Stil-Kulturen: Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken [1. Aufl.] 9783839410011

Dieses Buch präsentiert eine interdisziplinäre und empirisch fundierte Analyse neuer Sportarten wie Free-Climbing, Parag

177 77 375MB

German Pages 302 Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Stil-Kulturen: Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken [1. Aufl.]
 9783839410011

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Thema und Ziel der Arbeit
Forschungsstand und theoretischer Ansatz
Methodisches Vorgehen
Aufbau der Arbeit
Dynamik moderner Spielkulturen
Die Felder: Zugänge- Räume- Settings
Ausdifferenzierung
Klettern- Spiel in der Senkrechten
Paragliding - Spiel mit der Thetmik
Snowboarding - Spiel in der Vertikalen
Die sozialen Akteure
Konstellationen von Bewegung- Ordnung- Leistung
Ordnung von Bewegung - Bewegung als soziales Ordnungsprinzip
Typologie der Bewegungen
Die Eroberung der Vertikalen als Spielraum
Mikrogesten
Fragmentierung
Agonale Konstellationen im Sport
Klassifikationskriterien
Ordnungsstrukturen agonaler Konstellationen
Agon in den neuen Sportpraktiken
"Mehr als Sport"
Grenzgang und virtueller Wettkampf
Totales Engagement
Körperdisziplinierung oder Informalisierung
Leistungsprinzip
Wettkampf in den Untersuchungsfeldern
Konstellationen von Technik- Spiel- Risiko
Begriffsbestinunung der Konzeption Risiko
Spiel mit dem Risiko
Spannungsbalance zwischen Kontrolle und Kontrollverlust
Risiko- Technik- Rausch
Passungsverhältnis von Bewegung und Technik
Steuerungsmodus-zumVerhältnis von Habitus und Habitat
Pädagogik der Risikominimierung und Risikospirale
Expertenkulturen
Modus interner Hierarchisierung
Stil-Können
Stil und Sport. Erste Annäherung
Ordnungsstrukturen der Stilkulturen
Choreographische Strategien und performative Spielräume
Informelle Lehr-/Lernkulturen
Stil-Lernen - Stil-Kompetenz
Intennediale Konstellation des Stilerwerbs
Intermedialität im Sport
Transfer der Bewegungsbilder
Stil-Verpflichtung
Bewegungsbilder: Körper und Bild in Stilkulturen
Stil als Bild des Menschen (Wittgenstein)
Erzeugung von Stil-Welten (Goodman)
Stilkulturen im Sport
Stil - Körper - Bild: Stil-Welten und ihre Ausdrucksformen
Stil- Wissen- Macht
Bewegungsbilder - Performative Quelle für Selbstentwürfe
Selbstverhältnisse im Medium von (Bewegungs-)Bildern
Mimetische Beziehung zwischen Bild und Körper
Stil-Modelle- Formen sozialer Mobilisierung
Großgemeinschaften des Stils
Soziale Kohäsion und Stil
Mobilisierung im Modus der Bildlichkeit
Ein neuer Stil der autonomen Person
Soziale Strategien und Selbstverhältnisse
Schlussbetrachtungen
Literatur

Citation preview

Martin Stern Stil-Kulturen

Für meinen Vater Hans-Harald Stern

Martin Stern (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 447 »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin und aktuell Vertretungsprofessor für Sportpädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziologie von Trendsportarten, Vereins- und Leistungssport, Körpertheorien und Gender, Erlebnispädagogik sowie Methoden qualitativer Sozialforschung.

MARTIN STERN

Stil-Kulturen Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken

[ transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar.

© zo1o transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Satz: Martin Stern Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-rooi-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort ............................................ ....................................................... 9 Einleitung ........ .... ............................................. ................. ......... ............ 11 Thema und Ziel der Arbeit.. ................ ....................................... ..................... 12 Forschungsstand und theoretischer Ansatz .................................................... 14 Methodisches Vorgehen ................................................................................. 24 Aufbau der Arbeit. ........................................................................................... 27 Dynamik moderner Spielkulturen ......... .................................. ............ 31 Die Felder: Zugänge- Räume- Settings .................................. ..................... 31 Ausdifferenzierung ......................................................................................... 39 Klettern- Spiel in der Senkrechten .......................................................... 39 Paragliding - Spiel mit der Thetmik ........................................................ 4 7 Snowboarding - Spiel in der Vertikalen .................................................... 51 Die sozialen Akteure ....................................................................................... 54 Konstellationen von Bewegung- Ordnung- Leistung ................... 61 Ordnung von Bewegung - Bewegung als soziales Ordnungsprinzip ............ 62 Typologie der Bewegungen ............................................................................ 64 Die Eroberung der Vertikalen als Spielraum ............................................ 64 Mikrogesten .............................................................................................. 67 Fragmentierung ........................................................................... .................... 71 Agonale Konstellationen im Sport .................................................................. 78 Klassifikationskriterien .............................................................................. 79 Ordnungsstrukturen agonaler Konstellationen .................... ...................... 82

Agon in den neuen Sportpraktiken ............................................ ..................... 92 "Mehr als Sport" ........................................................................................ 94 Grenzgang und virtueller Wettkampf ........................................................ 98 Totales Engagement. ........................................................... ..................... 100 Körperdisziplinierung oder Informalisierung .......................................... 101 Leistungsprinzip ...................................................................................... 103 Wettkampf in den Untersuchungsfeldern ............................................... 108

Konstellationen von Technik- Spiel- Risiko ................................... 113 Begriffsbestinunung der Konzeption Risiko ................................................ 114 Spiel mit dem Risiko ..................................................................................... 118 Spannungsbalance zwischen Kontrolle und Kontrollverlust ....................... 120 Risiko- Technik- Rausch .................. ......................................................... 124 Passungsverhältnis von Bewegung und Technik ............... ..................... 128 Steuerungsmodus-zumVerhältnis von Habitus und Habitat.. .............. 134 Pädagogik der Risikominimierung und Risikospirale ................................ 138 Expertenkulturen .......................................................................................... 143 Modus interner Hierarchisierung ............................................................ 146 Stil-Können ....................................... ................................................... 151 Stil und Sport. Erste Annäherung .......... .................................... ................... 152 Ordnungsstrukturen der Stilkulturen ....................................... ..................... 154 Choreographische Strategien und performative Spielräume .................. 155 Informelle Lehr-/Lernkulturen ...................................................................... 166 Stil-Lernen - Stil-Kompetenz ................................................................. 167 Intennediale Konstellation des Stilerwerbs ............................................ 169 Intermedialität im Sport ................................................................................ 178 Transfer der Bewegungsbilder ................................................................. l82 Stil-Verpflichtung.......................................................................................... 189 Bewegungsbilder: Körper und Bild in Stilkulturen ......................... 197 Stil als Bild des Menschen (Wittgenstein) ................................................... 198 Erzeugung von Stil-Welten (Goodman) ....................................................... 205 Stilkulturen im Sport ........................... .......................................................... 215 Stil - Körper - Bild: Stil-Welten und ihre Ausdrucksformen ................ 215 Stil- Wissen- Macht ............................................................................. 221

Bewegungsbilder - Performative Quelle für Selbstentwürfe ... ................... 226 Selbstverhältnisse im Medium von (Bewegungs-)Bildern ...................... 229 Mimetische Beziehung zwischen Bild und Körper ................................ 233 Stil-Modelle- Formen sozialer Mobilisierung ........................ ..................... 241 Großgemeinschaften des Stils ................................................................. 244 Soziale Kohäsion und Stil ....................................................................... 247 Mobilisierung im Modus der Bildlichkeit ............................................... 252 Ein neuer Stil der autonomen Person ..................................................... 255 Soziale Strategien und Selbstverhältnisse ............................................... 262

Schlussbetrachtungen ........................ ................................................ 269 Literatur ............................................................................................... 279

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Performativen" an der Freien Universität Berlin entstanden ist. Zu allererst möchte ich mich sehr herzlich bei meinem Doktorvater Gunter Gebauer und Elk Franke bedanken: Sie haben mir zu jeder Zeit sehr große Unterstützung und Vertrauen entgegengebracht und mir die Freiräume ftir meine empirische Forschung gewährt. So gilt ein besonderer Dank auch allen Probanden meiner Untersuchungsfelder, ohne deren Bereitschaft und Zeitaufwand die empirische Basis dieser Arbeit und damit auch dieses Buch nicht hätten entstehen können: Euch allen einen herzlichen Dank! Bei allen Mitarbeitern des Sonderforschungsbereichs möchte ich mich flir die vielfältigen Anregungen bedanken: Die interdisziplinäre Ausrichtung der Diskussionen hat meine Arbeit begleitet und immer wieder über die eigene Fachausrichtung hinaus bereichert. Darüber hinaus möchte ich in besonderer Weise Mattbias Wunsch danken: Unsere Diskussionen haben mir geholfen, manchen Gedankengang zu schärfen. Mein mit Abstand größter und umfassendster Dank gilt Yvonne Hardt, die in allen Bereichen geholfen hat: Ohne ihre vielfältigen Inspirationen, ihre konstruktive Unterstützung bei der Überarbeitung nicht enden wollender Manuskripte und ihre emotionale Zuversicht wäre ich auch jetzt noch am Sammeln immer neuer Materialien!

Berlin im August 2009

Martin Stern

9

Einleitung

Gegenwärtig können wir einen dynamischen Wandel im Feld der Spiel- und Sportkultur beobachten: Immer neue Sportarten und Variationen entstehen, die auch im Alltagsleben urbaner Großstädte sichtbar und in den Medien effektvoll in Szene gesetzt werden. Hier sind es längst nicht mehr nur die Skateboarder und Aggressive-Skater, sondern Bungee-Jumper, House-Runner ebenso wie Traceure (Parcour) und Free-Styler, die die großstädtischen Räume auf außergewöhnliche Weise erobern: Vorplätze von Bibliotheken, Museen und Theatern ebenso wie Alltagsräume von der Kellertreppen bis zum Hausdach werden in Beschlag genommen. Quasi überall, wo Architektur Raumwege, Umgangspraktiken und Grenzen vorzugeben scheint, werden diese mit virtuosen Bewegungen und spektakulären Darbietungen ,unterlaufen' und ,überflügelt': Ähnlich dem Traceur, der mit scheinbarer Leichtigkeit neue Bewegungsräume durch die Überwindung der Vertikalen sucht, Wände quasi hoch läuft und von Treppengeländer zu Treppengeländer springt, erheben die House-Runner die Bewegung in der Vertikalen zum zentralen Prinzip: Von Hochhäusern seilen sie sich ab, indem sie aufrecht stehend und mit dem Gesicht voran senkrechte Wände hinunterlaufen. So werden großstädtische Räume zu neuartigen Spiel- und Sportplätzen umdefiniert. Durch einzelne Demonstrationen rasanter, spektakulärer und mithin akrobatischer Bewegungen kommt es zu einer Mischung aus faszinierender Alltags-Show und ,subversivem Ärgernis' für Passanten, die auf dem Weg zur Arbeit sind oder ihre alltäglichen Einkäufe verrichten. Diese neuen Sportpraktiken sind offensichtlich davon geprägt, dass sie die exklusiven Räume des traditionellen Sports hinter sich lassen (Hallen, Sportplätze, Stadien) und öffentlich Räume, von der Hochkultur bis zur Industrie (stillgelegte Fabriken), erobern (vgl. Gebauer u.a. 2004). Ein Blick ins Reisebüro für die Urlaubsplanung setzt ein weiteres Schlaglicht: Reiseveranstalter preisen nicht mehr allein Hotel, Verpflegung und Umgebung an, sondern werben mit

11

STIL-KULTUREN

"Erlebnismodulen", die es dem modernen Urlauber wie selbstverständlich erlauben, sich seinen eigenen Erlebnisurlaub im Baukastenformat zusammenzustellen. Ob River-Rafting, Para-Sailing, Down-Hill-Biking oder Canyoning, so genannte Adventure-Module, Wildnis und Risiko haben Hochkonjunktur. Auch der Blick in die Medien bestätig diesen Eindruck: In spektakulären Aktionen werden so genannte Free-Climber gezeigt, wie sie einarmig hundert Meter über dem Abgrund am ,nackten' Fels hängen. B.A.S.E.-Jumper stürzen sich mit Fallschirmen von Brücken, Hochhäusern und in Felsschluchten und kalkulieren dabei nur wenige Sekunden für die Öffnung des Schirms ein. Paraglider sind mit ihren rasanten und schwindelerregenden akrobatischen Flugelementen ebenso zu sehen wie Snowboarder, die atemberaubende Sprünge von Felskanten metertief in quasi senkrechtem Gelände vollführen. Diese Schlaglichter, ob dem alltäglichen en passant oder dem Medienformat geschuldet, das auf das Spektakuläre dieser Darbietungen fokussiert und die Akteure selbst im besten Falle mit kurzen, ,Adrenalin-gesättigten' Statements präsentiert, haben eines gemein: Das Davor und Danach ebenso wie das Wer und Wie dieser Sportpraktiken tritt in den Hintergrund oder wird in der Medienpräsentation gar vollständig zum Verschwinden gebracht. Das vermeintlich Offensichtliche dieser Praktiken, der Fokus auf das Spektakuläre und Risikoreiche ebenso wie die Vielfalt immer neuer Fmmen und Variationen lässt diese Praktiken in einem starken Kontrast zum traditionellen Vereins- und Wettkampfsport erscheinen. Vor dem Hintergrund pädagogischer wie soziologischer Reflexionen und nicht zuletzt auch organisatorischer Modemisierungsbemühungen des Vereinssports werfen diese dynamischen Veränderungen vielfältige Fragen auf. Diesem Phänomen widmet sich die vorliegende Arbeit aus einer sportsoziologischen, -pädagogischen und empirisch-qualitativen Perspektive.

Thema und Ziel der Arbeit Das übergreifende Ziel dieser Arbeit ist, einen empirisch fundierten Beitrag zur Emergenz neuer Spiel- und Sportformen zu liefern. Auf der Grundlage einer qualitativ-empirischen Untersuchung gilt es die soziale Dynamik dieser skizzierten Entwicklung zu verstehen. 1 Die Studie vertritt dabei die These, dass die neuen Spielkulturen gegenüber dem vertrauten Vereinssportmodell eine neue Form des Sports ausbilden in dem Sinne, dass sie unabhängig von ihren jeweiligen Differenzen feldübergreifend eine Kombination von Stil und Können als zentrales Charakteristikum und neuartiges Leistungsparadigma Die Arbeit ist im Rahmen des Sonderforschungsbereichs ,,Kulturen des Performativen" der Freien Universität Berlin im Teilprojekt "Die Aufführung der Gesellschaft in Spielen" unter der Leitung von Prof. Dr. Gebauer entstanden.

12

EIN LEITUNG

aufweisen. Damit möchte die Arbeit Sichtweisen relativieren, die diese neuen Sportpraktiken beispielsweise im Rahmen einer allgemeinen Tendenz zur Ausdifferenzierung bestehender Vereins- und Wettkampfsportarten begreifen (beispielsweise Volleyball und Beach-Volleyball) oder als Ausdruck einer zunehmenden Individualisierung sehen. Ebenso wendet sich die Arbeit gegen Thesen, die diese Sportpraktiken als Kompensation eines Mangels an Erlebnis, Primärerfahrungen und Risiko im Alltagsleben begreifen. Mit solchen Interpretationen wird nicht nur eine fragwürdige Dichotomie zwischen Sport und sozialem Alltag aufgemacht, die zu diskutieren sein wird, sondern oft wird dies mit negativen Begrifflichkeiten wie der Auflösung von Strukturen, Beliebigkeif und Unverbindlichkeit oder kurzlebiger Erlebnissuche beschrieben. Demgegenüber verdeutlichen die Ergebnisse dieser Studie, dass den neuen Spielkulturen trotz der Vielfalt ihrer Erscheinungen eine übergreifende Orientierung am Stil-Können inhärent ist, sie strukturgebende Ordnungsprinzipien und neuartige Modi der sozialen Formierung von Gemeinschaften in und durch Bewegung sowie ein spezifisches Leistungsparadigma aufweisen. Die Analyse dieser Sportpraktiken soll damit auch den Boden bereiten, auf dem die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Integration in institutionelle Sporträume wie Schule und Verein eingeschätzt und besser verstanden werden können. Ferner stellen sich angesichts der größtenteils hohen Affinität der neuen Sportarten zu High-Tech Spielgeräten sowie zu .1pektakulären und riskanten Bewegungsweisen Fragen nach dem Zusammenspiel dieser Komponenten. Modernste technische Ausrüstungen und risikoreiche Spielpraktiken scheinen Hand in Hand zu gehen. Die vorliegende Arbeit geht dabei den Fragen nach, welche neuartigen Konstellationen dabei entstehen und wie diese die Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten der Sportler beeinflussen und erweitern. Hierzu wird eine Annäherung an den Gegenstand gewählt, die sich, formal betrachtet, in zwei Bewegungen vollzieht: Zum einen eine empirisch fundierte Analyse der konkreten Sportpraktiken, die exemplarisch an drei besonders dynamischen und innovativen Feldern (Free-Climbing, Paragliding und Snowboarding) vorgenommen wird. Es wird darum gehen, die Komplexität dieser Praktiken auf ihre konstitutiven Merkmale und Inhalte zu untersuchen sowie eine Typologisierung der zentralen Orientierungen der Felder vorzunehmen. Zum anderen gilt es, die Analyse nicht losgelöst von den sozialen Positionen dieser Spottier durchzuführen, sondern die Verortung der Akteure im sozialen Raum einzubeziehen. Erst die Verbindung beider Bewegungen erlaubt es, die konkrete Analyse der konstitutiven Merkmale dieser Praktiken auf Fragen nach sozialen Strategien der Akteure zu beziehen, die sich einerseits im Sportengagement zeigen, anderseits aber zugleich in ihrer sozialen Bedeutung über das Feld des Sports hinausweisen können.

13

STIL-KULTUREN

Die Ausgangsthese, dass es sich bei den neuen Trendsportarten um eine neuartige Sportfonn handelt, bedarf einer dezidiert empirischen Untersuchung. Dies hervorzuheben ist insbesondere vor dem Hintergrund der wenigen sportwissenschaftlichen Beiträge relevant, die die aktuelle Entwicklung zwar aufgreifen, ihre Klassifikationsversuche jedoch nicht nachhaltig empirisch fundieren (vgl. beispielsweise Schildmacher 1998; Egner 2000; Egner/Kleinhans 2000).

Forschungsstand und theoretischer Ansatz Die aktuellen, insbesondere sportsoziologischen Arbeiten begegnen der Entwicklungsdynamik der Spiel- und Sportarten, ihrer Vielfalt und Unübersichtlichkeit bislang mit nur wenigen Beiträgen (Schwier 1998a/b, 2000) und überwiegend in Form von weitgehend theoretischen Versuchen der Beschreibung. Empirisch fundierte Analysen liegen bis auf wenige Ausnahmen bisher nicht vor (vgl. Gebauer u.a. 2004). Die vereinzelten Versuche einer systematischen Erfassung dieser dynamischen Entwicklungsprozesse verbleiben damit überwiegend auf einer theoretischen, weder quantitativ noch qualitativ empirisch fundierten Ebene. So unternimmt der Beitrag "Trend- und Natursportarten- Ein Strukturierungsversuch" von Heike Egner und Matthias Kleinhans (2000) eine Klassifikation neuer Sportarten, die beispielsweise auf Kategorien wie ,,zentrales Merkmal [der Sportausübung, M.S.], Raumbezug, Raumwirkung , Notwendigkeit von Training und Vorbereitung sowie Risiko" (ebd.: 57) gründet. Die davon abgeleitete Typenbildung unterscheidet zwischen "Fun Sports, Thrill Sports, Extreme Sports und Soul Sports" (ebd.: 59). Insbesondere die Kategorie "zentrales Merkmal" einer Sportart, die "den Kern, auf den sich die einzelnen Sportarten reduzieren lassen" (ebd.: 58) zu erfassen sucht, erscheint jedoch problematisch. Offenbar folgt das Kriterium "zentrales Merkmal" einer essentialistischen Logik, die weder dem traditionellen Wettkampfsport noch den neuen Sportpraktiken gerecht wird. Die Klassifikation bleibt so zu undifferenziert und ordnet, um nur einige Beispiele zu nennen, Sportarten wie Wildwasser-Rafting den Fun-Sports zu, bei denen es als zentrales Merkmal um "SPASS haben mit Abenteuercharakter" ginge (ebd.: 59), B.A.S.E.-Jumping (Fallschirmspringen von Brücken, Hochhäusern, in Felsschluchten hinab u.ä.) den Thrill-Sports zu, die sich nach Enger und Kleinhans zwar durch ein hohes Risiko auszeichnen, aber kein Training oder Vorbereitungen benötigen sollen (vgl. ebd.: 61f.) oder aber Paragliding wird den Soul-Sports zugeschrieben, die zwar durch die Notwendigkeit von Training gekennzeichnet sind, jedoch "durch den Einsatz modernster Technik und Materialien" ein minimiertes Risiko aufweisen (ebd.: 64). Die Konstellationen von Risiko,

14

EIN LEITUNG

Technik und Wissen ebenso wie der Erwerb spezifischer Körpertechniken der Steuerung und Störung werden hier ein anderes Bild zeigen. Dieser und ähnlichen Diagnosen zufolge geht mit den neuen Sportpraktiken einher, dass die Modalitäten der Sportausübung durch wachsende Unverbindlichkeit, individuelle Flexibilität und Erlebnisorientierung sowie dem Verzicht auf allgemeinverbindliche Reglementierung ausgezeichnet sind (vgl. beispielhaft Egner 2000: 9ff.; Schildmacher 1998: 70ff.). Im Anschluss an Zeitdiagnosen wie der "Erlebnisgesellschaft" von Gerhard Schulze (1999) werden diese Merkmale, so von Anne Schildmacher (1998), als Kennzeichen einer "pragmatischen Generation" (vgl. ebd. : 66ff.) ausgedeutet: Diese sei dadurch charakterisiert, dass sie "Bastei-Existenzen, Montage-Identitäten und collagierte Biographien" aufweise (ebd.: 66) und keine nachhaltigen Überzeugungen besitze oder Engagement zeige. Vielmehr wird hier in Anlehnung an Schulze (1999) eine ,"Erlebnisorientiemng'" konstatiert (ebd.: 69). Diese Positionen werfen vielfältige Fragen auf, denen sich die Arbeit empirisch annähert. Eine Gleichsetzung von Individualisierung und Vereinzelung, von Ent-Traditionalisiemng und vollständiger sozialer Entbindung (vgl. dazu die kritische Position von Alkemeyer (2002): 25ff. sowie Gebauer u.a. (2004): 87ff.), die sich in den modernen Sportpraktiken zeigen soll, bleibt zu überprüfen: Zeichnen sich die neuen Sportpraktiken tatsächlich durch eine Ansammlung von Monaden, vereinzelten Einzelnen bzw. einer "Masse von Individuen" (Egner 2000: 10) oder durch einen "kollektiven Individualismus" aus (Schildmacher 1998: 72) und was wäre darunter konkret zu verstehen? Ist dieses Sportengagement Ausdruck einer allgemeinen "Erlebniskultur" (Alheit 1995; Bräutigam 1994), mithin einer nur oberflächlichen Erlebnisorientiemng, die zudem durch einen steten Wechsel der Praktiken vergleichbar denen der Mode geprägt ist? Handelt es sich bei den neuen Sportarten tatsächlich um unverbindliche Praktiken, die jederzeit gewechselt werden, die bloßen Konsumgüter gleich keine Zugangsbarrieren oder längerfristiges Engagement fordern und fördern? Darüber hinaus sind Klassifikationsversuche dieser Art problematisch, weil sie sich gegenüber Fragestellungen verschließen, die auf spezifische Konstellationen und komplexere Figurationen (Elias 1986a) gerichtet sind. Ferner werden Sportarten zumindest implizit als einheitliche Praktiken begriffen; mögliche interne Differenzierungen finden dann kaum Berücksichtigung. Und schließlich deuten die Beispiele einen dritten Aspekt an, den es kritisch zu untersuchen gilt: Der High-Tech Charakter der modernen Spielgeräte wird durchaus zutreffend benannt, jedoch nicht auf die konkreten Umgangspraktiken hin reflektiert. So wird auch danach zu fragen sein, ob High-Tech als ein Sicherheit bietender Standard gesetzt werden kann. Die Untersuchung fragt auch nach den konkreten Gebrauchspraktiken, die die Sportler im Umgang mit den technischen Sportgeräten ausbilden. Dabei kann gezeigt werden, dass

15

STIL-KULTUREN

em dynamisches Verhältnis von Akteur und Technik konstitutiv für diese Praktiken ist, das statischen Konzepten von Technik und vordefinierten Gebrauchseigenschaften entgegen steht sowie nicht zu trennen ist von einer immanenten Risikospirale der Felder. Innerhalb der Sportsoziologie werden die hohen Risiken der neuen Sportarten erkannt und zutreffend als eine Tendenz zur "Extremisienmg" (Schwier 2000: 81) oder zum gesteigerten ,Risiko, beschrieben (vgl. Bette 2003, 2004; Egner/Kleinhans 2000). Eine differenzierte begriffliche Analyse liegt aber bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Bette 2004; in pädagogischer Perspektive Schleske 1977; Neumann 1999) bislang nicht vor. So bleibt nicht zuletzt aufgrund der fehlenden empirischen Fundierung eine Deutung des Merkmals Risiko entweder ganz aus oder wird weitgehend praxisfern an soziologische Zeitdiagnosen der "Risikogesellschaft" (Beck 1986) und der "Erlebnisgesellschaft'' (Schulz 1999) angebunden. Eine Ausnahmen stellt zwar die Buchveröffentlichung des französischen Philosophen David Le Breton "Lust am Risiko" (1995) dar, in der eine übergreifende Interpretation von gegenwartsgesellschaftlichen Phänomenen (von Risikosportarten über Drogenkonsum und Magersucht bis hin zum S-Bahn-Surfing) als moderne Ordale (Gottesurteile) vorgenommen wird. Allerdings bieten die Breite des Untersuchungsfeldes einerseits sowie, wie gezeigt werden kann, die Betonung von Zufallseinflüssen anderseits für die vorliegende Untersuchung nur bedingt Anschlüsse. Die bislang interessanteste Arbeit legt der Sportsoziologe Karl-Heinrich Bette "X-treme. Zur Soziologie des Abenteuer- und Risikosports" (2004) vor. Sie stellt eine terminologisch präzise systemtheoretisch geführte Analyse dieser neuen Sportausrichtung dar (vgl. auch Bette 2003). So lesen sich die neuen Sportpraktiken nach Bette als ein metasozialer Kommentar auf die modernen Lebensverhältnisse westlicher Gegenwartsgesellschaften (Verlust von Primärerfahrungen, Bedeutungsverlust der Person in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften u.ä.) und werden letztlich als kompensatotische Strategien der ,Entlastung' und ,Selbstermächtigung' gedeutet (vgl. ebd.: 114, 120). Insbesondere die Anschlüsse, die in der Zeitdiagnose der ,Risikogesellschaft' gesucht werden, erscheinen fraglich: So werden insbesondere die Thesen von Ulrich Beck zu einer fortschreitenden Individualisierung (1996) und ein wachsendes, quasi ubiquitäres Risiko des Alltagslebens (1986) aufgegriffen. Dabei wird bis auf die genannten Ausnahmen zumeist weder eine differenzierte Auseinandersetzung mit den zentralen Begriffen Risiko und Gefahr unternommen, noch berücksichtigt, dass Beck diese weder konsequent trennt bzw. im Sinne von Risiko verwendet. Vielmehr hebt Beck in seiner Zeitdiagnose der späten 1980er Jahre hervor, dass die wachsende Technisierung nicht (allein) zu einer gesteigerten Sicherheit des Alltagslebens geführt hat, sondern dass auf der Rückseite dieser Entwicklung drohende Gefahren im wachsenden Maße mit produziert werden (Atomenergie, chemische Belastung

16

EIN LEITUNG

der Nahrungskette), denenjeder Mensch und unbeachtet seiner sozialen Herkunft ausgesetzt ist. Die drohenden Konsequenzen können gerade nicht vom einzelnen Menschen beeinflusst oder gar kontrolliert und bewältigt werden. Kurz: Die "Risikogesellschaft" betrachtet zentral die auf der Kehrseite der Sicherheitstechnologien produzierten globalen G(!fahren und ist in diesem Sinne als Diagnose einer ,Gesellschaft der Gefahren, zu verstehen, die in den konkreten Sportpraktiken nur sehr bedingt Anschlüsse findet. Die Analyse der Risikogesellschaft bietet somit kein Modell dafür, die soziale Dynamik der neuen Sportpraktiken präzise zu erfassen. Darüber hinaus ist die These der steigenden Individualisierung nicht vorschnell mit Beliebigkeit und Vereinzelung gleichzusetzen: Vielmehr gilt es die Ordnungs- und Organisationsstrukturen, die Logik der veränderten Praktiken zunächst empirisch zu untersuchen und so die offensichtlichen Differenzen zum Vereinssport nicht allein negativ zu bestimmen. Bereits Jürgen Schwier (2000) hebt zu Recht in seiner Analyse der Trendsportentwicklung auf der Grundlage der cultural studies hervor, dass der Trend zur Extremisierung nicht zu trennen sein scheint von denen zur "Stilisierung" und "Virtuosität" (ebd.: 81): D.h., Stil-Orientierungen, wie sich zeigen wird, führen zu spezifischen "Szenenbildung(en)" (ebd.) und neuartigen Formen der Vergemeinschaftung, die auch moderne Medien (Internet) als Mittel sozialer Kohäsion nutzen. Ebenso schließt das Kriterium der Virtuosität, wie Schwier hervorhebt, keineswegs eine "Überbietungsperspektive" und eine Suche nach "Perfektionierung von ,Tricks"' aus (ebd.: 84). Kurz, neben einer präziser zu bestimmenden Form der Individualisierung wird die Analyse ein ganzes Ensemble an Orientierungen aufzeigen, die ein anderes Licht auf diese Formen und Modi der sozialen Orientierungen werfen. Der in vieler Hinsicht differenzierteste Ansatz von Bette (2004) erscheint aufgrund der theoretischen Vorentscheidungen für den hier vertretenen Ansatz nur bedingt anschlussfähig: Zumindest implizit erscheinen Bettes Interpretationen dem Paradigma des meta-sozialen Kommentars (vgl. Geertz 1999) zu folgen. Bette interpretiert die Charakteristika der Sportausübung in der Logik der Kompensation von gegenwartsgesellschaftlichen Verlusterscheinungen und richtet sein Argument damit auf kontrastive Dimensionen von Sport und Alltag. Demgegenüber wird in der vorliegenden Arbeit mit der Frage nach möglichen Verweisungszusammenhängen Geertz Gedanke der "Exemplifikation" aufgegriffen (ebd.: 249), der anders als der des metasozialen Kommentars nicht einem Verständnis von "Kultur als Text" folgt. Das "Kultur als Text-Modell" erscheint für die vorliegende Forschungsperspektive insofern als zu einschränkend, als dass damit soziale Praktiken letztlich als Ausdruck oder Repräsentation von etwas bereits vorgängig Bestehenden konzeptualisiert werden. Eine Öffuung der Perspektive hinsichtlich des Verhältnisses von Expressivität bzw. Repräsentation und Performativität

17

STIL-KULTUREN

erscheint hingegen insbesondere vor dem Hintergrund der Fragestellung nach der Emergenz neuer Sportpraktiken als sinnvoll. Performative Prozesse zeichnen sich gerade dadurch aus, dass in ihnen nicht etwas Vorgängiges, mithin in einer anderen Ordnung bereits Existierendes zum Ausdruck kommt, sondern dass sie das, was sich in den Aufführungen zeigt, zuallererst auch hervorbringen. Insbesondere mit der Erweiterung des Gegenstandfeldes - von Texten und Monumenten hin zu sozialen Praktiken wie Festen, Ritualen und Aufführungen (im Sport, Tanz, Theater) - rücken zunehmend nicht nur Fragen nach deren ,Lesbarkeit' in den Mittelpunkt, sondern es öffuen sich auch Fragehorizonte, die auf die Prozessualität und den Ereignischarakter von sozialen Praktiken gerichtet sind. Mit der Metapher "Kultur als Performance" ist somit eine Wende in den Kulturwissenschaft(en) bezeichnet, die verstärkt nach den dynamischen Anteilen, den konkreten Handlungen und Wechselwirkungen aller Beteiligten (z.B. auch das Verhältnis von Zuschauer und Akteur) einschließlich der spezifischen Einflüsse technischer Artefakte sozialer Praktiken fragt (vgl. Klein/Sting 2005). Der Ereignischarakter kultureller Phänomene, das Ephemere von Tanz-, Sport- oder Theateraufführungen gerät so selbst als konstitutiver und konstituierender Bestandteil sozialer Praktiken in den Blick. Das "Text-Modell" und "Performance-Modell" werden dabei nicht als starre Oppositionen verhandelt, sondern als zwei "Weisen der Welterzeugung" (Goodman 1978), d.h. zwei zu unterscheidende Modalitäten der Konstitution von Wirklichkeit. Im Gegensatz zu Clifford Geertzs (1999) Ansatz, Kultur als eine "Montage von Texten" (ebd.: 253) zu verstehen, bietet seine Kennzeiclmung des Hahnenkampfes als Exemplffikation der balinesischen Gesellschaft Anschluss an das Performance-Modell: Spiele geraten in dieser Perspektive wie der Hahnenkampf auf Bali als "ein sorgfältig ausgearbeitetes Beispiel dieses sozialen Lebens" (ebd.: 249) in den Blick. D.h., Spiele lassen sich weder als Imitationen noch als bloßen Ausdruck vorgängiger gesellschaftlicher Ordnungen und Prinzipien verstehen, sie stellen genau genommen keinen "metasozialen Kommentar" (ebd.: 252) dar, sondern sie sind zuallererst Auffohrungen von Gesellschaft, in denen sich kulturelle und/oder soziale Verhältnisse, Werthaltungen, Überzeugungen u.ä. (mit-)konstituieren. 2 Die Frage nach Verweisungszusammenhängen zwischen Sportpraktiken und allgemeinen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen findet insbesondere mit Blick auf ältere spieltheoretische Ansätze kaum Berücksichtigung. Vielmehr wird deutlich, dass das Spiel unabhängig von einzelnen Differenzen strukturell immer wieder von Nicht-Spiel abgegrenzt wurde, um zu einer 2

18

So weist Clifford Geertz Werk "Dichte Beschreibung" (1999) zwei einander widerstreitende Aspekte auf: Einerseits den grundsätzlichen Ansatz im Sinne des "Kultur als Text"-Modells und anderseits die These der Exemplifikation sozialer Praktiken, der in dieser Arbeit gefolgt wird.

EIN LEITUNG

möglichst klaren Profilierung des Begriffs zu gelangen. Der Vorzug dieser Herangehensweise bestand zunächst darin, konstitutive Merkmale und charakteristische Eigenschaften von Spielen herausarbeiten zu können: Spiele können demzufolge als eine freie, vom Alltag abgetrennte und in ihrem Ausgang ungewisse Betätigung geketmzeichnet werden. Ferner sind sie im Sinne der (Güter-)Produktion unproduktive Tätigkeiten, die sowohl geregelt als auchfiktiv sein können (vgl. Caillois 1960: 19; auch Huizinga 1956: 9f.). Im Bemühen darum, den Gegenstand Sport möglichst klar und distinkt zu erfassen, wird immer wieder die Differenz zwischen Spiel und Nicht-Spiel ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Mögliche Bezüge, Verflechtungen und Wechselwirkungen mit der Alltagswelt bleiben weitgehend unberücksichtigt oder werden auf den jeweils gesetzten Bezugsralunen des Nicht-Spiels (z.B. Arbeit) verengt (vgl. zur Kritik Gebauer/Wulf 1998: 189ff.). Spielerisches Verhalten wird auf vielfältige Weise als Muße, Entspannung, Katharsis oder Trieb und Überschussenergie gedeutet (vgl. die kritische Position von Elias/ Dunning 2003b). Ob biologistisch-genetisch oder sozial konturiert, im Rahmen dieser dichotom strukturierten Konzeptionen wird insbesondere in den älteren Ansätzen Spiel als das Andere des Nicht-Spiels verhandelt (vgl. Lazarus 1883; Huizinga 1956). Den Fokus auf gesellschaftliche Verweisungszusammenhänge zu legen, wie es der Ansatz dieser Arbeit ist, bedeutet hingegen nicht, die Eigenweltlichkeit von Spiel und Sport aus dem Blick zu verlieren (vgl. Gebauer 1983a). Die relative Autonomie von Spiel- und Sportwelten, so der vorliegende Ansatz, geht jedoch nicht in einfachen Oppositionen und damit einer Art Gegenweltlichkeit auf, wie sie beispielsweise zwischen Freiheit und Zwang, Erholung oder Entspannung und Arbeit oder Spiel und Ernst konzeptualisiert wurde (für eine kritische Auseinandersetzung vgl. Gebauer/ Wulf 1998: 187ff.; Gebauer 1992). Demgegenüber betonen insbesondere ethnologische Studien und kulturhistorische Arbeiten gleichsam unterhalb der Selbstzweckhaftigkeit und dem illusionären Charakter von Spiel- und Sportkulturen ihre sozial-historischen Bezüge (vgl. Elias 1975; Caillois 1960; Kurke 1999; Allison 1982; Geertz 1999). Der Selbstzweckcharakter, der dem Sport als wesentliches Merkmal zugeschrieben wird (vgl. Caillois 1960: 16; Bourdieu 1986: 95; Alkemeyer 1997: 369), bedeutet nicht, dass die spezifischen Modalitäten der Sportausübung die Bewegungsweisen und Körpertechniken, der spezifische Körpereinsatz, die Kooperationsformen, die Leistungsorientierung u.a. - losgelöst von gesellschaftlichen Standards verstanden werden können. Vielmehr können in Anlehnung an zahlreiche soziologische und anthropologische Arbeiten (vgl. Elias 1975, 1989; Foucault 1977, 1983; Bourdieu 1986) die spezifischen Modi der Sportausübung, die Zielsetzungen, die als lohnenswert, riskant und herausfordernd oder als wenig reizvoll oder unmöglich betrachtet werden, nicht unabhängig von gesellschaftlichen und sozialen Wertmaßstäben, Stan-

19

STIL-KULTUREN

dards der Selbstkontrolle und Technisierung des Körpers, den Modi der Messung und Beglaubigung von Leistung und Einmaligkeit begriffen werden (vgl. Gebauer 1992, 1998; Gebauer/Wulf 1998; Bourdieu 1992a, 1993, 2001; Alkemeyer 1996; König 1989). In Anlehnung an den französischen Anthropologen und Soziologien Roger Caillois verfolgt die Arbeit den Ansatz einer Soziologie vom Spiele aus (vgl. Caillois 1960: 66ff.). Spiel- und Sportpraktiken stellen danach kulturelle Phänomene dar, die in enger struktureller Verbindung zu anderen sozialen Felder der Gesellschaft stehen, in der sie gespielt werden. Bezieht man diese These auf neu entstehende Spiel formen, so kommt diesen eine Indikatorfunktion für gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu (vgl. Gebauer u.a. 2004). Der Vorzug dieser Herangehensweise besteht nicht zuletzt darin, dass Spielkulturen aufgrund ihrer Übersichtlichkeit und Möglichkeit der Beobachtung als konkrete Praktiken einen empirisch-analytischen Zugriff erlauben. Spielpraktiken stellen kollektiv geteilte Handlungspraktiken dar, in denen gesellschaftliche Muster und Werthaltungen auf spezifische Weise und konkret gezeigt, bearbeitet und erprobt werden. Die Dynamik der Veränderung bereits bestehender Sportarten (vgl. Elias/Dunning 2003a) ebenso wie die Entstehung neuer Sportpraktiken bietet damit auch, so der hier vertretene Ansatz, Aufschlüsse über allgemeinere gesellschaftliche Wandlungsprozesse. 3 Der Ansatz einer Soziologie vom Spiele aus findet in der Spieltheorie neben Caillois einen gewissen Anschluss an Huizingas grundlegendes Werk "Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel" (1956/2001). So bedeutsam die Arbeit von Huizinga für den Gedanken der Verflechtung von Kultur und Spiel auch ist, engt er in seiner kulturhistorischen Arbeit den Spielbegriff auf ein Konzept des ,heiligen' Spiels stark ein und wertet vor diesem Hintergrund moderne Spiel- und Sportformen kritisch (vgl. auch Strube 1995). Für eine Untersuchung der neuen Praktiken bedarf Huizingas Spielbegriff einer grundlegenden Erweiterung. Der Pädagoge Flitner (2001) reflektiert dies kritisch wie folgt:

3

20

Bereits 1982 hat Stefan Größing in seiner Antrittsvorlesung (gegen eine damals von ihm noch zu konstatierende stark naturwissenschaftliche Ausrichtung der Sportwissenschaft) hervorgehoben, dass "menschliche Bewegung ein kulturelles Phänomen ist und Kulturwandel und Gesellschaftsveränderung den Wandel im Bewegungsverhalten nach sich ziehen." (Größing 1984: 6). In kulturhistorischer Perspektive zeichnet Größing Wandlungen der Stilformen und Bewegungsideale vom Mittelalter über die barocke Bewegungskultur bis zum modernen Sport nach, deren Einzelanalysen mit heutigem Kenntnisstand zwar relativiert werden können, dennoch aber damit wichtige Positionen und Sichtweisen auf den Sport eingenommen wurden.

EIN LEITUNG

"Kultur entsteht ja nicht nur in der Frühzeit und wird im historischen Prozeß von einer Generation an die andere, gewissermaßen als ein fester Bestand, weitergegeben. Sondern sie bedarf der Kulturfähigkeit der jeweils jungen Generation, die immer ein Stück weit neu entdecken und neu schaffen muß, was ihr von der älteren Generation vorgegeben wird. Für diesen Prozeß der immer neuen Aneignung und Hervorbringung der Kultur ist die Spielfähigkeit des jungen Menschen von unvergleichlicher Bedeutung." (Flitner 2001: 236) Flitners Gedanke der Spielfähigkeit als Voraussetzung und Modus der Enkulturation und des aktiven, spielerischen ,Ins-Spiel-Bringen' (vgl. auch Sutton-Smith 1978: 82ff.) ist auf der Grundlage der Bourdieuschen Sozialtheorie sowie des sozial-mimetischen Ansatzes von Gebauer und Wulf (1998) grundlegender Bestandteil des hier vertretenden Ansatzes. Die jeweils gegebenen Spielkulturen hängen nicht nur mit den Sozialkulturen zusammen, sondern darüber hinaus fordert Flitner zufolge im steigenden Maße "die Offenheit einer Gesellschaft, in der die Kultur nicht mehr von schmalen Sozialschichten geprägt wird, eine Spielfahigkeit" von seinen Mitgliedern (ebd.: 236). Aus einer solchermaßen verstandenen sozial-historischen Perspektive ist eine Zunahme der Sportkultur nicht allein kulturkritisch zu beklagen, wie dies Huizinga tut (vgl. Huizinga 1956: 211-231). Vielmehr ließe sich hierin eine sozial-historisch gewachsene Notwendigkeit eines Kulturprozesses sehen: Spiel und Sport ließen sich als sozial-mimetische Praktiken des Aneignens auffassen (vgl. Gebauer/Wulf 1998), in denen durch das Ausüben von Spielen wesentliche soziale und kulturelle Handlungs- und Verhaltensweisen (beispielsweise der Kooperation, der Leistung, der reglementierten Konkurrenz) erprobt und deren Muster sowie zugrunde liegenden Überzeugungen und Werthaltungen verinnerlicht werden. Spiele als Teil des Kulturprozesses zu verstehen (so unbeschadet das bemerkenswerte Argument von Huizinga), bedeutet im theoretischen Rahmen dieser Arbeit auch nach gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu Fragen, die sich in Verbindung mit einer sich wandelnden Spielkultur zeigen. Spiele lassen sich als eine Praxis moderner Gesellschaften verstehen, in der sich die Akteure nicht nur bestehende Praktiken aktiv aneignen, sondern zunehmend auch neuartige Sportpraktiken hervorbringen und sich in diesem Prozess zugleich auf spezifische Weise formieren: Sie bringen sich spielerisch ins Spiel einer sich wandelnden Gesellschaft. Spiel- und Sportwelten besitzen gerade deshalb eine herausragende Bedeutung itmerhalb einer Gesellschaft, weil sie allgemeine gesellschaftliche Prinzipien zur Darstellung bringen und unmittelbar körperlich-sinnlich erfahrbar werden lassen. Im geschützten Rahmen des Spiels vermögen die Teilnehmer diese mit großer Freiheit auszuleben, sie dramatisch zuzuspitzen, theatral aufzuführen und im Sinne einer "Mimesis von Gefühlen des Ernstfalls" zu beglaubigen (Gebauer/Wulf 1998: 203; vgl. Elias/Dunning 2003b/c).

21

STIL-KULTUREN

So sind auch Spiel und Ernst nicht als Gegensätze zu verhandeln (vgl. Stern 2006a). Der Ernst eines Spielgeschehens resultiert vielmehr aus einem "Glauben an das Spiel" (Bourdieu 1993: 122ff.), d.h. dem Glauben an spezifische Prinzipien und ihre unhinterfragten Werte, die Spiel- und Alltagswelt gemeinsam sind. In diesem Sinne unterliegt auch die Präferenz für bestimmte Spiele und Sportarten nicht allein einer individuellen, subjektiven Wahl. Sie ist zugleich grundlegend bestimmt durch ein Fassungsverhältnis im Sinne einer Homologie von Habitus und Feld: d.h. einem dynamischen Wechselspiel zwischen den kulturell, sozial und geschlechtsspezifisch geprägten Dispositionen des Akteurs einerseits und den feldspezifischen Angeboten und Anforderungen anderseits (vgl. Bourdieu 2001: 188ff.). Wenn sie auf einer körperlich-sinnlichen und sozial prädisponierten Ebene eine Resonanz hervorrufen, werden Sportpraktiken als reizvoll wahrgenommen und werden mit Vorliebe ,gewählt'. Vor diesem Hintergrund den Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in sich wandelnden Spielpraxen nachzuspüren, bedeutet immer auch, Momente einer gesellschaftlichen Dynamik und der unmittelbar körperlichsinnlichen Erprobung und Ausformung von Selbst und Weltverhältnissen der Akteure in den Blick zu nehmen. Die Untersuchung moderner Sportpraktiken, wie sie hier angelegt ist, baut grundlegend auf körpersoziologischen Ansätzen auf. Sportpraktiken sind ebenso wie soziale Gebrauchspraktiken auch von "Techniken des Körpers" bestimmt (Mauss 1975: 207f.), d.h. sie sind nicht losgelöst von kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen zu verstehen. Das bedeutet, dass Körperpraktiken wie die des Sports mit Bezug auf das Habituskonzept von Pierre Bourdieu (1993, 2001) nicht trotz, sondern gerade aufgrundihrer Körperlichkeit als komplexe, sozial strukturierte ebenso wie strukturierende Ordnungspraktiken konzeptualisiert werden können. Dabei handelt es sich um eine Grundposition der Arbeit, die in ihren wesentlichen Argumenten kurz skizziert werden soll. Die Perspektive auf Körperpraktiken als soziale Ordnungspraktiken nimmt, grob klassifizierend, auf zwei Ausrichtungen innerhalb der theoretischen Konzeptualisierung des sozialen Körpers Bezug. Zum einen auf Konzepte, die die soziale Formierung des Körpers als Prozess der Einschreibung sozialer Standards in den Körper (vgl. Elias 1989, 1975; Mauss 1975) und als Disziplinierung (Foucault 1977, 1983) thematisieren. Der (soziale) Körper wird von diesen Konzepten als Ansatzpunkt für eine umfassende und von außen nach innen verlaufende Arbeit der Disziplinierung und Zivilisierung gemäß geltender Standards der Emotions-, Affekt- und Verhaltenskontrollen herausgestellt. Insbesondere Foucault, der seine Untersuchungen maßgeblich auf Disziplinarinstitutionen bezieht, hebt dabei hervor, dass die Wirkungs-

22

EIN LEITUNG

weise moderner sozialer Regulierungsmechanismen nicht mit dem Begriff der Repression hinlänglich erfasst werden kann, sondern als Ergebnis einen produktiven Körper hervorbringt (vgl. Foucault 1976b, 1983). Hierin kann eine Schlüsselstelle ftir die Konzepte gesehen werden, die zum anderen den Körper nicht allein als das Ergebnis einer passiven Formierung thematisieren, sondern die aktive, produktive und Ordnung maßgeblich (mit-)erzeugende Dimension des sozialen Körpers betonen. Die vorliegende Arbeit stützt sich dabei maßgeblich auf zwei theoretische Konzepte: Das Habituskonzept des französischen Soziologen und Philosophen Pierre Bourdieu (1993, 2001) und das historisch-anthropologische und philosophische Konzept der sozialen Mimesis von Gebauer und Wulf (1998, 2003). Pierre Bourdieu hat mit dem Habituskonzept den Körper ins Zentrum seiner Sozialtheorie gerückt. Entgegen der vielfach vorgetragenen Kritik, das Habituskonzept sei rigide und starr und könne allein die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse beschreiben (vgl. Willems 1997; Ebrecht 2002), wird hier eine andere Lesart vertreten. Auch wenn einzugestehen ist, dass Bourdieus primäres Interesse Fragen nach Zusammenhalt und Erhalt gesellschaftlicher Verhältnisse gilt und das Habituskonzept eine große Erklärungskraft flir Prozesse der sozialen und geschlechtsspezifischen Reproduktion besitzt, so weist das Habituskonzept doch im Kern ein performatives Moment auf. Der Körper als zentrale Schnittstelle zwischen sozialen Verhältnissen und den Habitusformen wird von Bourdieu in dreifacher Weise konzeptualisiert: als Speicher, Medium und Akteur. Damit hebt Bourdieu die Vielschichtigkeit sowie die (Wirkungs-)Dimensionen des sozialen Körpers hervor und konzeptualisiert den Körper gerade nicht nur als einen passiven Ansatzpunkt der Unterwerfung und Einschreibung sozialer Verhältnisse. Vielmehr weist er ihm ebenso eine aktive und gestalterische Funktion zu, indem er die Inkorporierung sozialer Strukturen als Resultat einer unmittelbar körperlich-praktisch zu verstehenden Mitwirkung der Person konzeptualisiert. Das Konzept sozialer Mimesis von Gebauer und Wulf greift diesen Gedanken auf und führt ihn insofern weiter, als der zentrale Mechanismus, über den soziale Verhältnisse inkorporiert werden (der Habitus als Körper gewordene Geschichte ist bei Bourdieu quasi schon immer vorhanden) als eine sozial-mimetische Bezugnahme konzeptualisiert und ausgedeutet wird (vgl. Gebauer/Wulf 1998). Im mimetischen Noch-einmal-Machen ist den Autoren zufolge grundlegend ein performatives Moment enthalten: Mit der Bezugnahme auf etwas einerseits und der Nachahmung als aktives für sich Neuschaffen anderseits, ist sowohl ein Moment des sozialen Bezugs als auch die Erzeugung von Differenz grundlegend mitgedacht Der Mensch produziert immer - auch bei so routinierten Tätigkeiten wie dem Leisten der eigenen Unterschrift - Differenz. Unterschriften sind nie gleich und doch lassen sie Wiedererkennbarkeit zu. Gebauer und Wulf legen damit im Kern ein Konzept vor, das den eher repro-

23

STIL-KULTUREN

duktiven Erklärungsgehalt des Habituskonzepts auch in Richtung von Fragestellungen nach der Emergenz neuer gesellschaftlicher Phänomene bzw. nach gesellschaftlichen Wandlungsprozessen fruchtbar macht und ergänzt. In der sozial-mimetischen Perspektive auf den Sport wird deutlich, dass Sportwelten weniger Gegenwelten zum Alltag, als Sonderwelten bilden, die in mimetischer Bezugnahme auf Welten des Alltags (im Sinne von Goodman 1995) gesehen werden können. Eine implizite und zugleich grundlegende Wirkung des traditionellen Sports lässt sich darin sehen, dass der Sport ideelle gesellschaftliche Wertorientierungen, Handlungsmuster und Kooperationsformen (z.B. Leistungs- und Verdienstlogik, Fair-Play Ideal u.ä.) mit besonderer Prägnanz und Transparenz vorführt und immer wieder aufs Neue zu legitimieren und zu beglaubigen vennag (vgl. Boschert 2003). In der Perspektive des sozial-mimetischen Konzepts werden Spiel und Sport als Praktiken beschrieben, die auf einer unmittelbar körperlich-sinnlichen Ebene gesellschaftliche Verhältnisse aufgreifen: so werden Bewegungen, Körpereinsätze, Kooperationsformen u.a.m. in den Sonderwelten des Sports auf spezifisch kodierte und bearbeitete Weise zur Aufführung gebracht (Gebauer 1995: 190).

Methodisches Vorgehen Die Arbeit baut auf den skizzierten Ansätzen und theoretischen Anschlüssen auf und rückt die aktuelle Entstehung neuer Sportpraktiken ins Zentrum. Ziel ist es, die konstitutiven Merkmale und Ausrichtungen dieser neuen sozialen Praktiken aufzuzeigen. Diese konnten in bestimmten Bereichen der jeweiligen Felder, den dynamischen Extremformen (beispielsweise des jree-solo, dem Klettern ohne Seil, gegenüber dem Hallenklettern mit Seil) besonders gut beobachtet werden. Die charakteristischen Merkmale und Prinzipien, die sich in diesen ,dynamischen Kernbereichen' der Sportarten zeigen, konnten anschließend (in anderer Ausprägung) auch in den gemäßigten Feldbereichen wiedergefunden werden, treten hier aber weniger deutlich und damit empirisch schwerer erfassbar in Erscheinung. Diese neuartigen Sportformen sollen nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz und Zeig~fimktion befragt werden. Dabei wird die Arbeit im Anschluss an Bourdieu und Elias _figurationssoziologische Perspektive auch die dynamischen und prozessualen Anteile sozialer Praktiken in den Blick nehmen. Dies ist für die vorliegenden Gegenstandsfelder insbesondere deshalb von Bedeutung, weil sie neuartige Bewegungsweisen und Körpertechniken hervorbringen. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die neuen Sportpraktiken (anders als der traditionelle Sport) eine sozial-mimetische Anhindung an das Repertoire der Alltagsmotoriken aufweisen? Vor diesem Hintergrund bekommt die Perspektivierung der performativen Dimensionen dieser Sportpraktiken eine

24

EIN LEITUNG

besondere Bedeutung: Zu fragen ist, inwieweit die neuen Sportpraktiken als Praxisfelder verstanden werden können, in denen neue soziale Motoriken (Gebauer 1998) von den Akteuren erzeugt werden? Liegen mit diesen Feldern Praktiken vor, die sich nicht in einem ,Nachahmungsverhältnis' , sondern in einem Verhältnis der ,Vorahmung' zur gesellschaftlichen Alltagspraxis befinden? Und falls ja, wie werden diese sozialen Motoriken konkret erzeugt und weiter, wie wirken diese auf den sozialen Alltag zurück? Eine soziologisch orientierte und empirisch fundierte Analyse der neuen Sportpraktiken muss zunächst mit einer Analyse der Felder und ihrer internen Strnkturierung beginnen. Dabei ging es im ersten Schritt darum, die Differenzierung der einzelnen Felder (Klettern, Paragliding und Snowboarding) darzustellen und damit den Untersuchungsgegenstand genauer zu fassen und einzugrenzen: Der Arbeit liegt eine qualitative Untersuchung der drei Felder (Klettern, Paragliding und Snowboarding) zugrunde, die im Sinne der ethnographischen Untersuchung (vgl. Bergmann 2000; Knoblauch 200 1) maßgeblich mit den beiden methodischen Zugängen der Teilnehmenden Beobachtung (vgl. Reichertz 1992; Lüders 2000; Fischer 1997) und Lei(fadengestützten Interviews (Hopf 2000) sowie der fotogeleiteten Hervorlockung (vgl. Barper 2000; Stern 2009) gearbeitet hat. Dazu wurden über einen Zeitraum von drei Jahren alle drei Felder in jeweils drei Phasen und einem Abstand von jeweils einem Jahr im Sinne der Teilnehmenden Beobachtung untersucht und neben Spontaninterviews in jedem Feld sechs bis acht narrativ-episodische Interviews erhoben (vgl. Flick 2000a; 1995; Hopf 2000; Friebertshäuser 1997; Jakob 1997). Die Auswahl der Probanden erfolgte nach der Strategie des minimalen und maximalen Vergleichs (Glaser/Strauss 1967: 45ff.; Merkens 2000), um die Spektren der Untersuchungsfelder erfassen zu können. Darüber hinaus wurden anhand eines Fragebogens Sozialdaten der Sportler sowie ihrer sozialen Herkunftsmilieus erhoben. 4 Wesentliche Medien der Felder (Zeitschriften, Internetportale und Webseiten, Videos) wurden sowohl für den ersten Zugang der Felder gesichtet, als auch deren Inhalte, Präsentationsformen und Funktionen in die Analyse der Felder einbezogen. Die erhobenen Daten aus den Beobachtungen sowie den leitfadengestützten Interviews dienten bei der Auswertung im Sinne der Methodentriangulation als gegenseitiges Korrektiv bzw. Kontrollinstanz (vgl. Schrunder-Lenzen 1997; Flick 2000b), um vorschnelle Kohärenzvermutung in Frage zu stellen. In Anlehnung an die Verfahren der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) wurde ein Codesystem entwickelt, an dem sowohl die Beobachtungs- als auch die Befragungsdaten in mehreren Zirkeln aufgebrochen werden konnten. Die 4

Der Fragebogen wurde im Rahmen des Vorgängerprojektes in Zusammenarbeit mit dem Methodiker Prof. Dr. Uwe Flick entworfen und mit leichten Modifikationen für die vorliegende Studie übernommen.

25

STIL-KULTUREN

dabei vorwiegend thematisch erschlossenen In-Vivo-Codes wurden in Anlehnung an Glaser und Strauss (1967) zu theoretischen Codes weiterentwickelt und das Datenmaterial entlang dieser abermals aufgebrochen. In Anlehnung an Kelle und Kluge (1999) wurden Fallrekonstruktionen und Fallkontrastierungen vorgenommen, die zur empirisch begründeten Entwicklung einer Typologie geführt haben. Die Auswahl der Felder erfolgt- abgesehen von einem erhöhten Risikoengagement der Sportler - maßgeblich unter drei Gesichtspunkten: Erstens stellen die Felder keine kurzlebigen Modeerscheinungen dar, sondern solche, die mit Lamprecht und Stamms Modell der Sportartenentwicklung gesprochen die ersten Stadien der Invention (I) und Innovation (I!) überschritten haben und sich denen von En(faltung und Wachstum (III) bzw. Re!fe und Diffusion (IV) zuordnen lassen (vgl. Lamprecht!Stamm 1998: 374). Dies ist vor dem Hintergrund des theoretischen Ansatzes, eine Soziologie vom Spiele aus zu betreiben deshalb bedeutsam, weil die Frage nach gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und ihren konstitutiven Merkmalen, Orientierungen und impliziten Werthaltungen sich methodisch vor allem auf der Grundlage relativ überdauernder kultureller und sozialer Praktiken erfassen lassen, die im Sinne der Ethnographie eine eigene "Kultur einer Ethnie" ausbilden (Reichertz 1992: 332) . Zweitens stellen Free-Climbing, Paragliding und Snowboarding keine oder nicht ausschließlich jugendkulturelle Phänomene dar, sondern werden auch oder maßgeblich (insbesondere Paragliding) von Erwachsenen betrieben. Dies bedeutet nicht, dass die Untersuchung von Jugendphänomenen nicht ebenso aufschlussreich sein kann, stellte die Analyse aber vor ein zusätzliches Problem der Reflexion jugendkultureller Entwicklungsphasen und entwicklungsbedingter Distinktionsbewegungen der Sportler, die hier nicht zum Gegenstand der Arbeit gemacht werden sollen. Das dritte Auswahlkriterium ist zunächst im engeren Sinne ein sportsoziologisches, das auf die Rolle moderner technischer Sportgeräte ausgerichtet ist: Welchen Einfluss nehmen die High-Tech Sportgeräte auf die Sportausübung und welche Verhältnisse zwischen Körper und Technik bilden sich in diesen Praktiken konkret aus. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung wurde mit dem Feld Paragliding eine Sportart gewählt, die im hohem Maße vom technischen Spielgerät bestimmt wird, mit dem Snowboarding eine intermediäre Praktik und schließlich mit dem Free-Climbing (als Teilbereich des Kletterns) eine Sportart (so die erste, sich aber als falsch erweisende Annahme), die nicht maßgeblich von der technischen Ausstattung bestimmt ist. Alle drei Sportarten zeigen zudem eine interne Ausdifferenzierung, die von aufkommenden Wettkampfformen über gemäßigte Varianten der breiten Masse der Teilnehmer bis zu Extremformen reicht, die als jeweils dynamischer Kern der Felder ins Zentrum der Analyse gestellt werden. Mit den unterschiedlichen Varianten der Sportausübung weisen die Felder ein differenziertes System der Sport-

26

EIN LEITUNG

geräte und technischen Ausrüstung auf, eine stark differierende Risikobereitschaft der Teilnehmer bis hin zu unterschiedlichen Orten der Sportausübung und stilistische Präferenzen für spezifische Bewegungsweisen und Körpertechniken, die es zu untersuchen gilt. Für eine Bestimmung der neuen Praktiken hat sich eine vergleichende Analyse sowohl der drei Untersuchungsfelder untereinander, als auch mit dem traditionellen Modell des Wettkampfsports sowie anderen sozialen Praktiken wie dem Tanz als fruchtbar erwiesen. Der Wettkampfsport eignet sich als vergleichende Instanz, weil er teilweise eine deutliche Kontrastfolie bietet. Die neuen Sportpraktiken entwickeln sich aus einer stark wettkampforientierten (Sport-)Welt heraus. Dies impliziert die methodische Vorannahme, dass die Besonderheiten der neuen Praktiken unter anderem auch auf der (Kontrast-) Folie des Wettkampfsports erschlossen werden können. Ferner bietet der Wettkampfsport ebenso wie der Tanz eine gut strukturierte und in der Sportund Tanzwissenschaft bearbeitete Grundlage, auf der sowohl Gemeinsamkeiten als auch Differenzen zur aktuellen Entwicklung herausgearbeitet werden können. 5 Wendet man sich sozialen Praktiken wie denen des so genannten Risikosports zu, so gilt es auch, die rationale Perspektive auf Risiko in Verbindung mit Technik um die Dimensionen ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung zu erweitern. Hierzu ist es notwendig, die Risikothematik als eine typisch moderne Handlungs- und Verhaltensstrategie konkreter sozialer Akteure zu konzeptualisieren, d.h. auch als spezifische Form der Strukturierung von Wahrnehmung, Wertschätzung und einem modernen Selbstverhältnis zu begreifen, wie es in den Arbeiten von Bonß (1995) und Nerlich (1997) in einer allgemeinen und nicht auf den Sport bezogenen Perspektive sozialhistorisch aufgearbeitet wird. Die Frage nach der konstitutiven Rolle des Risikos ist damit eine nach der Konzeptualisierung der Unsicherheiten durch die Sportler und fragt nach den sozialen Strategien der Sportler im Umgang mit den vielfaltigen Unwägbarkeiten der Praxis.

Aufbau der Arbeit Die Analyse der neuen Spielkulturen erfolgt in sechs Kapiteln. Dabei gibt das erste Kapitel zunächst einen Einblick in die Untersuchungsfelder Free-Climbing, Snowboarden und Paragliding. Diese Darstellung bietet einen ersten empirisch fundierten Zugang zu den Feldern und verdeutlicht, dass es sich bei 5

Andere Systematiken und Klassifikationskriterien, wie Mannschafts- oder Individualsportarten, Indoor- oder Outdoor-Sport, Natursportarten usw. usf. fließen zwar in die Analyse ein, haben sich jedoch als Struktur gebende Grundkategorien als wenig geeignet erwiesen.

