienten auswirkt und auch körperlich gut vertragen wird. Im Moment laufen zwei große internationale klinische Studien bereits in der 3.Phase, welche die

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Abb. 1  Mechanismen durch die körperliche Aktivität das Krebsrisiko senken und das Krebswachstum verlangsamen kann

Auswirkungen von Sport auf den Krankheitsverlauf von Darmkrebs (Stufe 2–3) und metastasierenden Prostatakrebs untersuchen (Courneya et al. 2008; Koelwyn et al. 2017; 2019).

Literatur 2019. Intense exercise for survival among men with metastatic castrate-resistant prostate cancer – Full text view – ClinicalTrials.gov. https://clinicaltrials.gov/ct2/ show/NCT02730338. Bramble, Dennis M., und Daniel E. Lieberman. 2004. Endurance running and the evolution of Homo. Nature 432:345. Courneya, K.S., et al. 2008. The colon health and life-long exercise change trial: A randomized trial of the National Cancer Institute of Canada clinical trials group. Current oncology (Toronto) 15:279–285. Friedenreich, Christine M., Heather K. Neilson, und Brigid M. Lynch. 2010. State of the epidemiological evidence on physical activity and cancer prevention. European Journal of Cancer 46:2593–2604. Friedenreich, Christine M., Heather K. Neilson, Megan S. Farris, und Kerry S. Courneya. 2016. Physical activity and cancer outcomes: A precision medicine approach. Clinical Cancer Research 22:4766–4775.

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Bindemittel, Ballaststoffe und Darmentzündungen

In welchem Ausmaß wir Krebserkrankungen durch unsere Ernährung und unseren Lebensstil verursachen, beginnen wir gerade erst zu verstehen. Die Anzahl fragwürdiger Zusatzstoffe, die Lebensmitteln beigesetzt werden ist mittlerweile unüberschaubar groß geworden. Die damit verbundenen Risiken sind den Behörden und Lebensmittelherstellern teilweise sogar bekannt. Allerdings berufen diese sich häufig auf theoretische Annahmen zu den konsumierten Mengen. Eine besondere Gefahr bilden dabei insbesondere solche Substanzen, die sehr vielen Nahrungsmitteln beigesetzt werden. In diesem Fall kann es schnell zu einer Überschreitung der geschätzten Verzehrsmengen kommen. Besonders gefährlich ist, dass gesundheitsschädliche Stoffe regelmäßig mit dem irreführenden Label „rein pflanzlich“ oder „natürlich“ versehen werden. Die neuen Erkenntnisse zu den Mechanismen der Krebsentstehung belegen, dass Substanzen aus unserer Umwelt und Nahrung nicht zwangsweise selbst krebserregend sein müssen, um bei der Entstehung von Krebs eine entscheidende Rolle zu spielen. Es genügt, wenn diese Substanzen eine krebsfördernde Wirkung haben, indem sie Krebszellen zum Wachstum anregen oder krebsfördernde Bedingungen schaffen. Eine besondere Gefahr geht dabei von Nahrungsbestandteilen und Umwelteinflüssen aus, die bei regelmäßigem Konsum eine dauerhafte Entzündungsreaktion verursachen können. Diese dauerhaften Entzündungen sind in der Lage direkt zur Entstehung und dem Voranschreiten von Krebserkrankungen beizutragen. Ein sehr gutes Beispiel ist der pflanzliche Zusatzstoff Carrageen, der in zahlreichen Produkten zu finden ist. Es ist beispielsweise nahezu unmöglich © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H. Heikenwälder und M. Heikenwälder, Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59277-9_6

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in einem Supermarkt Sahne ohne zugesetztes Carrageen zu finden. Daneben können auch diverse Milchgetränke aus dem Kühlregal, Sojamilch, Mandelmilch, Desserts, Zahnpasta und sogar Babynahrung Carrageen enthalten. Carrageen dient in diesen Produkten als Bindemittel, um eine cremige Konsistenz zu erzeugen. Carrageen ist auch für die Verwendung in Bio-Lebensmitteln zugelassen, da es „ganz natürlich“ aus Algen gewonnen wird. Die Science-Fiction Liebhaber unter Ihnen kennen Carrageen vielleicht aus den „Alien“ Klassikern von Ridley Scott, in denen in Wasser gelöstes Carrageen den Aliens aus dem Mund läuft und durch seine korrosiven Eigenschaften Löcher in Raumschiffe ätzt. Glücklicherweise ist diese Eigenschaft des Carrageens rein fiktiv. Dennoch besitzt Carrageen die Fähigkeit bedeutende Schäden in der Schleimhaut des Darms zu verursachen. Carrageen wird seit Jahrzehnten als zuverlässiges Mittel in der medizinischen Forschung verwendet, um bei Tieren wie Ratten, Mäusen und Meerschweinchen Darmentzündungen und sogar Dickdarmpolypen (eine Vorstufe von Darmkrebs) zu verursachen. Um diese gefährlichen Krebsvorstufen zu erzeugen, ist es ausreichend den Tieren nur wenige Wochen eine sehr geringe Menge an Carrageen in ihrem Trinkwasser beizusetzen (Martino et al. 2017). Den Behörden sind diese Daten nicht neu. Diese Wirkung von Carrageen ist seit 1980 bekannt und wurde seitdem intensiv erforscht. Der Antrag der internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) Carrageen als karzinogenes Risiko für den Menschen einzustufen wurde bereits 1982 abgelehnt. Immerhin wurde die täglich empfohlene Dosis von der WHO und der FDA (U.S. Food and Drug Administration) auf 75 mg pro Kilogramm Körpergewicht gesetzt. Das bedeutet, dass ein Erwachsener von 70 kg Körpergewicht täglich 5,25 g Carrageen verzehren darf. Da vor allem die niedermolekularen Abbauprodukte des Carrageens (6 Monate) gelten als Schutzfaktoren. Vermutlich verbessern diese beiden Faktoren die Immunfunktion des Kindes und schützen es dadurch vor potenziell Krebs verursachenden Infektionen.

