Übersetzung und Film: Das Kino als Translationsmedium [1. Aufl.] 9783839420812

Bereits in Vermeers bekanntem Gemälde »Die Perlenwägerin« tauchen zahlreiche geometrische, motivische und philosophische

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German Pages 230 Year 2014

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Übersetzung und Film: Das Kino als Translationsmedium [1. Aufl.]
 9783839420812

Table of contents :
INHALT
Gemeinsame Sequenzen: Einige Vorworte zu Übersetzung und Film
Synchronisation: Zur technischen Koppelung der Sinne
Quiller zwischen den Stühlen?
Frank Miller’s Sin City. Transformationsprozesse zwischen Graphic Novel und Film
Die andere Seite des Wandteppichs: oder vier Versuche, Don Quijote zu verfilmen
Figuren der Drittheit: Übersetzungen zwischen Leben, Literatur und Film. Jules et Jim zwischen Franz Hessel, Helen Grund, Henri Pierre Roché und François Truffaut
Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen – Lost in Translation
Träume, Tiere, Translationen: Die Filme der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society
Zum Problem des Über-Setzens in Tom Tykwers Heaven
Personen- und Filmtitelregister
Autorinnen und Autoren

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Übersetzung und Film

In Erinnerung an Erika Greber

Ulrich Meurer (Hg.) unter Mitarbeit von Maria Oikonomou

Übersetzung und Film Das Kino als Translationsmedium

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Ulrich Meurer Lektorat & Satz: Ulrich Meurer, Maria Oikonomou Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2081-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Gemeinsame Sequenzen: Einige Vorworte zu Übersetzung und Film ULRICH MEURER 9 Synchronisation: Zur technischen Koppelung der Sinne JOACHIM PAECH 45 Quiller zwischen den Stühlen? MARTIN SCHWEHLA 63 Frank Miller’s Sin City. Transformationsprozesse zwischen Graphic Novel und Film HANS-EDWIN FRIEDRICH 87 Die andere Seite des Wandteppichs: oder vier Versuche, Don Quijote zu verfilmen KIRSTEN VON HAGEN 107 Figuren der Drittheit: Übersetzungen zwischen Leben, Literatur und Film. Jules et Jim zwischen Franz Hessel, Helen Grund, Henri Pierre Roché ... und François Truffaut JOCHEN MECKE 125 Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen – Lost in Translation MARIA OIKONOMOU 157

Träume, Tiere, Translationen: Die Filme der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society ULRICH MEURER 175 Zum Problem des Über-Setzens in Tom Tykwers Heaven VOLKER MERGENTHALER 203 Personen- und Filmtitelregister 219 Autorinnen und Autoren 225

DANK Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Film- und Vorlesungsreihe, die im Wintersemester 2006 als Kooperation des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, des Instituts für Byzantinistik und Neogräzistik und des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft ProLit an der Universität München stattgefunden hat. Wir möchten allen unseren Dank aussprechen, die zum Gelingen der Reihe beigetragen haben. Besonderer Dank gilt jedoch Marie-Elisabeth Mitsou, Professorin der Münchener Abteilung für Neogräzistik, für ihr Engagement und ihre organisatorische Unterstützung, und Erika Greber, ehemals Professorin am Institut für Komparatistik, für ihre Offenheit, Neugier und tatkräftige Hilfe.

Gemeinsame Sequenzen: Einige Vorworte zu Übersetzung und Film ULRICH MEURER

I. DIE ÜBERSETZUNG ÜBERSETZEN Um zu erläutern, was er unter einer ›Begegnung‹ versteht, erzählt Gilles Deleuze eine Anekdote: In seinem Buch über Leibniz hat er sich mit dem Begriff der Falte auseinandergesetzt,1 und bald darauf erreichen ihn Briefe nicht nur all der Leser, die ihre allgemeine Zustimmung oder ihr Missfallen zum Ausdruck bringen, sondern ebenfalls die emphatischen Zuschriften zweier Gruppierungen, die sich umstandslos in Deleuze’ Schrift wiedererkennen. Die erste, der Verein französischer Papierfalter, nimmt für sich in Anspruch: »Ihre Geschichte mit der Falte, das sind wir!«, und mit demselben Enthusiasmus erklären auch die Surfer: »Wir sind ganz Ihrer Meinung, denn was machen wir anderes? Unablässig schmiegen wir uns in die Falten der Natur. [...] Die Falte der Welle bewohnen: das ist unsere Aufgabe.«2 Der wohlwollende, aber nichtsdestoweniger amüsierte Duktus, in dem Deleuze seine Geschichte zum Besten gibt, scheint zunächst auf mildes Erstaunen hinzudeuten, in welch scheinbar abseitigen Tätigkeitsfeldern sich die Philosophie hier reflektiert sieht. Gleichwohl kann ihm eine solche spontane Verbindung nicht gänzlich fremd sein, denn bereits drei Jahre zuvor stellt er sie selbst her, wenn er das vermeintliche Ursprungsdenken zeitgenössischer Philosophie dem Sport entgegenstellt, dem oftmals jeder Anfang und Angelpunkt fehle. »Alle neuen Sportarten – Surfen, Windsurfen, Drachenfliegen ... – sind vom Typus: Einfügung in eine Welle, die schon

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Vgl. Gilles Deleuze: Le pli. Leibniz et le baroque. Paris 1988. Abécédaire. Gilles Deleuze von A bis Z (Interview mit Claire Parnet, R: Pierre-André Boutang, DVD, absolut Medien 2009), 00:42:55-00:47:43. Das Gespräch führt Claire Parnet mit Deleuze auf Französisch; hier wird die deutsche Untertitelung zitiert.

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Ulrich Meurer da ist.«3 Hierin lässt sich eine Methode ausmachen, die Gilles Deleuze – wiederum andernorts – als die Entdeckung von gemeinsamen Sequenzen zwischen Eigenem und Fremdem darlegt. In der Kunst wie in den Wissenschaften seien Begegnung und Überschneidung unerlässlich, »als ob die Lösung immer anderswoher käme«, so dass sich die Malerei unversehens in der Mathematik oder die Philosophiegeschichte eines André Robinet zwangsläufig in der Computermusik von Xenakis wiederfinde.4 Auf diese Weise könne die eine Disziplin angesichts eines anstehenden Problems auf die andere zurückgreifen, die eben das Problem bereits erledigt hat. Indessen bleibt unklar, wodurch sich denn jene von Deleuze proklamierte Identität oder auch nur Äquivalenz eines Problems in zwei verschiedenen Bereichen des Denkens zu erkennen gibt. Der Blick auf sein Œuvre offenbart zwar durchaus mannigfaltige Beziehungen der von ihm hergestellten Begriffe zu Physik und Mathematik, Politik, Soziologie, Kultur- und Geschichtswissenschaft, Technik, Musik oder Ästhetik5 (Beziehungen übrigens, die zugleich Demarkationslinien ziehen, da sie nur möglich sind, wenn die Philosophie etwas anderes ist als Kunst oder Wissenschaft und den Positivismen, Logizismen wie auch dem ›dichterischen Denken‹ entsagt6). Aber es ließe sich doch einwenden, dass all die Analogien zwischen den Disziplinen ebenso produziert sind wie die an sie herangetragenen Begriffe selbst, dass diese Begriffe die Analogie vielleicht weniger aufdecken und bestätigen, als sie erst ins Werk zu setzen. Es wäre mithin nur das so weit ausgreifende Konzept der »Falte«, das alles zunächst Disparate zusammenbrächte: barocke Philosophie, einen Roman von Henry James, die Geometrie der Kegelschnitte, Jackson Pollock und die Surfer. Dieser Frage nach dem Ort und Grund der Entsprechung – in der Sache, außerhalb der Sache – begegnet man derweil in jeder Beziehung, die durch ein tertium comparationis gestiftet ist. Freilich lassen sich Brückenköpfe zuweilen auf dem Terrain der jeweiligen Disziplinen finden. Besonders unter Anleitung der hier wie dort gebräuchlichen Terminologie, im Rekurs auf eine Vokabel, die in beiden Feldern bereits beheimatet oder zumindest ›zu Hause‹ 3

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Gilles Deleuze: »Die Fürsprecher«, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt/M. 1993, S. 175-196, hier S. 175. Der Text beruht auf einem Gespräch mit Antoine Dulaure und Claire Parnet, abgedruckt in L’autre Journal, Nr. 8, Oktober 1985. Vgl. Gilles Deleuze: »Über die ›neuen Philosophen‹ und ein allgemeineres Problem«, in: ders.: Short Cuts. Hg. von Peter Gente, Heidi Paris und Martin Weinmann, Hamburg 2001, S. 134-146, hier S. 143. Vgl. hierzu auch Ulrich Meurer: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne. München 2007, S. 34f. Vgl. Friedrich Balke: Gilles Deleuze. Frankfurt/M., New York 1998, S. 78.

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Gemeinsame Sequenzen ist, scheinen sich Indizien für eine Verbindung zu ergeben und die Kontaktnahme zu legitimieren. Und Michel Serres versichert uns, dass gerade dies – »die Interferenz der Begriffe und begrifflichen Instrumente« – seit langem schon als Interdisziplinarität bezeichnet werde.7 Um nichts weniger allerdings birgt das Verfahren die Gefahr, eine Beziehung zu imaginieren, nicht indem man sie, wie zuvor, mit Hilfe eines beliebigen Dritten produzierte, das gleichsam als Hyperonym die Relation zu gewähren hat, sondern indem man sich nun auf Homonymien stützt, die sich womöglich als ›falsche Freunde‹ erweisen mögen. Wenn also von Film und Übersetzung die Rede sein soll, stellt sich zuallererst die doppelte Frage nach einer etwa grundsätzlichen Verwandtschaft der in den Blick genommenen Disziplinen wie auch nach der Beschaffenheit ihrer terminologischen Schnittmengen: Inwiefern verfügen einerseits die Medienwissenschaft und andererseits jene Bereiche, in denen die Translation ihren angestammten Platz hat, über ›gemeinsame Sequenzen‹, so dass ihre Relationierung idealerweise zu einer wechselseitigen Erläuterung führte? Und welcher Übersetzungsbegriff kann mit Blick auf den Film in Anschlag gebracht, welchem Diskurs soll er entnommen werden, ohne dabei seine Gültigkeit in der fremden Disziplin bloß dem zufälligen Gleichklang oder aber der Langmut des metaphorischen Sprechens zu verdanken? Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass jene Fragen auf prekäre Weise einen logischen Zirkel zu bilden scheinen, denn wie sich im ersten Fall die Gemeinsamkeit der Wissensfelder ja darin erst zeigt, dass in beiden das Konzept der Übersetzung ›Sinn macht‹, so ist im zweiten Fall das Auftauchen eines Konzepts der Übersetzung ein Indikator dafür, welche Wissensfelder überhaupt zur Untersuchung oder Vergleichung herangezogen werden können. Im ersten Fall erweist sich die lebendige Beziehung zweier Strukturen in einem gemeinsamen Konzept, im zweiten Fall ist es das vorgängige Konzept, das dann die Beziehung ins Leben ruft. Dieses – durchaus produktive – Paradox im Interdisziplinären lässt sich jedoch auflösen, indem man seine nur scheinbar widersprüchlichen Terme nicht direkt einander gegenüberstellt, sondern auf zwei differenten Ebenen angesiedelt sieht. Deren eine bildet dabei die strukturelle Übersetzbarkeit der Disziplinen ineinander (man beobachtet, wie sich das eine Gebiet, hier nur zufällig unter dem Aspekt der ›Übersetzung‹, zu einem anderen verhält). Die andere Ebene besteht in der Struktur der Disziplinen, die nun die Übersetzung als einen ihrer Teile umfasst (man nähert solche Gebiete einander an, denen dieser Begriff schon inhärent ist).8 Das Paradoxon 7 8

Michel Serres: Übersetzung – Hermes III. Berlin 1992, S. 74. Die Beiträge in diesem Band demonstrieren es ausnahmslos: In der Übersetzung der ›Übersetzung‹ von einem in ein benachbartes Gebiet wird das

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Ulrich Meurer verschwindet: die Disziplinen sind zum einen der Übersetzung unterworfen, sie werden ineinander übersetzt, sie sind Gegenstand der Übersetzung; unabhängig davon enthalten sie die Übersetzung, die Übersetzung ist einer ihrer Gegenstände. Dafür findet Michel Serres – im Wortsinne – ein ›Bild‹: Zum einen ist ihm Jan Vermeers Perlenwägerin (1662-64) das Objekt eines Übersetzungsprozesses. Wie nämlich Descartes dem klassischen Zeitalter beibringt, eine Ebene mittels zweier sich im Bezugspunkt schneidender Koordinaten in Quadranten aufzuteilen, wie er einfache Maschinen erträumt, die um einen fest verankerten Punkt ihre Kraft entfalten, und damit zugleich die Philosophie, die Politik und den Sternenhimmel einem zentralen mechanischen Gesetz unterstellt, das sich in immer feineren Subsystemen unendlich fortsetzt, so errichtet sein Zeitgenosse Vermeer eine Welt, die denselben Prinzipien gehorcht. Er bezeichnet einen Nullpunkt – die feste und leichte Hand der Perlen- oder auch Goldwägerin, der ruhige Balken der Waage –, der zum konkreten Raum gehört und ihn dennoch abstrahiert, indem er ihn in seiner Gesamtheit, in seinen Teilen und Feldlinien organisiert; wiederum vier Quadranten, die sich im Zentrum des Bildes treffen. Mit ihrer zarten Hand, ihrem gesenkten Blick bezeichnet die Goldwägerin diesen Punkt, und Vermeers Ebene teilt sich vierfach. Von diesem Ursprung und Zentrum her können wir über das Bild sprechen, den Horizont und die vertikale Ordinate bestimmen. Von dem hochgelegenen Fenster her bezeichnet die Sonne den Punkt ihres ins Unendliche gerichteten Blickes; symmetrisch zu dem gegenwärtig-abwesenden Blick der Frau fällt das Licht darauf herab. Zwei Quadrantenhalbierende und offenkundig Diagonalen.9

Damit reiht sich die Perlenwägerin als Translation des cartesianischen Programms in den großen Komplex von Übersetzungen ein, den Serres anhand vielfältiger Beispiele beschreibt, um so die Operation des Übersetzens »möglichst umfassend und in den unterschiedlichsten Gebieten zum Funktionieren zu bringen: innerhalb des kanonischen Wissens und seiner Gebiete, entlang der Beziehungen zwischen der Enzyklopädie und den Philosophien, in den schönen Künsten und in den Texten, die von der Ausbeutung und der Arbeit sprechen«.10 Da übersetzt sich durch die Weitergabe ihrer Grundmodelle die ars combinatoria in die Genetik, der 2. Hauptsatz

Potenzial dieser Operation für die jeweilige Disziplin ersichtlich; zugleich geht keine der hier unternommenen Übersetzungen vonstatten, ohne den Begriff der ›Übersetzung‹ in den zur Bearbeitung ausgewählten Disziplinen oder Diskursen bereits vorgefunden zu haben. 9 Serres: Übersetzung, S. 263f. 10 Ebd., S. 10.

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Gemeinsame Sequenzen der Thermodynamik in die Informationstheorie oder in die Bilder Turners, die Heilige Schrift in Faulkners Light in August – der Unterschied zwischen der Wissenschaft und anderen Bereichen der Kultur besteht nur mehr darin, dass die Botschaften der ersteren in der Übersetzung optimal invariant bleiben, während die letzteren bei Verschiebungen dieses Maximum an Stabilität nicht erreichen.

Aber Vermeers Bild ist nicht nur (Objekt der) Übersetzung, sondern vollzieht sie auch (als Subjekt). Sein Grundprinzip – die Quadranten, der Bezugspunkt – bringt multiple räumliche Versetzungen und damit eine ganze Geometrie der Translationen hervor; es zeigt sich neuerlich im rechteckigen Fenster, im Spiegel, im Vorhang an der linken Wand, im Steinboden mit seinen quadratischen Fliesen. Mehr noch: diesen räumlichen Homomorphien gesellt sich eine motivische hinzu, indem der gesamte rechte obere Quadrant von einem Bild im Bild eingenommen wird, das sich seinerseits in vier Quadranten teilt. Als mise en abyme übersetzt dieses Jüngste Gericht,

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Ulrich Meurer die Wägung der Seelen, die Alltagsszene im Vordergrund, und wieder sammelt sich alles um den Mittelpunkt, hier die Geretteten, dort die Verdammten.11 So vermag die Perlenwägerin als ›Leitbild‹ für den vorliegenden Band zu dienen: Das Gemälde veranschaulicht zum einen die Übersetzung von der Philosophie in die bildende Kunst, stellt mithin die Begegnung zweier Disziplinen aus, wie Deleuze sie einfordert – »sortir de la philosophie par la philosophie«.12 Zum anderen findet sich die Übersetzung als Begriff wie auch als Tätigkeit bereits auf seinem Terrain, da es diverse Übersetzungen, eine mechanische, geometrische, diskursive, aufeinander abbildet. Zuletzt aber sorgt es in der Kombination jener beiden ersten Ebenen der Übersetzung für eine Relationierung von Bild und Wort, mit der sich auch die folgenden Texte immer erneut auseinandersetzen werden – das schließlich der dritte Grund, weshalb die Perlenwägerin hier eine so prominente Position innehat. Sie übersetzt Descartes, dessen Koordinatensystem laut Serres zuallererst ermöglicht, in einer »wohlabgemessenen Sprache [Algebra] über zweidimensionale Ereignisse [Geometrie] zu sprechen«,13 so dass auf Vermeers Leinwand offenbar das Sehen und die Anschauung mit dem Zeichen und der Schrift in engsten Kontakt treten. Insofern also Bild und Diskurs ineinander übersetzbar werden, kann dieser im Gemälde verarbeitete Austausch, kann das Gemälde selbst quasi als Motto figurieren für das (wissenschaftliche) Schreiben über (Medien-)Bilder im Allgemeinen und besonders für das Treffen von Linguistik/Literaturwissenschaft und Film im Zeichen der Übersetzung.

II. DIE ÜBERSETZUNG ABSTRAHIEREN Gerade jetzt und schon einige Male zuvor ist es angeklungen: die Keimzelle für den allseits gängigen und ebenso für den hier verwendeten – und ins Mediale übersetzten – Übersetzungsbegriff scheint vor allem anderen die Sprache zu sein. Zuerst betrifft Translation die Linguistik, die Rede und Schrift, die Literatur. Deshalb ist es offenkundig ausgemachte Sache, dass auch die Engführung von Übersetzung und Film immer auf dessen Sprachanteile fokussiert, dass vom praxisbezogenen Handbuch bis zur kulturwissenschaftlichen Studie unweigerlich Untertitelung und Synchronisation in den Blick genommen werden. Während sich der Tonfilm als dezidiert 11 Vgl. ebd., S. 270. 12 Ganz ähnlich im Übrigen Serres: »Wenn aber auf einem Gebiet eine Frage zu lösen ist, die man in ähnliche Begriffe fassen kann, wie man sie auf einem anderen, sicheren Gebiet verwendet, wo die Frage gelöst ist, dann braucht man die Lösung nur zu übernehmen.« (Ebd., S. 43). 13 Ebd., S. 263.

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Gemeinsame Sequenzen »polysemiotisches« Zeichenensemble auf doch mindestens vier Vermittlungskanäle stützt (Dialog, Musik bzw. Geräuscheffekte, Bild, Schrift),14 während er als Dispositiv eine kaum abzuzählende Vielfalt von technischen, medialen, wahrnehmungspsychologischen, sozialen oder kulturellen Komponenten aufweist, die fallweise bei der Betrachtung kinematographischer Anordnungen in den Vordergrund rücken können, während der Film selbst noch als ›Text‹ mit ebenso vielen Kontexten in Verbindung steht, die ihn unaufhörlich über seine Grenzen hinaustreiben, beschränkt sich die in jüngster Zeit zusehends proliferierende Literatur zum Thema filmischer Übersetzung auf das Problem des auf der Leinwand gesprochenen und zuweilen geschriebenen Wortes.15 Selten nur meint Übersetzung den nichtsprachlichen Transfer, etwa das Remake oder den Einfluss ›lokal‹ geprägter Werke auf eine globale Filmlandschaft.16 Und trotz des Kampfrufes einer »exciting new discipline«17 wie der Translation Studies, die in den neunziger Jahren die Weiterung des Übersetzungsbegriffs auf das rewriting von Texten aller Art durch Kritiker, Historiker, Akademiker, Journalisten, bildende Künstler, Komponisten oder Filmregisseure proklamiert, bleiben Translationsprozesse doch vornehmlich dem Textuellen verhaftet. Zwar mag laut André Lefevere und Susan Bassnett mit den Translation Studies nun auch der Film – damals kaum bestritten »the most powerful medium« und wichtiger für die kulturelle Präsenz von zum Beispiel Un amour de Swann als Prousts Roman – einen zentralen Referenzpunkt im Feld aller Übersetzungs- und Verarbeitungsphänomene darstellen.18 Am Ende aber (das zeigt unmissverständlich die Wahl des Exempels Proust) geht eine solche Auffassung von Translation 14 Vgl. Henrik Gottlieb: »Untertitel. Das Visualisieren filmischen Dialogs«, in: Hans-Edwin Friedrich, Uli Jung (Hg.): Schrift und Bild im Film. Bielefeld 2002, S. 185-214, hier S. 188. 15 Siehe etwa Abé Mark Nornes: Cinema Babel. Translating Global Cinema. Minneapolis, London 2007; Victória Biacsi: The Art of Translation or how to Create a Subtitle for a Film. Saarbrücken 2008; Jorge Díaz-Cintas, Gunilla Anderman (Hg.): Audiovisual Translation. Language Transfer on Screen. London 2009; Jorge Díaz-Cintas (Hg.): New Trends in Audiovisual Translation. Bristol 2009; Delia Chiaro (Hg.): Translation, Humour and the Media. London, New York 2010. 16 Siehe unter anderem Dolores P. Martinez: Remaking Kurosawa. Translations and Permutations in Global Cinema. London 2009. 17 Mona Baker, zitiert nach Jorge Díaz-Cintas: »Audiovisual Translation in the Third Millenium«, in: Gunilla Anderman, Margaret Rogers (Hg.): Translation Today: Trends and Perspectives. Bristol 2003, S. 192-203, hier S. 192. 18 Vgl. André Lefevere, Susan Bassnett: »Introduction: Proust’s Grandmother and the Thousand and One Nights. The ›Cultural Turn‹ in Translation Studies«, in: diesn. (Hg.): Translation, History and Culture. London, New York 1990, S. 1-13, hier S. 9f.