27

STIL-KULTUREN

den Untersuchungsfeldern weder um einheitliche noch um rein individualistische Praktiken handelt. Vielmehr zeigen sich hier intern ausdifferenzierte und sozial kodierte Sportpraktiken, die sich derzeit dynamisch entwickeln und intern von sozialen Abgrenzungskämpfen geprägt sind. Zugleich werfen die internen Differenzierungen der Felder Fragen auf, die leitend ftir die weitere Analyse der folgenden Kapitel sein werden: Dabei wird vor allem nach der Differenz sowie den prinzipiellen Anschlussmöglichkeiten dieser Praktiken an das traditionelle Modell des Wettkampfsports gefragt. Das Kapitel schließt mit einer sozial-räumlichen Verortung der Sportler ab. Damit wird gleichsam der soziologische Bogen aufgespannt, der für den Ansatz der Arbeit, eine Soziologie vom Spiele aus zu betreiben, von Bedeutung ist. Das zweite Kapitel widmet sich einer Analyse der konstitutiven Merkmale dieser Sportpraktiken, die hier immer auch als soziale Modalitäten der Strukturierung und Ordnung verstanden werden. Dabei kann trotz der zum Teil erheblichen Differenzen der Sportpraktiken eine Typologie der neuartigen Bewegungsweisen erstellt werden, die zwei grundlegende, übergreifende Charakteristika dieserneuen Sportpraktiken aufweist: einerseits eine vertikale Ausrichtung der Bewegungen (Fliegen, Schweben, Gleiten) und andererseits die Erzeugung neuartiger Mikrogesten. Die Eroberung der Vertikalen als Spielraum kann darüber hinaus mit einem spezifischen Ordnungsprinzip (Fragmentierung) näher beschrieben werden. Im zweiten Teil widmet sich das Kapitel einer detaillierten Analyse der Ausprägung des agonalen Prinzips. Unter Rückgriff auf das Klassifikationssystem von Caillois (1960) kann dieses weiter ausdifferenzieren und beschreiben werden. Die Analyse schafft eine strukturelle Grundlage, die es erlaubt, die im ersten Kapitel aufgeworfene Frage nach den Anschlussmöglichkeiten der neuen Sportpraktiken an die traditionelle Wettkampfform sowie ihre Grenzen präziser zu untersuchen. Dabei lässt sich eine Verschiebung der Modalitäten der Sportausübung und eine veränderte Leistungs- und Erfolgsorientierung aufzeigen, die Erfolg maßgeblich an eine ästhetische Kategorie des Stils bindet. Das dritte Kapitel widmet sich dem Risiko als einem weiteren konstitutiven Merkmal der neuen Sportpraktiken und betrachtet es im Zusammenspiel von neuartigen Bewegungsweisen und -ausrichtungen in der Vertikalen einerseits und den technischen Möglichkeiten der Sportgeräte anderseits. Dabei kann das riskante Handeln und Verhalten der Akteure als Funktion eines je individuellen und zugleich typischen Passungsverhältnisses von Steuerung und Störung, einer individuellen Balance zwischen Können und Herausforderung dargestellt und in Anlehnung an Bourdieu (1981 a) als spezifisch soziale Konstellation von Habitus und Habitat gedeutet werden. Feldübergreifend zeigt die Analyse eine spezifische Logik dieser Praktiken, die von divergierenden Risikodiskursen bestimmt ist. Diese kann einerseits als eine Pädagogik der Risikominimierung gekennzeichnet werden und anderseits weist diese

28

EIN LEITUNG

Logik Risiko als eine zentrale Größe der internen Hierarchisierung auf. Die neuen Praktiken können abschließend als spezifische Expertenkulturen gekennzeichnet werden, die das Risikoengagement der Sportler zu einem wesentlichen Stil-Merlanal erheben. Das vierte Kapitel greift Stil-Können als wesentliche Größe der Erfolgsorientierung dieser Praktiken auf und geht der Frage nach, wie die Sportler diese neuartigen Konstellationen ausbilden, oder allgemeiner formuliert, wie der Stil in den neuen Sportpraktiken entsteht? Dabei gilt es zunächst, nach möglichen Anschlüssen auch und insbesondere außerhalb der Sportkultur zu suchen, die eine präzisere Bestimmung der stilistischen Merkmale dieser Praktiken ermöglicht. Als Charakteristikum der konkreten Bearbeitung des Stils kann eine intermediale Konstellation aufgezeigt werden, innerhalb derer die Sportler durch den Gebrauch moderner Medien (Serienfotografien, Video) ihren Stil bearbeiten und perfektionieren. Dabei bilden die Sportler eine StilKompetenz aus, die anders als in herkömmlichen Sichtweisen auf den Sport nicht im Konzept eines praktischen Sinns (Bourdieu 1993) aufgeht, sondern maßgeblich durch einen reflexiven Modus der Bildpraxis bestimmt ist. Die Wirkung der Kombination von sportlicher Bewegung und Erzeugung digitaler Bilder der Bewegungen zeigt sich hier nicht als unidirektional, d.h. von der Bewegung zum Bild verlaufend, sondern ist in einer dynamischen Wechselbeziehung angelegt, die auf die Praxis zurückwirkt. Es kann gezeigt werden, dass ein wesentliches Merkmal des Stils dieser Praktiken eine Bildlichkeif der Bewegung selbst ist. Das Kapitel schließt auf der Grundlage der Stilorientierung mit einer vertiefenden Darstellung der sozialen Verpflichtungen dieser Sportpraktiken ab. Das fünfte Kapitel verfolgt das Ziel, die übergeordneten komplexen Zusammenhänge der Konstellation von Körper, Bild und Stil theoretisch zu konzeptualisieren. Dies geschieht (1.) in einer Auseinandersetzung mit Nelson Goodmans Weisen der Welterzeugung (1978), (2.) mit Wittgensteins Spätwerk, den Philosophischen Untersuchungen (1988) und (3.) mit dem sozialmimetischen Konzept von Gebauer und Wulf (1998, 2003). Alle drei Positionen bieten zentrale theoretische Bezüge zu dieser neuartigen Konstellation. Durch diese theoretische Reflexion lässt sich zeigen, dass die in den Sportpraktiken implementierte Bildpraxis sowie die Rückwirkungen einer Bildlichkeit der Bewegungen Kennzeichen eines sozialen Modus der Erzeugung und Bearbeitung von Selbstentwürfen aufweisen. Dies wirft zentrale Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Bearbeitung von Selbst- und Weltverhältnissen in und durch die neuen Sportpraktiken auf. Mit der Diskussion dieser Fragestellung schließt die Arbeit ab. Dabei werden Bezüge zu aktuellen Fragen der Körpersoziologie aufgegriffen, die derzeit unter Begriffen wie Mobilisierung der Subjekte und Habitusverflüssigung diskutiert werden. Die Ergebnisse der Arbeit werden somit abschließend in einen sozialen Zusam-

29

STIL-KULTUREN

menhang gestellt, der über den Sport hinaus weist, d.h. es wird nach sozialen Verweisungszusammenhängen und Rückwirkungen auf Felder außerhalb des Sports zu fragen sein. Das sechste Kapitel gibt eine Schlussbetrachtung der wesentlichen Ergebnisse und Thesen der Arbeit und zeigt Anschlüsse an weitere Forschungsperspektiven auf.

30

Dynamik moderner Spielkulturen

Das Kapitel gibt einen ersten Einblick in die Untersuchungsfelder Free-Climbing (Klettern), Paragliding und Snowboarding. Hierzu werden empirisch fundierte Feldbeschreibungen eine erste Strukturierung und interne Ausd!flerenzierung der Felder aufzeigen. Dies erlaubt bereits ansatzweise Thesen zu relativieren, die diese neuen Sportpraktiken mit Eigenschaften wie unverbindlich, individualistisch und anonym sowie zumindest implizit als einheitlich in der Ausrichtung beschreiben (siehe Einleitung). Das Kapitel schließt mit der Verortung der untersuchten Sportler im sozialen Raum ab und spannt damit den Bogen der Arbeit, wie er sich aus dem theoretischen Fragehorizont einer ,Soziologie vom Spiele aus' (Caillois 1960) ergibt. Das primäre Ziel des Kapitels ist, die allgemeine Frage nach den sozialen Verweisungszusammenhängen zwischen Sportengagement einerseits und den Positionen der Sportler im sozialen Raum anderseits konkret an die Untersuchungsfelder und Probanden anzubinden.

Die Felder: Zugänge- Räume- Settings Die hier untersuchten Praktiken - Free-Climbing, Paragliding und Snowboarding - werden anders als traditionelle Vereinssportarten nicht in exklusiven Räumen (Vereinsgelände, Hallen, Stadien) betrieben. 1 Ganz im Gegenteil: Als Vergleich kann hier sowohl der Vereinssport auf unterem Leistungsniveau herangezogen werden, wie er von mir als teilnehmender Beobachter im Feld Frauenhandball untersucht wurde (Forschungsprojekt "Die Aufftihrung der Gesellschaft in Spielen" unter der Leitung von Prof. Dr. Gunter Gebauer im Rahmen des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Performativen", in Berlin 1999-2001), als auch der hochgradig restriktive Zugang zum Spitzensport, den der Autor exemplarisch am Nationalkader der Österreichischen Skispringer (2005-2007) erschließen konnte. 31

STIL-KULTUREN

Zumeist handelt es sich um öffentliche (Natur-)Räume, die prinzipiell für jeden auch nicht am Sport interessierten offen stehen. So stellt sich der erste Feldzugang als unproblematisch dar. Der teilnehmende Beobachter findet einen ungehinderten Zugang zu den einschlägigen Orten der Snowboarder: Half-Pipe, Großschanzen, sliding-Ge1änder2 sowie zahlreiche selbstgebaute Sprungschanzen auf der Piste. ln ähnlicher Weise stellt sich der erste Kontakt zu den Kletterem und Paragliding als erstaunlich unkompliziert und im Vergleich zum Vereinssport als unbürokratisch dar. Ob in der Halle, in Klettergärten oder im Gebirge, auch die Räume der Kletterer sind für Beobachter zugänglich. Selbst das Feld der Paraglider ermöglicht einen verhältnismäßig offenen Zugang zu den zentralen Start- und Landeplätzen; ob im Flachland (Brandenburg), im Gebirge (Alpen) oder beispielsweise an Steilküsten (Portugal), wo die vorliegende Untersuchung der Paraglider ihren Ausgang nahm. Wie für traditionelle Sportarten auch, bedarf es eines Wissens um einschlägige Plätze; anders als anfangs vermutet, handelt es sich aber keineswegs um ein geheimes Wissen, über das ausschließlich Eingeweihte verfügen und das nur im Inner-Circle weitergegeben und aktualisiert wird. Die Frage nach dem gate-keeper (vgl. Wolff 2000), der erschlossen werden muss, um einen Zugang zum Feld zu erlangen, stellt sich auf dieser Ebene nicht. Vielmehr werden auf den Homepages und Speciai-Interest-Zeitschriften zahlreiche Informationen über geeignete Orte, Zeiten und vieles mehr angeboten. Die Felder sind im ersten Zugang gerade nicht restriktiv, sondern bieten Kontaktadressen bis hin zu detaillierten Wegbeschreibungen an. An dieser Informations- und Planungsinfrastruktur lässt sich bereits erkennen, dass die Raum-Zeit-Strukturen der neuen Sportpraktiken zwar von denen des traditionellen Sports unterschieden, deshalb aber nicht zwangsläufig beliebig oder rein individuell gestaltet sind: In der Tat weisen diese Sportpraktiken keinen festen Ort oder feste und klar definierte Zeiten auf, wie dies für den traditionellen Vereinssport beispielsweise mit verbindlichen Hallenzeiten an festgelegten Wochentagen typisch ist. Demgegenüber sind die neuen Sportpraktiken mithilfe flexibler und hoch effizienter Kommunikationsstrukturen organisiert: Homepages, kurzfristige Anfragen via e-mail, SMS, Telefonaten bis hin zu zentralen Anrufbeantwortern, auf denen Basisinformationen zum aktuellen Flugbetrieb (Paragliding im Flachland) abgefragt bzw. Nachrichten über eigene Pläne hinterlassen werden können. Eine Zunahme an Flexibilität dieser Sportfelder ist nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit oder Unverbindlichkeit (vgl. Schildmacher 1998: 74f.). Die Freiheit "von institutionellen Zwängen" (ebd.: 75) bedeutet in den untersuchten Feldern nicht eine generelle Freiheit von sozialen Verpflichtungen und Netzwerken. Zu Recht 2

32

Sliding-Geländer bezeichnet diverse Konstruktionen wie Treppengeländer, Mauem u.ä., auf die die Boarder springen und mit dem Snowboard entlang rutschen.

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

hebt Schildmacher hervor, dass die Sportler (Skater in der Half-Pipe, Streetball-Spieler, so ihre Beispiele) keine "Trainingszeiten" berücksichtigen müssen und auch "keine Mannschaft im Stich" lassen (ebd.), kurz: keine zeitlichen und sozialen Verpflichtungen eingehen. Die Differenz aber geht für die vorliegenden Felder nicht in der Freistellung der Sportler von sozialen Verpflichtungen und einer beliebigen Dezentrierung durch die Aufgabe fester, immer gleicher Standorte der Praktiken auf. Die Kehrseite der neuen Organisationsformen besteht darin, eine komplexe soziale Verpflichtung einzugehen: Informell organisiert aber nicht minder bindend wird auf mithin subtile Weise Präsenz und Engagement eingefordert (ausführlich später). Begibt man sich in diese Kommunikationssysteme der Sportler, so zeigt sich, dass die Felder zwar eine Vielfalt an "spots" aufweisen, zugleich aber eine informell organisierte, flexible und effiziente Infrastruktur bieten, welche die Kontaktaufnahme erleichtert und die Felder weit weniger anonym oder beliebig zeigt, als sie zunächst erscheinen mögen. Konkret zeigt sich dem Beobachter an den einschlägigen Plätzen folgendes Bild: Bei den Kletterem ist - ob im Gebirge, an Brücken, alten Kriegsbunkern in der Stadt oder in der Halle - eine bunte aber ruhige Atmosphäre bestimmend. Mit farbenfrohen Accessoires (Kreidebeutel, Seilen, Haken, weit geschnittener bis hautenger Kleidung, Kletterschuhen usw.) gehen die Kletterer zumeist in Zweier-Gruppen ihrer Aktivität nach, wobei einer vom Boden aus mit dem Seil sichert, während der andere klettert. 3 Nebenher sieht man auch einzelne Kletterer mit oder ohne Seil, die über eine ausgereifte Technik und ein gehobenes Können verfügen. Insbesondere im Gebirge bewegen sich Klettergemeinschaften (zu zweit, dritt oder viert) auch gemeinsam in der Wand: Dabei tauschen sich die Kletterer mithin auch über mögliche Griffe und Tritte aus, die beispielsweise der vorsteigende Kletterer ftir sich gefunden hat. Auffällig an diesen Settings im Vergleich zum traditionellen Vereinssport ist die ruhige und konzentrierte Atmosphäre: Es wird wenig gelacht, nur leise sprechen kleinere Gruppen, die zusammen Pause machen, etwas Essen oder Trinken, während sie den anderen Kletterem in der Wand zusehen. Ein atmosphärisches Charakteristikum ist das leise Klingen der Sicherheitshaken, die am Gürtel der Kletterer hängend aneinander schlagen und vereinzelte Zurufe, wie "Seil", "Zug", "Achtung" u.ä., die vom Voranschreiten eines Kletterers oder Abstürzen ins Seil künden. 3

Die Spots, an denen ich Klettern beobachtet habe, reichen von den Berliner Hallen (T -Hall, Magic-Mountain) über den sogenannten "Kletterklotz" am Berliner Teufelsberg, diversen Brücken, dem alten "Bunker" (im Berliner Stadtbezirk Wedding), wo nur im höheren Schwierigkeitsgrad (ab 7. Grad) an den Einschusslöchern des 2. Weltkrieges geklettert werden kann bis zum Klettern im freien Gebirge (Elbsandstein Gebirge).

33

STIL-KULTUREN

Klettern ist von einem steten Wechsel von Ein- und Ausstieg in die Wand, sichern und gesichert werden gekennzeichnet. Die vielfältigen Pausen und Unterbrechungen, Essen, Trinken und Gespräche erweisen sich dabei weniger als Ausdruck einer Beliebigkeit, sondern folgen einer internen Logik, die einerseits vom hohen Kraftaufwand der Techniken bestimmt wird und anderseits auf die Anteilnahme an Aktionen anderer Kletterer gerichtet ist. So sind Pausen des Kletterns nicht Pausen von der Praxis, sondern dienen dazu, Techniken und Stile anderer Kletterer zu beobachten oder die Wand auf neue Routen hin abzusuchen. Kletterer bezeichnen das Betrachten der Wand als Lesen: Die Wand wird nach Möglichkeiten, einzelnen Griffen, Tritten und Kombinationen abgesucht. Die Köpertechniken (Bewegungen der Hände, Arme, Körperdrehungen) werden dabei am Boden in stilisierter Weise vorgeahmt und so kurzfristig im Körpergedächtnis abgespeichert. 4 Eigentümlich steif anmutend wirken die Bewegungen der Kletterer am Boden, während sie sich ruhig, fließend und mit erstaunlicher Präzision in der Wand und selbst da noch bewegen, wo ftir den Laien kaum Möglichkeiten zu erkennen sind. Ruhig und konzentriert suchen sich die Kletterer ihren Weg durch die Wand: Der Fels ebenso wie die künstlichen Wände in der Halle sind nicht eindeutig oder gar zwingend. Sie sind kontingent, d.h. sie bieten vielfältige Möglichkeiten (Griffe, Tritte), von denen jeder Kletterer seine wählt. Die Praxis des Kletterns erscheint hoch individuell und zugleich von Kooperation, wechselseitiger Beobachtung und Anteilnahme geprägt zu sein. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Paraglidern: Zentrale Orte sind Startund Landeplätze, d.h. Orte, die aufgrund guter Thermik oder spezifischer Wind-Raum Konstellationen beispielsweise an Steilküsten mit konstant aufsteigenden Windverhältnissen frequentiert werden. Bei der Ankunft auf einem Startplatz5 lässt sich zunächst folgendes beobachten: aufgebaute Drachen und Gleitschirme in farbenfroher Vielfalt beim ground-hand!inl, eine lose Ausrichtung der Teilnehmer am Rande der Start- und Landefläche, akustische Signale der GPS und Höhenmessgeräte, die jeder Pilot an einem speziellen 4

5

6

34

Solche körperlich stilisierten Vorwegnahmen von Bewegnngen sind typisch für den Sport allgemein und lassen sich beispielsweise bei Hochspringer gut beobachten, die anstelle von Schritten mit dem Kopf nicken u.ä. Zur mimetischen Aneignung von Bewegungen siehe grundlegend Gebauer/Wulf (1998). Die Beschreibungen beziehen sich hier insbesondere auf einen Startplatz für Paraglider und Drachenflieger südlich von Berlin, an dem ich u.a. in den Jahren 2002-2004 die Beobachtungen durchgeführt habe. Graund-handling bezeichnet die technisch versierte Handhabung des Gleitschinns am Boden, bei der der Schirm aufgezogen und mit den Steuerleinen über dem Kopf des Piloten manövriert wird. Einerseits dient dies der Kontrolle des Gerätes und Vorbereitung auf den Flug und anderseits bietet es dem Piloten die Möglichkeit der Inszenierung seines Könnens im Umgang mit dem Material.

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

Gürtel trägt, kurze Bemerkungen oder Anfragen über Funkgeräte, Starts und Landungen bis hin zu spektakulären Manövern in unmittelbarer Bodennähe ebenso wie Gleitschirmflieger hoch oben am Himmel, die in der Thermik ihre Kreise ziehen und bei guten Wetterbedingungen allmählich aus dem Blickfeld entschwinden. Auf den ersten Blick eine relativ beliebig wirkende Anordnung von Menschen, die zumeist jeder für sich am Startplatz ihr Material aufbauen, kontrollieren, denen in der Luft zusehen oder auf den eigenen Start warten. Die Gleitschirmflieger bezeichnen sich selbst als "Piloten" und so sehen sie auch aus: Helm mit integrierter Freisprechanlage, Fliegerstiefel, Gürtel mit technischen Geräten (GPS, Höhenmessgerät, Handy, Funkgerät), Sonnenbrille, Handschuhe (mithin Fliegeroverall) prägen die typische Erscheinung eines modernen Paraglider. Betrachtet man die Bewegungen, so wirken die Paraglider gegenüber den Drachenfliegern bei der unmittelbaren Start- und Landephase eleganter und leichter: So gelingt den meisten Paraglider eine Punktlandung, bei der sie aus dem Flug direkt in den festen Stand aufsetzen und mit einer halben Körperdrehung den Schirm über sich zusammenfallen lassen. 7 Nur munittelbar beim Start entsteht ein eigentümlich anmutendes Bild, wenn der Pilot mit aufgezogenem Schirm über dem Kopf zu rennen beginnt: Die Bewegungen wirken angestrengt und mit den Händen beim Rennen nach oben (an die Steuerleinen) gehalten unharmonisch. Bereits nach wenigen Metern aber greift der Wind im Schirm und der Paraglider verlässt den Boden. Während die Beine noch für einen kurzen Moment ins Leere treten, kommt der Sportler in einer sitzenden Position zur Ruhe und fliegt elegant wie imposant anmutend (mehr als zehn Meter Spannbreite) davon. Ob die Piloten starten oder nicht und was sie, einmal in der Luft, tun, stellt sich auf den ersten Blick überaus beliebig dar. Dieser erste Eindruck ist vor allem der Kontingenz dieser Praxis geschuldet, d.h. der Abhängigkeit von der Thermik für den Höhengewinn, die sich einer präzisen und willkürlichen raum-zeitlichen Planung entzieht. Zugleich aber ist diese Ungewissheit zentraler Bestandteil der Logik dieser Praktik: Die Paraglider kreisen beliebig wirkend über dem Startplatz, weil jeder Pilot für sich, auf der Suche nach einer Thermikablösung, sein Glück versucht. So gewinnen einige bei guten Wetterbedingungen schließlich beachtlich an Höhe und geraten allmählich aus dem Blick, während andere über dem Platz kreisen, mit der Thermik spielen und mithin spektakuläre Manöver vorführen. Wiederum andere setzen vor allem bei schlechter Thermik alsbald wieder zur Landung an. Deutlich wird, dass nicht nur dem Spiel mit der Thermik, sondern auch den Landungen eine herausgehobene Stellung zukommt, die immer wieder 7

Die ältere Sportart Drachenfliegen ist in dieser Hinsicht anspruchsvoller: Insbesondere die Landungen können nur mit einer weit höheren Geschwindigkeit geflogen werden, beinhalten dadurch ein höheres Verletzungsrisiko und eine Ziel gerraue Landung gelingt hier nur erfahrenen Piloten.

35

STIL-KULTUREN

effektvoll in Szene gesetzt werden: offizielle Landeplätze oder abseits davon (z.B. Schwimmbad-Wiese) oder Steilküsten an Urlaubsorten, die zudem von der Gemeinschaft der unten Wartenden gut einsehbar sind. Die Art und Weise des Anflugs zur Landung variiert dabei auffällig, bietet aber über das Spektakuläre hinaus dem unerfahrenen Beobachter kaum Aufschlüsse. Demgegenüber erkennen erfahrene Piloten an einer Vielzahl von Kriterien den relativen Anfänger nicht nur am Gleitschirm8, den er fliegt, sondern bereits daran, dass er ,schulmäßig' und in ihrer Wertschätzung ,langsam' und ,zögerlich ' anmutend über dem Landeplatz Höhe abbaut und im gleichmäßig langgestreckten Anflug zur "Lehrbuch-Landung" ansetzt. Andere Piloten hingegen vollführen akrobatische Figuren in der Luft, ziehen rasante Kurven bei hoher Geschwindigkeit, pendeln dabei mit dem gesamten Körper weit nach außen und wieder zurück in die Falllinie, bauen dabei in hoher Geschwindigkeit Höhe ab und bremsen den Sinkflug erst kurz vor dem Boden ab. Kurz: Die Landungen und der Flug über den Landeplätzen bietet den Piloten Gelegenheit für spektakuläre Einlagen, die bei den unten sitzenden Fliegern und/oder Begleitpersonen große Beachtw1g finden. Auch in diesem Feld zeigt sich eine starke Wechselbezüglichkeit unter den Piloten und eine spezifische Anteilnahme an den Aufftihrungen der anderen Sportler. So stellen eine relativ individuelle Anordnung der Teilnehmer am Boden bzw. Aktionen in der Luft einerseits und die von außen wenig auffallende Kommunikation über Funk anderseits die beiden Seiten einer Medaille dar. Insbesondere mit den effektvollen Aufftihrungen in unmittelbarer Bodennähe ist ein hohes Risiko verbunden. Im Verlauf der Arbeit werden sich feldinterne Konventionen und ungeschriebene Gesetze aufzeigen lassen, die eine ambivalente aber keinesfalls beliebige Logik der Praxis verdeutlichen. Die zentralen Orte der Snowhaarder sind abermals durch eine eigene Atmosphäre geprägt: Die schneebedeckten Pisten und Berggipfel wirken zunächst im starken Kontrast zu den anderen beiden Feldern. Aber auch hier konzentriert sich das Snowboarding auf vielfältige, zugleich aber spezifische Räume: Half-pipe, Sliding-Konstruktionen9 , große Sprungschanzen abseits der Piste (Big Airs) oder kleinere, an den Rändern der Piste mithin selbstgebaute Schanzen stellen Orte dar, an denen man einen offenen Zugang zu den "Boardern" finden kann. Um die Snowboarder zu beobachten, muss man sich aber in besonderer Weise im Feld mit bewegen. Zwar sind die Orte prinzipiell für 8

9

36

Die Produktion von Gleitschirmen weist mittlerweile eine Differenzierung auf vom Aufangerschirm bis zum professionellen Gerät und ist in folgende Stufen eingeteilt: 1er, l-2er, 2er, 2-3er. 3er. Treppengeländer oder mittlerweile spezielle und fest installierte Konstruktionen auf den Pisten, auf denen die Boarder aus der Fahrt aufspringen und mit dem Snowboard auf dem Geländer entlang rutschen (eng!. "sliding").

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

jeden offen, lassen sich aber zumeist nur mit dem Snowboard erreichen. Zudem wechseln die Boarder im Laufe des Tages mehrfach die Spots, so dass bereits der erste Zugang hier im besonderen Maße nur im Sinne der teilnehmenden Beobachtung möglich wird. 10 Einzelne Snowboarder auf der Piste sind eher eine Seltenheit. Zumeist bewegen sie sich in kleineren Gruppen (vier bis sechs Personen), den so genannten "Clans". Gemeinsam fahren sie ihre Spots an und vollführen auf dem Weg dorthin unentwegt Tricks bzw. moves. Dabei steuern sie beispielsweise die nächste Sprungschanze oder den Skilift nicht geradlinig an, sondern suchen sich eine Streckenführung, die besondere Herausforderungen aufweist: Schneeverwehungen oder Schneeaufwürfe der Pistenraupen, Geländer, Treppen, Vordächer bis hin zu Felsvorsprüngen (im freien Gelände) werden ausgewählt und mit zum Teil beachtlichem Tempo für riskante Sprünge und diverse Tricks genutzt. Die Snowboarder zeigen bereits auf den ersten Blick ein differenziertes System an Bewegungstechniken und -qualitäten. So sind zahlreiche Drehungen und Sprünge während der Fahrt zu sehen, die Snowboarder spielen unaufuörlich mit ihrem Board und den Umgebungsbedingungen, stellen bei hoher Geschwindigkeit das Board quer zur Fahrtrichtung eigentlich eine Art zu bremsen - oder kippen das Board während der Fahrt extrem an und nehmen dabei ebenso spektakuläre wie riskante Positionen ein. 11 Snowboarding ist durch diese moves, die riskanten und spektakulär inszenierten Sprünge sowie die Vielzahl der Spots bestimmt. Die Praxis ist durch Clan-Gemeinschaften sowie größere und weitgehend informelle Gemeinschaften gekennzeichnet, die sich an diesen Orten versammeln. Die Vielfalt der gezeigten Tricks und Sprünge zeichnet auch hier zunächst ein relativ beliebiges und stark individualisiertes Bild der Praxis. Die enorme

10 Für den Zugang zu den sogenannten "Clans" hat sich die Verwendung von Skiern als überaus abträglich erwiesen. Die einzige Voraussetzung, die man im ersten Schritt erfüllen muss, ist, selbst zu snowboarden. Während ich als Skifahrer keines Blickes gewürdigt wurde, stellt sich die Kontaktaufnahme mit dem Snowboard als relativ unproblematisch dar. Meine überaus begrenzten Fähigkeiten blieben den Boarder keineswegs verborgen, spielten aber für den ersten Zugang kaum eine Rolle. Die gleiche Erfahrung konnte ich auch im Feld Klettern machen, in dem meine Fähigkeiten bis an den Schwierigkeitsgrad 6 heranreichen, jedoch prinzipiell auch hier der Zugang nicht so sehr vom Könnensstand beeinflusst ist. Nur im Paragliding blieb mir der unmittelbar praktische Zugang im Selbstversuch verschlossen. Dies ist einerseits dem hohen Aufwand der Ausbildung geschuldet, der notwendige Erwerb der offiziellen Fluglizenz ist kostspielig und in Theorie und Praxis zeitintensiv. Zum anderen stellt das Risikoengagement, das von jedem Einsteiger erbracht werden muss, eine Barriere dar, die ich nicht überwinden wollte. 11 Das System der Bewegungsformen und Qualitäten wirkt auf den ersten Blick unübersichtlich und besticht im Gespräch mit den Snowboardern zudem durch eine umfangreiche "Fachsprache", deren Codes erst erlernt werden müssen.

37

STIL-KULTUREN

Vielfalt der Bewegungstechniken, die sich in diesem Feld besonders gut beobachten lässt, verschleiert zunächst die interne Logik der Praxis, die gleichsam unterhalb der Vielfalt wirkt und ein spezifisches Verhältnis von individueller und kollektiver Ausprägung der Bewegungsteclmiken hervorbringt und einfordert. Dies wird im Kontext der Frage nach dem Stil dieses Feldes ausführlich zu beschreiben sein. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle drei untersuchten Felder beim ersten Zugang in keiner Weise restriktiv, sondern offen für jeden Interessierten sind. Ferner wirken sie zunächst als stark individualisierte und nicht standardisierte Praktiken, die mithin auf kein klar erkennbares gemeinsames Ziel aller Teilnehmer hin ausgerichtet sind, sondern in denen sichjeder nach seiner Fa9on zu engagieren scheint. Feldübergreifend ist ferner die Logik des Spots: Die Sportler der drei Untersuchungsfelder favorisieren mit der Wahl der Orte spezifische Sporträume, die ein Moment des Unbekannten und der Kontingenz aufweisen. Ein Spot ist ein Bewegungsraum, der mitunter erst von den Sportlern selbst zu einem spielerischen Bewegungsraum erklärt und gemacht wird; ferner ein Raum, der noch nicht bekannt ist, sich durch wechselnde Wetterbedingungen verändert hat (Schneefall) oder permanenten Veränderungen unterzogen ist (Thermik, Wind) oder der von den Sportlern aktiv geschaffen bzw. modifiziert wird (Sprungschanze). Normierung, Standardisierung und eine gebrauchsfertige Funktionslogik ist den aufgesuchten Sporträumen dieser Praktiken eher fremd: Vielmehr weisen die Sportler einen ausgeprägten Sinn für das Neue, das mitunter auch im Ungewöhnlichen und am Rande der Legalität durch Umwertungen und eigenmächtige Gebrauchsformen - von Treppen, Hausdächern u.ä. (Snowboarding), Schwimmbäder als Landeplatz (Paragliding), Häuser, Brücken (Klettern) - gefunden wird. Die Kontingenz dieser Sport- bzw. Naturräume stellt- wie noch zu zeigen sein wird - eine wesentliche Herausforderung für die Spotiler dar und nimmt maßgeblich Einfluss auf die Bewegungsausrichtungen, inhaltlichen Orientierungen und das den Praktiken inhärente Risiko. Darüber hinaus zeigen sich erst mit fortschreitender Untersuchung interne Differenzierungen der Felder: Die Sportler selbst führen in ihre Praxisfelder ein System von Unterscheidungen ein, das gerrauer beschrieben werden kann. Dabei liegen zum Teil Dynamiken der Felder vor, die durch soziale Kräftelinien der Distinktion, interne Kämpfe um Abgrenzung und Anerkennung, geprägt sind und die ein je spezifisches Repertoire an Erkennungsmerkmalen, Inhalten und Stilistiken aufweisen können (vgl. auch Necke! 1993). Dabei konnte in allen drei Feldern ein dynamischer Kernbereich der Sportarten herausgestellt werden, der für die weitere Untersuchung ins Zentrum gerückt wird. An diesen innovativen Varianten können die Entwicklungstendenzen der Sportarten besonders gut erfasst werden. Das Feld Klettern weist dabei die Besonderheit auf, dass dem Free-

38

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

Climbing im Gebirge derzeit mit dem Hallenklettern eine anders orientierte Ausrichtung an die Seite tritt und zu Abgrenzungskämpfen führt. Anhand einer vergleichenden Analyse dieser beiden Ausrichtungen lassen sich kontrastiv Gemeinsamkeiten und Differenzen gut erfassen.

Ausdifferenzierung Klettern -Spiel in der Senkrechten Erst die Teilnehmende Beobachtung über einen längeren Zeitraum, Interviews vor Ort sowie umfangreiche narrative Interviews haben einen differenzierten Zugang zum Feld des aktuellen Kletterns erlaubt 12 Die Praxis des Kletterns ist weder in der Gegenwart noch aus historischer Perspektive ein einheitliches Feld. Vielmehr zeigt sich, dass das moderne Klettern durch eine Reihe von Unterscheidungen gekennzeichnet ist, die sowohl auf die Orte Bezug nehmen, als auch quer dazu verlaufen und die spezifische Art des Kletterns betreffen. Der Teil der internen Differenzierung steht zumindest implizit mit der historischen Entwicklung des K.letterns in Verbindung. Eine kurze, überblicksartige Skizze wesentlicher Phasen der Entwicklung des modernen K.letterns ist sinnvoll, um die aktuellen Strukturen, Entwicklungen und Spannungen innerhalb des Feldes zu verstehen, die mit der Etablierung des Hallenkletterns und der Öffnung hin zum Wettkampfklettern eingetreten sind. Modernes Klettern weist (anders als die Felder Paragliding und Snowboarding) bereits eine lange Tradition auf. Mit dem Blick auf die letzten 150 Jahre lässt sich eine Entwicklung der Kletterpraxis nachzeichnen, die von mehreren Umbrüchen geprägt ist. Diese lassen sich anhand von Kriterien wie der Entwicklung der technischen Ausrüstung und Sicherheitsstandards, der Ausbildung spezifischer Körpertechniken und veränderten i dealen des Kletterns beschreiben. Zentral ist dabei, dass die einzelnen Faktoren in den jeweiligen Phasen je spezifische Konstellationen ausgebildet haben und in dieser bestimmend für den jeweiligen Stil der Praxis wurden: Klettern befindet sich derzeit -so die These- in einer erneuten Umbruchphase mit der Akzentuierung eines neuen Stils. In der Rückschau auf die Entwicklung des Kletterns wird gut sichtbar, dass und wie Körpertechnik, technische Ausrüstung und ideelle Zielsetzungen in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehen: Spezifi12 Hier, ebenso wie in den anderen Feldern, wurde in drei Zyklen (im Paragliding unter neuer Fragestellung insgesamt in fünf Untersuchungsphasen) mittels Teilnehmender Beobachtung, Spontaninterviews sowie umfangreichen Narrativen Interviews das Feld erschlossen, die die Grundlage ftir die hier vorliegende Analyse bilden.

39

STIL-KULTUREN

sehe Haken, Schuhwerk (Schuhsohlen), das Gewicht der Ausrüstung, die Belastungsgrenze beispielsweise der Haken, wie und wo sie angebracht werden können (z.B. Express, Friends) usw., alle diese technischen Kriterien sind nicht zu trennen von je spezifischen Gebrauchsmöglichkeiten und Nutzungsabsichten der Kletterer. In einem dynamischen Wechselverhältnis haben sich technische, körpertechnische Innovationen und Ideale bedingt. Diese Entwicklung wird im Folgenden kurz an wesentlichen Merkmalen beschrieben. Darauf aufbauend kann das aktuelle Praxisfeld des Kletterns differenzierter dargestellt und im Kontext der neuen Sportarten verortet werden. Die historische Entwicklung des Kletterns ist bereits eingehend wissenschaftlich aufgearbeitet worden (vgl. insbesondere Peskoller 1997; 2001; Kaufmmm 2004; 2006) und lässt sich schematisch (1.) an der allmählichen Ablösung des Kletterns vom Bergsteigen, (2.) dem so genannte ,Einzug der Schlosserei' in die Wand und (3.) der Ausbildung des Ideals des Clean- bzw. Free-Climbing aufzeigen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein herrschte im Alpinismus, aus dem sich das moderne Klettern allmählich herauslöste, eine zweifache Orientierung: Naturerleben und naturwissenschaftliche Erkenntnis (vgl. Peskoller 200 I; allgemein Böhme/Böhme 1985). 13 Während das Naturerlebnis durch eine "Euphorie an der panoramatischen Schau - ein Sehen ohne Rahmung, wie es eine Gipfelaussicht bietet" (Kaufman 2004, 216) geprägt war, begann etwa mit den 1870er Jahren eine "einsetzende Suche nach schwierigen Wegen" und damit ein "Gefallen am Aufstieg und am Klettern selbst" (ebd.). Die Geburtsstunde der modernen Kletterei ist dabei nicht zu trennen vom wissenschaftlich-kartographischen Zugang zu den Bergen des 19. Jahrhunderts. Die Obsession der Kartographen bestand darin, auch die letzten weißen Flecken auf den Landkarten zu füllen (vgl. Ott 2006, 252), die mit der wissenschaftlichen Alpenerschließung des 19. Jahrhunderts weitgehend ein Ende fand. Zu diesem Zeitpunkt nahmen auch Klettern und Bergsteigen, noch eng miteinander verbunden, extremere Formen an: "Die Karte setzt aus, wo die Kletterroute ansetzt. Das kartographische Niemandsland ist das Paradies des Extremen" (Peskoller 1997: 255). Bettet man die Praxis einer Sportart, wie dies Peskoller tut, in einen sozial-historischen Zusammenhang ein, so zeigt sich beim Klettern ein Bedingungsgefüge zwischen der extremen Entwicklung einer sportlichen Praxis einerseits und gesellschaftlichen Ausrichtungen, die mit naturwissenschaftlichen und kartographischen Erkenntnisweisen weit über den Sport hinausweisen (vgl. auch Trebels 1993). Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nimmt das Klettern, auch wenn es sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht als eigenständige Praxis vom Bergsteigen

13 Ausführlich zur historischen Entwicklung des Alpinismus bis zur modernen Kletterei siehe Peskoller (1997); fiir einen kurzen Überblick (200la).

40

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

gelöst hat, bereits Formen an, bei denen der Schwierigkeitsgrad zentraler wird. Der erklommene Gipfel rückt tendenziell in den Hintergrund und die Schwierigkeit der Route wird bedeutender. Die neue Ausrichtung am Schwierigkeitsgrad ist, dem Soziologen Stefan Kaufmann folgend, mit einem ästhetischen Ideal verbunden, das auf die "Logik der Linienfllhrung" gerichtet ist (Kaufmann 2004, 217) und damit den Stil der Kletterei auf spezifische Weise prägt. 14 Die Auflösung der doppelten Orientierung (Naturerlebnis und Kartographie) wird in historischer Perspektive als ein Wechsel hin zur Thematisierung der "Selbstschöpfung im Spiegel der Natur" beschrieben (ebd.; vgl. Enzensperger 1951 : 13ff.). Diese neue Haltung der Alpinisten und aufkommenden Kletterer ist nicht allein als neues Naturverhältnis zu verstehen, sondern darüber hinaus mit einer spezifisch körperlichen Modalität verbunden, die wesentlich für eine soziologische Rekonstruktion ist. Die Thematisierung der ,Selbstschöpfung im Spiegel der Natur' , von der Kaufmann spricht, kann an diversen Selbstberichten, Vorworten und Romanen von Kletterem und Bergsteigern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein aufgezeigt werden (vgl. exemplarisch Trenker 1935; Messner 1994, 1996, 2000). Dabei wird deutlich, wie die spezifische Modalität des Kletterns und Bergsleigens zunehmend als eine Arbeit am Selbst beschrieben werden kann, die in der alpinen Natur einen kämpferischen Gegenpol sucht. Der neue Modus, der sich nicht mehr allein am Gipfel ausrichtet, sondern auf den Schwierigkeitsgrad bezieht, fordert dem Sportler nicht nur besondere Fähigkeiten ab, sondern dynamisiert insgesamt die Konstellation aus Körper, Technik und Zielsetzung. 15 Mit dem Fokus auf den körperlichen Akt rückt die Überwindung, die Bezwingung und quasi überlegende Tat des Kletterers und seines Willens in den Vordergrund, während besinnliche Beschau, Reflexion und Innerlichkeit vor dem Erhabenen der Berge oder eine kartographische Erkenntnis in den Hintergrund treten. Ein neues Selbst- und Weltverhältnis der Sportler am Berg ist nicht zu trennen von den körperlichen und technischen Mittel ihrer Bearbeitung.

14 Dieses neue Telos der Kletterei findet sich auch im Bergsteigen des 20. Jahrhunderts wieder. Mit der vorangeschritteneil Gipfelstürmerei wird das Erreichen des Gipfels nur noch unter spezifischen Gesichtspunkten, der Schwierigkeit der gewählten Route oder den Begleitumständen der Bergbesteigung zum Ziel: Auf exemplarische Weise zeigt sich dies etwa in den Bemühungen von Reinhold Messner, nicht allein alle Achttausender der Welt zu besteigen, sondern dies ohne zusätzlichen Sauerstoff getan zu haben (vgl. Messner 2000). 15 Zur Geburtsstunde des modernen Alpinismus siehe Petraca ( 1995): Petraca wird die Aussage zugesprochen, er habe seinen Aufstieg auf den Mont Ventoux im Jahre 1336 weder in militärischer Tradition noch aus religiösen Motiven getan, sondern: "Allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlichen Ort zu sehen" (ebd.: 5). Die Frage danach, ob es sich dabei um eine fiktive Erzählung handelt oder nicht, ist ftir die "referenzielle Bedeutung" jedoch nicht relevant (vgl. Kaufmann 2004: 205; siehe auch Rudolph 1959).

41

STIL-KULTUREN

Dies bildet den Hintergrund, vor dem sich ca. in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Klettern als eigenständige Praxis vom Bergsteigen ablöst. Es entwickelte sich zunehmend eine Kletterpraxis, die von den Akteuren ohne Anhindung an das alpine Bergsteigen praktiziert wird. Während es in seinen Anfangen noch stark vom Bezwingungs- und einem Männlichkeitsethos des Bergsteigens geprägt war, nahm es über zwei sehr divergente, extreme Strömungen seine Entwicklung zum modernen Sportklettern der Gegenwart: Zum einen das Bohrhaken-Klettern, das auch als ,Einzug der Schlosserei in die Wand' bezeichnet wird und dem Ideal folgte, möglichst geradlinig eine Wand zu erklimmen. Mit Bohrmaschine und Kletterleitern wurde hier das Ideal der "Diretissima" (Messner 2002), der geraden Linie bis zum Gipfel verfolgt. Kletterer benutzten dabei dezidiert selbst gebohrte Sicherungshaken, Seile und Leitern, um die Wand empor zu klettern. In radikaler Abgrenzung dazu bildete sich das Clean-Climbing bzw. Free-Climbing aus, das technische Hilfsmittel minimiert und die ,technische Gewalt' der Bohrhaken und das damit gesuchte Ideal der Direttissima ablehnt. Markant formuliert der Kletterer und Bergsteiger Reinhold Messner seine KritikamIdeal der direkten Falllinie und ihrer technischen Realisierung: "Man nagelt viel zu viel und klettert viel zu wenig." (Ebd.: 73) Der Verzicht auf schwere Ausrüstung und die Innovation neuer Ausrüstung und leichterer Sicherungstechnik einerseits und die Entwicklung neuer und immer kleiner werdender Tritt- und Fingertechniken anderseits bilden die beiden Seiten einer Medaille. Diese Formen des Kletterns unterscheiden sich in ihrer Zielsetzung, den verwendeten technischen Geräten, Hilfsmitteln, Absieherungen bis hin zu den konkreten Körpertechniken, Bewegungen, Kletterrouten und der darin zum Ausdruck kommenden Haltungen gegenüber der Wand. Jede Praxisform weist ein unterschiedliches Subjekt-Welt-Verhältnis auf- ein verschiedenartiges Verhältnis von Kletterer und Wand, das sich in der konkreten Art des Kletterns zeigt und in eins damit spezifische Körperideale und Bewegungstechniken geformt hat. Diese Entwicklungsdynamik des Kletterns verdeutlicht, wie Ethos und Telos der jeweiligen Praxis eng miteinander verwoben sind und jeweils unterschiedliche Praxisformen hervorbringen können. Neue technische Entwicklungen (Bohrhaken, Friends) modifizieren die Möglichkeiten der Praxis, ebenso wie neue Zielsetzungen (Clean- bzw. Free-Climbing) zu neuen technischen Innovationen (flexiblere Sicherheitshaken, Schuhwerk) und Körpertechniken geflihrt haben. Vor diesem Hintergrund kann das Feld Klettern aktuell zunächst grob in zwei Arten unterteilt werden: dem Klettern im Gebirge und dem Hallenklettern. 16

16 Das Hallenklettern wurde mit den Berliner Hallen "T-Hall" und "Magic-Mountain" in die Untersuchung einbezogen.

42

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

Das moderne Hallenklettern stellt, so die These, neben dem Free-Climbing im Gebirge einen zweiten Kern der Felddynamik dar, in dem sich ein neuartiger Stil des Kletterns entwickelt. Dies mag auf den ersten Blick verwundern und dies nicht nur, weil der allgemeine Trend der Sportentwicklung vom "Indoor zum Outdoor" (Schildmacher 1998: 71) verläuft, sondern die gesamte Tradition des Kletterns, bei allen skizzierten Umbrüchen bislang der freien Natur und der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur verschrieben ist. Das Hallenklettern bildet demgegenüber eine neue Variante aus: Elemente des bestehenden Free-Climbings werden aufgegriffen und durch die räumlichen und technischen Bedingungen der Halle auf neue Weise zugespitzt. Dabei entstehen ins Extrem gesteigerte Körpertechniken, die strukturell ein Charakteristikum der Dynamik der neuen Sportarten insgesamt bilden. Zugleich zeichnet sich diese Entwicklung durch einen vehementen Kampf um Abgrenzung bzw. Anerkennung innerhalb des Feldes aus. Dieser interne Kampf verdeutlicht nicht nur die Brisanz der Ausdifferenzierung, sondern er erlaubt es, anhand dieser Positionen, die je spezifischen Orientierungen und Gemeinsamkeiten zu analysieren. Um diese Entwicklung charakterisieren und verstehen zu können, muss zunächst das System der Unterscheidungen näher betrachtet werden, das weitgehend quer zur Trennlinie von Hallen- oder Gebirgsklettern verläuft. Das System des modernen Kletterns lässt sich an folgenden Begriffen und Kategorien veranschaulichen: Kletterer bewerten die Schwierigkeitsgrade von Routen, die praktisch etwa vom leichtesten 3. Grad bis derzeit zum 10. oder 11. Schwierigkeitsgrad reichen. Darüber hinaus werden quer dazu Stile unterschieden: Klettern im Vorstieg und Nachstieg, mit top-rope Sicherung, mit eigenständig mitgeführter Seilsicherung und Klettern ohne Seil (free-solo). Diese unterschiedlichen Stile stehen im Feld nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern weisen mit dem Ideal des "Rotpunkten" eine klare hierarchische Orientierung auf: Eine bestimmte Route zu rotpunkten bedeutet, sie im Vorstieg mit eigenständiger Seilsicherung zu bewältigen und die technische Ausrüstung allein zur Sicherung zu nutzen. Sicherungshaken ebenso wie das Seil dürfen weder als Griffe oder Tritte genutzt werden noch darf sich der Kletterer zwischendurch ins Seil hängen um auszuruhen. Dieses Ideal wird mit der Extremform des free-solo gleichsam in seiner reinsten Form praktiziert, weil hier keine Möglichkeiten des ,Schummels' mehr bestehen: Der Kletterer klettert ohne jede Sicherung. Umgekehrt sind die Varianten des toprope Kletterns, bei dem das Seil bereits vorinstalliert von oben herabhängt, also weder mitgeführt noch eigenständig in Sicherungen eingehängt werden muss, Abweichungen vom Ideal. Der Nachstieg, der in Klettergemeinschaften im Gebirge nicht zu verhindern ist, weil nur ein Kletterer vorsteigen kann, wird ebenfalls geringer geschätzt. Da der vorsteigende Kletterer maßgeblich

43

STIL-KULTUREN

Verantwortung für die gewählte Route und das Setzen der Sicherungen besitzt, wechseln sich erfahrene Kletterteams mithin untereinander ab. Das aktuelle Sportklettern ist aus dem Ideal des clean-climbings erwachsen, das in radikaler Abkehr von der Schlosserei in der Wand entstanden ist. Clean-Climbing bedeutet, dass der Kletterer keine Bohrhaken setzt, sondern flexible Sicherungshaken (Friendl') verwendet, die auch in kleinsten Spalten ein Widerlager finden, anschließend wieder entfernt werden können und so den Fels idealiter nicht verändern. Diese Abgrenzung hat zugleich zu einer dynamischen Entwicklung der technischen Ausrüstung sowie neuer Körpertechniken geführt: flexible Sicherheitshaken, spezielles Schuhwerk und immer kleiner werdende Griff- und Tritttechniken sind nicht zu trennen vom Ideal des sauberen Kletterns. Die vorläufig aktuellste Entwicklung stellt mit dem Hallenklettern die um die lebensphilosophische wie gesellschaftskritische Dimension zunehmend ,bereinigte' Form des Kletterns dar. 17 Zentrale Dimension des Gebirgskletterns, die von den Probanden immer wieder hervorgehoben werden, wie die mithin tagelange Askese, das Ausgesetzt-Sein gegen Wind und Wetter, die Ungewissheit über die Qualität und Machbarkeit der Route u.ä., spielen hier keine Rolle. Die Logik der Praxis des Hallenkletterns ist deshalb aber nicht minder asketisch. Vielmehr wird die asketische Haltung aufveränderte Weise weitergeführt. Die spezifische Ausrichtung des Hallenkletterns fokussiert auf eine minutiöse Bearbeitung von Körpertechniken, die bis hin zu akrobatischen Bewegungen ins Extrem gesteigert werden. Hier setzt eine Dynamik ein, die von der räumlichen Ordnung nicht zu trennen ist und mit den Bedingungen der Halle ein ideales Experimentierfeld findet. So sind die künstlichen Wände in der Halle wettergeschützt und verlässlich. Sie bieten fest verschraubte und vorinstallierte Griffe und Sicherungshaken, die eine Vielzahl an farblieh markierten und gut erkennbaren Routen mit einer breiten Spanne an Schwierigkeitsgraden aufweisen. Zudem sind die Wände mit vorinstallierten Seilen ausgestattet, die einen sofortigen Einstig in die Wand mit top-rope Sicherung erlauben. Schlägt man den Bogen vom Alpinismus zum modernen Klettern, so zeichnet sich eine Miniaturisierung und Extremisierung ab: Von der ausschweifenden Expedition über die Gipfelstürmerei hin zu einer stilistischen Meisterung einer bestimmten Route durch die Wand und schließlich zu einer Arbeit an der Machbarkeil einzelner Passagen: einer punktuellen, minutiösen Arbeit in immer spezifischer werdenden Routen durch die Wand, die im wachsenden Maße der Logik der Schwierigkeit der Strecke verschrieben sind. 17 Zugleich erfahrt das Sportklettern zentrale Erweiterungen durch spezifische Elemente, die das Klettern anschlussfähig zum modernen Wettkampfsport machen und in eins damit eine neuartige und eigenständige Variante des Kl etterns her-

vorbringt.

44

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

Ziel des modernen Kletterns ist nicht mehr die Bezwingung einer Wand oder gar eines Berges, sondern ins Zentrum rückt zunehmend die Arbeit am Schwierigkeitsgrad. Dies lässt sich auch an einer aktuellen Variante, dem so genannten Bouldern sowohl im Gebirge als auch in der Halle verdeutlichen. Bouldern bedeutet das Klettern an Felsblöcken im Gebirge, ein Klettern in niedrigen Höhen, oft ohne Seil aber in einem gehobenen bis sehr hohen Schwierigkeitsgrad. Aufgrund der extrem hohen Kraftmaße und entsprechender Finger- und Spanntechniken, bei denen der ganze Körper eingesetzt wird und durch die sich die Kletterer auch in extremen Überhanglagen und in "Dächern", d.h. waagerecht verlaufenden Formationen von unten bewegen können, ist diese Variante - wenngleich auf den ersten Blick wenig spektakulär- extrem schwierig und mithin überaus gefahrlich. 18 Bouldern ist exemplarisch für den neuen Kletterstil und bedeutet eine intensive Arbeit an extremen Körpertechniken und -lagen in der Auseinandersetzung mit dem quasi glatten Felsgestein oder der künstlichen Wand in der Halle. Eine Praxis, die sich neben dem traditionellen Gebirgsklettern etabliert hat und neue Anforderungen und Maßstäbe setzt. Das Ziel, eine neue Route zu erklettern und damit das Recht auf Namensgebung zu erlangen oder eine bereits bestehende Route in einem bestimmten Stil zu durchsteigen (Rotpunkten, _free-solo), kann als Versportlichung des Kletterns beschrieben werden. Mit ihr tritt ein Stil des Kletterns in den Vordergrund, der eine neuartige Körperpraxis im umfassenden Sinne hervorbringt: Neue Zielsetzungen bei gleichzeitiger Weiterentwicklung und Extremisierung der Körpertechniken bilden einen Stil aus, der nur bedingt im Widerspruch zur aktuellen Entwicklung des Hallenkletterns an künstlichen Wänden und Griffen, vorgefertigten, geplanten und kalkulierten Schwierigkeitsgraden montierter Routen steht. Mit der Halle werden vielmehr Trainings- und Experimentierbedingungen geschaffen, die einerseits gegen das Ethos der selbstverantwortlichen Auseinandersetzung mit dem Fels verstoßen und anderseits werden Körpertechniken des Free-Climbing aufgegriffen und ins Extrem gesteigert. Diese stilistische Verschiebung bringt seinerseits Formen hervor, die mithin nur noch bedingt etwas mit Klettern zu tun haben, aber gerade deshalb Einblicke in die Dynamik und die ihr zugrunde liegenden Prinzipien gewähren. So werden beispielsweise unter der Bezeichnung Dynamo-Klettern Wett-

18 Die geringe Höhe erlaubt nur sehr bedingt eine Seilsicherung, weil zum einen die relativ glatten Felsblöcke oftmals nur wenig Möglichkeiten zum Setzen von Sicherungen bieten und zum anderen im Falle eines Sturzes der Abstand zum Boden im Vergleich zum Dehnungskoeffizienten des Seils und der Reaktionszeit des sichemden Partners sehr knapp bemessen sein kann. Nicht zu Ietzt birgt die Rückenposition im Überhang eine hohe Gefahr bereits dann, wenn der Sturz nur aus geringer Höhe ungebremst erfolgt.

45

STIL-KULTUREN

kämpfe in der Halle durchgeführt: An einer 20 Grad überhängenden Wand mit zwei großen Absprunggriffen und darunter mehreren, gleich großen und wie eine Leiter angebrachten Tritten versuchen die Kletterer - wie bei einem ,Jump-and-reach' Test - sich aus der Startposition direkt im Überhang möglichst weit nach oben zu ,katapultieren' -' 9 Gewonnen hat - typisch für den Wettkampfsport - derjenige, der am weitesten kommt. Markant daran sind zumindest zwei Aspekte: Einerseits ist diese Form kaum mehr mit dem klassischen Felsklettern vergleichbar, sie wird an einer typischen Kletterwand in der Halle ausgeübt und anderseits wird mit dem Überhang eine Position gewählt, die als charakteristisch für den anspruchsvollen modernen Kletterstil des Free-Climbings gelten kann. Weiter ist diese Form des Klettems aufgrund der extremen Versuche, so weit wie möglich mit dem Sprung nach oben zu reichen und gegebenenfalls auch abzurutschen, nur unter Seilsicherung im top-rope oder direkt über dem Boden mit Mattensicherung ausführbar: Einerseits also eine typische Variante des Hallensports und anderseits eine strukturelle Nähe zum Bouldern. 20 Das Gebirgsklettern als nach wie vor hegemonialer Stil des modernen Klettems zeigt mit dem Ideal des Rotpunkten und seiner Entwicklung aus dem Ideal des Clean-Climbing deutlich eine Logik der Praxis, die keineswegs rein individualistisch oder gar beliebig ist. Die Neuorientierungen durch das Hallenklettem, das meiner These nach als zweiter dynamischer Kern des Feldes angesehen werden kann, stehen hierzu nur partiell im Kontrast. So stellt sich der Hallenkletterer einerseits nicht den unbestimmten Herausforderungen des Gebirges (Wetter, Qualität des Gesteins, ungesicherte Routen), weist mit seiner Praxis anderseits aber eine Akzentuierung und gesteigerte Orientierung am Schwierigkeitsgrad auf. Diese Praktik unterliegt mit der Ausarbeitung von immer extremeren Körpertechniken und einer Haltung zur bedingungslosen Überwindung von kletterischen Problemlagen ebenfalls einer impliziten Verpflichtung, an der der Hallenkletterer gemessen wird. Die zunehmende Akrobatik in der Wand lässt eigenständige und selbstverantwortliche Sicherung, die für den traditionellen Gebirgskletterer zentral ist, immer weiter in den Hintergrund treten. Während sich der Hallenkletterer, zugespitzt formuliert, in 19 Unter ,Überhang' versteht man eine Wand, die nicht senkrecht nach oben verläuft, sondern über die Senkrechte hinaus in einem spitzeren Winkel verläuft. Der Kletterer ist gezwungen, quasi in Rückenlage zu klettern. Im gehobenen Niveau können Kletterer sich sogar an vollkommen waagerechten Wänden, so genannten Dächern, kopfüber halten und bewegen. 20 Die fortschreitende Entwicklung immer extremerer Klettertechniken und extremer Kraftpotentiale (der Finger, Gelenke) wirken sich auch im Gebirgsklettern als Extremvarianten aus: Steilwände von mehreren Seillängen Höhe werden nicht mehr für sich als Herausforderung gesehen, sondern unter dem zusätzlichen Druck bzw. Anreiz der Zeit im Rekordtempo durchstiegen.

46

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

der Halle an Wänden und in Schwierigkeitsgraden bewegt, an denen der Gebirgskletterer kaum mehr nachkommt, meidet der typische Hallenkletterer zunehmend die Unwägbarkeiten der Felswand. Hier treffen derzeit zwei Praxisformen mit eigenständigen Stilen aufeinander, die aufgrund der Überschneidungen Anlass für Distinktionskämpfe bieten.

Paragliding - Spiel mit der Thermik Gleitschirmfliegen ist eine recht junge Sportart, die erst in den 1965 Jahren ihre Anfänge findet und sich auf der Grundlage technischer Entwicklungen der Gleitschinne in den 1980er Jahren zu einer eigenständigen, vom Fallschirmspringen abgekoppelten Sportart entwickelt. Aufgrund der gemeinsam geteilten Bewegungsräume (Fluggebiete, Start- und Landezonen) weist die Praxis eine gewisse Nähe zum älteren Drachenfliegen auf, von dem sie sich zugleich stark unterscheidet. So bieten die technische Ausrüstung und die Umgangsqualitäten der Gleitschirme und Drachen auf je spezifische Weise Vorzüge, die von den Piloten beider Lager deutlich gesehen und zum Ansatz ftir Distinktionen werden: Gleitschinne erlauben eine punktgerraue Landung auch für relative Anfänger, sie haben deutlich kürzere Auf- und Abbauzeiten und werden in einem Rucksack verstaut, der mit jedem beliebigen Fahrzeug transportiert werden kann. Kurz: Gegenüber dem Drachenfliegen ist die neuere Form Paragliding logistisch schneller, unkomplizierter, flexibler und unabhängiger. 21 Dabei ist die Praxis des Gleitschirmfliegens, obwohl noch sehr jung, weit ausdifferenzierter, als es das ,bunte Treiben' der Gleitschirme in der Luft zunächst vennuten lässt. Im Wesentlichen lassen sich drei Varianten unterscheiden: Erstens die so genannte ,,Akro"- Variante, d.h. akrobatisches Fliegen spektakulärer Manöver, die an die Grenze der menschlichen und technischen Belastung gehen, zweitens Streckenfliegen, bei dem es darum geht, möglichst weite Strecken ohne Landung zu erzielen sowie drittens eine Wettkampfoariante, dem ,Dreiecksfliegen', bei dem eine vorab festgelegte Route (Dreieckskurs) geflogen wird. Sieger ist, wer als erster am vereinbarten Ziel eintrifft. Quer zu den ersten beiden Varianten wird von den Paraglidem oftmals die ,Genussfliegerei' benannt, eine auf den ersten Blick wenig präzise, aber mit tieferem Einblick in die Praxis sehr aufschlussreiche Bezeichnung: Mit der (Selbst-)Zuschreibung als Genussflieger wird eine Abgrenzung 21 Die Sportart Drachenfliegen ist in der Ausbildung hinsichtlich der technischen Handhabung des Fluggerätes aufwendiger und risikoreicher: Der Vorteil der höheren Geschwindigkeiten des Drachens wirkt sich aber bei der Landung als höheres Gefahrenpotential aus, weil die Landung bei weit höheren Geschwindigkeiten angeflogen werden muss. Ferner verlangt der Transport des Drachens eine Kofferbrücke, d.h. insbesondere auch bei Landungen außerhalb der geplanten Start- und Landeplätze ist eine spontane Rückfahrt nach Hause (trampen) quasi ausgeschlossen.

47

STIL-KULTUREN

vorgenommen, die insbesondere auf die Wettkampfvariante gerichtet ist: Ob der Pilot darüber hinaus eher zum Streckenfliegen oder zur akrobatischen Variante neigt, ist damit nicht zwangsweise festgelegt. Trotz der erheblichen Differenzen, die zwischen der spektakulären Akro-Variante und dem reinen Streckenfliegen vorliegen, ist die Abgrenzung zum Wettkampffliegen ähnlich wie beim Klettern zentral für dieses Feld. Wettkampfwird dem Genussfliegen gegenübergestellt und schließt sich aus der Perspektive vieler Paraglider aus. Ein Genussflieger mit starker Tendenz zum ,Akro' formuliert dies wie folgt: "Und wenn man jetzt eine schöne Sportart macht und das als Arbeit betreibt, dann wird einem die Sportart verleidet und ich habe mir geschworen, [ ... ] keine Wettbewerbe zu fliegen (holt tief Luft). Ich hab mit den Kollegen ähnliche Erfahrungen, wir sind ja oft an Spots, wo auch, ähm, die Ligapiloten sind und gerade einen Wettbewerb haben und man merkt denen DEUTLICH an, dass die nicht mehr aus Spaß fliegen. Sie können es nicht mehr so genießen" (Herv. M.S.). Genussfliegen bedeutet in erster Linie, keine Wettkämpfe zu bestreiten, aber keinesfalls zwangsläufig, ein vorsichtiger Flieger zu sein, der nur auf Sicherheit bedacht ist und keine Risiken eingeht oder nicht nach spektakulären Manövern strebt. Wesentlich für den dynamischen Kern des Paragliding ist eine kämpferisch konnotierte Suche nach Kairos, dem ,günstigen' und ,geglückten Augenblick': Gleitschirmfliegen ist abhängig von der Thermik, d.h. einer Größe, die vom Piloten nicht beeinflusst werden kann, sondern die in Form von thermischen Ablösungen gesucht wird, ein Spiel mit der Thermik, um an Höhe zu gewinnen. Dieses Spiel geht zwar nicht in reiner Glückssache auf, bleibt jedoch stets ein Moment des geglückten Augenblicks, in dem es dem Piloten gelingt, eine thermische Ablösung zu erspüren und für sich zu nutzen. Die Paraglider bilden hierfür ein komplexes Wissen aus, das sowohl als praktisches Wissen beschrieben werden kann (vgl. Bourdieu 1993: 122), als auch als ein explizites um spezifische Bodenbeschaffenheiten, Tages- und Jahreszeiten in Abhängigkeit von den Besonderheiten des Ortes. Ein Wissen um diese komplexen Zusammenhänge und der praktische Spürsinn ftir den günstigen Augenblick ist eine wesentliche Größe dieser Sportart und zeichnet den erfahrenen Gleitschirmflieger aus. 22 Ein Pilot beschreibt einen guten Paraglider wie folgt:

22 So unterscheiden die Paraglider zwischen thennisch ,toten' Zeiten (Winter, Mittagszeit) und Gelände bzw. thermisch aktiven Orten und Zeiten (z.B. thermischen Abrisskanten am Waldrand, Frühjahr, Dolomiten als thermisch hoch aktives Gebirge u.v.m.). Ebenso spielt aber ein diffuses und kaum explizierbares praktisches Wissen, eine Art Spürsinn, eine zentrale Rolle bei der Suche nach der Thermik, bei der alle Anhaltspunkte - am einfachsten das Flugverhalten der Vögel- in Betracht gezogen werden. 48

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

"Die Leute, die die besten Flüge bei uns hinlegen, die haben halt viel Erfahrungen und die äh, beherrschen ihren Schirm optimal, das heißt sie können die Thermik sehr gut ausnutzen und haben dazu die richtige Nase, wo sie die Thermik finden und[ ... ] es ist eigentlich Kopf und Gefühl [... ], die Verbindung davon, dass ähm, die beste Auffassungsgabe und die beste Umsetzung, die macht dann den besten Flieger aus." (Herv. M.S.)