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Wird die Stillzeit erst beendet, nachdem das Immunsystem des Kindes ausreichend entwickelt ist (also ab einem Alter zwischen 1–2 Jahren), kann eine Infektion mit den in Rindfleisch und Kuhmilchprodukten versteckten Erregern möglicherweise verhindert werden. Alternativ könnte auf die Einführung von Rindfleisch oder Kuhmilchprodukten verzichtet werden, was aber bei nicht gestillten Kindern schwierig ist, da nahezu jeder käufliche Muttermilchersatz auf Kuhmilch basiert. Nicht zu verwechseln ist dieser vor Krebs schützende Mechanismus im Neugeborenen mit dem bekannten niedrigeren Risiko für manche Krebserkrankung in der stillenden ­Mutter selbst. So sinkt beispielsweise das Brustkrebsrisiko bei Frauen je mehr ­Kinder eine Frau gestillt hat und je länger die Stillzeit andauerte. Dieser protektive Effekt beruht auf hormonellen Veränderungen, welche durch eine lange Stillzeit verursacht werden. Epidemiologische Daten deuten klar darauf hin, dass das Risiko an Brustkrebs zu erkranken mit der Anzahl an Menstruationszyklen zusammenhängt, welche eine Frau ihm Laufe ihres Lebens durchläuft. Folglich sind neben einer langen Stillzeit und hohen Kinderzahl, auch ein später Menstruationsbeginn und ein früher Eintritt in die Wechseljahre mit einem niedrigeren Brustkrebsrisiko assoziiert. Frauen die bereits mit 45 Jahren in die Wechseljahre kommen haben nur ein halb so hohes Risiko an Brustkrebs zu erkranken, wie Frauen die erst mit 55 ­Jahren in die Wechseljahre kommen. Es ist möglich, dass auch die stillende Mutter selbst von der Produktion der schützenden Zuckerverbindungen profitiert, indem diese auch sie vor Infektionen schützen. Bei mehrfachen Müttern konnten diese Zuckerverbindungen auch langfristig nachgewiesen werden und könnten somit ebenfalls zu den positiven gesundheitlichen Auswirkungen von Schwangerschaft und Stillzeit auf das Krebsrisiko beitragen. Zwar enthält auch Kuhmilch ähnliche Zuckerverbindungen- jedoch unterscheiden sich diese von den menschlichen und leisten bei der Verhinderung von Infektionen im Menschen keinen Beitrag, da sie der Abwehr von rinderspezifischen Infektionen dienen. Soweit die epidemiologischen Daten. Diese sind selbstverständlich trotz ihrer enormen Fülle bisher nur korrelativ und der finale Beweis des kausalen Zusammenhangs steht noch aus. Was noch fehlt ist letztendlich die eindeutige Bestätigung des krebsverursachenden Erregers in Rindfleisch und Kuhmilch. Allerdings gelang erst kürzlich ein möglicher Durchbruch auf der Suche nach diesem Erreger. Die Forscher am Deutschen Krebsforschungszentrum entdeckten eine Vielzahl sehr kleiner kreisförmiger DNA Moleküle in Blutproben von gesunden Rindern und in Kuhmilchprodukten aus Supermärkten. Die Milchprodukte umfassten neben Kuhmilch beispielsweise Joghurt, Frischkäse und Butter und stammten aus beliebigen Supermärkten

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in Heidelberg. Der Nachweis dieser neu entdeckten kleinen ringförmigen DNA Moleküle gelang in allen Produktkategorien, unabhängig von der Produktmarke und dem Geschäft in dem es gekauft wurde (Funk et al. 2014; Lamberto et al. 2014; Whitley et al. 2014; Falida et al. 2017). Sehr ähnliche kleine ringförmige DNA Moleküle konnten Wissenschaftler auch in Gehirnproben von Patienten mit neuronalen Erkrankungen (Multiple Sklerose) nachweisen (Eilebrecht et al. 2018). Die auf diesen DNA Molekülen gespeicherte genetische Information weist sehr starke Überlappungen mit DNA Molekülen auf, die man bei Schafen nachweisen konnte, die an Scrapies erkrankt waren (eine dem Rinderwahnsinn ähnliche Krankheit). Das der Nachweis dieser neuen DNA Moleküle lange Zeit nicht gelang, lag an einem technologischen Problem, da besonders kurze DNA Moleküle bei der Analyse systematisch eliminiert wurden. Erst als die Forscher keinen Erreger fanden und begannen auch sehr kurze Sequenzen mit in die Auswertungen einzubeziehen, stießen sie endlich auf die kleinen ringförmigen DNA Moleküle. Diese neu entdeckten DNA Moleküle wurden BMMFs genannt, was für „Bovine Meat and Milk Factors“ steht. Die Virus-ähnliche ringförmige DNA dieser BMMFs weist große Übereinstimmungen mit Plasmidsequenzen von Bakterien der Art Acinetobacter baumannii auf (Eilebrecht et al. 2018). Plasmide sind besonders kleine ringförmige DNA Moleküle in Bakterien, die zwischen Bakterien untereinander ausgetauscht werden können. Auf diesen Plasmiden sind häufig für die Bakterien wichtige Funktionen gespeichert wie beispielsweise Antibiotikaresistenzen. Durch den Austausch von Plasmiden können Bakterien diese Resistenzen an ihre Artgenossen weitergeben. Ähnlich wie Viren benötigen Plasmide für ihre Vervielfältigung einen Wirt. Anders als Viren können sie jedoch keine Hülle oder Kapsel bilden. Das Vorkommen und die Funktion von Plasmiden in Zellen höherer Lebewesen wie dem Menschen ist bisher noch sehr wenig erforscht. Wissenschaftlern gelang kürzlich der Nachweis von sehr kleinen Virus-ähnlichen ringförmigen DNA Molekülen in Blutproben von Rindern und Milchprodukten aus Supermärkten. Diese neu entdeckten DNA Moleküle werden als „Bovine Meat and Milk Factors“ (BMMFs) bezeichnet und ähneln bekannten DNA Molekülen, die in Gehirnproben von Patienten mit neuronalen Erkrankungen gefunden wurden.

In Laborversuchen gelang es, eine Bioaktivität dieser kleinen ringförmigen DNA Moleküle in menschlichen Zellen nachzuweisen. Bringt man die kleinen