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Ulrich Meurer als rewriting doch stets aus der Schrift hervor und auf sie zurück. Sie ist nicht mehr oder anderes als eine Umschreibung, die die Literatur fortsetzt, während die medialen Eigenarten des Films jenseits der ›Bilderschrift‹ unberührt bleiben. Demnach reicht es gewiss nicht, etwa mit Jorge Díaz Cintas die herkömmliche Übersetzungswissenschaft puristisch und veraltet zu nennen und sie angesichts medientechnologischer Entwicklungen zu mahnen, sie möge in ihren vermeintlich prestigeträchtigen, aber allzu schmalen Arbeitsbereich (Bibel, Lyrik, Prosa) auch den audiovisuellen Transfer einbeziehen.19 Anstatt die Zahl ihrer Forschungsgegenstände zu erhöhen, gälte es wohl, die Translationswissenschaft auf eine andere Basis zu stellen – die damit angesteuerte konzeptuelle Scheidung von Übersetzung und Sprache, die Auflösung ihrer scheinbar so natürlichen wie notwendigen Verknüpfung hat freilich immer erst den Widerstand der Doxa zu überwinden. Denn das Stichwort ›Translation‹ evoziert spontan den Bereich des interlingualen Übertrags von Lexik, Struktur, Sinn oder Form.20 Vom Übersetzen zu sprechen heißt offenbar zuvorderst, von der Sprache zu sprechen. Gleichwohl ist die Übersetzung noch anderswo zu Hause: als ›Transmission‹ in der Mechanik, wo sie eine Vorrichtung bezeichnet – Stangen, Riemen, Wellen, Zahnräder –, die den Wert einer physikalischen Größe in einen anderen Wert derselben Größe übersetzt, oder aber das darin zu bestimmende Übersetzungsverhältnis (i); dann als ›Translation‹ in der Geometrie, wo sie die Verschiebung einer Figur beziehungsweise eines Körpers mit einem für jeden Punkt festen Translationsvektor meint. Dann begegnet man ihr in der Akteur-Netzwerk-Theorie, einer soziologischen Weiterung der Systemtheorie, die das Übersetzen als eine Menge kommunikativer Handlungen versteht, welche darauf zielen, menschlichen wie nichtmenschlichen Akteuren im Sinne eines multilateralen Interessenausgleichs und einer gemeinsamen Ausrichtung bestimmte Rollen und Funktionen zuzuweisen.21 Dann auch kennt die Psychoanalyse

19 Siehe: Jorge Díaz Cintas: Audiovisual Translation, S. 194. 20 Damit sind zugleich die Hauptgegenstände des für die literarische Übersetzungstheorie so zentralen Problems der Äquivalenz aufgezählt, wie etwa Anton Popoviý sie bestimmt. Er unterscheidet zwischen linguistischer, paradigmatischer, stilistischer und textueller Äquivalenz, also der wörtlichen, grammatisch-syntaktischen, funktionalen und formalen »Treue« zwischen Quell- und Zieltext. Vgl. Susan Bassnett: Translation Studies. London 1980, S. 32. 21 Vgl. Andréa Belliger, David J. Krieger: »Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie«, in: diesn. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2008, S. 13-50, hier S. 38f. Ebenso Diana Lindner: »Die experimentelle Überprüfung dynamischer Vernetzungsprozesse«, in: Christian Stegbauer (Hg.): Netzwerkanalyse und Netzwerktheo-

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Gemeinsame Sequenzen neben zahlreichen Korrelaten wie der ›Umsetzung‹ und der klassischen ›Übertragung‹ desgleichen die Übersetzung: Wenn sich Freud selbst freilich meistenteils auf den Sprachdiskurs bezieht, den Begriff dort zur Illustration der analytischen Arbeit entlehnt, sich angesichts der Rätselzeichen der Hysterie mit dem HieroglyphenEntzifferer Champollion vergleicht22 oder das Verhältnis zwischen Traumgedanke und Trauminhalt als dasjenige von Original und Übersetzung charakterisiert,23 so zeigt sich an anderer Stelle die Übersetzung doch unabhängig von der Sprache und als psychoanalytischer Terminus eigenen Rechts (etwa in der klinischen Definition der Verdrängung als ihrer Versagung – so Freud 1896 in einem Brief an Wilhelm Fließ).24 Bereits ein solcher, keineswegs erschöpfender Katalog25 von Disziplinen, in denen die Übersetzung ihr Wesen treibt, eignet sich als Beleg für die Vermutung von Michel Serres, dass die ›harten‹ Wissenschaften tatsächlich eine größere Invarianz ihrer Konzepte aufweisen als die übrigen kulturellen Praktiken: Aus den Bereichen der Technik oder Mathematik ließe sich die Übersetzung nur schwerlich in andere Diskurse hineintragen; sie verfügt dort über eine Bestimmtheit, die sie im benachbarten Feld nicht abzulegen bereit ist. So ließe sich mit Blick auf das filmische Dispositiv bestenfalls über die fein zisellierte Kraftübertragung innerhalb des Kameraapparats oder auch – und dies schon deutlich metaphorisch – über Translationen von Figuren auf der zweidimensionalen Fläche der Leinwand sprechen. Mit dieser Anwendung von Übersetzungsbegriffen aus der Mechanik und Geometrie ist daher offenbar nicht viel gewonnen. An ihrer statt wäre auf eine flexiblere Idee des Übersetzerischen zurückzugreifen, eben auf eine, wie sie die Semiologie, die Sprachoder Literaturwissenschaft bereitstellt. Währenddessen galt und gilt es in jenen Bereichen, das als ›Übersetzung‹ verhandelte Phänomen stets erst zu bestimmen. Von

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rie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2008, S. 567-578, hier bes. S. 568f. Vgl. Alan Bass: »On the History of a Mistranslation and the Psychoanalytic Movement«, in: Joseph F. Graham (Hg.): Difference in Translation. Ithaca, NY, London 1985, S. 102-141, hier S. 102. Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt/M. 2003, S. 284. Eine ausführliche Dekonstruktion möglicher Übersetzungen dieser Briefpassage unternimmt Andrew Benjamin: »Ursprünge übersetzen: Psychoanalyse und Philosophie«, in: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt/M. 1997, S. 231-262. Dass er scheinbar beliebig fortzusetzen wäre, belegt die Vielzahl der Themen – etwa die Abschnitte zu ›Biotranslation‹ oder den kybernetischen Übersetzungen zwischen Organischem und Anorganischem – in Susan Petrilli (Hg.): Translation, Translation. Amsterdam, New York 2003.

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Ulrich Meurer der römischen Antike bis zu Derrida, vom Bibelübersetzer Hieronymus bis zu den zeitgenössischen Translation Studies ist deshalb das Übersetzen immer »das Problem des Übersetzens«.26 Es beginnt schon mit der Auswahl des Zeichensystems, aus dem und in das zu übersetzen wäre; daher etwa die grundsätzliche und häufig zitierte Unterscheidung Roman Jakobsons zwischen intralingualer, interlingualer und intersemiotischer Translation.27 Jakobson geht das ›Problem‹ der Übersetzung auf zweierlei Weise an, indem er zuerst und analytisch ihre drei Formen benennt – das innersprachliche rewording einer Aussage mit Hilfe von Synonym oder Paraphrase, die Übertragung zwischen zwei natürlichen Sprachen (translation proper) und diejenige zwischen verbalen und nonverbalen Zeichen (transmutation) –, um daraufhin die erste und letzte dieser Formen dem Primat der zweiten und wahren zu unterstellen. Die Übersetzung zwischen den Sprachen wird ihm zum Urbild und Ausgangspunkt aller Translation. Aber das Problem insistiert; es ist keineswegs getilgt durch solch eine kategorische und auch beliebige Setzung, wie Derrida gegen Jakobsons »beruhigende, Sicherheit verschaffende Dreiteilung« und »schöne und kecke« Bestimmung der zwischensprachlichen als der eigentlichen Übersetzung ins Feld führt.28 Bereits die Rede von der innersprachlichen Übersetzung setze nämlich in letzter Instanz ein Wissen um die Einheit und Identität einer Sprache, um ihre Grenzen und entscheidbare Gestalt voraus. Und die zwischensprachliche Übersetzung müsse dann auf eben diese Voraussetzung rekurrieren, auf ein nur scheinbar allgemein gültiges Allerweltsverständnis davon, was in Bezug auf Sprache(n) Identität und Differenz bedeuten. Vor diesem Hintergrund lediglich könne Jakobson die interlinguale Übersetzung schlicht als »Übersetzung« bezeichnen, während er die intralinguale und die intersemiotische Translation durch eine gleichsam übersetzende Umtaufe (rewording/transmutation) als unangemessene, uneigentliche oder bestenfalls metaphorisch zu verstehende Übersetzungen kennzeichne: »Wenn es eine Transparenz gibt, an die Babel nicht gerührt hat, so kann damit nur die Erfahrung der Sprachvielfalt gemeint sein, der ›eigentliche Sinn‹ des Wortes ›Übersetzung‹. [...] Es soll also möglich sein, eine Übersetzung im eigentlichen und eine im über-

26 Siehe den Titel der von Hans Joachim Störig herausgegebenen Sammlung historischer Texte zur (meist literarischen) Übersetzung, Darmstadt 1963. 27 Siehe Roman Jakobson: »On Linguistic Aspects of Translation«, in: R. A. Brower (Hg.): On Translation. Cambridge, MA, 1959, S. 232-239, hier S. 233. 28 Vgl. Jacques Derrida: »Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege«, in: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt/M. 1997, S. 119-165, hier S. 128f.

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Gemeinsame Sequenzen tragenen Sinn zu unterscheiden.«29 Hingegen reicht laut Derrida das Wort Babel, um an ihm zu erfahren, »daß es unmöglich ist zu entscheiden, ob dieses Wort einfach und eigentlich einer Sprache zugehört«.30 Denn zum einen ist es ein Eigenname (oder wird heute zweifellos als solcher aufgefasst), derjenige eines narrativen Textes, einer Geschichte, in der der Eigenname wiederum einen Turm oder eine Stadt benennt; Babel als Name gleich dreier verschiedener Dinge. Ein Eigenname aber hat innerhalb der Sprache eine eigentümliche Bestimmung, er ist nicht übersetzbar, ein Rest in – und daher außerhalb – der Sprache, der als das verbleibt, was man nicht übersetzen kann. Zum anderen und gleichzeitig ist Babel ein Gattungsname, der über einen gemeinen Sinn und begriffliche Allgemeinheit verfügt: »Es ist möglich gewesen, ›Babel‹ in einer Sprache so zu hören und zu verstehen, daß das Wort den Sinn oder die Bedeutung von ›Verwirrung‹ hatte.«31 Im Kern der ursprünglichen Erzählung von der babylonischen Sprachverwirrung gibt es also bereits ein unaufhaltsames Übersetzen zwischen Eigen- und Gattungsnamen, mithin zwischen Unübersetzbarkeit und der (unerfüllbaren) Aufforderung zum Übersetzen, so dass nie mehr entscheidbar sein wird, ob man sich in einer oder in mehreren Sprachen aufhält. Durch diese Kritik am Modell Jakobsons wächst der Zweifel an der so oft verfochtenen oder stillschweigend vorausgesetzten Priorität des interlingualen im Feld aller möglichen Übersetzungsprozesse. Freilich bewegt sich Derrida, wenn er die Scheidung zwischen intra und inter dekonstruiert, dabei ganz und gar in der Sphäre des Sprachlichen; im Rahmen seines Arguments bleibt es unerheblich, ob sich jene andere Grenze zwischen verbal und nonverbal, auf der das Jakobson’sche Konzept der Transmutation fußt, vielleicht auf ähnliche Weise auflösen ließe. Derweil mag zum Beispiel die Heterogenität des alphanumerischen Codes, der im Allgemeinen der schriftlichen Fixierung des Sprachlichen dient, darauf hindeuten, dass auch die Demarkationslinie zwischen sprachlichen und anderen Zeichensystemen zumindest angreifbar und durchlässig sein könnte. Nicht nur ist – mit Derrida – die eine Sprache von der anderen kaum zu differenzieren, am Schriftcode wird darüber hinaus ablesbar, wie nun das Bild in diese Sprache(n) Einzug hält: Buchstaben als Transliterationen von Lauteinheiten stehen dem Gesprochenen dabei noch vergleichsweise nahe, die Interpunktion hingegen (Doppelpunkte, Anführungszeichen) und noch mehr die in den Code eingebetteten Zahlzeichen scheinen als Verbildlichung von abstrakten Sinnelementen oder gar optischen Wahrnehmungen den 29 Ebd. 30 Ebd., S. 129. 31 Ebd., S. 125.

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Ulrich Meurer logos beständig mit einem eidos zu infizieren.32 Zwar kann kaum in Abrede gestellt werden, dass unterscheidbare, zum Teil sprachliche, zum Teil nichtsprachliche Zeichensysteme existieren. Aber ebenso sind es, ohne damit Analogien oder gar Identitäten zu postulieren, einige unleugbare Züge etwa des Visuellen in der Sprache und in ihrer Notation – gleichsam ›hieroglyphische‹ Aspekte, Symbole, Zahlen – wie auch gewisse Züge der Sprache im Bildlichen – Piktogramme, Bilderzählungen, ›filmische Syntax‹ –, die den Begriff der intersemiotischen Übersetzung am Ende problematisch erscheinen lassen. Wenn also ein naturwissenschaftlich-technischer Übersetzungsbegriff aufgrund seiner charakteristischen ›Invarianz‹ weitgehend resistent ist gegen die Erweiterung und Anwendung in anderen Bereichen der Kultur (Serres), wenn das in den Geisteswissenschaften vorherrschende Konzept interlingualer Übersetzung seine Position einbüßt, da seine Konturen in der Konfrontation mit der intralingualen wie auch intersemiotischen Übersetzung zu verschwimmen beginnen, dann ist es offenbar angezeigt, im Hinblick auf mediale Translationsverfahren weniger auf einen sperrigen mathematischen noch auf einen ungerechtfertigt dominanten sprachlichen Begriff von Übersetzung zurückzugreifen. Um für die Verhandlung der ›Übersetzung im Film‹ eine angemessene operative Breite und Flexibilität des Begriffs zu gewährleisten und um das Bildmedium Film nicht einengend und lediglich metaphorisch als Sprachsystem definieren zu müssen, wären stattdessen translatologische Konzepte auszumachen, die – auf einer Metaebene jenseits des nur Sprachlichen – den an einen Text gebundenen Anteil der Übersetzung übersteigen und sie als ein Phänomen auf dem Feld des Medialen kenntlich machen, in welchem nun auch der Film ohne begriffliche Reibungsverluste diskutiert werden kann: Somit ginge es nicht um eine uneigentliche Dehnung des Begriffs der Übersetzung, sondern um seine Abstraktion.

III. ÜBERSETZUNG & MEDIALITÄT Ein solches ›abstrahierbares‹, weil selbst bereits abstrahierendes Konzept findet sich in Walter Benjamins Essay Die Aufgabe des 32 Vgl. etwa V. Flusser: »Weil Buchstaben Zeichen für gesprochene Laute sind, ist ein alphabetischer Text eine Partitur einer akustischen Aussage: Er macht Laute ersichtlich. Zahlen hingegen sind Zeichen für Ideen, für mit dem ›inneren Auge‹ ersehene Bilder (›2‹ als Zeichen für das mentale Bild eines Paares). Allerdings können die Zahlen außerordentlich abstrakte Bilder bezeichnen, so daß es nur für ein geübtes Auge möglich ist, das gemeinte Bild herauszulesen. Also kodifizieren Buchstaben auditive Wahrnehmungen, während Zahlen optische Wahrnehmungen kodifizieren.« Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen 2002, S. 27.

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Gemeinsame Sequenzen Übersetzers, der die (literarische) Übersetzung als eine Darstellung des Zusammenhangs der unterschiedlichen natürlichen Sprachen beschreibt. Die Übersetzung, so heißt es dort, ist »zweckmäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander. Sie kann dieses Verhältnis selbst unmöglich offenbaren, unmöglich herstellen; aber darstellen, indem sie es keimhaft oder intensiv verwirklicht, kann sie es.«33 Jenes ideale, innerste Verhältnis der Sprachen ist also an keiner einzelnen von ihnen ablesbar, ist nur der nicht mehr zählbaren Allheit der Sprachen und ihrer einander ergänzenden »Intentionen« erreichbar. Derweil vermag die Übersetzung eben dieses Gemeinsame, das die vielen unterschiedlichen langues gleichsam transzendiert, zumindest zu markieren und damit »eine höhere Sprache«34 zu bedeuten. Indem sie sich kaum auf ein Gemeintes bezieht und den Gehalt lediglich in weiten Falten umgibt, wird sie zugleich zum – wenn auch opaken – Hinweis auf ein nur gedachtes, areferenzielles und ›reines‹ Sprachliches.35 Zum anderen aber nennt Benjamin die Übersetzung eine Form, deren Gesetz in der wesentlichen Übersetzbarkeit eines Originals beschlossen liege.36 Das bedeutet, sie ist eine grundsätzlich sekundäre oder abhängige Erscheinung, da immer etwas geformt sein will, und besitzt darüber hinaus gleich auf zweifache Weise Bezüglichkeit: Wie sie das große Reich des Sprachlichen benötigt (und wenigstens dunkel auch dessen Existenz beschwört), so ergibt sie sich ebenso aus einem vorgängigen Artefakt, das auf mannigfaltige Art ihre ›VorSchrift‹ darstellt. Obgleich der Essay explizit lediglich das Sprachkunstwerk behandelt, zeichnet sich spätestens an dieser Stelle eine deutliche Strukturverwandtschaft etwa mit Niklas Luhmanns allgemeiner Medium/Form-Unterscheidung ab. (Und jenem Luhmann’schen Konzept – in seiner Verschränkung mit Benjamins Text bereits grundlegend für die Planung der Vortragsreihe zu ›Film und Übersetzung‹,37 aus der dieser Band hervorgeht – wird man im Fortgang der unterschiedlichen Beiträge noch öfter begegnen; besonders der Aufsatz Jochen Meckes greift die Überlegungen zu einer bei Luhmann implizit formulierten ›Übersetzungstheorie‹ wieder auf ...) Laut Benjamins – messianisch gefärbter – Theorie kann die Übersetzung, die eine Form ist, das verborgene Verhältnis zwischen den Sprachen, also 33 Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. IV.1. Frankfurt/M. 1972, S. 9-21, hier S. 12. 34 Ebd., S. 15. 35 Vgl. ebd., S. 13. 36 Vgl. ebd., S. 9. 37 Vgl. das Lehrveranstaltungs-Archiv des Instituts für Komparatistik der Universität München: www.komparatistik.uni-muenchen.de/studium_lehre/ lehrveranst/archiv/kvv0607.pdf [letzter Zugriff: 18.10.2011].

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Ulrich Meurer das Sprachliche schlechthin, das unübersehbar die Qualität eines ›letzten‹ Mediums aufweist, zwar unmöglich offenbaren, jedoch paradigmatisch oder intensiv verwirklichen. Ganz ähnlich aber vermag für Luhmann keine Form das ›Wesen‹ des Mediums auszudrücken, während das Medium jedoch in der (Kontingenz der) Formbildung erkennbar werde.38 Das Medium, die lose Kopplung von Elementen, steht hinter der Form, ermöglicht sie und wird gleichzeitig von ihr verdeckt; die Form bildet sich ihrerseits durch die relativ feste Kopplung von aus dem Medium ausgewählten Elementen, sie selektiert und überlagert ihre mediale Matrix. Dieses Wechselspiel bedingt, »daß das Medium nur an den Formen und nicht als solches beobachtet werden kann«.39 Übersetzung ließe sich daher (mit Benjamin und mit Luhmann) als eine manifeste Formbildung begreifen, in der das Medium als akzidentelle Koppelung seiner Elemente aufscheint – indem sich die manifeste Form für eine der zahllosen Möglichkeiten, die das Medium bietet, entschieden hat. Zudem weist für Benjamin die Übersetzung nicht nur auf die überhistorische Allheit der Sprache, also auf das Medium zurück und geht zugleich aus ihr hervor. Im selben Maße, sogar auf den ersten Blick noch deutlicher, erwächst sie natürlich einem konkreten Originaltext, einem bestimmten und meist sicher bestimmbaren vorgängigen Artefakt, das selbst allerdings bereits Form ist. Damit aber gerät eine Form – das auf dem Sprachmedium gründende ›Original‹ – seinerseits zum Medium einer weiteren Formbildung. Das scheint nun zunächst eine Besonderheit der Übersetzung, dass sie nicht nur (wie jeder Text) eine Emanation der Sprache, sondern gleichfalls diejenige einer zweiten Quelle, einer anderen Form ist. Was allerdings hier wie das grundlegende Charakteristikum der Übersetzung daherkommt, erweist sich als Eigenschaft eines jeden Kunstwerks, das stets, wiederum laut Luhmann, Teil eines Stufenbaus von Medium/Form-Verhältnissen ist.40 Da etwa eine Theorie wie die in dieser Passage entwickelte auf die Möglichkeit, das heißt auf das Medium der Satzbildung zurückgeht, diese wiederum als Form die relativ feste Kopplung von Worten darstellt, indem dann ihrerseits Worte Zusammenschlüsse der Zeichen des Alphabets sind, und immer so weiter, bis man vielleicht im Medium des Sichtbaren anlangt, zeigt sich, dass die Medien, auf denen Formen beruhen, selbst immer schon Formen sind. Ein solcher Stufenbau, in dem eine jede Form zum Medium der folgenden gerät, kann nun in aufsteigender Richtung fast beliebig weit getrieben werden – aus der Kopplung von Theorien ließe sich die Form einer Lehre bilden, aus 38 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, S. 168f. 39 Ebd., S. 171. 40 Vgl. ebd., S. 172f.

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Gemeinsame Sequenzen den Lehren daraufhin eine ›Wahrheit‹, aus jener und einigen anderen ›Wahrheiten‹ … wer weiß: »Die Logik der Unterscheidung von Medium und Form läßt hier keine Aussagen über letzte Grenzen des Möglichen zu.«41 Und in der anderen Richtung, in Richtung nämlich des ersten und dem gesamten Stufenbau zu Grunde liegenden Mediums, treffen sich Benjamin und Luhmann ein weiteres Mal und stimmen darin überein, dass es in solch einem Modell den Grenzfall des Materiebegriffs der metaphysischen Tradition, die vollkommen unbestimmte bloße Bereitschaft des Seins, Formen anzunehmen, nicht gibt. Was Niklas Luhmann da die »Welt als Einheit« oder »mystisches ›Alles in einem Augenblick‹« nennt, das mag zwar zuerst an Benjamin’sche Transzendenz und an das seinen Aufsatz durchwebende Erlösungsdenken erinnern, wenn Welt und Sprache sich am Ende aller Tage zu erkennen geben. Aber auch dieser Mystizismus denkt recht eigentlich nicht an die Aufdeckung des untersten Mediums des Seins, sondern bereits an eine Form: In kabbalistischer Tradition geht es Benjamin nicht um das rohe datum, um das schlicht Gegebene der Welt, sondern um das faktum, um das Gemachte, die Form und die Sinnzusammenhänge einer reinen Sprache (die freilich Welt ist und sie in die Existenz gerufen hat). Und ebenso weist Luhmann darauf hin, dass das allgemeinste und unhintergehbare Medium weniger die Welt an sich sei als vielmehr der ›Sinn‹, der aus der Welt schon Prozess und Selektion gemacht habe, der schon ausgesondert und geordnet habe und damit kommunizierbar, mithin eine Form sei; die Welt selbst bleibt formlos und unbestimmbar.42 In beiden Fällen also erweist sich das fundamentale Medium bereits als geformte Welt, als sinnvolle Form. So zeigt sich, dass Walter Benjamin, wenn er die Aufgaben des Übersetzers vor uns auffächert, damit ein Translationsmodell entwickelt, das den Bereich des Sprachlichen zu übersteigen vermag. Der Kontakt mit Luhmanns Begriffen des Mediums und der Form lässt all seine ›Sprache‹ ausfällen, bis das Modell auf Übersetzungsprozesse jeder medialen Spielart und Provenienz anwendbar wird und sie sämtlich beschreibbar macht als Formbildungen, in denen sich einerseits das Schattendasein des Mediums (Benjamins ›reine Sprache‹) genauso manifestiert, wie es darin auch nie gänzlich wahrnehmbar werden kann, und andererseits als Formen, deren mediale Basis (Benjamins ›Original‹) selbst schon Form ist. Eines aber muss noch hinzutreten, damit sich die Übersetzung – gleich in welchem Medium – vom unabhängigen, primären oder ›originären Kunstwerk‹ unterscheidet, und das ist der Unterschied. Wenn jedes Kunstwerk nach Luhmann aus einem Medium hervor-

41 Ebd., S. 173. 42 Vgl. ebd., S. 173ff.

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Ulrich Meurer geht, das nur durch die Form, nicht aber als solches beobachtbar ist, und wenn außerdem jedes Kunstwerk aus einem Medium hervorgeht, das selbst Form ist, dann verlangt die Bestimmung der Übersetzung zumindest ein weiteres differenzierendes Merkmal, und das ist die Differenz. Freilich sieht Niklas Luhmann jede Form eben dadurch gekennzeichnet, dass sie einen Unterschied macht: So ist die erste aller Formen, der Sinn, nichts anderes als die Erfindung und Einführung eines Unterschieds in die zuvor unbedachte und ungeschiedene Welt; »Sinn [wird] durch die Unterscheidung von Aktualität und Potentialität (oder: von Wirklichkeit in momentaner Gegebenheit und Möglichkeit) konstituiert«.43 Der Sinn als Form kommt also in die Welt durch das Denken im Konjunktiv und durch das Benennen mindestens einer Alternative; und dementsprechend bestimmt Luhmann auch die Formen der Kunst durch solch potenzielle Varietät, weil es für sie »mehr als nur eine Möglichkeit gibt, und weil das Kunstwerk, bei zögerndem Beobachten, dazu anregt, sich andere Möglichkeiten zu überlegen, also Formen versuchsweise zu variieren«.44 Die Übersetzung hingegen bezeichnet den Moment, in dem diese Varietät nicht mehr nur gedacht, sondern ins Werk gesetzt ist. Die Übersetzung verwandelt das Potenzielle der Kunst in das Aktuelle, sie realisiert die Möglichkeit, dass etwas anders ist oder anders gesagt ist. In der einen Form nur impliziert, wird der Unterschied in der zweiten Form, die aus jener ersten gewonnen wurde, nun explizit. Vielmehr: das Bedeutsame oder der Sinn der Übersetzung liegt gerade – und im ganz konkreten räumlichen Sinn – im Dazwischen. Vor allem insofern ist sie eine besondere Form. Sie hat aus der denkbaren Alternative eine sichtbare gemacht. Denn es ist jener Abstand zwischen Original und Übersetzung, der bisher nur mögliche, nun aber anschaulich gegebene Differenzraum, der, nicht zuletzt mit Benjamin, die Sprache, den Sinn, das ›erste‹ Medium (und dabei vielleicht auch einige, vielleicht sogar alle Ebenen und Stockwerke des darüber geschichteten Stufenbaus aus Medien/Formen) in einem einzigartigen archäologischen Augenblick darzustellen in der Lage ist. Dies erklärt, weshalb für die Übersetzung das Medium, in dem sie statthat, wichtiger ist als irgendein Gehalt. Diesem gegenüber ist sie fremd, während sie auf jenes zielt und zurückweist, indem sie sich als Variation der anderen, der ersten Form zu erkennen gibt, sich von ihr unterscheidet und eben dadurch die Vielzahl von Kopplungsmöglichkeiten offenbart.45 Anders 43 Ebd., S. 174. 44 Ebd., S. 170. 45 Ähnlich weist J. Mecke darauf hin, dass die Übersetzung durch ihre »divergente Perspektive die Form des Originals als kontingente und damit lose Koppelung [mithin als Medium] sichtbar macht«. Vgl. seinen Beitrag in diesem Band, S. 150.