Mit dem Spürsinn steht eine Fähigkeit des erfahrenen Piloten im Zentrum des Gleitschirmfliegens, die mit dem Kairos gewissermaßen verwoben zu sein scheint und die ferner von den Sportlern mit einer Semantik des Kampfes belegt wird. Hierzu ein Auszug aus einem Feldtagebuch: Es herrschen schlechte thermische Wetterbedingungen - ein frühsommerliches Wochenende auf einem alten stillgelegten Militä~flughafen südlich von Berlin - die Start und Landewiese ist voller Piloten. 23 Die Thermik ist gegen Mittag (wie zu erwarten bei konstant warmem Wetter) ausgesprochen schlecht und so bleiben den meisten Gleitschirmfliegern und Drachenfliegern nicht viel mehr als eine , Platzrunde ', bevor sie nach dem Windenstart wieder so sehr an Höhe verloren haben, dass sie zur Landung ansetzen müssen. Es herrscht eine ambivalente Atmosphäre auf der Wiese, die zwischen Ausgelassenheit sommerlicher Temperaturen und der Frustration schlechter Flugbedingungen changiert. Die Piloten sitzen am Boden und beobachten schweigend jeden Flieger, der es aufs Neue versucht. Schließlich macht sich ein erfahrener Paraglider filr den Start bereit und wird wie alle anderen auch von der Motorwinde in die Höhe gezogen. Nach dem ausklinken zieht er in einer Suchbewegung ein leichte Kurve und schwebt - wie alle anderen vor ihm auch - etwas ziellos wirkend in der Luß . Die Aufmerkmmkeit auf die vielen Starts und Landungen gerichtet, habe ich den bewussten Paraglider aus den Augen verloren, als plötzlich ein Pilot bewundernd ausruß: .. Wau, WIE der KÄMPFT! ". Ichfolge sofort seinem Blick und sehe den Piloten in erstaunlicher Entfernung vom Startplatz aber bereits ausgesprochen ti~füber dem Boden kurz vor einem angrenzenden Waldrand, wie er weiterhin an Höhe verliert. Andere Piloten stimmen auf den Kommentar sofort ein: " Der kämpft schon die ganze Zeit, der Hund! ", "Na mal sehen, das wird ein langer Weg zurück! (lacht)" und "Also ich hol ihn da nicht raus [aus der Baum/andung]". Risiko und Chance dieser Spürbewegung des Piloten ist den anderen klar: Die ,Idee' besteht darin, eine Thermikablösung an der Abrisskante des Waldrandes einzufangen, während das Risiko in einem langen Fußmarsch zu23 Im Flachland starten die Paraglider mittels einer Seilwinde, d.h. ein etwa I 000 Meter langes Seil zieht mit einer Motorwinde den Paraglider in die Luft, bis sich der Pilot ausklingt und sich auf die Suche nach Thermik begibt, um nun eigenständig an Höhe zu gewinnen.

49

STIL-KULTUREN

rück oder gar in einer Baumlandung besteht. Kurz über den Baumgipfeln schließlich spürt der Pilot eine thermische Ablösung auf, gewinnt sofort wieder an Höhe und kreist so lange über dem Waldrand, bis er in der Ferne entschwindet. Nochmals kommen Kommentare: "Der Hund hat Glück gehabt, aber gekämpft hat er bis zum Schluss!"

Kairos ist in dieser Praxis eine zentrale Größe, die nicht gänzlich unabhängig von den Fähigkeiten und einem praktischen Spürsinn von den Sportlern gefasst wird. Die Paraglider sehen hierin ein Merkmal der Praxis und eine Fähigkeit des erfahrenen Piloten, sich die Thermik immer wieder aufs Neue zu erkämpfen. Der Höhengewinn, der den Gleitschirmflieger insbesondere im Gebirge auf mehr als 2000 Meter heben kann, ist die Voraussetzung flir jede Variante, ob Streckenfliegen, Wettkampf oder Akro. Erst mit der erzielten Höhe lassen sich Manöver fliegen oder große Weiten erzielen? 4 Der günstige Augenblick der Thermik aber lässt sich nicht erzwingen. Das Geheimnis um die Thermik, das sich jeder Pilot im Laufe der Jahre selbst erschließen muss, wird durch den Wettkampf funktional besetzt und damit implizit in eine vergleichbare und messbare Größe überführt, eine Verbindung, die von vielen nicht geschätzt wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das kämpferische Moment, das in der Erarbeitung der Thermik angelegt ist, abgelehnt wird. Vielmehr deutet sich hier bereits eine spezifische Form des agonalen Prinzips an, das wesentlich fiir die Logik des Feldes ist (ausflihrlich später). Der überwiegende Teil der Piloten praktiziert eine Form, die als ein Spiel mit der Thermik beschrieben werden kann: Dies umfasst einerseits das Aufsuchen der Thermik, das Kreisen im so genannten , Thermik-Bart', die Bewegung in der Vertikalen nach oben und anderseits den anschließenden spielerischen Umgang mit der Höhe: Neben dem Streckenfliegen rücken diverse Manöver ins Zentrum, die mit der Akro-Variante und ihren spektakulären Aufflihrungen (Pendeln, Steilspirale) den dynamischen Kern des Paragliding bilden. Zusätzlich gesteigert wird dieses Spiel mitunter dadurch, dass die Manöver in Bodennähe durchgeführt werden. So bietet das Gebirge gegenüber dem Flachland besondere thermische Bedingungen, die Zwischenlandungen an einem Berghang ermöglichen. Ebenso sind Plateaus in den Bergen oder Steilküsten mit konstantem Wind vom Meer zentrale Orte flir erfahrene Piloten, an denen beispielsweise im Aufwind der Steilwand geflogen wird: Die Nähe zum Boden und der gleich bleibende Aufwind erlauben ein vielfältiges Spiel in der Vertikalen, bei dem der Pilot immer wieder den Bodenkontakt sucht, erneut abhebt und so die Umgebungsbedingungen - wenngleich 24 Jedes Manöver und jeder Meter Streckenfliegen ,kostet' den Piloten Höhe. Die Gleitschirmflieger sind immer wieder aufs Neue darauf angewiesen, über die Thermik Höhe ,aufzubauen' und sich damit die Voraussetzung für ihre Variante zu schaffen.

50

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

mit hohem Verletzungsrisiko - spielerisch mit einbezieht. Unter diesen Bedingungen wird von einigen Piloten auch das so genannte ,ground-handling', die Handhabung des über dem Kopf des Piloten aufgezogenen Gleitschirms (normaler Weise im Stand) spielerisch, zugleich aber im höchsten Maße gefährlich zu einer Art hybriden Bewegungskultur umgestaltet: Dabei wechselt der Paraglider nicht nur zwischen Bodenkontakt und der Vertikalen, sondern kontrolliert die Zugkraft im Schirm so, dass eine Kite-Variante entsteht: In einer Mischung aus Kite-Boarding und Paragliding lässt sich der Pilot beispielsweise auf den Füßen über den Boden ziehen, hebt zwischenzeitig ab, fliegt eine steile und riskante Kurve in unmittelbarer Bodennähe und sucht erneut mit feinmotorischen Geschick und Gespür den Bodenkontakt Ein anderer Pilot nähert sich im Flug der Steilwand an und steigt vom Aufwind im Schirm gezogen mit den Füßen am Fels quasi empor. Der spielerische Umgang bezieht ebenso Elemente der Umgebung mit ein, indem auf Felsbrocken, Autos, Telefonzellen (am Strand) oder der Schirmkappe eines anderen Piloten beim ground-handling u.a. gelandet wird. Dieses Spiel gehört zu den anspruchsvollsten und riskantesten Varianten und bringt mit den vielfaltigen Kombinationen und hybriden Formen immer neue Bewegungsfiguren hervor. Die Akro-Variante stellt die dynamische Spitze dieser Sportart dar. Insbesondere in diesen Formen des spielerischen Umgangs mit der Vertikalen wird deutlich, dass die Sportpraxis auf einer hoch sensiblen Konstellation von Spielgerät und Pilot, von Steuerung und Störung gründet, die noch ausführlicher unter dem Aspekt des Risikos und des Stilkönnens thematisiert werden.

Snowboarding- Spiel in der Vertikalen Snowboarding ist ähnlich wie Paragliding eine sehr junge Sportart, die zwar mit den ersten Experimenten mit Monogleitern bis auf das Jahr 1900 datiert werden kann, jedoch als moderne Spmtart erst mit dem Ende der 1970er Jahre und der ersten Massenproduktion von Snowboards einsetzte. 25 Seitdem hat sich Snowboarding im rasanten Tempo verbreitet und intern ausdifferenziert. Das Praxisfeld lässt sich grob in drei Hauptausrichtungen untergliedern: Carving, Free-Style und Free-Ride sowie einige Wettkampfformen. Jede dieser Varianten zeichnet sich graduell durch andere Inhalte, Orte und technische Ausrüstung aus. (1) Der Carver fährt ein schmales, wenig biegsames Board mit festem Schuhwerk, mit dem er ebenso harte, kurze wie langgestreckte Kurven bei hohem Tempo fahren kann. Carving bietet dabei Anschlussmöglichkeiten an die Wettkampfvarianten Alpin-Slalom oder Boardercross, bei 25 Bereits 1977 bietet der US Amerikaner Jack Burton Carpeter mit seiner gerade gegründeten Firma "Burton Snowboards" die ersten flexiblen Holzboards mit Wasserskibindung an. 1980 greift die Firma Rossingnol den Trend auf und produziert in Masse Snowboards (vgl. www.usm.de./olympia).

51

STIL-KULTUREN

dem die Wettkämpfer in Gruppen zu sechsteineAbfahrt mit Buckeln, erhöhten Kurven und anderen Modulen befahren. Schnelligkeit und Wirksamkeit sind hier die zentralen Kriterien, denn Sieger ist der, der als erster das Ziel erreicht. (2) Der Freestyler hingegen bewegt sich so lange und oft wie möglich in der Luft: In der HalfPipe, den Slope-Style oder den Sprungschanzen vollführen die Freestyler diverse Sprünge und Tricks in der Vertikalen. Dabei ist das Fahren in der Half-Pipe und beim Slope-Style durch ein Stakkato von mehreren Sprüngen hintereinander gekennzeichnet, die möglichst stylisch ausgeführt und unmittelbar miteinander verbunden werden. Die Boards und das Schuhwerk sind auf die Sprünge ausgelegt und entsprechend kürzer, breiter und weicher. (3) Die dritte Variante bildet der Free-Rider, den man auf der regulären Piste nur bedingt antrifft, weil er OffPiste, d.h. außerhalb der geräumten Pisten im bergigen und oft nur schwer zugänglichen Gelände fährt. Die Free-Rider nehmen Bergtouren von mehreren Stunden Aufstieg durch unwegsames Gelände auf sich, um im unberührten Powder (Tiefschnee) steile Abhänge zu befahren und von Felsbrüchen bis zu mehreren Metern Senkrechte in die Tiefe zu springen. Die Bretter sind eher breit und versinken im Pulverschnee weniger, die Schuhe eher steif und bieten Halt für die extremen Landungen und Geschwindigkeiten. Eine trennscharfe Einteilung der Sportler zu einer dieser Varianten ist nur bedingt möglich, weil sie häufig eine Mischung praktizieren. Zudem bieten die heutigen Boards Zwischenlösungen an, die beispielsweise aufgrund der Taillierung sowohl für Sprünge als auch zum Carving geeignet sind. Im FreeStyle - dem variantenreichen Springen und AuffUhren virtuoser und spektakulärer Tricks- kann eine zentrale Orientierung des Feldes gesehen werden. Das reine Free-Riding wird von weit weniger Boardern betrieben und weist zudem, strukturell betrachtet, zentrale Anschlüsse an Form und Inhalte des Free-Style auf: Die Sprünge und Tricks der Free-Rider sind einerseits weniger variantenreich, anderseits aber durch das extreme Gelände und die hohen Risiken weit außergewöhnlicher und spektakulärer. Zudem beeinflussen sich die beiden Formen wechselseitig: Die Sprünge und Tricks werden einerseits nicht ausschließlich auf der Off-Piste, sondern größtenteils zunächst auf den Sprungschanzen des Free-Style erlernt und dann erst auf das freie Gelände übertragen. Zum anderen wirken die im freien Gelände und den hier vorherrschenden extremen Bedingungen vorgenommenen Variationen wiederum auf die Tricks und die gesuchten Effekte der Sprünge im Free-Style zurück. Auf die Frage, wie man dazu kommt, so extreme Sprünge auf einer Großschanze (Big-Air) springen zu können, antwortet ein Boarder: "Die Nummer machst Du nicht gleich, ich meine, auch ich hab mit nem Olli auf den locations hier [kleine Schanzen auf der Piste; M.S.] angefangen [ .. .]. Später dann

52

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

bin ich irgendwie extremer geworden, war nur noch am Free-Riding [ ... ]und dann, mit der ganzen Knowledge erst, bin ich dann erst an die BigAirs gegangen."26 Ein Schwerpunkt des Snowboarding liegt auf der Aufführung von zahlreichen Tricks beim Fahren und virtuosen Sprüngen über Schanzen oder in der HalfPipe, die in unterschiedlichsten Kombinationen erprobt und gesteigert werden. Hierfür verfügen die Snowboarder über ein ausgearbeitetes Vokabular, das aktiv eingesetzt wird: So befahren Snowboarder die Piste auf dem Weg von einem Spot zum nächsten nicht einfach geradlinig, sondern stellen sich dabei, durchaus zielgerichtet, präzise Aufgaben. Sie choreographieren die Strecke mit detaillierten Bewegungsvorstellungen, die sich jeder Boarder eigenständig setzt und für alle Gruppenmitglieder vorab verkündet. Hierzu ein Beispiel für eine Strecke von etwa 100 Metern bis zum Lift, bei dem ein Boarder seine Choreographie verkündet und zwei weitere dazu Kommentare abgeben: Boarder 1: "Also, faki-tailroll 180" Boarder 2: (dazwischen rufend) "Aber kein Ladybackslide, ja!" Boarder 1: "Klar!, (dann) Bump: Olli-180, faki-tailroll und tailwheelie am Lift" Boarder 3 kommentierend: "oder Skier-Bonken!" (alle lachen) Das Zitat kann als exemplarisch für den spezifischen Sprecheode einerseits und die detaillierte Beschreibung der Bewegungen und Tricks, die die Sportler sich selbst als Herausforderung setzen anderseits angesehen werden. Übersetzt bedeutet es folgendes: Der Boarder fahrt rückwärts los (faki) , macht dann eine Drehung um 180° während der Fahrt, bei der nur das Boardende den Boden berührt (tailroll). Ein anderer wirft herausfordernd ein, dass er sich dabei aber nicht mit dem Arm am Boden abstützen soll (Ladybachlide). Der Boarder bestätigt dies und führt weiter aus, dass er weiter fahren wird bis zu einem Buckel (Bump), über den er mit 180° Drehung und beiden Beinen angewinkelt springen will (Olli-180), erneut in der Rückwärtsfahrt landet (faki), um wieder eine 180° Drehung auf der Boardspitze durchzuführen (tailroll) und schließlich kurz vorm Lift zu bremsen, indem er sein Körpergewicht nach hinten wirft, das Board dadurch so weit wie möglich anstellt und nur noch mit dem Boardende bremst (tail-wheeli). Worauf ein anderer Boarder ergänzt: ,Oder Du bremst, indem Du einen Skifahrer anspringst (Skier-Banken). Dabei ist hier die Verwendung Banken humoristisch eingesetzt, denn es wird allgemein in der Boardersprache verwendet, um das ,Anspringen eines 26 "Olli" bezeichnet einen einfachen Sprung, den man beispielsweise auch über einen kleinen Buckel auf der Piste üben kann: ,Absprung und Anziehen der Beine zur Hocke in der Luft'. Ein Effekt besteht darin, dass durch das Anziehen der Beine der Sprung (vor allem auf Fotos) höher aussieht, als er tatsächlich ist.

53

STIL-KULTUREN

Gegenstandes, der nicht aus Schnee ist' zu bezeichnen (Geländer, Sitzbänke u.ä., Menschen werden darunter nicht gefasst). Nicht nur diese Insidersprache, sondern auch eine weitere Analyse des Feldes wird im Laufe der Arbeit verdeutlichen, dass sich Snowboarden durch ein besonderes und klar charakterisierbares Expertenwissen auszeichnet, das Vorstellungen von Unverbindlichkeit und Beliebigkeil der Praxis entgegensteht. Diese ersten Feldbeschreibungen verdeutlichen eine komplexe und dynamische Struktur der neuen Sportarten. Weder stellen sich die Felder als einheitlich dar, noch liegen hier Praktiken vor, die als beliebig in der Ausrichtung oder individualistisch geprägt sind. Trotz der Dezentrierung und dem Verzicht auf festgeschriebene Reglementierungen und Standardisierungen, lassen sich innerhalb der Vielfalt der jeweiligen Praktiken zentrale Orientierungen bis hin zu hegemonialen Stilen aufzeigen. Diese entfalten eine neuartige Form der sozialen Verbindlichkeit, die mithin allein über die Praxis und Aufführungen von herausragendem Können von den Akteuren angezeigt wird und über die ostentative zur Schaustellung eine informelle aber nicht minder wirksame Ausrichtung und Strukturierung der Felder bewirkt. Von besonderem Interesse ist dies auch deshalb, weil diese Praktiken auf traditionelle Formen der Institutionalisierung, Formalisierung und damit Stabilisierung, wie sie typisch für den angestammten Vereins- und Wettkampfsport sind, weitgehend verzichten. Es wird im Zuge der Arbeit zu klären sein, ob neue Spiel- und Sportpraktiken für den Fortbestand und deren Etablierung im Sinne von Lamprecht und Stamm (1998) solcher Strukturen bedürfen, oder ob hier neuartige Formen der Vergemeinschaftung vorliegen, die soziale Verlässlichkeit und Fortbestand auf andere Weise realisieren. Bevor im nächsten Kapitel auf die konstitutiven Merkmale der Logik dieser Praktiken sowie auf den spezifischen Modus der Strukturierung näher eingegangen wird, werden im Folgenden die sozialen Akteure dieser Felder vorgestellt. Im Sinne einer Soziologie vom Spiele aus ist nicht allein nach den konstitutiven Merkmalen der neuen Sportpraktiken zu fragen, sondern darüber hinaus sind auch die sozialen Positionen der Sportler zu berücksichtigen. Erst der Zusammenhang zwischen diesen bietet die Möglichkeit eines tieferen Verstehens der dynamischen Neuorientierungen gesellschafilicher Bereiche, die sich im Sport aufbesonders prägnante Weise zeigen.

Die sozialen Akteure Den Abschluss des ersten Kapitels bildet eine Rekonstruktion der sozialräumlichen Reisewege der untersuchten Sportler (trajectoire). Dies dient dazu, die Dynamik des Sports, wie sie sich u.a. auch mit der Entstehung und

54

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

Entwicklung der vorliegenden Felder zeigt, über die sportimmanenten Strukturen und Distinktionen hinaus verständlich zu machen. Im Folgenden wird eine Verortung der Sportler im sozialen Raum vorgenommen. Dazu wurden anhand eines Fragebogens Sozialdaten der Probanden erhoben, die Fragen nach dem Bildungsweg, der Berufswahl, den Einkommensverhältnissen sowie der Wohnsituation und partnerschaftliehe bzw. familiäre Verhältnisse umfassen. Diese Daten wurden zudem auch für den familiären Hintergrund (Eltern, Geschwister) bis zur Generation der Großeltern erhoben. Dadurch lassen sich nicht allein die aktuellen sozialen Positionen der Sportler, sondern auch die sozialen Herkunftsmilieus strukturell erfassen und die soziale (Auf- oder Abstiegs-)Dynamik der Probanden vor dem Hintergrund des sozialen Herkunftsmilieus charakterisieren. Die sozial-räumliche Positionierung der Sportler lehnt sich dabei konzeptionell an Bourdieus (1982) Arbeit zur Erfassung der Sozialstruktur der (französischen) Gesellschaft an und bezieht die erhobenen Daten der Sportler auf die Analyse des sozialen Raums der Bundesrepublik Deutschland, wie sie von Vester u.a. (200 1) vorgelegt wird.27 Die qualitative Anlage der vorliegenden Arbeit lässt keine statistischrepräsentativen Aussagen zu, sondern zielt auf die Typik der Felder. Dazu wurden die untersuchten Fälle nach dem methodischen Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung ausgewählt (vgl. Kelle/Kluge 1999, 38ff.) und sowohl innerhalb der Felder als auch feldübergreifend analysiert. Die soziale Positionierung der Akteure erhebt damit keinen Anspruch auf repräsentative Aussagen zur Verteilung in den Feldern, sondern bildet ein typisches Merkmal des Feldes ab. 28 Die "Rekonstruktion der sozialräumlichen Reisewege" (ebd.: 22) ausgewählter Sportler der Felder Free-Climbing, Paragliding und Snowboarding weist eine erstaunlich hohe Kohärenz auf: Auch für diese Felder bestätigt sich die Tendenz der Entwicklung des Sports aus der Mitte der dynamischen Mittelschicht heraus (vgl. ebd.: 87ff.). Die Extremformen der jeweiligen Praktiken, auf die sich die Arbeit als dynamisierende Kerne der Sportarten konzentriert, sind ein stark männlich dominiertes Feld, das sich mithin von den weiblichen Sportlern explizit abgrenzt (vgl. Stern u.a. 2004). Ferner umfassen die sozialen Positionen der untersuchten Sportler über alle drei 27 Die Methode entwickelte sich aus einer gemeinsamen Arbeit im Rahmen des Projektes "Die Aufführung der Gesellschaft im Spiel" des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Performativen" in Berlin und wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Gunter Gebauer bereits für die Veröffentlichung: "Treue zum Stil. Die aufgeftihrte Gesellschaft" (2004) angewandt. Die hier gewählte Vorgehensweise lehnt sich grundlegend daran an. 28 Dabei bestätigt die Analyse Ergebnisse, die im Rahmen der Projektarbeit bereits veröffentlicht wurden (vgl. hierzu Gebauer u.a. 2004: 87-116). Die Ergebnisse der eigenen Erhebung decken sich weitgehend mit den Feldern Triathlon und Inline-Hockey.

55

STIL-KULTUREN

Felder hinweg betrachtet em relativ einheitliches Spektrum, das vom Grundschullehrer mit erstem und zweitem Staatsexamen über selbstständige Unternehmer in der Werbebranche mit Hochschulabschluss in Betriebswirtschaftslehre, Bauingenieure und Anwälte reicht. Obwohl Klettern, Paragliding und Snowboarding verhältnismäßig unterschiedliche Sportpraktiken mit je spezifischen Lebensstilen und Milieus darstellen, spiegeln sich im Engagement ftir diese Sportarten keine nennenswerten Differenzen der sozial-räumlichen Positionierung der Sportler wider. Vielmehr lassen sich die Probanden auf der Grundlage des ökonomischen und kulturellen (Bildungs-)Kapitals dem mittleren bis gehobenen Segment der Mittelschichten zuordnen? 9 Das Spektrum der sozialen Mobilität, das sich über die Generationen der jeweiligen familiären Herkunftsmilieus hinweg zeigt, reicht von der sozialen Aufstiegsdynamik der Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland bis zur relativen Konstanz einer am oberen Ende der sozialen Mittelschicht zu verortenden, aber nicht minder aufwärts strebenden Fraktion. Als Typik der neuen Felder kann vor diesem Hintergrund ein Spektrum der sozialen Mobilität der Sportler beschriebenen werden, das zwischen Stagnation und leichter Rückläufigkeit der sozialen Positionen verläuft. Dabei wird deutlich, dass die Akteure keine sozialen Strategien der Bewahrung von Besitzstand noch der zielstrebigen Vermehrung oder Verbesserung der sozialen Position anstreben, die sich nach traditionellem familiären Hintergrund im Engagement für berufliche Karriere und ökonomische Steigerung der Eltern und Großelterngeneration zeigen. In Abgrenzung von der traditionellen und Besitzstand bewahrenden Fraktion der Mittelschicht, wie sie sich im traditionellen Vereinssport Handball gezeigt hat (vgl. Gebauer u.a. 2004: 9lf.), zeichnen sich diese Sportler durch 29 Die Geschlechtsspezifik dieser neuen Sportarten ist insbesondere in den extremen Varianten der jeweiligen Felder ein besonderes Merkmal, das innerhalb der Felder auch zu stereotypen Abgrenzungen und zur (Selbst-)Stilisierung von Männlichkeit flihrt. Die Komplexität dieser Thematik und der weitreichende Forschungsstand der gender studies erlaubt es nicht, das Thema in dieser Arbeit parallel zu verhandelt, sondern verlangt eine eigenständige Arbeit, die hier nicht geleistet werden kann. Augenscheinlich ist, dass mit der quasi paritätischen Beteiligung von Männern und Frauen im traditionellen Vereinssport spätestens seit den 1980er Jahren sich parallel eine Dynamisierung der neuen Sportpraktiken verzeichnen lässt. Einen einfachen Rückschluss bzw. eine kausale Beziehung zwischen diesen Entwicklungen herzustellen, wäre jedoch kritisch zu untersuchen. Dazu müsste nicht zuletzt das spezifische Sportengagement von Männern und Frauen auch im Vereinssport genauer untersucht werden, die Geschlechterverteilung beispielsweise im Ehrenamt untersucht und deren relativen Machtpositionen innerhalb der Vereine erfasst werden. Zur paritätischen Verteilung von Männern und Frauen im Vereinssport siehe den Shell-Studien-Vergleich von Zinnecker (1989); zu Ansätzen der gender studies siehe u.a. Butler (1991, 1997). Eine interessante Auseinandersetzung mit Ansätzen sozialer Ungleichheit und der Geschlechterforschung leistet Villa (2001).

56

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

eine explizite Distanz gegenüber Vereinswesen und Wettkampfsport aus. Mit dieser Differenz zeigt sich eine erste der zu untersuchenden sozialen "Modalitäten der Sportausübung" (Bourdieu 1992a: 195): Verein wird hier einheitlich in Begriffen wie ,Zwang', ,Einschränkung der Freiheit' , ,Regeln' und ,Verbote' beschrieben und als ,überkommen' abgelehnt. Demgegenüber betonen die Probanden die ,Flexibilität' , ,Selbstbestimmtheit' , ,Ungebundenheit' und ,Entscheidungsfreiheit' ihrer sportlichen Tätigkeiten und Organisationsformen. Auffällig ist dabei, dass der besondere raum-zeitliche Aufwand dieser Sportarten sowie die sozialen Anschlussproblematiken, die von quasi allen Sportlern dieser Felder benannt werden, in dieser Einschätzung keine Berücksichtigung finden. So stellt das Engagement in diesen Sportpraktiken die Akteure zumeist vor langfristige, insbesondere partnerschaftliehe Probleme und typische berufliche Entscheidungen. Der sozialen Anerkennung, die sie ftir ihr Sportengagement im familiären und mithin auch beruflichen Kreis bekommen, rückt bei allen Interviewpartnern ein spannungsreiches Verhältnis in den Partnerschaften an die Seite: Dieses ist einerseits von Sorge der Partnerin um das leibliche Wohlergehen und anderseits vom beachtlichen Zeitumfang und den entsprechenden sozialen Einschränkungen partnerschaftlicher Möglichkeiten bestimmt. Mit hohem Zeitumfang verbringen die Sportler regelmäßig ganze Wochenenden im Gebirge zum Fliegen, Snowboarding oder Klettern und ebenso planen sie ihren Jahresurlaub, häufig an den Bedürfuissen der Partner vorbei, aus der Perspektive der Sportausübung. Prägnant schildert dies ein Paraglider im Interview: Partnerschaften sind eine "ambivalente Sache. Das Gleitschirmfliegen hat mich zwei Beziehungen gekostet. [ .. .],wenn man ambitionierter Flieger ist, [ .. .] dann ist die Hauptintention natürlich, wie komme ich auf den Flugplatz und dann kommt es eben darauf an, wie verständnisvoll die Freundin ist, [ .. . ] meine letzte Lebensgefährtin, die war massiv ähm, verängstigt[ .. .]. Und dann irgendwann kam es zu dem Tag, wo sie sagte: ,Wenn du noch einmal auf den Flugplatz fährst, denn sind wir getrennt. ' Und da hab ich gesagt: ,Äh, O.K., ich werd dich schon vermissen, irgendwo' und bin ins Auto gestiegen."

Gleichsam unterhalb dieser im Beispiel sehr stereotypen Zuspitzung der Problematik von Sozialbeziehungen und sportlichem Engagement zeigt sich eine charakteristische Haltung der Sportler, die im Laufe der Arbeit noch gerrauer beschrieben und als ein totales Engagement gedeutet wird. Deutlich wird bereits, dass die Modalitäten der Sportausübung im Sinne von Bourdieu nicht isolierte, allein auf den Sport bezogene und nur hier wirksam werdende sind. Die Merkmale dieser Typik bilden nicht nur die Eigenheiten einer Sportlerpersönlichkeit ab, sondern können als allgemeine soziale Dispositionen

57

STIL-KULTUREN

verstanden werden, die weit über das Feld des Sports hinaus wirksam sind. Sowohl die Wahl einer Sportart, eines je spezifischen Anforderungsprofils, als auch die konkrete Ausgestaltung der Praktiken, das tatsächliche und konkrete Engagement innerhalb des Feldes, sind nicht losgelöst von sozialen Dispositionen und ihren Wechselwirkungen mit der impliziten Logik der Felder zu verstehen. Ein zweiter Aspekt dieser Typik zeichnet sich hinsichtlich beruflicher Entscheidungen ab. Dabei zeigt sich ein Bruch zwischen der spezifischen Berujl·wahl der Sportler und dem konkreten beruflichen Engagement innerhalb der gewählten Profession. Die Berufswahl bildet mit dem Spektrum der ausgeübten Berufe (Ingenieure, Anwälte, Werbebranche, Informatiker in der freien Wirtschaft, Lehrer) zum Großteil Berufsfelder ab, die Potential für Karriereorientierungen bieten. Zudem legt die soziale Dynamik des familiären Herkunftsmilieus entsprechende Karriereambitionen nahe. Betrachtet man das Engagement im Berufsleben dieser Sportler genauer, so zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Die Sportler setzen die Entwicklungsdynamik der Familien in beruflicher Hinsicht nicht weiter fort (vgl. auch Gebauer u.a. 2004, 94ff.). Die Wahl der Berufsfelder entspricht zwar noch überwiegend dem sozialen Status des Herkunftsmilieus, z.B. Grundschullehrer zu Studienrat, Rechtsanwalt in der dritten Generation, Bauingenieur zu selbstständiger Bauingenieur und Professor an einer technischen Universität. In diesem Sinne zeichnet sich hier überwiegend eine Reproduktion der sozialen Klassenlage im Sinne Bourdieus (198la; 1982) ab: Der Bildungsgang und die Berufswahl lassen sich als soziale Wirkung des kulturellen Kapitals des familiären Herkunftsmilieus verstehen, das den Probanden aufgrund von Homologien zum elterlichen Milieu (habituelle) Anschlussmöglichkeiten bietet. Hingegen weist keiner der Probanden eine klare Karriereorientierung im tatsächlichen Berufsengagement auf: Typisch für diese Felder sind berufliche Entscheidungen, die aus der Logik der Sportausübung, ähnlich wie bei der Gestaltung der Freizeit und der partnerschaftliehen Verhältnisse, getroffen werden. Als markante Beispiele können folgende gelten: Die Sportler lassen sich ausgehend von einer vollen Anstellung auf Teilzeitbeschäftigung runter stufen, setzen flexiblere Arbeitszeitbedingungen durch (beispielsweise einen Tag in der Woche frei) und/oder wechseln Wohnort und Standort der Arbeit, um im Süden Deutschlands bessere Möglichkeiten der Sportausübung zu finden. Der berufliche Status quo wird maßgeblich von einer Dynamik bestimmt, die sich im Sportengagement zeigt. Dies bedeutet im Anschluss an Bourdieus Konzept der sozialen Formierung des Habitus, dass das Berufsengagement nicht auf dem des Sports gründet oder umgekehrt, sondern dass die Akteure in den neuen Sportpraktiken offenbar ein spezifisches Feld vorfinden, das in

58

DYNAMIK MODERNER SPIELKULTUREN

einer besonderen Weise passfähig zu ihren sozialen (Aufstiegs-)Dispositionen ist. 3o Folgt man Bourdieus Konzeption des Sportengagements als dynamisches Wechselverhältnis von Angebots- und Nachfrageraum, so ist der Zusammenhang zwischen Sportpraktik und sozialer Position kein direkter. Vielmehr zeigt sich hier eine: "Korrespondenz, die eine regelrechte Homologie darstellt, zwischen dem Raum der Sportpraktiken oder, genauer, der verschiedenen detailliert zu analysierenden Modalitäten der Sportausübung und dem Raum der sozialen Positionen. In der Beziehung dieser beiden Räume gewinnen die relevanten Merkmale jeder Sportart ihre Bestimmung." (Bourdieu 1992a: 195; Herv. M.S.) Zwischen beruflichem und sportlichem Engagement lässt sich mit Bourdieu eine spezifische Korrespondenz erwarten, die aber erst auf der Grundlage einer detaillierten Analyse der Modalitäten der jeweiligen Sportpraktiken, d.h. ihrem je spezifischen Anfordernngsprofil und den Stilen ihrer Ausübung verstanden werden kann. Direkte Analogien, vor denen Bourdieu hier ,warnt', sind zwar verführerisch, führen aber oftmals zu vorschnellen Interpretationen, die am Oberflächenphänomen der Berufswahl und dem Image der gewählten Sportart orientiert sind. Ein vergleichbarer Analogieschluss scheint bei der pauschalen Gleichsetzung eines gesamtgesellschaftlichen Trends zur Individualisierung und der Einschätzung des aktuellen Sportengagements als rein individualisiertes vorzuliegen. Gibt man sich solchen vorschnellen Analogien hin, so erscheint die Wahl der Sportarten beispielsweise allein vom Erlebniswert bestimmt zu sein, der einem Zwang zur Aktualität kurzfristigen Moden folgt und damit zumindest implizit als relativ beliebig und wechselhaft aufgefasst wird (vgl. Schildmacher 1998; Egner 2000; Egner/Kleinhans 2000). In gewisser Weise lässt sich in der Eindeutigkeit, mit der die Sportler ihre Prioritäten auf das Sportengagement legen, ein Wechsel vom aufstrebenden Berufsengagement hin zum Sport sehen. Betrachtet man diese Akteure und ihre erreichten Positionen im sozialen Raum allein in der Perspektive des kulturellen Bildungskapitals, der Einkommensverhältnisse und des konkreten Berufsengagements, so zeigt sich ein Bild, das scheinbar nicht auf Bewahrung des Besitzstandes oder gar ein dynamisches Streben nach sozialem Aufstieg gekennzeichnet ist. Vielmehr zeigen die Probanden explizite Strategien, den beruflichen Werdegang dem des Sportengagement unterzuordnen. Anderseits 30 Eine einfache Ursache-Wirkungslogik, wie sie oftmals von Laien vertreten wird, wird dem sozialen Komplex, der sozialen Berufung, Anrufung, der Entscheidung für das, was einen ,wählt', ,ruft' usw. nicht gerecht. Ebenso führt hier auch eine zu enge und dichotome Definition bzw. Konzeption von Freizeit und Arbeit in die Irre (vgl. Nauck 1983; Helmstetter 2002).

59

STIL-KULTUREN

aber zeigt sich mit der Ausweitung der Perspektive auf das konkrete Sportengagement in seinen Verflechtungen zu anderen sozialen Beziehungen (z.B. Partnerschaft) ein differenzierteres Bild. Die Haltung der Sportler, die sich im extremen Sportengagement zeigt, kann in spezifischer Weise als traditionelle und gewissennaßen Besitzstands bewahrende Haltung charakterisiert werden: Die sozialen Beziehungen werden hier zwar nicht traditionell dem beruflichen, aber deshalb nicht minder in konsequenter Weise dem Sport unterund nachgeordnet Die Wirkungsfelder (Beruf versus Sport) mögen hier wechseln, nicht aber die sozialen Modalitäten des Engagements. Zudem kann im weiteren Gang der Analyse ein differenziertes Bild der Felder gezeigt werden, das die bestehende Tendenz zur Individualisierung in einer spezifischen Konstellation mit weiteren typischen Modalitäten ausweist: Dabei wird sich die Einschätzung einer reinen Erlebnisorientierung der Sportler grundlegend relativieren und ergänzen. Als zentrale Merkmale werden sich dabei eine spezifisch agonale Handlungs- und Verhaltensstruktur, Risikobereitschaft und Erfolgsorientierung sowie ein spezifischer Modus der Kooperation und Vergemeinschaftung durch eine Kombination von Stil und Können aufzeigen lassen. Diese Modalitäten der Sportausübung verbleiben gerade nicht an der Oberfläche oder werden von den Sportlern beliebig gewechselt. Vielmehr kann gezeigt werden, dass sie mit einer tief in die körperliche Haltung der Sportler eingreifende Arbeit am Selbst verbunden sind. Erst vor dem Hintergrund dieser konstitutiven Modalitäten der neuen Sportpraktiken kann abschließend eine empirisch fundierte und differenzierte Einschätzung möglicher Korrespondenzen zwischen den sozialen Positionen der Sportler und ihrem Sportengagement diskutiert werden. In diesem Sinne begleitet die folgende Arbeit das übergeordnete Ziel, mit jedem Kapitel weitere Modalitäten der Felder zu analysieren und so eine immer dichter werdende Beschreibung (Geertz 1999) der sozialen Beziehungen zwischen Sportengagement und sozialer Positionierung der Sportler zu erreichen.

60

Konstellationen von Bewegung- Ordnung- Leistung

Das zweite Kapitel widmet sich einer ersten Analyse konstitutiver Merkmale der neuen Sportpraktiken und ihrer dynamischen Orientierungen. Dabei werden zwei Schritte unternommen. Im ersten Schritt wird im unmittelbaren Anschluss an die vorangegangenen Feldbeschreibungen die Vielfalt der Bewegungsweisen und -ausrichtungen einer bewegungsanalytischen Typologisierung unterzogen. Trotz der Unterschiede lassen sich zwei zentrale übergeordnete Gemeinsamkeiten herausstellen: Das Spiel in und mit der Vertikalen und der Fokus auf Mikrogesten. Im Anschluss daran wird der Frage nach dem Ordnungsprinzip dieser Praktiken nachgegangen. Dabei kann quer zu den drei Feldern eine Fragmentierung als zentraler Modus der Ordnung aufgezeigt werden. Körperpraktiken als Ordnungspraktiken zu verstehen bedeutet den Blick dafür zu öffnen, dass über körperliche Bewegungen nicht nur vorgegebene, äußere Ordnungen eingehalten bzw. reproduziert werden (wie es oft in Hinblick auf die Untersuchung von Ordnungsstrukturen im Wettkampfspoft mit dem Fokus auf das Reglement geschieht). Es gilt vielmehr zu untersuchen, wie Bewegungen selbst Ordnungen hervorbringen können. In einem zweiten Schritt wird es daher darum gehen, auf der Folie des traditionellen Wettkampfsports diese aus der Praxis der neuen Sportarten sich selbst heraus entwickelnden Ordnungsprinzipien zu untersuchen. Dieser Vergleich wird anhand der Analyse der spezifisch agonalen Ausformung dieser Praktiken vorgenommen. Dabei wird sich in Anlehnung an Roger Caillois (1960) eine agonaleForm der neuen Sportpraktiken fassen lassen, die einen starken Akzent auf ein spielerisches Moment legt.

61

STIL-KULTUREN

Ordnung von BewegungBewegung als soziales Ordnungsprinzip Körper und Bewegung werden in der Sportwissenschaft seit langem als zentrale Dimensionen sozialer Ordnung verstanden. Nicht zu Ietzt gründet der so genannte Doppelauftrag sportpädagogischer Handlungsfelder auf diesem Ansatz: Sozialisation zum Sport und durch Sport ist ein zentrales Themenfeld der Pädagogik und Soziologie des Sports und fragt nach den sozialen Voraussetzungen für Sportengagement ebenso wie nach den Wirkungen durch sportliche Betätigungen (vgl. u.a. Dietrich/Landau 1990: 203ff.; Eberspächer 1990: 119ff.; Beckers 2001, 2002; Ehni 2001; Prohl 2001; Funke-Wieneke 2004; Schierz/Frei 2004; Nagel/Schlesinger u.a. 2008). Darüber hinaus zielt eine aktuelle Diskussion auf eine bildungstheoretische Fundierung des Sports, die unmittelbar an Körper und Bewegung als menschliche Grundweisen des Weltbezuges ansetzt (vgl. maßgeblich Franke 2003b, 2006, 2008a/b; Grupe 1995; Tenorth 2008; Benner 2008) und die körperlichen Voraussetzungen wie körperlichen Erfahrungen und Wissensformen ins Zentrum der Überlegungen rücken (vgl. aktuell Franke 2004; Bietz/Laging/Roscher 2005 ; Bockrath 2005a/b, 2008; Thiele 1996, 2001; Alkemeyer 2001, 2003a/b; Schürmann 2008; Films/Schürmann 2004). 1 Sportpraktiken sind körperzentrierte Handlungsfelder, in denen unmittelbar körperlich-sinnlich in und durch den praktischen Vollzug soziale Ordnungen - Kooperationen, Wettstreit, Entscheidungen (Erfolg und Misserfolg; Sieg und Niederlage)- von den Teilnehmern aktiv hergestellt werden. Zudem sind sportliche Betätigungen mehr oder minder (allgemein) verbindlich geregelte und reglementierte (kontrollierte) Felder, in denen sich die Erzeugung einer sozialen Ordnung, von Gruppen, Mannschaften ebenso wie zwischen konkurrierenden Wettkämpfem, unter Maßgabe der Unterordnung unter das bestehende Reglement oder feldspezifischen Regularitäten einerseits und dessen aktiver Deutung anderseits immer wieder aufs Neue vollzieht. Es sind die Teilnehmer selbst, die in nennenswertem Ausmaß Ordnung, Sinn und Bedeutung der Aktivitäten mit erzeugen. 2 Es sind die Teilnehmer selbst, die

2

62

Zu erlebnispädagogischen Positionen, die gezielt Abenteuer bzw. Risiko als Merkmale sportlicher Handlungsfelder ftir ( erlebnis-)pädagogische Maßnahmen diskutieren siehe u.a. die Sammelbände Becker ( 1992a!b, 2000); Allmer/Schulz (1998); Homfeldt (1993), Fischer u.a. (2000) sowie Heckmair/Michl (2002). Zu einer kritischen Perspektivierung von Erl ebnis als pädagogische Leitkategorie siehe u.a. Koch (1994); Thiele (1996); Hecker (1989); Haug (1987). Fikus/Schürmann (2004) diskutieren ein Verständnis von Bewegung, das menschlichen körperlichen Bewegungen eine Bedeutung generierende Wirkung zuspricht. Die Entstehung von Bedeutung wird den Autoren zufolge weder allein als individueller noch als kollektiver Akt konzeptualisiert, sondern als ein sich unmittelbar in der Bewegung selbst vollziehender Prozess gedeutet.

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

innerhalb der Rahmurrgen des Reglements, d.h. auch den vielfältigen und notwendigen Freiräumen, die dynamischen und ephemeren Spielordnungen erzeugen und die nur scheinbar eindeutigen Regeln des Erlaubten und Verbotenen aktiv interpretieren usw.: Was die Regel ist, wann sie einsetzt und wie sie umgesetzt wird, ist nicht statisch zu verstehen. Vielmehr zeigt sich die Spielregel als sozial wirkmächtige Regulierung von Verhalten und damit letztlich auch die soziale Ordnung als ein Ergebnis der "Figurationen" (Elias 1986a) aller Beteiligten: Spieler, Schiedsrichter, Zuschauer, Medien u.a. (vgl. Rigauer/Robbert 2000). Ebenso, wie der Figurationsansatz (vgl. Krüger 1997) nicht die statischen Anteile sozialer Ordnungen (schriftlich fixierte Regelwerke, Institutionen), sondern die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen den Teilnehmern (einschließlich der Regel(auslegungen)) betont (vgl. Elias/Dunning 2003a), so muss auch das Verhältnis von sozialer Ordnung und Person verstanden werden: als ein die Teilnehmer aktiv einbindendes Verhältnis, das nach den je spezifischen, das Subjekt konstituierenden Bedingungen und Wirkungen befragt werden kann. Soziale Praktiken wie Sportarten können als Subjektivierungspraktiken verstanden werden und ebenso eine Reproduktion als auch eine Wandlung von Selbst- und Weltverhältnissen bewirken (vgl. in pädagogischer Perspektive im Überblick Funke-Wieneke 2001: 319f., ausführlich 2004). Sportliche Bewegungen können so als spezifische Weisen der Körper- und Selbsterfahrung in und durch die tätige Auseinandersetzung mit der Welt verstanden werden (vgl. ebd. 2001: 314).3 Dabei aber, daraufweist Funke-Wieneke hin, ist die soziale Wirkung nicht mit einer Bewegung per se gegeben: Erst die spezifischen Arrangements und (in pädagogischen Handlungsfeldern) der Charakter der Aufgabenstellungen, Grad der Bewegungsfreiräume und "Ausflihrungsmöglichkeiten" geben sportlichen Bewegungen eine je spezifische soziale Ausrichtung (ebd.: 319).4 Eine Untersuchung der Spezifik von (sportlichen) Bewegungspraktiken schließt somit die Analyse der Bewegungsformen, d.h. hier zunächst der Typik der Bewegungsweisen ein. Darüber hinaus wird im Verlauf der Arbeit aber auch nach den Bewegungsarrangements, den Choreographien und choreographischen Prinzipien der Handlungs- und Verhaltensordnungen zu fra3

4

Funke-Wienekes Fonnulierung, dass "der Mensch im Dialog mit der Welt auch sich selbst" begegnet (ebd. 2001: 317; Herv. M.S.), kann als eine sehr starke und vor allem spezifische Setzung von Welt verstanden werden, der im Sinne eines dialogischen Modells hier nicht gefolgt werden muss: Dennoch kann der phänomenologische Ansatz einer Verschlungenheil von Mensch und Welt (Merleau-Ponty 1966) eine gemeinsame Basis bilden. In diesem Zusammenhang ist auch Edgar Beckers Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung im Sportunterricht anschlussfahig: Während Erziehung auf die Vermittlung von ,"Muster[n] geformten Verhaltens' zielt, ist Bildung auf "die Fähigkeit zur Selbstgestaltung, die den selbstbestimmten Umgang mit diesen Mustern einschließt" ausgerichtet (Beckers 2001: 30; 1997).

63

STIL-KULTUREN

gen sem. Erst ein Verstehen dieses komplexen Ensembles gibt Aufschluss über die dabei produzierten sozialen Ordnungen.

Typologie der Bewegungen Die Vielfalt moderner Spiel- und Sportformen erscheint nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Bewegungsräume, technischen Ausrüstungen sowie einem je spezifischen live-style-Oewebe unübersichtlich und so disparat, dass sie sich einer Klassifikation entzieht: Paraglider spielen mit riesigen Gleitschirmen in der Thermik, bewegen sich in der Vertikalen in Höhen von über 2000 Metern und vollführen dabei diverse Manöver. Moderne Kletterer hängen an scheinbar glatten Wänden, im Extremfall ohne jede Absicherung und ringen an der Schmerzgrenze der Bewegungs- und Belastungsmaxima um Zentimeter. Und Snowboarder bauen Sprungschanzen und vollführen mit ihren Boards in der Half-Pipe Serien von Sprüngen. Trotz dieser Vielfalt der untersuchten Felder lassen sich charakteristische Gemeinsamkeiten aufzeigen, wenn man den Blick gleichsam unterhalb der Settings und spektakulären Darbietungen auf die strukturelle Qualität der Bewegungen richtet. Dabei kann eine Typik herausgearbeitet werden, die sich an der Bewegungsweise, der Bewegungsausrichtung sowie dem Modus der Ausbildung und Akzentuierung einer neuartigen sozialen Motorik festmachen lässt. Das Vorgehen rückt damit Körperbewegungen als die kleinste empirisch fassbare Einheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Reckwitz 2000: 144f.; Alkemeyer 2003a: 331) und erlaubt unterhalb der Komplexität sportlicher Settings eine Analyse der Bewegungsqualitäten der Praktiken. Begreift man Bewegungen als "soziale Motorik" (Gebauer 1998: 231), so erschließt die Analyse neuer Bewegungen und deren Typologisierung zugleich einen Zugang zur Entstehung neuer sozialer Ausdrucksformen, die als Bestandteil von sozialen Formungsprozessen verstanden werden. Mit der Typologisierung dieser Bewegungen wird somit ein weiterer Aufschluss der komplexen Beziehung zwischen den Modalitäten der Sportausübung und den sozialen Dimensionen des Sportengagements gewonnen.

Die Eroberung der Vertikalen als Spielraum Die Typologie der neuen Sportbewegungen geht von der Unterscheidung zwischen Gesamtbewegung und einer charakteristischen Motorik in allen drei Feldern aus, die hier als Mikrogesten bezeichnet werden. Der erste Typus der Gesamtbewegungen ist folgendermaßen gekennzeichnet: Die neuen Sportbewegungen stellen Formen des Fliegens, Schwebens, Gleitens und Springens dar, über die ein Großteil der neuen Praktiken eine

64

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

Bewegungsfamilie bildet. 5 Diese schließt nicht allein die untersuchten Felder Paragliding, Snowboarding und bedingt auch das Klettern ein, sondern zeigt sich in besonderer Weise auch in neuen hybriden Varianten bereits bestehender Sportarten wie dem Kite-Surfing und Kite-Boarding. Der Blick auf die konkreten Bewegungsweisen verdeutlicht, dass die neuen Sportarten nicht losgelöst von der Entwicklungsdynamik des modernen Sports zu verstehen sind, sondern strukturelle Anschlüsse an ältere Praktiken aufweisen, wie sie mit dem Drachenfliegen, Windsurfing, Skate-Boarding bis hin zum Wellenreiten vorliegen. Allein das moderne Klettern scheint auf den ersten Blick von der Typologie nicht erfasst zu werden. Betrachtet man hingegen das Ideal der modernen Kletterbewegung genauer, so zeigt sich ein neuartiges Ideal, das von den Kletterem selbst als dynamisches Klettern bezeiclmet wird. Damit ist in der Logik des Feldes eine spezifische Qualität der Bewegung gemeint: Dynamisches Klettern bedeutet mühelose und von gleichbleibendem Rhythmus und Tempo getragene Bewegungen, die idealiter im steten Fluss vom Einstieg in die Wand bis zum Ausstieg verlaufen. Das Ideal des zero-drag, des möglichst reibungsarmen Fliegens, Schwebens oder Gleitens ist im modernen Klettern durch die extremen Umgebungsbedingungen der Senkrechten und die immer kleiner werdenden Griffe als Ideal der fließenden Bewegung ebenso funktional begründet wie konstitutiv für den zeitgenössischen Kletterstil. Hier wird die fließende Bewegung und die Ökonomie von Kraft, Gewicht und Ausdauer zentral für die Fähigkeit, mit Fingertechniken eine senkrechte Wand oder gar über Kopf zu durchsteigen. 6 Die neuen Bewegungsteclmiken und ihre extreme Ausrichtung sind grundlegend vom Ideal der Schwerelosigkeit getragen. In diesem Sinne bietet auch das moderne Klettern gewisse Anschlüsse an eine Typologie, die Bewegungen des Schwebens, Fliegens und Gleitens aufweist. 5

6

Der Gedanke von Bewegungsfamilien ist hier an Wittgensteins Begriff der "Familienähnlichkeit" rückgebunden (ausführlich später); zu diesem Gedanken siehe auch Grupe (1982): 11 3f. Der Fokus auf Bewegungsfami1ien, die quer zu auf den ersten Blick überaus disparat erscheinenden Sportarten entwickelt werden kann, wurde auch in der Sportpädagogik von Dietrich Kurz konzeptualisiert: Insbesondere erscheint hier das Konzept von Sinndimensionen im Sport anschlussfahig, nach dem unterschiedliche Sportpraktiken unter der Perspektive von Dimensionen wie Leistung, Kämpfen, Abenteuer, Spiel, Bewegungsgestaltung u. a. in den Blick genommen werden können (vgl. Kurz 1990). Unter Fingertechniken sind hier Grifftechniken zu verstehen, bei denen im höheren Leistungsniveau (ab Schwierigkeitsgrad 7) nicht mehr die ganze Hand Halt am Felsen findet, sondern beispielsweise nur noch ein, zwei oder drei Fingerkuppen. Die Fähigkeit, an geringsten Unregelmäßigkeiten des Felsens oder kleinsten Rissen in der Wand im Extrem noch mit einem Finger Halt zu finden und ohne Zögern trotz und zugleich auf Grund der geringen Auflagefläche weiterzusteigen, lässt die Spitzenkletterer an quasi glatten Wänden und scheinbar schwerelos emporsteigen.

65

STIL-KULTUREN

Darüber hinaus ist die räumliche Ausrichtung der Bewegungen an der Vertikalen ausgerichtet. Auch hierin vereinen sich die auf den ersten Blick sehr disparaten Sportpraktiken Free-Climbing, Paragliding und Snowboarding. Ebenso wie die Gleitschirmflieger und modernen Kletterer, so erobern auch die Snowboarder neue Bewegungsräume. Das moderne Klettern ist eine Bewegungsform in der Senkrechten oder gar im Überhang und an quasi glatten Wänden, einem Raum, der ftir den ,normalen' Menschen gerade keinen Bewegungsraum darstellt. Ähnliches findet man auch beim Snowboarding: Das traditionelle Befahren der Pisten rückt in den Hintergrund, wird nur noch Mittel zum Zweck, um von einem Spot zum anderen zu gelangen bzw. als solches zusätzlich zur Bühne für das Repertoire an Tricks umgedeutet. Die zentralen Spots bilden Sprungschanzen, Felsvorsprünge, quasi senkrechte Abhänge, Treppengeländer, Hüttendächer u.ä. ; kurz: Räume, die mithin nicht als Bewegungsraum vorgesehen sind, sondern diese herkömmlich begrenzen. Ein allen gemeinsames Prinzip der Bewegungen und Bewegungsausrichtungen kann als Erprobung der Vertikalen als Spielraum gekennzeichnet werden: Der Sprung über die Großschanze oder von Felsvorsprüngen metertief in den Abhang (Snowboarding), der Durchstieg durch die Senkrechte und den Überhang mit Griffen, die zum Teil nur Platz für zwei Fingerkuppen bieten (Klettern) oder der Eintritt in ein Freibad zur sommerlichen Mittagszeit nicht durch den Eingang, sondern von oben mit der Landung direkt auf der Badewiese (Paragliding) - allen diesen Praktiken gemeinsam ist eine an der Grenze der Machbarkeit sich bewegende Erprobung des Ungewöhnlichen, ein spektakuläres Experimentieren in Bereichen des quasi Unmöglichen, die die Senkrechte zum Spielraum werden lassen. 7 Die Art dieser Bewegungen und ihre Ausrichtung sind zentral für das Verständnis der neuen Sportpraktiken. Mit den dominierenden Bewegungsformen des Gleitens, Fliegens, Schwebens und Springens weisen sie kaum mehr mimetische Anschlüsse an Alltagsmotoriken auf. 8 Dabei geht das Kon7

8

66

Ähnliches ließe sich auch für das so genannte "Parcour" aufzeigen, bei dem es um die Übelwindung von Raumwegen gerade dort und in einer Art und Weise geht, wie dies architektonisch gerade nicht vorgesehen ist. Die Vertikale spielt auch hier eine große Bedeutung, insofern ein sich-bewegen in der hoch-tief Achse, einer Überwindung der Vertikalen da, wo man es nicht vermutet, wo es den kürzesten und gerade noch machbaren Weg darstellt. Dies gilt in gleicher Weise auch für das Skispringen, das in dieser Arbeit zwar nicht ins Zentmm ge1ückt werden soll, das der Autor aber ebenfalls im Rahmen der Projektarbeit in den Jahren 2005-2007 empirisch erschlossen und exemplarisch am Nationalkader der Österreichischen Skispringer untersucht hat. Die Skispringer berichten hier eindrücklich von der Problematik, dass der Abspmng beim Skispringen, anders als jedes andere Springen im Sport und Alltag, nicht als fließende und rollende Bewegung über die Fußspitze verlaufen darf, sondern über die ganze Fußsohle erfolgt. Andernfalls würde der Springer auf der Großschanze bei einem Tempo von mnd 90 km/h die extrem langen Skier nicht mehr

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

zept der sozial-mimetischen Bezüge des Sports zu Bewegungen des Alltags davon aus, dass sportliche Bewegungen Elemente des Repertoires der Alltagsmotorik aufgreifen und diese im Rahmen des Sports weiterentwickeln und kodifizieren (vgl. grundlegend Gebauer/Wulf 1998: insb. 23-79; Gebauer 1995). Das Spiel in und mit der Vertikalen hingegen bietet kaum Anschlüsse. Im Gegenteil werden vertraute Bewegungsweisen und Haltung wie der sichere Stand, Bodenkontakt u.ä. suspendiert (vgl. Gebauer u.a. 2004, 79). Eine zentrale Bedingung für den Verlust dieser mimetischen Anhindung der Gesamtbewegungen ist in der neuartigen Konstellation von Körper und HighTech Spielgeräten zu sehen: Erst durch die Verwendung dieser neuen technischen Spielgeräte erschließen sich die Sportler die vertikale Achse (obenunten, hoch-tief) als Spielraum (später ausführlich). Als bedeutend ist hier zunächst festzuhalten, dass mit der Eroberung neuer Bewegungsräume und Bewegungsweisen im Sport ein anderer Möglichkeitsraum der Erfahrung und Erzeugung neuer sozialer Motoriken vorliegt. 9 Es ist nicht zuletzt das Spektakuläre dieserneuen Bewegungen, das den Blick für den zweiten Typus der neuen Bewegungen verstellt, die Mikrogesten.

Mikrogesten In die Gesamtbewegungen eingelassen zeigen sich in den neuen Sportpraktiken auf je spezifische Weise Mikrogesten. Die Mikrogesten werden grob klassifizierend von feinmotorischen Steuerungsbewegungen der Hände gebildet (Paragliding), zeigen sich beim Klettern in Form von immer kleineren werdenden Fingertechniken, oder werden beim Snowboarding als ästhetisch verdichtete Gestiken wie Handfassungen am Board, Kopfhaltungen und Blickrichtungen beim Sprung in die Bewegungen eingearbeitet. In den Feldern Paragliding und Klettern sind die Mikrogesten unmittelbar funktionaler Bestandteil der neuen Sportpraktiken. So stellen beim Gleitschirmfliegen die beiden Steuerleinen (rechts und links) die zentralen technischen Instanzen dar, über die der Pilot das Spielgerät steuert. Dazu muss er mit den Steuerleinen im permanenten Kontakt bleiben, um auf die steten Veränderungen der thermischen Bedingungen und Windverhältnisse reagieren zu können. Gleitschirme sind anders als der Drachen labile Fluggeräte, die nur durch die Luftströmung offen bleiben und allein dadurch den Sportler tragen.

9

hochziehen können und mit dem ganzen Körper nach vorne überschießen. Die kontrollierte Sprungtechnik bedarf einer langen Ein- bzw. Umarbeit der habitualisierten Alltagsmotorik. Dies schließt in umfassender Weise auch ungewohnte Anforderungen an das Gleichgewicht, die Wahrnehmung sowie ein neuartiges Rhythmisieren der Bewegungen ein.

67

STIL-KULTUREN

Sinnfällig beschreibt dies ein Paraglider wie folgt: Der Gleitschirm, "der flattert auch öfter mal, macht Geräusche, bewegt sich, der ist ja nicht ne starre Masse, sondern das Ding bewegt sich wie ne Luftmatratze hin und her und so und ähm, man kann als Paraglider zum Beispiel gut die Thermik einschätzen, wenn man den Schirm beobachtet". Die Beschreibung verdeutlicht, dass der Pilot in steter Feinfühlung mit dem Sportgerät steht. Anhand von minimalen Korrekturen, einem leichten Zug mit den Händen an den Leinen, kann der Pilot Deformationen des Gleitschirms gegensteuern, Drehungen einleiten u.ä. Diese Mikrogesten sind im Verhältnis zu den ausladenden und spektakulären Gesamtbewegungen fast unmerklich, zugleich aber (ebenso wie beim Klettern die extremen Fingertechniken) eine zentrale, feldspezifische "Technik des Körpers" (Mauss 1975: 207f.). Um die Differenz zwischen der Gesamtbewegung und den Mikrogesten an einem Beispiel zu veranschaulichen, hier zwei kurze Auszüge aus Feldtagebüchern, bei denen zu zwei unterschiedlichen Beobachtungsphasen Bewegungsbeschreibungen im Zentrum standen: "Im hohen Tempo und ungewöhnlich dicht über dem Boden kommt ein Paraglider im Landeanflug geflogen. Imposant und bedrohlich zugleich steuert er auf uns zu und dreht im letzten Augenblick plötzlich mit einer rasanten Kurve direkt über die unten aufgereihten Drachen hinweg. Die Paraglider und Drachenflieger neben mir schauen ihm gebannt zu und kommentieren schließlich nicht ohne Achtung: ,Ein Fehler und das wären 30.000 Euro gewesen ' [Kosten der Drachen]. Kurz darauf zieht er erneut eine radikale Kurve zurück in Richtung Landewiese, bei der er nach außen geschleudert wird, gleichzeitig bedrohlich schnell an Höhe verliert und im Ausgang der Kurve im letzten Moment die Fahrt herausnimmt, nur knapp über dem Boden nach vorne pendelt und dann sanft in den Stand landet." "Ein Paraglider nähert sich in etwa 50 Metern Höhe zügig der Landewiese. Der gesamte Körper ist in der sitzenden Position ruhig gestellt, nur die Unterarme sind rechts und links leicht erhoben. Mit den Händen ist er im permanenten Kontakt zu den Steuer/einen, an denen er ruhig und fast unmerklich etwas zieht und wieder nachlässt. So fliegt er allein durch einen minimalen Zug an der Leine in einer scharfen Kurve mrf die Landewiese zu und baut dabei erheblich an Höhe ab. Die Hände geben nie den Kontakt zu den Steuerleinen auf [. ..] Kurz über dem Boden zieht er die Steuerung mit beiden Händen nach unten und landet sicher in den Stand. Der Schirm fällt mit einer halber Drehung um die Körperlängsachse und Herunterziehen der Steuerleinen über ihm zusammen und sinkt zu Boden. "

Die Beschreibungen verdeutlichen einerseits den Kontrast zwischen der Gesamtbewegung des Systems (Sportler und Gerät) und den feinmotorischen Steuerungsbewegungen, mit denen er erstere kontrolliert. Anderseits verweisen sie auf den spezifischen High-Tech Charakter dieser Sportart. An den

68

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

Mikrogesten wird deutlich, dass der Körper auch in Sportarten mit modernster technischer Ausrüstung nicht suspendiert, sondern auf spezifische Weise akzentuiert wird. Der Akzent liegt hier aber, anders als in einem Großteil traditioneller Sportarten, nicht auf dynamischen und raumgreifenden Bewegungen des Körpers. Im Gegenteil ist der Körper des Piloten partiell ruhig gestellt: Ein System von Gurten verbindet den Piloten mit dem Gleitschirm und hält ihn in der sitzenden Position relativ stabil. Dies bedeutet, dass einerseits ausladende, ganzkörperliche Bewegungen ausgeschlossen werden und anderseits damit erst die Voraussetzungen für feinmotorische und isolierte Bewegungen der Arme, Hände und Finger geschaffen werden. Der Körper des Piloten ist gerade nicht passiv gestellt, sondern in einer idealen Position der steten Bereitschaft auf Störungen zu reagieren. Die Seilzüge befinden sich in unmittelbar greifbarer Nähe und ermöglichen dem Piloten allein über Bewegungen der Hände und Arme, den Gleitschirm maßgeblich zu steuern. Dabei ist zu beachten, dass moderne Gleitschirme starke Differenzen in den Steuerwegen aufweisen: Je höher die Performanz bzw. Leistungsstärke des Gleitschirms ist, desto kürzer sind die Steuerwege und desto schneller und radikaler reagiert der Gleitschirm auf kleinste Bewegungen an den Steuerleinen. Die feinmotorische Dimension der Mikrogesten dieser Sportart ist in die technischen Sportgeräte unmittelbar eingeschrieben. Sie ist damit grundlegend in die Logik der gesteigerten Aufführungsqualitäten und akrobatischen Manöver eingelassen, die nur mit so genannten Hoch/eister-Gleitschirmen geflogen werden können. In ähnlicher Weise sind auch in der Extremform des modernen Klettems die Fingertechniken unmittelbar funktional. Mit steigendem Schwierigkeitsgrad der Routen werden die Griffe und Tritte immer kleiner und bieten schließlich keinen Halt mehr für die ganze Hand. So hat sich im modernen Klettern ein ganzes Repertoire an spezifischen Fingertechniken ausgebildet, die auf einer außergewöhnlichen Kraft aufbauen und hohe Anforderungen an die Beweglichkeit, Koordination und Kombination von Bewegungssequenzen stellt: Je kleiner die Griffe und Tritte werden, desto schwerer wird es, beispielsweise einen Hand- oder Fußwechsel in der Wand vorzunehmen, um gegebenenfalls eine bessere Position für den nächsten Griff zu erlangen. Es werden zum Teil akrobatisch anmutende Bewegungsfiguren in der Wand notwendig, die ihrerseits nur auf der Grundlage der feinmotorischen Körpertechniken realisiert werden können. 10 Auch die Extremisierung der Sportart Klettern ist mit einer Akzentuierung immer kleiner werdender Körpertechniken verbunden: Ein mikro-sensorisches Gespür, d.h. mithin ein Spiel zwi10 So werden Techniken mit extremen Beinpositionen bis zum Spagat notwendig, um einen kurzfristigen Halt mit den Beinen mit minimalem Widerlager zu erlangen, um Handwechsel oder das typische Ausschütteln der Hände und Nachfassen von Magnesium zu ermöglichen.