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ringförmigen DNA Moleküle in menschliche Zellen ein, so vermehren sich die DNA Moleküle eigenständig, was auf eine spezifische Anpassung an das Leben in menschlichen Zellen hinweist. Zudem konnten auch Genprodukte dieser DNA Moleküle in den menschlichen Zellen nachgewiesen werden (­Eilebrecht et al. 2018). Bei den Genprodukten handelt es sich um Proteine, die vermutlich eine Rolle bei der Vervielfältigung von DNA und der Zellteilung spielen (sogenannte „Replication Initiator Proteine“), was bei der Entstehung von Krebserkrankungen eine Rolle spielen könnte. Für die erfolgreiche und langfristige Vermehrung der DNA Moleküle in den menschlichen Zellen war in einigen Fällen das Vorhandensein mehrerer verschiedener Typen dieser ringförmigen DNA Moleküle notwendig. Diese Beobachtung zeigt, dass sich manche der kleinen ringförmigen DNA Moleküle auf ein Zusammenleben in unseren Zellen angepasst haben und auf die Bereitstellung wichtiger Proteine durch ihre Partner verlassen. Möglicherweise sind die kleinen ringförmigen DNA-Moleküle auch in den Zellen von Menschen auf die gleichzeitige Infektion mit sogenannten Hilfsviren angewiesen sind. Als Kandidaten kommen beispielsweise Herpesviren (wie das Epstein Barr Virus) infrage, welche ebenfalls mit einem erhöhten Krebsrisiko und neurodegenerativen Erkrankungen assoziiert sind. Da nahezu Jeder von uns mit diesen Viren infiziert ist, bedarf es eines weiteren Auslösers, um eine dieser ernsthaften Erkrankungen zu verursachen. Neben einer Infektion mit dem Epstein-Barr Virus ist beispielsweise auch Vitamin D Mangel mit neurodegenerativen Erkrankungen und einem erhöhten Risiko für Brustkrebs und Darmkrebs assoziiert. Interessanterweise wurde bei Menschen die einen Vitamin D Mangel aufweisen, wie beispielsweise Teilnehmern von Antarktis Expeditionen, eine Reaktivierung des Epstein Barr Virus beobachtet. Gleichzeit ist bekannt, dass Erkrankungen wie Multiple Sklerose in südlicheren und damit sonnenreicheren Regionen der Erde viel seltener vorkommen als in nördlichen Regionen (Nord-Süd-Gefälle). In Laborexperimenten konnte das Epstein Barr Virus durch die Zugabe eines Signalmoleküls aktiviert werden, welches im Menschen durch Vitamin D3 unterdrückt wird (zur Hausen et al. 2017). Diese aktuellen und brisanten Daten bieten einen Einblick in die mögliche Komplexität von Erkrankungen und deren Entstehungsmechanismen. Obwohl noch weitere fundierte Studien notwendig sind, um diese Hypothese final zu beweisen, sind die rein epidemiologischen Daten äußerst aufschlussreich. BMMFs können sich unter Laborbedingungen in menschlichen Zellen vermehren. Einige der entdeckten BMMFs benötigten hierfür die Hilfe anderer BMMFs. Im Menschen könnten auch Hilfsviren wie beispielsweise das Epstein-Barr-Virus diese Rolle übernehmen, da die Infektion mit diesen Viren ebenfalls mit einem erhöhten Krebsrisiko und Multipler Sklerose assoziiert sind.

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Abschließend ist wichtig anzumerken, dass die entscheidende Infektion mit diesen Erregern vermutlich zu einem sehr frühen Zeitpunkt in unserem Leben stattfindet und die Entwicklung einer Krebserkrankung viele Jahre bis Jahrzehnte benötigt (zur Hausen et al. 2019). Auf diesen Zeitraum haben wir im Erwachsenenalter rückwirkend keinen Einfluss. Es ist sicherlich ratsam auf eine gute Vitamin D Versorgung und eine ausgewogene Ernährung zu achten. Unser Körper ist in der Lage Vitamin D selbst mit der Hilfe von Sonnenlicht herzustellen, aber auch einige Nahrungsmittel wie Fisch, Nüsse und Pilze sind ausgezeichnete Vitamin D Quellen. Im Winter kann im Bedarfsfall auch auf eine medikamentöse Einnahme zurückgegriffen werden. In Bezug auf das Stillen wäre es ratsam Babys mindestens ein Jahr zu Stillen oder zumindest eine Weile weiter zu stillen während Kuhmilchprodukte und Rindfleisch eingeführt werden. Somit kann das Kind im besten Fall eine Immunität entwickeln bevor eine Infektion mit dem Erreger im ungeschützten Magen-Darm-Trakt des Säuglings erfolgt (zur Hausen et al. 2017). In Blutproben von gesunden Menschen konnten tatsächlich Antikörper gegen die Genprodukte (Proteine) der in Kuhmilch entdeckten ringförmigen kleinen DNA Moleküle nachgewiesen werden (zur Hausen et al. 2019). Dies weist darauf hin, dass unser Immunsystem generell in der Lage ist, eine Immunantwort gegen die von den kleinen DNA Molekülen produzierten Proteine zu richten. Wie wir in dem Kapitel über das Immunsystem beschrieben haben, können Krankheitserreger durch ihre fremden Proteine an das Immunsystem verraten werden. Dies geschieht indem die Zellen Stückchen der fremden Proteine mithilfe ihrer „Ausweisproteine“ auf der Zelloberfläche für das Immunsystem sichtbar präsentieren. Werden diese von Immunzellen erkannt, entwickelt sich eine gezielte Immunantwort gegen diese fremden Proteinstückchen und die infizierten Zellen werden vernichtet. Auf diesem Weg könnten Zellen die mit den kleinen Ringförmigen DNA Molekülen infiziert wurden regelmäßig aus unserem Körper beseitigt werden und die Entstehung einer Krebserkrankung nach vielen Jahren bis Jahrzehnten verhindert werden. Es wird in Zukunft spannend sein die weitere Entwicklung dieser Forschungsarbeiten zu verfolgen. Bis dahin wird es schwierig eindeutige Empfehlung auszusprechen wie man sich selbst am effektivsten schützen kann. Der Umstieg auf milchfreie Alternativen ist unter Vorbehalt zu empfehlen, da viele der Ersatzprodukte wie beispielsweise Sojamilch mit bedenklichen Zusatzstoffen wie Bindemitteln versetzt werden (siehe Kapitel Bindemittel, Ballaststoffe und Darmentzündungen). Hier empfehlen wir die Inhaltsstoffe genau zu prüfen, besonders wenn man diese Produkte regelmäßig und in größeren Mengen konsumiert. Es ist zudem fragwürdig, ob