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Gemeinsame Sequenzen gesagt: Werk und Übersetzung verfügen über einen Zwischenraum, in dem das Medium kurz und gleichsam epiphanisch sichtbar wird.

Aus all dem – aus der Projektion des Luhmann’schen Konzepts von Medium und Form auf das Benjamin’sche von Sprache und Übersetzung – ließe sich im besten Falle nun ein brauchbarer, das heißt hinreichend abstrahierter Begriff von Übersetzung finden, der Translationsphänomene in jedem denkbaren medialen, ästhetischen, narrativen, kulturellen oder technischen Bereich umfasst: 1) Übersetzung ist – wie ein ›Original‹ – eine Form, die ihrerseits aus Formen gebildet ist. 2) Übersetzung bezieht sich – wie ein ›Original‹ – nur indirekt auf ein Basismedium (›Sinn‹, ›reine Sprache‹ ...). 3) Übersetzung bezieht sich – anders als ein ›Original‹ – zusätzlich auf ein solches ›Original‹. 4) Die Differenz zwischen Übersetzung und ›Original‹ macht – anders als ein ›Original‹ – das Basismedium kenntlich. Der – freilich hier nur exemplarisch angedeutete – Versuch, strukturelle Entsprechungen zwischen der klassisch-sprachbezogenen Translatologie und Termen der Medienwissenschaft herzustellen, mag darauf hindeuten, dass der Begriff der Übersetzung auch jenseits der ›Texte‹ in der Untersuchung von medialen und formalen Verfahren des Films mit Gewinn angewandt werden könnte. Wenn jedoch bereits diese kurze Lektüre des Essays Benjamins als eine Variante der Medium/Form-Unterscheidung den Übersetzungsprozess an mindestens zwei verschiedenen Stellen lokalisiert (zum einen zwischen den lockeren Möglichkeiten des Medialen und der fe-

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Ulrich Meurer sten Aktualität der Form, zum anderen zwischen einer Form und der ihr benachbarten Alternative), so weist dies auf die Notwendigkeit, die Vielzahl der Orte zu kartographieren, an denen der Film Übersetzungen unternehmen oder auch zum Gegenstand der Übersetzung werden kann.

IV. ÜBERSETZUNG & FILM: THE GREEK INTERPRETER »Mr. Constantine Melas, who earns his living as an interpreter, calls at Baker Street to consult Sherlock Holmes« – davon setzt uns gleich nach dem knapp gehaltenen Vorspann der sogenannte leader in Kenntnis, die einleitende Titeleinblendung in George W. Ridgwells Stummfilm-Abenteuer The Greek Interpreter.46 Nachdem zuerst Vermeers Perlenwägerin – ohne explizite Dauer, noch ohne Bewegung oder Narration – innerhalb seines Rahmens mannigfaltige Übersetzungen vollzogen hat und zugleich aus Übersetzungen hervorgegangen ist, soll Ridgwells Two-reeler als ein zweites, kaum minder komplexes Beispiel für die Arten und Orte von Übersetzung im nunmehr in Gang gesetzten Bild dienen: Die folgende Einstellung gibt durch die zügig geweitete Apertur der Irisblende den Blick frei auf Mr. Melas (Cyril Dane), den Detektiv (Eille Norwood) und dessen Freund und Biographen Dr. Watson (Hubert Willis), die um einen runden Salontisch versammelt sind. Holmes stopft die Pfeife, Watson zündet sich eine Zigarette an, während der Klient seinen Bericht beginnt, der als über siebenminütige hypodiegetische Rückblende ein Drittel der gesamten Filmhandlung (ca. 22 min) einnehmen wird. Am vergangenen Montagabend sei er von einem ihm unbekannten Mr. Latimer (J. R. Tozer) aufgesucht und gebeten worden, diesen in ein abgelegenes Landhaus zu begleiten, um bei den Verhandlungen mit einem griechischen Geschäftspartner behilflich zu sein, der der englischen Sprache nicht mächtig sei. Bald habe der Übersetzer jedoch feststellen müssen, dass es sich bei Latimer und dessen Kompagnon Wilson Kemp (Robert Vallis) um Verbrecher handele, die jenen vermeintlichen Geschäftsmann, Paul Katrides (L. André), in ihre Gewalt gebracht hätten, um die Überschreibung seines beträchtlichen Familienvermögens zu erzwingen. Während sich Melas hilflos dazu genötigt gesehen habe, die Drohungen der beiden Kriminellen ins Griechische und die trotzigen Weigerungen des abgemagerten und mit Bandagen seiner Sicht beraubten Opfers ins Englische zu übersetzen (die vier Männer sind bei diesem Verhör 46 The Greek Interpreter (letzte Episode der fünfzehnteiligen Filmserie »The Further Adventures of Sherlock Holmes«, UK 1922, Stoll Film Company, R: George Ridgwell). Besonderer Dank geht an das National-archiv des British Film Institute, London, und Kathleen Dickson, die mir den Film zugänglich gemacht haben.

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Gemeinsame Sequenzen wie in einer ›unheimlichen‹ motivischen Doppelung neuerlich um einen runden Salontisch versammelt), sei er auf den Gedanken verfallen, den Warnungen und Forderungen insgeheim eigene kurze Fragen anzuschließen, die der Gefangene ebenso unbemerkt auf Griechisch habe beantworten können. Auf diese Weise sei es ihm, Melas, gelungen, ein Gutteil der Geschichte seines unglücklichen Landsmannes in Erfahrung zu bringen, als just in diesem Moment dessen ahnungslose Schwester Sophy (Edith Saville), im Glauben an eine baldige Heirat mit dem betrügerischen Latimer, das Zimmer betreten und in dem misshandelten Gefangenen schockiert ihren Verwandten erkannt habe ... Obwohl sich Constantine Melas durch seine Eigenmächtigkeit in den Raum jenseits treuer und gewissenhafter Dolmetscherei begibt und dadurch zum ›schlechten‹ Übersetzer wird, ist ersichtlich, dass Translationsprozesse ein wichtiges Handlungselement des Films darstellen. Und in einer Weiterung des Begriffs (besser: im Sinne seiner weiter oben angedeuteten Abstraktion) ließe sich wohl auch als ›Übersetzung‹ bezeichnen, was Melas an findiger Spracharbeit der reinen Wortübertragung anhängt, um das hinter dem Verhör stehende Geheimnis ans Licht zu bringen, was ihn wiederum zu einem unversehens ›guten‹ Übersetzer macht. In der Tat erscheint Melas damit als Konkurrent des Protagonisten Holmes und der Film als die Geschichte zweier Übersetzer, die sich, je auf der Grundlage ihrer Profession, an die sprachliche und kriminalistische Klärung der Vorfälle machen. Dass beides, Translation und Kombination, dabei in eins fällt, erweist sich nicht nur in der ausgesprochen detektivischen Leistung des Übersetzers, sondern genauso in der anschließenden Umformung der Holmes’schen Schlussfolgerungen in überlange Zwischentitel, die die nunmehr kausal geordnete und vom Protagonisten vorgetragene Ereigniskette in Schrift übersetzen. Vor allem dieser Moment zeigt, wie auch die Kunst logischer Deduktion in eine Übertragung – von Sprachsymbolen in Indizes, von Indizes in Sprachsymbole – mündet, wie deshalb der Dolmetscher Melas als unbotmäßiger Doppelgänger des Meisterdetektivs kenntlich und daher aus Gründen narrativer Raison durch eine zweite Entführung und das Einatmen von Holzkohlenrauch zum Schweigen gebracht werden muss: Letzten Endes ist es ja der Sinn der Handlung, die Interpretationen des Sherlock Holmes als ›Übersetzung‹ darzustellen, die derjenigen des Greek Interpreter überlegen ist. Neben der Dolmetscherei und der Formung einer Erzählung aus dem Medium verfügbarer Indizien findet sich noch ein weiteres translatorisches Prinzip in den Ereignisanordnungen des Films. Zuerst manifestiert sich dieses Prinzip in der erwähnten weit ausgreifenden Rückblende, in die der Bericht der Titelfigur gefasst ist. Vorversetzt gegen ihren Rahmen und die übrige Handlung, zeigt sich

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Ulrich Meurer hier ein Großteil des Plots als unzeitig und schon vergangen. Das Geschehen muss durch den Übersetzer (und auf formaler Ebene eben durch den flashback) reaktualisiert und vergegenwärtigt werden; es besitzt einen gewissen Zug von Abwesenheit. Von jener ›Unzeitigkeit‹ der Übersetzung, die nie aktuell ist, das Ereignis immer verpasst, ihm folgt (oder auch vorangeht), ist bereits das Benjamin’sche Konzept zutiefst geprägt. »Ist doch die Übersetzung später als das Original und bezeichnet sie doch bei den bedeutenden Werken, die da ihre erwählten Übersetzer niemals im Zeitalter ihrer Entstehung finden, das Stadium des Fortlebens.«47 Neben dieser ersten Asynchronität, in der die Übersetzung die Nachreife des in steter Änderung begriffenen Originals bezeuge,48 gebe es auch den vorgreifenden und andeutenden Charakter der Übersetzung auf dem Weg zur Verwirklichung jener höheren Sprache, die am messianischen Ende der Geschichte und des heiligen Wachstums jedes einzelnen Idioms stehe. Beides, die Nachträglichkeit in Bezug auf ein (vielleicht nicht nur sprachliches, sondern auch real-ereignishaftes) ›Original‹ und die Ankündigung des Endes aller sprachlichen Differenz, macht die Übersetzung mit Walter Benjamin zu einem notwendig zeitlichen Phänomen.49 Dementsprechend – nicht nur weil die Detektiverzählung generell Rückschau und Re-Konstruktion ist und ein Geschehen in umgekehrter Reihenfolge aufrollt, sondern vor allem weil im vorliegenden Fall die Vermittlungsprozesse der Übersetzung alle Vorgänge zu dominieren scheinen – inszeniert The Greek Interpreter das Ereignis als abwesend und repräsentiert es in mannigfaltig verschobenen Translationen. Daher (anstelle des Geschehens) der hypodiegetische Bericht über den bereits zurückliegenden Montagabend; daher auch die auffällig häufige Ersetzung des ›Originals‹ durch Indizes, Symbolisierungen, Beschreibungen; daher schließlich (statt direkter Präsenz auf der Leinwand) die mediale Übertragung von Plot-Elementen und Figuren: Da beschreibt Mr. Melas im Nachhinein ausführlich und gestenreich seinen Entführer Latimer – zur Illustration seiner (stummen) Rede breitet er die Arme aus, um eine massive Statur zu demonstrieren; er hält die linke Hand waagerecht in die Höhe und deutet damit die Körpergröße an; er streicht über seine Wange, als er die Gesichtszüge und die Tönung der Haut erläutert. Wenig später versichert eine an Holmes gesandte Nachricht, dass jener Latimer wiedererkannt wurde, nicht aber weil sein Auftritt in persona der Beschreibung entsprochen hätte, sondern aufgrund einer zweiten Beschreibung, die mit der ersten übereinstimmt: »Dear Mr. Holmes, [...] From the chauffeur’s description of Latimer I think he must be the man you want.« Und 47 Benjamin: Aufgabe des Übersetzers, S. 10f. 48 Vgl. ebd., S. 12. 49 Vgl. ebd., S. 14.

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Gemeinsame Sequenzen gleich darauf erfährt der Detektiv von der zweiten Entführung seines Klienten aufgrund der Personenbeschreibungen einer Hauswirtin ... In solch fast überzeichneter Methode der Ersetzung durch (und Übersetzung in) Erzählung, während das Kintopp-Abenteuer sonst eher doch die attraction bevorzugt, gibt sich das Translatorische als Prinzip verzögerter Substitution zu erkennen. The Greek Interpreter lässt das Geschehen nie ›gerade jetzt‹ stattfinden; immer ist es vermittelt, kodiert, verspätet, übersetzt. Am Ende erweist sich daher auch der (handlungslogisch, strukturell oder produktionstechnisch nur selten motivierte) Medieneinsatz im Film als Strategie der Übertragung der zum Bild räumlich oder zeitlich verschobenen Ereignisse. Als eines von zahlreichen Beispielen für die massive Einschaltung von schriftlichen Nachrichten, Telegrammen, Berichten, Telefonaten, von einem ganzen medialen System zur Ausscheidung und vermittelnden Übersetzung des Hier und Jetzt, sei nur das glückliche Ende des Films angeführt: Nachdem die Bösewichte schließlich verhaftet sind und auch Sophy, die Schwester von Paul Katrides, aus ihren Händen befreit ist, darf sie ihren gleichfalls geretteten Bruder nicht etwa in die Arme schließen, sondern wird telefonisch mit ihm verbunden. Und anstatt sich erleichtert nach seinem Befinden zu erkundigen, teilt sie ihre Verblüffung – den Hörer in der Hand – dem neben ihr stehenden Sherlock Holmes mit: »It’s Paul! My brother!« Angesichts der Abwesenheit des Bruders ermöglicht das Telefon in dieser letzten Szene also noch nicht einmal eine mittelbare Kommunikation zwischen ihm und Sophy. Es gibt ihr lediglich Anlass, die unerwartete Tatsache medialer Verbindungen zu bestaunen. Ihre verwunderte Anerkennung scheint weniger dem Überleben Pauls als vielmehr der Sprachübersetzung des Apparats zu gelten. So zeigt sich am Titel des Films und an seinem Titelhelden, an der Schlüsselszene und gesamten Intrige, an der Übertragung von Hinweisen in eine Kopplung von Schlussfolgerungen, am Bericht über Vergangenes und an der Rückblende, an der mündlichen Beschreibung oder medialen Übertragung von Abwesendem, wie in The Greek Interpreter die unterschiedlichsten Facetten von Translation aufscheinen. Einige dieser Facetten mögen fraglos eher unsystematisch oder assoziativ in das Feld der ›Übersetzung‹ fallen; und zu ihrer Analyse könnten – etwa mit Blick auf die Vermittlung von Handlungsteilen über das Telefon – gleichfalls ganz andere Begriffe in Anschlag gebracht und Konzepte bemüht werden, von der ›Teichoskopie‹ bis zur ›schwachen Intermedialität‹.50 Gleichwohl wären 50 Siehe Irina O. Rajewsky: »Intermedialität ›light‹? Intermediale Bezüge und die ›bloße Thematisierung‹ des Altermedialen«, in: Roger Lüdeke, Erika Greber (Hg.): Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft. Göttingen 2004, S. 27-77. ›Schwache Intermedialität‹

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Ulrich Meurer vielleicht bei eingehender Betrachtung in vielen (den meisten? allen?) angeführten Fällen die weiter oben umrissenen Charakteristika des Übersetzens auszumachen, die so auch die Mauerschau oder bestimmte Varianten des Intermedialen einbegreifen würden: Ist nicht Holmes’ schlussfolgernder Vortrag eine Form, die die Elemente einer anderen Form, des Berichts nämlich von Mr. Melas, relativ fest koppelt? Ist der Monolog von Holmes nicht zugleich eine überaus indirekte Emanation des Basismediums ›Logik‹? Bezieht er sich, statt auf Aktion und Ereignis, nicht selbst auf das ›Original‹ einer vorgängigen Erzählung? Und wird in seiner Differenz zu dieser Erzählung nicht unvermittelt das Medium der Sprache oder des Sinnes sichtbar? Lassen sich außerdem in Sophy Katrides’ Gespräch mit ihrem Bruder nicht dieselben Merkmale finden; die Bildung aus einer früheren Form (derjenigen des ›Dialogs‹), der indirekte Bezug auf den grundlegenden Aspekt von Kommunikation oder Sprache, die Relation des Telefonats nicht nur zu solchem Basismedium, sondern auch zu einem ›Original‹, dem – hier ins Fernmündliche übersetzten – Zwiegespräch zwischen physisch präsenten Personen, schließlich der Abstand zwischen einem solchen innigen Austausch und seiner elektrischen Übermittlung, in dem sich nicht die Zuneigung zum Bruder, sondern tief darunter eigentlich das Wunder seiner medialisierten Anwesenheit offenbart: »It’s Paul! My brother!« Wie die Übersetzung, als Handlungsmotiv und zugleich als Verfahren eines ›sekundären‹ oder vermittelten Erzählens, auf beiden Seiten der Schwelle zwischen Inhalt und Form auftaucht, wie also die Dominante des Plots Einfluss nimmt auf die Repräsentation,51 so siedeln Translationen gleichfalls diesseits wie jenseits der Scheidelinie zwischen formalen und medialen Eigenarten in Ridgwells Film. Das betrifft an allererster Stelle die Zwischentitel, zum einen ihre Art und Weise, die mannigfaltigen Übersetzungsprozesse des Plots in einer bestimmten typographischen oder kompositorischen Gestalt abzubilden und aufzuschreiben, zum anderen ihren allgemeineren Status als in die Bildsequenzen eingelassene Notationstafeln eines extradiegetischen (epischen) beziehungsweise diegeti-

oder ›intermediale Bezugnahme‹ im engeren Sinne zeichne sich aus durch die bloße Simulation oder Thematisierung altermedialer Repräsentationsverfahren, etwa durch die ›filmische Schreibweise‹, die Beschreibung einer Photographie in einem literarischen Text oder einem auf der Leinwand wiedergegebenen Telefongespräch ... 51 Die letzte Schrifttafel des Films scheint diese Grenzüberschreitung zu bekräftigen, wenn der Protagonist Holmes in einem Anflug metaleptischer Kühnheit offensichtlich die Diegese kommentiert: »I’m rather a sentimetal fellow, Miss Katrides, and much prefer to have a happy ending when I can arrange one.«

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Gemeinsame Sequenzen schen (oder dialogischen) Diskurses.52 Zunächst sei angemerkt, dass – abgesehen vom eingangs zitierten leader des Films – dessen gesamtes erstes Drittel im strengen Sinne keine ›epischen Titel‹ aufweist, die aus neutraler oder auktorialer Erzählperspektive das Geschehen erläutern würden. Da dieser Teil zur Gänze vom Bericht des griechischen Übersetzers eingenommen wird und daher ausschließlich aus Rückblende und Figurenrede in ›Dialogtiteln‹ besteht, muss er eine visuelle Strategie entwickeln, die in den Schrifttafeln zwischen Wortäußerungen der hypodiegetischen Vergangenheit (Mr. Melas’ zurückliegende Unterhaltung mit Katrides und seinen Entführern) und der diegetischen Gegenwart (Mr. Melas’ Darlegungen gegenüber Holmes) zu unterscheiden erlaubt. Der Film löst dieses Problem nicht mit graphischen Mitteln, etwa durch variierende Spiegelstriche oder Zitatzeichen53 oder auch indem er die verschiedenen Zeitebenen in den Zwischentiteln durch den Einsatz von Grundschrift und Kursivschrift markierte (diese Differenzierung ist, wie man sehen wird, einem anderen Bedeutungskomplex vorbehalten), sondern mit den Mitteln der Montage: Während der Analepse, die den Übersetzer in der Gewalt der Verbrecher zeigt, werden die Tafeln mit seinen auf dieses Ereignis zurückblickenden Ausführungen stets durch eine lange Ab- und Aufblende über Schwarz gerahmt, um deren Ungleichzeitigkeit im Verhältnis zur Binnenhandlung anzuzeigen; im Gegensatz dazu sind intradiegetische Dialogtitel mit gewöhnlichem hartem Schnitt eingefügt und deutlich einem der Charaktere zugeordnet, der als Sprecher unmittelbar vor oder nach der Schrifttafel prominent ins Bild gesetzt erscheint. Derweil zeigt sich die beachtliche Übersetzungsleistung der Zwischentitel nicht nur in der schriftlichen Vermittlung von vergangener und zugleich gegenwärtiger Rede in ein und derselben Szene. Hinzu treten zwei weitere Erfordernisse, namentlich die Darstellung des Dolmetschens zwischen englischer und griechischer Sprache und daraufhin die Repräsentation von Redeteilen – den geheimen Erkundigungen des ›schlechten‹ Übersetzers Melas –, die sich, nur für den Zuschauer übersetzt, nicht aber für Latimer und Kemp, gleichsam parasitär in diesem Translationsprozess einnisten. Zunächst vermag ein knapper Blick auf die Einstellungsfolge der Verhörsequenz zu klären, wie der zweisprachige Dialog im Bild konkretisiert ist: •

Die Szene beginnt mit einer Halbtotalen, die alle vier Personen, Latimer, Katrides, Melas und Kemp, am Tisch eines gediegenen

52 Die Differenzierung zwischen epischen und Dialogtiteln folgt Gottlieb: Untertitel, S. 195. 53 Die Schrifttitel im ersten Teil von The Greek Interpreter sind ausnahmslos mit doppelten öffnenden und schließenden Anführungszeichen versehen.

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Ulrich Meurer

• • •



Kaminzimmers zeigt; Kemp, am rechten Bildrand, richtet seine Worte an den Übersetzer neben ihm. Es folgt der Zwischentitel: »Ask him if he is prepared to sign the documents?« Melas, als Figur der Vermittlung und Übertragung zwischen dem Fragenden und dem Befragten platziert, wendet sich Katrides zu. Der anschließende Zwischentitel »I’ll sign – if I see her [Sophy] married in my presence by a Greek priest whom I know.« gibt bereits die Antwort wieder: Offenbar sind in der Montage die dolmetschende Wiederholung der Frage auf Griechisch und daraufhin die einer Schrifteinblendung gewöhnlich vorangehende Großaufnahme des Sprechers übergangen worden. Dass sich Melas nun von Katrides ab- und Kemp zuwendet, bevor er zu sprechen beginnt, veranschaulicht in der Einstellungsfolge rückwirkend, dass der zuvor eingeschnittene Zwischentitel tatsächlich die Rede Katrides’ repräsentiert hat. Ohne einen weiteren Schnitt sieht man daraufhin, wie Kemp mit resignierter Gereiztheit auf die Erwiderung reagiert und dann eine nächste Frage stellt, wie Melas sie an den entführten Griechen weitergibt, wie dieser antwortet, wie der Übersetzer seine Worte wiederum ins Englische überträgt – all dies ohne eine Schrifttafel, die über den Verlauf des Gesprächs Auskunft gäbe ...