69

STIL-KULTUREN

sehen der Wandstmktur und den Fingern und Fingerkuppen, über die sich die Wand in den Körper einschreibt (vgl. Kaufman 2004: 228ff.). Beim Snowboarding treten (anders als in den beiden vorherigen Praktiken) vielfältige Mikrogesten auf, die nicht unmittelbar funktional an die Realisierung der Gesamtbewegungen gebunden sind. Im Gegenteil werden die Mikrogesten hier in die Sprünge und Tricks in Form von Handfassungen am Board, Blickrichtungen, Kopfhaltungen, Winkelstellungen der Arme, Beine u.ä. eingearbeitet. Dabei sind sie unter funktionalen Gesichtspunkten für das Gelingen etwa eines Spmnges in den meisten Fällen nicht nur unnötig, sondern können auch eine dysfunktionale und rein ästhetische Ausgestaltung der Bewegungen darstellen, die den Bewegungsablauf zusätzlich erschweren. Jenseits einer Orientierung an der reinen körperlichen Leistungsfähigkeit ist die mikro-gestische Ausgestaltung der Bewegungen damit auch im Feld Snowboarding an einen gehobenen Könnensstand der Sportler gebunden. Ob unmittelbar sportlich-funktional oder ästhetisch orientiert, die Mikrogesten bilden in den neuen Sportarten einen zentralen Bestandteil und stehen in enger Verbindung mit der Tendenz zur Extremisiemng dieser Praktiken. Trotz der beachtlichen Vielfalt und Differenzen der Bewegungen dieser Sportarten zeigen sich mit der Ausrichtung in der Vertikalen, dem Favorisieren von Bewegungen und Idealen des Fliegens, Schwebens sowie des reibungsarmen und schwerelosen Gleitens ebenso wie in den Mikrogesten zentrale Gemeinsamkeiten. Die neuen Sportarten können als Praxisfelder gekennzeichnet werden, in denen die Sportler neuartige Bewegungsweisen erproben und außergewöhnliche Wahrnehmungs- und Erfahmngsqualitäten ausbilden. Aus sozial-mimetischer Perspektive können die Bewegungen als von der Alltagsmotorik weitgehend enthoben charakterisiert werden. Dabei ist die Frage nach der Funktionalität dieser Mikrogesten zunächst unerheblich: Zentral ist hier, dass sich die spektakulären und nicht zuletzt risikoreichen Praktiken in diesen Gesten und Körperhaltungen verdichten.'' Ein Charakteristikum der neuen Sportpraktiken ist - so die These - die Produktion neuartiger sozialer Motoriken, die in ästhetisch verdichteter Form in den Mikrogesten vorliegen. 12 Insofern die neuen Bewegungsweisen und Gesten Dimensionen einer sozialen Motorik aufweisen, kommt ihnen eine Bedeutung zu, die über die reine Sportpraxis hinausweisen kann. Aufgmnd der weitgehenden Entkoppelung der neuen Bewegungsweisen von mimetischen Bezü11 Vgl. zu diesem Gedanken bereits Ommo Grupe (1982): Grupe hebt am Beispiel des Fahrradfahrens hervor, dass Sinn und Bedeutung von Bewegungen ebenso wie von technischen Spiel- und Sportgeräten keine vorab festgelegten, vorgeschriebenen Größen sind, sondern erst im Umgang mit diesen vom Menschen erschlossen werden (ebd.: 103ff.). 12 Zum Begriff der sozialen Motorik siehe Gebauer (1995).

70

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

gen zur Alltagspraxis und seinem komplexen Repertoire an sozialen Motoriken, wirft die Entstehung neuer Bewegungen und insbesondere hier die Typik der Mikrogesten Fragen nach möglichen Rückwirkungen in den Alltag auf, denen später (Stil-Kapitel) nachgegangen wird.

Fragmentieru ng Die vergleichende Analyse der neuen Spielpraktiken hat gezeigt, dass mit dem Fliegen, Schweben, Gleiten und Springen Bewegungsweisen favorisiert werden, die untergründig vom Ideal des zero-drag, der Reibungslosigkeit sowie von der Utopie der Aufhebung der Schwerkraft bestimmt werden. Die Bewegungsausrichtung ist auf die vertikale Achse gerichtet, die neuen Spielkulturen erobern gleichsam die Vertikale als Spielraum. Betrachtet man darüber hinaus die Bewegungsordnung der Praktiken, so kann eine zweite Gemeinsamkeit in der Art ihrer Organisationsstruktur gefunden und als Fragmentierung charakterisiert werden. Die Logik der neuen Sportpraktiken zeigt sich in einer spezifischen Verdichtung der Bewegungen: auf einzelne Passagen (Klettern), den einzelnen Spnmg oder move (Snowboarding) oder das herausgestellte und spektakuläre Manöver (Paragliding). Das Engagement der Sportler konzentriert sich auf einzelne Fragmente, Bewegungen und körperliche Details der Präsentation und ihre möglichst effektvolle Aufführung. In diesem Sinne liegt mit dem Prinzip der Fragmentienmg ein soziales Ordnungsprinzip der neuen Praktiken vor.

Snowboarding Snowboarder nutzen die Piste in einer anderen Weise als die traditionellen Alpin Skifahrer. Gegenüber einem fließenden Befahren relativ weiter Pistenstrecken unterteilen die Boarder den Raum in eine Vielzahl von Abschnitten. Diese Unterteilung erfolgt nicht willkürlich oder symmetrisch, sondern wird maßgeblich von der Auswahl der Spots bestimmt: So wird ein Pistenabschnitt, den der klassische Alpin Skifahrer in einem Zug schwungvoll befährt, vom Freestyler nach Möglichkeiten für Sprünge, Tricks und moves abgesucht, teilweise modifiziert oder gänzlich umgestaltet. Ebenso wie ein erfahrener Skifahrer die Piste liest, um Verlauf und Besonderheiten der Strecke zu verinnerlichen, das Tempo zu antizipieren u.ä., lesen die Snowboarder dieselbe Piste nach einer anderen Logik: So befinden sich zentrale Orte an den Rändern oder abseits der geräumten Piste, Bodenbeschaffenheiteil (kleine Hügel), Schneeverwehungen und -aufWürfe der Pistenraupen werden von den Akteuren zu Sprungschanzen oder Hindernissen umgestaltet oder andere Installationen zum "grinding" (rutschen mit dem Board über Gegenstände)

71

STIL-KULTUREN

genutzt. 13 In ähnlicher Weise ist auch das Free-Riding durch die extremen Hanglagen und Unwägbarkeitendes Geländes durch das Befahren vonjeweils nur einzelnen Abschnitten gekennzeichnet. Nach jedem Sprung von einer Felskante oder kürzeren Streckenabschnitten im extremen Gelände halten die Boarder an und betrachten sich wechselseitig in den Aktionen. Hier wird deutlich, dass auch die Risiken und kontingenten Umgebungsbedingungen maßgeblich Einfluss auf die Zergliederung der Praktiken besitzen können. Die Bewegungsausrichtung der Snowboarder ist immer wieder quer zur Piste und damit auch quer zur traditionellen Fahrweise der Skifahrer orientiert. Die einzelnen Spots werden von den Gruppenmitgliedern eines Clans einzeln und nacheinander befahren. Vor und nach jedem Sprung verharren die Teilneluner im Sitzen, beobachten und fotografieren den einzelnen Boarder in Aktion und kommentieren den Stil, das Ge- oder Misslingen der einzelnen moves. Erst wenn alle Boarder ihren Sprung oder Trick vorgeführt haben, wird der nächste Spot gewählt. Dabei werden, wie bereits erwähnt, zum Teil detaillierte Absprachen bzw. Vorankündigungen über die Streckenführung ausgetauscht, die insbesondere das "Wie" der Bewegung und die Tricks beschreiben. Im angemessenen Abstand zur nächsten Schanze versammelt sich die Gruppe und das Nacheinander der Aufführungen, des Wartens, Beobachtensund Fotografierens beginnt von Neuem.14 Die Half-Pipe bildet in gewisser Weise die Krönung dieser Praxis. Das im Modus der Fragmentierung bearbeitete Können tritt hier gleichsam im Legato auf den Prüfstand: Im fließenden Hin und Her bindet der Boarder mehrere Sprünge aneinander. Die Fähigkeit hierzu ist bereits im spezifischen Ideal der Fragmente angelegt: Ein Sprung und sei er auch noch so schwierig, neu und spektakulär gilt nur dann als gelungen, wenn auch Anfahrt und Landung "stylish" ausgeftihrt wird. Ein Sturz oder auch nur ein unsicheres Ringen um Kontrolle bei der Landung gilt nicht als stilgetreu. Während dieses Ideal beim Free-Riding auch einer Logik des Risikomanagements folgt, wird in der Half Pipe die Qualität eines jeden Sprungs und Tricks zum funktionalen Kriterium ftir die unmittelbare Vorbereitung der nächsten Aktion.

13 Mittlerweile hat die Tourismusindustrie auf diese Absichten der Boarder reagiert und eigens daftir ,Geländer' installiert, die von den Boarder auch, aber nicht ausschließlich, genutzt werden. Zumindest das ,grinden' aber auch die Sprünge besitzen für die Snowboarder offenbar nach wie vor ein gewisses subversives Moment, das in der Zweckentfremdung besteht, indem über Dächer und Vordächer von Berghütten und Häuser im Tal gesprungen wird, Treppen und Treppengeländer befahren werden. 14 Video und Fotografie spielen in den Untersuchungsfeldern eine wesentliche Rolle beim Stil-Erwerb, der Bearbeitung und steten Verbesserung stilistischer Details einer informellen Lehr-/Lernkultur (ausführlich im 4. Kapitel).

72

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

Klettern Gegenüber älteren Formen des Kletterns sowie dem Bergsteigen wird die spezifische Orientierung des modernen Klettems mit der fragmentierten Bewegungsstruktur besonders deutlich: Das moderne Klettern hat sich von der ,Gipfelstürmerei, über die Bezwingung bestimmter Routen zum Gipfel hin zu einem Klettern besonders schwieriger Passagen entwickelt. Das Symbol des Gipfelkreuzes, die Semantik des ,bezwungenen, Berges, hat an Bedeutung verloren. Diese Tendenz wird mit den neuen Formen des Boulderns oder Hallenkletterns weiter zugespitzt. Im Zentrum steht die Bezwingung einzelner schwieriger Passage. So ist der Durchstieg durch eine bekannte Wand ftir den Insider noch kein ausreichendes Kriterium. Vielmehr entscheidet erst die spezifische Route sowie der Kletterstil (Vor-/Nachstieg; free-solo) darüber, welchen Herausforderungen er sich gestellt und welches Können er gezeigt hat. Modernes Klettern ist damit zunehmend zu einer Arbeit in der Wand geworden: ein Experimentieren und Suchen nach neuen Möglichkeiten, ein immer wieder Neuansetzen, erproben und perfektionieren des Kletterstils. Die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kletterer haben sich dadurch enorm gesteigert und bringen immer extremere Formen hervor: minimale Fuß- und einzelne Fingertechniken, denen wenige Millimeter Griff- und Auflagefläche genügen, um Halt zu finden. Das Hallenklettern, das von vielen Felskletterem abgelehnt wird, spitzt diese Tendenz weiter zu. Die künstlichen Wände in geschützten Hallen stellen anders als ftir den Felskletterer (z.B. im Winter) flir den Sportkletterer kein notwendiges Übel dar, das nur im Fall von schlechten Wetterbedingungen aufgesucht wird. Vielmehr ist die Spezifik der künstlichen Räume (Hallenwand) die Voraussetzung für eine Akzentuierung und Verfeinerung eines bestimmten Kletterstils. Die künstlichen Wände gewährleisten Verlässlichkeit und Sicherheit und ermöglichen flexible, exakte und ideale Planbarkeit: Kletterhallen wie die Berliner "T-Hall" oder "MagicMountain" bieten eine Vielzahl von Wänden mit den unterschiedlichsten Schwierigkeitsgraden an, die über farblieh markierte Griffe eindeutig und übersichtlich gekennzeichnet sind. Neigungsgrad der Wände bis zum Überhang und so genannte "Dächer" findet man hier ebenso wie vorinstallierte top-ropes, die eine optimale Sicherung des Kletterers erlauben.15 Die künstlichen Griffe sind sicher in der Wand verschraubt, in der Größe ideal abgestuft und werden immer wieder verändert und erneuert: Die Abstände 15 Im Gebirge gibt es keine top-ropes. Der erste Kletterer muss im so genannten "Vorstieg" das Seil von unten mitführen und Sicherungshaken selber setzen. Erst die Nachsteigenden sind dann von oben durch den Vorgestiegenen gesichert. Aber auch für diese bleibt der zentrale Unterschied, dass die Sicherung vom Kletterer in der Wand geleistet wird und nicht wie in der Halle vom unten, sicher auf dem Boden stehenden Kletterer.

73

STIL-KULTUREN

zwischen den Griffen, ihre Art und Größe sowie die Positionen der Sicherungshaken werden exakt geplant und auf die Bedürfnisse - gewünschte Schwierigkeitsgrade und immer extremer werdende Problemlagen - zugeschnitten. Zusätzlich verdichtet die Halle aufgrund der eingeschränkten Höhe (ca. 15 Meter hohe Wände) das Klettern auf den zentralen Gehalt dieserneuen Ausrichtung, die Arbeit in der Wand: Auf wenigen Metern lässt sich nahezu jede beliebige Problemlage konstruieren. Der moderne Sportkletterer arbeitet sich an diesen systematisch und unter optimalen, sicheren und gleich bleibenden Bedingung ab, d.h. auch einer Reduktion von Kontingenz und Unvorhersehbarkeit (eigenverantwortlichem Setzen von Sicherungshaken u.a.). Damit geht eine ,Bereinigung, von Merkmalen des Kletterns einher, die maßgeblich flir die vielfach beschriebene "Ausgesetztheit" der Gebirgskletterer bestimmend sind. Die Zuspitzung der bereits in der Fragmentierung angelegten Arbeit am Detail fUhrt an den künstlichen Wänden der Halle einerseits zu einer dynamischen Weiterentwicklung der extremen Körpertechniken und anderseits aber für den Felskletterer zu einem Bruch mit wesentlichen Gehalten seiner Praxis, so auch mit dem Merkmal des Risikos, wie später ausführlich zu zeigen sein wird. Die künstlichen Wände öffnen zugleich eine strukturelle Anhindung an die Wettkampfform. Im modernen Sportklettern werden Wettkämpfe bestritten, die in den Schwierigkeitsgraden und den virtuosen Körpertechniken kaum überboten werden können. Die notwendige Objektivation und das ÜberfUhren klettertechnischen Könnens in Leistung erfolgen durch Messung der erreichten Kletterstrecke und der dazu benötigten Zeit. Gewonnen hat der Kletterer, der am weitesten gekommen ist und bei Gleichstand daftir am wenigsten Zeit benötigt hat. Das Reglement greift dabei das Ethos des FreeClimbing (Rotpunkten) auf: Haken und Seil müssen zwar verpflichtend eingesetzt werden, gelten aber ausschließlich der Sicherung. Ein kurzes "Reinhängen" in das Seil oder Halten am Sicherungshaken führt zur sofortigen Disqualifikation. Ebenso ist das "Lesen" der Wand (in der höheren Leistungsklasse) zeitlich für alle gleich und klar begrenzt auf wenige Minuten. Danach müssen alle Teilnehmer die Halle verlassen und bestreiten einzeln ihren Versuch. Die Zuspitzung des Hallenkletterns wird in der Wettkampfform besonders deutlich: Nur wenige Kletterer sind in der Lage, die gestellte Route überhaupt bis zum Ende zu durchsteigen, der Sieger ist oftmals der, dem es gelingt, den zentralen Knotenpunkt der Route zu überwinden. Die Form des modernen Hallen- und Wettkampfkletterns verdeutlicht, dass sich hier eine neue Konstellation ausbildet: Die Ausbildung neuer Körpertechniken ist nicht zu trennen von den spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten der Halle, der beliebigen Konstruktion von fein abgestuften Schwierigkeitsgraden und Problemlagen. Gegenüber dem Gebirgsklettern bieten diese zudem im

74

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

hohen Maße verlässliche und konstante Bedingungen, unter denen eine systematische Arbeit an der Wand und damit immer auch am Körper, seiner Beweglichkeit, seinem technischen Vermögen auf planbare Weise vollzogen werden kann.

Paragliding In ähnlicher Weise wie beim Snowboarding und Klettern lässt sich auch beim Paragliding eine Tendenz zur Fragmentierung aufzeigen: Einerseits kann diese kontrastiv gegenüber dem älteren Drachenfliegen herausgestellt werden und anderseits auch intern beispielsweise gegenüber dem Streckenfliegen. Deutlich zeigt sich dies in der so genannten Akro-Variante, bei der spektakuläre, akrobatische Flugmanöver ins Zentrum gerückt werden, wie sie aufgrund der Geräteeigenschaften mit dem Drachen nicht geflogen werden können.16 Die Vertikale wird hier nicht zur Bewältigung großer Distanzen genutzt, sondern für radikale Manöver, bei denen die Piloten mithin an die Grenzen der Belastungsfähigkeit von Mensch und Material gehen. So werden extreme Kurvenlagen, Spiralen oder Pendeln zur Seite u.ä. praktiziert oder Kunststücke in unmittelbarer Bodennähe beispielsweise an Steilküsten vollführt: Paraglider ,landen' auf der Gleitschirm-Kappe eines anderen Piloten, fliegen Gegenstände auf dem Boden kurzzeitig an (z.B. Autos, Telefonzellen), lassen sich mit den Füßen über den Boden vom Schirm ziehen. Diese extrem schwierigen und riskanten Manöver bilden den Kern der AkroVariante, werden aber zunehmend auch von einem breiteren Feld der Piloten aufgegriffen. Dem Streben nach möglichst weiten Strecken ohne Zwischenlandung oder dem Dreieckskurs mit Zeitmessung (Wettkampf) rücken spektakuläre Manöver an die Seite: Sie gehören zu begehrten Aufführungen, die von den Sportlern über dem Landeplatz effektvoll in Szene gesetzt werden und im erheblichen Maße Einfluss auf den sozialen Status der Sportler besitzen. Fragmentierung als Ordnungsprinzip von Bewegungen zeigt die Logik dieser Praktiken auf besonders prägnante Weise und dies vor allem auch im Vergleich zu anderen Sportarten: So teilen beispielsweise Skifahrer und Snowboarder zwar prinzipiell dieselben Räume, Boarder zergliedern den Raum aber in Relation zur Gebrauchsform ersterer in Abschnitte, die der Logik einzelner Spots folgt. In ähnlicher Weise hat sich die Logik beim Klettern in Abgrenzung von der nach wie vor hegemonialen Orientierung an langen Kletterstrecken im Gebirge gezeigt, bei dem mehrere Seillängen und Höhen von mehr als hundert Metern geklettert werden. Und auch die Paraglider sind 16 Drachenflieger erreichen zwar weit höhere Geschwindigkeiten (100 km/h gegenüber 40-60 km/h), können jedoch nicht so radikale Kurven fli egen, pendeln u.ä., sie bieten insgesamt weit weniger Spielraum.

75

STIL-KULTUREN

nicht mehr wie Segelflieger (allein) auf die Strecke hin orientiert, sondern suchen gezielt die einzelne Aktion. Die dynamischen Neuorientierungen weisen eine Logik auf, die mit Bourdieu gesprochen durch einen anderen "SpielSinn" bestimmt ist (Bourdieu 1992b: 84). Als Ausdruck dieses neuen Spielsinns kann die Fragmentiemng als ein sozial dispaniertes Ordnungsprinzip verstanden werden, d.h. eine spezifische soziale Strategie der Akteure, die darauf gerichtet ist, auch außerhalb von Wettkampfstrukturen Bühnen für die (Selbst-)Präsentation wesentlicher Gehalte der neuen Praktiken zu schaffen: Außergewöhnliche und spektakuläre Bewegungen, Virtuosität, Improvisationsgeschick und Risikobereitschaft, die hier wesentliche Bestandteile für die Beglaubigung einer herausragenden Person darstellen. Allgemein betrachtet ist Fragmentierung bzw. Fragment ein relationaler Begriff, der auf etwas Ganzes verweist, aus dem ein Teil herausgelöst und dieses ins Zentrum gerückt oder als Teil einer Kollage in ein neuartiges Ensemble gestellt wird. Erst in der Kollage wird das Fragment als solches, als Teil von Etwas sichtbar. Fragmentierung verweist damit auf beides, Teilung und Kollage, d.h. hier auf die Entstehung einer neuen Sportorientierung, die über das Einzelne hinausweist. So verweisen auch die einzelnen Sprünge, moves und Techniken auf ein Ganzes, dem nicht anders als im traditionellen Leistungssport auch eine Dimension der Einmaligkeit inhärent ist, sich darüber hinaus aber an anderen Inhalten und Fluchtpunkten orientiert. Die Außergewöhnlichkeit der Person, die in diesen Sportpraktiken gesucht wird, gründet nicht auf einem objektiven Leistungsvergleich, sondern steht im Zusammenhang mit dem Ideal neuer Bewegungsweisen (Fliegen, Schweben, Gleiten), die mit dem Ideal der Schwerelosigkeit und der reibungslosen Bewegung gekennzeichnet werden können: Ein Ideal, das zwar unerreichbar bleibt (im Gegensatz zum Rekord, der immer wieder aufs Neue erreicht bzw. gebrochen werden kann), das aber aufgrund der Fragmentierung immer wieder aufs Neue und- wenn auch nur punktuell- spektakulär akzentuiert wird. Verdeutlichen lässt sich dies an der spezifischen Funktionalität und sozialen Bedeutung der einzelnen Fragmente: Der scheinbar rein stilistisch-ästhetische Fokus auf die Anfahrt und ,saubere' Landung nach einem Sprung beispielsweise besitzt eine implizite Funktionalität, die sich erst im Legato der HalfPipe zeigt: Der Anspruch einer stilistisch einwandfreien Landung entscheidet nicht nur innerhalb der fragmentierten Praxis über Gelingen oder Misslingen, sondern wird in der HalfPipe gleichsam in Form einer Art Kollage gesteigert und dadurch in besonderer Weise auf die Probe gestellt. Darüber hinaus ist die ästhetische Bedeutung der moves nicht losgelöst von den riskanten Bedingungen zu verstehen, unter denen die Fragmente (vor allem beim FreeRiding) aufgeflihrt werden: Risiko, Ästhetik und Funktionalität bilden ein dichtes Gewebe der Logik dieser Praktiken.

76

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

Durch die Fragmentierung findet eine Rahmung der Praktiken statt, die deutlich von den Rahmenstrukturen des traditionellen Leistungssports unterschieden ist. Im traditionellen Wettkampfsport handelt es sich zumeist um fest gefügte, normierte und objektivierte Strukturierungen des Raums, der Zeit sowie einschränkende und disziplinierende Reglementierungen der Bewegungsspielräume (vgl. Gebauer u.a. 2004: 25ff. und 47ff.). Hierüber werden die sportlichen Tätigkeiten der Wettkämpfer beispielsweise auf ein gemeinsames und legitimiertes Ziel ausgerichtet. Das Prinzip der Fragmentierung besitzt in den neuen Sportarten strukturell eine ähnliche Funktion. Fragmentierung beschreibt einen Ordnungsmodus der Praktiken, mit dem sich die Akteure einen verdichteten und auf Details fokussierten Bewegungsraum schaffen. Als Kennzeichen dieser Ordnung lassen sich folgende allgemeine Merkmale benennen: Eine Akzentuierung der einzelnen Person, eine Herauslösung einzelner Bewegungssequenzen und ihre räumlich und zeitlich verdichtete Akzentuierung, eine spektakuläre Aufführung unter riskanten Bedingungen, die durch stete Unterbrechungen geprägt ist und die Aufmerksamkeit auf die einzelnen moves und ästhetischen Details körperlich-gestischer Besonderheiten lenkt. Was beispielsweise aus der Perspektive der traditionellen Fahrweise des Alpin Skis als wenig engagiert wirkt- immer wieder auf der Piste sitzende oder liegende Snowboarder - dient bei näherer Betrachtung einer Logik der Akzentuierung: Durch die Fragmentierung verdichten sich die Sportpraktiken einerseits auf einzelne Bewegungssequenzen, Manöver und Techniken und anderseits erzeugen die Sportler so eine gesteigerte Aufluhrungspraxis: Unter den Blicken der anderen stellt jeder Sportler, einzeln und nacheinander, seine Fähigkeiten unter Beweis und setzt sich dem kritischen Urteil der Gemeinschaft aus. Das Prinzip der Fragmentierung kann als Aufflihrungsordnung auch im Sinne einer modernen Disziplinarordnung nach Foucault (1977) gedeutet werden. An der Fragmentierung kann zudem der experimentelle Charakter dieser Sportpraktiken verdeutlicht werden. In struktureller Analogie zum Experiment sind die Praktiken induktiv auf die Machbarkeit neuer Bewegungsweisen, Bewegungskombinationen sowie der Bewältigung bislang als unmöglich geltender Bewegungen und/oder nicht zu kontrollierender Gefahren ausgerichtet. In besonderer Weise ist dies auch deshalb von Bedeutung, weil die technisch-funktionale Peifektion der Bewegungen, wie sie typisch für den Leistungssport ist, in den neuen Praktiken nur einen Teil der Orientierungen abbildet. Darüber hinaus rücken Auffühnmgsqualitäten ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die gleichsam aus der ,Not' der riskanten, wechselhaften und kontingenten Bedingungen eine ,Tugend' machen: Spontaneität, Kreativität, Improvisationsgeschick und innovative Bewegungslösungen stellen zentrale Modalitäten der Sportausübung dar. Diese besitzen aber nicht nur eine funktionale Notwendigkeit der Bewältigung äußerer Einflüsse, sondern 77

STIL-KULTUREN

sie werden darüber hinaus auch zur Bemessungsgrundlage der Qualität einer Aufführung erhoben. Durch die Verdichtung auf einzelne Bewegungen und Körperhaltungen wird die Bewegungsqualität zu einem zentralen Kriterium: Nicht der Sprung oder Trick allein entscheidet hier über das Gelingen, sondern erst die stilgetreue ("stylische" ) Realisierung gewinnt die Anerkennung der Gemeinschaft. Stil, das wird in der Analyse dieser Felder besonders deutlich, ist nicht etwas von der sportlichen Aktivität getrenntes, ein nachgeordnetes oder ästhetisches Beiwerk. Vielmehr ist er ein unmittelbar in die Bewegung eingearbeitetes Vermögen. Diesem zentralen Aspekt des Stil-Könnens wird später ausfuhrlieh nachgegangen.

Agonale Konstellationen im Sport Über die Typologie und die Ordnungsstruktur der neuen Sportarten hinaus, lassen sich weitere übergreifende Konstellationen beschreiben, die insbesondere auch auf der Folie des Leistungssports in prägnanter Weise bestimmt werden können. Wesentlich sind im Folgenden zwei Aspekte: die Ablehnung des Wettkampfes und (später) ein neuartiger Umgang mit Risiko. Daher bietet es sich an, in einer kontrastiven Analyse zum Wettkampfsport diese neuen Konstellationen herauszuarbeiten. Daftir werden zunächst jene Kategorien und Klassifikationen gerrauer definiert, die für den Wettkampsport zentral sind. Auf dieser Grundlage kann gezeigt werden, dass Elemente klassischer Wettkampfstrukturen auch in den neuen Sportpraktiken nicht gänzlich aufgehoben werden. Vielmehr kann in Erweiterung des Klassifikationsschemas von Roger Caillois (1960) eine Verschiebung aufgezeigt und abschließend als eine spezifische Form der Agonalität gekennzeichnet werden. Die Analyse des Wettkampfsports verfolgt zugleich das Ziel, jene Strukturen zu aufzuzeigen, die - wenn auch als solche selten bedacht - als Ausdruck eines typisch modernen Personen-Konzepts angesehen werden können. Im Sinne von Geertz (1999) werden die spezifischen Strukturen des Wettkampfsports als Exemplifikationen wesentlicher Werthaltungen moderner westlicher Gesellschaften betrachtet (vgl. ebd.: 249): der Leistungsorientierung, des meritokratischen Leistungsideals, der Objektivierung und Beglaubigung von Leistung, des Ideals eines reglementierten und chancengleichen Wettbewerbs, der damit einhergehenden Kooperationen und letztlich des Ideals einer autonomen Person. Der Wettkampfsport weist in diesem Sinne ein komplexes System der Handlungs- und Verhaltensordnung, der Kriterien von Leistung und Modi ihrer Produktion, Erfassung und Objektivierung auf. Dieses System kann als charakteristisches Subjektivierungsmodell verstanden werden: Das bedeutet, der Wettkampfsport betont, beglaubigt und erzeugt auf charakteristische Weise ein Ideal der autonomen Person auf der Grundlage

78

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

einer Leistungskonzeption, die es im Folgenden strukturell zu kennzeichnen gilt. Vor diesem Hintergrund kann im zweiten Schritt nach Gemeinsamkeiten und Differenzen der neuen Sportarten gefragt werden und das Spezifische des Subjektivierungsmodells dieser Praktiken herausgestellt werden.

Klassifikationskriterien Roger Caillois legt in seinem Buch "Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch" (1960) eine kleine Anzahl gut definierter Kategorien vor, die für eine strukturelle Analyse von Sportpraktiken gut geeignet ist. Sein Klassifikationsschema weist vier Hauptkategorien auf: agon (Wettstreit), alea (Zufall), mimicry (Maskierung) und ilinx (Rausch). Diese Analysekategorien stellen nach Caillois Prinzipien dar, die in je spezifischer Weise ftir Spiel- und Sportpraktiken bestimmend sein können: So ist in erster Anlehnung an Caillois beispielsweise der Wettkampfbestimmend fiir den traditionellen Sport, das Prinzip Zufall ftir Glücksspiele wie die Lotterie, das Prinzip der Maskierung und Verkleidung tritt dominant beim Maskenball oder Fasching hervor und die Suche nach rauschhaften Zuständen bestimmt maßgeblich die Fahrgeschäfte des Jahrmarktes. Bei gerrauerer Betrachtung stellen die meisten Sportarten Mischformen dar, in denen zwei oder mehr Kriterien in unterschiedlicher Gewichtung und Ausprägung zur Wirkung kommen. Darüber hinaus kann jede dieser Kategorien mithilfe eines Spannungsgefüges weiter ausdifferenziert werden, das Caillois zwischen zwei Polen (paidia und Iudus) aufbaut und mit denen die Perspektive auf den Reglementierungsgrad der Tätigkeiten gelenkt wird: So lassen sich beispielsweise für die Kategorie Mimikry unterschiedliche Spielpraktiken der Verkleidung aufzeigen, die vom relativ wenig reglementierten Verkleiden im spontanen Kinderspiel über Kostümzwang (Fasching) bis hin zum stärker eingeschränkten Mottoball reichen und mehr vom willkürlichen Prinzip Paidia oder stärker vom Ordnungsprinzip Ludus bestimmt werden. Im Sinne der theoretischen Ausgangsthese der Arbeit, eine Soziologie vom Spiele aus zu betreiben, bilden die Charakteristika von Spiel- und Sportpraktiken nicht nur spiel-immanente Strukturen ab, sondern verweisen über diese hinaus auf gesellschaftliche Werthaltungen, Ordnungs- und Organisationsprinzipien. Veränderungen bzw. Verschiebungen von Charakteristika innerhalb von neu entstehenden Spiel- und Sportpraktiken können insofern Hinweise auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse bieten. Um die im weiteren Verlauf der Analyse vorgenommenen Differenzierungen nachvollziehen zu können, bedarf es einer kurzen Darstellung des Spannungsverhältnisses der beiden Pole Ludus und Paidia. Dies ist vor allem auch deshalb von Bedeutung, weil Caillois hierunter zwei soziale Prinzipien versteht, die Praktiken in unterschiedlicher Weise sozial ausrichten.

79

STIL-KULTUREN

Paidia beschreibt, ebenso wie Ludus eine Art und Weise, ein Spiel zu spielen oder allgemeiner einer Tätigkeit nachzugehen. Dabei umfasst der semantische Rahmen von Paidia (grch. ,Kinderspiel, Spiel, Scherz, Belustigung' ) alles Spontane und Zügellose im Spiel und Sport, den Überschwang (vgl. Caillois 1960: 37) und die "ungeordnete Agitation" (ebd.: 63), die aus einer ungeregelten Tätigkeit und ihrer "anarchische[n] und launenhafte[n] Natur" erwächst (ebd.: 20). Mit Paidia bezeichnet Caillois das Prinzip von solchen Spielen, die nur ihren "eigenen Paroxysmus" verfolgen (ebd.: 63). Mit dem Begriff Ludus hingegen liegt ein entgegengesetztes Prinzip der Strukturierung und Reglementierung vor. Caillois fasst unter Reglementierung auf einer sehr allgemeinen Ebene alle Tätigkeitsformen, in denen sich die Teilnehmer (eigenen) freiwillig gesetzten Regeln unterwerfen. So nimmt man im Spiel und Sport mehr oder minder willkürliche Schwierigkeiten, Hindernisse und Herausforderungen auf sich, die zudem Regeln entsprechend zu überwinden und zu meistem sind (vgl. ebd.: 39). In diesem Sinne stellt Ludus ein Prinzip der Strukturierung und Reglementierung dar, das Caillois zufolge in zweifacher Weise charakteristisch für den modernen Menschen ist: Zum einen als "Hang zur Meisterung künstlicher Schwierigkeiten" (ebd.: 36), wie er sich in vielfältigen Hobbys zeigt und zum anderen der spielerische und (zunächst) zweckfreie Erwerb von Geschicklichkeit durch Übung oder Training. Hierin äußert sich nach Caillois ein Bestreben des modernen Menschen nach Beherrschung, nach Lösungsstrategien für Schwierigkeiten, die - nicht nur in Spiel, Sport und Hobby- ohne unmittelbare Notwendigkeit aufgeworfen werden. Wichtig ist dabei, dass mit dem Spannungsverhältnis zwischen diesen Polen der Grad der Ordnung von Sportpraktiken konzeptionell mit bedacht werden kann (vgl. ebd.: 20). So legt Ludus dem ungezügelten Bestreben der Paidia Anforderungen und Bedingungen auf und zwingt es im Sinne einer "Schule der Selbstbeherrschung" (ebd.: 41) in eine soziale Ordnung. Caillois weist darauf hin, dass der "Geist des organisierten Wettkampfes nicht konstitutiv" für die reine Form des Ludus ist (ebd.: 42). Die Frage nach dem ,Woflir?' oder ,Warum?' läuft nach Caillois im Spiel ins Leere. Die Lösung einer Aufgabe, die durch Ludus bestimmt ist, ist Selbstzweck. Ludus beschreibt nach Caillois einen Wesenszug des modernen Menschen, der darin besteht, sich unter Aufwendung von Zeit, Kraft und Energie einer Aktivität zu widmen, deren Belohnung aus dem Tun selbst erwächst. Aktivitäten in reiner Ludus-Form tragen einen autotelischen Charakterzug, die Akteure verfolgen intrinsische Motive.17

17 Zum autotelischen Charakter von Sportaktivitäten vgl. Csikszentmihalyi ( 1985): 29, 42. Im Rahmen seiner Untersuchung zum Flow hebt er hervor, dass intrinsische Motive förderlich, hingegen extrinsische Motive beispielsweise bei starker Betonung des Wettkampfgedankens hinderlich für Flow-Erlebnisse sind.

80

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

Die soziale Dimension von Ludus zeigt sich nach Caillois auch darin, dass darüber den allgemeinen Merkmalen von Spiel- und Sportarten ihr Bestand garantiert wird und ohne die ein Spiel kein Spiel wäre. Unter Rückgriff auf Huizinga (1956) bestimmt Caillois sechs allgemeine Merkmale (vgl. Caillois 1960: 16, 38f., 52; Huizinga 1956: 15ff.): Im Spiel muss es sich stets um (1) freie Betätigungen (ohne Zwang) handeln, die (2) abgetrennt vom gesellschaftlichen Alltagsleben stattfinden. Weiterhin müssen die Aktivitäten (3) zweckfrei und (4) in ihrem Ausgang ungewiss sein, um als Spiel zu gelten. Die Tätigkeiten sind dabei entweder (5) allgemeinverbindlich geregelt oder (6) individuell und fiktiv. 18 Umgekehrt führt der Einfluss von Paidia zu einer triebhaften und unbegrenzten Entfaltung der Kategorien (agon , alea, mimicry und ilinx) und die wiederum ohne jegliche Konventionen eine "Korruption" bzw. den "Verfall der Prinzipien des Spiels" nach sich zieht (ebd.: 64; vgl. ebd.: 52ff.): Ein Übergewicht an Paidia droht den Spielrahmen zu sprengen. Die illusionäre Sphäre des so tun ,als-ob' geht verloren und aus Spiel wird Ernst (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 20, 19lff.). 19 Paidia und Ludus stellen keine Spiel- und Sportkriterien dar, sondern charakteristische Weisen, diese zu betreiben (vgl. ebd., 63). Sie nehmen in der einen oder anderen Form Einfluss auf die Art und Weise, wie die jeweils für das Spiel oder die Sportart bestimmende Kategorie seine Wirkung entfaltet. Ludus sichert durch seine disziplinierende Wirkung auf seinen Gegenpol Paidia nicht nur den Merkmalen von Spiel- und Sportarten ihre Gültigkeit, sondern auch den Grundkriterien ihre "Reinheit und Vorrangstellung" (ebd.: 43). Obwohl kontrastierende Pole, sind Ludus und Paidia nicht einander ausschließende Prinzipien. Vielmehr bewegen sich Spiel- und Sportpraktiken durch die konstitutiven Merkmale - den Reglementierungen, Einflussgrößen, der Art der technischen Ausstattung, den Bewegungsräumen - und die spezifischen Konstellation, die diese miteinander ausbilden, an einem Ort zwischen den Polen. Mithin, so kann in der weiteren Analyse der neuen Sportpraktiken gezeigt werden, stellen Ludus und Paidia zwei Prinzipien dar, die sich komplementär zueinander verhalten: Insbesondere in den neuen Sportarten entstehen neuartige Konstellationen der Steuerung und Störung, die den Reiz 18 Zu einer kritischen Darstellung der "Zweckfreiheit" des Sports, der seinen Sinn beispielsweise in der Bemühung um "Rückgewinnung von Natur" findet, siehe Gebauer (1992): 48ff. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Beziehung von Spiel- und Sportarten zum Alltagsleben erfolgt später. Entscheidend für dieses Kapitel ist festzuhalten, dass Ludus Merkmale des Spiels zu sichern vermag. 19 Innerhalb des Spielrahmens sind die Handlungen zwar bedeutsam, haben jedoch über den Sportrahmen hinaus keine Konsequenzen in den Feldern des Alltags (z.B. Berufsleben). Sie besitzen keinen ,Stachel' (im Original "sting", Elias/ Dunning 1986: 80), d.h. sie bleiben gegenüber vergleichbaren Handlungen im Alltagsleben folgenlos. Zur Kennzeichnung dieser Sphäre des ,als-ob' als ein metakommunikativer Spielrahmen vgl. Bateson 1983a.

81

STIL-KULTUREN

der Praktiken jenseits von Wettkampfstrukturen bestimmen. In besonderer Weise bestimmen beide Pole wechselseitig auch das Spannungsverhältnis des Wettkampfsports. Die je spezifischen Konstellationen sollen im Folgenden anhand einer kontrastiven Analyse des agonalen Prinzips im Wettkampfsport und den neuen Sportarten verdeutlicht werden.

Ordnungsstrukturen agonaler Konstellationen Der semantische Rahmen des Begriffsagon umfasst zunächst ,Kampf, Wettkampf, Versammlung' (vgl. Kluge 1989: 14)?0 Das agonale Prinzip beschreibt auf einer ganz allgemeinen Ebene einen Kampf, dessen Ziel es ist zu bestehen. Im Rahmen von Spiel- und Sportpraktiken stellt Agon eines der markantesten Merkmale dar. In der spezifischen Ausprägung dieses Prinzips liegt in den neuen Sportpraktiken zugleich eine der zentralen Differenzen zum modernen Leistungssport vor. Das Spezifische dieser Form wird im Folgenden einerseits kontrastiv zum Wettkampfsport und anderseits mittels einer Ausdifferenzierung der Kategorie in Anlehnung an Caillois erschlossen (vgl. ebd. 1960: 21 ff.). Daran kann einerseits gezeigt werden, dass und wie die neuen Sportpraktiken prinzipiell anschlussfähig an die Wettkampfform sind und anderseits welchen Transformationen die Praktiken dabei strukturell unterzogen werden. Die Analyse ist darauf ausgerichtet, sowohl dem empirischen Tatbestand der Ausgliederung von Wettkampfformen, als auch ihrer vehementen Ablehnung durch einen Großteil der Sportler Rechnung zu tragen. Insbesondere auch in sportpädagogischer Perspektive ist dies von zentraler Bedeutung, insofern Lehrplanrevisionen und Diskussionen zur Aufnahme bzw. zeitgemäßen Umgestaltung des Sportunterrichts (und Angebotes im Sportverein) immer wieder und aktuell diskutiert werden. Das agonale Prinzip des modernen Leistungssports ist an das Reglement der Sportart gebunden und stellt damit eine stark von Ludus geprägte Form des reglementierten Wettkampfs dar. 21 Diese kann grundlegend an den beiden 20 Ursprünglich bezeichnete Agon in der griechischen Antike einen Versammlungsort und wurde dann später auf die dort veranstalteten geistigen und körperlichen Wettbewerbe übertragen. Zur Verbindung von Agon und Kooperation als zwei "grundlegende Handlungsmuster, die die soziale Praxis organisieren" und deren wechselseitiges Durchdringen im Wettkampfsport, siehe Gebauer (1996a): 192f. 21 Zeugnisse zum antiken agön verdeutlichen die Differenzen, die zwischen diesem und der modernen Sportauffassung liegen (Toleranz von direkter Gewalt bis hin zu Todesfallen im antiken Faustkampf, Paukration oder Allkampf (vgl. Elias 1975: 89ff.)). Der semantische Rahmen des Begriffs Agon (sowohl ,Kampf' als auch , Wettkampf') deutet noch auf die Nähe zum Krieg hin, die die olympischen oder panhellenischen Agone auszeichneten: "Wettkampfund Krieg gehören in der griechischen Antike zu demselben agonalen Handlungsspektrum; zwischen beiden besteht kein gmndlegender Unterschied. Der Wettkampf kann

82

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

Merkmalen der eingeschränkten Konkurrenz sowie dem Prinzip der Chancengleichheit charakterisiert werden. Deshalb werden im Folgenden die Merkmale von Konkurrenzverhältnissen im Wettkampfsport näher betrachtet. Dabei kann die Analyse auf eine Arbeit des Soziologen Georg Simmel zurückgreifen, deren allgemeine Reflexionen zu Konkurrenzverhältnissen und von Merkmalen des Konkurrenzausschlusses sich für den Sport fruchtbar machen lassen (zum Folgenden vgl. Simmel 1908 [zitiert nach der Ausgabe 1995]: insbesondere 323-349).

Konkurrenzprinzip Grundsätzlich lassen sich mit Simmel verschiedene Formen von Konkurrenz unterscheiden, von denen der Wettkampfsport nur eine, zudem sehr ideelle Variante praktiziert.Z2 Auch wenn Simmel den Sport nur am Rande und eher illustrativ einbezieht, können seine Beobachtungen und Kriterien der Differenzierung unterschiedlicher Konkurrenzverhältnisse für die Feldanalyse und insbesondere auch eine strukturelle Erhellung der Abgrenzungsstrategien der Teilnehmer neuer Sportarten fruchtbar gemacht werden. Kennzeichnend für sportliche Wettkämpfe ist jenes Prinzip, dass Simmel die eingeschränkte Konkurrenz nennt. Es unterscheidet sich von der offenen und absoluten Konkurrenz im Wesentlichen durch verschiedene Beschränkungen der Konkurrenzmittel (vgl. Simmel 1995: 341) und kann anhand von fünf Merkmalen gekennzeichnet werden: Erstens handelt es sich um einen direkten oder indirekten Kampf von mindestens zwei Parteien, der eng gebunden an ein Reglement stattfindet. Dabei fallen Sieg und Preis nicht unmittelbar zusammen, sondern werden über das Reglement vermittelt: Der Preis (Medaille, Preisgeld) stellt einen unabhängigen Wert dar (vgl. ebd.: 323f.). Zweitens muss es sich beim Wettkampf um ein paralleles Bemühen aller Parteien um dasselbe Ziel handeln (vgl. ebd.: 324). Drittens muss die Differenz individueller Energien als Grund für Sieg oder Niederlage gelten. Jedem Wettkämpfer müssen deshalb dieselben Bedingungen und Mittel zur Fortsetzung des Krieges werden und der Krieg Fortsetzung des Wettkampfs" (Gebauer 1996b: 11, vgl. auch 1986b). 22 So findet beispielsweise jene Konkurrenz zweier Parteien keine Entsprechung im Sport, bei der der Sieg der einen über die andere Partei unmittelbar mit dem Ziel oder Zweck des Kampfes zusammenfallt (Situation der Selbstverteidigung). Dies entspricht einer F01m des Agon im Sinne von ,Kampf, nicht aber dem modernen Verständnis von sportlichem ,Wettkampf. Außerdem müssen die Konkurrenzfonnen des sportlichen Wettkampfs von denen der ökonomischen Konkurrenz- und Leistungsprinzipien der Gesellschaft unterschieden werden: Ein Vergleich ist nur bedingt zulässig, denn im Sport werden die Differenzen durch den Körper etabliert. Die ökonomischen Differenzsysteme gründen hingegen auf Faktoren wie: "Geld, Einfluß, Beziehungen, kurz, [auf allem], was Macht konstituiert" (Gebauer 1986a: 115).

83

STIL-KULTUREN

Verfügung stehen. Die Bewertung der Leistungen und die Entscheidung über Sieg oder Niederlage muss von einem objektiven Vergleich der Leistungen abhängen (vgl. ebd.: 334f.). Viertens sind Sieg und Niederlage im Wettkampfspürt unmittelbar aufeinander bezogen, d.h. der Kampf um ein gemeinsames und limitiertes Ziel wird in eine Eindeutigkeit absoluter Platzierungen überführt (vgl. ebd.: 336). 23 Fünftens muss die Chancengleichheit zum Anfang eines jeden Wettkampfs garantiert sein. Die hierarchische Ordnung wird idealiter immer wieder von Neuern egalisiert und von den Teilnehmern ,aufs Spiel gesetzt' (vgl. ebd.: 339). In diesem Sinne stellen die Sportler ihren Status im Sport fortwährend auf die Probe. Auch wenn im Sport zum Teil erhebliche Differenzen auftreten - Formen direkter (z.B. Boxen) oder indirekter Konkurrenz (z.B. Wettlauf) - , ist Simmels Reflexion zuzustimmen, dass diese in Verbindung mit den moralisch-rechtlichen Richtlinien der Gesellschaft gesehen werden müssen (vgl. ebd.: 342). Für den Sport lässt sich diese Position in Anlehnung an die Arbeiten von Norbert Elias stärken, dem zufolge die Einschränkungen der Konkurrenzmittel als Ausdruck der überindividuellen Verhaltens-, Körper-, Affekt- und Gewaltstandards einer Gesellschaft zu einem gegebenen historischen Moment verstanden werden können (vgl. Elias 1975; 14 1989; Elias/ Dunning 2003).Z4 Eine Vielzahl weiterer Beschränkungen der Konkurrenzmittel betrifft im engeren Sinne das Reglement der jeweiligen Sportart. Sie sind willkürlich gesetzt, stehen in keinem zwingenden Verhältnis zu moralisch-ethischen Beweggründen der Gesellschaft, bestimmen aber mitunter hochgradig den spezifischen Charakter der Sportart (z.B. Hand- oder Fußspielverbot im Fußball/Handball; Spielfeldbegrenzungen, Schritt- und Zeitregelungen). Diese Einschränkungen nehmen Einfluss auf das Spielgeschehen, begrenzen es auf einige legitime Formen und sehen gleichzeitig entsprechende Maßregelungen im Falle von Missachlungen vor. Entscheidend ist hier, dass sie durch das 23 Dieser Aspekt soll beispielsweise in den so genannten ,New-Games' neutralisiert werden. Um die Gefahr der Diffamierung der Verlierer auszuschließen, wird das gemeinsame Spiel ohne Sieger oder Verlierer ins Zentrum gerückt und damit theoretischjede Konkurrenz verhindert. 24 Die Grenze zwischen ,übertriebener' und ,gesunder' Härte erscheint von einer Außenperspektive recht beliebig gesetzt zu sein. In der Tat ist das absolute Maß des gerade noch erlaubten von Sportart zu Sportart sehr unterschiedlich. Das Erheben der Stimme, lautes Ärgern über sich oder gar den Gegner, das Hinwerfen des Schlägers ist mitunter das höchste noch akzeptierte Maß (Golf, Tennis, Tischtennis). In anderen Sportarten wird es hingegen toleriert, den Gegner im vollen Lauf von hinten zu Fall bringen, wenn man dabei nur den Ball spielt (Fußball) oder seinen Gegner mit voller Absicht umzustoßen (,body-check' beim Eishockey, Football). Diese zum Teil erheblichen Differenzen im körperlichen Einsatz bilden zumindest zum Teil schichtspezifische Präferenzen ab (vgl. Boltauski 1976, Gebauer 1986a).

84

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

Reglement eindeutig gesetzt werden und aus der Perspektive des Sportlers, der im Sinne von Bourdieus Begriff der "illusio" im Spiel ist, Teil seines umfassenden Glaubens an die quasi ,Natürlichkeit' und Notwendigkeit der jeweiligen Praktiken sind (vgl. Bourdieu 1993: 122; auf den Sport angewendet siehe Stern 2006a).

Chancengleichheit Neben dem Prinzip der eingeschränkten Konkurrenz ist das der Chancengleichheit konstitutiv für den Wettkampfsport. Chancengleichheit wird durch das Einrichten objektiver und möglichst gleichbleibender Wettkampfbedingungen hergestellt, die jedem Sportler idealiter die gleichen Voraussetzungen und eine objektive Messung und Bewertung der Leistungen garantieren sollen. Formal bedeutet sie eine Entd!ff'erenzierung der Konkurrenten: Vor den objektiv gleichen Ausgangsbedingungen und Bewertungsmaßstäben sind alle Wettkämpfer ,gleich-gültig' (vgl. Gebauer 1986a: 116). Erst mit dem Ausgang des Wettkampfs stellt sich erneut, objektiv und damit unumstößlich eine Ordnung her. 25 Die Chancengleichheit bildet damit die Grundlage dafür, dass dem Sieg wie der Niederlage ein "unbestreitbare[r] Wert" verliehen wird (Caillois 1960: 21 ). Der Sieg wird in besonderer Weise zu einer Qualität des Erstplatzierten, weil der Grund für seinen Sieg trotz größtmöglicher Chancengleichheit in besonderer Weise im individuellen Vermögen des Sportlers gesehen werden kann: Der Wettkampfsport "erweist sich als die reine Form der persönlichen Leistung und dient dazu, diese zum Ausdruck zu bringen" (ebd.: 22). Durch die relationale Leistungsbewertung und die Überführung der gemessenen Leistungen in absolute Differenzen tritt in dieser Logik die individuelle Leistungsverbesserung in den Hintergrund. Dieser Umstand hat insbesondere in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen, da sich die Wettkampfsportarten zunehmend durch die Tendenz einer starken Polarisierung von alleinigem Sieger und der Masse der Verlierer auszeichnen. Zieht man noch die zunehmende Leistungsdichte der Spitzensportler in Betracht, so tritt die individuelle Leistung der Nachplatzierten unverhältnismäßig in den Hintergrund. Die Herausstellung des Siegers bei der Ehrung erscheint umso bedeutsamer, als die quantitativen Leistungsdifferenzen zu den Gegnern (vgl. Boschert 1995) bei der Siegerehrung in qualitative und absolute Platzierungen überführt werden: Auch wenn der Erste buchstäblich nur um ,Haaresbereite'

25 Dieses Ideal wird aber auch im Wettkampfsport unterlaufen: So starten in der Leichtathletik beispielsweise die besten Läufer der Vonunden nicht auf den Außenbahnen eines 400-Meter-Laufs, sondern in der Mitte, wo die Kurven ftir einen schnellen Lauf einen günstigeren Bogen besitzen.

85

STIL-KULTUREN

vorne lag, tritt er als der alleinige und absolute Sieger auf das Podest. 26 Das Prinzip der Chancengleichheit und die Bedingungen der eingeschränkten Konkurrenz schaffen einen ideellen Sonderraum des Sports: Konkurrenz im Sport gründet auf dem Bestreben aller Teilnehmer, den Sieg mittels der eigenen Leistungen und unter Beachtung der Regeln zu erlangen. So sind Sieg und Niederlage nach Simmel "der zutreffende und gerechte Ausdruck für die beiderseitigen Kraftmaße" (Simmel 1995: 343). In diesem Sinne liegt der sportlichen Konkurrenz die typisch moderne Form des meritokratischen Leistungsprinzips zugrunde. Es ist die sozial anerkannte und tief mit dem Selbstverständnis der Moderne verbundene Verdienstlogik, die im sportlichen Wettkampf ein ideales und ideelles Feld findet? 7

Formen von Konkurrenzausschluss Für die Analyse der spezifischen Agonalität in den neuen Sportarten sind ferner drei grundsätzliche Formen bzw. Strukturen gemeinschaftlichen Handeins erhellend, die keine Konkurrenz zulassen (vgl. zum Folgenden Simmel 1995: 333ff.) : (1) Hierunter fallen die Aktivitäten, in denen die Beteiligten nicht auf dasselbe oder aber auf gar kein konkretes Ziel hin ausgerichtet sind (z.B. Spaziergänge um der Gespräche, der Gesundheit, Langeweile willen). (2) Ferner lassen alljene Aktivitäten keine Konkurrenz zu, in denen zwar nach einem gemeinsamen Gut gestrebt wird, dieses aber für alle gleichermaßen vorhanden ist (vgl. ebd. : 333). Hierunter fallen beispielsweise Wanderungen zu einem konkreten Ausflugsziel, bei dem es um Naturerlebnis und schöne Aussicht geht. Konkurrenz kommt erst in dem Moment ins Spiel, in dem es das Ziel als erster zu erreichen gilt. (3) Ein weiterer "Typus des Konkurrenzausschlusses"

26 Der Wettkampf zwischen einander vollkommen ungleichen Gegnern erscheint (ohne Vereinbarung von Handicaps) sinnlos, das Ergebnis könnte vorweggenommen werden, besäße weder Reiz noch besonderen Wert. Das Reglement trägt deshalb dafür Sorge, über spezifische Klassifizierungen wie Geschlecht, Gewichtsklassen, Alter, Leistungsstand (Ligen) oder durch Qualifikationswettkämpfe eine Chancengleichheit und damit einen spannenden, weil offenen Wettkampf zu erzeugen. 27 In diesem Zusammenhang erscheint die Forderung nach ,Fair-Play' fraglich. Zum Begriff des "Fair-Play" im Sport siehe Bourdieu (1986): Fair-Play wird hier als Ausdruck "des Ethos der bürgerlichen ,Eliten"' gesehen, dem der "Rückzug aus der Welt der Praxis" entspricht, indem körperliche Betätigung zum Selbstzweck stilisiert wird (ebd. : 95). Vgl. auch Gebauer (1988b): Das "Fair-Play" zielt darauf ab, "durch unglückliche Zufälle hervorgerufene Vorteile" aufzuheben (ebd.: 129). ,Fair-Play' stellt eine moralische Maxime dar, die durch die Relativierung des sittlichen Bewusstseins im Leistungssport konterkariert wird. Zu einer technologischen Ausdeutung des Leistungssports, nach der der moderne Sport die a-moralische Steigerungslogik des technischen Fortschritts exemplifiziert, siehe König (1996).

86

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

vereint alle Formen des "Hazardspiel" Wie die Lotterie, Würfelspiele u.a. (ebd.: 334) bei denen die Teilnehmer keinen Einfluss auf den Verlauf des Spiels nehmen können. Diese nur kurze, auf die wesentlichen Aspekte der vorliegenden Fragestellung beschränkte Analyse schafft einen strukturellen Rahmen: Vor dem Hintergrund der Bedingungen eingeschränkter Konkurrenz, dem Prinzip der Chancengleichheit und dem meritokratischen Leistungsideal sowie den Kriterien des Konkurrenzausschlusses erweist sich das Kategorienschema von Caillois als unmittelbar anschlussfähig und erlaubt eine konkrete Ausdifferenzierung verschiedener Formen des agonalen Prinzips.

Formen des Agonalen Bezieht man die Analyse der konstitutiven Merkmale des Wettkampfsports unter klassifikatorischen Gesichtspunkten auf Caillois, Differenzierung des agonalen Prinzips, so erhält man vier unterschiedliche Ausprägungen des Agonalen, die sich auf je spezifische Konstellationen von Ludus und Paidia beziehen lassen. Im Überblick können die ersten beiden als extreme Formen charakterisiert werden, die jeweils von einem der beiden Pole dominiert werden: Erstens eine von Paidia bestimmte Form, die als ungezügelter Kampf beispielsweise dem nicht reglementierten und vorbehaltslosen Kampf ums Überleben beschrieben werden kann und zweitens eine dem entgegen gesetzte Form, die als reine Ludus-Form durch ein hohes Maß der Reglementierung gekennzeichnet ist und einen Kampfmit sich selbst und selbst gesetzten Hindernissen und Schwierigkeiten beschreibt. Die dritte und vierte Ausprägung beschreibt Caillois als Formen des Wettkampfs : Die dritten liegt in Form des Leistungssport vor und die vierte Erscheinungsform benennt Caillois als "virtuellen agon" (ebd.: 42), d.h. einen Typus von Wettkampf, bei dem ein Kampf gegen "imaginäre Gegner" vorliegt (ebd.) und der damit allein in der Innerlichkeit des Sportlers verbleibt. Aufgrund des gänzlich ungezügelten Charakters ist die erste, von Paidia beeinflusst Form nicht konstitutiv für Sport allgemein und spielt für die weitere Analyse nur kontrastiv eine Rolle. Die drei weiteren Formen bieten hingegen eine gute Differenzierung. Hierbei werden sich unter dem Gesichtspunkt einer Soziologie vom Spiele aus bereits zentrale Aspekte einer neuartigen Agonalität der untersuchten Sportpraktiken aufzeigen lassen. Die reine Ludus-Form der Kategorie Agon wird im Folgenden über Caillois hinaus als eine eigene Erscheinungsform des agonalen Prinzips herausgestellt, die im Zuge der Arbeit als eine spezifische Form der Arbeit am Selbst begrifflich gefasst werden kann. Betrachten wir zunächst die reine Ludus-Form im Vergleich zum dargestellten agonalen Prinzip des sportlichen Wettkampfs. Beide zeichnen sich durch den geregelten und disziplinierten

87

STIL-KULTUREN

Erwerb emer Technik oder Geschicklichkeit und das Streben danach aus, diese zu verbessern und zu beherrschen. Während das agonale Prinzip in Wettkampfform darauf ausgerichtet ist, das Können am Maßstab der Fähigkeiten von Konkurrenten zu messen, findet der Kampf im Sinne des ludisehen Agon gegen ein Hindernis "außerhalb jedes ausgesprochenen Gefühls für Wettkampf oder Rivalität" statt (Caillois 1960: 39). Der ludisehe Agon ist eine Art "Wettkampf mit sich selbst" (ebd.: 40), in dem individueller Fortschritt und Selbstüberwindung im Mittelpunkt stehen: Der "Geist des organisierten Wettkampfes [ist] nicht konstitutiv" für diese Form (ebd.: 42). In der Sphäre der Innerlichkeit verbleibend und auf Überwindung von selbst gewählten Herausforderungen gerichtet, kann hierunter (vor allem in Übertragung auf die neuen Sportarten) ein Kampf mit sich selbst, eine Fonn der anhaltenden, auf Wiederholung angelegten und außerhalb von Konkurrenzverhältnissen vollzogenen Selbstüberwindung verstanden werden, kurz: eine Arbeit am Selbst. Wettkampf hingegen ist stets ein direkter oder indirekter Kampf gegen andere Personen, der an allgemeinverbindliche und formalisierte Regeln gebunden ist. In Aktivitäten, denen das Prinzip des ludisehen Agon zugrunde liegt, setzt sich der Sportler seine eigenen Herausforderungen und Ziele, die er nach den individuellen Neigungen zu erreichen sucht. Dabei fehlt der reinen Ludus-Form jegliches Element der Rivalität. Der Kampf mit sich selbst und nach individuellen Regeln sucht weder den Vergleich zu anderen Mitstreitern noch wird dabei ein gemeinsames Gut oder Ziel angestrebt, kurz: Konkurrenz ist elementar ausgeschlossen. Dennoch liegt beiden Formen ein reglementierendes und disziplinierendes agonales Prinzip zugrunde: Das des ersteren ist allgemeinverbindlich, objektiv festgeschrieben und auf Vergleich ausgerichtet, das des letzteren nicht standardisiert und nicht auf Konkurrenz angelegt. Obwohl es sich hier um zwei unterschiedliche Erscheinungsformen des agonalen Prinzips handelt, ist die strukturelle Ähnlichkeit nicht zu verkennen und lässt prinzipiell Übergänge zwischen beiden Formen zu. Der Übergang ist jedoch, wie im Anschluss an Simmels Überlegungen zum Konkurrenzausschluss gezeigt, voraussetzungsvoll und zieht eine grundlegende Transformation der Tätigkeiten nach sich. Caillois merkt kritisch an, dass Tätigkeiten in der reinen Ludus-Form kaum das Interesse eines größeren Publikums wecken können. Sie sind für sich genommen zwar nicht unstrukturiert, bleiben aber für die Gemeinschaft "verschwommen und ungenau" (ebd.: 40), weil sie auf strengen aber individuellen und damit nicht auf transparenten und allgemein verbindlichen Regeln aufbauen. Die individuelle Wahl von Herausforderungen und Mitteln der Bewältigung ist jedoch nicht mit einer generellen Entbindung von sozialen Strukturen, Werthaltungen oder Konventionen gleichzusetzen. In diesem Aspekt

88

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

kann Caillois nicht gefolgt werden, der in rein von Ludus bestimmten Aktivitäten die Gefahr sieht, dass die Akteure sich außerhalb der sozialen Anhindung an Gleichgesinnte in einer rein individualistischen Welt verlieren könnten (vgl. Caillois 1960: 42). Demgegenüber können vielmehr die strukturellen Setzungen der Person auch und möglicherweise gerade als Ausdruck sozial prädisponierter Neigungen verstanden werden. Hier wäre im Anschluss an die Arbeiten von Pierre Bourdieu zu fragen, ob die sozialen Dispositionen von Akteuren jenseits formaler und expliziter Reglementierungen nicht nur umso prägnanter als strukturierende Strukturen in den sportlichen Tätigkeiten und genauer in den konkreten Aneignungen und Ausgestaltungen der feldspezifischen Kriterien und Spielräume des Handeins und Verhaltens zum Tragen kommen (vgl. Bourdieu 1992a; 1986). Caillois reflektiert diesen prinzipiellen sozialen Verweisungszusammenhang nur en passent unter dem Gesichtspunkt der Kategorie Mimikry: Die Maske, die sich eine Person für den Maskenball wählt, so sein Gedanke, spiegelt möglicherweise gerade nicht das ganz Andere der Person wieder, sondern verweist in besonders pointierter Weise auf bestimmte Eigenschafen der Person, "das Eigentliche der Persönlichkeit" (Caillois 1960: 30), das im alltäglichen Leben sozialen Restriktionen unterliegen. Dieser Gedanke kann mit dem Bourdieuschen Habituskonzept weitergedacht werden: Nach Bourdieu ist es in besonderer Weise die Körperlichkeit des Sozialen, die für das reibungslose Funktionieren im Sinne einer sozialen Verschränkung der Anforderungen eines Feldes und der Dispositionen (Fähigkeiten, Fertigkeiten, Werthaltungen) ihrer Teilnehmer sorgt. Der Sport kann als ein ideales und ideelles Beispiel für eine Art "Koinzidenz von Disposition und Position" angesehen werden (Bourdieu/Wacquant 1996: 162), die Bourdieu als grundlegende soziale Passfähigkeit gesellschaftlichen Alltagslebens beschreibt (vgl. Bourdieu 2001: 188ff.). Bis in die Feinheiten des Wie und Was ist der Geschmack bzw. die Wahl einer Sportart auf je spezifische Weise sozial imprägniert (vgl. Bourdieu 1986; 1992a). Ein in alltäglichen Praktiken ebenso wie im Sport bestimmendes (stummes) Einverständnis und reibungsloses Funktionieren gründet nach Bourdieu gerade nicht auf einer minutiösen Befolgung klarer und präziser Vorgaben. Vielmehr wirkt eine soziale und unmittelbar am Körper ansetzende Formierung der Person (im Sinne von strukturierenden Dispositionen) auf das Was und Wie der aktiven Teilnahme und Ausgestaltung von Tätigkeiten zurück (vgl. Bourdieu 1993: 113ff.). So suchen sich soziale Akteure gemäß ihrer sozialen Geschmacks prinzipiell passfähige Handlungsfelder aus, ebenso wie sie durch ihre Art des Handeins und Verhaltens auf die Praktiken einwirken und sie aktiv (mit-)bestimmen. Je höher der in Aussicht gestellte Preis und je härter die Konkurrenz, desto mehr werden äußere Instanzen der Reglementierung und Kontrolle notwendig, wie sie im Leistungssport vorliegen (Schiedsgerichte, Verbände).