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der Verzicht auf Rindfleisch und Kuhmilch im Erwachsenenalter überhaupt einen schützenden Effekt hat, da die Studien vor allem auf ein Erkrankungsrisiko in den ersten Lebensjahren hinweisen (zur Hausen et al. 2017, 2019). Wir „Erwachsenen“ sind also vermutlich sowieso schon infiziert und uns bleibt als einzige Schutzmaßnahme auf einen gesunden Immunstatus zu achten und eine Reaktivierung von möglichen Hilfsviren zu verhindern (indem wir beispielsweise auf eine ausreichende Vitamin D Versorgung achten). Den einfachsten Schutzmechanismus vor einer Infektion mit den ringförmigen DNA Molekülen stellt also bislang vermutlich eine längere Stillzeit dar und insbesondere das Stillen zur Zeit der Einführung von fester Nahrung wie Fleisch und Milchprodukten. In den Fällen, in denen das Stillen nicht möglich ist, empfehlen wir gespendete menschliche Muttermilch in Erwägung zu ziehen. So befremdlich es für uns in der westlichen Welt klingen mag, so üblich ist diese Praktik in anderen Teilen der Welt. Aber auch bei uns existieren zunehmend Zentren, in denen stillende Mütter ihre überschüssige Muttermilch an andere Mütter spenden können. Die Beweggründe für diese Zentren sind bisher vor allem ein veganer Lebensstil oder einfach der Wunsch seinem Nachwuchs die bekannten positiven Wirkungen der Muttermilch zugute kommen zu lassen. Erst seit Kurzem ist bekannt, dass menschliche Muttermilch sogar Stammzellen enthält, die sogenannten „human milk stem cells“. Welche Funktion diese Stammzellen im Säugling haben und welche neuen Therapien sich möglicherweise aus diesen leicht zugänglichen Stammzellen ergeben, wird momentan intensiv erforscht (Cacho und Lawrence 2017). Aus evolutionärer Sicht sind Infektionskrankheiten vor allem dann besonders schädlich, wenn sie neu auf eine Art übergreifen. In der neuen Art trifft der Erreger auf einen vollkommen ungeschützten Gastgeber und führt meist schnell dessen Tod herbei. So ist es beispielsweise aus der Sicht eines Virus, das sich nur mithilfe des Wirtes vermehren und überleben kann, kein erstrebenswertes Ereignis dessen Tod herbeizuführen. Der Tod des ­ Wirtes bedeutet auch für das Virus das Ende der Vermehrungsphase und je nach Beschaffenheit des Virus meistens auch dessen eigenes Ende. Ohne den Wirt sind die Viruspartikel der Gefahr der Austrocknung und anderen schädlichen Einflüssen, wie beispielsweise UV-Strahlung ausgesetzt. Auf lange Sicht sind also diejenigen Viren erfolgreicher, die ihren Wirt nicht töten. Mit dem Laufe der Zeit entwickeln sich Krankheitserreger wie Viren zudem in einer Art Wettbewerb mit dem Immunsystem. Auf jede Veränderung eines Krankheitserregers folgt eine Anpassung des Immunsystems. Viele gut angepasste Virusinfektionen erfolgen daher vollkommen unbemerkt und einige davon verbleiben sogar für immer unbemerkt in unseren Zellen. Da tierische Produkte seit Urzeiten einen

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Bestandteil der menschlichen Ernährung darstellen, ist anzunehmen, dass sich ein schützender Mechanismus gegen die enthaltenen DNA Moleküle bereits entwickelt hat. Die bisherigen epidemiologischen und experimentellen Daten bestätigen, dass der menschliche Körper sich vor diesen Erkrankungen schützen kann, wenn wir ihn nur sein uraltes biologisches Schutzprogramm in Ruhe erfüllen lassen.

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Krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen

Wenn allgemein von „krebserregenden“ Substanzen oder Umweltfaktoren die Rede ist, denkt man dabei insbesondere an sogenannte „Karzinogene“. Klassische Karzinogene können direkt Veränderungen in unserer Erbinformation verursachen, die man Mutationen nennt. DNA Mutationen sind für die meisten Menschen gleichbedeutend mit einer dauerhaften und irreversiblen Schädigung des Erbgutes und scheinen daher ein gravierendes Ereignis darzustellen. In Wirklichkeit ist die Wirkung dieser klassischen Karzinogene häufig aber wesentlich geringer als unsere Intuition es vermuten lässt. Dies liegt an den extrem zuverlässigen Schutzmechanismen unseres Körpers, die uns vor der Ansammlung dieser dauerhaften Schäden im Laufe des Lebens bewahren. Auch ohne den Kontakt mit Karzinogenen, entstehen in jeder einzelnen Zelle unseres Körpers täglich tausende DNA Mutationen. Verursacht werden diese Mutationen in erster Linie durch Stoffwechselprodukte oder durch Substanzen die von Entzündungszellen produziert werden. Die meisten DNA Mutationen werden also durch Substanzen aus unserem eigenen Körper verursacht. Tatsächlich gelang es bisher nur bei relativ wenigen Krebserkrankungen einen ursächlichen Zusammenhang mit bestimmten Karzinogenen herzustellen (beispielsweise Zigarettenrauch). Gleichzeitig unterschätzen wir häufig Umwelteinflüsse oder Substanzen, die in einem bedeutenden Ausmaß die Krebsentstehung fördern. Diese Substanzen und Umwelteinflüsse können die Krebsentstehung auf sehr unterschiedliche Weise beeinflussen, ohne dabei Mutationen in unserem Erbgut zu erzeugen. In diesem Kapitel werden wir erklären, welche Umwelteinflüsse, Substanzen oder Erkrankungen die Entstehung von Krebserkrankungen © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 H. Heikenwälder und M. Heikenwälder, Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59277-9_8

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fördern. Zudem werden wir erklären, dass es einen Unterschied zwischen „krebserregenden“ und sogenannten „krebsfördernden“ Stoffen gibt und wie diese sich auf das persönliche Krebsrisiko auswirken. Lange Zeit vermutete man, dass Krebserkrankungen lediglich die unglückliche Folge von einzelnen oder mehreren DNA Mutationen in wichtigen Genen für die Kontrolle des Zellwachstums sind. Eine Zelle mit diesen genetischen Veränderungen vermehrt sich unkontrolliert und führt nach einer gewissen Zeit zur Ausbildung eines Tumors. Dementsprechend überraschend waren die Beobachtungen, die in den letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung von genetisch veränderten Mäusen möglich wurden. So wurden zum Zwecke der Erforschung und Heilung von Krebserkrankungen genetisch veränderte Mäuse erzeugt, die in ihrer DNA bestimmte Mutationen tragen, die in menschlichen Krebszellen für die krankhafte Entartung verantwortlich gemacht wurden. Tatsächlich entwickelten oftmals nur wenige dieser Mäuse überhaupt Tumoren, die zudem auf wenige bestimmte Organsysteme beschränkt waren. Dies war äußerst verwunderlich, denn die Mäuse trugen die für das Krebswachstum verantwortliche DNA Mutation in jeder einzelnen Zelle ihres Köpers. Scheinbar waren die genetischen Veränderungen alleine nicht ausreichend, um zuverlässig und reproduzierbar zur Entstehung von Krebserkrankungen zu führen. In denjenigen Organen, in denen es gelang, musste also noch ein weiterer unbekannter Faktor hinzukommen, der das Krebswachstum ermöglicht. Auch im Falle von menschlichen Krebserkrankungen scheinen einzelne genetische Mutationen alleine selten auszureichen. Wir wissen heute, dass Zellen ungefähr 5 bedeutende genetische Veränderungen erreichen müssen, um zu einer ernsthaften Gefahr für unsere Gesundheit zu werden. Aber selbst die Ansammlung von genetischen Mutationen im Laufe des Lebens ist keine ausreichende wissenschaftliche Erklärung für die Entstehung der meisten Krebserkrankungen. Die Ursache hierfür ist ganz einfach die extreme Zuverlässigkeit der DNA Reparatur und der Schutzmechanismen unseres Körpers. Vereinzelte genetische Mutationen, die während eines Menschenlebens erworben werden, können lediglich den Startpunkt für die Entstehung von Krebserkrankungen geben. Damit sich aus diesen genetischen Veränderungen während unserer Lebenszeit ein bösartiger Tumor entwickeln kann, bedarf es in fast allen Fällen der Wirkung krebsfördernder Umwelteinflüsse, Lebensgewohnheiten oder Erkrankungen. Zum besseren Verständnis werden wir den Begriff „krebserregend“ für solche Substanzen reservieren, die in der Lage sind genetische Veränderungen (in Form von DNA Mutationen oder DNA Brüchen) zu generieren (z. B. Karzinogene oder UV-Strahlung).