Nachdem also die Szene eingangs ihr Thema, den Grundkonflikt und die Regeln des Übersetzungsprozesses vorgestellt hat, scheint für das Zuschauerverständnis und die Handlungsentwicklung weniger der Inhalt der Rede (noch weniger deren zweisprachige Gestalt) und nur mehr die Tatsache der Befragung von Belang. Nicht der Dialog ist Gegenstand der Übersetzung, sondern die Situation, in der übersetzt wird, mithin die ›Übersetzung‹ selbst. Einerseits resultiert dies aus der Notwendigkeit inszenatorischer Ökonomie; so unangebracht im Stummfilm die Übertragung eines jeden Redeteils in Schrift wäre, so deplatziert und unsinnig nähme sich im vorliegenden Fall etwa die Einschaltung von auf Griechisch verfassten Zwischentiteln oder gar die Verdoppelung derselben englischsprachigen Texttafeln aus, um so den bilateralen Mechanismus der Übersetzung nachzubilden. Stattdessen erscheint sie als ein reiner Effekt, unter dessen Voraussetzung und in dessen Umgebung der Austausch zwischen Melas und Katrides unbemerkt vor sich gehen kann. Denn nur so, geschützt durch die provisorische Zweisamkeit der Fremdsprache, kann der Übersetzer den Zwang des Sekundären abstreifen und sich als Ermittler in das Gespräch einschalten: Eine Großaufnahme des Mr. Melas, in dessen noch zweifelnden Zügen sich unvermittelt ein Einfall abzeichnet, unterbricht die Sequenz, und nach langsamer Überblendung steht zu lesen: »After a time I

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Gemeinsame Sequenzen took to adding on sentences of my own to each question«, gefolgt von einer ähnlichen Großaufnahme, die den Übersetzer endgültig seinen Entschluss fassen lässt. Von da stellt jeder der Zwischentitel gleichsam zwei synchrone Dialoge dar. Zum einen dient er – wie auch zuvor – der Wiedergabe der Befragung durch die Erpresser, zum anderen aber den verborgenen Erörterungen der zwei Griechen (in dem Maße übrigens, in dem jene zweite, geheime Unterredung Aufmerksamkeit einfordert, verblassen die Verhörfragen im Formelhaften; sie sind lediglich noch Kleid und Hülle einer untergründigen Kommunikation, die im offen ausgesprochenen Dialog sich verbirgt). Obwohl es sich bei jeder Schrifttafel daher stets um nur einen Sprechakt handelt, ist er in zweifacher Hinsicht gespalten, zum einen durch seine Gliederung in zwei Absätze, die jeweils mit separaten Anführungszeichen versehen sind, zum anderen durch den Einsatz von aufrechter Type im ersten und Kursivsatz im zweiten Teil. Auf bemerkenswerte Weise scheint das in der Figur des Constantine Melas wie auch des Paul Katrides eine Mehrzahl von Sprechern anzuzeigen, und tatsächlich verzweigt sich ihrer beider Sprache ja insofern, als sich im Übersetzer zwei Fragende vereinen, während sich alle Äußerungen des Gefangenen gleichzeitig an zwei Adressaten richten.

Wie sehr hier der ›Effekt‹ der Übersetzung zur reinen Bedingung eines ganz anderen Sprach- und Bildphänomens geraten ist, wird demnach kenntlich in einer signifikanten Verschiebung: Die Differenz im Lettering der Schrifttafeln deutet nicht auf eine sprachliche Differenz, sie markiert nicht die Grenze zwischen englischem und griechischem Idiom, wie es der Szenenkontext nahelegt. Ebenso wenig ergibt sie sich aus einer konkreten (bestenfalls aus einer inneren und impliziten) Mehrzahl oder Differenz der Sprecher, zwischen denen übersetzt werden könnte, denn die typographischen Varianten durchziehen hier die Rede jeweils einer einzigen Person. Stattdessen und eigentlich zeigt die Modifikation der Schrift eine Unterscheidung an, die zusätzlich das Terrain der Überrsetzung wie des Unübersetzten durchzieht, diejenige nämlich zwischen dem Offenen und dem Klandestinen. Der eingeforderte und sanktionierte Teil des 33

Ulrich Meurer Dialogs erscheint in Normalschrift, der unkontrollierbare und geheime hingegen kursiv; er ist in jedem Sinn das ›Untersagte‹, das (freilich in einem Englisch, das für das Griechische steht) allein dem Zuschauer offenbart wird. Dies nun scheint unversehens das letzte Refugium der Übersetzung: Während sie offenbar für die mise en scène an Bedeutung verliert, um bald nur noch eine günstige Gelegenheit zur Konspiration abzugeben und die Handlung voranzutreiben, findet sie sich schließlich auf der formalen Ebene filmischer Informationsvergabe ein. Sie richtet sich nicht mehr an das Verbrecherpaar, sondern an die Zuschauerschaft. Sie findet nicht mehr in actu vor unseren Augen statt, sondern ist – im Zuge der Niederschrift des Drehbuchs – längst schon vollzogen. Das aber, die Übersetzung einer in der Diegese verwendeten Fremdsprache für das Publikum, verlässt den Bereich inhaltlicher oder formaler Translationen in The Greek Interpreter und weist hinaus über die Grenzen seiner narrativen Struktur. Jetzt geraten benachbarte Systeme, Kontexte, Diskurse, Medien in den Blick: die Rezeption zunächst, die zuweilen gestützt werden will, indem ihr die sonst unverständlichen Sprach- und Schriftanteile des Films durch Übersetzung zugänglich gemacht werden. Das bezieht sich auf all die Verfahren, in denen sich entweder die übersetzte Version dem ›ursprünglichen‹ Film an die Seite stellt (wie in den alternativen Sprachfassungen des frühen Kinos), in denen lediglich bestimmte mediale Vermittlungskanäle ersetzt werden (etwa in der Synchronisation) oder aber zu diesen audiovisuellen Kanälen ein weiterer hinzutritt (Untertitelung, voice over-Translation). Derweil weisen solche Phänomene, die vielleicht eine Kopplung des Filmbilds mit einer neuen Tonspur oder auch die Einblendung von Schriftbalken meist am unteren Bildrand mit sich bringen, stets – mindestens – zwei Seiten auf. Einerseits mögen sie im Lichte eines überkommenen Übersetzungsbegriffs als Sprachtausch oder Kommunikationsweise betrachtet werden.54 Andererseits aber deuten sie ausnahmslos auf die mediale Verfasstheit des Films. Der Geist des Asynchronen hinter jeder nachträglichen Synchronisation, die unnachgiebige Präsenz von Schriftzeichen im lebendigen Fluss des Filmbilds, die akustischen Verschleifungen eines über den gedämpften Originalton gelegten Kommentars sind sämtlich Ereignisse, die die apparative und dispositive Verschaltung von Hören und Sehen, von Sehen und Lesen im Film ins Bewusstsein heben. In der Übersetzung und ihrer technischen Implementierung wird mithin der Film als Medium sichtbar – man ist neuerlich erinnert an Benjamin, 54 Dies ist freilich eine der wenigen Facetten von Übersetzung, die an The Greek Interpreter nicht oder nur hypothetisch zu untersuchen wäre; soweit mir bekannt, existiert keine untertitelte oder anderweitig sprachübersetzte Version des Films.

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Gemeinsame Sequenzen an Luhmann –, und das gilt nicht nur für jene interlingualen Translationsprozesse, die auf den Ton-Bild-Schrift-Kombinationen von Synchronisation oder Untertitelung basieren. Genauso zeigt sich das Kino als Kopplung in den Übertragungen von Sprachklang in Schriftzeichen, wie sie die Zwischentitel im Stummfilm vornehmen. Hier ist es nicht mehr der Unterschied zwischen einer Sprache und einer anderen, der sich in der Übersetzung behandelt sähe, sondern der zwischen Stimme und Dialogtitel, genauso derjenige zwischen Filmbild und Schrifttafel. Der außergewöhnliche Umstand optisch notierter Figurenrede inmitten einer real bewegten Filmhandlung ist zweifellos eine besondere Art der Umsetzung, Übertragung oder Übersetzung, die, in wohl kaum geringerem Maße als ein Untertitel, das Feld des Intermedialen aufruft. Bevor also die Zwischentitel in The Greek Interpreter auf so mannigfaltige Weise übersetzen (Wilson Kemps Englisch ins Griechische, damit Katrides versteht; seine Drohungen in ein geheimes Fragespiel, damit Melas versteht; das Sanktionierte in Normal- und das Klandestine in Kursivtype, außerdem Melas’ und Katrides’ Griechisch ins Englische, damit das Publikum versteht ...), sind sie als Zeichenensemble bereits Indikatoren für die allem zu Grunde liegende Übersetzung von Ton in Bild, für die basalen Übertragungen des Mediums Film und seine kombinatorische Beschaffenheit. Damit betrifft der Leitbegriff der Übersetzung nicht mehr nur solche narrativen Momente und Motive ›intermedialer Bezugnahme‹ wie ein von Holmes verschicktes Telegramm oder Sophy Katrides’ Telefongespräch. Er nähert sich nun ebenfalls dem Bereich der ›Medienkombination‹, also der Verbindung »mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien bzw. medialer Artikulationsformen, die in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen«.55 Sprache im und als Bild, wie sie durch die Einblendung von Dialogtiteln in The Greek Interpreter realisiert wird, übersetzt demnach ebenso zwischen Sprachen wie zwischen Fakultäten der Wahrnehmung. Sie zielt gleichzeitig auf die inhaltlichen und formalen, die medialen und intermedialen Aspekte von Translation im Film. Nicht zuletzt bleibt zu erwähnen, dass es sich bei The Greek Interpreter natürlich um die Verfilmung der gleichnamigen Erzählung von Arthur Conan Doyle und somit um ein Beispiel für intersemiotische Übersetzung oder Transmutation im Sinne Jakobsons handelt. Und wenn zuvor von ›intermedialem Bezug‹ und ›Medienkombination‹ die Rede war, so stellt der Film nun gleichfalls einen ›Medienwechsel‹ im Sinne Irina Rajewskys dar, die »Transformation eines medienspezifisch fixierten Prä-›Textes‹ [...] in ein anderes Medi-

55 Rajewsky: Intermedialität ›light‹?, S. 37.

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Ulrich Meurer um«.56 Die Verfilmung als intersemiotische oder auch intermediale Übersetzung zu betrachten, daraus ergeben sich nicht lediglich so ›tief‹ greifende Fragen wie die nach dem Basismedium, das den beiden Formen gemein ist und in ihrer Differenz aufgedeckt wird (wie es die weiter oben entworfene Systematik des Translatorischen behauptet). Auf einer Ebene, die die Medialität der zwei Formen direkt berührt, wäre vor allem zu untersuchen, welche Eigenarten und Effekte das jeweilige Medium in die narrativen Elemente und Strukturen von Text beziehungsweise Film einbringt. So ist etwa hier wie dort zu Gunsten des Erzählflusses der Übersetzungsprozess zwar benannt und formal angedeutet, aber nicht in seinen Verzweigungen und Wiederholungen ausgeführt. Während der Film ihn allerdings – wie beschrieben – auf eine Serie von stummen Gesten reduziert, ohne den genauen Inhalt des Dialogs zu offenbaren, konzentriert sich der Text umgekehrt und scheinbar dem Medium gemäß auf die Wiedergabe von Rede und Gegenrede und berücksichtigt dabei in seiner Satzfolge kaum den Sprachwechsel, die damit verbundene Redundanz oder die zwischengeschaltete Vermittlerfigur. Die in beiden Fällen beobachtbare Umformung der Übersetzung in einen narrativen Effekt orientiert sich demnach am einen und anderen Medium, indem sie den Vorgang im ersten Fall als Bewegungsfolge und Figurenkonstellation im Filmbild, im zweiten als wortund inhaltsgebundene Dialogpassage darstellt. Eine ähnliche Ausdifferenzierung als Rekurs der je eingesetzten Erzählelemente auf deren mediale Bedingung lässt sich an zahlreichen Stellen aufspüren – besonders deutlich vielleicht in dem Motiv eingeschränkter Sinneswahrnehmung, das im Text wie im Film dominant ausgeführt ist: Conan Doyles Erzählung berichtet eingangs von Constantine Melas’ abendlicher Kutschfahrt: »The paper over each window was impenetrable to light, and a blue curtain was drawn across the glasswork in front.«57 Auch das Zimmer im Haus der Entführer ist nur schwach von einer farbigen Gaslampe beleuchtet, so dass die Titelfigur lediglich durch einen zufälligen Lichtreflex sein Gegenüber als Brillenträger identifizieren kann.58 Das Thema der eingeschränkten Sicht, der Verschleierungen, Sehhilfen und visuellen Hemmungen, zuletzt in einem von dichtem Kohlenrauch verdunkelten Raum,59 erfährt derweil an einer Stelle des Texts seine unerwartete 56 Ebd. 57 Arthur Conan Doyle: »The Greek Interpreter«, in: William S. Baring-Gould (Hg.): The Annotated Sherlock Holmes, Bd. 1. New York 1967, S. 590-605, hier S. 596. 58 Vgl. ebd., S. 597. 59 Vgl. ebd., S. 604: »Peering in we could see that the only light in the room came from a dull, blue flame, which flickered from a small brass tripod in the centre. It threw a livid unnatural circle upon the floor, while in the sha-

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Gemeinsame Sequenzen Inversion durch die Gestalt Paul Katrides, dessen »protruding, brilliant eyes« einerseits von seiner inneren Anspannung zeugen, während andererseits der größte Fetzen des Pflasters, mit dem man sein Gesicht grotesk verklebt hat, gerade nicht die Augen, sondern seinen Mund bedeckt.60 Die Stummheit als ›Demarkierung‹ in der Reihe von Blindheiten wäre dann als eine Abweichung zu lesen, die inmitten des visuellen Motivfeldes nun die Sprache, die verbale Äußerung, die Schrift – der geknebelte Katrides kritzelt die Antworten mit einem Griffel auf eine Schiefertafel – und damit schließlich auch das Medium der Erzählung selbst unerwartet aufscheinen lässt. Die Verfilmung des Texts wiederholt daraufhin in vieler Hinsicht die Minderungen und Verstellungen des Sehens; man ist sogar versucht, den von Holmes ausgestoßenen Pfeifenqualm, den Rauch der ewig glimmenden Zigarette Watsons, den aufdringlichen Tabaknebel im Studierzimmer des Detektivs in die Serie visueller Beschränkungen aufzunehmen. Im Gegensatz aber zu seiner literarischen Vorlage versieht der Film den verschleppten Katrides nun nicht mit der Demarkierung einer Knebelung, sondern verbindet ihm die Augen. Das Sprechen bleibt ihm erlaubt, und tatsächlich würde ja der Gebrauch einer Schiefertafel die Verhörszene im Stummfilm unnötig komplizieren. So reiht sich die mittels zweier breiter Bandagen ihrer Sicht beraubte Figur fugenlos in die große Ordnung verstellter Blicke ein; der Film verzichtet auf ausgefallene Verschiebungen in seinen Konstruktionen von Wahrnehmung, vor allem weil das Sehen und Nichtsehen bereits ungebrochen auf die eigene Medialität hinweist. Wenn Conan Doyles Erzählung also durch die Abweichung vom dominanten Motiv der Visualität ihr Medium als Wörtlichkeit und Schriftlichkeit reflektiert, so scheint Ridgwells Film diesen autoreflexiven Gestus zu adoptieren, indem er die in einem gedruckten Text (ver-)störende Stummheit in eine das Bild irritierende Blindheit übersetzt. Intersemiotische Translation und Medienwechsel, so veranschaulicht dieses Beispiel, könnten damit vornehmlich als Verfahren untersucht werden, bei denen sich die beteiligten Medien fast unweigerlich in den Formen abdrücken. Die Bestimmung und Beschreibung jener Abdrücke ist es, die, jenseits aller sogenannten übersetzerischen ›Treue‹ oder ›Freiheit‹, eine Relationierung altermedialer Äußerungen erlaubt, ohne dabei deren spezifische Medialität aus dem Blick zu verlieren. Am Ende dieser Reihe von Varianten und Spielarten der Translation in und durch The Greek Interpreter stellt sich die Frage, ob Repräsentation für sich bereits einen Aspekt der Übersetzung beinhaltet. Sind der indexikalische Bezug des Films auf die vorfilmische dows beyond, we saw the vague loom of two figures, which crouched against the wall.« 60 Vgl. ebd., S. 597.

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Ulrich Meurer Realität oder aber die Transformation der Modalitäten der Welt in die Medialität des Bildes irgend als Übersetzungsprozesse zu interpretieren? Im Hinblick zumindest auf das dem Film vorgängige literarische ›Original‹ legen das die editorischen Anmerkungen in der Ausgabe gesammelter Sherlock-Holmes-Erzählungen nahe, indem sie das Zeichensystem des Textes unablässig mit der historischen Realität abgleichen, etwa um anhand der Schilderung topographischer und städtebaulicher Eigenarten Londons das Jahr der Handlung festzustellen.61 So unzeitgemäß, naiv oder auch (bewusst) ironisch solch ein Anspruch spätestens seit seiner strukturalistischen Kritik erscheinen muss, kann er doch Aufschluss geben über die Grenzen des Übersetzungsbegriffs: Zunächst muss auch die am wenigsten bedachte und schier zufällige Repräsentation, so sie Übersetzung sein will, auf eine Form zurückgehen, die ihrerseits ausgewählt und selektierte Elemente gekoppelt hat. Ein Rückgriff auf die Welt stünde insofern außer Frage, als die Welt eben formlos, unbestimmbar und unbeobachtbar ist, so dass ihre Wiedergabe keine Übersetzung oder Umformung vornähme, sondern im besten Falle nur ihre Ununterscheidbarkeit und ihren Mangel an Form konstatieren könnte. Die Übersetzung baut hingegen auf dem auf und ist selbst das, was Niklas Luhmann gerade nicht Welt oder Repräsentation, sondern einen »Weltrepräsentationsersatz« nennt und was gekennzeichnet ist durch die Differenzierung einer formlosen Einheit in zwei nun sinnvoll geformte Seiten, namentlich diejenige der Existenz des einen und, davon unterschieden, die Möglichkeit eines anderen: »Anstatt die Welt phänomenal zu geben, führt sie [jene Zwei-Seiten-Form] den Hinweis mit, daß es immer auch noch etwas anderes gibt.«62 Darüber hinaus würde die Annahme einer ungefilterten, beliebigen Realität als ›Original‹ einer Übersetzung implizieren, dass diese nicht vermittelt über mehrere Stufen oder mediale Ebenen, sondern ganz direkt an jener Wirklichkeit hinge und von ihr abhinge, dass außerdem kein Unterschied mehr festzustellen wäre zwischen den beiden Quellinstanzen der Übersetzung, dem Grund- oder Basismedium einerseits und dem konkreten ›Original‹ andererseits, und schließlich dass genau darum keinerlei Basismedium im Abstand zwischen Übersetzung und ›Original‹ mehr sichtbar werden könnte. Kurz: in der Annahme der Welt als Ausgangsterm und Objekt des Translationsprozesses würde nicht ein einziges der zuvor aus Benjamin und Luhmann abstrahierten und hier als (wenn auch nicht hinreichende, so doch notwendige) Definitionsmerkmale von Übersetzung angegebenen Kriterien erfüllt! Wenn als Prämisse gilt, dass Übersetzung gleichsam als Transfer von einem 61 Siehe ebd., Fußnote 9, S. 592; Fußnoten 11, 12 und 13, S. 593; Fußnote 19, S. 596 etc. 62 Vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 175.

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Gemeinsame Sequenzen System in ein anderes immer aus einer schon bestehenden Form hervorgehen muss, dann können mimetische Verfahren, mit denen der Film oder Text eine rohe, ›objektive Wirklichkeit‹ ins Bild setzt, nicht als Übersetzung verstanden werden, da die Welt grundsätzlich kein System darstellt: So lässt sich das Medium Film – wie jedes andere – kaum per se als »medium of translation« bezeichnen, »one that turns reality into a long strip of chemicals or digits«.63 Am Begriff einer so gearteten Repräsentation findet die Übersetzung ihre Grenze.

V. PERLEN WIEGEN – BEITRÄGE ZUR ÜBERSETZUNG IM FILM Im Rückblick also auf die Lektüre von The Greek Interpreter und im Hinblick auf den Aufbau dieses Bandes – was wäre an übersetzerischen Aspekten und Verfahren mit Fug an den Film heranzutragen oder aus ihm zu extrahieren? Wenn man die Übersetzung weniger als abgeschlossenes, in sich ruhendes Artefakt und vielmehr als ein bewegliches Verhältnis betrachtet, so dass ihre Solidität immer aufzugehen beginnt in einem prozesshaften Dazwischen, wenn die Übersetzung weder durch die Einheit und Erstheit der Quellform noch durch die Zweitheit ihrer Doppelung in der Zielform, sondern durch die Drittheit ihrer Position im Zwischenraum definiert ist,64 dann wird die Frage nach der Translation im Film offensichtlich zur Frage nach dem Film als einem Relationskomplex und nach dessen Beziehung zu anderen Komplexen (Medien, Strukturen). Zuerst operiert die Übersetzung im Film, in und zwischen seinen unterschiedlichen Subsystemen; der einfachste Fall ist dabei die

63 John Ott: »On Translation in Cinema«, Online-Artikel in: Making the Movie, 21.06.2005, http://makingthemovie.info/2005/06/essay-on-translation-incinema.html [letzter Zugriff: 01.10.2011]. Zu bedenken wäre in diesem Zusammenhang laut S. Kupsch-Losereit die besonders im dekonstruktivistischen Denken etablierte Auffassung, dass sprachgeprägtes Denken die Welt erst konstituiert und jede Art des Sprechens oder der zeichenhaften Wiedergabe die Wirklichkeit neu und anders strukturiert; insofern alle erreichbare Realität textueller Natur ist, kann auch deren Repräsentation unversehens in das Gravitationsfeld des Übersetzungsbegriffs geraten. Vgl. dazu: Sigrid Kupsch-Losereit: »Rashomon und das Übersetzen«, in: Website des Fachbereichs 06 Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 17.11.2003, http://www.fask.unimainz.de/user/kupsch/rashomon.html [letzter Zugriff: 01.10.2011]. 64 Zur Übersetzung als Drittheit im Sinne Peirce’ siehe u.a. das unveröffentlichte Exposé zur Vorlesungsreihe ›Film und Übersetzung‹ an der Universität München, besonders aber Vincent Colapietro: »Translating Signs Otherwise«, in: Susan Petrilli (Hg.): Translation, Translation. Amsterdam, New York 2003, S. 189-215.

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Ulrich Meurer Übersetzung als Motiv oder erzählerisches Element. Eine solche auf der Inhaltsebene angesiedelte Verhandlung von Mehr- und Fremdsprachigkeit oder intersemiotischen Übertragungsvorgängen ist derweil stets Hinweis und Ansporn zur Suche nach all den weniger offenbaren formalen und medialen Orten der Translation im Film. Denn von George Ridgwells The Greek Interpreter bis Sidney Pollacks The Interpreter (2005), von Godards Le Mépris (1963) bis John Woos Windtalkers (2002) geht das Thema sprachlicher Übersetzung immer bereits über in eine Reflexion ihrer Einschaltung zwischen Kulturräumen, Kunstgattungen, Medien.65 Ebenfalls innerhalb des Systems Film, jenseits aber der Begebnisse des Plots siedeln daraufhin diverse selbstreferenzielle Strategien (das heißt: Übersetzungen zwischen Handlung, Form, Medium eines oder des Films) und zudem Erscheinungsweisen der auf ein Einzelwerk oder Genre zielenden Parodie, des Pastiche und Remake (das heißt: Übersetzungen zwischen Handlung und Form zweier oder mehrerer Filme); solche Momente der Neu- und Umform(ulier)ung, Weitergabe und Wiederholung verknüpfen den Begriff der Übersetzung zugleich mit demjenigen der ›Überlieferung‹. Gleichwohl betreffen die prominentesten und häufigsten unter den medieninhärenten Translationsprozessen fraglos die vielen stimm-, sprach- und schriftbezogenen Aspekte der Filmpraxis, etwa die (Fehl-)Übersetzungen durch Untertitelung, die (A-)Synchronitäten der Synchronisation wie auch deren künstlerische und historische Implikationen.66 Dementsprechend bestimmt auch dieses Buch am Beispiel der Er- und Übersetzung der Stimme durch die Synchronisation das Wesen des Films eingangs als zutiefst kombinatorisch und macht es so, gegen alle romantischen Ansprüche auratischer ›Einheit‹, technisch wie geschichtlich als Maschine der Varianten, Versionen und Übersetzungen kenntlich (Joachim Paech). Im Anschluss daran – da nämlich die Struktur des Bandes, wie man sehen wird, der fortschreitenden Erweiterung und Öffnung seines Leitbegriffs folgt – verlagert sich der Schwerpunkt von der Synchronisation als einem dem Film innewohnenden Translationsverfahren, auf dessen dra65 Die Beiträge von Jochen Mecke, Maria Oikonomou und Volker Mergenthaler demonstrieren, wie das Handlungsmotiv interlingualer Translation jeweils in intermediale, bildästhetische oder gar religiöse Übersetzungsprozesse mündet. 66 Vgl. auch das Projekt »Fakebase – The Mistranslation of Politics and the Politics of Mistranslation in Film and the Media«, das unter Leitung von Rainer M. Köppl am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien durchgeführt wird. Das Online-Forschungsvorhaben widmet sich besonders der Erstellung einer Datenbank, die Fälle von politisch und kommerziell motivierter Fehlübersetzung im Film dokumentiert: www.elo ise.at/eloise_fakebase.html [letzter Zugriff: 11.10.2011].