89

STIL-KULTUREN

In Tätigkeiten, die rein vom Ludus Prinzip bestimmt werden, wirken hingegen die sozial strukturierten Werthaltungen und habitualisierten Stile des Handeins und Verhaltens, des spezifischen Körpereinsatzes, der Selbstdisziplinierung im Sinne von Foucault selbsttätig als innere Wärter (vgl. Foucault 1976b; 1977) und bedürfen hier immer weniger äußerer Kontrollinstanz. Im Übergang von der reinen Ludus-Form zum sportlichen Wettkampf nennt Caillois eine intermediäre Kategorie, den "virtuellen ag6n" (ebd. 1960: 42). Für die Transformation in letzteren benötigt die Ludus-Form zwei wesentliche Erweiterungen: Erstens ein "Element der Rivalität" und zweitens Zuschauer, auch wenn diese unsichtbar oder abwesend bleiben (ebd.: 47). Im Sinne des virtuellen Agon vollbringt man im Kampf mit imaginären Rivalen "unerhörte Heldentaten" und erwirbt "durch unübertreffliche Taten Ruhm [... ] und sei es auch nur in den eigenen Augen" (ebd.). Der Unterschied zwischen virtuellem Agon und sportlichem Wettkampf ist offenbar: An die Stelle imaginärer Rivalen und fiktiver Zuschauer treten im Wettkampfsport Konkurrenten und Zuschauer als reale Personen. Betrachtet man den virtuellen Agon innerhalb seiner Logik, so stellt er sich durchaus als eine Art ,Wettkampf dar, bei dem das angestrebte Ziel als gemeinsames und limitiertes Ziel gesetzt ist, nach dem der Aktive und sein imaginierter Gegner gleichermaßen streben. Ein potentielles Element der Rivalität lässt sich in den selbst gewählten Hindernissen und Naturkräften sehen, die eine Projektionsfläche für die Konstruktion eines imaginären Gegners bieten (vgl. Stern 2003). Der alleinige Kampf gegen die Naturhindernisse lässt jedoch unter formalen Gesichtspunkten kein Konkurrenzverhältnis zu. Die Entscheidung über Sieg oder Niederlage lässt sich nicht auf objektive Differenzen individueller Energien und Fähigkeiten mehrerer Kontrahenten zurückführen: Damit liegt mit Simmel eine charakteristische Struktur des Konkurrenzausschlusses vor. Blickt man vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen zurück auf den Wettkampfsport, so lassen sich auch hier Aspekte der Ludus-Form sowie des virtuellen Agon aufzeigen. Der Charakter eines ludisehen Agon tritt beispielsweise im Fußballsiel unter den Bedingungen von Freundschaftsspielen stärker zutage: Der Demonstration von hervorragenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Geschicklichkeit, Eleganz und Virtuosität am Ball, die nicht primär dem Fortkommen im Spiel dienen, wird merklich mehr Raum gegeben, als bei wichtigen Pokalspielen.28 Ebenfalls lassen sich Merkmale eines virtuellen Agon beispielsweise bei leichtathletischen Laufdisziplinen mit angekündigten Rekordversuchen (mit Pacemaker) beobachten: Die unmittelbare Konkurrenz tritt in den Hintergrund und der Kampf zwischen dem Herausforderer und der 28 Analog hierzu zeigt Pilz ( 1986) die Unterschiede in der Häufigkeit von "instrumenteller körperlicher Gewalt" (ebd.: 46) in Freundschaftsspielen und Meisterschaftsspielen im Fußball auf, wobei sich letztere durch mehr als doppelt so viele Vorfälle (99:45) auszeichneten als erstere (vgl. ebd.).

90

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

abstrakten Instanz ,Zeit' in den Vordergrund. Strategien, wie sie für Mittelund Langstreckenläufe typisch sind, beispielsweise den Gegner möglichst auf der Außenbahn laufen zu lassen oder Tempowechsel zu provozieren, um den Gegner aus dem Rhythmus zu bringen, entfallen. Das Rennen ist von Anfang bis Ende vorgeplant und wird im Gleichmaß ungestörter Bewegung realisiert. Im Kampf gegen die Uhr und den Rekord sind alle Details, die sonst das Spannende, Unerwartete und Besondere für den Sachverständigen ausmachen, unverzeihlich. In beiden Fällen bleibt das sportliche Geschehen zwar Wettkampf, bringt jedoch Aspekte der anderen agonalen Formen stärker zur Geltung. 29 Diese Ausdifferenzierung ist aus einem weiterem Grund von Interesse: Caillois (1960) zufolge wird die Neigung des Menschen zu Geschicklichkeitsspielen erst durch die Transformation in einen Wettbewerb zu einem "kulturellen Phänomen" und einer "Stütze der Gemeinschaft" (ebd.: 49). In diesem Sinne lassen sich Simmels Reflexionen zu den über-individuellen Einschränkungen von Konkurrenzmitteln präziser auf den Sport beziehen. Auf den Sport übertragen sind sie darauf zugeschnitten, den "unlauteren", "unmittelbaren" und "rein egoistischen" Wettbewerb zu unterbinden und Konkurrenz auf die Bahnen des "gesellschaftlich nützlichen" umzulenken (Simmel 1995: 346). In der absoluten Konkurrenz kann der Sieg des einen über die Vernichtung des anderen gehen; damit wäre u.U. noch dem Sieger gedient, nicht aber der Sportgemeinschaft In Anlehnung daran kann dem modernen Leistungssport in spezifischer Weise ein Gemeinschaft stiftendes und Kultur schaffendes Moment zugesprochen werden, das auf der Transparenz, Allgemeinverbindlichkeit und Objektivierung der gemeinsam geteilten Zielsetzungen, Reglementierungen und einem Leistungsstreben gründet (vgl. dazu auch Huizinga 1956). 30 29 Des Weiteren stehen bei wichtigen Wettkämpfen der Leichtathletik, bei denen der Sieg bereits hohes Prestige (oder Preisgelder) genießt, nicht immer die Bestzeiten im Vordergrund. Nach taktischen Erwägungen wird ,auf Sieg gelaufen' und die Zeit spielt mithin eine nachgeordnete Rolle. Die Läufer orientieren sich an den Konkurrenten und sichern sich die angestrebte Platzierung. Ist ihnen diese aufgrund eines großen Vorsprungs nicht zu nehmen, fallt der Endspurt mitunter nur verhalten aus. 30 Huizingas These der Kultur schaffenden Funktion des Spiels, die er in seinem Buch "Homo Ludens" (1956) fonnuliert, kann in der Tradition einer idealistischen Anthropologie gesehen werden, die sich aufRousseau und Schiller zurück verfolgen lässt und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Auffassung vom Spiel maßgeblich bestimmt und zugleich eng geftihrt hat: Huizingas Blick auf das Spiel ist von der Grundposition geleitet, dass spielerische Tätigkeiten das ,Andere' des Alltags darstellen. Damit fasst er zwar zutreffend die Besonderheit einer Sphäre des als-ob, die Zweckfreiheit u.a. von Spielen (vgl. ebd.: 17ff.), bindet seine Erwägungen aber erstens an eine Auffassung vom "echte(n) Spiel", das er im "heiligen Spiel" verortet und als die "eigentliche Wurzel der Kultur"

91

STIL-KULTUREN

Über Caillois und Simmel hinaus und unter Berücksichtigung der Bourdieuschen Habitus Konzeption kann argumentiert werden, dass die sozialen Strukturen auch außerhalb von Wettkampfformen wirksam werden. Sportpraktiken sind nicht losgelöst von den Tiefenschichten zivilisationstheoretischer Standards zu verstehen: Diese zeigen sich vielmehr auch im Sport im spezifischen Körpereinsatz, den Freiräumen bzw. Restriktionen der Affekt- und Gewaltkontrollen (vgl. Gebauer 1986a), ebenso wie in spezifischen Akzentsetzungen der Kooperationen und Strategien, die aus dem wechselwirkenden Mit- und Gegeneinander der jeweiligen Praktiken erwachsen (vgl. Elias/Dunning 2003a). Im Folgenden geht es deshalb nicht nur darum, das agonale Prinzip der neuen Sportarten zu erfassen, sondern aufzuzeigen, dass eine spezifische Form der Agonalität von Handlungs- und Verhaltensformen immer auch eine spezifische Form der Subjektkonstitution bzw. der konkreten Formierung der Sportler hervorbringt. Dazu gehören (Körper-)Ideale und Wertmaßstäbe, mithin Prinzipien ihrer Objektivierung bzw. eine je spezifische Art der Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit.

Agon in den neuen Sportpraktiken Die untersuchten Sportpraktiken (Free-Climbing, Paragliding, Snowboarding) weisen zunächst alle Merkmale auf, die Caillois als kennzeichnend für Spielund Sportarten allgemein hervorhebt (vgl. oben): Die Sportler stellen sich selbst gewählten Herausforderungen (eine Route durch die Wand, den Schwierigkeitsgrad, bestimmte Orte, Manöver, Sprünge, Tricks u.a.) und versuchen, diese mittels spezifischer (Körper-)Techniken bei hoher physischer und psychischer Beanspruchung zu bewältigen. Ferner werden die Betätigungen freiwillig ausgeübt, sie finden abgetrennt vom gesellschaftlichen Alltag statt (Freizeit, zumeist Naturräume), sie tragen eine hohe Spannung der Ungewissheit über den Ausgang in sich, sind zweckfrei und folgen weniger festgeschriebenen Regeln als informellen Gepflogenheiten und individuellen Maßstäben. Die neuen Praktiken werden damit allen Kriterien gerecht, die Caillois als charakteristische Merkmale für Spiel- und Sportarten im Allgemeinen bestimmt.

versteht (ebd.: 35) und zweitens verstellt ihm diese Perspektive den Blick für die Darstellungsfunktionen und Organisationsformen von Spielen, wie sie beispielsweise von Clifford Geertz (1999) und Roger Caillois (1960) bearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund ist auch Huizingas Kritik am modernen Leistungssport zu verstehen: "Der Sport ist vollkommen weihelos geworden und hat keine organische Verbindung mehr mit der Struktur der Gemeinschaft[ ... ] Er ist viel mehr eine selbständige Äußerung agonaler Instinkte als ein Faktor eines fruchtbaren Gemeinschaftssitms." (Ebd.: 213)

92

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

Ein zentraler Unterschied zum traditionellen Modell des Leistungssports besteht darin, dass die Praktiken keine Wettkampfstrukturen haben bzw. bestehende von einem beachtlichen Teil der Sportler vehement abgelehnt werden. Im Kern weisen die neuen Sportpraktiken weder ein festgeschriebenes Reglement auf, noch sind sie auf die Produktion von Leistung anhand objektivierter Kriterien ausgerichtet (vgl. zum Klettern Neumann 1993). Dies bedeutet aber nicht, dass die Sportler mit der Ablehnung von Wettkampfstrukturen jede Form der Agonalität ausgrenzen. Um die spezifische Agonalität sowie die daran gebundene Frage nach der spezifischen Form der Subjektkonstitution fassen zu können, ist es sinnvoll, die Wettkämpfe und damit die notwendigen Transformationen, die sich in der jüngeren Vergangenheit in allen drei Feldern etabliert haben, erst im Anschluss zu betrachten. Zunächst also lässt sich ein fundamentaler Unterschied zum Leistungssport ebenso wie zum Breiten- oder Freizeitsport konstatieren: Gleichgültig auf welchem Leistungsniveau oder in welcher Altersklasse betreiben auch Freizeitsportler, die nicht an offiziellen Wettkämpfen teilnehmen, ihre Sportart überwiegend in der Wettkampffonn: Ob Fußball, Basketball, Beach-Volleyball, Squash usw., diese Sportarten werden auch auf dem informellen bzw. kommerziellen Sektor nach dem Prinzip des Wettkampfsports ausgeübt. Folgendes Zitat eines Kletterers kann demgegenüber als exemplarisch für die Untersuchungsfelder gelten: Sportwettkämpfe beim Gebirgsklettern "fand' ich total unpassend, [ ... ] im Gebirge wäre es dann ja so, dass man sagt, ich will gewinnen, [ .. .] da würden Leute, nur um irgendwas gewinnen zu können, ihr Leben riskieren [ .. .]. Schneller heißt: weniger Sicherung; weniger Sicherung heißt: gefahrlicher. Und da gehts ja nicht nur um einen sportlichen direkten Vergleich, [ ... ] im Gebirge gehts ja um was ganz anderes. Da gehts ja nicht nur um die sportliche Leistung."

Das Wettkampfprinzip wird von diesen Sportlern als "unpassend" bezeichnet. Das bedeutet, dass der Wettkampfgedanke nicht passfähig mit den spezifischen Herausforderungen und Anforderungen ist, denen sich die Sportler im Sinnen von Ludus selbstreglementierend stellen. Die Arbeit am Selbst kann ftir die neuen Sportarten als Grenzgang begrifflich gefasst werden. Der Grenzgang besitzt zwar eine Steigerungslogik, diese ist jedoch streng an den Maßstab der Person selbst gebunden. Im modernen Leistungssport kann hingegen ,auf Sieg spielen' ebenso eine (Selbst-)Überforderung wie eine Unterforderung einzelner Spieler bedeuten. Die Logik des Höher-Schneller-Weiter ist streng relational und durch die Vergleichslogik stets auf die Leistungen der Konkurrenten bezogen. Beide agonalen Ausformungen (Wettkampf und Grenzgang) stellen zwei je eigenständige Ordnungsformen dar. Sie zusammenzubringen bedeutet, dass eines der beiden Ordnungsprinzipien an Einfluss

93

STIL-KULTUREN

über das andere gewinnt. Dies aber fuhrte entweder zu einer spannenden aber ftir die Sportler nicht zu kontrollierenden Steigerung, gleichsam zu einem Wettkampf der Risiken oder aber zum Verlust der wechselseitigen Bezugnahme der Konkurrenten aufeinander, zu differierenden Zielsetzungen u.ä. Mit dem Grenzgang ist ein zentrales Merkmale der neuen Sportarten benannt, das dem traditionellen Wettkampfkonzept an die Seite rückt. Eng an diese spezifisch agonale Handlungsordnung ist eine Wertschätzung der Praktiken gebunden, die im Folgenden gerrauer betrachtet und den Grenzgang weiter profilieren wird: Ein Mehr als Sport.

"Mehr als Sport" Die Akteure der untersuchten Felder lehnen nicht allein die Wettkampfausrichtung, sondern prinzipiell das Modell des traditionellen Vereinssports ab. Deutlich wird dies in einer Wertschätzung der Sportler fur ihre Tätigkeiten: Klettern, Paragliding und Snowboarding werden von den Aktiven als "Mehr als Sport" beschrieben; aus ihrer Perspektive gehen diese Aktivitäten nicht im Begriff des (Vereins-)Sports auf. Beispielhaft hierzu ein Kletterer. Die Faszination am Klettern: "ist halt einmal der sportliche Reiz, man geht wirklich körperlich an seine Grenzen, aber das ist nicht so, [...]um 17.00 Uhr gehe ich in die Sporthalle, mache zwei Stunden Badminton oder Fußball oder Handball oder so, gehe danach duschen, gehe wieder nach Hause, alles ist in Ordnung. [... ]halt ein normaler Sport[ .. .]. (W)enn man richtig klettern geht [ . .. ], dann dauert es einfach richtig lang, man ist von objektiven Gefahren auch leider bedroht und muss damit umgehen und man ist meistens mit Kletterpartnem unterwegs, die man einschätzen muss, [... ], man hat schon Grenzerfahrungen." (Herv. M.S.)

Hinter der Betonung der zeitlichen Dauer verbirgt sich em wesentliches Merkmal der neuen Sportpraktiken, das immer wieder mit Begriffen wie "Ausgesetztheit", "Ausgeliefert-Sein" oder auch "Freiheit" beschrieben wird. Den Sportlern geht es nicht darum, etwas möglichst lange zu machen. Im Kern verfolgen sie das Ziel, sich Situationen und Bedingungen auszusetzen, die sie nur im Grenzgang bewältigen können. Dabei geht der Grenzgang in einem umfassenden Sinne nicht im Konzept des Sports auf. Mit dem Grenzgang bewegt sich der Sportler nicht in der Ordnung, sondern an ihren Rändern : Grenzgang bedeutet, Ordnungen zuallererst selbsttätig zu erzeugen oder gerade noch aufrecht erhalten zu können und sich dabei an den Rand der eigenen Möglichkeiten zu begeben. Während die meisten Wettkampfsportarten mit der Standardisierung der Räume eine Verlässlichkeit, Planbarkeit und Berechenbarkeit schaffen, die sogar den Kontrollverlust des Sportler bei der

94

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

Überschreitung seiner Möglichkeiten weitgehend frei von Gefahren zulässt, ist die aktive Erzeugung einer Ordnung wesentlicher Bestandteil des Grenzganges: Die außergewöhnlichen Bewegungsweisen und Bewegungsräume und nicht zuletzt der Umgang mit den technischen Sportgeräten eröffnen den Grenzgängern potentiell neue Bewegungs-(Spiel-)Räume, deren Ordnungen im Gleichgewicht der wirkenden Kräfte von den Aktiven selbsttätig erprobt und immer wieder aufs Neue erzeugt werden müssen. Verliert der Grenzgänger hingegen die Kontrolle, so führt dies im Sinne von Bauman (1995) von der Kontrolle zum modernen Zwilling der Ordnung, dem "Chaos" (ebd.: 19). Das bloße Ausschöpfen der körperlichen Grenzen bedeutet in der Perspektive dieser Sportler Wettkampfsport und verbleibt für sich genommen innerhalb einer von außen vorgegebenen, weitgehend fertigen und nicht eigenständig geschaffenen Ordnung. Hingegen ist die Suche nach Grenzgang die nach eigenständiger, aktiver, selbstverantwortlicher und hoch individueller Erzeugung oder Aufrechterhaltung einer labilen Ordnung. Der Grenzgang kennt nicht den Modus des Nötigen, sondern zielt darauf, stets die Ressourcen auszuschöpfen. Die Überführung der Praktiken in die Wettkampfform ist mit einer grundlegenden Entschärfung des Risikos verbunden. So finden Kletterwettkämpfe im Sinne des oben angeführten Zitats nicht im Gebirge, sondern ausschließlich in der Halle statt, an künstlichen Wänden, mit fest verschraubten Griffen und vorinstallierten Sicherungshaken. Die objektiven Gefahren, von denen der Kletterer spricht, entfallen hier: Der Sport entschärft die Praktiken, am Klettern wird dies gut sichtbar, indem alle äußeren Einflüsse und Unwägbarkeilen so weit als möglich ausgeschlossen werden. Dies aber bedeutet, dass wesentliche Merkmale des Gebirgskletterns entfallen, die die klare Ordnung und Konzentration auf das gemeinsame und limitierte Ziel und die daran gebundene transparente und möglichst eindeutige Entfaltung der individuellen Kräfte stören können. Damit entfallen weitere zentrale Elemente der Praktiken: Selbstverantwortliche Sicherung, eigenständige Wahl der Route, des Schwierigkeitsgrades oder das Spiel mit der Thermik (Paragliding) sowie die Improvisationen, Tricks und spektakulären Manöver (Snowboarding). Während diese spielerisch-ästhetischen Elemente unter Gesichtspunkten des Wettkampfs als ineffizient gelten, bilden sie konstitutive Merkmale der neuen Praktiken. Hierzu zwei Beispiele: Die extremen Snowboarder (Free-Rider) nehmen stw1denlange Aufstiege zu Fuß mit dem Board auf dem Rücken geschnallt und durch unwegsames Gelände auf sich, um fern der offiziellen Pisten einen steilen Hang oder Felsvorsprung zu erreichen. Sie schaffen sich damit die Möglichkeit exklusiver Abfahrten, extremer Hanglagen, riskanter Sprünge über Felsen und hohe Geschwindigkeiten. Vorgefertigte Wege gibt es hier meist nicht, weder ist der Untergrund gesichert, noch die Streckenführung eindeutig. Die Boarder 95

STIL-KULTUREN

bewegen sich in kurzen Abschnitten durch das Gelände; Sprünge von mehreren Metern freiem Fall in die Tiefe gehören ebenso dazu wie rasante Abfahrten in extremer Hanglage. Die Bereitschaft, jederzeit auf das Ungewisse zu reagieren (Bodenwellen, Felsbrocken unter dem Tiefschnee bis hin zu Lawinen) und stetig zu improvisieren, ist zentraler Bestandteil dieser Praxis. In der gleichen Weise ist auch das Spiel in der Vertikalen beim Paragliding von der Kontingenz der Thermik und laminaren Windströmungen geprägt. Paragliding, Snowboarding oder Klettern (im Gebirge) bedeutet, sich den nicht präparierten, ungewissen Bedingungen auszusetzen und unter Ausschöpfung aller Fähigkeiten und in steter Improvisation mit diesen umzugehen. Der spielerische Umgang mit Kontingenz ist von einer ausgeprägten Agonalität bestimmt, die sich zugleich Formen der Objektivierung, Standardisierung und des direkten, messbaren Vergleichs entzieht. Das kämpferische Moment dieser Praktiken ist auf die Bewältigung der Herausforderungen, ein Überstehen der Risiken oder ein Gelingen der schwierigen Aufgabe gerichtet. Deutlich wird an allen drei Praktiken, dass die Herausforderungen des Grenzganges von den Sportlern nur individuell gesetzt werden können und hierüber jeder Kletterer, Paraglider oder Snowboarder seinen Grenzgang möglichst optimal auf seine eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten abstimmt. Die Betonung der Individualität der Grenzgänge ist deshalb aber nicht dahingehend fehl zu deuten, dass die Inhalte der Sportpraktiken (Manöver, Sprünge, Tricks) ebenso wie die Form, d.h. hier zunächst die prinzipiell riskanten Umstände, als individuell zu verstehen sind. Ebenso wie sich beim Klettern Schwierigkeitsgrade als ungefähres Richtmaß der Befähigung eines Sportlers benennen lassen, so geben auch spezifische Abstufungen der Gleitschirme oder die Komplexität der Manöver und Sprünge (Snowboarding) sowie in allen drei Feldern die Qualität der Ausführung Auskunft über den Stand des Können. Die Unübersichtlichkeit der neuen Sportpraktiken ist nicht zuletzt auf ein umfangreiches Repertoire an Bewegungen, Techniken, kunstvollen Tricks und Manövern zurückzuführen. Sie deshalb als rein individualisierte Praktiken zu bezeichnen, hieße, ein zentrales Merkmal zu übersehen: Unabhängig vom Könnensstand und der gewählten Technik wird in allen drei Feldern deutlich, dass die konkrete Ausführung der Bewegungen der von der Gemeinschaft sozial erwarteten Logik des Grenzganges folgt: Entscheidend ist hier nicht allein, was der Sportler kann, sondern dass er sein Können immer wieder aufs Neue auf die Probe stellt. Vergleichsstudien von Wettkampf- und so genannten Risikosportlern aus dem U.S. amerikanischen Raum bestätigen zunächst die Ablehnung von Wettkampfstrukturen: Risikosportler sind demzufolge "focused on the sensory experiences of their sport [... ] that competition, and any worries about competition, are a minor concern to them." (Rainey u.a. 1992: 314; Herv. M.S.;

96

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

vgl. Robinson 1992: 26). 31 Auch Csikszentmihalyi (1985) weist m semer Untersuchung von Free-Climbern darauf hin, dass diese ihren Sport "als eine der reinsten Formen menschlicher Aktivität [betrachten], und zwar zum Teil deshalb, weil die Leistungen dabei private Erfahrungen bleiben, und nicht zu öffentlichen Ereignissen werden" (ebd.: 104; Herv. M.S.). Das Klettern in der freien Natur, Gleitschirmfliegen in Höhen von über 2000 Metern oder Snowboarding abseits der Piste entzieht sich zunächst in der Tat einem breiten öffentlichen Publikum Ebenso kann der Schwierigkeitsgrad und das Risiko eines Sprungs, Manövers oder einer Route zumeist nur von den aktiven Sportlern selbst eingeschätzt werden. Die Betonung der sinnlichen oder gar der privaten Erfahrung der angeführten Studien bleibt aber zumindest ungenau: Die Sportler greifen auf ein komplexes Repertoire an Bewegungen, Techniken, Tricks, Sptüngen und Manövern zurück, das gerade nicht individuell, sondern von der Gemeinschaft der jeweiligen Sportart hervorgebracht wird. Die Individualität, die in diesen Aufruhrungen maßgeblich von den kontingenten Bedingungen geprägt ist und dem Sportler stete Improvisationen abverlangt, ist seinerseits Teil ungeschriebener Erwartungen und Konventionen. Wenn der Grenzgang auch notwendig von jedem Aktiven individuell bestimmt wird, so stellt er doch ein von den Kleingruppen und informellen Großgemeinschaften geteiltes und damit über-individuelles Merkmal dieser Praktiken dar. Die Sportler stellen nicht allein ihren Könnensstand auf die Probe, sondern sprichwötilich die Person als Ganzes: Eine experimentelle Preisgabe der Person ist konstitutiv für die neuen Sportpraktiken und rückt der traditionellen Orientierung am objektiven Leistungsvergleich an die Seite. Jenseits eines direkten und objektiven Vergleichs akzentuieren die Sportler eine Agonalität, die in der Bewältigung von Außergewöhnlichem liegt. Die Sportler beschreiben in ähnlicher Weise wie auch Reinhold Messner (1994) fürs Klettern "Vergleichbarkeit" nicht als zentralen Aspekt ihrer Sportpraktiken: "Natürlich war ich mit zwanzig ein ehrgeiziger Kletterer gewesen. Ich wollte frei, schnell und gut klettern können. Dieser Ehrgeiz aber war nicht gegen andere gerichtet, er steigerte nur die Ansprüche, die ich an mich selbst stellte." (Ebd.: 307) "Als ob die Vergleichbarkeit der höchste aller Werte wäre. [... ] Mir ging es beim Klettern [... ] um Bewegung, um Schwierigkeitsgrade, um Ausgesetztsein." (Ebd.: 303)

31 Die angefiihrten Untersuchungen weisen ihre Ergebnisse als repräsentativ fiir nicht traditionelle athletische Aktivitäten wie Drachenfliegen, Fallschirmspringen, Wellenreiten, Bungee-Jumping aus.

97

STIL-KULTUREN

In ähnlicher Weise trifft man in allen drei Untersuchungsfeldern auf Beschreibungen wie "Selbstüberwindung", "Durchhalten", "Durchsetzen" u.a. Die Sportler stellen sich Herausforderungen, technischen und körperlichen Problemen der Machbarkeit und versuchen diese mit zum Teil erheblichem Zeitaufwand und Planung zu realisieren und bewältigen (vgl. Rienhardt/Röhl 1998: 42). Prägnant formuliert dies auch ein Skater, der mit Inline-Skates eine Achterbahn befahren hat: "Mir kommt es darauf an, mir etwas Verrücktes auszudenken und das technische Problem, das dabei entsteht, zu lösen" (Rodewies 1999: 40). Grenzgang bezeichnet ein zentrales Merkmal der neuen Sportpraktiken, das dem traditionellen Wettkampfkonzept gegenübersteht. Trotz der strukturellen Ähnlichkeiten gehen beide Handlungsordnung nicht ineinander auf, sondern sie unterscheiden sich substantiell und begründen damit die zum Teil vehemente Ablehnung der Sportler von Wettkampfformen.

Grenzgang und virtueller Wettkampf Die neuen Sportarten können innerhalb des Spannungsgefüges der Pole Ludus und Paidia verortet werden: Ein Fehlen allgemeinverbindlicher Reglementierungen fuhrt hier nicht zu beliebigen oder nicht reglementierten Tätigkeiten. Im Gegenteil: Die gesuchte Herausforderung ist zugleich eine ordnende Instanz. Die Schwierigkeiten der Hindernisse sowie die Komplexität und Kontingenz der Faktoren schränken die Möglichkeiten der Sportler ein und fordern zugleich eine umfassende Bereitschaft. So wählt sich beispielsweise der Free-Climber nicht nur die Steilwand, sondern auch die Route und Griffe im Einzelnen in Abstimmung mit seinen Fähigkeiten aus (vgl. Neumann 1993)?2 Die agonale Ausrichtung dieser Sportpraktiken ist von Ludus als Kampf der Selbstüberwindung und einem (körper-)technisch gesteuerten Umgang mit den Herausforderungen gekennzeichnet. Anders als Caillois dies konzipiert, verbleiben diese Tätigkeiten nicht in der reinen Privatheit. Die Wahl der kontingenten Umgebungsbedingungen ebenso wie das Repertoire an Bewegungen und Körpertechniken sind von der sozialen Dynamik dieser Felder nicht zu lösen: Fehlende Standardisierung und Objektivation der Praktiken bedeutet hier nicht, dass die Praktiken rein privatistisch ausgerichtet sind. Für eine Transformation der reinen Ludus-Form in einen virtuellen Agon lassen sich in Interviews nur vereinzelte, in Selbstberichten der Special-Irrterest-Zeitschriften hingegen einige Anzeichen finden. Dabei greifen die Sport32 Neumann (1993) gibt eine gute Gegenüberstellung der verschiedenen Facetten des Bergsports: Alpines Bergsteigen im Kontrast zum Sportklettem, bei dem es nicht um das Erklimmen von Gipfeln, sondern um die Bewältigung möglichst schwieriger Wandpassagen geht und schließlich deren wettkampfsportliche Wendung in Form von Hallenwettkämpfen an künstlichen Kletterwänden.

98

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

ler bei der (impliziten) Kennzeichnung ihrer Selbstbilder auf Konstruktionen der Naturkräfte zurück, die Züge der Produktion einer Rivalität aufweisen. So wird beispielsweise die Felswand in ähnlicher Semantik wie der Berg beim extremen Bergsteigen zu einer quasi lebendigen Instanz, die den Kletterer ,akzeptiert' und ,mitspielt' oder aber den Sportler ,abweist', nur die besten Kletterer ,durchlässt'. Diese Semantik aber findet gegenüber älteren Berichten und Selbstzeugnissen, wie denen von Reinhold Messners Buchveröffentlichungen (vgl. Messner 1994; 1996; Caysa/Schmidt 2002), kaum mehr Verwendung. Im Verschwinden dieser Semantik sowohl im modernen Klettern als auch in den beiden anderen, relativ jungen Feldern könnten nicht nur Wandlungen zeitgemäßer Rhetorik, sondern eine grundlegende Veränderung der Praktiken zum Tragen kommen: Die Sportler konzentrieren ihre Praktiken immer stärker auf Details - einzelne Passagen, Manöver, Sprünge und Techniken. Diese sind nicht einfach funktional, d.h. Mittel zum Zweck, sondern werden in ihrer Komplexität und Virtuosität sowie ihrem Wagnisgehalt spektakulärem Potential selbst zum zentralen Merkmal der Praktiken. Demgegenüber rücken Zielorientierungen wie die Naturbeherrschung und ihre Bezwingungssemantik in den Hintergrund. 33 Diese komplexen Veränderungen der Inhalte, der konkreten Bewegungsweisen und körperlichen Details bis hin zum semantischen Referenzrahmen der Selbstaussagen der Sportler werfen damit auch Fragen nach einer veränderten Form der Konstitution von Selbstverhältnissen in diesen Praktiken auf. Die neuen Sportpraktiken weisen eine Organisationsform und eine Ausrichtung aus, die nicht als bloße Zwischenstation im Entwicklungsspektrum von Sportarten aufgefasst werden kann, wie dies in der Perspektive von Lamprecht und Stamm (1998) verstanden werden könnte. Vielmehr sind hier Praxisfelder entstanden, die nicht teleologisch in einer Wettkampfform münden. Sie weisen gegenüber einer institutionalisierten und formalisierten Form eine Eigenständigkeit auf, die die Organisation, die Formen der Vergemeinschaftung und Reglementierungen als auch die Ausrichtungen und Zielsetzungen der Praktiken umfasst. Der Einsatz der Sportler in den neuen Sportformen geht weit über das gewöhnliche Maß hinaus. Dabei zeichnet sich gleichsam unterhalb der Wertschätzung der Akteure für ihre Praktiken als ein "Mehr als Sport" ein totales Engagement ab: Dieses umfasst nicht nur eine Ausweitung von Raum- und Zeitumfang der Sportausübung, sondern wirkt über die Felder des Sports hinaus in wesentliche Bereiche des alltäglichen Lebens ein.

33 Damit ist nicht gemeint, dass Aspekte der Selbstüberwindung und Formen der ,Bezwingung' körperlicher Widerstände ebenso wie die der äußeren Gegebenheiten- ähnlich wie im Wettkampfsport im Rahmen des Trainings - keine Rolle spielen.

99

STIL-KULTUREN

Totales Engagement "Fliegen ist schon eine Lebenseinstellung und nicht einfach nur ein Sport, für MICH persönlich jetzt. Ja, ich habe auch viele, viele Dinge aufgegeben für die Fliegerei, ja."

Die Lebenseinstellung hat sich bereits mehrfach gezeigt, die die Probanden mit ihrer sportlichen Tätigkeit verbinden und die ihr Sportengagement als ein ,Mehr als Sport' erscheinen lässt: In beruflicher, partnerschaftlieber und mithin auch finanzieller Hinsicht setzen diese Sportler klare Prioritäten. Die Akteure richten einen Großteil ihres Lebens und nicht nur der Freizeit auf den Sport aus. Sie zeigen ein totales Engagement, mit dem sie gewissermaßen eine intermediäre Position im Sport besetzen: Einerseits richten diese Sportler ihre Lebensführung in einem Maße auf den Sport aus, wie dies im traditionellen Sport nur auf der Ebene des Spitzensports zu finden ist. Und anderseits rückt die spezifische Ausformung des agonalen Prinzips als stark von Ludus geprägtes Engagement diese Sportler in gewisse Nähe zum frühen Ideal des Amateursports (vgl. Dunning 2003). Auch wenn der englische Amateursport als die Wiege des modernen Sports angesehen werden kann, weist Dunning zurecht darauf hin, dass die Leistungsorientierung in der modernen Ausprägung und nicht zuletzt die aktuellen Überschreitungen (Foulspiele, Doping) nicht konstitutiv für die bürgerlich elitären Ideale des Amateursports (fairplay) sind. Folgt man Bourdieus allgemeinen Erwägungen zum Sport, so muss eine Soziologie des modernen Sports nicht allein an der Analyse der konkreten Sportpraktiken ansetzen, sondern darüber hinaus auch die sozialen Verflechtungen, konkret die Positionen der Sportler im sozialen Raum und die damit verbundenen Kräftelinien und distinktiven Präferenzen berücksichtigen (vgl. Bourdieu 1992a). Die spezifischen Ausprägungen der neuen Sportpraktiken ließen sich so nach der Art des Körpereinsatzes, der Form der Kooperationen und Reglementierungen, der Ideale usw. als Realisierungen sozial prädisponierter Strategien hinterfragen. Ebenso wie in Differenzen zwischen traditionellen Sportarten (Boxen, Fußball, Volleyball oder Golf), so zeigen sich auch in der dynamischen Entstehung neuer Sportarten oder der Ausdifferenzierung und Neuorientierung einer Sportart (Hallenklettern; Volleyball zu Beach-Volleyball, Basketball zu Street-Ball) komplexe soziale Zusammenhänge. Wandlungen im Sport, beispielsweise durch die Transformation einer bestehenden durch neuartige Orientierungen, lassen sich mit Bourdieu als "Aneignungseffekt" verstehen. D.h. als sozialer Effekt "der Neueintretenden und der sozial konstituierten Dispositionen, die sie [die Akteure] in das Feld hineintragen" (ebd.: 202). Ganz im Sinne von Elias und Dunnings figurationssoziologischen Ansatz kann weder der Raum des Sport-

100

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

artenangebotes noch eine konkrete Sportart als statisch verstanden werden (vgl. ebd. 2003: 355ff.): Sportpraktiken unterliegen einem dynamisch sich konstituierenden und mithin auch verändernden "Figurationsstrom" (ebd.: 356), der als ein jeweils "sozial realisiertes Programm einer Praktik" aller beteiligten Personen zu verstehen ist (Bourdieu 1992a: 202). Mit den (neu eintretenden) sozialen Akteuren können Sportarten eine Dynamisierung und Neuorientierung erfahren, die die Beteiligten selbst erzeugen ebenso wie sie dieser zugleich ausgesetzt sind. Einen weiteren Zugang zur sozialen Verortung bietet eine Betrachtung des Verhältnisses, das zwischen Körperdisziplinierung und Selbstkontrolle einerseits und der für den modernen Sport als typisch bezeichneten Tendenz zur Entfonnalisierung anderseits vorliegt.

Körperdisziplinierung oder lnformalisierung Die untersuchten Felder sind typisch für eine allgemeine Wachstumsrichtung des modernen Sports: Paragliding, Klettern und Snowboarding ebenso wie K.ite-Surfing, Kite-Boarding, Sky-Surfing usw. sind Sportpraktiken, die einen geringen Formalisierungsgrad aufweisen. Was aber sind die (sozialen) Konsequenzen einer gegenüber dem Vereinssport nachlassenden Formalisierung? Zinnecker (1989) deutet bereits für die Entwicklungsspanne der 1950er bis 1980er Jahre die Tendenz neu aufkommender Sportarten im Sinne des zivilisationstheoretischen Ansatzes von Norbert Elias aus (vgl. Elias 1975; 1978). Für die damals neu aufgetretenen Sportarten (wie Tennis, Volleyball, BodyBuilding, Kampfsportarten u.a.) hebt Zinnecker hervor: "Es nehmen die Sportarten zu, die einem höheren Standard der Verhaltensregulierung entsprechen" (Zinnecker 1989: 303). Ganz in diesem Sinne können so genannte Risikosportarten als gesteigerte Form der allgemeinen Wachstumsrichtung gesteigerter Körper- und Affektstandards - gekennzeichnet werden. Überraschend erscheint dies nur aus der Perspektive der massen-medialen Aufbereitung der rauschhaften Geschwindigkeiten, Höhen und schwindelerregenden Manöver und Sprünge: Unterhalb der spektakulären Inszenierungen liegt diesen Praktiken eine ins Extrem gesteigerte Selbstkontrolle über die Bewegungen, Affekte und Emotionen zugrunde (vgl. Elias 1975; 1990). Anders als beispielsweise beim Bungee-Jumping oder diversen Fahrgeschäften des Jahrmarktes können die hier untersuchten Praktiken nur sehr bedingt als Ausdruck einer Informalisierungstendenz moderner Gesellschaften verstanden werden, wie sie prinzipiell in Freizeitaktivitäten als ein partielles Nachlassen sozialer Standards hervortreten können.34 Ganz im Gegenteil bauen diese 34 Zur Diskussion um Informalisierungstendenzen als Kennzeichen moderner Zivilisationsstandards oder Ausdruck seiner Rückläufigkeit siehe Elias/Dunning (1986); Wouters (1979), Rittner (1983).

101

STIL-KULTUREN

Praktiken auf den gehobenen Standards der umfassenden Selbstkontrolle des Alltags auf. Der Grenzgang als spielerische Freizeittätigkeit ist erst auf der Grundlage ausgeprägter Selbstkontrollen zu verstehen. In diesem Sinne unterliegen diese Praktiken eher einer Tendenz, die zur Auflösung des "modem/anti-moderne(n) Doppelgesicht(s)" führen, das der Sportsoziologe Thomas Alkemeyer für die traditionellen Sportpraktiken herausgestellt hat (Alkemeyer 1995: 41f.). Dies wird insbesondere auch durch den High-Tech Charakter der Praktiken deutlich: Körperdisziplinierung und Enfformalisierung etwa auf der Ebene eines offenen und ausgelassenen Auslebens von Emotionen sind im Grenzgang nicht die beiden Seiten einer Medaille. Vielmehr werden die für die Modeme typischen Standards der Selbstkontrolle auf die Handhabung der Spielgeräte und den kontrollierten Umgang mit kontingenten Umgebungsbedingungen ausgeweitet (ausführlicher später). Die neuen Sportpraktiken stellen (Selbst-)Kontrollfähigkeiten auf die Probe; sie fordern sie im Grenzgang in gesteigerter Form ein, bearbeiten und perfektionieren sie. Auch der moderne Wettkampfsport folgt zwar dieser Tendenz, bietet im Vergleich zu den neuen Praktiken aber auch eine zweite, anti-moderne Seite: Er geht, so Alkemeyer, nicht in der "asketisch-instrumentellen Rationalisierung des Körpers" auf (ebd.). Gleichzeitig stellt er auch eine Sonderwelt dar, in der Leidenschaften, Emotionen und sogar spezifische Formen körperlicher Gewalt zugelassen werden, die sonst strengen gesellschaftlichen Restriktionen unterliegen (vgl. Gebauer/Hortleder 1986: 9f.; Boschert 1995; Rittner 1983). 35 Ganz im Sinne von Simmel wird durch die Beschränkungen der Konkurrenzmittel der "Antagonismus um so intensiver auf die Punkte geführt, an denen er sich ausleben kann" (Simmel 1995: 341 ): Klarheit der Konkurrenzsituation, sinnliche Präsentation von körperlichen Leistungen und klare, transparente und objektivierte Identifikation von Sieger und Verlierer stehen in den neuen Sportpraktiken eine Klarheit des Grenzganges, die spektakuläre Präsentation körperlichen Könnens und eine kaum zu übertreffende Eindeutigkeit des Ausgangs der Aktivitäten gegenüber: Nicht Sieg oder Niederlage, sondern Gelingen oder Misslingen bilden die beiden Pole dieser Praktiken. Unter den Bedingungen der neuen Sportpraktiken, die die Analyse bisher gezeigt hat kontingente und risikoreiche Bedingungen, Erprobung neuer Bewegungsweisen und Eroberung neuer Spielräume in der Vertikalen- werden "die Erfah35 Rittner (1983) weist daraufhin, dass innerhalb von ,körperbetonten Sozialsystemen' generell eine Tendenz zur Ablegung von Scham- und Peinlichkeitsschwellen zu beobachten ist (vgl. ebd.: 238ff.). Zugleich aber, und dies steht hier nicht im Widerspruch zueinander, zeigen sich in den relativen Grenzen der Entformalisierung und ihrer raum-zeitlich klaren und akzeptierten Schranken grundlegende zivilisatorische Standards: Ganz im Sinne von Elias (1975: 14; 1989) bemerkt Caillois (1960): die "Aneignung [sozialer Konventionen] begleitet die Entwicklung der Zivilisation wie Marksteine" (ebd.: 64).

102

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

rungen des Subjekts neu gefaßt, auf das Sinnliche konzentriert" (Gebauer/ Wulf 1998: 64) und zugleich emotional beglaubigt. Die emotionale Beglaubigung aber ist hier nicht mit Entformalisierung gleich zu setzen. Im Gegenteil, beglaubigt wird hier das asketische Ideal der Selbstkontrolle, das unter den extrem riskanten Bedingungen gerade nicht gelockert werden kann oder vom Ethos dieser Sportarten - markant beim Klettern mit dem Ideal des rotpunkten - verboten wird. Selbstkontrolle wird zum alles bestimmenden Prinzip im Grenzgang und steht als Teil des Könnens mit auf dem Prüfstand. Eng verwoben mit dem agonalen Prinzip des Grenzganges ist eine weitere Modalität der Sportausübung, die als eine spezifische Form der Leistungsorientierung charakterisiert werden kann, die dem traditionellen Wettkampfkonzept an die Seite rückt.

Leistungsprinzip Die Formierung relativ einheitlicher Bewegungskulturen, das Entstehen von Bewegungsidealen ebenso wie einem Repertoire an Tricks und moves, die permanent bearbeitet, verbessert und modifiziert sowie von Praxis zu Praxis weitergegeben werden, diese Strukturen der untersuchten Sportpraktiken verdeutlichen, dass sich Bewegungskulturen keineswegs ausschließlich über feste Institutionen und formalisierte und festgeschriebene Regeln herausbilden können. Insbesondere in historischer Perspektive kann dies rekonstruiert werden. 36 Die Entwicklungsdynamik des Feldes Klettern hat bereits gezeigt, dass die Praxis zu je unterschiedlichen Phasen von zum Teil sehr verschiedenen Techniken, Zielsetzungen und Idealen geprägt war. Diese setzten sich in der Vergangenheit jeweils durch und bildeten einen hegemonialen Stil aus, auch ohne dass es hier formalisierte Bestimmungen oder gar Verbote gab (z.B. der Einzug der Schlosserei in die Wand; konträr dazu das Clean-Climbing; aktuell das Rotpunkten). Vergleichbar weisen auch die Felder Snowboarding und Paragliding hegemoniale Stile auf. Diese besitzen trotz ihres informellen Charakters und einer relativen Vielfalt an Varianten eine ordnende Wirkung auf die Felder: Sie werden zu Ansatzpunkten für Distinktionen nach außen sowie Prozesse der internen Hierarchisierung der Felder (ausführlich später). 36 Bezogen auf den Wettkampfsport konnte dies beispielsweise im Feld Skispringen aufgezeigt werden, das der Autor exemplarisch am Österreichischen Nationalkader (2005-2007) untersucht hat. In der historischen Rekonstruktion der Körpertechniken zeigt sich eine deutliche Veränderung der Sprungtechniken hin zur so genannten V-Technik und weiter nahezu von Jahr zu Jahr sich wandelnde Details, die sich eng verwoben mit den spezifischen Veränderungen des Reglements vollziehen (beispielsweise Reglementierungen der Form (Ausschnitt des Kragens) und Luftdurchlässigkeit der Sprunganzüge u.a). Siehe hierzu auch Schiebahn (2008).

103

STIL-KULTUREN

Dennoch gibt es kaum eine Orientierung dieser Praktiken auf ein allen Teilnehmern gemeinsames und limitiertes Ziel. Nur das Feld Klettern weist in der Vergangenheit Merkmale auf, die einer solchen Orientierung entsprechen: Beispielsweise mit der Phase der ,Gipfelstürmerei' lag eine vergleichbare Zielorientierung vor, in der es darum ging, als erster einen Gipfel nach den damals bestimmenden Kriterien zu erreichen. Mit der Sättigung setzte eine Neuorientierung ein, die mit dem Ideal der Direttissima abermals einen Stil in den Vordergrund stellte, der bereits entscheidend vom Kriterium des limitierten Ziels abrückte. Die gerade Linienführung bis zum Gipfel bietet zwar Anschlüsse für eine Objektivierung und Überprüfbarkeit im Sinne des Leistungssports, genügt den diskutierten Kriterien des Wettkampfs jedoch nicht. Die aktuelle Arbeit an einzelnen Passagen, die Suche nach immer neuen und immer schwierigeren Wandabschnitten rückt vom ehemaligen Fokus auf den Gipfel weiter ab und hebt diesen im modernen Hallenklettern schließlich quasi vollständig auf. Am Klettern wird eine allgemeine Tendenz deutlich, an deren vorläufigen Endpunkt die neuen Sportkulturen Paragliding und Snowboarding ansetzen. Die neuen Praktiken weisen keine klaren und im Sinne des Leistungssports limitierten Ziel- und Leistungsorientierungen auf. Grenzgang und Improvisationsgeschick unter Ausschöpfung der individuellen Fähigkeiten können mit dem Begriff einer Erfolgsorientierung gefasst werden, um damit eine Differenz zum traditionellen Wettkampfkonzept zu markieren.37 Leistungs- und Erfolgsorientierung weisen zwar Nähen auf und sicherlich sind fließende Übergänge denkbar, dennoch soll damit hier eine wesentliche Differenz markiert werden. Verdeutlichen lässt sich dies am Begriff der Improvisation und einem instruktiven Blick auf die Reflexionen zur Improvisation in der Tanzwissenschaft Improvisation als wesentliches Charakteristikum dieser Praktiken richtet sich einerseits gegen ein Ideal der reinen und perfekten Reproduktion standardisierter Abfolgen und bleibt anderseits eine Form der Anwendung eines gegebenen und erlernten Repertoires (vgl. Lampert 2007). 38 Improvisation ist nicht auf die Erzeugung von etwas ganz 37 Mit dem Absetzen der Leistungs- von der Erfolgsorientierung wird damit nicht an die Anfang der 1970er Jahre geführte Diskussion angeknüpft (vgl. Lenk 1971a/b, 1983): Die Differenz von Leistungs- und Erfolgsstreben ist hier nicht darin zu sehen, dass Erfolg (auch) mithilfe bloßer Inszenierungen eines schönen Scheins und unabhängig von individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten erzielt werden kann, sondern dass sich die Kriterien einer gelungenen Perfonnance (Spontaneität, lmprovisationsgeschick, Risikobereitschaft, Stil und Können) der Standardisierung und objektiven Messung, wie wir sie insbesondere aus den c-gs Sportarten kennen, entziehen. Zum Verhältnis von Leistung und Spiel im Sport siehe auch Ommo Grupe (1982): 108-157 und 158-189. 38 Aktuelle Arbeiten zu performativen Künsten heben zudem hervor, dass auch die Inszenierungen oder das Skript nicht ohne die Prozessualität der Entstehung von künstlerischen Produktionen verstanden werden können (vgl. Matzke 2005; Gehm!Husemann!v. Wilke 2007). Bezieht man den Probenprozess bei der Ana-

104

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

Neuem, etwa die ,Erfindung' neuer Körpertechniken ausgerichtet, auf die dann ein Anspruch von Autorschaft erhoben werden könnte (vgl. Hardt 2008: 505ff.). Zudem betonen aktuelle Arbeiten die performative Seite künstlerischer Produktionen: Nicht (allein) ein gegebenes Skript bestinunt die Inszenierung eines Theater- oder Tanzstücks, sondern A711fiihrungen sind Ergebnis eines komplexen und immer auch kontingenten Prozesses, ja künstlerische Produktionen können nicht ohne die Prozessualität ihrer vielfach kontingenten Entstehung verstanden werden (vgl. Matzke 2005; Gehm/Husemann/v. Wilke 2007). Bezieht man den Probenprozess bei der Analyse künstlerischer oder hier sportlicher Tätigkeiten ein, so zeigt sich ein von unzähligen Repetitionen erfüllter und mithin mit bewussten Improvisationsstrategien arbeitender Prozess? 9 Gelungene Variationen, gesuchte Effekte, Bewegungen, vielschichtige Körperarrangements usw. usf. treten hier immer auch als ein Produkt der Prozessualität hervor, d.h. sie entstehen maßgeblich auch als ein gewolltes aber nicht minder ungeplantes Ergebnis offenen Experimentierens. Erst eine Analyse des künstlerischen Schaffensprozesses lässt die Leichtigkeit, scheinbare Spontaneität und das Improvisationsgeschick der Darsteller, Tänzer und Sportler in einem anderen Licht erscheinen. Ähnlich wie im Tanz so ist Improvisation auch in den Untersuchungsfeldern des Sports das Ergebnis hoher Meisterschaft: Die Fähigkeit, aus einem komplexen Repertoire an Körpertechniken unter kontingenten Bedingungen quasi spontan zu schöpfen und sein Können - situationsangemessen zu variieren und mit Erfolg- einzusetzen. Bereits mit der Wahl dieser Sportarten zeigen die Sportler ein charakteristisches Selbstverhältnis an, das sich zumeist explizit vom traditionellen Wettkampfsport und seinen Strukturen der Produktion von Einmaligkeit durch objektiven Leistungsvergleich abgrenzt. Dies bedeutet aber nicht, dass die Sportler die Aufführung von Außergewöhnlichkeit gering schätzen. Bereits die Wahl dieser Sportarten akzentuiert eine Besonderheit der Person, die vom Umfeld der Sportler, dies zeigen nahezu alle Probanden in den Interviews deutlich, mit (Be-)Achtung und zum Teil Bewunderung beantwortet wird. Im ersten Zugang ist die Besonderheit der Person in der außergewöhnlichen Risikobereitschaft begründet, die mit der bloßen Ausübung dieser Sportarten verbunden sein kann. Mit dem Grenzgang zeigt sich nicht nur ein lyse künstlerischer oder hier sportlicher Tätigkeiten mit ein, so zeigt sich ein von Repetitionen erfüllter Prozess, der die Leichtigkeit, scheinbare Spontaneität und auch das Improvisationsgeschick der Darsteller bzw. Sportler in einem anderen Licht erscheinen lässt. 39 Neben der Analyse der sportlichen Untersuchungsfelder sind hier Teilnehmende Beobachtungen der zeitgenössischen Tanz-Kompanie "Body Attacks Word" mit den Stücken "Jellyfish and Exuberant Love" (2005/06) sowie "tr c ng" (2006/07) einbezogen.

105

STIL-KULTUREN

Modus der Erzeugung von Außergewöhnlichem, sondern zugleich eine Logik dieser Praktiken, die sich vom Wettkampfgedanken absetzt: Grenzgang ist eine streng gefasste und intra-individuelle Größe und ein sozialer Modus der (Selbst-)Bestätigung des Grenzgängers. Festzuhalten ist, dass die spezifische Struktur des Grenzganges weder rein individualistisch zu verstehen, noch als standardisierte und objektivierte Vergleichslogik strukturiert ist. In der Fragmentierung findet der spezifisch agonale Charakter der neuen Spielkulturen eine passende Form: Der Kampf mit sich selbst, die Selbstüberwindung, Selbstkontrolle und Bewältigung der selbst gestellten Herausforderungen stellen keine rein individualistische Arbeit am Selbst dar, sondern finden auf einer Vielzahl von Bühnen der neuen Sportpraktiken statt, die sowohl als ideale Experimentierfelder als auch als Möglichkeiten der (Selbst-)Präsentation verstanden werden können. Einerseits liegt im Grenzgang der neuen Praktiken formal betrachtet eine zentrale Anschlussmöglichkeit an den Wettkampfsport vor: Grenzgang bedeutet Ausschöpfung der Fähigkeiten des Sportlers und scheint der maximalen Kräfteentfaltung des Wettkampfsports strukturell ähnlich zu sein. Anderseits ist dieses Prinzip nur bedingt mit dem Konzept messbarer Leistungen und der Überführung von Leistungen in absolute Platzierungen vereinbar. Grenzgang ist streng relational auf die Person selbst bezogen: Er konstituiert sich als eine empfindliche Balance zwischen der Schwierigkeit der gewählten Aufgabe und dem Können der jeweiligen Person. Damit aber ist er auf jeder Stufe des Könnens eine absolute Größe. Das bedeutet nicht nur, dass der Grenzgang sich zu einem gegebenen Moment nicht weiter steigern lässt (wie bei der Leistung auch), sondern dass ein unmittelbarer und objektivierter Vergleich von Grenzgängen sinnlos wird. Zudem stellte sich die Frage nach einer hinreichenden Objektivierung: Es bedürfte eines Vergleichskriteriums, an dem die jeweiligen Spiele mit dem Risiko der einzelnen Grenzgänger gemessen werden. Die Logik des Grenzganges aber hebt die des messbaren Vergleichs auf. Dies bedeutet aber nicht, dass die Grenzgänge der Sportler in der Gemeinschaft keine Beachtung finden. Im Gegenteil: An die Stelle eines Mehr oder Weniger rückt zunächst die grundlegende Frage der Glaubwürdigkeit bei der Beurteilung einer sportlichen Darbietung ins Zentrum, d.h. ob ein Sportler mit seiner Performance an die Grenze gegangen ist, ob er etwas riskiert hat, indem er seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat oder aber ,save' gespielt hat, also auf Sicherheit gesetzt hat. Ferner ist der Grenzgang für die Dynamik der neuen Sportarten konstitutiv. Die interne Hierarchisierung der Felder erfolgt über eine komplexe Konstellation, zu der Können als ein Kriterium neben Improvisationsgeschick und anderen dazugehört, die sich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen werden (z.B. Risikobereitschaft, Spontaneität, Stil-Kompetenz).

106

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

Die Abkehr von der objektiven Vergleichslogik in diesen Praktiken ist damit nicht mit einer Hinwendung zu Beliebigkeit oder rein individuellem Spiel zu verstehen: Die Sportler akzentuieren ein spielerisch-exploratives Verhalten, dass auf spontane, überraschende und oftmals risikoreiche Wendungen und Improvisationen setzt. Dieses Spielverhalten steht keineswegs im Kontrast zum Ernst des Wettkampfsports: Hier wie da ist das Charakteristikum von Spiel und Sport - das So-tun-als-ob - eine Kennzeichnung der Rahmung von Sportpraktiken, die sie von anderen Alltagshandlungen abgrenzt und als Spiel ausweist. Dies lässt sich mit Caillois, Begriff der illusio näher beschreiben: Caillois legt dem Spielverhalten die Annahme einer Illusion zugrunde, die er im Sinne von "in-lusio" als "Eintritt ins Spiel" übersetzt (ebd. 1960: 27). Das heißt, dass alle Beteiligten mit dem Eintauchen in die Spielatmosphäre bereit sein müssen, das Fiktive für den örtlichen und zeitlichen Rahmen des Spiels anzuerkennen. Mit dem Eintritt ins Spiel verlässt man den Rahmen des Alltäglichen und begibt sich unter expliziter oder impliziter Zustimmung und Akzeptanz der besonderen Bedingungen in einen zweiten, sekundären Rahmen, den des Spiels.40 Nicht aber ist mit der Sphäre des als-ob ein Praxisfeld gekennzeichnet, das unernst ist: "Man tut nicht nur so, als ob man boxt; in der Regel boxt man wirklich; man spielt nicht den Torwart, man ist Torwart - ,spielen' tut man ihn bestenfalls im Theater." (Grupe 1982: 139).41 Ganz im Sinne von Grupe sind Spiel- und Sportpraktiken für alle Teilnehmer (Aktive wie Zuschauer) eine ernste Angelegenheit: Mit Bourdieu gesprochen liegt dem Sportengagement ein gemeinsam geteilter Glauben an das Spiel zugrunde (vgl. Bourdieu 1993: 122ff.): Die illusio als praktischer Glaube an den Ernst und die soziale Notwendigkeit des Spiels (ebd.: 126f) ist hier nicht vom Leistungsvergleich 40 Vgl. auch Gebauer/Wulf (1998: 188 und 192ff.). Zu den kommunikativen Bedingungen von spielerischen Interaktionen siehe Bateson (1983a). Bateson kennzeichnet die illusionäre Sphäre von Spiel- und Sportarten als Konstruktion eines Spielrahmens, der über eine (zumeist) non-verbale, metakommunikative Mitteilung - ,Das ist ein Spiel' - hergestellt wird. Mit der Einrichtung des Spielrahmens wird in gewisser Weise ein illusionärer Raum geschaffen, in dem alle Handlungen zu Spielhandlungen umgedeutet werden und so eine andere, vom Alltag geschiedene, Bedeutung erhalten. 41 Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Tätigkeit des Schauspielers, der einen Sportler auf der Bühne spielt, als Unernst verstanden werden kann. Ob auf der Bühne oder dem Sportplatz, "ich bin dies alles immer in einer für mich wirklichen, und das heißt auch ernsthaften Art und Weise; denn auch das Als-ob kann sehr ernst sein" (Grupe 1982: 144). Theater wie Sport weisen je eigene Rahmungen auf, die die Tätigkeiten von anderen abgrenzen und damit Sonderräume schaffen. Innerhalb dieser müssen die Handlungen nach den dort gelten Konventionen, Regeln, (Selbst-)Erwartungen und Notwendigkeiten verstanden werden, die mit einer dichotomen Abgrenzung von Spiel und Ernst nicht erfasst werden können (vgl. zur Rahmung von Spielhandlungen grundsätzlich Bateson (1983a)).

107

STIL-KULTUREN

bestimmt. Vielmehr werden die Vielfalt der Bewegungsweisen und Variationen betont, die mit den kontingenten Umgebungsbedingungen hervor gebracht werden und zugleich durch den Grenzgang auf die Probe gestellt. Dem spielerisch-explorativen Grenzgang liegt damit ein komplexes Geflecht von Gütekriterien zugrunde, die sich nur unzureichend in Platzierungen ausdrücken lassen. Ebenso, wie dem Wettkampf zwischen relativ gleich starken Konkurrenten etwas Spektakuläres inhärent ist, so ist auch die Aufführung von Grenzgang spannungsgeladen und zugleich aus pädagogischer Sicht mit einer interessanten Verlagerung verbunden. Erfolg und Misserfolg stehen hier weniger in Verbindung mit dem Risiko der Relativierung von Leistungen durch den Besseren. Erfolg stellt sich mit der Bewältigung der Herausforderung ein und wird von den Teilnehmern der Praktiken an Gütekriterien beurteilt: Diese sind nicht beliebig, sondern umfassen neben der Ausführungsqualität der Techniken, Manöver oder Moves auch das Improvisationsgeschick und die Risikobereitschaft des Sportlers. D.h. auch, das Erfolg quer zur Leistungsfähigkeit der Sportler, also prinzipiell von allen Teilnehmern erlangt werden kann. Wesentlich bei der Begutachtung durch die Gemeinschaft ist, dass der Sportler mit dem Grenzgang und damit hoch individuell in Abstimmung mit seinen Fähigkeiten etwas riskiert und die auf ihn solchermaßen abgestimmte Herausforderung bewältigt hat. Die Entkoppelung vom objektiven Leistungsvergleich öffuet hier ganz im Sinne von Grupe (1982: 170) zugleich einen Freiraum für Spontaneität, Kreativität und Improvisationen, die als nicht minder soziale Orientierungen und Leistungsprinzip wesentlich werden. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Entstehung von Wettkampfvariationen einordnen? Welchen Transformationen werden die Praktiken unterzogen?