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Substanzen und Umwelteinflüsse, die hingegen in der Lage sind das Wachstumsverhalten und Überleben von Krebszellen zu beeinflussen, ohne direkte Schäden an der Erbinformation zu verursachen, werden wir als „krebsfördernd“ bezeichnen. Da diese Krebsförderer (auch „Tumorpromotoren“ genannt), meist dauerhaft auf unsere Körperzellen einwirken (und somit auch auf solche Zellen, die bereits eine oder mehrere Mutationen erworben haben) geht von ihnen ein deutlich höheres Gefährdungspotenzial aus, als von dem vereinzelten Kontakt mit Karzinogenen. Karzinogene können Mutationen in unserer Erbinformation verursachen und gelten daher als krebserregend. Vereinzelte DNA Mutationen alleine sind jedoch nur extrem selten in der Lage Krebserkrankungen zu verursachen. Erst wenn das Überleben und Wachstum von Zellen mit gefährlichen DNA Mutationen durch krebsfördernde Umwelteinflüsse oder Erkrankungen unterstützt wird, steigt unser Risiko an Krebs zu erkranken deutlich an. Die Identifizierung von Krebsförderern ist im Vergleich zu Karzinogenen schwierig, da ihre Beschaffenheit und Wirkungsweise sehr verschieden sein kann.

Krebsförderer sind also besonders gefährlich für unsere Gesundheit, da sie die Krebsentstehung aus bereits geschädigten, aber ansonsten noch unauffälligen Körperzellen begünstigen. Gleichzeitig ist es besonders schwierig solche Krebsförderer zu identifizieren, da sie von verschiedener Beschaffenheit sein können und sich auch in ihrer Wirkungsweise erheblich unterscheiden. So können beispielsweise Hormone, Medikamente, Infektionen, Chemikalien und physikalische oder chemische Einwirkungen als Krebsförderer agieren. Einige Beispiele für Krebsförderer sind in Abb. 1 dargestellt. Besonders eindrücklich lässt sich das Zusammenspiel von Karzinogenen und Krebsförderern an einer Krebserkrankung des Mund- und Rachenraums bei starken Rauchern beobachten. Zigarettenrauch enthält unzählige krebserregende Substanzen, welche Mutationen in der DNA verursachen können. Interessanterweise ist aber das Risiko an Krebs im Mund- und Rachenraum zu erkranken bei starken Rauchern, die zusätzlich regelmäßig hochprozentigen Alkohol trinken 100-fach erhöht. Alkohol (Ethanol) ist selbst kein Karzinogen und daher nicht in der Lage DNA Mutationen zu verursachen. Stattdessen tötet Alkohol in hohen Konzentrationen die oberste Zellschicht, die den Mund und Rachenraum auskleidet (50–70 % Alkohol bringt Zellen zum Platzen, worauf auch seine desinfizierende Wirkung beruht). Auf den Verlust dieser oberen schützenden Zellschicht reagieren die tiefer liegenden Zellschichten mit einer erhöhten Teilungsrate, um die verloren gegangenen Zellen zu ersetzten. Diese stimulierende Wirkung auf das

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Abb. 1  Bekannte Krebsförderer und ihr Wirkungsort in unserm Körper. Die Daten wurden übernommen und ergänzt aus Preston-Martin et al. (1990), Balkwill et al. (2005) und Weinberg (2014)

Wachstum der Zellen ist ausreichend, um das Krebsrisiko zu verhundertfachen (Weinberg 2014). Der Alkohol übernimmt in diesem Fall die Rolle eines Krebsförderers. Dieses Beispiel veranschaulicht, wie zuverlässig die Schutzmechanismen unseres Körpers uns vor krebserregenden Substanzen (Karzinogenen) schützen. Gleichzeitig verdeutlicht es, wie zerstörerisch das Wirken von Krebsförderern auf diese Kontrollmechanismen wirkt.

Hormone als Krebsförderer Wir haben bereits erwähnt, dass auch körpereigene Substanzen Mutationen in unserer DNA verursachen können, also als Krebserreger fungieren. Dasselbe trifft auch für die Krebsförderer zu, die in Form von Hormonen,