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Gemeinsame Sequenzen maturgische, kulturelle und politische Auswirkungen. Und nicht nur in der Differenz zwischen unterschiedlichen Sprachfassungen eines Films, sondern jetzt auch durch deren Abgleich mit literarischer Vorlage und Drehbuch wird die sonst schweigsame und verschwiegene Arbeit eines diskursiven ›Zensors‹ augenfällig (Martin Schwehla). Von dort aus aber gerät die Kontaktnahme des Films mit anderen Zeichenstrukturen und umliegenden (medialen) Systemen in den Blick, was zugleich das Feld kinematographischer Translationen bereichert, etwa um die Übersetzung von literarischem Text in Drehbuch, Drehbuch in Filmbild, um Strategien der Literaturverfilmung oder Literarisierung von Filmen. Wie sich bereits in der Koppelung von Sprache, Schrift und Bild im Falle der Untertitelung und Synchronisation angekündigt hat, ist der Übersetzungsbegriff nun offenbar zunehmend an dem des Intermedialen zu messen. Eine Wechselbeziehung des Films mit Texten, anderen Notationssystemen und Fremdmedien wirft damit nicht zuletzt die Frage nach der relativen Positionierung beider Konzepte auf: Wäre die ›Translation‹ – als eine Übertragung in ihrer von Sprachprozessen abstrahiertesten Form – unter die weitreichende Herrschaft und Vielzahl intermedialer Phänomene zu subsumieren; könnte sie unter Umständen als deren synonyme Entsprechung gelten; müsste man sie als einen Oberbegriff verstehen, dem dann die Intermedialität als ein denkbarer Sonderfall einzuordnen wäre? Oder ließe sich angesichts grundsätzlicher systematischer Differenzen der je bezeichneten Erscheinungen vielleicht an einer derartigen Begriffshierarchie und den darin implizierten Schnittmengen der zwei Konzepte gar nicht festhalten, so dass der Konnex zwischen Übersetzung und Intermedialität jedes Mal erst zu bestimmen wäre? Derlei Problematik wird an mehreren Gegenständen, am Comic etwa und Roman, exemplarisch nachgezeichnet (Hans-Edwin Friedrich, Kirsten von Hagen). Dabei zeigt sich, wie die vielfältigen Transfermechanismen zwischen Bewegtbild und anderen – zumeist schriftbasierten – Medien, narrativen Strategien oder Repräsentationsweisen als ›Übersetzung‹ nicht nur immer neu verhandelt werden müssen; darüber hinaus bilden sie oftmals nur den Bruchteil eines ganzen Schichtwerks von sprachlichen und kulturellen, autoreflexiven und intermedialen Translationen, die in einem einzigen Film miteinander kommunizieren (Jochen Mecke). Damit aber rücken nach den Translationen im Film und den Translationen altermedialer Gefüge in den Film all jene Formen künstlerischer, diskursiver oder auch wissenschaftlicher Übersetzung in den Fokus, die ihren ursprünglichen Ort ganz außerhalb des Bewegungsbildes haben und daraufhin (gleichsam als Übersetzung einer Übersetzung) in dessen Grenzen Aufnahme finden und

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Ulrich Meurer zur Darstellung gelangen. Hierzu zählt etwa die Verwandlung reiner Abstrakta in die Anschaulichkeit von Denkfiguren, Begriffen oder Sprachbildern, die dann ihrerseits, in einem nächsten Übersetzungsschritt, durch den Film eine zweite Verbildlichung erfahren. Hiermit in engem Zusammenhang stehen alle filmischen Visualisierungen von Metaphern, Allegorien, Hypotyposen oder auch der Transfer wissenschaftlicher Theorien, Modelle und Methoden auf die Leinwand – von Eric Martins Flatland (1965) bis zum barocken Ludismus Greenaways, von Jean Painlevé zur Zeichentrick-DNA in Spielbergs Jurassic Park (1993). Desgleichen ist diesem Komplex kinematographischer Meta-Übersetzungen wohl die Inszenierung des Unbewussten in manifesten Traumbildern67 und deren anschließende filmische Repräsentationen zuzurechnen, ein Prozess, der die Verdichtungen und Verschiebungen des Traums und Wahns in einem Akt nachträglicher Trance-Lation in kalkulierte Kinobilder übersetzt. In jedem dieser Fälle, in Denkbildern, Diagrammen und Traumszenen, geht es nicht lediglich um den translatorischen Bezug des Films zu anderen medialen Anordnungen und Signifikantenstrukturen, sondern um filmische Re-Imaginationen von Übersetzungen, die bereits in anderen Zeichenfeldern, Medien und Diskursen stattgefunden haben. Insofern stellen die Translationen des selbst schon durch Übersetzung zugänglich gemachten Unsinnlichen, des begrifflichen Denkens, auch der Szenen des unbewussten oder ›seelischen‹ Erlebens in die filmische Anschaulichkeit eine letzte Weiterung des Gegenstands dar. Demgemäß geht es dem Band schließlich nicht mehr nur um Sprachtransfer, sondern um die filmische Übersetzung einer Rede des Körpers oder gar um die Utopie einer gänzlich asemiotischen und zeichenlosen Rede (Maria Oikonomou); es geht nicht länger um die Aufnahme von Schriftzeichen und Medienbildern in den Film, sondern um seine Fähigkeit, Traumzeichen und Wahnbilder wie auch deren wissenschaftliche Theoretisierung durch die Psychoanalyse ins Visuelle zu übersetzen (Ulrich Meurer). Und am Ende scheint sich das Buch – nach einem Blick über die Schulter – vom bloßen Dolmetschen ganz zu lösen, um dahinter die Übersetzung im Film als einen Wechsel der Seinssphären, als Sakrament und Eintritt in den Stand göttlicher Gnade auszumachen (Volker Mergenthaler). Vor diesem Hintergrund lässt sich der Band als Erprobung und Kritik des Übersetzungsbegriffs auf dem Gebiet des Films fassen. In 67 Vgl. S. 17, Fußnote 23. Zu den Spielarten des Transfers und der Translationsprozesse im psychoanalytischen Diskurs siehe außerdem: Georg Christoph Tholen, Gerhard Schmitz, Manfred Riepe (Hg.): Übertragung – Übersetzung – Überlieferung. Episteme und Sprache in der Psychoanalyse Lacans. Bielefeld: Transcript 2001.

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Gemeinsame Sequenzen der Gesamtheit aller hier vorliegenden und auch der nur denkbaren Beiträge zum Thema mag ›Übersetzung‹ – im linguistischen, semiotischen und literaturwissenschaftlichen Sinne, in ihren medialen, kulturellen und epistemologischen Ausprägungen, vielleicht auch in ihren technischen und mathematischen Bestimmungen – schließlich als ein Übertragungsprozess zwischen Systemen beschreibbar werden, der vollends unmetaphorisch auf den Film angewandt werden darf. Gäben die hier versammelten Texte nur den Umriss eines solchen Übersetzungskonzepts frei, dann wären damit (nach dem Vorbild von Vermeers Perlenwägerin) zumindest die Quadranten gezogen, in die daraufhin eine ganze Anzahl weiterer Koordinaten der transmedialen Adaption, multimedialen Kombination und intermedialen Relation im Film eingezeichnet werden könnten.

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Synchronisation: Zur technischen Koppelung der Sinne JOACHIM PAECH

In einem französischen Film aus dem Jahr 1946 mit dem Titel Etoile sans lumière (Chanson der Liebe) des wenig bekannten Regisseurs Marcel Blistène wird (auch) vom technisch-apparativen Austausch der Stimmen im Film erzählt. Die Handlung ist mit wenigen Worten die folgende: Im Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm droht dem Stummfilmstar Stella Dora der Abbruch der Karriere, als ihr Manager auf die Idee kommt, ihre für den Tonfilm unbrauchbare Stimme durch die bezaubernde Stimme des einfachen Mädchens Madeleine (gespielt und gesungen von Edith Piaf) zu ersetzen. Madeleine nimmt im Studio ein Lied auf, das im Playback-Verfahren in eine Szene mit Stella Dora eingespielt wird. Der Film entfremdet sie nicht nur ihrer Stimme, sondern auch ihres einfachen Lebens und ihres Freundes Pierre (gespielt von Yves Montand). Sie versucht, eine eigene Karriere als Sängerin in einer Music Hall anzufangen, aber Stella Doras drohender Schatten hindert sie selbst dann noch daran, nachdem jene bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie wird ihre (auch im juristischen Sinne) eigene Stimme nicht mehr zurückbekommen, am Ende kehrt sie mit Pierre in ihren Alltag zurück. In der hier entscheidenden Szene während der Gesangsaufnahme im Filmstudio erlebt Madeleine die technische Ablösung ihrer Stimme von ihrem Körper (von sich selbst) sowie deren Übertragung und erneute szenische Koppelung für einen ›Film im Film‹. Zunächst erfahren wir, wie der technische Vorgang der Koppelung von Filmaufnahmen mit einem externen Ton zeitgenössisch als ›Playback-Verfahren‹ praktiziert wird. Die Aufnahme von Madeleines Gesang ist zugleich die kontinuierliche Ablösung ihrer Stimme von ihrem Körper als Verlust ihrer ursprünglichen organisch einheitlichen Natur. Sie muss zuerst ihre natürliche Scheu vor der Technik ablegen, bevor sie ihre Stimme an das Mikrophon abgeben kann. Gesang und technische Aufnahme sind räumlich und zusätzlich durch eine Glaswand getrennt, der Blick auf Madeleine wird immer 45

Joachim Paech mehr verstellt, bis nur noch ihre bereits (im Wortsinn) ›übertragene‹ Stimme zu hören ist. Als nach der Aufnahme ihr Gesang ins Studio eingespielt wird, ist die technisch wiedergegebene Stimme nicht mehr ihre eigene, sie kann sie nicht mehr als die ihre wiedererkennen. Die Aufnahmetechniker zeigen ihr, dass ihre Stimme inzwischen den Ort gewechselt und zum visuell vergegenständlichten Objekt auf dem Film geworden ist: Madeleines Stimme, das sind jetzt schwarze Punkte, Linien und Zacken auf einem Zelluloidband, unmöglich, sie als eine Stimme, geschweige denn die eigene zu erkennen.

Um den Gesang als optische Aufzeichnung gleich nach der Aufnahme vorzeigen zu können, muss der Film ein wenig schummeln, denn nur eine Aufnahme auf dem Magnetband, das 1946 noch nicht verfügbar war und auf dem auch keinerlei Spur der Stimme mehr zu sehen gewesen wäre, hätte sofort abgespielt werden können, während die optische Aufzeichnung wie jede andere Photographie erst hätte entwickelt werden müssen. Es bleibt daher auch unklar, ob der Ton für die endgültige Aufnahme in die Studio-Szene per Playback eingespielt und dort (wie auf der Theaterbühne) zusammen mit dem Bild aufgenommen oder während der Nachbearbeitung als Lichtton-Spur den Aufnahmen hinzugefügt wird. Jedenfalls wird die Filmspule mit der frischen optischen Tonaufzeichnung für die Einspielung des Gesangs während der Probe abgeholt und Madeleine dadurch räumlich weiter von ihrer Stimme getrennt, die

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Synchronisation sie förmlich verschwinden sieht.1 Kurz darauf taucht ihr Gesang in der anderen Szene der Anderen (Stella Dora) in neuer Koppelung wieder auf. Madeleine ist die Erste, die das Ergebnis der Übertragung der Stimme zugunsten der Vollständigkeit und damit Vollkommenheit einer neuen Szene unabhängig von ihr selbst beurteilen soll: Es ist sehr schön, hat aber mit ihr nichts mehr zu tun. Was hier im Film vorgeführt wird, ist der technische Prozess der Aufnahme und Übertragung einer Stimme mit der Absicht, sie mit dem Bild eines anderen Körpers in einer anderen Szene wieder zu verbinden und beide, Bild und Ton, für den entstehenden ›Film im Film‹ neu zu synchronisieren. Der Film in seiner deutsch synchronisierten Fassung, der die Synchronarbeiten eines anderen ›Films im Film‹ zeigt, hat das (berühmte) Lied der Piaf Le Chant des Pirates, also gerade das, was dort ›synchronisiert‹ wurde, im französischen Original belassen, während die Dialoge ins Deutsche übersetzt, d.h. mit dem bestehenden Film sprachlich neu synchronisiert wurden. Offenbar müssen die linguistische und die mediale ›Übersetzung‹ im Zusammenhang mit der Synchronisation unterschieden werden, denn Sprachsynchronisation (deutsch-französisch, was bei entsprechender Sprachkompetenz mit derselben Stimme desselben Sprechers hätte geschehen können) und Stimmsynchronisation (Auswechseln einer Stimme zwischen zwei Sprechern oder Sängern bei durchaus gleicher Sprache) haben unterschiedliche Konsequenzen im filmischen Verfahren, denn die Probleme der sprachlichen Übersetzung von Filmen sind gegenüber denjenigen des stimmlichen Austauschs jeweils andere, obwohl selten das eine ohne das andere der Fall sein wird. Die Veränderung der Sprache wird (wenn überhaupt) als Eingriff in die kulturelle Semantik wahrgenommen, während die andere Stimme als Zerstörung einer ursprünglichen Einheit (der Präsenz) des Körpers und ›seiner‹ Stimme erlebt und entsprechend verurteilt wird. Aber der Körper einer Stimme im Film ist nur als dessen photographische Reproduktion anwesend, der Schauspieler selbst ist abwesend, umso mehr wird der Stimme die ganze Last (oder Lust) der ontologisch begründeten Präsenz zugewiesen, was zum Beispiel das authentische Hier und Jetzt des Tonfilm-Realismus ausmacht. Deshalb gilt die synchronisierte andere 1

Das ist die Umkehrung einer Situation am Beginn der Geschichte der apparativen Aufzeichnung der Stimme: Weil man glaubte, dass Edison mit Bauchrednertricks die Wiedergabe seiner zuvor mit dem Phonographen aufgezeichneten Stimme nur vortäuschen wollte, musste er den Raum verlassen, damit seine technische Stimme – nun räumlich von ihm getrennt – ›für sich sprechen‹ konnte. (John Durham Peters: »Helmholtz und Edison, Zur Endlichkeit der Stimme«, in: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin 2002, S. 306).

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Joachim Paech Stimme entweder als ein Verrat an einer vermeintlich ursprünglichen Einheit des Körpers mit seiner Stimme, seiner individuellen Präsenz, oder als Auftritt eines unsichtbaren, aber deutlich hörbaren Doppelgängers, wenn die neue Verbindung nicht vollkommen gelingt. Den real abwesenden Schauspieler verkörpert der Film als Werk: Jede seiner Aufführungen gibt ihm trotz vieler Kopien, die womöglich gleichzeitig an anderen Orten gezeigt werden, die Aura des Ereignishaft-Einmaligen, Originären, dessen Originalität durch die (manipulative) Koppelung mit einer ›fremden‹ Stimme zerstört zu werden droht. Der Film Etoile sans lumière kommentiert das Synchronverfahren, das er an seinem ›Film im Film‹ vorführt, auf zwei Ebenen und ist sich in seiner Kritik an der Synchronisation mit seinem Publikum einig: Schon die apparative Aufzeichnung der ›eigenen‹ Stimme und ihre technische Reproduktion werden zur ›Enteignung‹, die durch ihre erneute Aneignung durch eine andere Person noch einmal radikalisiert wird: Das Lied, das Madeleine singt, heißt nicht umsonst Le Chant des Pirates, weil Piraterie hier Thema ist, auch wenn der Filmproduzent einen Vertrag vorweisen kann, mit dem er die ahnungslose Madeleine betrogen hat. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kommt dem Film aber eine weitere, allegorische Bedeutung zu: Indem das Mädchen aus dem Volk (der ›Spatz von Paris‹) von abgetakelten Bourgeois und abgewirtschafteten Geschäftemachern betrogen und seiner Stimme enteignet wird, nimmt der Film auch zu den politischen Kämpfen im Nachkriegsfrankreich und zu der Gefahr Stellung, dass das Volk (vertreten durch Sozialisten und kommunistischen Gewerkschaftern) von den konservativen Kräften seiner Stimme beraubt werden könnte. Yves Montand an ihrer (linken) Seite zeigt, wo die wahren Freunde sind. Die Sprachversion eines Films gilt als ein Eingriff in dessen ursprüngliche Originalität, auch wenn sie ein neues ›Original‹ schaffen kann. Der Austausch der Stimme im Synchronverfahren zerstört darüber hinaus die personale Integrität und Individualität der abgebildeten sprechenden (singenden) Person, beide, Veränderung der Sprache und der Stimme, betrügen den Zuschauer um ein originäres, ursprüngliches Kunstwerk. Der Zuschauer wiederum nimmt diesen Betrug aus Bequemlichkeit in Kauf, weil er das Gesprochene in seiner eigenen Sprache verstehen möchte. Gelingt das in ihrer erneuten Verkörperung, ist die Stimme als (austauschbares) Medium unhörbar und transparent zur sprachlich mitgeteilten Bedeutung geworden, der ›Betrug‹ funktioniert. Aber en passant zeigt Marcel Blistènes Film auch, dass eine Stimme, die hier und jetzt in ihrer körperlichen Präsenz ertönt, etwas Grundverschiedenes gegenüber derselben Stimme ist, die technisch reproduziert, wo auch immer und in welchen Kombinatio-

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Synchronisation nen auch immer, zu hören ist, beide sind beinahe so verschieden wie sich der sprechende Mensch von seinem photographischen Abbild unterscheidet. Madeleine kann ihre Stimme jenseits ihrer Person in der photographischen Aufzeichnung betrachten, wo es nicht mehr ›ihre‹ Stimme ist, auch wenn sie reproduziert wie die ihre klingt, jedoch (zunehmend) am anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Das ist nichts Ungewöhnliches und geschieht auf jeder Schallplatte (auch ohne Aufzeichnung bei jeder Radiosendung oder beim Telefonat). Die technische Aufzeichnung einer Stimme löst sie von ihrem körperlichen Ursprung; das Problem, das in Marcel Blistènes Film verhandelt wird und mit der Synchronisation verbunden ist, besteht darin, dass diese Stimme im Bild des Films neu verkörpert wird, dass hier eine Übertragung zwischen Körperbildern stattfindet, die vom natürlichen Eigentümer der Stimme zu einem parasitären Nutzer verläuft. Im üblichen Synchronverfahren wird die Stimme des Originalbildes durch eine andere Stimme ersetzt. Der Grund dafür ist in den meisten Fällen der Austausch der Sprachen, die im Film gesprochen werden und mit den Stimmen verbunden sind. Das unterscheidet die Praxis der Synchronisation zur Herstellung von Sprachversionen von derjenigen, die in Marcel Blistènes Film Thema ist, wo tatsächlich Stimmen übertragen werden. Madeleines leidvolle Erfahrung, dass durch den Tonfilm die Stimme eines Menschen von seinem Körper getrennt und dem Bild eines beliebigen anderen Körpers hinzugefügt werden kann, steht im Zusammenhang mit der Vorstellung vom ›ganzen Menschen‹ und Phantasmagorien der Ablösung seiner Sinne als Partialobjekte. Alle Sinne können betroffen sein, wenn der Mensch sich in seiner Darstellung wiederholt und es in der Übertragung zu Verlusten oder Veränderungen kommt: Der Schatten löst sich vom Körper, das Spiegelbild macht sich selbständig, die Stimme tönt körperlos. Schon Narziss erkannte sich selbst im Spiegelbild der Wasseroberfläche als einen Anderen und konnte sich hören, wenn die Nymphe Echo seine Fragen wiederholte, aber was zu ihm zurückkehrte war bereits eine andere Stimme (der Anderen, Echos). Der Narzissmus der Selbstwahrnehmung ist von Anfang an gestört, die Sinne gehen ihre eigenen Wege. Die technische Aufspaltung von Körper und Stimme macht offenbar, was immer schon die illusionäre Einheit des Selbst im blinden Fleck seiner Selbstwahrnehmung bedroht hat, dass diese Einheit selbst nur eine lose Koppelung der Sinne ist mit deren Tendenz, sich in die (Um-)Welt zu erweitern. Die Medienphantasmagorien der Romantik beschäftigten sich vor dem Hintergrund der Photographie mit den sichtbaren Verdoppelungen menschlicher Körper, die wie deren Abziehbilder auf der photographischen Platte weggetragen werden konnten. Wie die Schatten und Spiegelbilder hatten sich ihre Photographien selbständig gemacht, und schließ-

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Joachim Paech lich wurde auch ihre Stummheit bewusst und die Notwendigkeit, sie analog wieder mit einer Stimme zu versehen. Es reicht nicht aus, das lebende Bild einer Sängerin zu verehren, wenn nicht auch ihre Stimme mit abgebildet werden kann (davon erzählt Jules Verne in seinem Roman Das Schloß in den Karpaten). Durch die Koppelung von Bild und Ton konnte sich das Begehren, das sich mit dem Schatten eines lebendigen Körpers zufrieden geben musste, an der vermeintlich sinnlichen Authentizität der Stimme des Gesanges schadlos halten. Während das photographische Bild nur die (Licht-) Spur des Abgebildeten bewahrt, sollten die Töne als sie selbst, vollständig und immer vollkommener aufgezeichnet und in jeder Wiederholung als dieselben hörbar werden. Der Nachteil des photographischen Bildes, nur die Spur des Realen zu sein, kann erst durch die vermeintlich wirkliche Anwesenheit der wirklichen Stimme ausgeglichen werden, was ihr den besonderen Status im technischen Abbildverfahren einräumt.2 Der Tonfilmrealismus beruht auf dieser Annahme ontologischer Eigenschaften des Tones, der nicht abgebildet oder kopiert werden kann, weil er immer er selbst und von vornherein derselbe sei. »Von der Leinwand«, sagt Béla Balázs, »spricht nämlich nicht das ›Bild des Tones‹, sondern der Ton selbst, den der Film fixiert und nun zum Klingen gebracht hat – derselbe Ton. Der Ton hat überhaupt kein Bild. Der Ton selbst in seiner ursprünglichen Dimension, mit seinen ursprünglichen physikalischen Eigenschaften, ›wiederholt‹ sich, spricht von neuem – von der Leinwand. Zwischen dem ursprünglichen und dem reproduzierten Ton besteht ›kein Unterschied in der Realität‹, in der Dimension, wie er zwischen den Gegenständen und ihren Bildern besteht.«3 Wäre Béla Balázs zusammen mit Madeleine im Tonstudio gewesen, hätte er den photographierten Ton auf der Tonspur sehen und seinen Irrtum einsehen können. Diese Annahme der ontologischen Selbstidentität des Tones durchzieht konstant die filmtheoretischen Diskurse vom Anfang des Tonfilms bis heute. Sie ist sowohl eine der Ursachen für die Zurückweisung der Synchronisation und eines ihrer wesentlichen Argumente, als auch die Voraussetzung dafür, dass der Ton, solange er ›passt‹, im filmischen Verfahren kaum als Problem wahrgenommen wird, er ist irgendwie da und begleitet das Bild als Geräusch, Musik oder Sprechen. In den 1970er Jahren erwähnt Jean-Louis Baudry in seinem eminent einflussreichen Aufsatz über den kinematogra2

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Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme. Frankfurt/M. 2007. Ders.: »Das Objekt Stimme«, in: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin 2002, S. 233-256. Béla Balázs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien 1972, S. 200.

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Synchronisation phischen ›Basisapparat‹ 4 den Ton als Bestandteil der ideologisch wirksamen Apparatur mit keinem Wort. Da der ideologische Effekt des Kinos in der Differenz zwischen den Bildern liegt, die im Schein kontinuierlicher Bewegung technisch verborgen wird, muss über den Ton, der offenbar selbst kontinuierlich und ohne Differenz operiert, jedenfalls auf apparativer Ebene nicht weiter gesprochen werden. Erst als Baudry in seinem zweiten Artikel das Kino als Dispositiv zu Platons Höhlengleichnis in Beziehung setzt, fällt ihm auf, dass Platon auch nach der Stimme der Schatten fragt. Was wäre, fragt er, wenn einer der Schatten spräche, würden die Höhlenbewohner denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? Natürlich nicht. Die Töne, Stimmen, Geräusche, verstärken den Illusionseffekt des Dispositivs der Höhle wie des Kinos, weil »man im Kino genau wie bei allen anderen sprechenden Maschinen nicht ein Bild der Töne hört, sondern die Töne selbst. Die Verfahren der Aufzeichnung und der Wiedergabe können die Töne zwar verzerren, doch diese werden reproduziert, wiedergegeben und nicht nachgeahmt. Die Illusion kann sich nur auf die Quelle ihrer Herkunft beziehen (Platon spricht von einem ›Widerhall von drüben her‹), nicht auf ihre eigene Realität.«5 Immerhin, Baudry konzediert, dass Stimmen oder Töne allgemein während ihrer Übertragung Veränderungen (durch Störungen, Rauschen eben) unterliegen können, was jedoch an ihrer vermeintlichen ontologischen Selbstidentität nichts ändert. Das Irreale der Töne beginnt dort, wo sie von der Sichtbarkeit (ihrer Quelle) abgekoppelt sind, dann steckt die Täuschung oder Illusion in ihrer Beziehung zur Sichtbarkeit, nicht im ontologischen Status der Töne selbst. Solange auch die photographischen Bilder des Films die Spur der Sache selbst aufgenommen haben, ist auch die Quelle authentischer Töne wie der Stimmen wirklicher Menschen im Bild realisiert, wenn sie sichtbar im Bild (on screen) als Ursache der Töne wiedergegeben sind. Nur wo sie in ihrem Ursprung sichtbar sind, tragen sie zu einer dargestellten (dokumentarischen oder fiktionalen) Wirklichkeit bei. Jenseits des Sichtbaren sind sie zwar wirkliche Töne, deren Ursprung jedoch jeglicher Manipulation ausgeliefert ist. Für die Frage der Synchronisation bedeutet das, dass Stimmen, deren Ursprung durchweg un-

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Jean-Louis Baudry: »Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat (1970)«, in: Robert F. Riesinger (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte. Münster 2003, S. 27-39. Jean-Louis Baudry: »Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks (1975)«, in: Robert F. Riesinger (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte. Münster 2003, S. 48.