Wettkampf in den Untersuchungsfeldern Die Überführung dieser Sportarten in die Wettkampfform bedeutet weit mehr, als den Praktiken eine äußere und formalisierte Rahmung zu geben. Vielmehr wirkt die Form des Wettkampfs tiefgreifend auf die Praktiken ein, favorisiert und optimiert bestimmte (Körper)Techniken und lässt andere unter Maßgabe der objektiv gemessenen Kriterien als nicht bedeutsam oder gar störend erscheinen: Ob Paragliding, Klettern oder Snowboarding, die Praktiken werden standardisiert, erhalten klar definierte Zielvorgaben und werden durch das gemeinsame Ziel und die Messung von Zeit und Raum bestimmt. So finden Kletterwettkämpfe ausschließlich in der Halle an künstlichen Wänden mit künstlichen Griffen und vorinstallierten Sicherungshaken statt, 108

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG - LEISTUNG

die weder ausbrechen können noch wetterbedingten Veränderungen unterliegen. Diese präparierten Wände sind mit einem klar definierten und markierten Ziel versehen und geklettert wird allgemeinverbindlich mit Seil, das allein der Sicherung dient (vgl. Neumann 1993). Sieger eines Kletterwettkampfs ist der, der am schnellsten das Ziel erreicht hat bzw. in geringster Zeit am weitesten gekommen ist: Um zu siegen, muss theoretisch niemand das markierte Ziel erreichen, sondern nur am weitesten gekommen sein; bei Gleichstand der Weite zählt entsprechend die Geschwindigkeit. 42 Kennzeichnend für die Wettkämpfe ist, dass die Kletterer ihre Fähigkeiten voll ausschöpfen: Das Ziel langsam aber sicher zu erreichen, genügt für den Sieg nur insofern, als dass alle anderen bereits zuvor abstürzen. Ganz im Sinne von Simmel aber streben die Wettkämpfer im Wissen um die Leistungsbereitschaft der anderen nicht nur danach, das Ziel sicher, sondern möglichst schnell zu erreichen. Bleibt ihnen das Ziel verwehrt, weil sie eine der schwierigen Passagen, die in die Route vom Veranstalter kalkuliert eingebaut werden, nicht bewältigen können, gehen die Wettkämpfer im Sinne des ,Alles-oder-Nichts' Prinzips häufig aufs Ganze: Sie mobilisieren die letzten Kraftreserven und versuchen mehr oder minder eine ,Hasard-Aktion', indem beispielsweise mit einem dynamischen und aufsehenerregenden Zug versucht wird, die schwierige Stelle zu überwinden. Oder der Moment kurz vor dem Sturz wird spektakulär in Szene gesetzt: So hängt beispielsweise ein Kletterer im Überhang an einer extrem schwierigen Passage fest und findet auch nach zweimaligem Anlauf keine Lösung (die Griffe im Überhang sind zu klein, um einen Handwechsel vorzunehmen). Mit schwindenden Kräften lässt er sich nur an einer Hand und hier an einem kleinen Griff, der nur Platz für drei Finger bietet, hängen, schüttelt die andere Hand aus, während das Publikum bereits Beifall zu klatschen beginnt und vollführt als letzten Kraftakt einen einarmigen Klimmzug an drei Fingern, bevor er unter tobendem Beifall ins Seil fällt. Die Kletterer gehen hier bis zum Äußersten und können dies auch, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen. Im Gegenteil ist der Hallen-Sturz ins Seil nicht nur unbedenklich, sondern bietet vor dem Publikum noch zusätzlich die Möglichkeit eines inszenierten Abgangs. Schlägt man von dieser exemplarischen Beschreibung des Wettkampfkletterns nochmals den Bogen zurück zu den Varianten des Gebirgskletterns, so werden die Differenzen und die Gründe für die Ablehnung des Wettkampfs 42 Auf höherer Leistungsebene wie (internationalen) Meisterschaften ist zudem eine klar definierte Zeit von nur wenigen Minuten gestattet, in der die Teilnehmer vor Beginn des Wettkampfs die Wand betrachten dürfen. Danach müssen alle die Halle verlassen und dürfen nur noch einzeln zu ihrem Versuch antreten. Dies soll sicherstellen, dass das so genannte ,lesen' der Wand für alle gleiche Chancen bietet und nicht der zu Ietzt Kletternde alle übrigen Wettkämpfer in Ruhe hat beobachten können und so die schwierigen Stellen der Route an den Versuchen der Kontrahenten bereits erkannt und theoretisch gelöst hat.

109

STIL-KULTUREN

durch die Gebirgskletterer deutlicher: In der Extremvariante, dem free-solo (Klettern ohne Seilsicherung), ist stürzen mit einer lebensbedrohlichen Situation gleichzusetzen. Alle informellen Reglementierungen, die es im Gebirgsklettern gibt und die das Rotpunkten beschreibt, sind in dieser Variante konsequent ausgesetzt: Reinhängen ins Seil und festhalten an Sicherungshaken entfallen, es gibt keine Sicherungshaken und kein Seil, in das sich als Regelverstoß gehängt werden könnte, der Kletterer setzt ausschließlich auf sich selbst. Die Rolle des Stürzens ist folglich eine vollkommen andere und dies gilt in abgeschwächter Form auch für das Gebirgsklettern mit Seil: Die eigenen, selbst gesetzten Sicherungen dienen der letzten Absicherung und sollen im Falle eines Sturzes das Schlimmste verhindern. Eine quasi absolute Gewissheit, wie man sie beim Klettern in der Halle hat, gibt es jedoch im Gebirge nicht. Die Sicherungshaken können der Zugkraft nicht standhalten und ausbrechen. Ebenso kann der Sturz am Felsen durch Felsvorsprünge oder keine hundertprozentig senkrechten Wände zu schweren Verletzungen führen. In der Halle hingegen sind die Wände exakt senkrecht oder mit Überhang gebaut und bieten damit ideale, weil verletzungsarme Falllinien. 43 Dieses, im Gebirge immer auch auf Sicherheit bedachte, Ideal des sturzfreien Kletterns wird nun im aktuellen Wettkampfklettern in der Halle einerseits aufgegriffen und anderseits konterkariert: Die notwendig sicheren Bedingungen für den Wettkampfund die objektiven Leistungskriterien bilden die Grundlage für eine Kletterpraxis, die den Sturz zu einer leistungsbestimmenden Größe degradieren und zugleich gewissermaßen erhöhen: Degradieren, weil mit dem Sturz keine ernsten Konsequenzen verbunden sind und erhöhen, weil die lnkaufnahme des Stürzens eine reale Option der Leistungssteigerung bedeuten kann. Der Sturz ist unter den Bedingungen des Hallenkletterns aus der Perspektive der Gebirgskletterer entweiht: Stürzen wird hier zu einer sicheren Angelegenheit, von der regelmäßig und bewusst Gebrauch gemacht wird. Nur so kann der Kletterer stetig an der Grenze der Leistungsfähigkeit arbeiten. Die Hallenkletterer gehen systematisch und ohne jede Notwendigkeit des Vorbehalts an ihre Grenzen. Anders als der Grenzgang im Gebirge bedeutet an die Grenze gehen hier die stete und kalkulierte Überschreitung der Grenze. Die empfindliche Balance des Grenzganges ist in der Halle nicht (existentiell) bedeutsam. Die sportliche Variante des Kletterns schließt den Sturz konstitutiv mit ein. Mehr noch, durch die Rahmenbedingungen der Halle wird der Sturz gewissermaßen Methode: Die Freiheit (sicher) zu stürzen eröffnet dem Hallenkletterer die Möglichkeit einer Arbeit 43 Es ist dieser komplexe Zusammenhang, diese in historischer Perspektive wechselhafte Konstellation von Idealen, Sicherungstechniken und Körpertechniken, die in Erwägung gezogen werden muss, um sowohl die Ablehnung von Wettkampf durch Gebirgskletterer verstehen zu können, als auch die neuartige Ausrichtung des zeitgenössischen Hallen- und Wettkampfklettern zu ermessen.

110

KONSTELLATIONEN VON BEWEGUNG- ORDNUNG- LEISTUNG

an immer extremeren Körpertechniken bis hin zu einzelnen Fingertechniken und damit der Nutzung minimaler Griffe und Wandstrukturen. Damit aber greift der Hallenkletterer zugleich das zentrale Ideal des Rotpunkten bzw. des clean-climbing auf, nur die Strukturen der Wand zu nutzen und durch neuartige und weiterentwickelte Klettertechniken immer kleinere Felsstrukturen bzw. Wandelemente überhaupt erst zu Griffen und Tritten werden zu lassen. Der Stil des Hallenkletterers grenzt das charakteristische Risiko der Gebirgskletterei einerseits aus und dynamisiert und hypostasiert anderseits die Entwicklung immer kleiner und extremer werdender Körpertechniken. Diese extremen Klettertechniken, bei denen nicht mehr als einzelne Fingerkuppen als Auflagefläche genügen können, um einen sicheren Griff darzustellen, stellen zwar auch im Gebirge zentrale Schlüsselqualifikationen dar, um die immer extremer werdenden Routen im 9. und 10. Schwierigkeitsgrad bewältigen zu können. Gleichzeitig aber sind sie, wie gezeigt wurde, im Gebirge in eine vollkommen andere komplexe Konstellation eingebunden. So bildet sich mit der Entstehung des Hallenklettems nach und nach ein eigenständiger Stil des Klettems aus. Für den angestanunten Gebirgskletterer ist die Halle ein willkommener Ort, an dem er insbesondere im Winter in Übung bleiben kann bis wärmere Temperaturen die ersten Fahrten ins Gebirge wieder erlauben. Die Halle wird damit zum zentralen Berührungspunkt der Gebirgskletterer mit den Vertretern eines neuen Stils und es sind gerade die Überschneidungen und Ähnlichkeiten, die zur vehementen Abgrenzung führen. Die Etablierung einer Wettkampfkultur übt angesichts der dynamischen Funktion, die diesem Stil im Feld des Klettems insgesamt zukommt, auch einen Entwicklungsdruck auf das Klettern im Gebirge aus. In den Feldern Snowboarding und Paragliding verhält es sich strukturell ähnlich: In beiden Felder findet aber weniger eine grundlegende Entschärfung des Risikos statt (insbesondere im Paragliding kann das Risiko nicht vollständig ausgeschaltet werden). Auch in diesen Sportarten besitzen unter der Maßgabe klarer Zielvorgaben und dem eindeutigen und objektiven Leistungskriterium der Zeit - wer erreicht nach dem festgeschriebenen Dreieckskurs (Paragliding) oder der Rennstrecke als erster das Ziel - nur bestimmte Merkmale, Techniken und Fähigkeiten der Sportler Relevanz für die Leistung. Jene Charakteristika eines ludisehen Agons, die zuvor als konstitutive Merkmale der neuen Sportarten sichtbar wurden (individueller Grenzgang, Improvisationen), werden reduziert bzw. weitgehend ausgeblendet und ziehen eine markante Veränderung der Praxis nach sich. Die Analyse der agonalen Merkmale der neuen Praktiken hat bereits vielfach auf das Risiko als eine weitere zentrale Kategorie hingedeutet, die im folgenden Kapitel auf die Konstellationen mit Spiel und Technik hin untersucht wird.

111

Konstellationen von Technik- Spiel- Risiko

Ziel des Kapitels ist, die weitreichenden Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in den neuen Sportpraktiken zu kennzeichnen. Hierzu werden zunächst wesentliche Begriffe und ihre sozial-historische Verortung und Anbindung an aktuelle Diskussionen zu berücksichtigen sein. Es kann gezeigt werden, dass der spezifische Umgang mit Unsicherheit (und Technik) in den neuen Sportpraktiken ein historisch voraussetzungsvolles und ein typisch modernes Phänomen ist. Darüber hinaus ist die Konzeptualisierung von Ungewissheit als Risiko nicht zu trennen von einem typisch modernen Selbstverständnis der autonomen Person: Eine Autonomie der Person, die sich in den Risikohandlungen der neuen Sportarten nicht nur zeigt, sondern - so die These - auf aktuelle Weise konstituiert, bestätigt und beglaubigt. Dies ist in besonderer Weise relevant, weil der Umgang mit Risiken außerhalb von Wettkampfstrukturen in den neuen Sportpraktiken eine gesteigerte Rolle besitzt und eine systematische Auseinandersetzung mit dem Risiko in der Sportwissenschaft nur in Ansätzen vorliegt. 1 Risiko wird im Folgenden, ebenso wie Agon, als eine weitreichende soziale Kategorie begriffen, die eingelassen und untrennbar verwoben ist mit Handlungs- und Verhaltensweisen von Individuen und ihren soziale Strategien. Darauf aufbauend wird nach den Konstellationen gefragt, die die Sportler unter Maßgabe spezifischer Risikostrategien ausbilden. Die Analyse wird eine charakteristische Konstellation von Körper und technischem Sportgerät aufzeigen, die beide Seiten als "Partizipanden des Tuns" versteht (Hirschauer 2004): Mensch und Technik Vgl. die sportphilosophischen und soziologischen Arbeiten in Gebauer/Hortleder (1986) sowie die systemtheoretische Arbeit von Bette (2004), dessen Analyse zwar nicht auf einer empirischen Untersuchung gründet, der jedoch eine begrifflich differenzierte Arbeit vorlegt, die an sozial-historische Dimensionen der Entwicklung von Risikokonzepten rückgebunden ist. Erste Überlegungen des hier fommlierten Ansatzes finden sich in der sportsoziologischen Analyse moderner Spielkulturen in Gebauer u.a. (2004): 78f.

113

STIL-KULTUREN

bilden hier ein performatives Ensemble, das nicht vorschnell in die eine oder andere Richtung der Handlungsträgerschaft aufgelöst werden soll. Dabei zeigt sich ein tief in die soziale Motorik eingreifendes Verhältnis von Steuerung und Störung ebenso wie eine die Gebrauchsqualitäten von technischen Spielgeräten erst hervorbringende Praxis. Abschließend können die spezifischen Umgangspraktiken der Sportler mit dem Gefahrenpotential als Teil einer impliziten Pädagogik beschrieben werden: Eingelassen in eine Logik der Praxis wird eine Pädagogik der Ge_fahrenminimierung zum Bestandteil einer ambivalenten Konstellation, die zwischen umfangreichen Sicherheitsdiskursen und einer Risikospirale changiert. Die Akteure dieser Felder bilden auch auf der Grundlage einer analytischen Aufbereitung der Risiken Expertenkulturen aus. Die daraus entstehenden, im hohen Maße wissensbasierten Risikopraktiken, führen aber nicht zur Vermeidung von Risiken: Die Sportler folgen vielmehr einer Steigerungs- und Bewältigungslogik der Praxis und setzen das Wissen produktiv im Sinne einer immer neuen Preisgabe ihrer Fähigkeiten und letztlich der Grenzen des Machbaren ein.

Begriffsbestimmung der Konzeption Risiko Risiko ist in besonderer Weise ein konstitutives Merkmal der neuen Sportarten. Es zeigt sich als ein ,Spiel mit dem Risiko', das als spezifische Ausformung einer typisch modernen Erscheinung verstanden werden kann. So wird Risiko in historischer Perspektive als eine Konzeption von Unsicherheit und Ungewissheit charakterisiert, die sich von älteren Konzepten unterscheiden lässt: Das Konzept Risiko umfasst Handlungsunsicherheiten von Situationen, deren Ausgang zwar offen ist, die aber als prinzipiell vom Menschen kallmlierbar, kontrollierbar und letztlich handhabbar verstanden werden (vgl. Bonß 1995: 52ff.). 2 Folgt man den beiden umfassenden aber zugleich relativ alleinstehenden sozial-historischen Arbeiten zum Risikobegriff (Bonß 1995; Nerlich 1997), so weist die Entwicklung dieser modernen Auffassung bis ins Spätmittelalter zurück. 3 Dabei spiegelt die wachsende Verwendung des

2

3

Die begriffliche Differenzierung zwischen Ungewissheit und Unsicherheit folgt der traditionellen Unterscheidung zwischen erkenntnisbezogenen Fragestellung (Ungewissheit) und solchen nach sozialen Aspekten oder Problemstellungen (vgl. Bonß 1995: 35). Um das Ensemble dieser Unterscheidung begrifflich zu fassen, verwendet Bonß den Begriff der ,Uncertainties'. Zu einer differenzierten Auseinandersetzung in systemtheoretischer Perspektive siehe Luhmann 1990, 2001; Bette 2003,2004. Zur etymologischen Bedeutung von ,Risiko' siehe die ausfUhrliehe Darstellung bei Bonß (1995): 49ff.: Der Begriff tritt offenbar zunächst in italienischen Städ-

114

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

Begriffs zunächst eme Haltung des Menschen gegenüber Naturgewalten wider, die in enger Verbindung zur Entwicklung des Schiffhandels und dem aufkommenden Versicherungswesen steht (vgl. Bonß 1995: 149ff.). Später wird diese Haltung auch zunehmend mit einer Wettkultur in Verbindung gebracht, die sich u.a. auf die Einhaltung von Termingeschäften des Handels ausdehnte (vgl. Adamowski 2003). Die prinzipielle Differenz zu anderen Konzeptionen von Unsicherheit, wie Schicksal (göttliche Fügung) oder Zufall, kann auf folgende zwei Merkmale zugespitzt werden: Erstens wird die Ungewissheit über den Ausgang eines Unternehmens in Berechenbarkeif überführt: Unsicherheiten besitzen eine prinzipielle Ambivalenz - sie sind Chance und Gefahr - und werden im Modus von Kosten-Nutzen-Rechnungen, Gewinn-Verlust-Abwägungen und Eintrittswahrscheinlichkeiten verhandelt, die auf der Grundlage von Erfahrungen und zunehmend auf der von modernen Kalkülen (Wahrscheinlichkeitsrechnung) getroffen werden. Und zweitens werden hierüber Unsicherheiten als handhabbar aufgefasst: Die Haltung gegenüber einem Risiko ist, anders als die gegenüber dem Schicksalsspruch oder dem reinen Zufall, durch die Möglichkeit der aktiven Einflussnahme durch den Menschen bestimmt (vgl. Bonß 1995: 51f.). Ist man hingegen dem Schicksal, Glück oder Zufall ausgeliefert, so "verläßt man sich auf alles, nur nicht auf sich selbst" (Caillois 1960: 25). Kurz, Risikosituationen setzt sich der Menschper de.finitionem bewusst aus und er kann auf den prinzipiell ungewissen Ausgang der Tätigkeit Einfluss nehmen. Damit wird ein Risiko zugleich personal zurechenbar und steht prinzipiell im Einklang mit dem (juristischen) Anspruch der Verantwortbarkeif (vgl. Bonß 1995: 54). So weist der umfangreiche Corpus an Fachliteratur zum Risikobegriff eine überwiegend naturwissenschaftliche, mathematische und/oder betriebswirtschaftliche sowie umwelttechnische Seite auf (vgl. stellvertretend DacunhaCastelle 1997; Kleinwellfonder 1996). Die Inhalte moderner Risikoanalysen sind überwiegend technikinduzierte Risiken (vgl. Beck 1986), deren Analyse unter den Begriffen "risk assessment" und "risk management" firmieren (Bonß 1995: 9). Seit dem Ende der 1960er Jahre und ausgehend von einer Problematisiemng der Atomkraft erfuhr Begriff und Thematik des Risikos eine starke gesellschaftliche Verbreitung sowie Übertragung auf zahlreiche soziale und individuelle Phänomene. Risiken werden nun in der Psychologie unter Gesichtspunkten wie Risikoängste, Risikopersönlichkeiten oder Identitätsbegehren (vgl. Warwitz 2001; Rheinberg 1987; Hollenhorst/Ewert 1989; Aufmuth 1986; Zuckerman 1979), in der Ökonomie als Versicherungsrisiko, in der Jurisprudenz als Risikoverantwortung und in den Ingenieurswissen-

ten und Stadtstaaten des 12. und 13. Jahrhunderts auf und ist nach Bonß "spätestens seit 1319 in italienischen Versicherungsverträgen belegt" ( ebd. : 50).

115

STIL-KULTUREN

schaften als technische Probleme und damit rational und kalkulatorisch behandelt (vgl. Bonß 1995: 10; Komwachs 2006; Poser 2006: 24ff.). In der soziologischen Debatte ist jedoch das Thema Risiko als gesellschaftliches Problem oder in Analysen mit gesellschaftstheoretischer Ausrichtung weitgehend unterbestimmt (vgl. Häfele u.a. 1990). Eher implizit wird es in der Soziologie zumeist unter dem Gesichtspunkt sozialer Ordnung thematisch: Unsicherheiten sind überwiegend negativ konnotiert, sie werden beispielsweise zu ,mangelnder Sicherheit' oder ,fehlender Eindeutigkeit' umdefiniert (vgl. Bauman 1995: 19f.). Risikoreiche Situationen werden in dieser Perspektive als Abweichungen von einer Ordnung und als Problem der sozialen Kontrolle begriffen (vgl. Short 1984: 714), dem man prinzipiell mit Ausgrenzung begegnen will (vgl. Bonß 1995: 13). 4 Überwiegend werden Risiken dabei mit "riskanten Großtechnologien" gleichgesetzt (Bonß 1995: 14). Eine prominente Arbeit legte 1986 der Soziologe Ulrich Beck mit dem Buch Risikogesellschaft vor. Beck erhebt damit einen explizit gesellschaftstheoretischen Anspruch und stellt das Thema Risiko in den Zusammenhang einer Theorie der Modeme. Dabei aber entfaltet er das Risikokonzept weitgehend nicht soziologisch, sondern reduziert es auf den Themenbereich des "risk assessment" (vgl. zusammenfassend Royal Society 1992) und auf großtechnologische Gefährdungen. 5 Risiken werden von Beck nicht in Begriffen sozialen Handeins und Verhaltens gefasst, sein Konzept arbeitet damit keine Theorie der Vergesellschaftung von und durch Risiken aus oder gar deren soziale Formierung (vgl. Beck 1986: 17f.) .6 Zudem gilt die stark verengte Definition von Risiken als ,messbare Unsicherheiten' im Sinne des risk assessment allenfalls für kalkulierbare, messbare und eindeutige Risiken, wie sie etwa beim Würfelspiel, Lotto oder Roulette vorliegen. Für den weit größeren Bereich von Risikopraktiken, und so auch im Sport, liegt jedoch kein geschlossener Ereignisraum vor. Insbesondere in den neuen Sportpraktiken sind die Risiken nicht eindeutig, sie lassen sich nicht vollständig und zweckrational kalkulierend erfassen. Während im Rahmen des risk assessment riskantes Handeln nur dann vertretbar ist, wenn alle Risikofaktoren bekannt sind und weiter deren Interaktionen 4 5

6

Eine Ausnahme bilden die systemtheoretischen Arbeiten von Luhman (1990; 2001), diejedoch aufgrundder theoretischen Grundannahmen kaum Anschlussmöglichkeiten ftir die theoretische Konzeption dieser Arbeit bieten. Streng genommen ist die Verwendung des Risikobegriffs in Becks Arbeit der "Risikogesellschaft" ( 1986) inkonsistent: Die terminologische Differenzierung von Risiko und Gefahr, die zwischen kontrollierbaren und nicht beeinflussbaren Faktoren, wenngleich vom Menschen produzierte wie die Atomkraft unterscheidet, werden hier nicht getrennt bzw. austauschbar verwendet. Zur Kritik an Becks Individualisierungsthese in Verbindung mit seinem Argument des Wechsels von der traditionellen Industriegesellschaft hin zur industriellen Risikogesellschaft siehe Brock (1991 ).

116

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

theoretisch und empirisch gesichert sind (vgl. Bonß 1995: 101 ), findet Risikoverhalten außerhalb von Labor Situationen unter anderen Bedingungen statt: Eine Vielzahl von Kriterien und sozialen Strategien nehmen hier Einfluss und lassen einen offenen und sozialen Ereignisraum entstehen. Von besonderer Bedeutung sind hier - so wird zu zeigen sein - praktische Erfahrungswerte, ein individuelles Gespür der Sportler sowie eine soziale Erwartungsdynamik Diese aber finden in rationalen und objektiven Risikoanalysen keine Berücksichtigung bzw. werden allenfalls als Störgrößen thematisiert. 7 Die Wahl eines Risikos, wie sie in alltäglichen und sportlichen Situationen vorliegt, lässt sich aber nicht von den sozialen Kontexten abstrahieren und vollständig rationalisieren. Vielmehr ist eine Entscheidung fur riskantes (sportliches) Handeln immer auch eine soziale Wahl, die Fragen nach deren Rückbindung an die sozialen Kontexte und biographischen Erfahrungen aufwirft (vgl. allgemein Johnston/Covello 1987). Riskante aber freiwillig eingegangene Umgangspraktiken lassen sich in dieser Perspektive im Bourdieuschen Sinne als soziale Strategien verstehen, d.h. sowohl die Wahl als auch die spezifische Art und Weise der Bewältigung können als sozial disponierte Strategien diskutiert werden (vgl. Bourdieu 1993 : 114ff.; Frey 1991). Innerhalb der Sportwissenschaft werden die offenkundig hohen Risiken und die damit verbundene Entwicklungsdynamik der neuen Sportarten zwar erkannt und zutreffend als eine Tendenz zur Extremisierung oder zum gesteigerten Risiko beschrieben (vgl. Schildmacher 1998; Egner/Kleinhans 2000; Bette 2004: 7ff.). Eine differenzierte begriffliche Analyse bleibt bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Bette 2004) aber aus und eine empirisch fundierte Arbeit ist bislang ein Desiderat. So bleibt nicht zuletzt aufgrund der fehlenden empirischen Fundierung eine Deutung des Merkmals Risiko entweder ganz aus oder wird weitgehend praxisfern und pauschal an soziologische Zeitdiagnosen der "Risikogesellschaft" (Beck 1986) und der "Erlebnisgesellschaft" (Schulze 1999) angebunden oder systemtheoretisch geführt (vgl. Bette 2003; 2004). Eine Ausnahme bilden psychologische Untersuchungen, die insbesondere im U.S.-amerikanischen Raum zwar empirisch geführt, aber überwiegend mit standardisierten Erhebungsinstrumentarien und Tests arbeiten (vgl. Doka u.a. 1990; Freixanet 1991; Cronin 1991; Ker!Vlaminkx 1997; Kerr 1988, 1991). Dezidiert empirisch-qualitative Studien liegen hingegen bislang nicht vor. Wendet man sich sozialen Praktiken wie denen des Sports zu, so gilt es also zunächst, die rationale Perspektive auf Risiko (in Verbindung mit Technik) um die Dimensionen ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung zu erweitern. 7

Zur Rolle eines praktischen Spürsinns von Arbeitern im Bereich vollautomatisierter Anlagensteuerung siehe die innovative Arbeit von Böhle (2004), für einen kürzeren Überblick (2006) sowie Bauer/Munz (2004).

117

STIL-KULTUREN

Anschlussfähig ist dies auch an den practical turn innerhalb der Sozialwissenschaften, durch den das Verhältnis von Mensch und Technik innerhalb von sozialen Praktiken neu diskutiert wird (Rammert 1998a/b; Reckwitz 2003; Hörning/Reuter 2004; Hirsehauer 2004; Wieser 2004). Technische Spielgeräte können in dieser Perspektive als sozial imprägnierte Geräte verstanden werden. Dabei wird es auch darum gehen, die Risikothematik als eine spezifisch moderne Thematisierung, Wahrnehmung und Verarbeitung von Unsicherheit zu begreifen, wie sie Bonß als typisch moderne Umgangsformen sozial-historisch aufgearbeitet hat. Die Frage nach der konstitutiven Rolle des Risikos ist damit eine nach der konkreten Konzeptualisierung der Unsicherheiten durch die Sportler und fragt nach den Strategien der Sportler im Umgang mit den vielfältigen Unwägbarkeiten der Praxis. Diese werden zunächst auf der Grundlage der empirischen Beobachtungen, Interviews und gesammelten Daten der Felder erschlossen, die dann jeweils spezifische Anschlüsse zu modernen Risikodiskursen (vgl. Kleinwellfonder 1996) zulassen.

Spiel mit dem Risiko Die Untersuchung der Kategorie Risiko ist nicht allein durch die empirische Evidenz der riskanten Praktiken, sondern auch vor dem Hintergrund der hegemonialen Form Leistungssport begründet: Auch im traditionellen Sport besitzt Risiko eine fundamentale Bedeutung, nur ist es hier in anderer Weise in die Logik der Praxis implementiert (vgl. auch Stern 2006a). So ist der moderne Wettkampfsport durch die Logik von Sieg und Niederlage bestimmt. D.h. auch, dass das Risiko, dem sich jeder Wettkämpfer stellt, über die erbrachte Leistung und den Leistungsvergleich vermittelt ist. 8 Wie gezeigt werden konnte, werden die Leistungen im System des Wettkampfsports in 8

Die Steigerung der Leistungsfähigkeit im Wettkampfsport hat Ausmaße angenommen, die als Kehrseite der Medaille auch die körperlichen und psychischen Risiken drastisch erhöht haben. Schwere Verletzungen bis hin zu Todesfällen (z.B. im Alpin Ski) bleiben nicht aus. Dennoch ist das Todesrisiko nicht konstitutiver Bestandteil der klassischen Wettkampfsportarten, sondern wird als "Unfall" (Gebauer 1986b: 271) gewertet: Der Wettkampfsport ist "ein Agon, dessen Sinn durch das Vermeiden des Todes gegeben wird. Der Tod im Sport ist daher ein Unfall, der das sportliche Geschehen zerstört." (Ebd.: 277) Unfälle führen in sportlichen Großveranstaltungenjedoch nur noch selten zum Abbruch des Wettkampfs. Weitreichende finanzielle Erwägungen weisen über sportinterne Industriezweige hinaus und folgen dem Prinzip "The show must go on" : "Am System des Sports sind zu viele mächtige Interessenten beteiligt, als daß die Trauer das Recht bekäme, sein Funktionieren zu gefährden." (Gebauer/Hortleder 1986: 8) Anders verhält es sich beispielsweise beim traditionellen Stierkampf, einem "Agon, dessen Sinn durch die Anwesenheit des Todes" (Gebauer 1986b: 277) zentral mitbestimmt wird (vgl. Hortleder 1986: 243f.).

118

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

distinkte Differenzen (Platzierungen) überfuhrt und damit das Konkurrenzstreben der Wettkämpfer in eine absolute und meritokratisch begründete Ordnung überfuhrt. Mit dieser neu etablierten Ordnung wird zugleich die prinzipielle Ambivalenz von Risikohandlungen, Chance und Gefahr zu sein, aufgelöst. Vor diesem Hintergrund werfen sich Fragen nach Form, sozialer Funktion und Regulierung von Risikohandlungen in den untersuchten Sportfeldern auf. Das Risiko in den neuen Sportpraktiken hat sich bereits bei der Analyse des agonalen Prinzips als eine komplexe Funktion gezeigt: Wesentliche Faktoren dieser Funktion stellen die Umgebungsbedingungen, die Art der gewählten Herausforderung und die j e spezifischen Einschränkungen der Mittel dar. Darüber hinaus besitzt die technische Ausrüstung selbst einen Einfluss auf die Risikokomponente der Praktiken. Gleichgültig ob Klettern mit oder ohne Seil, ob Snowboarding oder Paragliding: Die neuen Sportarten sind durch die Verwendung modernster High-Tech Geräte gekennzeichnet, ohne die die Praktiken entweder nicht vollzogen werden können (Paragliding) oder zumindest in der gegenwärtigen Dynamik und dem Risiko des Stils nicht denkbar wären. 9 Die Sportler bewegen sich in der Vertikalen, sie erklimmen Steilwände, die über hundert Meter hoch sein können und dies mithin ohne Seilsicherung; sie vollfuhren meterhohe und -weite Sprünge oder stürzen sich nahezu senkrechte Abhänge außerhalb offizieller Pisten hinab; sie vollführen mit ihren Gleitschirmen spektakuläre und akrobatisch anmutende Manöver mit zum Teil extremen Erdbeschleunigungen oder bei rasantem Tempo in unmittelbarer Bodennähe riskante Kunststücke. Was diesen höchst unterschiedlichen Sportpraktiken Free-Climbing, Snowboarding und Paragliding gemeinsam ist, ist ein riskantes Spiel in und mit der Vertikalen, mithin ein Spiel mit dem Risiko. Die Analyse der sportlichen Praktiken zeigt deutlich, dass das Risiko hier erstens nicht wie in den theoretischen Diskursen üblich im Sinne von Verlust oder Gefahr eine rein negative Bedeutung besitzt und zweitens, dass das Risiko in konkreten sozialen Praktiken nicht erst ex post bearbeitet wird, sondern von den Sportlern während der Ausübung selbst, in actu, erzeugt und über Strategien der Risikobewältigung kontrolliert wird. Zudem werden die Risiken von den Sportlern freiwillig eingegangen (vgl. Neumann 1999: 120ff.). Diese Praktiken zeichnen sich gerade nicht dadurch aus, dass die

9

Anders als zunächst vennutet, wird auch das Free-Climbing entscheidend durch die moderne technische Ausrüstung beeinflusst: Spezielle Kletterschuhe, extrem belastbare und zugleich leichte Seile und Sicherungshaken ermöglichen erst die modernen Techniken des Kletterns, die immer kleiner werdenden Tritte oder das so genannte Reibungsklettern, bei dem die speziellen Schuhsohlen an der rauen Felswand Halt finden und so auch Passagen überwunden werden können, an denen es keine Griffe oder Tritte gibt. 119

STIL-KULTUREN

Risiken so gering wie möglich gehalten werden oder gar nach Möglichkeit gemieden werden. Die freiwillige Suche nach Grenzgängen bedeutet, die prinzipielle Ambivalenz des Risikos, Chance und Gefahr, Gewinn und Verlust zugleich zu sein, aktiv zu suchen und aufrecht zu halten. Diese Suche nach dem Grenzgang hat sich zudem relativ unabhängig vom Könnensstand der Sportler auch bei der breiteren Masse der Aktiven gezeigt. Entscheidend aber ist, dass die Risiken nicht erst im Nachhinein thematisch werden, sondern ex ante und unmittelbar während der Tätigkeit mit unmittelbarer Rückmeldung ihre Relevanz entfalten. Die soziale Dimension von Risiko, darauf weist Bonß mit Nachdruck hin (vgl. ebd.: 32f.), ist anders als in den technisch-rationalen Bearbeitungen oder öffentlichen Diskursen nicht einseitig negativ konnotiert, sondern rückt vielmehr den Aspekt der Chance in den Vordergrund. 10 Wachsende Sicherheitserfolge führen gerade nicht zu mehr Sicherheit, sondern im Sinne einer Risikospirale zum Eingehen immer neuer Risiken (ausführlich unten). Wie aber lässt sich diese Suche nach Risiko an bestehende Konzepte oder Kriterien der Spiel- und Sporttheorie anbinden? Caillois' Klassifikationsschema weist die Kategorie Risiko zwar nicht auf, dennoch lässt sich die Risikothematik quer zu den Kategorien Agon, Alea und Ilinx an Caillois' Schema anbinden: Das Risiko ist eng an das agonale Prinzip gebunden und weist darüber hinaus Bezüge zu den Dimensionen Rausch und Zufallseinflüsse in den Sportpraktiken auf.

Spannungsbalance zwischen Kontrolle und Kontrollverlust Der Einstieg in die Felder ist, nicht anders als in traditionellen Sportarten auch, von einem langwierigen Lernprozess geprägt: Innerhalb dessen müssen die Sportler zunächst mit der technischen Ausrüstung und den spezifischen Körpertechniken und Besonderheiten der Bewegungsräume vertraut werden. Zentraler Bestandteil dieser Phase ist auch der Umgang mit den feldspezifischen Risiken und den entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen: Während diese Phase beim Paragliding formalisiert ist, (Ausbildung und Erwerb eines Luftfahrtscheins), weisen die Felder Klettern und Snowboarding keine verpflichtenden Strukturen auf, wenngleich der Einstieg auch hier über Kurse 10 So vertritt v. Cube (1990) aus der Perspektive der Verhaltensbiologie die These, dass Menschen aktiv Unsicherheit suchen, weil das "Verwandeln von Unsicherheit in Sicherheit[ ...] mit Lust belohnt" wird (ebd.: 11): Ungewissheit stellt für ihn ein bedeutsames und fortschrittsdynamisches Prinzip des Menschen dar, der hier in ihrer biologistisch-genetischen Deutung nicht gefolgt wird.

120

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

und Lehrgänge vollzogen werden kann.ll Unabhängig davon, wie der Einstieg im einzelnen verläuft, zeichnen sich aber alle drei Sportpraktiken durch eine längere Phase der Eingewöhnung aus, in der die Aufmerksamkeit der Sportler auf die technischen Details sowie die zu handhabenden Risiken gerichtet ist. Erst mit fortschreitender Erfahrung verschieben sich die Wahrnehmung der Praxis und die Selbstwahrnehmung der Sportler hin zu einer spielerischen Tätigkeit, in der sich der Aktive als kontrolliert und in Kontrolle über die Situation erfährt und seine Handlungen als frei und ungebunden erlebt (vgl. auch Guilmette/Duthie 1981: 62ff.; Levine/Gorman 1992). Erst mit steigendem Erfahrungsschatz und Repertoire an (körper-)technischen Möglichkeiten erschließen sich die Sportler die Vertikale als Spielraum. Sie beherrschen nun die prinzipiellen Techniken und Bewältigungsstrategien der auftretenden Risiken. Die hiermit zugleich einsetzende Risikospirale ist damit voraussetzungsvoll: Sie gründet auf einer erst allmählich aufgebauten, praktischen Erfahrung der Sportler, die gerade nicht im Draufgängerturn oder einer blinden Risikobereitschaft erworben werden kann, sondern über einen langwierigen und tastenden Prozess (vgl. Priest 1992; Priest/Carpenter 1993), in dem Erfahrungswissen und Passungsverhältnisse ausgebildet werden.12 Die Logik der Selbstüberwindung, die auch flir die immer neue Suche nach größeren Herausforderungen und neuen Grenzgängen charakteristisch ist, ist damit bereits von Anfang an Bestandteil der Praktiken. Der Alleignungsprozess dieser Sportarten ist nicht zu trennen von der Aneignung von Kontrolle über die immanenten Risiken der Praktiken. Ganz im Sinne einer empirischen Untersuchung von Fallschirmspringern aus dem U. S.-amerikanischen Raum zeigen auch die erfahrenen Probanden der untersuchten Felder ein ausgeprägtes Kontrollbewusstsein, das nicht trotz, sondern aufgrund eines detaillierten (Erfahrungs-)Wissens um die Risiken der Praktiken besteht: "Skydivers feel themselves capable of imposing self-rule, of playing as they believe they alone are capable ofplaying" (Guilmette/ Duthie 1981: 64; vgl. Iso-Ahola u.a. 1988; Brannigan u.a. 1983). In vergleichbarer Weise werden 11 Paraglider benötigen verbindlich einen Luftfahrtschein, der nur in Verbindung mit einem Lehrgang und theoretischer wie praktischer Prüfung erlangt werden kann. Das selbstverantwortliche Hallenklettern steht theoretisch ebenfalls nur denen offen, die eine Art Grundausbildung im Umgang mit den Sicherungstechniken vorweisen können. In der Praxis aber wird diese Qualifikation nur bedingt überprüft. 12 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Csikszentmihalyi (1985) bei seiner Untersuchung von Kletterern: Durch die Vielzahl der Möglichkeiten, eine Steilwand zu klettern (Wahl der Griffe, Konzentration auf die Form des Kletterns), ändert das Individuum im Laufe der Erfahrung praktisch die Regeln seiner Aktivität (vgl. ebd.: I09f.). Vgl. auch Kerr (1988), der in seiner empirischen Untersuchung von Bergsteigern, Fallschirmspringern und Motorradfahrern "a sense of freedom and control" der Sportler als Produkt von Erfahrungswissen beschreibt (ebd.: 189).

121

STIL-KULTUREN

auch von erfahrenen Paraglidem, Kletterem und Snowboardern die Sportpraktiken als ein Spiel aufgefasst, das sie selbst bestimmen, d.h. graduell erzeugen und nach eigenem Ermessen aufrechterhalten oder steigern können (vgl. ebd.: 62). Prägnant formuliert dies ein Gleitschirmflieger: "Risikosportarten sind in meinen Augen Sportarten, wo ein unkalkulierbarer Faktor, den man selber nicht beeinflussen kann, mitspielt" (Herv. M.S.). Aus diesem Grund bewertet er Paragliding auch nicht als Risikosport, denn: "Man kann so viel Risiko rein geben, wie man möchte". Kurz: Das Spiel in der Vertikalen wird von den Akteuren als ein Spiel nach den eigenen Regeln wahrgenommen. Diesen Praktiken eine Strukturanalogie zu ,Gottesurteilen' zuzusprechen (vgl. Breton 1995) hieße, sowohl den komplexen Prozess der Aneignung von Fähigkeiten und Details der Sportarten als auch den modernen Kontrollaspekt der Konzeptualisierung von Unsicherheit als Risiko zu übersehen. Der Umstand, dass die Sportler dabei im Grenzgang ihre Person als Ganzes aufs Spiel setzen, kann keineswegs als hinreichend dafür gelten, den Sportlern Todessehnsucht oder den Praktiken den Charakter von Ordalen zu zusprechen (vgl. auch Gebauer 1986b: 277; Collard 1994; Comeloup 1997). 13 Das Setzen eigener Regeln im Spiel mit dem Risiko ist gerade nicht darauf ausgerichtet, der Praktik den "Stachel" (Elias/Dunning 1986: 80) zu nehmen, sondern einen spielerisch kontrollierten Umgang mit den ernsten Konsequenzen der Tätigkeit zu praktizieren. Ein Free-Climber formuliert dies wie folgt: "Ich denke doch, dass ich ein vorsichtiger Mensch bin, obwohl es jetzt ganz viele ganz anders sagen würden, [... ],totaler Adrenalin-Junkie [.. .], aber eigentlich probiere ich die Gefahren zu minimieren und[ ... ] ich habe es eigentlich immer so gut wie es ging berechenbar gehalten. [... ] Ganz geht es natürlich nie, aber so gut wie es ging."

Der besondere Reiz der neuen Sportarten ist eng verbunden mit den außergewöhnlichen Herausforderungen, denen sich die Sportler immer wieder aufs Neue stellen. Die vorliegende Untersuchung verdeutlicht, dass für die neuen Sportpraktiken nicht allein eine Suche nach Risiken charakteristisch ist: Die Sportler setzen sich nicht einfach aufs Spiel, sondern sie praktizieren ein Spiel mit dem Risiko, das weit mehr als die bloße Bewältigung eines Risikos einschließt. Deutlich wird dies am Begriff des Grenzganges, der von den Teilnehmern immer wieder als zentral benannt wird: Grenzgang bedeutet hier das Auft·echterhalten einer empfindlichen Spannungsbalance, die von den Sportlern als Grat zwischen Steuerung und Störung gesucht wird: ein Zuviel und 13 Gebauer (1986b) zeigt in seinem Epilog ,Das Spiel gegen den Tod', dass nicht erst mit den modernen Risikosportarten, sondern bereits der moderne Spitzensport Beispiele dafür liefert, dass letztlich "die Herausforderung an das eigene Leben gerichtet wird." (ebd.: 277)

122

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

die Situation gerät außer Kontrolle, ein zu Wenig und die Spannung kippt gleichsam zur Seite routinierter Tätigkeiten, die im Ausgang keine nennenswerte Ungewissheit mehr besitzt. Dabei zeigt das Risikoverhalten der Sportler eine Steigerungslogik, die in Anlehnung an Elias/Dunning (2003a) als spezifische Form einer dynamischen "Spannungsbalance" beschrieben werden kann (ebd.: 354): Elias und Dunning kennzeichnen mit dem Begriff der Spannungsbalance zwei Merkmale des Sports exemplarisch am Fußballspiel: Zum einen das dynamische Verhältnis der Leistung zweier Mannschaften und zum anderen das Verhältnis von einschränkenden Reglementierungen und Freiheiten der Kräfteentfaltung. Die für den Wettkampfsport typische Spannungsbalance wird in beiden Fällen vom Reglement hergestellt: So werden über Qualifikationsrunden die aktuellen Leistungen der Teilnehmer ermittelt und nur die Besten Wettkämpfer für die Endrunde zugelassen. Die Funktion dieser Organisationsform ist, folgt man dem Gedanken von Elias und Dunning, weniger die Sicherstellung eines gerechten Wettkampfs, als die eines spannenden, weil im Ausgang ungewissen Wettkampfes (vgl. ebd.: 354f.). Ebenso greift das Reglement steuernd in die Kräftefelder des Sports ein: Am zweiten Aspekt der Spannungsbalance verdeutlichen die Autoren, dass in historischer Perspektive die Regeln immer wieder als Reaktion auf veränderte Spietstrategien und technische wie taktische Entwicklungen der Spieler an die neuen Spielweisen angepasst wurden (z.B. Abseitsregel). In Anlehnung daran kann der Begriff der Spannungsbalance auch außerhalb von Ordnungen der Konkurrenz wie denen der neuen Sportpraktiken fmchtbar gemacht werden. In den neuen Sportpraktiken wird der risikoreiche Grenzgang als spezifische Form der Spannungsbalance durch die Wahl der Herausforderungen selbsttätig und von jedem Einzelnen erzeugt: Der Kletterer wählt seinen Ort des Klettems (Qualität des Gesteins), die Anzahl der Sicherungen oder lässt das Seil ganz weg, er wählt die Route, die Griffe und Tritte. 14 Ebenso unterscheiden die Paraglider je nach Jahreszeit und damit verbunden den thermischen Verhältnissen zwischen Orten mit guter, schlechter oder zu starker und kaum zu kontrollierender Thermik, wählt der Pilot immer wieder aufs Neue den Abstand zum Boden, zur Felswand (im Gebirge), die Art und Form der Manöver (beispielsweise die Geschwindigkeit der Steilspirale) oder stimmt der Snowboarder die Geschwindigkeit der Abfahrt, die Höhe der Sprünge oder die Streckenführung auf sein Können ab. Diese individuelle Form des Aufbaus der Spannungsbalance ist konstitutiv für die neuen Sportarten und 14 Die Qualität des Gesteins ist beim Klettern eine zentrale Größe: So zeichnet sich das Elb-Sandstein-Gebirge beispielsweise durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Griffen und Größen aus, aber das Gestein selbst ist relativ brüchig; Griffe können ausbrechen und stellen eine Gefahrenquelle dar. Ebenso weisen Schiefergestein oder Granitfelsen je besondere Qualitäten, Vor- und Nachteile auf, die je nach Kletterer zu unterschiedlichen Prioritäten führen. 123

STIL-KULTUREN

führt mithin zu verkürzten Rückschlüssen (vgl. Schildmacher 1998; Egner 2000). Das Spiel mit dem Risiko stellt zwar ein individuelles Maß dar, gleichzeitig aber ist Grenzgang nicht weniger ein über-individuelles Merkmal der neuen Sportpraktiken. Die Risikoorientierung ist, dies wird häufig falsch gedeutet, nicht nur Ausdruck einer gesteigerten Individualisierung der neuen Sportarten, sondern zugleich auch Teil eines Modus der Vergemeinschaftung, der unter anderem auch die Risikobereitschaft im Grenzgang zum Kriterium der Zugehörigkeit aufweist.

Risiko- Technik- Rausch In spieltheoretischer Sicht besitzen Spiel- und Sportpraktiken zwar einen Sonderstatus, sie stellen eine Sonderwelt dar, die durch eine Sphäre des "Alsob" gekennzeichnet ist (Gebauer/Wulf 1998: 20, 191ff.), sie lassen sich deshalb aber nicht in einer dichotomen Konstruktion von Spiel und Ernst oder Entspannung und Anspannung fassen (vgl. Elias/Dunning 1986: 82). Insbesondere die neuen Sportpraktiken zeichnen sich ganz im Gegenteil durch "a specific type of tension, a form of excitement often connected [... ] with fear, sadness and other emotions which we would try to avoid in ordinary life" (ebd.) aus. Ein Bestandteil dieser Aktivitäten ist ein "degree of anxiety and fear" (ebd.: 84), der im Alltagsleben gemieden wird und in den mimetischen Sonderräumen des Sports gleichsam als eine Enklave für emotional aufgeladene Erlebnisse der "Spannung" und "Erregung" gesucht wird. Anders als in der klassischen Gegenüberstellung von Arbeit und Freizeit dienen die Freizeitaktivitäten Elias und Dunning zufolge nicht (nur) der Entspannung und Regeneration der Arbeitskraft, sondern werden zunehmend zu einer "Quest for excitement" (ebd.). Das Besondere dieser Suche nach Spannung und Erregung besteht den beiden Autoren zufolge darin, dass sie keinen ,Stachel' besitzt, d.h. dass die emotionalen Anspannungen im Sport zwar als ernst erfahren werden, aber aufgrundder illusionären Sphäre des Sports bzw. seiner mit Bateson (1983a) gesprochen paradoxalen Grundverfasstheit nur als ein So-tun-als-ob gelten. Innerhalb der Sportaktivitäten sind die Tätigkeiten deshalb aber nicht minder von einer Ernsthaftigkeit bestimmt (vgl. Bateson 1983a/b). Nach Elias und Dunning aber wird diese anders als vergleichbare Situationen im Alltag als gewollte und gesuchte Spannung von den Sportlern selbst erzeugt. Ein zentraler Bestandteil der Sonderräume des Sports ist eine Mimesis von Gefühlen des Ernsffalls. 15 In dieser Hinsicht können die viel 15 Der Begriff ,mimetisch' wird von Elias und Dunning (1986) in einem ganz spezifischen Sinne verwendet. Das Mimetische besteht nicht in einer Repräsentation von Ereignissen aus dem realen Leben, sondern in den Gefühlen, die von den mimetischen Aktivitäten hervorgerufen werden. ,Mimetisch' kennzeichnet

124

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

Zitierten Erlebnisbeschreibungen von Risikosportlern wie "Kick", "Thrill", "Rausch" u.ä. als Hinweis auf die emotionalen Resonanzen gewertet werden (vgl. Holm 1999). Anders aber als von Elias/Dunning (1986) angedacht, verschwimmt in den riskanten Sportpraktiken die Grenze zwischen tatsächlicher und nur spielerische-mimetisch gefühlter Bedrohungen. Von einer Mimesis der Gefühle des Ernstfalls kann hier insofern gesprochen werden, als dass die riskanten Situationen als Teil von Freizeitaktivitäten freiwillig und aktiv gesucht werden und nicht als bedrohliche Ereignisse widerfahren. Einen weiteren Anschluss bietet Caillois' Kategorie ilinx (vgl. Caillois 1960: 32ff.): In den neuen Sportpraktiken werden Geschwindigkeitsrausch, extreme Drehbewegungen, ein Verwringen des Körpers im Sprung oder Bewegungen in der Höhe mithin bei gleichzeitiger extremer Einschränkung des Sichtfeldes in der Steilwand oder im Überhang (Klettern) zu potentiellen Quellen für einen risikoreichen Verlust der Orientierung. Die lustvolle Erzeugung von rauschhaften Zuständen ist nach Caillois (1960) das Charakteristikum einer Vielzahl von Spielen und körperlichen Praktiken: Mit dem Tanz, Kinderspielen (z.B. Drehspiele) oder den Fahrgeschäften des Jahrmarkts liegen vielfaltige Praktiken vor, in denen rauschhafte Zustände durch Drehbewegungen und hohe Geschwindigkeiten von Kindem wie Erwachsenen lustvoll gesucht werden (vgl. ebd.: 32ff.). Eine Besonderheit bilden jene Praktiken, die rauschhafte Zustände mit körperlichen Gefahren verbinden (z.B. Achterbahn, Bungee-Jumping): Hier übernimmt eine technische Apparatur die Sicherung der Teilnehmer (vgl. Poser 2001; 2006). Ganz im Süme von Caillois zeichnen sich Spiele der Kategorie ilinx durch eine lustbetonte Suche nach Kontrollverlust aus (vgl. Caillois 1960: 33), die oftmals allein durch die Technik ermöglicht wird. Kennzeichnend für diese Arrangements ist eine besondere Konstellation von Ludus und paidia: Beide Extrempole (Ordnung und Willkür) schließen sich hier gerade nicht aus, sondern verhalten sich komplementär zueinander. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Instanz der Kontrolle nicht bei der Person liegt, sondern an die Technik und den technischen Überwachungsdienst delegiert wird (vgl. Stern 2003: 19lf.). Die Teilnehmer können sich im Sinne von Paidia dem Kontrollverlust, dem "Tumult" und "Lärm", der "losgelöste[n] und oft exzessive[n] Freude" (Caillois 1960: 37) vorbehaltlos hingeben, weil das Prinzip Ludus in Form wissenschaftlicher Kalkulation und technischer Realisation die Sicherheit garantiert und im Teilnehmer die Illusion von Risiko durch Störung der alltäglichen Erfahrungswelt erzeugt die Verbindung zwischen den Gefühlen und Affekten, die durch die Aktivitäten evoziert werden, die sonst nur in besonders ernsthaften Situationen des Alltags hervorgerufen würden (vgl. ebd.: 80f.). Nicht zwischen den Situationen, sondern zwischen den Gefühlen besteht für die Autoren eine mimetische Beziehung. 125

STIL-KULTUREN

(vgl. Poser 2006: 27ff.). In diesem Sinne charakterisiert Caillois Spiele, die von ilinx dominiert werden, als Möglichkeiten des modernen Menschen, "der Tyrannei seiner W ahmehmung zu entrinnen und das Abgleiten seines Bewußtseins zu provozieren" (ebd.: 53). Unter ,Tyrannei der Wahrnehmung', auch wenn Caillois dies nicht weiter ausführt, kann in Anlehnung an die Arbeiten von Norbert Elias und Michel Foucault auch der Komplex moderner Affekt- und Emotionskontrollen sowie die modernen Verhaltensstandards verstanden werden: Beide Autoren heben hervor, dass Standards der Selbstkontrolle tief mit dem Selbstverständnis des modernen Menschen verbunden sind und bis in die Details des (körperlichen) Verhaltens hinein wirken (vgl. Elias 1975, 1990; Foucault 1976a; 1976b; 1977; 1983). Aufgrund der Gefahr zerstörenscher Wirkungen stellt ilinx die einzige Kategorie dar, für die es nach Caillois im gesellschaftlichen Alltag kein Pendant gibt (vgl. ebd. 1960: 59f.). Das Rauschhafte ist demzufolge nur in Sonderräumen gesellschaftlich legitimiert, die in Raum und Zeit streng begrenzt und kontrolliert sind und so ein Übergreifen in den Alltag verhindem sollen (vgl. ebd.). 16 Caillois' extreme Einschätzung ist durch die Betonung ekstatischer Momente bedingt. Dies erscheint an den aufgeführten Beispielen (Achterbahn u.ä.) unmittelbar nachvollziehbar, verengt den semantischen Rahmen von ilinx aber auf Formen der Ekstase, die für die weitere Analyse rauschhafter Elemente in den Untersuchungsfeldern nur bedingt Anschluss bieten. Gute Anschlüsse für eine spmtspezifische Erweiterung der Kategorie bietet dasjlow-Konzept von Csikszentmihalyi (1985): Mit demjlow-Begtiff sind rauschhafte Erlebniszustände gemeint, die unter anderem auch an FreeClimbern empirisch untersucht wurden (vgl. ebd.: 103-135). Dabei zeichnen sich Flow-Aktivitäten allgemein durch folgende Merkmale aus: (1) Flow stellt einen Zustand der Selbstvergessenheit bei gleichzeitiger Kontrolle über die Situation dar (vgl. ebd.: 67, 69f.; Herv. M.S.); Flow wird (2) durch Aktivitäten mit gehobenem Anforderungsprofil hervorgerufen, die eine gesteigerte Konzentration der Teilneluner auf ihr Tun erfordern (vgl. ebd.: 58 und 76); beim Flow-Erlebnis geht es (3) ,jedesmal darum, die jeweilige Realität einzugrenzen, dadurch die Kontrolle über einen Ausschnitt zu erlangen, und auf die Rückmeldungen mit einer Konzentration einzugehen, die alles andere als irrelevant ausschließt" (ebd.: 80) und müssen (4) der Person klare und unmittelbare Rückmeldungen über Erfolg bzw. Misserfolg bieten (vgl. ebd.: 58). F/ow-Aktivitäten weisen (5) grundsätzlich einen autotelischen Charakterzug 16 Caillois (1960) betont, dass der Einfluss von ilinx im Alltagsleben "fast unmittelbar Lebensgefahr nach sich" zieht (ebd.: 59) und den Menschen "jeglicher Verteidigung" beraubt (ebd.: 60). Demgegenüber finden nach Caillois Wettbewerb (agön), Zufall (alea) und auch die Verstellung und Täuschung (mimicty) vielfältige Erscheinungsformen im alltäglichen Leben (vgl. ebd.: 59).

126

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

auf, sie sind (6) maßgeblich intrinsisch motiviert und nach Csikszentmihalyi explizit nicht durch Wettkampf bzw. Leistungsvergleich bestimmt (vgl. ebd.: 34, 42). Auch wenn Csikszentmihalyi in seinen Überlegungen die Rolle des Risikos nicht einbezieht, kann sein Konzept ftir die neuen risikoorientierten Sportpraktiken fruchtbar gemacht werden. So bietet Flow zentrale Anschlüsse an die bisherigen Analyseergebnisse, die beispielsweise im Rahmen der Fragmentierung als neuartiges Ordnungsprinzip die Konzentration auf einzelne Spots und Bewegungen aufgezeigt hat und hier nun auch im Sinne einer Reduktion von Komplexität bei gleichzeitiger Steigerung der Schwierigkeit und/oder Anforderungen an die Qualität der Bewegungen verstanden werden können. Dazu gehört aber auch die spezifisch agonale Konstellation von Kontrolle und Herausforderung: Die Balance von Können und Herausforderung, die für das Flow-Erleben kennzeichnend ist, zeigt große Nähe zum selbstkontrollierten Grenzgang der Sportler. So wird von den Sportlern die Erlebnisdimension des gelungen Grenzganges immer wieder mit Begriffen eines Hochgefühls beschrieben, eine Art Rauschzustand, der auch nach Ende der sportlichen Tätigkeit nachwirkt: " Das ist Adrenalin-Pur" (Snowboarder); "Das ist schon so etwas wie ein Kick, ein Rausch, oder so" (Free-Climber) oder "Da oben, da hast Du keine Sorgen, die lässt Du alle am Boden zurück" und "Ich bin dann wie unter Strom, nur positiv!" oder am Ende eines Flugtages: "Da hängen alle noch am Landeplatz so rum, keiner will so richtig gehen [ ... ], mir jedenfalls falls schwer dann einzupacken, ist irgendwie so, als ob man seine Flügel abbaut" (Paraglider). Diese rauschhaften Erlebnisdimensionen stehen in den neuen Praktiken in keinem Widerspruch zur Selbstkontrolle der Sportler. Im Gegensatz zur Delegation der Kontrolle an die Technik (Bungee-Jumping), zeichnen sich Risikosportarten im hohen Maße durch die Notwendigkeit der Sportler aus, über sich selbst ebenso wie über das technische Spielgerät die Kontrolle zu bewahren. Nahezu alle Probanden haben beispielsweise Bungee-Jumping bereits ausprobiert, aber sie beschreiben die Erfahrung als relativ uninteressant. Hauptgrund dafür ist die mangelnde Möglichkeit der Gestaltung bzw. der Einflussnahme und damit letztlich auch der Kontrolle. Das Vertrauen in die Technik stellt prinzipiell keinen Hinderungsgrund dar, vielmehr wird die Hingabe an die Technik als "spaßig", "amüsant" und zugleich, auf Dauer gestellt, als "langweilig" und "reizlos" beschrieben. 17 Der Konstellation von 17 Die Konstrukteure von Achterbahnen reizen nur insofern die menschlichen Belastungsgrenzen aus, als dass sie an standardisierte Mittelwerte gebunden bleiben (vgl. Poser 2006). Der Grenzgang in diesen Fahrgeräten ist weder ein selbstkontrollierter noch ein individueller und damit optimaler, sondern angepasst an den statistischen Durchschnittsmenschen und ohne individuellen Handlungsspielraum.

127

STIL-KULTUREN

High-Tech, Rausch und Selbstkontrolle in den neuen Sportpraktiken liegt ganz im Sinne von Flow eine besondere Komplementarität von Ludus und Paidia zugrunde. Die Sportler stellen selbst die zentrale Kontrollinstanz dar: Sie müssen stetig über Ausrichtung, Verlauf, Dauer, Intensität, Risiken und Emotionen, kurz: über Steuerung und Störung wachen und die Spannungsbalance des Grenzganges optimal auf die gegebenen Spielräume abstimmen.

Passungsverhältnis von Bewegung und Technik Die Ausbildung eines Fassungsverhältnisses zwischen Sportler und Sportgerät ist in diesen Sportpraktiken zentral und mit hohen Risiken verbunden. Dies gilt nicht nur für die beiden Felder Snowboarding und Paragliding, sondern auch für das moderne Klettern. 18 So stellt ein Charakteristikum dieser Praktiken die spezifische Konstellation dar, die sich jeweils zwischen Akteur, Technik und den existentiellen Risiken formiert. Die Gebrauchsqualitäten der Spielgeräte sind, nicht anders als im traditionellen Sport (z.B. der Ball) auch, gerade nicht starr fixiert oder gar Automatismen, die per Knopfdruck ihre Funktion realisieren. Vielmehr müssen Gebrauchsmöglichkeiten erarbeitet werden, genauer: sie entstehen erst in einem Wechselspiel zwischen Sportler und Gerät. Die Möglichkeit des spielerischen Umgangs sowie die hohen Risiken bedingen dabei eine Notwendigkeit, die sich in der Praxis als eine Suche nach dem Ideal eines reibungslosen Passungsverhältnisses zeigt und Praktiken hervorbringt, die allein dem Aufbau der Passung gewidmet sind.19 Die Besonderheit dieses Passungsverhältnisses zeigt sich bereits beim Klettern. So erschließt sich der Grund für die eigentümliche Bewegungsqualität der Kletterer am Boden eindrücklich beim Selbstversuch: Das spezifische Schuhwerk führt den Fuß extrem eng sowie aufgrund der durchgehenden Hartgummi-Sohle in der Fußsohle steif. Erst mit diesen speziellen Schuhen kann der Fuß auf kleinsten Felsvorsprüngen oder an der bloßen Struktur der Wand halt finden (Reibungsklettem), hingegen eignen sie sich für Bewegungen am Boden nicht. Spezifische Passungen zwischen Mensch und Technik 18 Der Kletterer muss sich ebenso mit dem speziellen Schuhwerk und den diversen Sicherungshaken erst allmählich vertraut machen. Diese ermöglichen ihm erst mit der Ausbildung eines spezifischen Passungsverhältnisses, das ein praktisches Wissen beispielsweise um das Setzen bestimmter Sicherungshaken (wie, wann, wo?), ihren Halt und ihre Verlässlichkeit im Falle eines Sturzes umfasst, eine Etweiterung der Möglichkeiten des Klettems bzw. eine Verbesserung der Absicherung. 19 Hierunter sind diverse Praktiken wie das Einfahren oder Einfliegen eines neuen Modells beim Snowboarding und Paragliding unter bewusst gewählten und vereinfachten Bedingungen, Platzrunden, ground-handling usw. über Tests des neuen Materials (Schuhe, Seil, Haken) in der Halle oder im Klettergarten bis hin zu Lehrgängen, in denen auch extreme Manöver (Abwerfen des Gleitschirms) über Wasser geprobt wird.

128

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

sind keineswegs neu, sondern gelten vielmehr für alle Artefakte (vgl. Rumpf 1996: 6f.; Hoetzel 1987). Bereits Marcel Mauss (1975) prägte den Begriff der "Techniken des Körpers" (ebd.: 207f.) am Beispiel des Spatengebrauchs, der nach Form des Spatens unterschiedliche körperliche Techniken seines effizienten Gebrauchs impliziert (vgl. ebd. : 199-220). Während Mauss dabei vor allem auf die Seite der technischen Gebrauchsaf?fOrderungen abhebt, zeigt sich mit den Gebrauchspraktiken der Spielgeräte in den neuen Sportarten auch die Seite der sozialen Gebrauchsweisen. Besonders deutlich wird dies hier auch, weil das Fassungsverhältnis von Körper und Technik maßgeblich das Risiko der Praktiken sowie ihre Ausrichtung auf ein Spiel mit dem Risiko beeinflusst. An den neuen Spielgeräten dieser Sportarten verdeutlicht sich somit etwas, das prinzipiell auch für eine Reihe von traditionellen Sportgeräten gilt, dort aber aufgrnnd des vertrauten Umgangs, der Ausblendung des Lernprozesses (wer denkt noch daran, dass und wie er/sie Radfahren gelernt hat?) und dem Fokus auf die Leistung im Sport kaum in den Blick gerät: Spielgeräte wie der Gleitschirm, die Kletterschuhe oder die spezifischen Formen der Snowboards (Racing-, Free-Style usw.) erschließen dem Sportler nicht quasi automatisch die Vertikale als Spielraum, ebenso wenig, wie beispielsweise der bessere und leistungsfähigere Gleitschirm oder das neueste taillierte Board automatisch zu einer Verbesserung der Bewegungstechniken führt. In gewisser Weise bildet das Ensemble von Mensch und Spielgerät (Gieitschirm, Snowboard, Kletterschuh) in Anlehnung an einen Gedanken von Grego:ry Bateson selbst "so etwas wie Regeln" (Bateson 1983b: 49). Batesons Beispiel ist das Spielen mit Bauklötzchen: "Die Klötzchen selbst bilden so etwas wie Regeln. Sie halten in bestimmten Lagen ein Gleichgewicht und in anderen nicht. Und es wäre eine Art Schummeln, wenn das Kind Klebstoff verwenden würde, um die Kl ötzchen in einer Stellung zu halten, aus der sie sonst umfallen würden." (Ebd.)