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Entzündungen, Infektionen oder unserer Darmflora in Erscheinung treten können. Beispielsweise wirkt das weibliche Sexualhormon Östrogen im Fall von Brustkrebs als Krebsförderer. Daher kann die Entfernung der Eierstöcke, die für den Großteil der Östrogenproduktion zuständig sind, das Brustkrebsrisiko um 90 % senken (Östrogen wird zu einem geringeren Teil auch in der Nebennierenrinde produziert). Frauen, die erst nach dem Eintritt in die Wechseljahre an Brustkrebs erkranken haben im Schnitt einen um 15 % höheren Östrogenspiegel im Blut als gesunde Frauen. Gleichzeitig erklären diese Daten, weshalb die Einnahme von weiblichen Hormonen nach Beginn der Wechseljahre mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko assoziiert ist. Allgemein gilt, dass das Brustkrebsrisiko umso geringer ist, je weniger Menstruationszyklen eine Frau in ihrem Leben durchlaufen hat. Folglich sind sowohl ein spätes Einsetzen der ersten Regelblutung, als auch häufige Schwangerschaften, eine lange Stillzeit und ein frühes Einsetzten der Wechseljahre mit einem deutlich verringerten Brustkrebsrisiko assoziiert. Im 19. Jahrhundert galt Brustkrebs als Plage in italienischen Nonnenklöstern, da Brustkrebs in der Normalbevölkerung nur äußerst selten vorkam (­insbesondere angesichts der damals hohen Geburtenzahlen) (Weinberg 2014). Wir können die Menge der von unserem Körper produzierten Sexualhormone direkt durch unseren Lebensstil beeinflussen. Sowohl Übergewicht als auch Bewegungsmangel können die Sexualhormonwerte im Blut erhöhen. Übrigens können Männer ebenfalls an Brustkrebs erkranken, wenn auch bedeutend seltener mit lediglich 651 jährlichen Neuerkrankungen im Vergleich zu den ungefähr 70.000 Neuerkrankungen bei Frauen (2019). Männer besitzen Brustdrüsengewebe und produzieren auch niedrige Mengen an Östrogenen. Im Körper eines Mannes kann das männliche Sexualhormon Testosteron im Fettgewebe zum einem gewissen Anteil enzymatisch in Östrogen umgewandelt werden. Daher steigt auch bei männlichen Patienten das Risiko an Brustkrebs zu erkranken mit einer Zunahme des Körpergewichts an. Östrogen wirkt als Krebsförderer, indem es das Wachstum von Zellen in der Brust und der Gebärmutter stimuliert, in die es mit Hilfe von bestimmten Molekülen aufgenommen werden kann („Östrogen-Rezeptor“). Die krebsfördernde Wirkung entfach sich allerdings erst in Kombination mit Zellen die bereits durch bestimmte DNA Mutationen „vorbelastet“ sind. Diese genetische Vorbelastung kann entweder im Laufe des Lebens erworben sein oder durch angeborene Mutationen seit Beginn des Lebens bestehen. Folglich wirkt Östrogen auch in solchen Patientinnen und Patienten als Krebsförderer, die Träger einer der erblichen Genmutationen BRCA1 oder BRCA2 sind. Obwohl diese Genmutationen, die ein wichtiges Enzym für die DNA Reparatur schädigen, in jeder einzelnen Körperzelle ihres Trägers vorhanden sind,

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können sie nur unter dem Einfluss von Östrogen in Brust und Gebärmutter zu Krebserkrankungen führen. Während manche Träger im Laufe ihres gesamten Lebens nicht erkranken (und in hohem Alter an einer anderen Todesursache versterben), erkranken andere bereits in sehr j­ungen Jahren. Neben der persönlichen genetischen Veranlagung (es kann beispielsweise noch eine andere zusätzliche angeborene Mutation vorliegen), spielen hierbei Krebsförderer eine entscheidende Rolle. Eine bedeutende wissenschaftliche Studie aus dem Jahre 2003 zeigte eindrücklich, dass sich das Risiko für Trägerinnen der erblichen Form von Brustkrebs (BRCA1 und BRCA2) im letzten Jahrhundert mehr als verdoppelt hat (King et al. 2003). Die Autoren der Studie führten diesen Anstieg im Erkrankungsrisiko insbesondere auf ein erhöhtes Körpergewicht und Bewegungsmangel bei Frauen zurück, die nach 1940 geborenen wurden. Übergewicht und Bewegungsmangel führen auch bei Männern zu erhöhten Sexualhormonwerten im Blut. Ähnlich der krebsfördernden Wirkung von Östrogenen auf das Brustgewebe, wirkt daher Testosteron im Mann als Krebsförderer auf das Prostatagewebe (Weinberg 2014). Interessanterweise können Sexualhormone auch das Verhalten von Immunzellen beeinflussen. So wirkt Östrogen beispielsweise stimulierend auf Immunzellen und ist vermutlich für das erhöhte Risiko von Frauen an Autoimmunerkrankungen wie multipler Sklerose zu erkranken verantwortlich. Einige chemische Verbindungen haben in unserem Körper eine Östrogen-ähnliche Wirkung. Ein weit verbreitetes Beispiel ist Bisphenol A (BPA), das als Ausgangsstoff für die Herstellung von Kunstoffen dient. Über Trinkflaschen und Thermopapiere wie Kassenbons gelangt Bisphenol A in unseren Körper und die Umwelt. Aufgrund der krebsfördernden Funktion von Östrogenen, kann Bisphenol A nicht nur Auswirkungen auf den menschlichen Hormonhaushalt, sondern auch Auswirkungen auf das Brust- und Gebärmutterkrebsrisiko haben.

Krebsfördernde Entzündungen und Infektionen Entzündungen können als mächtige Krebsförderer in bestimmten Organen oder dem gesamten Körper wirken. Sie nehmen zudem eine besondere Stellung unter den Krebsförderern ein, da sie zusätzlich durch die Produktion von aggressiven Sauerstoffverbindungen auf direktem oder indirektem Wege Veränderung an der DNA verursachen können. Besonders gefährlich sind Entzündungsreaktionen, die als Folge von dauerhaften Erkrankungen, wie beispielsweise Infektionen, Jahrzehnte lang bestehen. So kann beispielsweise eine Infektion mit dem Hepatitis B Virus, die oftmals lange Zeit unbemerkt besteht, das Risiko für eine bösartige Form von Leberkrebs verhundertfachen. In infizierten Menschen sterben in Folge der Vermehrung

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des Hepatitis B Virus regelmäßig Leberzellen ab und müssen durch neue Leberzellen ersetzt werden. Das führt zu einer vermehrten Teilungsrate in den benachbarten Leberzellen. Gleichzeitig locken die sterbenden Leberzellen und Viruspartikel Immunzellen in die Leber, die versuchen die Zelltrümmer zu beseitigen und virusinfizierte Leberzellen zu töten. Gelingt dies den Immunzellen nicht, was bei ungefähr 10 % der Infizierten der Fall ist, etabliert sich eine chronische Leberentzündung (Hepatitis), die die Entstehung von Leberkrebs begünstigt. Der Krebsförderer ist in diesem Fall die Hepatitis B Infektion, die das Wachstum von gesunden Leberzellen, und solchen mit bereits vorhandenen genetischen Veränderungen, stimuliert. Die ­Leberzellen werden dabei nicht nur durch das Absterben von benachbarten Leberzellen zum Wachstum angeregt, sondern auch durch Signalmoleküle und Wachstumsfaktoren die von Immunzellen produziert werden. Als mächtiger Krebsförderer ist das Hepatitis B Virus weltweit für mindestens 50 % aller Leberkrebsfälle verantwortlich (Mittal und El-Serag 2013). Während das Hepatitis B Virus vor allem in Entwicklungsländern verbreitet ist, gelten in westlichen Ländern starker Alkoholkonsum und die sogenannte Fettleber als die Hauptrisikofaktoren für die Entstehung von Leberkrebs. Mittlerweile sind 14–27 % der Bevölkerung von einer Fettleber betroffen, die von einer ausgeprägten Entzündungsreaktion begleitet werden kann (Weiß et al. 2014). Das Risiko, dass eine Fettlebererkrankung in eine Leberzirrhose oder Leberkrebserkrankung übergeht ist dabei umso grösser, je stärker die begleitende Entzündungsreaktion ist. Tatsächlich scheinen die von Immunzellen produzierten Signalmoleküle bei der Entstehung von Leberkrebs in Folge einer Fettlebererkrankung eine besonders wichtige Rolle zu spielen. In Mausexperimenten konnte gezeigt werden, dass eine durch kalorienreiche Ernährung entstandene Fettleber nicht zur Entstehung von Leberkrebs fortschreiten kann, wenn Mäusen bestimmte Immunzelltypen fehlen (CD8 T-Zellen und NKT-Zellen) (Wolf et al. 2014). Weshalb einige dieser Fettlebererkrankungen von erheblichen Entzündungen begleitet werden, ist noch nicht endgültig geklärt. Vermutlich stören große Fetteinlagerungen Vorgänge im Inneren der Leberzellen oder führen zu deren Absterben. Ähnlich wie im Fall einer Hepatitis-B-­ bedingten Leberentzündung, müssen also ständig die abgestorbenen Zellen durch benachbarte Zellen ersetzt werden. Da aber ohne die entscheidenden Immunzelltypen zumindest in der Maus aus einer Fettleber keine Krebserkrankung entstehen kann, scheint die erhöhte Teilungsrate der Leberzellen nicht als einziger Krebsförderer zu agieren. Es ist möglich, dass ­Immunzellen durch bestimmte Fettsäuren aus der Nahrung direkt aktiviert werden und besonders krebsfördernde Signalmoleküle produzieren. Gleichzeit wäre es möglich, dass bestimmte Nahrungsbestandteile bereits im Darm von