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Joachim Paech sichtbar bleibt, also jede ›voice over‹ oder akusmatische 6 Stimme, leichter austauschbar ist als Stimmen, deren Sprecher oder Sänger im Bild zu sehen sind. Daher wird leichter eine Sprachsynchronisation akzeptiert, die als zweite Stimme über den nach wie vor hörbaren Originalton gelegt wurde. Aber vielleicht liegt das Problem weniger bei der Annahme eines ontologischen Status der Töne, als bei deren Kombinierbarkeit oder Koppelung mit anderen Ausdrucksmedien. In diesem Fall spielt zwar die Selbstidentität einer Stimme eine wichtige Rolle, sie ist nun mal die Voraussetzung für die Vorstellung von der organischen Einheit des Körpers mit all seinen Sinnen. Die Stimme markiert ganz wesentlich die personale Identität eines Menschen, zu dessen Identifizierung sie beitragen kann (wie bei unserem Beispiel die Stimme der Piaf, die auch noch in der anderen Szene der Anderen die ›Stimme der Piaf‹ im Film ist). Aber schon die Photographie hat die Spur der Stimme nicht mit aufgezeichnet und der Stummfilm hat die lebendigen Menschen in seinen lebenden Bildern der Stimme beraubt, die ihnen mit unzulänglichen Schallplattenaufnahmen nur in Form einer ›losen Koppelung‹ von Apparaten wieder hinzugefügt werden konnte. Und weil Projektion und Phonograph noch nicht ›synchronisiert‹ waren, machten sich das sichtbare Sprechen und Singen im Bild auf der einen und auf der anderen Seite die dazu gehörigen Töne immer wieder selbständig, der Ton war dann asynchron, zur Schadenfreude oder zum Verdruss der Zuschauer. Dass Bild und Ton jedes Mal zum Tonbild erst gekoppelt werden müssen, wurde bei dieser Gelegenheit überdeutlich. Die zwei Maschinen, ein Bildprojektor und ein Phonograph, verkörperten erst gemeinsam, synchron, das lebendige Bild des ›ganzen Menschen‹ auf der Leinwand. Das Bestimmende war von Anfang an das Bild, dem ein unbestimmter, erst durch das Sichtbare des Bildes definierter Ton hinzugefügt werden konnte. Der Ehemann, der den Erfinder Edison in Villiers de Lille Adams Roman L’ève future (1886) bat, ihm eine neue Eva zu basteln, wollte das Bild seiner wunderschönen Ehefrau durchaus behalten, nur ihre Stimme, die als Ausdruck eines großen Geistes die dummen Reden der Vorgängerin ersetzen sollte, musste durch Implantate von Schallplatten ausgewechselt werden, weil nun mal das schöne Bild und der ›dumme‹ Ton nicht zueinander passen wollten. Montage ist das Zauberwort des industriellen Zeitalters, das auch und am allerwenigsten nicht vor dem Menschen selbst Halt gemacht hat. Marshall McLuhan hat später die ganze Mediengeschichte als Geschichte der prothetischen Erweiterung des Menschen beschrieben. Montage löst die Einzelteile aus dem menschli-

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Vgl. Michel Chion: »Das akusmatische Wesen. Magie und Kraft der Stimme im Kino«, in: Meteor, Nr. 6, 1996, S. 48-58.

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Synchronisation chen Körper heraus und setzt sie wieder zusammen, heute mehr denn je, sogar das Herz, noch bis ins 19. Jahrhundert hinein Sitz der Seele eines Menschen, kann ausgewechselt werden. Der Film, selbst Inbegriff der Montage seiner Elemente, hat das zum Beispiel am Monster Frankensteins vorgeführt, das zwar aus unterschiedlichen Körpern zusammengesetzt war, dem aber nicht ausdrücklich eine Stimme hinzugefügt wurde. Es hat keine Sprache, aber eine Stimme, die dem Erwachen der Seele als Ausdruck des Lebens folgte, und das ist Elektrizität und ein unerklärlicher Rest. Solange der Film stumm war, hat er eine eigene visuelle Bildersprache entwickelt, indem er das vor-filmische Reale in dessen Aufzeichnung zu symbolischen Zeichen umkodiert (Jean Mitry) und syntagmatisch montiert hat, um mit Bildern Geschichten erzählen zu können. Als der Tonfilm kam, sagt Christian Metz, hat der Film seine sichtbare Sprache verloren, aber eine hörbare Stimme gewonnen. Film ist technisch und ästhetisch Montage; wie kann man das vergessen, wenn man gegen die Synchronisation ausgetauschter Stimmen die originäre Einheit des Films verteidigt? Zum Verdrängen der Montage trägt das Verfahren der Synchronisation selber bei, indem es wesentlich zur Vereinheitlichung disparater Elemente wie Bild und Ton verhilft. Die Vertreter eines Montageprogramms in der Kinematographie, allen voran Sergej Ejzenstejn, verurteilten in ihrem Tonfilm-Manifest (1928) nicht etwa die neue Möglichkeit der Koppelung der Bilder mit Tönen, sondern deren Synchronisation zu einer neuen illusionären Einheit eines neuen Realismus der Illusion. Aber alles lief auf die Synchronität hinaus, Bilder und Töne sollten wenn möglich ›lippensynchron‹ ein sprechendes Individuum in seiner Ganzheit repräsentieren können. Der Held von Ejzenstejns erstem Tonfilm, Alexander Nevsky (1938), ist bereits ein solches Individuum, das ungeteilt seine propagandistische Glaubwürdigkeit aus der Verschmelzung von Körper und Stimme im Hier und Jetzt körperlichen und sprachlichen Handelns zieht. Die Tatsache, dass Bild und Ton erst zusammengefügt werden müssen, also auch ausgetauscht werden können und daher auch Körper und Stimme zumindest produktionstechnisch erst mal etwas Unterschiedenes sind, muss in der neuen Einheit eines vollständigen, sprechenden oder singenden Menschen verdrängt werden, damit sich der Film als eine homogene Illusion und illusionäre Homogenität etablieren kann. Aufgabe der Filmavantgarden war es, diese illusionäre Homogenität immer wieder aufzulösen und den Film in seiner Heterogenität und Montage seiner Elemente sichtbar und hörbar zu machen. Daher war es nur folgerichtig, dass die Idee eines ›synthetischen Tons‹ aus dem Umfeld der Avantgarden kam: Rudolf Pfenninger und Oskar Fischinger haben nach dem Muster der optischen Tonaufzeichnung Töne zuerst mit der Hand ›geschrie-

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Joachim Paech ben‹, um sie dann, noch bevor sie jemals zu hören waren, optisch aufzuzeichnen und akustisch zu projizieren, zum Tönen zu bringen. Was mit der Ritzschrift des Phonographen nur schwer zu machen war, gelang mit der optischen Schrift des Lichttons, dessen graphische Elemente (ihrer akustischen Entsprechungen) auf diese Weise die Produktion synthetischer Töne ermöglichte. Pfenningers Idee war, sogar einen abendfüllenden Sprechfilm ausschließlich mit handgeschriebenem, synthetischem Ton herzustellen (das Problem ist bis heute, wenn uns Computer antworten, die Komplexität obertonaler Klangmuster, die das Individuelle einer menschlichen Stimme ausmachen).7 Allein die Möglichkeit, dass Stimmen ertönen können ohne die Voraussetzung der ontologischen Verbindung zu menschlichen Körpern ihrer Äußerungen, sollte deutlich machen, dass Stimmen (auf der Tonspur) grundsätzlich mit den Bildern der Körper, die sie zu äußern scheinen, erst im Produktionsverfahren von Filmen gekoppelt werden, wo sie auch wieder entkoppelt und neu montiert werden können. Ihre Synchronisation ist ein filmisches Basisverfahren.

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Vgl. Thomas Y. Levin: »›Töne aus dem Nichts‹. Rudolf Pfenninger und die Archäologie des synthetischen Tons«, in: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin 2002, S. 313-355.

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Synchronisation Tatsächlich war und ist auch heute noch das Montageförmige des Films zwar oft unsichtbar, im Ernstfall aber unübersehbar und unüberhörbar. Bild und Ton werden zwar in der Filmprojektion selten noch asynchron erlebt, dafür ist die mechanisch-kinematographische und elektronische Technik ihrer Synchronisation zu weit fortgeschritten; aber der Umgang mit der Technik privilegiert immer noch die Erfahrung eines synthetischen Mediums gegenüber der Illusion der Einheit eines organischen Körpers, die allerdings dabei ist, sich virtuell neu zu konstituieren. Die wirksamste Waffe gegen die – man muss sagen: Neu- oder Nachsynchronisation – von Filmen zu Sprachversionen ist so alt wie die bürgerliche Kultur und eng mit ihrem Begriff eines Kunstwerks verbunden, dessen auratische Singularität im cartesianischen und daraufhin auch künstlerischen Subjekt ihr Äquivalent hat. Beides kann man zusammenfassen im ›Original‹. Der Künstler als Subjekt und selbstidentisches Individuum verbürgt die Originalität des von ihm hergestellten Kunstwerks (z.B. mit seiner Signatur), das er sogar selber sein kann, beide zentrieren um das Original als Ursprung und Ziel homogener Einheitlichkeit, auch wenn sie noch so fragmentiert daherkommt. Anfang der 1930er Jahre, als binnen weniger Monate die Umstellung vom Stumm- zum Tonfilm durchgesetzt wurde, war den Zeitgenossen noch durchaus bewusst, dass dem Film mit dem Ton etwas hinzugefügt wurde, und dass eine apparative Koppelung vorlag. Rudolf Arnheim beginnt seine Philippika gegen die Nachsynchronisation ausgerechnet mit der Erinnerung an die Tatsache, dass »Bildkamera und Tonrezeptor zwei völlig getrennte Apparate [sind]. […] Der Synchronismus dient […] dazu, Bild und Ton so zueinander zu fügen, wie sie auch in der Wirklichkeit zugleich aufgetreten sind.« Und er fährt fort: »Aber rein technisch steht nichts im Wege, auch solche Bilder und Töne miteinander zu kombinieren, die durchaus nicht zugleich und am gleichen Ort aufgenommen worden sind. Es fragt sich nun, wie diese Eigenschaft der Apparate verwendet werden kann.«8 Wird sie für die Nachsynchronisation durch nachträgliches Austauschen des ursprünglichen Dialogs durch eine Stimme mit einer anderen Sprache benutzt, steht fest, »dass das Verfahren künstlerisch strikt zu verwerfen ist. […] Dass hier die primitivsten Voraussetzungen für künstlerische Wirkungen fortfallen, ist wohl selbstverständlich. Zum mindesten erleidet dadurch die Originalform des Werkes eine grundlegende Veränderung und schon dieser Einwand sollte genügen!«9 Kein Wort dazu, dass das sog. Original selbst ein zusammengesetztes und in unzähligen Kopien im Umlauf ist. Der andere Einwand betrifft den

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Rudolf Arnheim: Film als Kunst. München 1974, S. 292. Ebd., S. 292-293.

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Joachim Paech Schauspieler der Originalfassung, der dulden muss, »dass da eine fremde Stimme eingeschmuggelt worden ist« zu einem neuen Gesamteffekt, den er noch dazu »mit seinem Leibe decken«10, d.h. als Person wiederherstellen muss. Denn, heißt es bei einem anderen Zeitgenossen, »die Stimme ist Teil der Persönlichkeit des Menschen, und man kann nicht auf Dauer dem Publikum Mary Pickford mit der synchronisierten Stimme von Fräulein Meyer zeigen oder Emil Jannings mit der spanischen Stimme irgendeines Señor«. 11 Man kann durchaus, das zeigt die erfolgreiche Geschichte der Spachensynchronisation; dass man es nicht soll, dafür plädieren die Verfechter der Originalität eines Kunstwerkes, das nicht verändert werden darf und der Individualität eines Schauspielers, der als personale Einheit für den künstlerischen Prozess seiner Darstellung, die »ursprüngliche Einheit von Spiel und Wort […] die sich bei der Originalaufnahme von selbst herstellt«12 zuständig ist. Dass man gar nicht anders kann, als den Schauspieler nach Maßgabe der Apparatur, die ihn aufzeichnet, zu beurteilen, hat Walter Benjamin gezeigt: »Die Apparatur, die die Leistung des Filmdarstellers vor das Publikum bringt, ist nicht gehalten, diese Leistung als Totalität zu respektieren.« 13 Was bedeutet es denn, wenn Walter Benjamin erklärt, dass ein Filmschauspieler nicht mehr wie auf der Theaterbühne ganzheitlich vor einem Publikum, sondern für den Apparat spielt und nur noch in einer apparativ reproduzierten Form vor dem Publikum erscheint? Die Aufnahmen (Benjamin sagt ›Stellungnahmen‹) der Kamera werden diskontinuierlich gemacht, jeder Zusammenhang wird aufgelöst, um erst in der Montage der Einzelteile zu einem apparativ induzierten Ganzen zusammengefügt zu werden, das dem Zuschauer als Zusammenhang geboten wird und das gewollt oder ungewollt auch immer wieder verändert werden kann. Die Aura, das, was das Kunstwerk ausmacht, muss in diesem Verfahren auf der Strecke bleiben. Das Stichwort lautet ›Kunstwerk‹. Zumal am Ende der 1920er Jahre, also zur Zeit des Übergangs zum Tonfilm, hatte der Film erreicht, was Béla Balázs und viele andere mit ihm gefordert hatten, die Anerkennung des Films als Kunst in einer Reihe mit den anderen älteren Künsten, zum Beispiel dem Theater, als 7ième art. Die Aufnahme des Films in die ›Institution Kunst‹ sollte ihm vor allem auf der Diskursebene (in Theorie und Kritik) Anerkennung verschaffen, was Balázs mit einer ›Kunstphilosophie des Films‹ zu befördern hoffte. Die Filme selbst waren zu dieser Zeit nicht besser und nicht 10 11 12 13

Ebd. Vgl. Corinna Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm. München 2003, S. 302. Ebd., S. 293. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M. 1963, S. 27.

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Synchronisation schlechter als zuvor und danach, es gab die populäre Massenware und einige ›große‹ Filme für die Kritiker und Connaisseure. Der öffentliche Diskurs über den Film folgte indes von nun an den Kriterien, die man gewohnt war, an das traditionelle Kunstwerk anzulegen. Umgekehrt musste sich das traditionelle Kunstwerk gefallen lassen, auch nach Maßgaben der technischen Reproduzierbarkeit beurteilt zu werden. Die industrielle dekonstruktive Produktionsform der Montage wurde für (fast) alle Künste zum Ausdruck ihrer Modernität. Es wurde immer schwerer, zumindest im technischen Bild des Menschen an der ontologischen Einheit seiner Sinne festzuhalten. Schließlich, ein Film ist immer die Kopie eines Films. Hunderte von Kopien eines Films (welche ist das ›Original‹?) gehen um die Welt, wo ›der Film‹ (welcher Film?) durch die Zensur verstümmelt, durch Anpassungen an den nationalen Markt verändert, durch unsachgemäße Behandlung zerrissen, geklebt, neu zusammengesetzt wird. Immer noch ist es derselbe Film. Die Nachsynchronisation für eine Sprachversion ist nur einer der vielen Eingriffe, der nur deshalb am deutlichsten ist, weil er sich z.B. schon am neuen Verleihtitel für einen nationalen Markt bemerkbar macht, aber er ist keineswegs der für die ›Identität‹ des Films schwerwiegendste Eingriff. All das hindert jedoch den Kunst-Diskurs des Films nicht daran, vom originären Werk der Kunst zu sprechen, was dessen Singularität (oder Originalität) voraussetzt, bezeugt durch eine Autorschaft. Konsequent wurden Anfang der 1930 Jahre die ersten Museen für den Film (Film-Archive) aufgebaut; die Autorschaft wurde für den Film nach dem Zweiten Weltkrieg nachdrücklich mit einer neuen ›politique des auteurs‹ reklamiert. Wenn es den Film als Original geben soll, dann beginnt die ›Fälschung‹ schon während seiner Produktion. Die Koppelung von Bild und Ton hat gerade auf dieser Ebene viel Handlungsspielraum eröffnet. Wegen der besseren Tonqualität hat sich sehr bald die Nachsynchronisation der kompletten Tonspur angeboten, wobei die Stimmen der Darsteller selbstverständlich durch andere ersetzt wurden, wenn sie ungeeignet (davon erzählt Stanley Donans Singin’ in the Rain, 1952) oder in Koproduktionen von Anfang an fremdsprachlich waren. Es heißt, dass Claudia Cardinale als Dialektsprecherin nie ihre Parts selbst gesprochen habe – sind dann alle Filme mit ihr Fälschungen? Weil Sprachversionen von dem Moment an, da Filme für einen internationalen Markt produziert wurden, also von Anfang an, mit dem Problem der Übersetzung konfrontiert waren, hat es verschiedene Strategien gegeben, mit dem Problem umzugehen, die je nach der soziokulturellen Einschätzung des Films andere waren. Selbstverständlich wurden die Zwischentitel der Stummfilme und oft ge-

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Joachim Paech nug auch die vielen Briefe, Telegramme etc., die in den Bildern selbst an ihrer Stelle funktionierten, übersetzt, d.h. durch andere ersetzt. Der Ton hatte seinen Ort nicht mehr zwischen den Bildern, wo die Zwischentitel ihre Dialoge zum Lesen gegeben haben, sondern neben den Bildern und war ebenso gut austauschbar wie die Schrifteinblendungen. Inzwischen war der Film zum Kunstwerk avanciert, weshalb man meinte, den Eingriff in die originäre Substanz des Films vermeiden zu müssen und die bestand nun vor allem in der Koppelung von Sprecher und Stimme und deren Ursprung in der Persönlichkeit des vor-filmischen Schauspielers. Problematisch war anfangs auch, dass für die Nachsynchronisation der Stimme die gesamte Tonspur, also auch Geräusche, Musik etc. ausgetauscht werden mussten, weil die Dialoge noch nicht auf einer eigenen Tonspur mit mehreren Kanälen separat aufgenommen und für die Synchronarbeit separat angeboten werden konnten, so, wie das heute üblich ist. Wenn man schon die ganze Tonspur für eine neue Sprachversion auswechseln musste, dann konnte man auch gleich ein Sprachen-Remake desselben Films machen. Die frühen Sprachversionen von Filmen sind nichts anderes als Remakes, die heute gang und gäbe sind, und von denen Hollywood derzeit in erster Linie lebt, nur dass sie zu Beginn der Tonfilmzeit direkt nach einer ersten Version noch in denselben Kulissen und nicht in angemessenem Abstand, der heute immer kürzer wird, gemacht wurden (Mehrfachversionen desselben Regisseurs, zum Beispiel Hitchcocks, sind auch heute keine Seltenheit). Von der anderen Möglichkeit, die Tonspur nicht komplett auszutauschen, sondern durch einen ›voice over‹ gesprochenen Text zu ergänzen, war schon die Rede. Die Idee der ursprünglichen Einheit von Schauspieler und Stimme bleibt dann als Hintergrundinformation erhalten, die ›voice over‹-Stimme ist klar erkennbar eine andere, was die Vertreter des originären Kunstwerks zufrieden gestellt haben mag. Die gängigste Alternative zur fremdsprachlichen Nachsynchronisation ist die Untertitelung, d.h. das kontinuierliche Einfügen der alten Zwischentitel des Stummfilms in die Bildebene des Films selbst. Nun hört man zwar die ›eigene‹ Stimme des betreffenden Schauspielers, sieht ihn aber weniger oder oft gar nicht mehr, wenn in mehrsprachigen Ländern Titel in mehreren Sprachen das Bild fast zudecken. Für die Analphabeten unter uns mag das ein Ansporn sein, endlich das Lesen nachzuholen. Ebenso meinte ein Feuilletonautor in der Frankfurter Rundschau14, dass die sog. Originalversion Ansporn sein sollte, im Kino peu à peu durch Original-Hollywood-Filme gutes Englisch zu lernen, und Martin Körber, Professor für Filmrestaurierung in Ber14 Tobias Lehmkuhl: »Missbrauch am Ohr. Hört doch mal hin: Was das Desaster-Englisch von ICE-Schaffnern mit dem deutschen Synchronisations-Wahn zu tun hat«, in: Frankfurter Rundschau, 08.01.2007.

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Synchronisation lin, empfiehlt sogar, durch wiederholte Kinobesuche alle die Sprachen zu lernen, die der internationale Filmmarkt anbietet – binnen zwei Wochen im Kino Japanisch lernen mit Ozu sollte kein Problem sein.15 Martin Körber hat es natürlich leicht, sein ›Lob des Originals‹ mit Hinweisen auf eine Vielzahl von zum Teil abenteuerlichen Bedeutungs- bis Sinnveränderungen der Synchrontexte zu begründen. Im Adenauer-Deutschland wurden Nazi-Verbrechen auf der Tonspur zur Drogenkriminalität umgelogen (in Hitchcocks Notorious, 1946) etc. Veränderungen im Dialogtext haben viele Ursachen, das reicht wie gesagt von der Zensur bis zur Anpassung an die Lippensynchronität. Und ebenso reicht die Beurteilung dieser Veränderungen von der bewussten und zu verurteilenden Fälschung bis zur akzeptablen Neufassung. Ein anderes wichtiges Argument betrifft den kulturellen Kontext, der mit einer Sprache ebenfalls gegeben ist. Die gesprochene Sprache, der spezifische Sprachgestus, gehört etwa im Japanischen wesentlich zum Verhalten der Figuren im Film, zu ihrer körperlichen Präsenz und zum kulturellen Ausdruck, der durch sie vermittelt wird. Das gilt in noch viel stärkerem Maße als bei einer literarischen Übersetzung. Aber soll jeder z.B. deutsche Film, der teilweise in Japan spielt, an diesen Stellen im japanischen ›Original‹ gedreht oder belassen werden? Für das Film-Museum wäre das eine glückliche Lösung – die Kinozuschauer, lost in translation, würden das sicherlich nicht akzeptieren. Damit dürfte deutlich geworden sein, dass das Problem der Nachsynchronisation über die Fragen der technisch-kinematographischen Verfahren hinaus äußerst komplex ist und nicht einfach pro oder contra entschieden werden kann, sondern nur von Fall zu Fall. Was könnten die Kriterien sein? Hier sind einige Vorschläge. Film ist für mich zunächst ein kulturell zweifach situiertes Phänomen: Es gibt den einzelnen individuellen Film mit Namen und Datum, der an Wettbewerben teilnimmt und im Feuilleton gelobt oder kritisiert wird, um schließlich Bestandteil der Filmgeschichte zu werden. Diese einzelnen Filme sind die Exemplare diskursiver Praktiken, die sich mit ›Film‹ auseinandersetzen. Das ist die eine Seite. Aber ein Blick in eine Fernsehzeitschrift genügt, um zu erkennen, dass es unendlich viel mehr Filme gibt, die weitgehend unbeachtet das tägliche Filmbrot eines massenmedialen Publikums sind. Das war immer so, nur dass 80% aller älteren Filme, die einfach weggeworfen wurden, wenn sie verbraucht waren, nicht mehr erhalten sind. Die großen Filme von Lubitsch, Murnau, Lang etc. hat nicht zuletzt der Kunstverdacht gerettet, der am Ende der Stumm-

15 Martin Körber: »Lob des Originals. Ein Plädoyer gegen Filmsynchronisation«, in : Filmgeschichte, Heft 20, Dezember 2005, S. 48-52.