Konkret sind hiermit zwei Gedanken verbunden, von denen der erste unmittelbar an Bateson anbindet: Die technischen Besonderheiten der modernen Spielgeräte ermöglichen erst das Spiel in der Vertikalen und stellen mit ihrem Gebrauch spezifische Anforderungen an die Sportler, d.h. auch, sie reglementieren in gewissen Grenzen ihren Gebrauch und eröffnen mit der Exploration ihrer Gebrauchseigenschqften neue Bewegungsfreiräume, die dem Menschen allein aus seinen körperlichen Voraussetzungen heraus verschlossen bleiben. Auffällig aber ist und hieran bindet der zweite Gedanke an, dass der Umgang der Sportler mit den Sportgeräten nicht allein als eine sachgemäße Handhabung vorgeschriebener Funktionen verstanden werden kann. Exploration bezeichnet eine Haltung der Sportler, die mit steigendem Können einsetzt und

129

STIL-KULTUREN

von einer Dynamik des Machbaren getragen ist: Die implizite Frage lautet nicht: "Wozu ist das Sportgerät gemacht?", sondern "Was kann ich damit alles machen?" und: "Wie muss das Gerät modifiziert werden, damit ein Mehr möglich wird?". Batesons Gedanke von Regeln, die von Spielgeräten ausgehen, kann an Bourdieus Begriff der "Regularität" (Bourdieu/Wacquant 1996: 127; vgl. Bourdieu 1992b) angebunden und entscheidend um die Dimension der sozialen Gebrauchsformen technischer Geräte erweitert werden, die Bateson mit dem Gedanken des ,Schummelns' nur ,streift', aber nicht weiter verfolgt. Der soziale Gebrauch technischer Spielgeräte kann weder mit Vorstellungen eines "Mechanismus" noch mit solchen eines "Finalismus" verstanden werden kann (Bourdieu 1993: 76). Sie besitzt auch nicht die vom risk assessment eingeforderten rationalen Eindeutigkeiten und Klarheiten: Gleitschirm, Snowboard oder Kletterschuh gehen nicht in expliziten Anforderungen auf, vielmehr sind die von ihnen ausgehenden Regularitäten einerseits als Gebrauchsanforderung unmittelbar in die technischen Gegenstände eingearbeitet und anderseits werden sie durch die sozialen Umgangspraktiken und Nutzungsabsichten der Sportler erst hervorgebracht. Eindrücklich formuliert dies bereits Ommo Grupe (1982): "Die Bewegung setzt an den Dingen der Umwelt neue Qualitäten frei. Ist sie spielerisch-kreativ, durchbricht sie die Funktionalisierung der Gegenstände, die wir ihnen gern zufligen; diese ist ja nicht nur den Gegenständen immanent, sondern zugleich eine Folge unserer Einstellungen." (Ebd.: 103; Herv. M.S.) 20

Es sind immer auch die spezifischen Umgangspraktiken, mit Certeau (1988) gesprochen die Konsum- und Aneignung.1jormen (ebd.: 29-41 ), die die Möglichkeiten der Spielgeräte erst aufzeigen und durchaus auch entgegen funktionaler Bestimmungen gerichtet sein können. Ein wesentliches Charakteristikum der neuen Sportpraktiken ist ihre explorative Spielform: Qualität der Spielgeräte und der Bewegungen stehen in einem dynamischen Wechselverhältnis. Spielgeräte strukturieren Praxis mit, insofern sie Teil eines dynamischen Wechselspiels der Passfahigkeit von Gebrauchsanforderung und Nutzungsabsicht sind und sie sind so auch an der Hervorbringung der Ordnung von Praktiken beteiligt. Anders als Automaten haben diese technischen Spielgeräte einen Handlungs- und Gebrauchsspielraum, der konsequent genutzt wird: Einerseits bieten sie Möglichkeiten der Improvisation und Innovation neuer Bewegungsweisen und anderseits müssen die praktikablen von den weniger praktikablen Bewegungsweisen, die Möglichkeitsräume der Steuerung und Störung vonjedem Aktiven erst in der Praxis erschlossen werden. 20 Vgl. zum prinzipiellen Zusammenhang von technischen Gebrauchsgegenständen und ihrem sozialen Gebrauch unter Gesichtspunkten der sozial-mimetischen Aneignung Gebauer/Wulf (1998): 30ff.

130

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

Die Ausbildung einer Passung besitzt in diesen Praktiken eine besondere Notwendigkeit, die im Vergleich zum traditionellen Wettkampfsport deutlich wird: Von den modernsten technischen Varianten des traditionellen Sports (Rennrad, Fußball, Laufschuhe, Funktionskleidung) geht zumeist keine erhöhte Gefahr aus. Im Gegenteil, die besseren Geräte stellen häufig bessere Spiel- und Sporteigenschaften bereit, die auch dem relativen Anfanger ein besseres Handling erlauben? 1 So sind Fehler im Umgang mit dem Spielgerät beispielsweise in Ballspielarten als Wechsel von Kontrolle und Kontrollverlust zentraler Bestandteil des Spiels und maßgeblich am Aufbau von Spannung beteiligt. Kontrolle und Kontrollverlust sind konstitutiv für diese Sportarten und werden mit dem Ziel einer ,Figuration unter Spannung' und idealiter bei gleichzeitiger ,Sparumngsbalance' (vgl. Elias/Dunning 2003a) vom Reglement produziert und provoziert. Im Kampf um den Sieg potentiell gleichstarker Gegner kann der Sieg vom Wettkampfsportler (auch) nur im Grenzgang, d.h. mit der Ausschöpfung aller Fähigkeiten beeinflusst werden. Damit erhöht der Sportler bzw. die dem Wettkampfsport immanente Logik der Spannungsbalance wiederum das Risiko. Kurz, ebenso wie Sieg und Niederlage, so sind auch Kontrolle und Kontrollverlust fester Bestandteil des W ettkampfsports. In den neuen Sportpraktiken hingegen droht ein Kontrollverlust mit Konsequenzen, die den Rahmen des Spiels überschreiten. Kontrollverlust über das technische Spielgerät ist hier nicht Teil des Spiels. Das Spiel mit dem Risiko, das Spiel in und mit der Vertikalen besteht in der spielerischen Ausschöpfung der kontingenten Möglichkeiten: der Fähigkeiten des Piloten ebenso wie der Gebrauchsqualitäten des technischen Spielgerätes und möglicher Störungen der Umgebungsbedingungen. Kontrollverlust sprengt gleichsam den Rahmen dieses Spiels und droht mit ernsten Konsequenzen. Mit anderen Worten müssen sich alle Handlungen und Verhaltensweisen innerhalb der Bandbreite dieser Passung bewegen, oder es drohen ernste Konsequenzen. So gibt erst die Passung den Sportlern die notwendige Sicherheit und bildet die Grundlage für eine spielerische Ausschöpfung der gegebenen Möglichkeiten. Wie grundlegend und zugleich sensibel der Aufbau dieser Verhältnisse ist, zeigt sich nicht nur mit dem Einstieg in die Sportarten, sondern immer wieder aufs Neue mit dem Wechsel des Sportgerätes. So zeichnen sich neuen Sportarten nicht nur durch eine ästhetische, sondern ebenso durch eine funktionale "Differenzierung der Produktpalette" der Sportgeräte aus (Heinemann 2001: 18), die ein je spezifisches Anforderungsprofil an den Sportler stellt: Mit der Entscheidung beispielsweise für einen leistungsstärkeren Gleitschirm 21 So sind beispielsweise die neuesten Fahrräder leichter, reibungsärmer und bedienungsfreundlicher, weil ergonomisch geformt (Bremsen, Gangschaltung u.ä.) sowie mit besserer Federungswirkung des Rahmens versehen, die prinzipiell jedem Radfahrer das Fahren erleichtert.

131

STIL-KULTUREN

gewinnt der Paraglider zunächst nicht einen größeren Spielraum, sondern gibt zuallererst die erworbene Passung zwischen seinen Fähigkeiten und dem alten Gerät auf (vgl. Stern 2006b: 144ff.). 22 Leistungsfähigere Gleitschirme und Snowboards oder Einsatz und Ausschöpfung der modernen Sicherheitshaken und Kletterschuhe bieten zwar potentiell die Möglichkeit besserer, d.h. vor allem extremerer Handlungs- und Verhaltensweisen, verlangen dem Sportler aber im Gegenzug ein feineres, sensibleres handfing ab. Insbesondere in den Sportarten Paragliding und Snowboarding gibt es nicht das qualitativ höherwertige Gerät, mit dem auch der Anfänger bessere Leistungen vollbringen kann. Der Wechsel zu einem neuen Gleitschirm stellt entsprechend eine viel beachtete Schwelle dar. Umfangreiche Informationen bieten hierzu detaillierte Tests, die in Special-lnterest-Zeitschriften veröffentlicht werden. Dennoch wird beispielsweise der Wechsel von einem einfachen oder in der Sprache der Paraglider "gutmütigen", und "alle Fehler verzeihenden" zu einem leistungsstärkeren Gleitschirm als hohes Risiko und gewissermaßen als eine paradoxe Situation beschrieben: Der Gebrauch verlangt vom Sportler höhere Fertigkeiten der Steuerung, die er erst im Umgang mit diesen erwerben kann: Exemplarisch dazu ein Paraglider: "Das ist eine heikle Entscheidung, ja, denn (lacht) leider gibts noch keine Schirme mit Stützrädern." Ein Probehandeln gibt es nicht, die notwendige Passung muss sich erst als neue Konstellation in der Praxis formieren. Die Notwendigkeit eines Formungsprozesses bringt eine Reihe von Praktiken der Einübung in den Gebrauch des Sportgerätes hervor, die weniger dem Vergnügen, denn der Erarbeitung einer Passung dienen. Leistungsfähigere Geräte gestalten den Spielraum zwar riskanter, vergrößern ihn aber zugleich. Entsprechend müssen die Steuerungen und Korrekturen, die Kontrolle insgesamt mit höherer Genauigkeit und Schnelligkeit vollzogen werden. Der voranschreitende Formungsprozess ist geprägt von einem permanenten Wechsel der Bedingungen und der Bereitschaft, sich diesen jederzeit zu stellen. Die Steuerungsanforderungen weisen hier ein typisches Merkmal von vielen Spielen auf: Die Störungen lassen sich nicht über rein standardisierte Korrekturen beheben, sondern verlangen vom Paraglider ein hohes Maß an Flexibilität, Gespür und Improvisationsgeschick Dieses Moment der spielerischen Improvisation lässt sich im Anschluss an Greenblatt als "the ability both to capitalize on the unforeseen and to trans22 So weist das Feld Paragliding eine jährlich erweiterte Palette an Gleitschirmen aus. Intern ist das Angebot durch ein Klassifikationsschema strukturiert, das grob Auskunft über die Perfonnanz, d.h. die Flugeigenschaften und Gebrauchsqualitäten der Schirme gibt: Das System reicht vom Einsteiger- bis zum Profischinn und ist mit den Graden 1-3 sowie den Übergangsgraden (l-2er, 2-3er) gegliedert.

132

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

form given materials into one's own scenario" beschreiben (Greenblatt 1984: 227)?3 Das Spiel mit dem Risiko im Grenzgang rückt die Anwendung der erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten innerhalb von nicht vorher bestimmbaren Situationen in den Vordergrund, in denen sie mit Flexibilität zur Wirkung gebracht werden müssen. Das Verhältnis von Akteur und Technik ist im Spiel nicht festgestellt (vgl. Hörning 2004). Der Akteur bearbeitet in der spielerischen Bewältigung der unvorhersehbaren Einflüsse und Störungen permanent die Passung zwischen ihm und dem Spielgerät Gerät und Akteur sind hier keine festliegenden Größen, sondern müssen sich unter den wandelnden Verhältnissen ständig neu justieren, entdecken und ihre Passung erweitern. Am Gleitschirmfliegen wird besonders deutlich, dass diesen Sportarten ein transgressives Moment inhärent ist: Mit dem Einstieg in die Sportart wird zunächst ein Schwellenraum eröffnet, der erst im Prozess einer nachhaltigen Hybridisierung als Spielraum erschlossen wird. 24 So wird die Praxis von Anfängern über einen beachtlichen Zeitraum hinweg nicht als Spiel beschrieben. Die Differenz zwischen dem Fliegen und alltäglich vertrauten Bewegungsweisen, Wahrnehmungen, Orientierungen und Sicherheiten impliziert aufbreiter Ebene eine intensive Erarbeitung neuer Kompetenzen. ln gewisser Weise stellen sie nicht allein Überschreitungen im Sinne einer einmaligen Initiation und dem damit vollzogenen Statuswechsel zum Gleitschirmflieger (Free-Climber, Free-Styler) dar. Vielmehr ist der Praxis selbst mit dem Grenzgang und der daran gebundenen Risikospirale stetig ein transgressives Moment inhärent. Folgt man diesem Gedanken, so kann der Modus der Überschreitung als eine hybride Entd(fferenzierung von Körper und Sportgerät verstanden werden. Die Ausbildung eines Passungsverhältnisses ist nicht zu trennen von den kontingenten Rahmenstrukturen der Handlungsfelder, zu denen die Umgebungsbedingungen ebenso wie die technischen Ausstattungen selbst zählen. Der Prozess der Hybridisierung ist damit ein stetiger und der sich wandelnden wie kontingenten Praxis verhafteter Prozess. So sind die Praktiken durchzogen von einer experimentellen Nutzung der Spielräume von 23 Greenblatt (1984) entwickelt sein Konzept der Improvisation im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Literatur und ihren sozialhistorischen Verweisungszusammenhängen im Sinne eines Mediums des "self-fashioning". In seinen Kernpunkten erweist es sich als anschlussfahig für die Analyse und Charakterisierung von Spiel- und Sportpraxen. 24 Zum Begriff der Schwelle im Rahmen von Ritualen, die einen Übergang von einem sozialen Status zu einem anderen organisieren bzw. soziale Übergänge und Zwischenräume beispielsweise von Festen markieren siehe Turner (1989a/ b) sowie v. Gennep (1 986). Im Anschluss an die beiden Ritualtheoretiker ließe sich der Prozess der Aneignung dieser Sportpraktiken auch als Übergangsritual beschreiben, innerhalb dessen sich die Sportler von einer alltäglichen Struktur (ierung) über eine Phase der Anti-Struktur erst die neue Struktur(ierung) im Sinne der Fähigkeit des kompetenten SpieJens erarbeiten müssen (vgl. überblicksweise auch den Band Bellirrger/Krieger 1998). 133

STIL-KULTUREN

Akteur und Technik, die nicht nur die kollektiven Erwartungen, Umgangsstile und Deutungsmuster der Felder prägen, sondern zugleich mit entsprechenden Erwartungen und Nutzungsabsichten auf das Feld der Produktion von Spielgeräten rückwirken? 5

Steuerungsmodus -zum Verhältnis von Habitus und Habitat Wie kann das labile Verhältnis von Steuerung und Störung in diesen Handlungsräumen hoher Kontingenz gefasst werden? Im Umgang mit den kontingenten Einflüssen ist ein praktischer Sinn bestimmend, der von den Sportlern als ein "feines Gespür", "eine Nase haben für" benannt und als ein komplexes Erfahrungswissen beschrieben wird. Als Steuerungsmodus kann dieses Gespür in seinen zentralen Merkmalen nur in der Praxis erworben werden und bleibt auch weitgehend implizit, d.h. der Praxis verhaftet (vgl. Hörning 2004: 23f.). Im Sinne von Bourdieu kann er als ein "praktisches Wissen" beschrieben werden (Bourdieu 1993: 122). 26 Der praktische Sinn wirkt als zentraler Steuermodus, der sich unter steter Bearbeitung die Vertikale als Spielraum erschließt. Dies hervorzuheben ist auch deshalb von Bedeutung, weil die neuen Sportpraktiken im hohen Maße wissensbasierte Sportarten sind: Die Sportler aller drei Felder verfugen über ein bemerkenswertes, zumeist auch technisches Wissen. Zugleich aber bleibt die Praxis ein doing knowledge (vgl. Hörning/Reuter 2004: 11 ), d.h. eine Fähigkeit, die ein komplexes Zusammenspiel realisiert und nicht in einem expliziten oder formalisierten Wissen aufgeht: Beispielsweise ein technisches Spielgerät wie den Gleitschirm zu kontrollieren bedeutet immer auch, es in seinen Bewegungen, Deformationen, Vibrationen, Reibungen, dem Klang u.ä. zu lesen, nachzuspüren und noch vor dem Eintreten von nennenswerten Störungen gegenzusteuern. Ein Paraglider: Der Gleitschirm, "der flattert auch öfter mal, macht Geräusche, bewegt sich, der ist ja nicht ne starre Masse, sondern das Ding bewegt sich wie ne Luftmatratze hin und her" . Erschließt man das Verhältnis von Akteur und technischem Spielgerät aus der konkreten Praxis der Sportarten, so ergeben sich interessante Anschlüsse an aktuelle Diskussionen einer praxisorientierten Techniksoziologie (vgl. Hörning/Reuter 2004; Höming 2001, Rammert 1998, Beck 1997, Joerges 1996). 25 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit eher statischen Konzepten von Technik und der Betonung der dynamischen Wechselbeziehungen zwischen sozialen Akteuren und technischen Geräten allgemein siehe die soziologischen Perspektiven des Sammelbandes Hörning/Reuter (2004), darin vor allem auch Hirsehauer (2004), Wieser (2004). 26 Zur Rolle von implizitem und weitgehend sinnlich-erfahrungsbasiertem Wissen im Umgang mit technischen Apparaturen in automatisierten Produktionsprozessen siehe die Arbeitsplatzanalysen von Böhle (2004; 2006).

134

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

Der so genannte practice turn unterzieht in der Techniksoziologie die Konzeptualisierung des Verhältnisses von technischen Artefakten und Akteuren einer grundlegenden Revision. Ausgehend von einer allgemeinen ,"Technikvergessenheit' der Soziologie" (Rammert 1998, vgl. auch 2004) oder einer zumeist kritischen Thematisierung im Sinne eines "Technik- oder Sozialdeterminismus" werden vermehrt Fragen "nach der Rolle der Dinge bei der Generierung, Stabilisierung und Reproduktion von sozialer Ordnung und Sozialität" aufgeworfen (Wieser 2004: 92). Dabei fokussieren die Perspektiven nun auf das Verhältnis von Akteur und technischem Artefakt sowie "die sozialen Umgangspraktiken in ihren jeweiligen Handlungskontexten" (Hörning 2001: 71 ). Dieses Verhältnis lässt sich in den neuen Sportpraktiken als eine Beziehung von Habitus und Habitat fassen (vgl. Bourdieu 1981 a, 2001: 188ff.; vgl. auch Stern 2006b; Schmidt 2006). In der spezifischen Konstruktion der Sportgeräte materialisiert sich eine sozio-kulturell präformierte Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix, die durch die spektakulären Gesamtbewegungen zumeist nicht in den Blick gerät: Konkret am Beispiel Paragliding kann mit der Körperhaltung des Sitzens eine soziale Motorik beschrieben werden, die jenseits der Sportpraxis in charakteristischen sozialen und materialen Arrangements vielfaltiger Alltagspraxen eingerichtet, gefordert und gefördert wird (vgl. Eickhoff 1997). In der spezifischen Konstruktion des technischen Artefakts ist in diesem Sinn die soziale Verfasstheit von spezifischen Alltagspraxen eingeschrieben, und zugleich generieren und formieren diese Praktiken bestimmte habituelle Haltungen, die als Grundlage für die weitere Erarbeitung einer Passung angesehen werden können. Habitus und Habitat stehen für Bourdieu in einem Verhältnis der Komplementarität, sie stellen gleichsam zwei unterschiedliche Sozialformen der Geschichte dar: einerseits eine in der Genese des Habitus vollzogene und in den körperlichen Dispositionen der Akteure abgelegte Geschichte und anderseits eine in den Organisationsstmkturen, Institutionen und Architekturen sowie- so die These- auch in der technischen Verfasstheit der Sportgeräte materialisierte Geschichte. Die nach Bourdieu immer auch mit dem Körper erarbeitete und in den Körper eingearbeitete Dimension des Sozialen und Kulturellen findet in der Gestaltung der materialen Arrangements ein Komplement, eine soziale Passung?7 27 Höming zufolge zeichnet sich die moderne Gegenwartsgesellschaft aber gerade dadurch aus, "dass Habitus und Habitat nicht koinzidieren", "biographische Brüche oder Individualisierungsschübe" ebenso wie Technik in seiner Kontingenz an-sich führen nach Höming dazu, dass das Habitat an Eindeutigkeit verlöre und habitualisierte Problemlösungen einer Umdeutung und Entstandardisierung bedürften (Höming 2001: 169f.; vgl. zur Kritik an Bourdieus Konzeption einer Homologie von Habitus und Feld bzw. der Koinzidenz von Dispositionen

135

STIL-KULTUREN

Dabei rückt der Blick auf die konkreten Praktiken und die Strategien im Umgang mit den technischen Spielgeräten die Prozessualität der Beziehungen zwischen Mensch und Technik ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es wird deutlich, dass weder der Akteur noch das technische (Spiel-)Gerät als neutrale oder starre, vorgegebene Größe angesehen werden können. Weder kontrolliert die Technik den Menschen und ,zwingt' ihn in die Rolle einer reinen Bedienungsinstanz (der Maschine), noch geht der Akteur in der Rolle eines autonomen, die Technik kontrollierenden Menschen auf. Bedeutungen und Gebrauchsmöglichkeiten der Spielgeräte werden erst in der konkreten Praxis und unter aktiver Beteiligung der Sportler hervorgebracht. Es ist ein Prozess, der nicht von der Praxis abgelöst werden kann und stets beide Seiten einer Formung unterzieht. Der Vorgang des praktischen Hervorbringens von Bedeutung und Gebrauchsmöglichkeiten ist dabei weder vorab festgeschrieben noch beliebig. Auch Spielgeräte sind in Anlehnung an Höming immer auch von "kulturellen Wissens- und Sinnordnungen" geprägt (Höming 2001: 73), sie sind "materialisierter Ausdruck von sozialen Sinnbezügen, aber auch Träger von kollektiven Wissens- und Werteschemata und wirken selbst an kulturspezifischen Stilprägungen mit" (ebd.: 73f.). D.h., die Umgangspraktiken mit den Sportgeräten lassen sich in Anlehnung an die Kultur- und Wissenssoziologin Knorr-Cetina (1998) als Teil der Formung, Inszenierung und Legitimation von Ordnungen, Bewertungsmustern und Verhaltensstrategien nicht eines jeden modernen Menschen, sondern nur einer bestimmten Expertenkultur verstehen. So realisieren die Sportler im Umgang mit ihren technischen Spielgeräten nicht nur vorgegebene Objektwelten, sondern erwerben ein praktisches Wissen um ihre Gebrauchsqualitäten, Eigenschaften und Verwendungsspielräume. Auf diese Weise erschließen sie sich neue Möglichkeiten, eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten, neue Perspektiven und Grenzen und erfahren "dadurch auch selbst eine ,Modellierung'" (Höming 2001: 68), die Sportler entwickeln sich zu Experten, deren Expertise weit über ein herkömmliches Verständnis von Konsumenten hinausweist: Ganz im Sinne von Certeau (1988) wird sich dies in den spezifischen Gebrauchs- und Nutzungsabsichten der Sportler im Umgang mit den technischen Spielgeräten zeigen lassen (vgl. ebd.: 29ff.). In diesem Verständnis ist Praxis mehr als Affirmation (vgl. Hörning 1989). Gerade der spielerische Umgang bringt neue Verwendungsweisen von technischen Spielgeräten hervor, stellt neue und mithin andere Anforderungen an den Akteur ebenso wie an das technische Material. Im Spiel werden die Grenzen des Machbaren getestet. Eine Grenzziehung von Technik und Akteur als die analytisch unterschiedenen Seiten der Praxis würde in die Irre führen.

und Praktiken unter den Bedingungen sich wandelnder westlicher Gegenwartsgesellschaften auch Ebrecht 2002: 231 ).

136

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

Es ist das Passungsverhältnis zwischen Gerät und Akteur, das die Praxis bestimmt, Grenzen hervorbringt, über Gelingen oder Misslingen entscheidet. Das Passungsverhältnis lässt sich damit weder auf die Seite der Technik noch auf die des Akteurs auflösen, weder auf die technischen Gebrauchsanweisungen, die sich in der spezifischen Konstruktion des Gerätes materialisieren noch auf die Autonomie des Nutzers von Technik. Günter Anders Technildaitik, die sich in dem Zitat sinnfällig widerspiegelt: "Nicht weil das Flügelwachs versagt, stürzt heute Jkarus, sondern weil lkarus versagt" (Anders 19927 : 34) greift für die aktuellen und hoch dynamischen Praktiken der neuen Sportarten zu kurz. Sein Gedanke ist aus einem Technikverständnis gewonnen, das die Körperlichkeit des Menschen gegenüber der Perfektion der Maschine, der Schnelligkeit, Progressivität und der innovativen Technikentwicklung als "konservativ, unprogressiv, antiquiert [...], ein Totgewicht" (ebd.: 33) erscheinen lässt. Die unüberbrückbare Differenz zwischen Mensch und Maschine bzw. die Rückständigkeit der menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten gegenüber der Maschine kulminieren in Anders Begriff der "prometheischen Scham" (vgl. ebd.: 2 1-95), d.h. der ,schamhaften' Erkenntnis der Rückständigkeit des Menschen, der im Anblick der Maschine seine körperliche Unzulänglichkeit und fehlende Anpassungsfähigkeit erkennen müsse. Davon aber ist in den neuen Sportarten nicht einmal in Ansätzen etwas zu ,spüren'. Vielmehr tritt in ihnen eine Konstellation von Technik und Akteur hervor, die mit Latour als paradigmatisch für das Verhältnis von moderner Technik und Mensch bezeichnet wird und "die in dieser Form vorher nicht da war und in einem bestimmten Maße zwei Elemente oder Agenten mod(fiziert" ausweist (Latour 1998: 34; Herv. M.S.).28 Praktisch-spielerische Relevanz besitzen Gerät wie Mensch erst als Bestandteile einer Passung, die das Gerät als Spielgerät ebenso wie den Menschen als Sportler hervorbringen, bearbeiten und ,modifiziert' ausweisen. Insbesondere die neuen Sportpraktiken verdeutlichen durch ihre weitgehende Ent-Reglementierung und den Fokus auf Improvisation in besonderer Weise die Spielräume technischer Gebrauchspraktiken als ein performatives Produkt sozialer Praxis: Möglichkeiten und Grenzen dieser Sportarten (und letztlich die Produktion von Bedeutung) zeigen sich erst im Akt des Vollzuges, sie bieten einen kontingenten Spielraum und fordern vom Sportler einen kreativen und explorativen Umgang. Die Kontingenz dieser Bewegungsräume ist nicht allein das Ergebnis äußerer, nicht vorherbestimmbarer Einflussgrößen, sondern auch Produkt der Konsumstrategien (Certeau 1988: 91ff. ), Grenzgänge und des Ausreizens menschlicher wie technischer Belastungsspielräume. 28 Ob man der Technik beim Paragliding deshalb den quasi-ontologischen Status

eines Co-Akteurs zuweisen kann, wie dies Latour diskutiert, soll an dieser Stelle offen bleiben. 137

STIL-KULTUREN

Pädagogik der Risikominimierung und Risikospirale Die hohen Risiken, die mit der Ausübung dieser Sportarten verbunden sind, werden innerhalb der Felder keinesfalls geleugnet. Ganz im Gegenteil werden sie explizit zur Kenntnis genommen und in minutiösen Detailanalysen und statistischen Auswertungen analytisch aufbereitet. So werden in allen drei Feldern umfangreiche Materialtest durchgeführt, deren Ergebnisse in den jeweiligen Special-Interest-Zeitschriften regelmäßig veröffentlicht werden. Darüber hinaus werden Daten über Unfalle gesammelt, akribisch nach den Ursachen geforscht und differenziert ausgewertet. Die Felder weisen damit jeweils einen Corpus statistischer Erhebungen, Tests und Analysen von Unfallverläufen auf, die als eine Art Informations- und Ratgeberliteratur beschrieben werden kann: Die zentralen Risikoherde der jeweiligen Sportart werden klassifiziert, unter dem Gesichtspunkt von Ursache-Wirkungszusammenhängen rational gedeutet und schließlich Anleitungen für umfassende Vorkehrungen und Gegenmaßnahmen entworfen. 29 Diese analytische Offenlegung aller Faktoren und Einflussgrößen sowie Handlungsanleitungen zu ihrer Vermeidung kann als eine Pädagogik der Risikominimierung in den neuen Sportarten beschrieben werden. Gerade das Gegenteil aber bewirkt diese Pädagogik. Von besonderem Interesse ist dies zunächst aus zwei Gründen: Erstens werden alle erdenklichen Faktoren eines Unfallverlaufs geprüft, gesammelt und statistisch ausgewertet: von den spezifischen Begleitumständen des Unfalls (Ort, Zeitpunkt, relevante Aktion wie Manöver, Landung, Piste/freies Gelände usw.), Wetterumschwung, Steinschlag, ausbrechende Griffe bis zu Materialfehlern (kaum relevant) und Daten des Verunglückten (Alter, Erfahrungsstand, Regelmäßigkeit der Sportausübung). Auffallig an diesen Analysen ist, dass zwar formal zwischen Gefahren, also Einflüssen, die vom Menschen nicht beeinflusst werden können und Risiken, die bewusst eingegangen und prinzipiell vom Sportler kontrolliert werden können, unterschieden wird. Letztlich aber werden bis auf Materialschäden quasi alle Ursachen für Unfalle und damit auch objektive Gefahrenmomente der Sportarten (z.B. Wetter, Steinschlag) als Risiken gedeutet und mit Ratschlägen für Vorkehrungen sowie Gegenmaßnahmen versehen. Selbst Materialschäden werden dahingehend hinterfragt, ob das Material von ausgewiesener Qualität ist und/oder sachgemäß gewartet wurde. Kurz, die Pädagogik der Risikominimierung produziert ein 29 Bezogen auf die traditionsreiche Entwicklung des Alpinismus und des modernen Kletterns und einer Pädagogik der Risikominimierung siehe Peskoller (2001: 169f.; 1997: 46ff.); Günther (1998). Zu den statistischen Auswertungen der Unfalle siehe die einschlägigen Homepages beispielsweise der Sportverbände: www.dhv.de/sicherheit/unfallanalysen. 138

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

umfangreiches und detailliertes Wissen um Risiken und Gefahrenquellen, das die angestrebten Verhaltenskodizes der Risikominimierung unterläuft und eskamotiert: Nicht "playing safe", sondern Steigerung der Machbarkeit stellt das Ergebnis dieser Wissensdynamik dar. Der zweite Aspekt bezieht sich auf die statistische Evidenz, dass, anders als zunächst zu vermuten, nicht überwiegend Anfanger der Sportarten von schweren Unfallen betroffen sind, sondern langjährige und erfahrene Sportler.30 Der Grund hierfür kann darin gesehen werden, dass in den Sportpraktiken nicht allein die Konfrontation mit Risiken im Vordergrund steht, sondern ein Spiel mit dem Risiko, wie es bereits als agonales Prinzip Grenzgang gekennzeichnet wurde. Dieses Spiel mit den Risiken bleibt aufgrund der hohen Voraussetzungen im Umgang mit den technischen Sportgeräten und/oder der Aneignung spezifischer Körpertechniken und einem komplexen Erfahrungswissen den Anfangern verwehrt. Erst mit wachsender Erfahrung setzen die Sportler das Repertoire an Bewegungsmöglichkeiten zunehmend kreativ ein, reizen die Spielräume des Materials, der Umgebungsbedingungen und ihrer Fähigkeiten aus und profilieren so ihr lmprovisationsgeschick. Hier wird deutlich, dass die typisch moderne Konzeptualisienmg von Unsicherheit als prinzipiell zu bewältigendes Risiko tief in die neuen Sportpraktiken eingreift und zeigt sich auf besonders prägnante Weise in der Formalisierung nahezu jeder Ungewissheit in Form diskreter und kontrollierbarer Risiken. Abgesehen von Materialfehlern, die statistisch betrachtet kaum Relevanz besitzen, weisen die Praktiken in logischer Konsequenz nur einen einzigen zentralen Faktor für Unfalle auf: Menschliches Fehlverhalten. Die Konzeptualisienmg von Ungewissheit als Risiko ist grundlegend verbunden mit dem Anspruch der vom Menschen zu leistenden rationalen Vorwegnahme und Kalkulierung potentieller Einflüsse sowie ihrer praktischen Beherrschung. Die spezifische Art der gewollten Konfrontation mit Risiken und die quasi ausnahmslose Überführungjeder Form von Unsicherheit in das Konzept des Risikos sind nicht zu trennen von einem spezifischen und typisch modernen Konzept der autonomen Person. Dieses Ideal einer autonomen Person zeigt sich auch in den Schilderungen der eindrückliebsten Erfahrungen der Sportler: Beschrieben werden immer wieder "extrem brenzlige Situationen", in denen es gerade "noch in der eigenen Macht [stand], was passiert ist [. .. ] es war knapp, aber man hatte es noch unter Kontrolle" (Paraglider). Unter der Fähigkeit Kontrolle auszuüben, verstehen die Spott ier nicht allein Selbstbeherrschung. Vielmehr weiten sie die Erwartungen an sich konsequent auch auf äußere Einflussgrößen aus. Die Haltung eines modernen Free-Climbers kann hier als exemplarisch gelten und

30 Zu den Daten der Sportler siehe beispielsweise die Statistiken auf der Hornepage www.dhv.de/sicherheit/unfallanalysen.

139

STIL-KULTUREN

schließt ebenso die Kontrolle über objektive und nicht selbst verschuldete Gefahren ein. So verlangt sein Kletterstil eine umfassende Kontrolle ebenso über Wetterverhältnisse wie über "brüchiges Gestein" und "Steinschlag", auf den der Kletterer gefasst sein muss und "wenn Steine kommen, dass man dann gleich zur Seite springt" (Kletterer). Ebenso zentral ist der Kontrollaspekt auch bei den Paraglidern. Hierzu exemplarisch zwei Probanden: "Nein, ich glaube Fliegen ist so eine Sache, äh, da hat man es dann selber in der Hand. Es ist nicht so wie beim Motorradfahren, das man abhängig ist von anderen Verkehrsteilnehmern [ ... ], sondern man ist im Prinzip nur auf sich selbst gestellt [... ]. Ich kann entscheiden, ob ich starte und wann und bei welchen Bedingungen". "Ich würde auch ähm, (holt tief Luft) das Drachenfliegen und Paragliding nicht zu den Risikosportarten zählen, weil man das Risiko minimieren kann[ ... ], wenn man eben bescheiden bleibt und sich darauf beschränkt, dass es Spaß macht, in der Luft zu sein und äh, [ ... ], dann fliegt man sichere Geräte, die jeden Fehler verzeihen, man fliegt nur bei äh, bei gutem Wetter, ja." (Herv. M.S.). In den Beschreibungen der Sportler wird immer wieder deutlich, dass die Kontrolle beim Sportler liegt und nur wenn dieser die Kontrolle verliert, d.h. wenn er "falsch" reagiert, so die Logik der Praxis, wird die Sportart überhaupt gefährlich. Dies aber liegt in der Hand und Verantwortung eines jeden einzelnen. Auffällig ist dabei, dass nahezu alle Risikofaktoren, die die Probanden im Verlaufe der Interviews als vermeidbar charakterisieren - falsche Einschätzung der Wetterlage, Unkenntnis über die Besonderheiten des Ortes, Selbstüberschätzung, Profiliemngsbestreben, Unaufmerksamkeit, hohe Alltagssergen- von ihnen selbst bereits missachtet wurden. Jeder Sportler besitzt seine eigenen Erzählungen, die auf die eine oder andere Weise davon zeugen, dass die Gefahrenquellen von ihnen nicht immer ausgeschaltet wurden und dies nicht selten von den Sportlern selbst als eindeutiges Fehlverhalten beschrieben wird: "Auch wenn man dann im Urlaub am Berg steht und schon die Auffahrt bezahlt hat oder schon den Berg raufgelaufen ist und dann, äh, nicht vernünftig bleibt und den Flug absagt, sondern dann trotzdem fliegt [ ...], obwohl die Bedingungen nicht äh passen." Für die Sportler ist ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Risiken zentral. Ein Paraglider: Wichtig ist: "das Bewusstsein über, ähm über alle möglichen äh, Gefahren und Risiken und über die Bedingungen optimal aufzunehmen und zu reflektieren, das ist, äh, ein risikobewusster Flieger ist aufjeden Fall ein guter Flieger." (Herv. M.S.)

140

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

Ein guter Sportler ist ein bewusster und reflektierter Sportler, der die Risiken kennt und sie jedesmal von Neuern auf die wechselhaften Umgebungsbedingungen hin befragt. Wissen um Risiken aber ist in diesen Feldern nicht gleichbedeutend mit deren Vermeidung. Deutlich wird dies auch daran, dass den Beschreibungen des risikobewussten oder bescheidenen Sportlers eine je feldspezifische Kultur der Sprüche und Kommentare gegenübersteht: "Es gibt keine GUTEN, nur ALTE Flieger!" oder "Wer macht denn hier mal den [Crash-Test-]DUMMI?!" und ähnliche Sprüche sind geflügelte Worte in den Feldern. Die Pädagogik der Risikominimierung greift in diesen Feldern nur sehr bedingt. Die Informationen über die Risiken werden mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen und nicht nur für die Sicherheit, sondern zugleich ftir die Erweiterung des eigenen Spielraums verwertet. "Ich hab' schon so viel Sachen erlebt, das im Nachbartal die Blitze gezuckt haben und die Leute noch raus gestartet sind, [ ... ] und man weis ganz genau, ähm, wenn man mit einem Gleitschirm in ein Gewitter kommt, dann überlebt man das nicht, [ ... ]man wird eingesaugt in die Wolke." (Paragliding).

Alle Grundregeln des Sports missachtend, so erzählt dieser Pilot später, ist auch er bereits ohne Ortskunde, ohne Wetterbericht und als einziger im Zillertal gestartet und nur mit Glück einem Gewitter entkommen, das bereits am Bergkamm auch für ihn im Vorfeld zu erkennen war. Dies steht für die Sportler aber in keinem Widerspruch zur allseitigen Einschätzung, dass ihre Sportart nicht gefährlicher sei als andere auch: "Paragliding ist nicht gefährlicher als Tennisspielen. Man muss es nur richtig konsequent betreiben. Ich meine,[ ... ], eine entsprechende VORBEREITUNG hinsichtlich des Wetters, ja, und einfach ähm, auch das eigene Wissen, die eigene Ausbildung, die eigenen Kenntnisse über Risiken und Gefahren." (Paragliding).

Die Pädagogik der Risikominimierung rückt die Ungewissheit, der die Sportler ausgesetzt sind, ins Zentrum und bietet auf ganz spezifische Weise ein umfassendes Detailwissen an. Dabei wird auch die Kontingenz der Praxis, zufällig eintretende bzw. unberechenbare Einflüsse, in eine Handhabbarkeit überfUhrt, indem jeder Besonderheit eine adäquate Reaktion oder Verhaltensweise des Sportlers zugeordnet werden kann, die die Eskalation einer Situation vermeiden soll. Dieses Wissen führt jedoch nur vordergtündig zur Vermeidung der Gefahren und Risiken und damit zur größeren Sicherheit der Sportpraktiken. In der Logik der Praxis dieser Sportarten ist die Risikobereitschaft ein konstitutiver Bestandteil, der freiwillig, gewollt und aktiv gesucht wird. Die Pädagogik der Uf?fallverhütung wirkt in der Praxis dieser Sportarten nur bedingt als eine Pädagogik der Sicherheit bzw. der Risikominimierung, viel-

141

STIL-KULTUREN

mehr greift sie als eine vielbeachtete Anleitung zum Umgang mit den Risiken, die in einer innovativen und am Limit des Machbaren orientierten Praxis mündet. Der Umstand, dass es zur Ausbildung einer Risikospirale trotz der Pädagogik der Risikominimierung kommt, kann nur solange verwundern, wie die Modellhafiigkeit dieser Pädagogik nicht in Erwägung gezogen wird: Risikominimierung wird auf der Grundlage analytisch-statistischer Auswertungen von Gefahrenpotentialen angestrebt. Dazu wird die Praxis formal betrachtet und zergliedert, es werden einzelne Risikofaktoren isoliert sowie abstrakte und ideale Richtlinien, Vorkehrungen und Gegenmaßnahmen entworfen. Losgelöst von der Komplexität der Praxis und ihren impliziten Kräftefeldern arbeitet diese Pädagogik auf der Ebene eines theoretischen Modells der Praxis Interventionen aus, die mit Bourdieu gesprochen die Logik der Praxis verfehlt (vgl. Bourdieu 1993: 148). Das offensichtliche Merkmal Risiko dieserneuen Sportpraktiken kann in einem ersten heuristischen Schritt zwar isoliert gekennzeichnet werden, bedarf für ein Verständnis dieser neuartigen Sportkultur aber der Einordnung in die Komplexität der (Wert-)Haltungen der Praxis: Wie, so stellt sich dann die Frage, ist das Risiko eingebunden in die Erwartungen und sozialen Verpflichtungen der Sportgemeinschaften? Mit welchen anderen Faktoren steht es in Verbindung, welche Inhalte und Strukturen leisten der Risikobereitschaft Vorschub, welche liegen möglicherweise der Risikokomponente zugrunde oder aber hemmen diese? In Anlehnung an Bourdieus allgemeine Reflexionen zum Verhältnis von Theorie und Praxis sind die neuen Sportpraktiken von spezifischen "Optimierungsstrategien" bestimmt, die einen optimierten und nicht minimierten Umgang mit den Risiken verfolgen: Ohne die Beachtung der "Formen, Inhalte und spezifischen Ansatzpunkte, die dem Streben nach Maximierung spezifischer Profite" dienen (Bourdieu 1993: 96), kann die Logik der Praxis dieser Sportarten und deren Kräftefelder nicht verstanden werden. Die Logik der Praxis, darauf macht Bourdieu immer wieder aufmerksam, folgt für gewöhnlich keinen expliziten Regeln oder abstrakten Strategien, sondern wird durch "Strategien des Habitus" bestimmt, die "in neuen Situationen neue Mittel zur Wahrnehmung alter Funktionen erfinden" können (ebd.: 102). Mit explizitem Bezug zu pädagogischen Vermittlungsformen hebt Bourdieu hervor, dass die Strategien des Habitus "auf einer viel niederen Stufe als bewusste Strategien" angesiedelt sind (ebd.), d.h. sie neigen dazu, die modellhaften und theoretischen pädagogischen Interventionen zu unterlaufen. Neue und immer detailliertere Einblicke in Gefahrenquellen können so im Sinne einer Wahrung ,alter Funktionen' ge-und verwendet werden. In diesem Sinne kann auch die scheinbare Widersprüchlichkeit des expliziten Risikodiskurses zur Minimierung und eine praktische Risikospirale verstanden werden. Angewendet auf die neuen Sportpraktiken vermögen die

142

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

pädagogischen "Rufe zur Ordnung" (ebd.) mithin die Risikobereitschaft der Sportler gerade nicht zu mäßigen, sondern führen im Gegenteil dazu, das Streben zu verstärken. Die explizite Formulierung von Regeln der Sicherheit im Sinne der Planbarkeil und Steuerung der neuen Spottpraktiken läuft zwar nicht ins Leere, scheitert jedoch in ihrer Intention an der "Krise der diffusen Bildung" der Praxis, "die ohne den Umweg über den Diskurs direkt von Praxis zu Praxis vermittelt wird." (Bourdieu 1993: 188f.) Insofern die Logik der Praxis die Logik der Sicherheit nicht zum höchsten Gebot erhebt, bleibt der pädagogische Anspruch hier nicht nur folgenlos, sondern dynamisiert die Risikobereitschaft der Sportler durch das (unter anderem Vorzeichen aufbereitete) Wissen. Das Risiko ist dabei als eingelassen in eine komplexe Logik der Praxis zu verstehen. Risiko ist mit anderen Worten nicht der, sondern ein Bestandteil der Formen, Inhalte und Ansatzpunkte der Kräftefelder dieser Sportarten. Die Formel: ,Risiko = Risikobewältigung = Individualisierung= Einmaligkeit= Beliebigkeit', die in der ersten Reflexion auf diese Sportarten entstehen mag, ist zwar nicht gänzlich falsch, führt aber das Verständnis der Praktiken auf das Risiko unzulässig eng. Anders, aber nicht minder als der Wettkampfsport sind die neuen Sportpraktiken auf eine Suche nach Machbarkeit, Außergewöhnlichem und Einmaligkeit ausgerichtet. - Was aber sind die Formen, Inhalte und Ansatzpunkte, die in den neuen Sportarten gemeinsam mit der Risikoorientiemng wirken und was sind die Profite, auf die sich die Optimierungs- und Maximierungsstrategien richten?

Experten ku I tu ren Es konnte bereits gezeigt werden, dass die Sportler ein Fachwissen ausbilden, das sowohl explizite als auch implizite Formen aufweist: Dazu gehören ein umfangreiches technisches Wissen um die Spezifika der Spielgeräte sowie ein feinmotorisch abgestimmtes Umgangs- und Erfahmngswissen, zum Teil hoch spezialisierte Ortskenntnisse, spezifische Körper- und Bewegungstechniken und je spezifisch ausgearbeitete Sprachcodes. Diese Inhalte der neuen Sportpraxen sind zudem auf außergewöhnliche Bewegungsräume und einen spielerischen Umgang mit und in der Vet1ikalen bezogen, die dem Menschen im Alltag für gewöhnlich verschlossen bleiben. Es sind exklusive und nicht zuletzt risikoreiche Räume, in denen sich die Sportler nur mithilfe eines komplexen Sachverstandes und einem praktischen Erfahrungswissens spielerisch bewegen können. In diesem Sinne und im starken Kontrast zu Thesen, die in vergleichbaren Sportpraktiken einen Ausdruck beliebiger und wechselhafter Erlebnissuche sehen, bilden sich in diesen Sportarten Expertenkulturen aus. Sportpraktiken als Expertenkulturen zu verstehen findet einen gewissen 143

STIL-KULTUREN

Anschluss an Arbeiten von Knorr Cetina (1998): Am Beispiel der Laborarbeit hebt sie in kritischer Reflexion der Begriffstraditionen von Experte, technischer Kompetenz und wissenschaftlicher Arbeit die Entstehung neuer Expertenkulturen hervor und betont: "Der Begriff einer Wissensgesellschaft liegt meines Erachtens nicht quer zu dem einer ,Erfahrungs'-orientierten Gesellschaft, zu dem einer Zunahme des Visuellen u.ä.; wozu er quer liegt, ist eher ein dürrer und kognitiv überzogener Wissensbegriff." (ebd., 101 , vgl. insbesondere 94ff.) Ganz in diesem Sinne hat bereits die Analyse der Kategorie Risiko gezeigt, dass die spezifische Wissenskultur dieser Sportler als eine Art Melange beschrieben werden kann aus wissenschaftlich-analytischem Wissen einerseits und praktischen Fähigkeiten, Erfahrungen und daran untrennbar gebunden: Glaubensvorstellungen der Machbarkeit und Kontrollüberzeugungen anderseits. So resultiert die Risikospirale ebenso aus einem hoch reflexivanalytischen Detailwissen und einer erfahrungsbasierten Wissenskultur. Der soziale Profit, auf den im Sinne von Bourdieu die Optimierungs- und Maximierungsstrategien gerichtet sind (Bourdieu 1993: 96), liegt anders als im traditionellen Wettkampfsport nicht in Form objektivierter Platzierungen vor. Vor dem Hintergnmd der extremen Belastungen und Risiken, die diese Sportler dennoch eingehen, mag dies verwundem und Fragen nach dem Sinn dieser Praktiken aufwerfen, eine Frage, die bezogen auf den Wettkampfsport eher selten gestellt wird. Ein zentraler Grund hierfür kann in der allgemeinen Akzeptanz von Leistungsstreben als fundamentales Prinzip gesellschaftlicher Konkurrenz gesehen werden. Dies konnte bereits mit Caillois (1960) argumentiert werden, der den Wettkampfsport idealiter als Ausdruck für "die reine Form der persönlichen Leistung" (ebd.: 22) charakterisiert hat. In ähnlicher Weise, wie der Leistungsvergleich ein wesentliches Merkmal des Wettkampfsports ist, so stellt das Risiko eine zentrales Merkmal in den neuen Sportarten dar. Beide aber ermöglichen isoliert betrachtet kein hinlängliches Verstehen dieser Sportformen. Leistungsvergleich ebenso wie Grenzgang lassen sich als soziale Strategien und Orientierungen des Handeins und Verhaltens verstehen, die auf etwas - wenn auch nicht geplant oder gar bewusst- ausgerichtet sind: Mit Bourdieu gesprochen sind die sozialen Strategien des Sports auf einen Profit gerichtet, der über den Sport hinausweist. D.h., Profit kann, muss aber nicht auf finanziellen Vorteil gerichtet sein, sondern kann auf unterschiedliche Dimensionen bzw. Kapitalsorten bezogen werden. Leistungssport ebenso wie die neuen Sportpraktiken stellen dabei auf je spezifische Weise ideale Felder der Produktion, Bestätigung und Beglaubigung eines typisch modernen Konzepts der autonomen Person dar. In soziologischer Perspektive können die neuen Praktiken dadurch gekennzeichnet werden, dass die Akteure vertraute Handlungsweisen, Wahrnehmungsmuster, Grenzen und alltägliche Sicherheiten aufgeben und sich neuen Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten aussetzen (vgl. Gebauer u.a.

144

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

2004: 78f.). Darüber hinaus zeichnen sich die risikoreichen Praktiken im besonderen Maße durch eine Akzentuierung von Innovation und Improvisation aus. Die neuartigen Bewegungsweisen und -räume sowie die bedrohlichen und oftmals nicht vorher bestimmbaren Einflüsse fordern vom Sportler Improvisationsgeschick und innovative Lösungen bei der Bewältigung der gestellten Herausforderung. Gleichsam allen pädagogischen Ordnungsversuchen zum Trotz integrieren die Akteure fachspezifisches Wissen in das erfahrungsbasierte Wissen der Praxis. Diese Praktiken sind substantiell auf Improvisation ausgerichtet, die sich aus der Suche nach Kontingenz im Sinne des Möglichen (im Gegensatz zum Notwendigen) nährt. In diesem Sinne setzen sich die Praktiken der neuen Sportarten von denen des traditionellen Wettkampfsports insofern ab, als die Sportler nicht nach einer bloßen Reproduktion standardisierter Bewegungen und Körpertechniken in normierten Räumen streben, sondern diese in immer neuen Situationen und Herausforderungen freiwillig auf die Probe stellen. 31 Während dies in Sportspielen durch die Interventionen der (gegnerischen) Mitspieler erzwungen wird, setzen sich die Sportler selbsttätig im Grenzgang äußeren Bedingungen aus, die nicht selten unter hohem Risiko und aufgrund der Kontingenz von den Sportlern Improvisationen abverlangen. Eine Entscheidung zum NichtImprovisieren, ein Rückzug auf standardisierte Verhaltensweisen ist in den Grenzgängen des free-solo, dem Snowboarding im freien Gelände oder dem Paragliding an thermisch aktiven Orten nur sehr bedingt möglich. Die Sportler sprechen immer wieder vom Ausgesetzt-Sein, dass sie suchen und dass den ,Kick' ihrer Praktiken ausmacht: Strukturell bedeutet dies eine experimentelle Preisgabe der Person, die durch ein Alles-oder-Nichts Prinzip gekennzeichnet ist. Der Wechsel von der bloßen Bewegung in der Vertikalen hin zum Spiel in der Vertikalen besitzt in diesen Praktiken den Charakter einer Schwelle. Der Grenzgang besitzt flir jeden Sportler einen point of no return, der gesucht und kalkuliert überschritten wird: in voller Konzentration und einer absoluten Mobilisierung ihrer Fähigkeiten, die sie auf alles gefasst sein lässt und sei es auch, dass der Gleitschirm über ihnen zusammenfallt oder der Griff mitten in der Steilwand ausbricht oder "wenn Steine kommen, dass man dann gleich zur Seite springt" (Kletterer). Die Sportler geben sichere Erwartungshorizonte auf und öffnen sich damit einerseits dem Zwang und anderseits den Möglichkeiten zur Improvisation und Innovation. Der Übergang zum spielerischen Umgang mit den neuartigen und kontingenten Bedingun31 Auch im traditionellen Wettkampfsport gehört Improvisation in unterschiedlichem Maße zum Handeln und Verhalten der Sportler dazu (beispielsweise in den Sportspielen). Improvisationen werden hier aber nicht freiwillig gesucht bzw. ins Zentrum gerückt: Ein Tor oder Korb ist ein Tor oder Korb und zählt entsprechend, unabhängig davon, wie dieses erzielt wurde, solange es nur regelgerecht erfolgt.

145

STIL-KULTUREN

gen dieser Praktiken kann als Überschreiten emer Schwelle im Sinne von Victor Turner (1989a) gedeutet werden, d.h. einem umfassenderen Wechsel der Haltung und des sozialen Status der Sportler, der mit der spielerischen Haltung angezeigt und so von der Gemeinschaft beglaubigt (oder aber abgelehnt) werden kann.

Modus interner Hierarchisierung Ebenso wie Körpertechniken und Tricks, so stellen auch Spontaneität, Improvisationsgeschick und Risikobereitschaft zentrale Merkmale der neuen Sportpraktiken dar, über die die Sportler Anerkennungen verteilen und interne Hierarchien ausbilden. So werden Felswände auf die unterschiedlichste Art und Weise durchklettert oder das Repertoire an Bewegungen, Tricks und Techniken beim Snowboarding und Paragliding anders kombiniert, wird die Risikobereitschaft durch die Wahl der Umstände oder die Spontaneität der Aufführungen betont und das Improvisationsgeschick herausgefordert. So nutzen beispielsweise Kletterer sehr unterschiedlich die Möglichkeiten der Absicherung in der Wand: Wann, d.h. wie viele Meter über dem Boden, setzt der Kletterer die erste Sicherung, wie viele Sicherungen setzt er insgesamt bis hin zur free-solo Variante, bei der er gänzlich ohne Seil klettert. Darüber hinaus ermöglicht eine Wand (ob Gebirge oder Halle) flir gewöhnlich verschiedene Routen, die sich erheblich im Schwierigkeitsgrad unterscheiden können: So lassen sich ausgefallene, schwierige und riskante Techniken auffällig oft an gut frequentierten Orten beobachten, an denen sich der Kletterer der Aufmerksamkeit der informellen Gemeinschaft sicher sein kann: Hier hängen die Kletterer beispielsweise nahezu im Spagat in der Wand oder plötzlich einarmig im Überhang, obwohl es auch andere Tritte und Griffkombinationen gibt, die weniger spektakulär, dafür aber sicherer sind. Die Vielfalt an Möglichkeiten dieser nicht standardisierten Räume wird nicht nur zum Spielraum für individuelle Fähigkeiten, sondern auch zum Ansatzpunkt für Selbstdarstellungen. Ebenso stellen auch die Snowboarder ihr Improvisationsgeschick und ihre Risikobereitschaft immer wieder von Neuern auf die Probe, indem sie die Geschwindigkeit bei den Sprüngen und Tricks variieren und rasante Manöver kurz vor dem Lift voller Wartender vorzeigen. Die Sportpraktiken werden zudem, wie bereits gezeigt, nicht alleine ausgeübt, sondern zumeist in Kleingruppen. Auch da, wo insbesondere beim Klettern und Snowboarding kein Publikum unmittelbar zugegen ist, werden unter Einsatz modernster Medien wie Serienfotografie und Videokameras die spektakulären Aktionen der Sportler aufgezeichnet. Die hier produzierten Bilder und Videoclips haben einerseits einen Beweischarakter und besitzen anderseits weit darüber hinaus eine weiterführende Funktion für die Formierung des Stils (ausführlich im nächsten Kapitel).

146

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

Eine Besonderheit bietet das Gleitschirmfliegen insofern, als dass diese Sportart gegenüber dem Klettern und Snowboarding bessere Möglichkeiten der Präsentation vor einem größeren auch nicht-sportlichen Publikum bietet und diese von erfahrenen Gleitschirmfliegern zum Teil mit hohen Risiken genutzt werden. Hierzu ein Paraglider: "Leute fliegen auf neuen Geräten oder für sie ungewohnten Geräten, äh, über ihre Verhältnisse und dann dieser faszinierende Effekt: ln I 000 Meter Höhe fliegt man schön langsam geradeaus und guckt sich in Ruhe die Gegend an und genießt das Gefühl. Kommt man in die Landeplatznähe so in I 00 bis 200 Meter Höhe, wo die ZUSCHAUER alle stehen, dann wird natürlich ALLES gegeben und alles riskiert, ähm, damit man bewundert wird."

Ebenso machen die Piloten mithin aus der Not, früher oder später landen zu müssen, gerne eine Tugend, so die selbstironische Formulierung eines Paraglider. Da er den Sommer über nicht ins Gebirge fahren konnte, verbrachte er die Wochenenden damit, bei den schlechten thermischen Bedingungen der Mittagszeit vom Startplatz aus zum nahegelegenen Freibad zu fliegen, um dort direkt auf der Badewiese zu landen: "Problematisch", so stimmten zwei weitere Piloten in das Gespräch ein, "sind nur die Bäume und die ganzen Badegäste auf dem Gelände", denen man zusätzlich "ausweichen muss, wenn man nicht direkt auf dem Sprungturm landen will!" Spontaneität, Risikobereitschaft und Improvisationsgeschick werden häufig effektvoll zur Aufführung gebracht, denn sie stellen Mittel sozialer Anerkennung dar und dienen auch als Kriterien der internen Hierarchisierung der Felder. Dabei zeigt sich, dass Risikobereitschaft für sich genommen noch keine Anerkennung erfährt, sondern nur eine gekonnte und damit angemessene Aufführung bei der Gemeinschaft positive Beachtung erfährt. Das bedeutet, ein spektakuläres Manöver beim Snowboarding oder Paragliding oder ein Kletterer, der eine schwierige Passage dynamisch überwinden will und scheitert, erfährt im selben Maße Ablehnung von der Gemeinschaft, je höher erstens das Risiko ist und zweitens die Gemeinschaft dem misslungenen Versuch fehlendes Können, Wissen oder maßlose Selbstüberschätzung zuschreibt. In diesen Fällen wird der Sportler nicht selten mit lautstarken Beschimpfungen und anschließend betonter Missachtung gestraft. Bemerkenswert ist, dass Risikobereitschaft und Können von den Sportlern aller drei Felder nicht als absolute Größe, sondern in einer je individuellen Relation erfasst und bewertet werden: Perfekte Technik, gleichviel auf welchem Niveau, ohne Spontaneität, Improvisationsgeschick und Risikobereitschaft demonstriert, zählt in diesen Praktiken kaum mehr als Selbstüberschätzung. Worum es geht, ist eine spezifische Balance zwischen dem Können und der gewählten Herausforderungen zu finden und diese vor der Gemeinschaft auf-

147

STIL-KULTUREN

zuführen. Die Angemessenheil der Herausforderung wird von den Sportlern erstaunlich klar erfasst, ist dem außenstehenden Beobachter aber nur schwer zugänglich. 32 Grund hierfür ist ein Wissens-Komplex, der das Material des Sportlers ebenso wie sein Repertoire an Körpertechniken und vor allem auch seine Bewegungsqualitäten umfasst (ausführlich zum Stil später). Am Insgesamt dieser Merkmale, der Stimmigkeit oder Passfahigkeit zueinander erfassen die Aktiven den Könnensstand eines Sportlers und beurteilen vor diesem Hintergrund seine Aufführungen im Grenzgang. Der Fokus auf die Passfahigkeit von Risiko und Können bedeutet damit auch, dass selbst dem relativen Anfanger ein prinzipieller Zugang zum System der Anerkennung geboten wird.33 Eine soziale Position wird in diesen Feldern durch Respekt gezollt, das heißt hier die Anerkennung für die Stimmigkeit dessen, was man zeigt. Das Maß an Risiko, das vom Sportler eingegangen wird, wird dabei von der Gemeinschaft nicht nur als eine relationale Größe gewertet, sondern diese Relation wird - mithin ästhetisch überformt zugleich absolut gesetzt: Unabhängig davon, ob der Sprung, das Manöver oder die gewählte Griffkombination unter den gegebenen Umständen tatsächlich ein Risiko darstellt, wird die Qualität der Awfuhrung beurteilt und dies immer auch so, als ob die Präsentation unter extrem riskanten Bedingungen erfolgen würde. Der Unsicherheitstypus Risiko setzt die Dialektik von Sicherheit und Unsicherheit nicht außer Kraft, vielmehr stellen Sicherheit und Unsicherheit auch in der modernen Konzeption Risiko die zwei Seiten einer Medaille dar (vgl. Bonß 1995: 86). In den Felder dieser Sportpraktiken wird dies aufbesondere Weise deutlich: Die Dialektik ist hier nicht zu trennen von der sozialen Funktion des Statusgewinns innerhalb der Gemeinschaften sowie - auf einer weit tiefer liegenden Ebene - vom spezifischen Konzept der autonomen Person, das in diesen Praktiken zur Disposition steht: Die Wahrnehmung von Unsicherheit als Risiko und hier die gewollte und gesuchte Konfrontation mit Risiken kann als Ausdruck eines Personenkonzepts verstanden werden: Die Sportler suchen Einmaligkeit durch Autonomie in Situationen der experimentellen Preisgabe der Person zu erzeugen und zu beglaubigen. Entspre32 Dieses Wissen konnte auch der Autor nur aufgrund der Teilnehmenden Beobachtung und nur in Ansätzen erschließen. 33 Dies konnte in den Feldern Klettern und Snowboarding auch anhand von Selbstversuchen erfahren werden. Dabei ist meine Disposition zur Risikobereitschaft, die vom traditionellen Wettkampfsport Leichtathletik geprägt ist, zunächst auf Ablehnung gestoßen: Meine hohe (aber für das Feld naive) Risikobereitschaft wurde als nicht passfähig zu meinem geringen Könnensstand eingeschätzt. Mit der allmählichen Angleichung einerseits des Könnens und anderseits vor allem der Sicht auf potentielle Risiken der Praktiken, wurde selbst mir ein gewisser Status zuerkannt. 148

KONSTELLATIONEN VON TECHNIK- SPIEL - RISIKO

chend laufen Diskurse, die die Unsicherheiten dieser Sportpraktiken als Gefahren deklarieren, im Ansatz konträr zum Selbstverhältnis der Sportler, das sich in der Vorstellung einer selbstkontrollierten Bewährung konstituiert. So wird auch das Image des "Hasardeurs", des "Draufgängers" u.ä. von den Probanden konsequent abgelehnt. In gewisser Weise spiegeln sich in der "Krise der diffusen Bildung" (Bourdieu 1993: l88f.) zwei zentrale Merkmale des öffentlichen Diskursraums zum Risikobegriff wider: Zum einen ein stetig ansteigendes Sicherheitspotentiae4 und zum anderen eine kategorische "Trennung zwischen objektiven Risiken und subjektiver Risikowahrnehmung" (Bonß 1995: 42). In Konsequenz daraus, kommt die soziale Konstruktion von Unsicherheit nicht in den Blick bzw. wird zu einem Thema der Psychologie, während die als objektiv gesetzten Risiken zu einem zu bewältigenden Problem der Naturwissenschaft und Technik werden (vgl. ebd.: 43). Demgegenüber lässt sich die scheinbar objektive Bestimmung von Risiken als kulturelle Formung der Risikowahrnehmung und-bewertungansehen (vgl. Johnson/Covello 1987; Krohn/ Krücken 1993: 5; Douglas/Wildavsky 1982a: 6f.; 1982b). 35 Die Wahrnehmung von Unsicherheit bzw. Ungewissheit und die daraus erwachsenen Umgangspraktiken lassen sich nicht trennen von einer je spezifischen gesellschaftlichen Konstruktion der Mensch-Welt-Bezüge: So werden beispielsweise abergläubische Sicherheitskonstruktionen (,Schwarze Katze' , ,Nicht mit dem linken Bein aufstehen' u.a.) erst aus einer umfassenden Einbindung des Menschen in eine kosmologische Ordnung ebenso verständlich, wie moderne Risikokonzeptionen auf der Grundlage rationaler, mithin mathematischer Berechnungen und Kontrollidealen vor dem Hintergrund eines als autonom gesetzten Mensch-Welt-Verhältnisses seine Bedeutung erlangt. Zentral ist dabei, dass letztlich jede und so auch die moderne Risikoauffassung als eine soziale Konstruktion aufgefasst werden kann, die spezifische Konzepte und Umgangspraktiken zur Bewältigung von Unsicherheit fördert? 6 Jenseits 34 Unsicherheit wird zu einem ,noch nicht bewältigten Problem' : Hierauf verweist letztlich auch der Begriff der "Komplexität", die eine Quelle von Ungewissheit insofern und nur solange darstellt, wie man ihre Bestimmungsfaktoren noch nicht hinlänglich genug erkannt hat (vgl. Bonß 1995: 42). 35 Entsprechend treten in unterschiedlichen kulturellen und möglicherweise auch sozialen Kontexten divergierende Formen der sozio-kulturellen Unsicherheitskonstruktion auf. Differenzen treten hierbei in folgenden Aspekten auf: Was wird als Unsicherheit wahrgenommen; wie, in welcher Art und Weise, ist es als Unsicherheit konstituiert; welche Handlungsstrategien sind mit dem Umgang mit Unsicherheit verbunden (vgl. Bonß 1995: 44). Die Arbeit von Douglas/ Wildavsky 1982 veranschaulicht dies exemplarisch an einer ethnographischen Untersuchung der Lele und ihren spezifischen Konstruktionen von Unsicherheit sowie dendarangebunden Umgangspraktiken. 36 Z.B. Opfergaben, Gebete, Beschwörungen, Präventionsmittel wie Amulette u.a. (vgl. Cashdan 1990: 16). Zugleich werden die vormodernen Unsicherheitskon-

149

STIL-KULTUREN

einer kulturalistischen Beliebigkeit verfügt jede Gesellschaft und jede historische Epoche über spezifische Unsicherheitsprofile und -konstellationen (vgl. Bonß 1995: 4 7). D.h., die sozio-kulturell bestimmte Wahrnehmung und der Umgang mit Unsicherheiten muss stets in Verbindung mit Rationalitätskriterien, Glaubensstrukturen u.a. gesehen werden. So merken Donglas und Wildavsky (1982a) kritisch an: "The notion ofrisk is an extraordinarily constructed idea, essentially decontextualized and desocialized." (Ebd.: 73) Die modernen Risikodiskurse sind von Leistungen der Abstraktion, der Dekontextualisierung und Individualisierung geprägt; sie sind untrennbar mit einem spezifisch modernen Konzept der autonomen Person verwoben. Risiko - so hat sich in diesem Kapitel aber auch zeigen lassen - hat durch die konkreten Umgangspraktiken auch eine Struktur gebende und gemeinschaftsstiftende Wirkung. Risiko ist dabei nicht das Ziel, sondern wird zu einem Mittel, dass wesentliche Gehalte der neuen Sportpraktiken zur Geltung bringt: Improvisationsgeschick, neue Bewegungsweisen und Demonstrationen einer virtuosen Passfähigkeit von Können und technischer Ausstattung, die als Ausdruck einer Expertenkultur und einer besonderen Autonomie der Person gelten können. Wenn die neuen Sportarten somit nicht in einer individualistischen Erfahrungssuche im Risiko aufgehen, sondern der Umgang mit Risiko in einem Kontext von Distinktionsprozessen zu verstehen ist, dann fordert dies dazu auf, eine analytische Folie zu entwickeln, die diese Zusammenhänge gerrauer zu beschreiben erlaubt. In Hinblick auf die in ersten Kapiteln herausgestellten Ordnungsstrukturen der neuen Sportarten, die insbesondere die Qualität von Bewegung in den Vordergrund rücken, soll die Analyse durch die Kategorie des "Stils" bzw. des " Stil-Könnens" im folgenden Kapitel erweitert und in einen umfassenderen Zusammenhang gestellt werden.

zeptionen in Absetzung von modernen als kollektiv und symbolisch gekennzeichnet, was aus meiner Sicht eine Verschleierung der hochgradig symbolischen Dimension nicht nur alltagspraktischer moderner Strategien im Umgang mit Unsicherheit darstellt, sondern selbst noch vordergründig objektiven Wahrscheinlichkeitsrechnungen in ihrer sozialen Relevanz zugrunde liegen. Welche Aussage macht eigentlich eine 20%ige Regenwahrscheinlichkeit bzw. wie richte ich mein Handeln auf der Grundlage dieses Wissens aus? 150

Sti 1-Kön nen

Die bisherige Analyse hat für die anschließenden Überlegungen Folgendes verdeutlicht: Die neuen Spielkulturen bilden Expertenkulturen aus, die sich anders als der traditionelle Wettkampfsport nicht am Konzept der messbaren Leistung und dem objektiven Vergleich, sondern an qualitativen Merkmalen orientieren. Das Ensemble dieser Orientiernagen wird, so das Ziel dieses Kapitels, mit dem Begriff des Stil-Könnens gefasst. Die Untersuchung des Komplexes von Stil und Können wird maßgeblich auch auf Arbeiten der Theater- und Tanzwissenschaft zurückgreifen, die mit Begriffen und Konzepten wie Choreographie, Improvisation, Aleatorik u.a. sowie Analysen und Historisierungen unterschiedlicher Tanzepochen, Tanzformen und (ästhetischen) Auffassungen fruchtbare Anschlüsse und analytische Werkzeuge für ein tieferes Verstehen der neuen Stilpraktiken im Sport bieten. Die Orientierung am Komplex aus Stil und Können ist, so der erste Schritt, eng verwoben mit choreographischen Strategien und performativen Spie/räumen, die als spezifische Formen der Einschränkung verstanden werden können und die die Praktiken anders etwa als aleatorische Strategien strukturieren und ordnen. Darauf aufbauend wird im zweiten Schritt danach gefragt, welche Formen, Strategien und Medien diese informellen Lehr-/Lernkulturell aufweisen, also danach gefragt, wie der Komplex aus Stil und Können ausgebildet und stetig bearbeitet wird. Die dabei aufzuzeigende intermediale Konstellation aus modernen digitalen Medien und Körperbewegungen wird im dritten Schritt theoretisch angebunden und auf Fragen der Zitatfähigkeit körperlicher Bewegungen und Gesten und auf den Transfer sportlicher Gehalte in außersportliche Felder diskutiert. Das Kapitel schließt mit einer Verdichtung der Analyseergebnisse zum Stil als Form sozialer Verpflichtung ab.