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Immunzellen als Gefahrensignale wahrgenommen werden und von dort aus zu einem Entzündungszustand im gesamten Körper führen. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass in manchen Menschen eine bestimmte Zusammensetzung der Darmflora zur Produktion besonders entzündungsfördernder Fettsäuren führt, die mit der Entstehung von Leberkrebs auf der Grundlage einer Fettleber assoziiert sind. Noch nahezu ungeklärt ist zudem die Frage, welche Rolle neben einer Zucker- und fettreichen Ernährung, beispielsweise eine fruchtzuckerreiche Ernährung bei der Entstehung von Leberkrebs spielt. Anstelle von herkömmlichen Industriezuckern wird zunehmend auf Fruchtzucker (in Form von Fruktose oder Fruktosesirup) zurückgegriffen. Da Fruchtzucker in unserem Körper in Zucker umgewandelt werden kann, ist auch ein hoher Konsum von Fruchtzucker vermutlich nicht unbedenklich. Eine Fettlebererkrankung bereitet anfänglich kaum Beschwerden und macht sich erst im fortgeschrittenen Stadium durch Völlegefühl und leichten Druck im Oberbauch bemerkbar. Wird die Fettleber nicht frühzeitig erkannt und durch eine spezielle „Fettleberdiät“ geheilt, geht sie in eine andauernde Leberentzündung (Hepatitis) über, welche langfristig das Lebergewebe zerstört und krebsfördernd wirkt. Diese hochgefährliche Stufe nennt sich Zirrhose, angelehnt an das griechische Wort kirros, welches „gelbbraun“ bedeutet und auf die gelbliche Farbe der körnigen Verhärtungen des Gewebes hinweist. Die Fettleber als Ursache von Leberkrebs ist ein typisches Beispiel für eine Krebserkrankung, welche bei früher Diagnose der Vorstufen (Fettleber, Hepatitis und Zirrhose) möglicherweise verhindert oder mit engmaschiger Überwachung im frühen Stadium besser therapiert werden könnte.

Die krebsfördernde Wirkung der Darmflora Manche Krebsförderer können ihre Funktion nur unter bestimmten Voraussetzungen oder in Anwesenheit von anderen krankhaften Veränderungen ausüben. Bereits kurz nach der Geburt ist jede äußere und innere Oberfläche unseres Körpers von Mikroorganismen besiedelt. Diese Mikroorganismen helfen uns bei Körpervorgängen wie der Verdauung und schützen uns vor Krankheitserregern indem sie schlichtweg keinen Platz mehr für diese frei lassen. Unser Körper lebt mit diesen Mikroorganismen ­normalerweise friedlich in einem Zustand der Symbiose. Erst eine Störung dieser Symbiose durch eine veränderte Mikrobenzusammensetzung oder eine krankhafte Überreaktion des Immunsystems kann unsere körpereigene Darmflora zu einem gefährlichen Krebsförderer machen. Belegt wird dies durch Beobachtungen an sogenannten „keimfreien“ Mäusen und Ratten, die unter

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sterilen Bedingungen gehalten werden und keine Darmmikroben besitzen. In diesen keimfreien Mäusen können chemische Karzinogene und angeborene genetische Mutationen nur in einem viel geringeren Maß Darmkrebs verursachen (Yoon und Kim 2018). Menschen, die an chronisch entzündlichen Darmerkrankungen leiden, haben ein 20 % Risiko im Laufe ihres Lebens an Darmkrebs zu erkranken. Es wird vermutet, dass diese Darmerkrankungen in Folge einer persönlichen genetischen Veranlagung und einer Überreaktion des Immunsystems auf eine veränderte Darmflora entstehen. Die Zusammensetzung unserer Darmflora können wir teilweise durch unsere Ernährung und Umwelt beeinflussen. So können beispielsweise Antibiotika auch nützliche Darmbakterien töten und somit Siedlungsraum für weniger wohlgesinnte Artgenossen schaffen. Besonders bedenklich ist hierbei der umfangreiche Einsatz von Antibiotika in der Fleischindustrie. Neben der unnötigen Förderung von Antibiotika-Resistenzen kann der Verzehr von Antibiotika-belastetem Fleisch zu einer veränderten Zusammensetzung der Darmflora führen. Zudem gelangen resistente Darmkeime und Antibiotika aus der Tierhaltung in Form von Gülle auch auf landwirtschaftlich genutzte Anbauflächen. Auf diesem Wege wurde beispielsweise das gefährliche Darmbakterium „EHEC“ (enterohämorrhagische E.Coli Bakterien) über Salatsprossen auf den Menschen übertragen. Neben diesen Extremfällen ist es anzunehmen, dass viele weitere fremdartige Darmbakterien auf demselben Weg in unseren Körper gelangen und das Gleichgewicht unserer Darmflora stören. Eine veränderte Darmflora kann neben einer erhöhten Infektanfälligkeit auch die Entstehung von Darmentzündungen begünstigen und somit als Krebsförderer agieren. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang auch der großzügige Umgang in unserer Gesellschaft mit Kaiserschnittentbindungen und der hochdosierte Antibiotikaeinsatz während der Geburt zur Prophylaxe von sehr seltenen Komplikationen. Der Mensch wird direkt nach der Geburt von den Mikroben besiedelt, mit denen er zuerst in Berührung kommt. In einer Studie waren Kinder die vaginal geboren wurden, kurz nach der Geburt vollständig mit den Mikroben aus der Vaginalschleimhaut der Mutter besiedelt und konnten nach der Geburt anhand ihrer Mikroben-Zusammensetzung ihren Müttern zugeordnet werden. Bei Kaiserschnittkindern war dies nicht möglich, da sie mit Hautbakterien besiedelt waren, die sich weder der Mutter noch einer anderen bestimmten Person zuordnen ließen (Dominguez-Bello et al. 2010). Kaiserschnittkinder haben im Vergleich zu vaginal geborenen Kindern ein erhöhtes Risiko im späteren Leben an Allergien, entzündlichen Erkrankungen und Stoffwechselstörungen zu erkranken (Dominguez-Bello et al. 2016). Der großzügige Einsatz von Antibiotika während der Geburt der in vielen Ländern und auch in Deutschland bei einigen medizinischen