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Joachim Paech filmzeit herrschte, aber bei weitem nicht jeden Film meinte. Wenn wir über das Für oder Wider des Nachsynchronisierens Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre sprechen, dann meinen wir Filme, deren verbürgte Originalität als schützenswert gilt und deshalb zum künstlerischen Original und Kunstwerk erklärt wurden, was, wie gesagt, jede Veränderung ausschließen sollte, trotz medialer Eigenschaften, die den Film als Medium der Reproduktion jenseits von Werk und Autorschaft ansiedeln. Und wir dürfen uns heute glücklich schätzen, dass uns auf diese Weise großartige Filme in bewundernswerten Versionen erhalten geblieben sind. Ironie der Geschichte: Viele verloren geglaubte Filme wurden in überseeischen Archiven, z.B. in Montevideo, wiedergefunden – in Montevideo selbstverständlich oft in spanischer Sprachversion. Viele der Filme, die als wertlos weggeworfen wurden oder in Archiven verschimmeln, weil kein Geld für sie da ist, sind leider für immer verloren, in welcher Version auch immer. Vielleicht würden sie heute mehr über die Zeit ihres Entstehens und das Publikum, das sie geliebt hat, sagen, als das mit den ›großen‹ filmischen Kunstwerken der Fall ist. Das Kunstparadigma wurde im selben Moment obsolet oder zum bloßen Kampfargument, als der Film zum Bestandteil der Massenmedien, d.h. des Fernsehens wurde. Als Element eines schließlich endlos fließenden Programms haben auch Filme immer mehr ihre Individualität eingebüßt, sie müssen sich an das Programmumfeld anpassen, was nicht nur ausschließt, dass sie nicht synchronisiert erscheinen, sondern was vor allem einschließt, dass ihre Darstellung unterbrochen, dass sie mit fremden Informationen durchsetzt, am Anfang und Ende kupiert werden etc. All das ist schlimm, aber es ist möglich, weil die medialen Eigenschaften des Films (anders als bei einem Gemälde und wohl auch bei einem Musikstück) das zulassen, und deshalb wird es gemacht, wenn es den Verkauf der Ware Film oder der Film den Verkauf x-beliebiger Waren fördert. An dieser Stelle ist es interessanter darauf hinzuweisen, dass sich das Diskursfeld seit der Mitte der 1950er Jahre von der Kunst zum Text-Paradigma verschoben hat. Filme sind analog zu ihrer Erscheinung in den Programmen der Massenmedien Texte, bestenfalls ›offene Kunstwerke‹ (Eco), die intertextuell vernetzt von den diversen Anschlüssen geprägt sind, die sie ermöglichen und selbst realisieren. Sprachversionen und textliche Veränderungen sind Symptome ihrer Intertextualität, die sie umso besser in andere textuelle Umfelder integrieren lassen. In unserer postmodernen Gegenwart scheinen alle Tendenzen des Films als Kunst und Text zusammen zu kommen vor dem Hintergrund der Betonung jener medialen Eigenschaften, die einzig noch den Film in den vielen Trägermedien Video, DVD etc. als diese spezifische Form wiedererkennen lassen, bis nur noch das Format ›Film‹ im Datenstrom des Internet

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Synchronisation adressierbar ist. Der ›(Kino-)Film‹ ist zum archäologischen Gegenstand geworden, der in seiner ursprünglichen materiellen Gestalt (hoffentlich) in Archiven und Museen aufbewahrt und konserviert wird. Und dabei spielt schon eine Rolle, in welcher Fassung ein Film der Nachwelt überliefert wird. Es ist daher verständlich, dass diese (archäologische) Perspektive auf den Film einschließlich aller Veränderungen, die an ihm vollzogen werden (können), eine andere ist als die Sicht auf das, was gegenwärtig multimedial ›Film‹ bedeutet und wiederum eine andere ist, als was zu anderen Zeiten jeweils aktuell ›Film‹ bedeutet hat. Heute ist Film mehr denn je ein kulturelles Konsumgut, das schneller denn je in unterschiedlichen Medien verbraucht wird. Die teuersten Filme sind beileibe nicht die wertvollsten, und welcher Film am Ende in der Filmgeschichte überliefert wird, wird sich zeigen. Und dann wird es interessant sein, nicht nur eine, sondern mehrere ›Original‹-Sprachversionen eines Films aufzubewahren. Martin Körber ist leidenschaftlicher Sammler und Archivar, für ihn gilt deshalb der Anspruch, »auch die Synchronfassungen, wie immer sie beschaffen sein mögen, aufzuheben. Sie sind Dokumente unserer Kultur, wie die [sog.] Originalfassungen Dokumente der Kultur des jeweiligen anderen Landes sind.«16 Unabhängig davon, wie problematisch die Rede vom ›Original‹ eines Films ist, sollte man sich im globalisierten Kulturaustausch auf jeden Fall abgewöhnen, von diesem einen ›nationalen‹ Original zu sprechen und Filme dort sehen, hören, lieben, hassen und sammeln, wo man sie in ihrer Sprache (immer noch am liebsten) im Kino, im Fernsehen, auf dem Videorecorder oder DVD-Player trifft.

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Quiller zwischen den Stühlen? Martin Schwehla

Im April 1965 erschien der Geheimdienstthriller The Berlin Memorandum des englischen Schriftstellers Elleston Trevor unter einem seiner Pseudonyme, Adam Hall.1 Quiller, ein vornamenloser, einzelgängerischer Agent einer Sektion des British Secret Service, die er »the Bureau« nennt, erzählt darin, wie ihn jüngst ein dringender Auftrag in eine Berliner Zelle von alten und neuen Nazis führte. Ausgestattet mit maßgeblicher Befehlsgewalt in der Bundeswehr und mit Verbindungen in hohe Berliner Regierungskreise, habe diese einen Militärputsch geplant. Wir erfahren auch, Quiller habe, als er den Auftrag erhielt, gerade die verdeckte Beschaffung von Beweismaterial gegen eine Reihe von KZ-Schergen abgeschlossen, denen nun in Hannover und in Berlin der Prozess gemacht werde. Es sei ihm schließlich gelungen, in den engsten Kreis der Verschwörer einzudringen und diese nach einem gefährlichen Katz-und-MausSpiel festnehmen zu lassen. Ihr Anführer, ein Minister, habe während Quillers Besuch in seinem Büro Selbstmord begangen. Bald nach Erscheinen des Romans ging eine englische Verfilmung unter dem Titel der US-amerikanischen Buchausgabe, The Quiller Memorandum, in Produktion, die zwar am 10.11.1966 in London Premiere hatte, allerdings zuerst in den USA und erst Mitte Januar 1967 in Großbritannien in die Kinos kam; eine deutsch synchronisierte Fassung wurde erstmals am 24.02.1967 gezeigt.2 Wer allerdings von The Quiller Memorandum eine vom Ansatz her originalgetreue Umsetzung des Romans erwartete, wurde enttäuscht. Die Drehbuchadaption durch den Dramatiker Harold Pinter erfand sowohl die Hauptfigur als auch deren Abenteuer neu, ob-

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Adam Hall: The Berlin Memorandum, London: Collins 1965. Zitate in diesem Beitrag nach The Quiller Memorandum, New York: Simon & Schuster 1965. In der Folge wird der Romanautor unter dem Pseudonym Adam Hall zitiert. The Quiller Memorandum, GB 1966, R: Michael Anderson. Vgl. www.imdb. com/title/tt0060880/releaseinfo.

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Martin Schwehla wohl es nach wie vor darum ging, im Berlin von 1965 ein Nest von Nationalsozialisten auszuheben. Noch viel mehr müssen sich allerdings jene deutschsprachigen Kinobesucher3 gewundert haben, die zufälligerweise den Roman oder die englische Filmfassung kannten – in der synchronisierten Version4 gab es keine Nazis mehr, nur noch eine namenlose Spionageorganisation ohne erkennbares Ziel. Mein Beitrag versucht den Weg der Vorlage auf die deutschsprachige Leinwand nachzuzeichnen und stellt dabei die Frage, warum auf diesem Weg eine im Ursprungsmedium zentrale inhaltliche Komponente vollkommen eliminiert worden ist – obwohl die NS-Täterschaft im Dienst der ›Endlösung‹ und die nach wie vor aufrechte, verstockte Kumpanei der wieder ans Licht gezerrten ehemaligen SSAngehörigen durch die Medienberichterstattung zum Thema wurde und wohl auch in der Wochenschau in denselben Kinos zu sehen war, die später ihren Zuschauern den garantiert Nazi-freien Hauptfilm Gefahr aus dem Dunkel vorführten.

DER ROMAN Denn im Dezember 1963 war in Frankfurt am Main ein Strafverfahren eröffnet worden, das sowohl durch seinen Gegenstand als auch durch seinen Umfang mediales Aufsehen erregte; angeklagt waren Mitglieder der Lager-SS im KZ Auschwitz.5 Die Urteile wurden im August 1965 verkündet. Die zeitliche und die detaillierte thematische Parallele zwischen Frankfurter Prozess und Roman wäre ein starkes Indiz dafür, dass der Prozess für sein Pendant im Roman, oder vielleicht sogar für den Roman insgesamt, historische Anregung bzw. Vorbild war. Das öffentlich zugängliche Konvolut von Quellen zu Elleston Trevors Werk in der Bibliothek der Arizona State University6 liefert jedoch keinen konkreten Hinweis darauf. Das liegt wohl auch daran, dass der Autor seine Recherchen mittels

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Grammatikalisch männliche Bezeichnungen allgemeiner Personenkreise, denen eine bestimmte Tätigkeit gemeinsam ist, z.B. ›Zuschauer‹, sind als ›Zuschauerinnen und Zuschauer‹ etc. gemeint und zu lesen. Gefahr aus dem Dunkel, Berliner Synchron GmbH Wenzel Lüdecke, Berlin 1967; Buch: Ursula Buschow, Dialogregie: Karlheinz Brunnemann. Vgl. Thomas Bräutigam: »Quiller-Memorandum«, in: Lexikon der Film- und Fernsehsynchronisation. Berlin 2001. Einen umfassenden Überblick gibt Irmtrud Wojak (Hg.): Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main. (Ausstellungskatalog), Köln: 2004; dazu die DVD-ROM Der Auschwitz-Prozeß: Tonbandmitschnitte/Protokolle/Dokumente. Berlin 2004. Arizona State University Libraries, Tempe, AZ, Special Collections: www. asu.edu/lib/speccoll/info/entries.html#Trevor

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Quiller zwischen den Stühlen? – nicht überlieferter – Tonbänder organisiert und in die Arbeit am Romantext eingebunden hat. Aus einem Interview von 1987, aus dem wir dies erfahren,7 geht zumindest als weiterer Anhaltspunkt hervor, dass sich der Autor bei der Auswahl realer Themen und Elemente für seine Romane an der jeweiligen medialen Aktualität orientierte. Als während des Krieges eingeschleuster britischer Agent mit dem Auftrag, möglichst vielen KZ-Häftlingen das Leben zu retten, ist Quiller mit den Strukturen der SS und der ihr zuarbeitenden Bürokratie vertraut. Er kennt viele der Mörder aus direkter Begegnung. Gegenstand und Verlauf dieser gefährlichen und frustrierenden Mission haben Spuren hinterlassen. Auf Schritt und Tritt wird Quiller 1965 in Berlin von der eigenen und der Vergangenheit der Stadt und ihrer Menschen verfolgt, die der durchgehend dominante Erzähler in signifikanten Details, die unerwartet und schmerzhaft sind wie Nadelstiche, an den Leser weitergibt. Quiller teilt uns etwa mit, dass er die billigen Pensionen meidet, weil deren Matratzen in der Regel noch mit den Haaren ermordeter Juden gestopft sind; dass er das Wort ›Mittagessen‹ nicht ertragen kann, weil er Zeuge war, wie ein SS-Offizier eine Hundertschaft zur Erschießung bestimmter Juden töten ließ und ihnen die letzte Bitte abschlug, gemeinsam das Kaddisch8 beten zu dürfen, weil ihm die Zeit bis zum Mittagessen knapp wurde. Quiller erlebt die Stadt fast ausschließlich über diese Vergangenheit. Die Tagesaktualität wird von ihr beherrscht, da sich neben seinem Auftrag auch das Gerichtsverfahren damit beschäftigt und einige der von ihm aufgestöberten NS-Verbrecher noch auf freiem Fuß sind. Quiller benützt deren Verhaftung, um die Verschwörer auf sich aufmerksam zu machen. Tatsächlich lernt er scheinbar zufällig eine junge Frau kennen, die den Auftrag hat, ihn auszuhorchen und in das Spinnennetz der Organisation »Phönix« zu führen, die ihrerseits erfahren will, was Quillers Geheimdienst über sie weiß. Dass Berlin mittlerweile vom Nervenzentrum der nationalsozialistischen Hölle zum Symbol für die Nachkriegszeit, zum Sinnbild und exemplarischen Schauplatz des Kalten Krieges geworden ist, den hauptsächlich die Geheimdienste miteinander austragen, kümmert weder den Roman noch seine Hauptfigur, obwohl Quiller für

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Interview mit Elleston Trevor (Adam Hall) durch Marilyn Wurzburger, Kustodin an den Arizona State Univ. Libraries, 05.10.1987, Tonbandkassette, unveröffentlicht. Jüdisches Gebet, seit den mittelalterlichen Pogromen als Totengebet in Verwendung, vgl. R.R. Geis: »Kaddisch« (Sp. 1238), in: Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 5, Freiburg 1986.

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Martin Schwehla eine der damit befassten Organisationen arbeitet. Keine Berliner Mauer,9 kein KGB: Bezeichnenderweise nimmt Quillers einzige Referenz auf die Nachkriegssituation ausgerechnet auf Spandau Bezug, den prominentesten der wenigen Orte, wo die ehemaligen Alliierten 1965 noch offiziell zusammenarbeiten.10 Allein die Inszenierung geheimdienstlicher Aktivität weist auf diesen neuen Topos hin, ihr Gegenstand weist in die Vergangenheit. Dass sie noch in den Köpfen dieser Menschen irrlichtert, bestätigt Quiller die Begegnung mit seinen Widersachern. Der Lockvogel, die junge Frau, Inga, deren Leben von der Sehnsucht nach ihrer Kindheit im Führerbunker beherrscht wird, hütet wie die anderen Mitglieder der Verschwörung in deren Hauptquartier die verkohlten Überreste Hitlers als ihr spirituelles Zentrum. Doch die Exponenten dieser Verblendung agieren nicht als Politiker, Aufwiegler oder Terroristen, sondern wie Geheimdienstleute, wie Quiller sie aus seinen früheren Einsätzen kennt. Seine Aufgabe ist daher der Einsatz seines Handwerkszeugs – er soll die Köpfe dieser Organisation identifizieren, die ihre Brutalität und Entschlossenheit schon mehrfach bewiesen hat, zuletzt mit der Ermordung seines erfahrenen Kollegen Kenneth Lindsay Jones. Die meisten der Genreerwartungen an einen Spionageroman werden erfüllt; Quiller ist ein Virtuose in seinem Metier und macht aus seinem Bericht ein Lehrstück erfolgreichen geheimdienstlichen Vorgehens. Als dramaturgischer Klebstoff zwischen diesen beiden Sphären des Romans wirkt das persönliche Rachemotiv der Hauptfigur, denn statt einer amorphen, gesichtslosen Verschwörergruppe, die mit Nazi-Expertise und professioneller Motivation zur Strecke gebracht wird, hofft Quiller im Hauptquartier seiner Gegner jenen früheren SS-Offizier Zossen zu finden, dem damals sein warmes Mittagessen wichtiger war als die letzte Bitte seiner jüdischen Opfer. Es ist jene Figur unter unzähligen anderen, die für Quiller zur Personifikation der Hybris und Bestialität der SS und des gesamten NS-Systems wurde, mit dem er noch eine persönliche Rechnung offen hat. Quiller führt uns in seiner Berichterstattung weit über die Darstellung des auch von hypothetischen Dritten beobachtbaren Geschehens hinaus, das etwa, vom späteren Zielmedium Film aus gesehen, auch in Form eines unkommentierten audiovisuellen Pro-

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Der berühmte ›Checkpoint Charlie‹ in der Friedrichstraße wird zwar an einer Stelle erwähnt, aber – seinem gängigen Kontext entfremdet – als Fluchtweg Richtung Osten, den Quiller kurz in Erwägung zieht, um sich der bedrohlichen Beschattung durch Phönix zu entziehen. 10 Im Kriegsverbrechergefängnis von Berlin-Spandau, wo 1965 noch drei Häftlinge einsaßen, taten bis 1987 in monatlichem Turnus Wachmannschaften der vier alliierten Mächte Dienst.

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Quiller zwischen den Stühlen? tokolls festgehalten werden könnte. Quillers Vermittlung der Außenwelt ist symbiotisch eingebettet in eine omnipräsente innere Reflexionsebene, die seine Gedanken und Gefühle, Erinnerungen, persönlichen und professionellen Erfahrungen, Einschätzungen der Situation und Gründe für sein Handeln in die Erzählung einbringt. Dabei sind die Gedanken des handelnden Quiller nicht von denen des rückblickend erzählenden zu trennen. Erst diese Ebene gibt der Unruhe-, Gefahren- und somit Spannungsquelle des Romans, der Organisation Phönix, auf zweifache Art Form und Gewicht. Die ständige und detaillierte Erinnerung an die NS-Mordmaschinerie konkretisiert einerseits den Aspekt permanenter Todesgefahr, der in die Gegenwart des Romans extrapoliert wird – damalige Täter und neue Anhänger machen sich erneut ans Werk –, und den Wunsch nach Vergeltung und Bestrafung, der zumindest in einem großen Teil der Leserschaft schon vorausgesetzt werden konnte. Das Rachemotiv Quillers richtet sich nicht nur gegen seinen Hauptschurken Zossen, sondern gegen alle von ihm verfolgten Kriegsverbrecher, über deren Schicksal, sei es Anklage, Gerichtsurteil oder Selbstmord, Quiller seine Genugtuung nicht unterdrücken kann. Adam Hall personalisiert zugleich diese beiden Aspekte, da die Verbrecher durchwegs authentisch klingende Namen und spezifische Biographien haben. Er führt uns keine zufällig zusammengewürfelten Individuen vor, die auf eine charakteristische Weise interagieren, sondern exemplarische Täter, systemtypische Repräsentanten der NS-Terrorherrschaft: einen KZ-Arzt, der nun einen Schönheitssalon führt, einen im Roman nicht näher bezeichneten Schrader, dessen historischer Namensvetter für die I.G. Farben unter anderem chemische Kampfstoffe entwickelte, einen jüdischen Gymnasiallehrer, der sich mit dem Regime als Informant für Gestapo und SS arrangierte; dazu zwei kaltblütige Verhörspezialisten, die für Phönix arbeiten, aber genausogut 25 Jahre früher hätten tätig sein können. Andererseits sind es weniger die Handlungen der Verschwörer als die permanente Beschwörung der drohenden Gefahr durch den Ich-Erzähler, die seinen Gegnern Gewicht verleiht. Das realistisch gezeichnete historische Profil der Nazi-Protagonisten suggeriert zudem ein umfassenderes, vor allem politisches Handlungspotenzial, das konkret jedoch nur im Rahmen des Spionagegenres eingelöst wird. Und auf dieser Bühne steht der Organisation Phönix mit Quiller eine Hauptfigur gegenüber, die fast unangreifbar erscheint und das Spannungspotenzial ihrer Antagonisten wieder entsprechend relativiert.

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DAS DREHBUCH Ob Pinters Quiller schon früher einmal in Berlin war, bleibt offen. Er spricht zwar Deutsch, verfügt jedoch über keinen erkennbaren anderen Erfahrungshintergrund, der ihm die Ermittlungen über die Nazi-Gruppe erleichtern könnte, und hat sich lediglich in London aus den Akten über die Situation informiert, die gar nicht auf dem letzten Stand sind. Im Roman genießt Quiller in Berlin gewissermaßen Heimvorteil, wie überhaupt Auftrag und Abenteuer eine Art logische Fortsetzung und Erweiterung seiner bisherigen Tätigkeit darstellen. Konsequenterweise kommt Pol aus London zu ihm, als Quiller gerade den Schauplatz eben dorthin verlassen will, um seinen verdienten Urlaub anzutreten. Im Film ist es umgekehrt. Quiller, der zuvor im Nahen Osten gearbeitet hat, wird aus dem Urlaub nach Berlin gerufen, wo Pol, Leiter der »Local Control« genannten Berliner Außenstelle des Dienstes, bereits auf ihn wartet. Dies signifikanterweise im Olympiastadion, dem zeitlosen Monument der NSPropaganda, so dass der erste Handlungsort der Hauptfigur bereits sinnbildlich11 in die Thematik einführt. Harold Pinter hatte sich mit Stücken wie The Dumb Waiter (1957), The Birthday Party (1958), The Caretaker (1960) und The Homecoming (1965) als international beachteter und erfolgreicher Dramatiker etabliert und neben einer Reihe von Büchern für das Fernsehen schon zwei Filmadaptionen geschrieben, darunter The Servant für Michael Anderson und Joseph Losey,12 als er 1965 von Ivan Foxwell den Auftrag zum Quiller Memorandum erhielt. Wie die meisten Literaturverfilmungen reduziert Pinters Drehbuch Personal und Handlungselemente der Vorlage, und er tut dies radikal. Die Verkürzung von Quillers Biographie geht einher mit einer vereinfachenden Paraphrasierung der Methode, die der Agent wählt, um das Interesse der Organisation, die niemals so genannt wird (auch ihr Name »Phönix« ist verschwunden), auf sich zu lenken. Es gibt keine von ihm selbst entlarvten Kriegsverbrecher mehr, die er medien-

11 Diskret unterstützt vom Dialog, wenn Pol auf die ›Führerloge‹ mit den Worten »Certain well-known personalities used to stand right up there. Must have been quite noisy. One hundred thousand people – all cheering« hinweist. Vgl. Harold Pinter: Five Screenplays. New York 1973, S. 141. 12 Pinter schrieb 1962 das Drehbuch nach Robin Maughams Roman The Servant für Michael Anderson. Als Anderson den Film nicht finanzieren konnte, konnte Joseph Losey die Filmrechte übernehmen, was dieser schon 1960 beabsichtigt hatte. Pinter nahm für Losey am Drehbuch erhebliche Änderungen vor. Das zweite Drehbuch (1963) hatte Penelope Mortimers Roman The Pumpkin Eater zur Vorlage. Vgl. Michael Billington: Harold Pinter. London 2007, S. 150.

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Quiller zwischen den Stühlen? wirksam der Justiz übergeben könnte. Pinters Quiller benützt die Ermittlungen seines toten Vorgängers, die ihn an unverdächtige Orte zu unauffälligen Menschen führen, in eine Bowlinganlage, ein Schwimmbad und eine Schule. Im Roman betritt Quiller die Schule, um den Musiklehrer Foegl zu verhaften. Adam Hall wirft hier, wie an vielen anderen Stellen des Romans, mit achronistischer Freiheit eine Reihe von Attributen mit starker Signalwirkung zusammen, um für Schauplatz und Personen die Aura historischer Schuld zu unterstreichen, die sein Berlin insgesamt umgibt: es handele sich um die »Star of David School« (Davidssternschule), erbaut von »Joseph Steiner himself«, womit Hall mit großer Wahrscheinlichkeit den 1925 verstorbenen Anthroposophen und Pädagogen Rudolf (Joseph Lorenz) Steiner zitieren wollte, den Begründer der Waldorfschulen, deren älteste im Berliner Raum seit 1928 in Berlin-Dahlem steht, also keine Gründung von Steiner selbst ist. Quiller erfährt hingegen, dass die Schule als »monument to our dead« nach Kriegsende auf dem Gelände eines Todeslagers errichtet wurde13 – auch das trifft auf keine der beiden zwischen 1945 und 1965 in Berlin gegründeten Waldorfschulen zu. Von all den historischen oder historisierenden Beispielen, Verweisen und Anspielungen Adam Halls auf den Nationalsozialismus, seine Verbrechen und die konkreten Täter übernimmt Pinter nur dieses einzige Detail: der Quiller des Films erkundigt sich in einer modernen, sonnigen, von einem Park umgebenen Schule14 nach einem Lehrer namens Steiner, der sich erhängt hat, nachdem seine Vergangenheit als Kriegsverbrecher aufgedeckt worden war. Pinter tauscht »Foegl« gegen »Steiner«, Verhaftung gegen Selbstmord und Kollaboration gegen Kriegsverbrechen, doch viel bemerkenswerter ist, dass er die ganze, für den Roman so wichtige Vorgeschichte Quillers im Drehbuch auf einen Zeitungsausschnitt reduziert: »a German newspaper cutting, the headline of which is glimpsed: School Teacher Arrested – War Crimes.«15 In der Schule trifft Pinters Quiller auf eine kurz angebundene Direktorin und auf Inge, dem Namen und der Figurenkonstellation nach das Pendant zu Adam Halls Inga. Die Figur ist hier allerdings gewandelt zu einer Lehrerin, die alle Fragen Quillers – er gibt sich als Journalist aus – über den toten Lehrer, über »the present day Nazi question« und »the aims of the new Germany«16 vorbildlich beantwortet, ohne mehr als einige Gemeinplätze preiszugeben. Der Kollaborateur Adam Halls, von ei-

13 Vgl. Hall: The Quiller Memorandum, S. 61-64. 14 Pinter schreibt im Drehbuch lediglich »School. Outskirts Berlin. Day. Children playing in the front playground« vor. Pinter: Five Screenplays, S.153. 15 Ebd., S. 148. 16 Ebd., S. 155.