151

STIL-KULTUREN

Stil und Sport. Erste Annäherung Nähert man sich dem Begriff ,Stil' zunächst etymologisch, so bezeichnete er (lat. stilus = Griffel, Schreibgriffel, Schreibweise) ursprünglich die Schreibart eines Menschen und wurde später verallgemeinert zu der ,Art, etwas zu tun'. Dabei zeichnet sich jeder Mensch durch einen unverwechselbaren Stil aus. 1 Im Feld der Künste bezeichnet Stil die charakteristische und einheitliche Ausdrucks- und Gestaltungsweise bei der Prägung eines Kunstwerks, in der sich ästhetisches Ziel und Gestaltungskraft des Schöpfers vereinen. In einer erweiterten Perspektive lässt er sich als das Resultat eines komplexen Zusammenspiels beschreiben, das von vielfaltigen Faktoren bedingt wird: individuelles Künstlerturn des Schöpfers (Individual-Stil), Standes- und Volkszugehörigkeit (National-Stil), Geschmacksrichtung der Zeit (Zeit- oder Epochal-Stil), Vorbilder bzw. verwendete Form und deren Gesetze (Gattungsstil). Unter ,kohärentem Stil' wird der Stil verstanden, der aus der inneren Haltung, Weltanschauung und dem sozialen Formgefühl des Künstlers heraus erwächst und eine zeitgemäße Einheit bildet. Abweichungen hingegen (unbewusst oder gewollt) ftihren zu Widersprüchen und werden in der Kunst als Stilbruch oder Stillosigkeit verhandelt (vgl. Wiesing 1991 ; Müller 1981 ). Bereits mit dieser ersten Annäherung treten zentrale Aspekte der hier zu klärenden Fragestellung auf. Deutlich wird, dass Stil sowohl eine individuelle als auch eine sozial-historische Qualität aufweist, d.h. weder als unveränderlich noch als rein individuell oder gar beliebig gefasst werden kann. Kulturelle Phänomene wie Tanz, Theater und Sport zeigen, dass sich Veränderungen der Stilausrichtung ebenso in der Genese eines Feldes ausmachen lassen, wie unterschiedliche Stile gegenwärtig existieren können. Sie beeinflussen sich wechselseitig, mithin durchmischen sie sich (Entstehung hybrider Stile) oder grenzen sich voneinander ab, um sich hierüber profilieren zu können. So bedeutet die Entstehung und dynamische Entwicklung von so genannten informellen Sportarten, die nicht nur einen eigenen Stil herausbilden (vgl. Schwier 2000: 81 f. ; Gebauer u.a. 2004: 45ff.), sondern diesen zum zentralen Faktor des sportlichen Könnens erheben, keineswegs, dass das traditionelle Modell des Vereins- und Wettkampfsports deshalb vollständig abgelöst wird. Vielmehr profilieren sich hier (grob klassifizierend) zwei unterschiedliche Sportmodelle. Während der Stil in traditionellen Sportarten (insbesondere in kompositorischen Sportarten wie Turniertanz aber auch Sportarten wie Skispringen, Rhythmische Sportgymnastik oder Eiskunstlaufen) ebenfalls eine ästhetische Aufführungskomponente in die Bewertung einbeziehen, bilden die neuen Sportpraktiken den Stil in anderer Weise aus: Stil ist hier - so im Anschluss an das zweite Kapitel - nicht an Standardisierung und objektiven Siehe dtv-Lexikon zum Begriff "Stil" (1991) sowie Kluge (198922): 703.

152

STI L-KÖNNEN

Leistungsvergleich rückgebunden. Die Stile in den neuen Sportpraktiken sind deshalb aber nicht minder als Haltung eines totalen Engagements der Teilnehmer zu verstehen? Dabei verdeutlichte die Typologie der Bewegungen, dass der Stil der neuen Praktiken nicht allein in einer Produktion spektakulärer (Gesamt-) Bewegungen in der Vertikalen aufgeht, vielmehr weisen sie darüber hinaus eine Konzentration auf Mikrogesten und neuartige choreographische Strategien auf. Und eben diese setzten, so kann gezeigt werden, im erhöhten Maße Stil-Können voraus. Stil kann somit als jenes formierende Element betrachtet werden, das es erlaubt, diese Sportarten, die in klassischer Lesart oftmals als individuell und gleichzeitig beliebig charakterisiert werden, in ihrer starken formativen und durchaus auch normativen Verfasstheil zu begreifen. Die Darstellung dieser neuen Ordnungsstrukturen soll vor allem auch auf den Erwerb von Stil-Können fokussieren. Dabei werden die Mikrogesten von zentraler Bedeutung, die- wie im zweiten Teil dieses Kapitels gezeigt wird- innerhalb einer intermedialen Konstellation von Körper und digitalen Fotografien sowie Videos hervorgebracht werden. Kennzeichnend dafür ist, auch auf Seiten der Protagonisten dieser neuen Sportarten, eine analy tische Zergliederung der Bewegungen in ihre Mikrostruktur und eine Verdichtung von Gesten zu Posen im Medium der Bildlichkeit. Zudem wird verdeutlicht, dass die intermediale Konstellation ihre Wirkung keinesfalls nur unidirektional entfaltet, d.h. ausschließlich von einem Medium auf das andere wirkt: Vielmehr eröffnet diese intermediale Konstellation - so die These dieses Kapitels - neue Perspektiven und körperlich-sitmliche Zugriffe auf die Bewegungspraktiken, die in Form eines Ideals der Bildlichkeif der Bewegungen selbst auf die Praktiken zurückwirkt. Die in dieser sportlichen Praxis gesuchte und hervorgebrachte Bildlichkeit der Bewegungen und ihre Mikrogesten können als zentraler Bestandteil des Stils gekennzeichnet werden. Der Analyse der Bildlichkeit von Bewegungen und ihrer Verflechtungen mit digitalen Medien wie Fotografie und Video wird auch deshalb ein größerer Raum in diesem Kapitel gegeben, weil sie sich an aktuelle fachwissenschaftlich und insbesondere fachübergreifend diskutierte Fragen zur stetig wachsenden lntermedialität vielfaltiger Gesellschaftsbereiche anschließen lässt (vgl. Maar/ Burda 2004). Die Diskussion von Stil-Können und Bildlichkeit in den neuen Sportarten eröffnet über die spezifischen Felder hinaus Klärungsmöglichkeiten für aktuelle Diskussionsfelder in der Sportwissen2

Ein drittes Modell ließe sich im mittlerweile etablierten Sektor des kommerziellen Sports sehen, wie er mit diversen Fitnessstudios und Sporthallen mit Mietplätzen (für Tennis, Badminton, Squash) vorliegt. Es wäre zu untersuchen, inwieweit hier möglicherweise Mischformen von Leistungs- und Stilorientierungen vorliegen, die eine Eigenständigkeit oder aber Übergangsformen darstellen könnten.

153

STIL-KULTUREN

schaft, der Körper-Soziologie sowie den Film-, Theater- und Medienwissenschaften und kann daher einen Beitrag zur sich wandelnden Figuration von Bewegung, Bildlichkeil und Medien leisten. Dabei geht es darum, die oftmals vage oder allein auf technische Apparaturen fokussierte und damit verkürzte Diskussion um intermediale Phänomene aufzugreifen und um die zentrale Dimension der Körperlichkeit zu erweitern? Der Körper - so der hier entwickelte Ansatz - muss in seiner Qualität als Medium innerhalb einer intermedialen Konstellation berücksichtigt werden. Erst unter Einbezug der sozialen Körperlichkeit, der Genese und Strukturierung von einverleibten Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster u.a., können Effekte, Wirkungen und Potentiale von intermedialen Formationen seitens der Produzenten wie Rezipienten verstanden und gedeutet werden. Um Fragen nach einer das Subjekt konstituierenden Wirkung dieser Arbeit am Selbst konzeptualisieren zu können, bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem, was Stil für die neuen Sportarten bedeutet. Daher wendet sich die Arbeit zunächst einer konkreten Analyse dessen, was den Stil der neuen Sportarten charakterisiert und dem Stil-Lernen zu, um sich dann im darauf folgenden Kapitel der theoretischen Interpretation dieses intermedialen Zusammenspiels zu widmen.

Ordnungsstrukturen der Stilkulturen Die Teilnehmer der neuen Sportarten stellen sich einem Anforderungsprofil, das in gewisser Weise paradoxe Züge trägt. Sie kombinieren tendenziell widerstreitende Elemente miteinander, indem sie sowohl einen hohen Könnensstand anstreben und diesen in einer spezifischen Ästhetik ausarbeiten als auch Risikobereitschaft zu einem zentralen Kriterium der Einmaligkeit erheben. Deregulierung und Dezentrierung dieser Praktiken bilden damit nur eine Seite der Medaille. Diese Sportarten schließen einerseits schriftlich fixierte und damit auf Dauer allgemein verbindlich gestellte und idealiter objektivierbare Leistungskriterien zur Profilierung der Sportler aus. Diese Freiheit von aber bedeutet in den Untersuchungsfeldern keineswegs eine Freiheit zu Beliebigkeit und rein individueller Ausgestaltung. Anderseits verlangen sie dem Akteur andere Fähigkeiten und Eigenschaften ab : Sie fordern zu einer steten Arbeit am Stil auf, der eng verwoben ist mit den (körper-)technischen Besonderheiten, Tricks und Raffinessen der Sportpraktiken und sie bieten neue Selbstbilder an. Diese Arbeit am Stil vollzieht sich auf der 3

Die Diskussionen um Intermedialitäten lassen oft den Körper immer noch außen vor. Ausnahme sind zum Beispiel: Hardt (2008) "Tanz, Körperlichkeit und computergestützte Echtzeitmanipulation - eine Analyse am Beispiel der Tanzperformance "I, myself and me again" von LaborGras".

154

STI L-KÖNNEN

Grundlage andersartiger Regulierungsprozesse, die im Folgenden auch als choreographische Strategien verstanden werden sollen.

Choreographische Strategien und performative Spielräume Hinter dem Risiko und den spektakulären Aufführungen der neuen Sportarten, die ursprünglich die Aufmerksamkeit zu dieser empirischen Arbeit geweckt haben, hat sich die Orientierung am Stil-Können als zentrales Merkmal gezeigt. Letzteres konnte in einem ersten Zugang kontrastiv zum Wettkampfsport profiliert werden. Als konstitutive Merkmale dieser Praktiken haben sich aus der Analyse bislang im Wesentlichen folgendes ergeben: raum-zeitliche Flexibilisierung, räumliche Exklusivität und Öffentlichkeit und ein notwendiger Verzicht auf Normierung als Voraussetzungen der gesuchten Risiken. Ferner ist die Fragmentierung ein zentraler Modus der Ordnung, mit der auf singuläre Spots fokussiert wird, die für die Aufführung von Stil-Können besonders geeignet sind. Die zentrale Rolle des Risikos ist auch für die Ordnungsstrukturen und choreographischen Prinzipien dieser Praktiken Struktur bildend. Um die Konzeption der Praktiken erkennen und verstehen zu können, ist ein Blick auf die Rahmenstrukturen und die Wirkungen von Raum-ZeitStrukturen im traditionellen Wettkampfsport hilfreich.

Prinzipien der Einschränkung Die raum-zeitlichen Strukturen (ebenso wie das Reglement) geben im Wettkampfspürt nicht an, was innerhalb dieser Strukturen und Vorgaben tatsächlich passieren wird (vgl. Gebauer 1983b).4 Traditionell sportliche Rahmurrgen wirken in anderer Hinsicht auf das sportliche Geschehen ein: Im räumlichen Sinne stellt die Rahmung eine Verbindlichkeit für alle Beteiligten her und schafft so eine Verlässlichkeit hinsichtlich der zu erwartenden Ausdehnung der Dynamiken etwa eines Spiels. Zeitliche Rahmenvorgaben (beispielsweise Spieldauer, maximale Angriffszeiten u.ä.) haben ebenfalls keinen direkten Einfluss auf konkrete Spielzüge. Die Wirkungen der Rahmung und Reglementierung bestehen darin, dass sie eine begrenzte Anzahl von sinnvollen Spielstrategien (mit-)erzeugen, die auf die Raum-Zeit-Strukturen bezogen 4

Gebauer zeigt, dass das Reglement des modernen Sports die sportlichen Betätigungen zwar rahmt, d.h. gleichsam von außen eingrenzt und begrenzt, damit aber, wie oft fälschlicher Weise angenommen, noch kaum Aussagen darüber trifft, wie sich die Sportler innerhalb dieses Rahmens verhalten werden (vgl. auch ebd. 2002a). Das eigentliche Spielgeschehen wird begrenzt: "Was sich hingegen innerhalb dieses Rahmens abspielt an Erfolg und Versagen, Improvisation und Planung, hängt von vielen Faktoren ab, die auf diese Weise nicht vorgegeben werden können." (Grupe 1982: 103) Zur eingeschränkten Konkurrenz vgl. auch Simrnel (1995): 323-349.

155

STIL-KULTUREN

sind. Als Beispiele können hier gelten: bewusste Kräfteeinteilung über 12 Runden beim Boxen; taktisches Foulspiel; Retten des Vorsprungs in die Halbzeit bzw. sog. "Mauem" bis zum Abpfiffbei Mannschaftsspielen u.ä. Die Rahmurrgen des traditionellen Spotts ermöglichen die Hervorbringung spezifischer Strategien, insofern bestimmte Konstellationen, Handlungs- und Verhaltensweisen durch die Rahmung erst zu sinnvollen Strategien werden. 5 So sind beispielsweise beim Alpinen Skisport, anders als im Free-Style Snowboarding, Start und Ziel verbindlich definiert und auch die Streckenführung durch das Leistungsparadigma (Zeit) mit der optimalen, weil schnellsten Wegstrecke quasi vorgegeben. Abweichungen davon sind zwar prinzipiell möglich, aber aufgrund des Wettkampfgedankens wenig sinnvoll. Vor dem Hintergrund der Zeit- und Raumstrukturierungen orientieren sich die Bewegungen an der optimalen, wissenschaftlich analysierten und perfektionierten Technik. Improvisationen dieser quasi technischen Elemente sind gerade nicht erwünscht, sondern zeugen von einer Abweichung vom Ideal und bedeuten damit Verlust von Zeit. Bewegungen und Körpertechniken allgemein sind im traditionellen Sport funktional ausgerichtet. Sie sind selbst kaum Gegenstand der Aufführung, sondern gewinnen ihre Qualität (wenn überhaupt) nachgeordnet im Zusammenhang mit der Leistungsmessung und dem Vergleich. Demgegenüber weisen die neuen Sportpraktiken andere Ordnungsprinzipien auf. Allerdings geht die neue Orientierung mit ihrem Fokus auf Stil nicht in der traditionellen Terminologie eines Wechsels von der A-zur 8-Note auf. 6 Die Bühnen der neuen Sportarten sind durch Merkmale wie Kontingenz und risikoreiche Umgebungsbedingungen gekennzeichnet, denen eine neue Umgangsweise mit Zeit- und Raumstrukturen eigen ist, die sich als nichtlinear, innovativ und ebenso spontan wie kalkulierend begreifen lassen. Aufführung von Stil-Können auf diesen Bühnen bedeutet, die ungewöhnlichen, nicht planbaren und oftmals riskanten (Zufalls-)Einflüsse wie die von Naturkräften zu beherrschen. Ein Kontrollieren dieser Kräfte und Einflussgrößen verlangt vom Sportler permanent Improvisationen und erhebt sein Improvisationsge5

6

Die Entstehung und Etablierung sinnvoller Strategien steht zwar in Verbindung mit den raum-zeitlichen Rahmungen und Reglementierungen des Wettkampfsports, dürfen deshalb aber nicht als statisch-überhistorische Kausalitäten verstanden werden. Elias und Dunning weisen auf der Grundlage ihres figurationssoziologischen Ansatzes darauf hin, dass diese Rahmurrgen und Reglementierungen Teil des " Figurationsstromes" sind (Elias/Dunning 2003: 356), d.h. auch, dass die "Spannungsbalance" eines Sportspiels (etwa zwischen Angriff und Verteidigung) sich aufgrund der wandelnden Strategien verändern kann und langfristig zu einer Anpassung des Reglements führt (ebd.: 354). Sportarten wie Eiskunstlaufen oder Turnen weisen sowohl eine A-Note für die Leistungsstärke bestimmter Elemente einer Kür auf, als auch eine 8-Note, die die stilistische Ausführung und Kombination der Elemente bewertet.

156

STI L-KÖNNEN

schick in Verbindung mit der gezeigten Risikobereitschaft zu einem zentralen Kriterium des Stil-Könnens. Die gruppeninterne Positionierung eines Sportlers beruht nicht auf objektiven und schon gar nicht auf einem einzelnen Kriterium im Sinne des c-g-s Systems (Höhe, Weite, Geschwindigkeit), sondern resultiert aus einer komplexen Funktion, die Könnensstand und Schwierigkeitsgrad ebenso wie stilistische Sicherheit, Spontaneität, Risikobereitschaft und Improvisationsgeschick als wesentliche Variablen enthält. Über eine negative Abgrenzung hinaus stellt sich jedoch die Frage, welche Ordnungs- und Handlungsprinzipien für diese Praktiken bestimmend sind, die offensichtlich ohne institutionelle und objektiv genormte Rahmungen und dennoch nicht beliebig oder rein individuell konstituiert sind? Die Charakteristik von flexiblen Variablen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch hier Ordnungsstrukturen gibt. Das Risiko dieser Praktiken schließt zwar die Möglichkeit von aleatorischen Einflüssen ein, ist aber im Sinne von Risiko prinzipiell von der reinen Aleatorik als spezifisches Ordnungsprinzip zu unterscheiden. Aleatorik versus Grenzgang als Ordnungsprinzipien

Aleatorische Einflüsse können zu einem gewissen Grad ein Bestandteil des Risikos werden, nicht aber werden sie von den Sportlern als alles bestimmende Instanz gesucht. Die Aleatorik zum Prinzip zu erheben, bedeutet mehr als die Standardisierung und Umsetzung etwa von einer festgelegten Norm abzulehnen. Dies wird deutlich, vergleicht man die neuen Sportarten mit Praktiken, die explizit auf Aleatorik beruhen, wie zum Beispiel bestimmte Strömungen der zeitgenössischen Musik oder des Tanzes. Dabei wird deutlich, dass es sich hierbei um den Einsatz von Zufallseinflüssen als Strategie handelt, die nicht nur mit Standardisierung, sondern ebenso mit Vorstellungen von Improvisation bricht. Improvisation wird unter Maßgabe aleatorischer Verfahren nicht als Quelle von Freiheit und Neuern begriffen, sondern vielmehr als hemmend gegenüber der Emergenz von Neuern (vgl. Gendolla/ Kampbusmann 1999; Großmann 1999; Grupen 1999, Reck 1999). Improvisation wird als quasi standardisiertes Verfahren verworfen, das als situationsbedingte Anpassung nach wie vor klassisch choreographischen Vorgaben folgt, die damit weiterhin Struktur bestimmend bleiben. Aleatorische Prinzipien sind somit im zeitgenössischen Tanz grundlegend von einer Idee der reinen Improvisation zu unterscheiden: Zufällige, nicht vorhersehbare oder planbare Einflüsse werden explizit als Strategie eingesetzt, mit dem Ziel, die vielfältigen und im Tanz prinzipiell nicht anders als im Sport tief in das soziale Gewebe der körperlichen Hexis eingeschriebenen "Techniken des Körpers" (Mauss 1975: 207f.) aufzuweichen: Solche aleatorischen Prinzipien werden zum Beispiel in den Choreografien von Merce Cunningham verwendet, der 157

STIL-KULTUREN

über sem Programm "Live-Forms" emen Computer beliebig Bewegungen kombinieren lässt, die die Tänzer dann ausführen müssen, und hierüber mit den eintrainierten und vielfach impliziten Bewegungslogiken der Tänzer bricht (vgl. BrandsteUer 2005a 66; Huschka 2002). Die technischen Spielgeräte, die stilistischen Vorgaben sowie das kallmlierte Spiel mit dem Risiko in den neuen Sportarten können als Merkmale gewertet werden, die neue Bewegungssituationen zugleich hervorbringen und einschränken. Sie bilden ein komplexes Ensemble, das die Sportler immer wieder vor neue Situationen und Anforderungen stellt: Vertraute, habitualisierte Alltagsmotoriken werden ausgesetzt und die Ausbildung neuer Bewegungserfahrungen und Körpertechniken provoziert (vgl. Bourdieu 2001: 206f.). Anders aber als Caillois dies am Beispiel der Glücksspiele ausfUhrt, sind diese Sportpraktiken nicht durch eine vollständig einflusslose Hingabe des Sportlers an die Gesamtsituation bestimmt (vgl. Caillois 1960: 25). 7 Die Sportler setzen sich hier gewollt den kontingenten Einflüssen beispielsweise einer vorher nicht exakt bestimmbaren Umgebung aus. Das reine Zufallsprinzip aber ist damit nicht bestimmend: Zufallseinflüsse sind hier als eine Funktion des Risikos zu verstehen, d.h. sie werden einerseits unter dem Gesichtspunkt der Beherrschbarkeit und anderseits als zusätzliche Einschränkung der Planbarkeit nur sehr graduell zugelassen. Möglich ist dies aufgrund des kalkulatorischen Charakters von Risikohandlungen. Dabei ist im Sport mit fortschreitender Erfahrung und dem spielerischen Umgang mit den neu gewonnenen Bewegungsräumen weniger ein rein rational berechnender Umgang mit den Risiken typisch als ein praktisches Erfahrungswissen, das die Eventualitäten und potentiellen Gefahrenmomente intuitiv erfasst und es dem Sportler ermöglicht, seine Bewegungen noch während der Ausführung zu steuern (vgl. Bourdieu 2001: 209). Hierzu zwei Beispiele: Beim Klettern kann der Sportler das Risiko im fließenden Übergang zu potentiellen Zufallseinflüssen variieren, indem er bestimmte Griffe und Tritte, die Anzahl der Sicherungen bis hin zum freien Klettern mehr oder weniger bekannter oder gar vollkommen neuer Routen ohne Seil wählt. Beim Paragliding kann der Pilot die Geschwindigkeit bei Steilspiralen regulieren und damit die Wirkung der Zentrifugalkraft kontrollieren, die in extremen Fällen Bewusstlosigkeit herbeiführen kann. Ebenso bestimmt der Sportler selbst den Abstand zum Boden bei spektakulären Manövern und kann damit die Möglichkeiten von Luftverwirbelungen oder abreißender Thermik als Gefahrenquelle ein- oder ausschließen. Mit der Steigerung des Risikos bzw. der Hereinnahmen aleatorischer Einflüsse wächst die Anforderung an die Sportler, schnell und fehlerfrei zu reagieren. Aufgrund der Verwendung technischer Sportgeräte bedeutet

7

Dem Schicksal, Glück oder Zufall ausgeliefert, "verläßt man sich auf alles, nur nicht auf sich selbst" (Caillois 1960: 25).

158

STI L-KÖNNEN

dies in den meisten neuen Sportarten, dass die Sportler eine perfekte Passung zwischen Körper und Technik ausgebildet haben (vgl. Stern 2006b). Steuerung und Störung müssen im Sinne eines hoch sensiblen Gleichgewichts ausbalanciert sein. Mit zunehmenden Störgrößen und nicht kalkulierbaren Einflüssen wird die perfekte Passung und ein darauf fein abgestimmtes praktisches Wissen zur alles entscheidenden Instanz. Das Risiko eines Manövers, Sprungs oder einer Klettertour wird dabei flir sich genommen von den Sportlern weit weniger hoch gewertet, als zunächst angenommen. Die Risikobereitschaft stellt zwar ein zentrales Kriterium für die interne Hierarchisierung dar, ist jedoch zugleich als Kriterium an den Stil gebunden. Kurz, eine riskante Handlung erhält nur dann Anerkennung, wenn sie stilgetreu vorgeführt wird. Risiko ist solange ein wichtiges Prinzip, wie die sportliche Aktivität den Stil verwirklicht. Der Stil bleibt in diesen Sportarten das übergeordnete und bestimmende Kriterium, das durch riskante Anteile zusätzlich betont, weil erschwert wird. Risiko lässt sich als Prinzip der Einschränkung verstehen, das die Sportler herausfordert, Stil-Können, Virtuosität und Improvisationsgeschick auf die Probe und damit unter Beweis zu stellen. Die neuen Sportpraktiken folgen einem Prinzip der Einschränkung, das neben dem Risiko in besonderer Weise die Mikrogesten als Kriterien aufweist: Im Zusammenwirken potenzieren sie ihren Einfluss auf die Praktiken und wirken stilbildend auf die Bewegungsqualität und letztlich auf die Praktiken insgesamt ein.

Analogien außerhalb des Sports: Zeitgenössischer Tanz Der Einsatz risikoreicher Einflüsse als Prinzip der Einschränkung und Betonung spezifischer Bewegungsqualitäten findet strukturell in einem Feld außerhalb des Sports interessante und aufschlussreiche Entsprechungen: Die neuen Sportpraktiken erweisen sich strukturell weit mehr bestimmten Strömungen des zeitgenössischen Tanzes ähnlich als dem traditionellen Sport (vgl. ballet-tanz 2000). 8 Es ist deshalb lohnend, über den Sport hinaus gegenwärtige Strömungen und Entwicklungen im Tanz und der Performance-Art als Vergleichsfolie heran zu ziehen, die in ähnlicher Weise wie die Spiel- und Sportkulturen hoch dynamische Entwicklungen und wissenschaftlich bearbeitete Analysen aufweisen. Der Körper wird im zeitgenössischen Tanz in neuartiger "raum-zeitlicher Artikulation" bearbeitet und dabei "bis an die Schmerzgrenze ausgereizter Gelenke" gebracht (Huschka 2002: 348). In den neuen Sportpraktiken zeigt sich dies a) als eine Beschleunigung, b) eine choreographische Ausgestaltung 8

Das Jahrbuch der Zeitschrift ballet-Tanz (2000) titelt "Tanz ist Sport" und thematisiert Gemeinsamkeiten, Übergänge und Differenzen zwischen beiden Feldern.

159

STIL-KULTUREN

der Vertikalen (vgl. Elton 2000) und/oder c) als eine Betonung extremer Körpertechniken und Körperhaltungen. So ermöglichen beim Klettern extreme Fingertechniken den Zugang zu quasi glatten Wänden und werden insbesondre beim Hallenklettern effektvoll in Szene gesetzt. Ebenso werden extreme Verwringungen und Körperhaltungen in Sptüngen beim Snowboarding und Kite-Varianten gesucht, die als zusätzliche Erschwernis mit spezifischen Handhaltungen u.ä. oftmals entgegen jeder Funktionalität der Bewegung auf eine ästhetische Ausgestaltung der Vertikalen gerichtet sind. In den neuen Sportpraktiken öffuet sich ein Spektrum, das von schnellen, dynamischen, spektakulären und extremen Körperhaltungen zu Mikrogesten und Posen reicht, die das Ideal einer Stillstellung in Bewegungsbildern selbst anstreben (ausführlich später). Ein Spektrum, das die Akteure auf den Bühnen einer fragmentierten Praxis zur Aufführung bringen. Dabei begünstigt die Konzentration auf einzelne Spots die Betonung des einzelnen Sportlers: Erstens werden die Sportler als Einzelperson und ähnlich einer Tendenz im zeitgenössischen Tanz in "solistischer Dominanz" hervorgehoben (Huschka 2002: 348). Und zweitens ist der Stil der Bewegungen (nicht nur die Pose nach der Bewegung) von einer Theatralität der stopmotion geprägt, die in einem neuartigen Gestus quasi unbeschäftigter, unbeteiligter und unbetührter Coolness vor, während und nach der Bewegung ostentativ zur Schau gestellt wird. 9 An diesem Effekt haben die Mikrogesten entscheidenden Anteil: Mit der Einarbeitung von Mikrogesten wie spezifischen Handfassungen und Blickrichtungen in eine hoch dynamische Bewegung, wird durch die Mikrogesten auf einen neuen Referenzrahmen verwiesen, der nicht zur tatsächlichen Bewegungsausrichtung gehören muss (z.B. Parabel eines Sprungs). So werden beispielsweise diese Gesten und Posen von den Sportlern am höchsten Punkt eines Sprungs in die Bewegung eingepasst. Damit bringen sie gestisch - in einem flüchtigen Moment - einen Referenzrahmen hervor, der nicht mehr auf den Sprung, sondern auf die Horizontale verweist und damit auf Bewegungsweisen des Fliegens und Schwebens. Deutlich zeigt sich dies beim Snowboarding in den diversen Sprüngen, bei denen die Boarder beispielsweise über kurzzeitig ausgestreckte Arme eine horizontale Bewegungsausrichtung am höchsten Punkt des Sprungs andeuten, die der tatsächlichen Bewegungsausrichtung in der Vertikalen entgegen gerichtet ist. Die Aufmerksamkeit für spezifische Bewegungsqualitäten in den neuen Sportpraktiken zeigt sich bedingt auch in der Sportberichterstattung traditioneller Individualsportarten: So werden ehemalige Spitzensportler als Experten hinzugezogen, die Detailanalysen der Bewegungen einbringen. Der Unter9

Zum Topos des Stils im Tanz siehe auch BrandsteUer (2005a), der hier "in der paradoxen Relation von Still/Motion eine Poetologie von Bewegung als NichtBewegung im Tanz bezeichnet" (ebd.: 66).

160

STI L-KÖNNEN

schied liegt jedoch darin, dass in traditionellen Sportarten der Fokus auf die Produktion von Leistung liegt. So wird beispielsweise ein besonders harmonischer oder ästhetischer Fahrstil beim Alpin Ski zwar bemerkt, im selben Zuge aber als ineffizient, weil nicht hart genug an der Falllinie o.ä., kritisiert. 10 Möglicherweise zeigen die neuen Spiel- und Sportpraktiken in besonderer Deutlichkeit einen neuartigen Fokus, der auch im traditionellen Wettkampfsport zunehmend an Relevanz gewinnt: Die Konzentration auf stilistische Details wird verstärkt von der Medienberichterstattung aufgegriffen und verdeutlicht zugleich, dass die Gewichtung in unterschiedlichen Sportmodellen zu regelrecht entgegen gesetzten Wertungen führen kann (ausführlicher zur Gewichtung als Ordnungsprinzip später).

Performative Spielräume Die Tatsache, dass die Akteure der neuen Sportpraktiken gewollt Kontingenz einbeziehen, bedeutet nicht, dass die Praktiken beliebig sind. Das bindende Strukturmerkmal dieser Praktiken liegt in der Orientierung am Stil-Können. Während der traditionelle Leistungssport notwendigerweise Standardisierung und damit weitgehende Ausgrenzung von Zufallseinflüssen anstrebt, rücken in den neuen Sportpraktiken Bewältigungsstrategien wie Improvisation, Kreativität und stilgetreue Varianz ins Zentrum, die sich in einer experimentellen Preisgabe der Person ausdrücken: Nicht standardisierte Leistungsproduktion, sondern eine Bewährung der Person unter riskanten und sich stetig verändernden Bedingungen ist bestimmend für die Präsentation von herausragendem Können. Nicht schriftlich fixierte Wettkampfergebnisse, sondern spektakuläre Bewegungsbilder, Gesten und Posen stellen die angestrebten Resultate der neuen Sportpraktiken dar. Die neuen Sportpraktiken verdeutlichen mit ihrer Akzentsetzung spezifische Gehalte sportlichen Handeins und Verhaltens, die dem Wettkampfsport keineswegs vollkommen fremd sind, aber mit steigender Leistungsorientierung in den Hintergrund treten bzw. von der objektiven Vergleichslogik gleichsam überformt werden können. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass den neuen Sportarten mit der Orientierung am Stil zwar ein umfassendes, aber kein streng gefasstes 10 Gleiches gilt auch fiir die Sportspiele: Auch hier kann die herausragende körperliche Fähigkeit wie beispielsweise die Virtuosität eines einzelnen Fußballoder Basketballspielers in den Fokus der Massenmedien geraten. Der zentrale Unterschied liegt jedoch darin, dass die Virtuosität nur im Falle des erfolgreichen Abschlusses eines Spielzuges positiv bewertet wird und andernfalls als "ver-spielt" kritisiert wird. Die Betonung virtuoser Spielleistungen (noch dazu einzelner Sportler) ist im Leistungssport überaus selten geworden. Was zählt, ist das Resultat und dieses wird von den Leistungskriterien vorgegeben: ein zufälliges, unglückliches, ungeschicktes Tor zählt ebenso wie ein anderes. In den neuen Sportpraktiken hingegen zählt der Stil bzw. das Stil-Können alles.

161

STIL-KULTUREN

Ideal zugrunde liegt: Während dem Wettkampfsport (zumindest für die Individualsportarten) ein (Grund-)Gedanke des only one best oder only one best way zugrunde liegt, zielen die Sportler auf eine permanente Arbeit an sich selbst, die gerade nicht in standardisierten, sondern kontingenten Settings geleistet wird. In der neuen Sportform gibt es nicht den Sieger ebenso wie es keine Wettkämpfe gibt. 11 Die sprachliche Differenz, die die Sportler mit dem Begriff "Contest" markieren, ist weit mehr als ein Anglizismus. Die Sportler setzten sich damit vom traditionellen Leistungskonzept und den objektiven Rahmenstrukturen und rigiden Eindeutigkeiten des Wettkampfsports ab: In den neuen Sportpraktiken wird weder gemessen noch gezählt, sondern Improvisationsgeschick, Risikobereitschaft und individuelle Stilqualität im Rahmen des Stil-Könnens geschätzt. 12 Die Strukturmerkmale der neuen Praktiken- in der bisherigen Analyse als Fragmentierung, Verdichtung auf singuläre Spots, Akzentuierung von Risikobereitschaft und Improvisationsgeschick sowie F okussierung auf Mikrogesten gekennzeichnet - können als spezifisch choreographische Prinzipien und Strategien verstanden werden. Choreografische Strategien bedeuten hier allerdings nicht wie in den traditionellen Praktiken innerhalb und außerhalb des Sports (Wettkampfsport, klassischer Tanz, traditionelles Theater) eine festgelegte und gleichbleibende "inszenatorische Rahmenstruktur", innerhalb dessen sich relativ verlässlich ein "Entwicklungsspektrum von Stimmungen oder Handlungen" entfaltet (Huschka 2002: 349). Raum- und Zeitstrukturen werden in den neuen Sportarten als choreographisches Prinzip der Praktiken zergliedert und verdichtet. Älmlich dem Wechsel von klassischen Konzepten des Tanzes hin zu Strategien des "Zeitgenössischen Tanzes" (vgl. BrandsteUer 2005b) entfernen sich die neuen Praktiken von Rahmenkonzepten, die durch ein enges Verhältnis von Skript und Inszenierung geprägt sind oder von festgeschriebenen und normierten Raum-Zeit-Strukturen und Reglementierungen. Vielmehr werden performative Spielräume gesucht und bewusst in die

11 Damit soll nicht gesagt sein, dass es nicht auch in diesen Sportatten zur Ausbildung von Wettkampfformen gekommen ist, sondern dass durch die Wettkampforientierung auch diese Praktiken einer spezifischen Transformation unterzogen werden, die neue Akzente setzt und andere marginalisiert. 12 Die neue Sportform geht damit nicht in paradox anmutende Übertragungen wie ,ein Sportspiel ohne Tore' oder ,Hochsprung ohne Latte' auf. Vielmehr zeigt eine aktuelle Entwicklung im Fußball, was aus einer traditionellen Spottart wird, wenn sie im Zeitgeist umgearbeitet wird: Das so genannte street-soccer weist zwar noch Tore auf, die Spieler fokussieren aber nicht darauf, möglichst viele Tore zu erzielen, sondern nutzen das gesamte Spielfeld für die Aufführung virtuoser Ball- und Körperbeherrschungen, mit denen der Gegenspieler bloß gestellt werden soll. Der Abschluss (Tor) wird nur gesucht, wenn dem Spieler vorab eine gute Perfonnance gelungen ist und dies selbst dann, wenn er frei vor dem leeren Tor steht.

162

STI L-KÖNNEN

Bewegungsarrangements implementiert. 13 In diesem Sinne liegt dem hervorstechenden Moment des Risikos in den neuen Sportpraktiken eine choreographische Strategie zugrunde: eine Suche nach Spielräumen des Nichtgerahmten, nicht Reglementierten, des Unerwarteten, Überraschenden und Zufälligen und damit immer auch des Risikos. 14

Choreographische Konzepte und soziale Strategien Die soeben beschriebene Entwicklung findet einen Niederschlag auch in veränderten Auffassungen und sich wandelnden Konzepten von Choreographie (vgl. Brandstetter 2005b). Für eine Analyse der aktuellen Dynamik im Feld des Sports sind insbesondere die Entwicklungen des späten 20. Jahrhunderts im so genannten Zeitgenössischen Tanz von Interesse, der dem Sport zeitlich vorangehend vergleichbare Wandlungen aufweist. Der zeitgenössische Tanz kann als eine analytisch avancierte und ausgearbeitete Hintergrundfolie dienen, auf der die neuen Gegenstandsfelder des Sports weiter profiliert werden können. Der Begriff der Choreographie, der hier als zentrale Referenz verwendet wird, bedarf aufgrw1d einer starken Wandlung choreographischer Konzepte zumindest einer knappen Einfiihrung. Im Anschluss können die Entwicklungen der Gegenwart präziser auf Analogien zum Sport untersucht werden. Anfänglich (spätes 17. Jahrhundert) bezeichnete der Begriff der Choreographie entsprechend der Etymologie des Wortes die Tanznotation, d.h. die Fixierung von Tanz als Schrift. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff auch den Ablauf eines Tanzes, den es zu beschreiben galt, und schließlich hat sich der Begriff Choreographie im 20. Jahrhundert in seiner Bedeutungsbandbreite abermals weiter ausgefächert. Zwar bezeichnet er in der Regel immer noch die grundlegende Struktur und den Akt der Kreation einer Bewegungsfolge, inzwischen bezieht er aber auch improvisatorische Strukturen mit ein, die zum Beispiel als Real-Time-Choreography bezeichnet 13 Aktuelle Arbeiten zu modernen Theaterkonzepten heben zwar zu Recht hervor, dass Skript und Inszenierung auch im traditionellen Theater nicht zusammenfallen, sondern mit Blick auf die Auffiihrungen stets ein performatives Moment besitzen (vgl. Fischer-Lichte 2001 , 2003): So bestimmen beispielsweise die dynamischen Wechselwirkungen zwischen Zuschauer und Schauspieler eine Aufführung maßgeblich mit. Diese Perspektive auf ,Inszenierungen' rückt das Ereignishafte und die Differenz oder gar Emergenz von Neuern ins Zentrum der Aufinerksamkeit und wird begrifflich mit dem der ,Aufführung' markiert. 14 Angestoßen durch den performativ turn in den Sozialwissenschaften rücken beispielsweise auch die Probenprozesse und damit der Entstehungsprozess von Tanz- und Theateraufführungen in den Fokus wissenschaftlicher Reflexion. Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und Bewegungsmaterial greifen Choreographen - so hat sich gezeigt- auf Techniken zurück, die das Ungeplante, Noch-nicht-Gedachte, das Ungewöhnlich usw. entstehen lassen sollen.

163

STIL-KULTUREN

werden (vgl. Brandstetter 2005b ). 15 Dies ist eine folgenreiche Ausweitung des Begriffs, insofern damit die Aufmerksamkeit auf die performativen, prozessorientierten Aspekte von Bewegungen gelenkt wird. Choreographie ist damit nicht mehr ausschließlich auf eine repräsentative Funktion bezogen, die auf Dokumentation und dem Ideal der exakten Planbarkeit und Reproduktion von Körper- und Tanzbewegungen beruht. Es lohnt sich trotz dieser Erweiterung des Choreographiebegriffs, der in dieser Weise adäquater auf die neuen Sportpraktiken anzuwenden ist, noch für einen Moment auf die tanzwissenschaftliche Reflexion der Tanznotation einzugehen: Dabei wird deutlich, dass unabhängig davon, ob der Begriff eng oder weit geführt wird, er zu keinem Zeitpunkt als ein universelles oder überhistorisches, sondern zeitbezogenes und soziales Aufzeichnungs- bzw. Ordnungssystem verstanden wird (vgl. Jeschke 1983, 1999). Die Geschichte der Choreographie und ihrer wandelnden Konzepte wird auch als ein sich wandelnder Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Auffassungen über choreographische Konzepte einerseits und je unterschiedlichen gesellschaftlichen Körperkonzepten, Idealen und sozialen Funktionen und Stilen von Körper und Bewegung andererseits ausgewiesen. Ein Verständnis von Choreographie als Schreibsystem der Notation von Tänzen mit dem Ziel ihrer möglichst exakten und planbaren Reproduktion gründet auf einer bestimmten gesellschaftlichen oder sozialen Notwendigkeit: Entsprechend der sozialen Funktion oder (impliziten) Strategie, die mit der Notation verfolgt wird, fokussiert das Ordnungssystem nur auf ganz bestimmte Aspekte von Körper und Bewegung. Die Geschichte der Choreographie und ihres Wandels lässt sich als eine Geschichte des Wandels gesellschaftlicher Notwendigkeiten, sozialer Funktionen und Modi von Repräsentation auffassen (vgl. Husemann 2009; Hardt/ Maar 2007; Kruschkova/Lipp 2004; Hardt 2004). Die je spezifischen Konstellationen, die unterschiedliche Auffassungen von Choreographie bestimmen, weisen strukturell betrachtet zwei Ausrichtungen auf. Zum einen korreliert Choreographie als Aufschreibsystem mit einer repräsentativen Funktion einer bestimmten sozialen Schicht (der höfischen Gesellschaft) und zum anderen beziehen sichjüngere Auffassungen, die die prozessuale und gestaltende Komposition von Bewegungen im Raum betonen, auf die theatrale Funktion von Tanz (vgl. Brandstetter 2005b/c; Warstat 2004; Fischer-Lichte 2000). Eine Übertragung dieser Perspektive auf die aktuellen Wandlungsprozesse des Feldes der Spiel- und Sportpraktiken ist in der vorliegenden Arbeit konzeptionell bereits angelegt: Im Gegensatz zu den neuen Stil-Kulturen weist der Wettkampfsport ftir jede Sportart eine Art 15 Prägend hierfür ist zum Beispiel der Begriff der "Real Time Choreography'' des erfolgreichen Choreographen William Forsythe, langjähriger, erfolgreicher Leiter des "Ballett Frankfurt", der damit seine auf improvisatorischen Strategien basierenden Tanzvorstellungen bezeichnet.

164

STI L-KÖNNEN

Notationssystem im traditionellen Sinne auf: Lehrbücher zur Bewegungs-, Technik-, Taktik- und Strategieschulung. In der soziologischen Forschung wurde diesem umfangreichen Corpus - noch dazu unter der Fragestellung einer impliziten repräsentativen Funktion- bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt.16 Hier liegen detaillierte Bewegungsanalysen methodisch gegliedert und didaktisch aufbereitet vor. Bewegungsabläufe ebenso wie einzelne Bewegungsphasen werden in ihrer raum-zeitlichen Koordination und Dynamik beispielsweise in Lehrbildreihen idealtypisch notiert. Diese Notationssysteme liegen im gesamten Spektrum des Sports von hoch reglementierten Individualsportarten wie Kunstturnen und Leichtathletik bis zu den Mannschaftssportspieleu vor. Differenzen zwischen den Sportarten, und dies wäre aus soziologischer Perspektive ein erstes Merkmal, treten in der Art und Weise auf, in der die idealtypisch notierten Bewegungsabläufe und Koordinationsund Kooperationsmuster vom Leistungsbewertungssystem der Sportart erfasst werden. So wird die Qualität der Bewegungsausführung zu einem zentralen Kriterium in Sportarten wie dem Kunstturnen, Turmspringen u.ä., während sie beispielsweise in Sportspielen (Fußball, Basketball usw.) oder Individualsportarten wie der Leichtathletik von der Leistungsbewertung nicht erfasst wird. 17 Darüber hinaus werden die Notationssysteme selbst nur selten als Ausdruck sozial-historisch bedingter Ordnungsvorstellungen begriffen, sondern eher wie eine naturwissenschaftliche Bewegungswissenschaft universalistisch und idealtypisch. Die Idee der Notation von Bewegungsabläufen muss für die neuen Sportpraktiken anders gefasst werden. Diese entziehen sich mit ihren spezifischen Bewegungsweisen und neuartigen Körpertechniken nicht prinzipiell einer Notation, allerdings erheben die Akteure die Flüchtigkeit, Unplanbarkeit und Einmaligkeit der Bewegungsaufführungen zu zentralen Stilkriterien. Diese lassen sich im Medium der Schrift (oder des normierten Bildes) meist nicht erfassen. In der neuen Bildlichkeit der Bewegung, dem Gestus der Coolness sowie den Bewegungsbildern als Stil-Modelle vereint sich die theatrale Betonung der Praxis mit einer spezifischen, hier bildlich notierten und modellhaften Anleitung zur Ausbildung des sozial-distinktiven Stils. Die neuen Sport16 Dieses Forschungsdesiderat wird vom Autor im Rahmen eines DFG-Unterprojekts des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Performativen" an der Freien Universität Berlin in den kommenden Jahren 2008-20 I 0 aufgegriffen und bearbeitet. 17 Wie ein Tor erzielt wird, so lange es regelgerecht erfolgt (und das heißt vom Schiedsrichter anerkannt wird), ist für das Ergebnis eines Sportspiels nicht bedeutsam. Eine parallel zur Ergebnisorientierung des Sports existierende Praxis wie "Tor des Monats" greift stilistische und spektakuläre Aspekte von Sportspielen aufund bewertet diese gesondert. An diesem Beispiel wird deutlich, dass auch der traditionelle Wettkampfsport ein Feld ästhetischer - und nicht allein funktional-leistungsorientierter- Kriterien ist bzw. sein kann.

165

STIL-KULTUREN

praktiken gehen (in Anlehnung an die Analyse des Choreographiebegriffs im Tanz) nicht in einer Konzeption der sozialen Funktion qua starrer, vor-definierter sozialer Ordnungen auf: Die choreographischen Prinzipien dieser Praktiken rücken die Strategien von Bewegungserzeugung, Prozessualität und performativer Ereignishaftigkeit ebenso ins Zentrum, wie sie eigene StilModelle in Form von Serienfotografien, Videoclips und Bewegungsbilder erzeugen. Anders als im traditionellen Sport folgen die Bilderserien aber nicht (allein) dem Ideal der Lehrreihen, sondern betonen jeweils die stilistische Individualität und ein improvisatorisches Moment, das durch die riskanten und nicht-standardisierten Umgebungsbedingungen bildhaft und betont wird. Während das Medium der Schrift als Paradigma der Notation die theatralen Aspekte nicht abzubilden vermag (vgl. Brandstetter 2005b), öffnet sich im digitalen Medium der Fotografie und Videoclips ein neuer Möglichkeitsraum, der in den neuen Sportarten im Sinne der Choreographie von Bewegungen konsequent genutzt wird. Zentrale Gehalte der neuen Sportform wie Risikobereitschaft, Stil-Können und Improvisationsgeschick können in den Serienfotografien und Videoclips nicht nur erfasst, sondern durch Wahl der Perspektive und digitale Bearbeitung zusätzlich betont werden: Sie können als StilModelle verstanden werden, die die Posen als spezifische Haltungen des gesamten Körpers zeigen und die relationale Positionierung des Köpers zum Sportgerät, die Mikrogesten ebenso wie die Risikobereitschaft betonen. Diese sind, wie die folgende Analyse zeigt, zudem paradigmatisch für eine intermediale Konzeptionierung von Bewegung, die nicht losgelöst werden kann vom Erwerb der Stil-Kompetenz.

Informelle Lehr-/Lernkulturen Die Untersuchung hat bereits gezeigt, dass diese Praktiken keineswegs beliebig oder rein individualistisch zu verstehen sind, sondern neuartige Formen der Gemeinschaft und andere Orientierungen, choreographische Strategien und Zielsetzungen aufweisen. Diese zeigten sich als feldinterne und durchaus sozial regulierte Merkmale, die innerhalb dieser informellen Lehr-/Lernkulturen ausgearbeitet, erlernt und weiterentwickelt werden. Diese informellen Lernstrategien, das zeigt die Untersuchung der Felder deutlich, sind nicht unstrukturiert, beiläufig, rein individuell oder bloß akzidentiell. Vielmehr zeigen sich hier zwar sehr flexible und nicht institutionalisierte, aber ebenso kreative, innovative und strategische Lernformen, die von den Sportlern hoch effizient auf die spezifischen Bedingungen ihrer Sportfelder und die Bedürfnisse (Orientierungen, Zielsetzungen) zugeschnitten werden. Und ebenso, so kann im Folgenden gezeigt werden, stellen diese Lernkulturen nicht minder sozial ausgeprägte Arrangements bereit. Betrachtet man die bildungstheore-

166

STI L-KÖNNEN

tische Diskussion und Klassifikation von Bildungsprozessen in "formales", "non-formales" und "informelles Lernen" (Neuber 2009: 78ff.; vgl. auch Rauschenbach!Düx/Sass 2006), so fallt die von Neuber zurecht kritisierte Engführung der Unterscheidung am Kriterium der Intentionalität auf: Bildungsprozesse in schulpädagogischen Bereich ebenso wie in außerschulischen Feldern des Sports werden nach ihrem Grad an intentionaler Steuerung, Planung und Zielsetzung der Lerninhalte beurteilt und dies zumeist in einer Weise, nach der "ein ,Erzieher' systematisch und reflektiert im Sinne von ,Unterricht' auf das Verhalten eines ,Zöglings' einwirkt" (ebd.: 77). Auch wenn es sich bei den vorliegenden Sportpraktiken weder um institutionalisierte, noch um formalisierte und curriculare Praktiken handelt, so kann ihnen doch eine Intentionalität der Teilnehmer nicht abgesprochen werden. Ebenso kann gezeigt werden, dass diese informellen Lernstrategien nicht mittels eines klaren Verhältnisses von Lehrer und Lernendem zu verstehen sind, denn als eine Art kollektiver und wechselseitiger Prozess der Beurteilung, Hilfestellung und Korrektur angelegt ist. Darüber hinaus lassen die Beobachtungen keine trennscharfe Unterscheidung in non-formales und informelles Lernen zu: Weder sind etwa Lernziele und Lerndauer systematisch organisiert, noch sind die Verläufe ungeplant oder zufällig (vgl. Düx 2006: 237). Die Selbstorganisation der Lehr-/Lernformen dieser Praktiken, so kann gezeigt werden, bedient sich hoch intentional modernster technischer Mittel (digitale Fotografie, Software-basierte Bildbearbeitungssoftware): Erst im Prozess der Bearbeitung erzeugen die Sportler eigene modellhafte Inhalte und Ziele des Lernens. Dabei zeigt sich eine Form des Lernens, die weit über ein bloßes Lernen von Bewegungen und Körpertechniken hinaus wirkt und auch eine Aneignung von Präsentationsund Aufführungs-Stilen, sowie eine ästhetische Stil-Kompetenz einschließt. Diese Lernfelder stellen sozial codierte und kontrollierte Handlungsspielräume bereit, in denen von den Sportlern Selbstentwürfe erprobt werden, die als eine Arbeit am Selbst weit über den Bereich des Sportengagements hinaus wirken.

Stil-Lernen - Stil-Kompetenz Was bedeutet nun aber Stil-Kompetenz, oder anders gefragt: "Wie bilden die Akteure der neuen Sportpraktiken ihre Stil-Kompetenz aus?" Die empirische Untersuchung der Felder zeigt, dass digitale Fotografien (zumeist Serienfotografien) und Videoaufzeichnungen nicht allein als "Erinnerungsbilder" (Goffman 1981: 45) fungieren, sondern eine konstitutive Rolle bei der Formierung und Bearbeitung des Stils spielen. Dabei wird deutlich, dass StilKönnen ebenso von einem Repertoire an Körpertechniken wie von einer StilKompetenz bestimmt ist. Stil-Kompetenz umfasst dabei die Fähigkeit des

167

STIL-KULTUREN

Sportlers, sowohl Stil in den Aufführungen anderer erkennen und beurteilten zu können, als auch Stil in die eigenen Bewegungen einzuarbeiten und stetig zu verbessern. Dies geschieht nicht allein durch körperlich-praktisches Üben, sondern darüber hinaus maßgeblich unter Verwendung von Bildern und Videos. Der moderne Medieneinsatz dient der Formung des Stils. Die Beobachtung beispielsweise von Gleitschirmfliegern an einschlägigen Spots oder von Snowboardern auf der Piste, in der HalfPipe oder an den Sprungschanzen lässt allerdings von dieser medialen Bildpraxis kaum etwas vermuten, und auch Interviews vor Ort ergaben darüber keinen Aufschluss. 18 Der Stil einer Sportart zeigt sich im konkreten sportlichen Tun als ein diffuses Spektrum von Bewegungsausführungen, das sich innerhalb nicht standardisierter Kriterien bewegt. Aus der Außenperspektive tritt die Schwierigkeit hinzu, dass die Akteure nach einer individuellen Note ihrer Bewegungsqualität suchen und eine Erprobung der Stilform nur in der Rekonstruktion und Typologisierung der Bewegungsweisen gekennzeichnet werden kann. Auch die von den Sportlern immer wieder betonte Offenheit der Gemeinschaft basiert auf einem Verständnis, wonach die Gruppenmitglieder nicht am Stil der spezifischen Sportart, sondern innerhalb des Repertoires an Bewegungen, Körpertechniken und Tricks an ihrem Individualstil arbeiten: Wesentliche Kriterien für eine individuelle Ausprägung liegen mit den bereits dargestellten Merkmalen der neuen Sportpraktiken wie Improvisationsgeschick, Kreativität und Risikobereitschaft vor. Die Untersuchungen im Feld zeigen zudem, wie voraussetzungsvoll der Anschluss an eine Stilgemeinschaft ist, d.h. wie restriktiv ein Distinktionsmechanismus ist, der über den Stil wirkt. Trotz des Spielraums von Stil wirkt die Distinktion zum einen darüber, dass der Stil (anders als beispielsweise beim Skispringen) nicht festgeschrieben oder klar definiert ist: Er kann von außen nicht rational oder objektiv erfasst und erlernt werden. Zum anderen manifestiert sich der Stil wesentlich auch in Mikrogesten, die aufgrund ihrer feinmotorischen Details und der Dynamik der Gesamtbewegungen dem ungeübten Teilnehmer entgehen. Die Mikrogesten entfalten zwar eine ganz spezifische Wirkung, indem sie der Gesamtbewegung einen besonderen Ausdruck verleihen, dieser lässt sich aber für den Laien in seiner Machart nicht auf die bestimmenden Elemente zurückführen. In der Praxis besitzt der Stil für den Außenstehenden eine Totalität. Diese Totalität des Stils, so kann im Folgenden gezeigt werden, gründet in einer zergliedernden und an mikro-gestischen Details ansetzenden Bearbeitung körperlicher Haltungen und ist darauf ausge18 Einen Aufschluss über diesen Modus des Stilerwerbs bekam der Autor nur durch eine längere Phase der Teilnehmenden Beobachtung, bei der ein Zugang insbesondere zu einem Snowboarder-Clan hergestellt werden konnte. Erst nach einer (partiellen) Aufnahme in diese Gemeinschaft ließ sich eine im Folgenden analysierte Bildpraxis der Sportler beobachten. 168

STI L-KÖNNEN

richtet, dem Akteur eine spezifische Präsenz zu verleihen, die erst als eine Gesamthaltung seine Wirkung entfaltet. Der Stil tritt in diesen Feldern als Stil-Können auf, d.h. er ist eingebunden in ein komplexes Gewebe aus körperlichen Bewegungen, Haltungen und Gesten, aber, wie die Analyse zeigt, weist er weit darüber hinaus: Die Akteure bilden ihre Kompetenz in einer Bildpraxis aus, die erstens über die rein sportliche Tätigkeit hinausreicht, zweitens konstitutiv die digitalen Aufzeichnungen einbezieht, drittens durch eine mikro-analytische Zergliederung von Bewegungen sowie viertens durch die Bearbeitung und Produktion spezifischer Bewegungsbilder gekennzeichnet ist.

Intermediale Konstellation des Stilerwerbs Für den Erwerb von Stil-Kompetenz ist zentral, dass sich (1 ) der Prozess innerhalb einer intermedialen Konstellation vollzieht, in der die Sportler (2) ein reflexives Körperwissen erlangen. Besonders deutlich konnte diese Praxis im Feld Snowboarding empirisch erschlossen werden. Vergleichbare Praktiken finden sich auch im Feld Paragliding und (wenngleich unter anderem Vorzeichen) im Feld Klettern. Beim Klettern steht der Fokus auf die Mikrogesten in unmittelbarem Zusammenhang mit der Arbeit am Bewegungskönnen: Einzelne Fingertechniken sind unverzichtbar, wenn man in den oberen Schwierigkeitsgraden (8-11) klettert. Auch in der traditionellen Sportart Skispringen gehören videogestützte Analysen der Sprünge zum methodischen Repertoire. Die Teilnehmende Beobachtung der Österreichischen Nationalmannschaft im Jahre 2006 zeigte, dass unter Einsatz von mehreren Kameras die Sprünge der Athleten zumeist aus zwei Perspektiven aufgezeichnet werden und auf die Verbesserung der Sprungweite zielen: Timing am Schanzentisch, Steuerungsbewegungen während der Flugphase, Körperhaltung zur Optimierung des ,Luftpolsters' u.ä. werden detailliert analysiert. Der Stil, der hier als B-Note bzw. "Haltungsnote" ebenso wie die Sprungweite beurteilt wird, ist in dieser klassisch ausgerichteten Leistungssportart auf Weite und normativ ausgerichtet. 19 Die intermediale Konstellation in der Sportart Snowboarding, die im Folgenden ins Zentrum der Analyse gestellt wird, entsteht dadurch, dass sich die Sportler während ihrer sportlichen Tätigkeit wechselseitig fotografieren

19 Die Geschichte des Skispringens hat gezeigt, dass die Durchsetzung neuer Stile,

auch wenn sie sich als leistungsfahiger erweisen, dennoch auf einen relativ festgefügten und ästhetisch geprägten Widerstand treffen, der sich erst in Verbindung mit herausragenden Leistungen und einer Gewöhnung verflüchtigt und zur Akzeptanz des neuen Stils führt. Zentraler Motor für die Einführung der V-Sprungtechnik sind umfassende wissenschaftliche Analysen im Windkanal u.ä. (vgl. Schlehahn 2008).

169

STIL-KULTUREN

und ihre Bewegungen, Sprünge und Tricks mit Camcordern aufnehmen. Die dabei entstehenden Bilder und Videoaufzeichnungen sind Teil einer BildPraxis der Sportler, bei der die Aufnahmen einer digitalen Bearbeitung unterzogen und hierüber neuartige Perspektiven auf die Bewegungen gewonnen werden. Diese spezifische Konstellation von Bewegung und Bild wird im Folgenden betrachtet und auf ihre Wechselwirkungen hin analysiert. Die beigefügten Bilder sollen es dem Leser ermöglichen, diese Bildpraxis und die Bearbeitungs- und Konstruktionslogik der Bilder, wie sie von den Sportlern vorgenommen wird, nachzuvollziehen. Die Bildpraxis lässt sich strukturell in drei Schritten kennzeichnen: (Abb. I)

"