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Indikationen üblich ist (z. B. einem positiven B-Streptokokken-Abstrich), könnte die positiven gesundheitlichen Effekte einer vaginalen Geburt verringern. Hier wird zur Minimierung eines seltenen Erkrankungsrisikos im reif geborenen Kind ein unüberschaubares Risiko mit vermutlich lebenslangen Auswirkungen in Kauf genommen. Diese Beispiele machen deutlich, wie schwierig es sein kann, krebsfördernden Umwelteinflüssen zu entkommen. Krebsförderer können in ihren Eigenschaften sehr vielfältig sein. Beispielsweise können Hormone, Infektionen, Nahrungsbestandteile, entzündliche Erkrankungen, Medikamente, physikalische- oder chemische Reize und unsere Darmflora als Krebsförderer wirken. In der Anwesenheit von vorgeschädigten Zellen, können diese Krebsförderer an ihrem jeweiligen Wirkungsort das Krebsrisiko enorm steigern.

In dem Kapitel über Bindemittel, Ballaststoffe und Darmentzündungen haben wir bereits erklärt, wie bestimmte Zusatzstoffe in der Nahrung die schützende Schleimbarriere unseres Darms schädigen und dadurch die Entstehung von Entzündungen begünstigen. In diesem Fall ermöglichen die Zusatzstoffe, dass unsere Darmflora zum Krebsförderer werden kann. Genetische Mutationen in den Zellen der Darmschleimhaut dienen dabei als Grundlage für das Krebswachstum. Diese können entweder schon seit Lebensbeginn vorhanden sein oder durch Karzinogene aus der Nahrung und Entzündungsstoffe von Immunzellen verursacht worden sein.

Erkrankungen als Krebsförderer Krebsförderer können auch in Form von angeborenen Erkrankungen in Erscheinung treten. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine erbliche Form der Bauchspeicheldrüsenentzündung (Pankreatitis). Die Bauchspeicheldrüse stellt unsere Verdauungsenzyme her und gibt sie bei Bedarf in den Zwölffingerdarm ab. Normalerweise werden erst hier die Verdauungsenzyme aktiviert, um die in der Nahrung enthaltenen Proteine, Fette und Kohlenhydrate aufzuspalten. Bei der erblichen Form der Bauchspeicheldrüsenentzündung ist eines dieser Verdauungsenzyme (Trypsin) vorzeitig aktiv und verursacht eine Selbstverdauung des Gewebes innerhalb der Bauchspeicheldrüse. Die Folge sind eine dauerhafte Entzündung und eine Wundheilungsreaktion, die bei 40 % der betroffenen Patienten zur Entwicklung einer bösartigen Form von Bauchspeicheldrüsenkrebs führt (Pankreaskarzinom) (Weinberg 2014). Die meisten anderen (nicht erblichen) Formen der Bauchspeicheldrüsenentzündung, sind

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wesentlich milder und werden häufig nicht einmal bemerkt. Dennoch können auch die milderen Formen der Bauchspeicheldrüsenentzündung (wie beispielsweise durch dauerhaften hohen Alkoholkonsum) als wirkungsvolle Krebsförderer wirken. In Abb. 1 haben wir einige bekannte Krebsförderer und ihren Wirkungsort dargestellt.

Physikalische Reize als Krebsförderer Auch physikalische Reize können, wenn sie dauerhaft bestehen, das Krebsrisiko in dem betroffenen Organ steigern. So können beispielsweise Gallensteine nach Jahrzehnten die Entstehung eines bösartigen Gallenblasenkarzinoms begünstigen. Der Krebsförderer ist hierbei die andauernde Schädigung der auskleidenden Zellschicht der Gallenblase, die zu einer erhöhten Teilungsrate der verbleibenden intakten Zellen führt. Wie bei den vorherigen Beispielen auch, erhöht diese verstärkte Zellteilungsrate das Risiko, dass auch genetisch vorbelastete Zellen zum Wachstum angeregt werden (Weinberg 2014). Wie unterschiedlich die Beschaffenheit von Krebsförderern sein kann, haben interessante Laborexperimente gezeigt. In einer Studie erforschten Wissenschaftler, unter welchen Bedingungen die Krebszellen einer Maus in anderen genetisch identischen Mäusen weiterwachsen können. Wie wir in dem Kapitel über das Immunsystem erklärt haben, sollte dies prinzipiell in genetisch identischen Artgenossen möglich sein, da diese dieselben Ausweisproteine auf ihren Körperzellen besitzen. Der Zweck dieser Studien mag auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen. Tatsächlich zeigten diese Studien aber wie wichtig nicht nur die Beschaffenheit der Krebszellen, sondern auch der Umgebung des Tumors für dessen Wachstum ist. Interessanterweise, gelang es nämlich den Darmkrebszellen nicht, in anderen genetisch identischen Mäusen weiterzuwachsen. Die Darmkrebszellen konnten erst in den ­anderen Mäusen zum Wachstum eines Tumors führen, als die Wissenschaftler die Darmkrebszellen zusammen mit einem Plastikstückchen einpflanzten (Weinberg 2014). Das Plastikstückchen war in diesem Fall ausreichend, um eine krebsfördernde Entzündungsreaktion zu verursachen (Brand et al. 1975; Moizhess 2008). Fremdkörper wie Plastik, Implantate oder Projektile verursachen an ihren Kontaktstellen mit unserem Gewebe chronische Entzündungen, die zudem das Risiko für eine bösartige Krebserkrankung des Bindegewebes erhöhen (sogenanntes malignes fibröses Histiozytom)(Moizhess 2008). Diese Beobachtungen werfen die interessante Frage auf, welche Rolle Plastikpartikel aus unserer Umwelt wie beispielsweise Mikroplastik (