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Martin Schwehla ner Figur zum Zitat einer Figur verkürzt, wird zur Keimzelle einer neuen, in kleinen Schritten abgewickelten Geschichte mit doppeltem Boden: Inge »has ... replaced ... this man«, was Pinter die Direktorin fast stammelnd hervorbringen lässt, und im Verlauf der Handlung wird immer wahrscheinlicher, dass dies nicht nur in der Schule, sondern auch im Rahmen der Nazi-Organisation der Fall ist. Von Inga, die keinen Beruf hat und deren charakterliche Ambivalenz zwischen regressiver Kindlichkeit und Schutzbedürfnis und massiv unterdrückter, auch sexueller Aggressivität Quiller gleichzeitig abstößt und fasziniert, lässt das Drehbuch zwar kaum etwas übrig; das ungeklärte Verhältnis der braven Inge zur Nazi-Ideologie irritiert jedoch umso mehr, als sie auch in der Lage wäre, die ihr anvertrauten Kinder zu indoktrinieren. Diese Gefahr steht im Raum, als sich am Ende des Films herausstellt, dass Inges Geiselnahme im Hauptquartier der Verschwörer und die Todesdrohung gegen sie nur gespielt waren, um Quiller zur Preisgabe seiner Informationen zu bewegen, dass ihre Kollaboration aber ungestraft bleiben wird. So wenige Berührungspunkte Inge mit ihrem Romanvorbild hat, so verwandt ist sie Adam Halls Lehrer und Nazi-Kollaborateur Foegl – auch diesbezüglich erfüllt sich also ihr ›replacement‹. Nicht zum ersten Mal stellte Pinter den gesellschaftlich angesehenen Lehrerberuf als Fassade vor eine emotional und moralisch prekäre Existenz: in seinem Fernsehspiel Night School gibt sich die junge Sally Gibbs, die als Bardame in einem Nachtlokal arbeitet, ihren Zimmerwirtinnen und deren Sohn bzw. Neffen gegenüber als Lehrerin aus, um vertrauenswürdig zu erscheinen.17 Mit dem Auftrag, den Pol dem Agenten erläutert, legt Pinter zugleich seine Dramaturgie offen. Dieses vorbereitende Handlungselement ist genrebedingt immer gleichermaßen an Handlungsträger und Publikum gerichtet, weil letzteres daraus Erwartungen bezieht, die in Beziehung zu den erzählten Ereignissen treten und dabei Spannung und Emotionen erzeugen. Diese Erwartungen speisen sich aus dem Vorwissen des Publikums, wobei der Grad der Konkretisierung eine Rolle spielt: Wenn sich ein Held allein einer Gruppe Bewaffneter in den Weg stellen muss, stehen uns Gefahren und Erfolgschancen deutlich vor Augen, auch wenn unsere persönliche Erfahrung diesbezüglich nur vom Schulhof stammt. Wobei mit ›Konkretisierung‹ auch ›mediale Kodierung‹ gemeint sein kann, denn wir verstehen natürlich auch Situationen, denen wir selbst niemals ausgesetzt waren, aufgrund ihrer meist auf gleiche oder vergleichbare Weise wiederholten medialen Repräsentation. Je abstrakter oder schwerer fassbar hingegen die Gefahrenquelle, desto mehr sind

17 Night School, Folge 5/46 der britischen Fernsehserie ITV Television Playhouse, ausgestrahlt am 21.07.1960. Vgl. www.imdb.com/title/tt0877293/

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Quiller zwischen den Stühlen? wir auf konkrete Proben ihrer Gefährlichkeit angewiesen. Pinter lässt das Publikum zu Beginn des Films den Tod eines Mannes beobachten. Aus der nächsten Szene geht hervor, dass dieser, der Agent Kenneth Lindsay Jones, selbst für einen auf dieselbe Art ermordeten Kollegen eingesprungen war und seinerseits ersetzt werden muss. Nun ist bereits ohne Wissen darüber, von wem diese ausgeht, klar, dass der Nachfolger der beiden Getöteten sich in große Gefahr begibt. Die Beschreibung dieser Gefahr durch Pol erscheint dagegen reichlich diffus: Die »situation« in Deutschland sei weitgehend unter Kontrolle und gerate nur in Berlin »a little out of hand«. Dann folgt die lapidare Erklärung, es handle sich um »Nazis from top to toe«, alte und neue, von denen sich keiner öffentlich deklariere – »nobody wears a brown shirt now ... no banners« – und die entsprechend schwer zu erkennen und zu verfolgen seien. »They move in various walks of life but they’re very careful and quite clever and they look like everybody else.«18 Kein Hinweis darauf, warum sie vorsichtig und gewitzt sein müssen, aber man möchte sie aufgrund dessen für aktive Sympathisanten halten. Doch wie in dieser Auftragsszene angekündigt, begegnet Quiller ihnen zuerst: dem Bowlingbahnbetreiber Dorfmann, der allerdings diesen Namen verschweigt und sich als »Herr Weiss« vorstellt, dem Schwimmbadwärter Hassler, dem Hotelportier Grauber, der Schuldirektorin Schroeder und Inge. Sie haben – wie auch ihre Entsprechungen im Roman – die Funktion, Quiller vom äußeren in einen inneren Kreis zu leiten, denn irgendwo befindet sich »the hard core – the extreme element – the ones you can recognize – if you get close enough to see them«. Tatsächlich wird Quiller bald in eine Villa verschleppt, wo mit einer Reihe von Handlangern »Oktober« auf ihn wartet, der Verhörspezialist und offensichtliche Anführer. Pinter schiebt jedoch nicht einmal diesem eine konkrete politische Absicht unter und verzichtet auch völlig auf jegliche Visualisierung der von Pol behaupteten ideologischen Zuordnung Oktobers und seiner Männer – »no banners«, selbst im »hard core«. Allein der winzige, an Oktober gerichtete Dialogsatz »Yes, Reichsführer«19 verrät, dass hier zumindest eine Rangbezeichnung der NSDAP weiter verwendet wird, und löst entsprechende Schlussfolgerungen aus. Die Organisation konstituiert sich nur daraus, was zu sehen ist: die Interaktion der Gleichgeschalteten, ihr Vorgehen gegen Quiller und das Verlangen, die Position von »Local Control« zu erfahren. In einem Spiegel würden beide Gegner dasselbe sehen, denn die Position des gegnerischen Hauptquartiers zu ermitteln ist auch Quillers Aufgabe. Pinter reduziert den gesamten

18 Pinter: Five Screenplays, S. 143. 19 Ebd., S. 198.

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Martin Schwehla historischen Hintergrund des NS-Regimes und seiner Bewunderer, des Krieges und des Holocaust, den Adam Hall sich alle Mühe gibt zu vergegenwärtigen, auf einen Zeitungsausschnitt und eine Reihe lapidarer Zitate und Andeutungen in Dialogform. Warum? Pinter selbst fand rückblickend, »the neo-Nazi theme was, I believe, treated quite boldly and in some respects (the character of Inge) with subtlety«.20 Seine persönliche Sicht als Zeitzeuge auf die historischen Grundlagen des Romans unterschied sich in wichtigen Punkten von der des Autors. Adam Hall war 20 gewesen, Pinter erst 10, als Hitlers Angriff auf Großbritannien begann. Hall, der auf dem Land aufwuchs, diente als Flugzeugmechaniker in der Royal Air Force. Pinter wurde zunächst aufs Land evakuiert, eine traumatische Erfahrung, nur um kurz vor Beginn der heftigsten Bombardierungen wieder zu seiner Familie in den Londoner Stadtteil Hackney entlassen zu werden. Er berichtete später von einer Brandbombe, die den Garten hinter dem Haus verwüstete, und der gespenstischen Wirkung der Verdunkelung im sonst auch nachts hell erleuchteten London.21 1944 musste er die Stadt ein zweites Mal verlassen. Als Jude war Pinter auch zumindest indirekt Betroffener der psychischen und physischen Auswirkungen der Umtriebe englischer Faschisten auf die von ihnen angefeindeten »Jewish and other aliens«22 nach Kriegsende. Pinter erschien es rückblickend als traurige Ironie, because it was happening under a Labour Government which believed in freedom of speech ... I mean we’d just fought for six bloody years to defeat, at the cost of millions of people, the Nazis and yet the Government allowed these groups of Fascists to congregate in the East End of London and beat people up ... eldery Jewish people and so on.23

Auch aus unmittelbarem Erleben, dies darf man aus dieser und ähnlichen Aussagen Pinters schließen, musste ihm das Thema des Romans ein Anliegen sein.

20 Harold Pinter: »Introduction« im Band Collected Screenplays 1 (London 2000), online: HaroldPinter.org, www.haroldpinter.org/films/intro1.shtml, o.S. [letzter Zugriff: 03.10.2011]. 21 Billington: Harold Pinter, S. 8f. 22 »In the 1920s the Hackney Gazette fulminated against the presence in the borough of ›30,000 Jewish and other aliens‹ turning the area into ›a sort of Middle East‹ and depriving locals of jobs and decent housing.« Aus Vorurteilen wurden während der Wirtschaftskrise schnell rassistische Hassparolen, und die uniformierten Schlägerhorden von Oswald Mosleys »British Union of Fascists« waren auch nach dem Krieg noch vielfach Teil des Straßenbilds im Londoner East End. Vgl. Billington: Harold Pinter, S. 17. 23 Ebd., S. 19.

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Quiller zwischen den Stühlen? So entschieden, explizit und manchmal polemisch sich Harold Pinter zeitlebens zu politischen und moralischen Fragen äußerte und so grundlegend politische und gesellschaftliche Kategorien für sein Werk sind, so wenig dachte er daran, dieses zu einem bloßen Mittel dramatisierter Agitation für bestimmte Inhalte oder Meinungen zu machen. Es ist das von Pinter erdachte Geschehen selbst, das für sich spricht, in den Köpfen der Zuschauer mit individuellen und kollektiven Erinnerungen und Erfahrungen verknüpft wird und dadurch seinen Platz in der Aktualität des realen Lebens bekommt.24 In einer Art Grundlagenforschung sucht Pinter in den einfachsten und kleinsten Situationen des Alltags und des menschlichen Umgangs nach jenen Wirkungen, die in entsprechender Vervielfältigung und geeignetem historischem Kontext zu Systemen der Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gleichschaltung, des Rassismus und des Massenmords führen. Pinter liest aus dem Alltag das Verstörende und potenziell Zerstörerische, so wie Karl Kraus durch die Analyse nationalsozialistischer Publizistik und Propaganda und ihren Vergleich mit der Straßenwirklichkeit schon 1933 in Die Dritte Walpurgisnacht den Charakter und die potenzielle Entwicklung dieses Regimes präzise zeichnen konnte.25 Auch in jenen (vergleichsweise wenigen) Theaterstücken und Drehbüchern Pinters, die ihren historischen Kontext konkret benennen, richtet sich der Blick auf die kleinen Zusammenhänge mit dem Effekt, dass die großen sichtbar werden, ohne die Banalität und Überheblichkeit des Zurückblickenden, der ›nachträglich immer schlauer ist‹. Pinter versucht, Momente der zivilen Bedrohung, die im vorbereitenden Dialog durch Pol im Vertrauen auf das Vorwissen des Publikums zur allgemeinen Orientierung nur zitiert werden, aus den dargestellten Situationen heraus erfahrbar zu machen. Oft werden gerade zu diesem Zweck ganz kurze, nebensächlich scheinende Episoden eingeschoben. Quiller stellt vor der Wohnung Inges einen Mann zur Rede, der ihn beschattet hat. Sofort bauen sich zwei weitere Männer vor ihm auf, die Situation beginnt zu eskalieren:

24 Vgl. Martin Esslin: Das Theater des Absurden. Reinbek 1965, S. 223. 25 Karl Kraus: Die Dritte Walpurgisnacht. Hg. von Heinrich Fischer, München 1967. Karl Kraus hatte dieses auf genauer Analyse gegründete Manifest gegen den Nationalsozialismus als Nummer der Fackel geplant, dann aber nicht veröffentlicht, weil er »den schmerzlichen Verzicht auf den literarischen Effekt geringer achtet als das tragische Opfer des ärmsten, anonym verschollenen Menschenlebens«, da seine Leser in Deutschland in Gefahr waren, in das Räderwerk des NS-Polizeiapparats zu geraten. Siehe Karl Kraus: »Warum die Fackel nicht erscheint«, in: Die Fackel. Heft 890-905, Juli 1934, zit. Wilhelm Alff: »Karl Kraus und die Zeitgeschichte«, in: Kraus: Walpurgisnacht, S. 317-365, hier S. 318.

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Martin Schwehla Quiller: Where are you going? Man (A): To meet a friend. Quiller: Where? Man: Here. Quiller turns. Another man stands behind him. First Man speaks to the Second Man (B). First Man: This man accused me of following him. Second Man: Following? Why? First Man: I do not know. Second Man (to Quiller): Why do you say such a thing? A Third Man (C) joins the group. Third Man: What is the matter? First Man: This man is being offensive. Third Man: Offensive? Third Man moves closer to Quiller. Third Man: Are you being offensive? Quiller is closed in by the three men by the shop window. He smiles, and speaks to the Third Man. Quiller: Don't come any nearer, will you? 26

Die Konfrontation zweier Einzelner ist unversehens zu einer ungleichen Kraftprobe geworden, die für Quiller schwer kontrollierbar ist, weil er über die Motivation und den Zusammenhalt der Gruppe, die ihm nun gegenübersteht, nichts weiß. Der Außenseiter in dieser Konstellation ist gleichzeitig derjenige, der Repression zu gewärtigen hat, weil er sich nicht an die Regeln hält, die die Gruppe insgeheim für ihn aufgestellt hat: Goldberg: Sit down. Stanley: No. Goldberg sighs, and sits at the table right. Goldberg: McCann. McCann: Nat? Goldberg: Ask him to sit down. McCann: Yes, Nat. (McCann moves to Stanley.) Do you mind sitting down? Stanley: Yes, I do mind. [...] McCann: Nat. Goldberg: What? McCann: He won’t sit down. Goldberg: Well, ask him. McCann: I’ve asked him. Goldberg: Ask him again.27

26 Pinter: Five Screenplays, S. 160f. 27 Harold Pinter: »The Birthday Party« (2. Akt), in: ders.: Plays: One. London 1987, S. 18-97, hier S. 56.

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Quiller zwischen den Stühlen? Der Stärkere bzw. die Gruppe bestimmt die Regeln – in der Nachbarschaft oder auf dem Schulhof der Schläger, der immer von ein paar Bewunderern begleitet wird, in einer faschistischen Diktatur die von den konditionierten Massen getragene Partei und ihr Führer. Dieses Prinzip wird ausweglos, wenn das grundlegende Motiv die Auslöschung der nicht Zugehörigen ist. Der Weg von Pinters kleinen Proben aus Macht und Willkür zu der Realität des soeben an die Macht gelangten NS-Systems, wie Karl Kraus sie 1933 beschreibt, ist kurz: Und dann wieder diese rührende Inkonsequenz, nicht nur in den Richtlinien, sondern auch in der Befolgung: wenn zum Beispiel ein Jude auf der Spandauer Brücke geprügelt wird, weil er die Fahne nicht gegrüßt hat, und ein anderer Jude in der Neuen Friedrichstraße geprügelt wird, weil er durch seinen Gruß das Deutschtum beleidigt hat. Konsequent nur das Staunen, daß, wie man's macht, es nicht recht sei. [...] Wenn die Umwelt [...] an Torturen Anstoß nimmt, deren Ersinnung weit mehr Phantasie gebraucht hat als zu ihrer Erfindung nötig wäre, so bekommt sie zu hören: »Glauben Sie uns, es tut uns allen weh, auf welches Unverständnis manchmal unsere Maßnahmen stoßen.«28

In einer anderen Richtung führt der Druck der Gruppe auf den Einzelnen zu Bevormundung: Pol und seine Geheimdienstbeamten wollen Quiller zwingen, sich von ihnen schützen zu lassen, obwohl dieser dadurch seinen Auftrag gefährdet sieht, und bestehen auf der strikten Einhaltung eines bestimmten Erkennungsrituals auch dann, wenn dieses offensichtlich unnötig ist. Im Roman verlangt und erhält Quiller ohne Diskussion den Abzug seiner Schutzleute und verschwendet keinen Gedanken daran, ob die etablierten Geheimhaltungs- und Kommunikationstechniken übertriebener Aufwand sind, denn er wendet sie nach Bedarf an und hält sie prinzipiell für eine notwendige Sicherheitsreserve angesichts eines schwer kalkulierbaren Gegners. Während Quiller der ihn leitenden »Local Control« im Roman Verständnis entgegenbringt, überträgt Pinter Quillers Misstrauen gegenüber der Führungsetage auf die Organisation am Einsatzort. Die Treffen mit Pol und seinen Einsatzkräften Hengel und Weng erscheinen bei Pinter nicht als Hilfe, sondern als zusätzliche Belastung für Quiller, welche dieser mit Unwillen und Sarkasmus quittiert. Auch in diesen Begegnungen finden wir die für Pinter charakteristischen persönlichen Provokationen und Grenzüberschreitungen. Als Quiller im Roman seinen Kontaktmann Hengel zur Rede stellt, weil ihn dieser trotz gegenteiliger Anweisung beschattet hat, verläuft das Gespräch trotzdem in einer Atmosphäre des Respekts für den jüngeren, etwas zu engagierten Kollegen, wenn

28 Karl Kraus: Walpurgisnacht, S. 164.

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Martin Schwehla auch Quiller schließlich notiert: »He had a good face but there was no guile in him. He lacked the element most necessary to his work: slyness.«29 Im Drehbuch eskaliert das Treffen hingegen zu einer unerwartet pubertären Kraftprobe: Quiller: What’s your name? Hengel: Hengel. Quiller: Why are you so tense, Hengel? Hengel: Are you being funny? Quiller: Look at your hand. It’s so tight. And look at your skin. Your skin’s terrible. I don’t think you get enough exercise. Hengel: I have a feeling, Mr Quiller, that you won’t find life here so funny for very long. Quiller: Why don’t you drink your beer? Hengel: I don’t want it. Quiller: I bought it for you. Hengel: You can’t make me want it, Mr Quiller.30

Die Abneigung ist wechselseitig, Quiller offenbart charakterliche Schwächen, Hengel wiederum betrachtet den von der Londoner Zentrale geschickten Agenten als Fremdkörper, den man disziplinieren muss. Als Quiller – nach seinem aufwühlenden Verhör durch Oktober – zu einem Treffen mit Pol von Weng abgeholt wird, macht dieser, weil er Geheimagent ist, ein Geheimnis daraus, dass der Weg zuerst zu Hengel führt, welcher in der Spielzeugabteilung eines Warenhauses eine Modelleisenbahn studiert und sich seinerseits weigert, Quiller das eigentliche Ziel und den Zweck des Treffens mitzuteilen. Es ist die Position Quillers als eines Einzelnen zwischen zwei Gruppen, welche Pinter interessiert, im Grunde isoliert zwischen jener, aus der Quiller kommt, und jener, der er sich entgegenstellt, andererseits beiden zugehörig, wo diese einander zum Verwechseln ähnlich sind. Genauso versteht Pinter auch den Vergleich Pols bei dem anschließenden Treffen, Quiller befinde sich »in the gap« zwischen zwei feindlichen Armeen – der bei Adam Hall, von dem Pinter die Dialogpassage fast wörtlich übernimmt, bloß militärisch-operativ gemeint ist.31 Quillers Umgang mit »Local Control« und vice versa hat dabei durchwegs komödiantische Züge, die dem Roman völlig fehlen und die auch im Film durch den Wegfall einer Reihe von Szenen, unter anderen der oben beschriebenen im Warenhaus, abgeschwächt

29 Hall: The Quiller Memorandum, S. 50. 30 Pinter: Five Screenplays, S. 147. 31 Vgl. Hall: The Quiller Memorandum, S. 161; Pinter: Five Screenplays, S. 186.

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Quiller zwischen den Stühlen? sind. Pinter selbst sah in seinem Drehbuch zwei einander widerstrebende Richtungen: The Quiller Memorandum ... fell, I think, between two stools: One, the Bond films and the other, The Spy Who Came in from the Cold. In other words, the film never quite made up its mind as to which path it was taking. It was seriously intended but at the same time couldn’t resist received ideas of the »spy movie« too often resorting to melodrama.32

Diese Filme sind nach Handlungsschema und genretypischem Personal sicherlich mit dem Quiller Memorandum verwandt, aber ausgerechnet ein Titel, den Pinter hier nicht erwähnt, birgt mehr Parallelen zu Adam Halls Roman und Pinters Drehbuch als alles sonst Vergleichbare: Funeral in Berlin von Len Deighton und die gleichnamige Verfilmung.33 Da der Roman im Oktober 1964 erstmals erschien und Michael Anderson und Guy Hamilton ihre Produktionen 1966 praktisch gleichzeitig abwickelten, sind Abhängigkeiten zwischen beiden Drehbüchern jedoch kaum ableitbar, der Charakter von Filmerzählung und Hauptfigur war allerdings bereits durch die Verfilmung des ersten Romans der Serie geprägt, The Ipcress File.34 Deighton lässt seinen Helden Harry Palmer von seiner Aufgabe erzählen, von Berlin aus die Flucht eines sowjetischen Wissenschaftlers in den Westen vorzubereiten. Als Kontakt in den Osten dient der Berliner Johnny Vulkan, ein freier Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes. Um den Überläufer durch den Eisernen Vorhang schleusen zu können, sind authentische Personaldokumente nötig, welche die Zentrale in London aus ihrem Fundus bereitstellt. Im Verlauf der Handlung stellt sich der komplizierte – und hier nur sehr vereinfacht wiedergegebene – Sachverhalt heraus, dass der Name auf diesen Papieren, Paul Louis Broum, zu einer Identität gehört, die Vulkan als ehemaliger KZ-Wärter von einem von ihm ermordeten Häftling angenommen hatte, um nach dem Krieg der Verfolgung zu entgehen. Vulkan wollte nun in den Besitz der echten Identitätsnachweise gelangen, um auf das unter dem Namen Broum auf einer Schweizer Bank deponierte Vermögen zugreifen zu können, und hatte zu diesem Zweck die Überläufer-Geschichte inszeniert und einen Mitarbeiter in der Zentrale bestochen, ›zufällig‹ die passenden Unterlagen zur Verfügung zu stellen.

32 Pinter: Introduction, o.S. 33 Len Deighton: Funeral in Berlin. New York 1964; Funeral in Berlin, GB 1966, R: Guy Hamilton, Premiere USA 22.12.1966, GB 23.02.1967. 34 The Ipcress File, GB 1965, R: Sidney J. Furie. Vgl. www.imdb.com/title/tt00 59319/

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Martin Schwehla Eine Reihe von Ähnlichkeiten, die hauptsächlich den Themenkomplex der Konzentrationslager betreffen, aber auch zum Beispiel die Äußerlichkeit, dass die Kapitel über den größeren Teil des Romans mit der ausgeschriebenen Datumsangabe »OCTOBER ...« bezeichnet sind (Quillers Gegenspieler heißt »Oktober«), erlauben zumindest die Diskussion darüber, ob sich nicht bereits Adam Hall in manchen Aspekten seines Romans von Funeral in Berlin inspirieren ließ. Auffällig ist, dass beide Verfilmungen, im Gegensatz etwa zu der von John Le Carrés The Spy Who Came in from the Cold, in ihrem Ton gegenüber den Romanvorlagen entscheidend aufgehellt erscheinen. Auch Harry Palmer neigt im Film dazu, die bürokratischen Umgangsrituale des Geheimdienstes zu missachten, und betrachtet die Vorgänge um ihn insgesamt mit ironischem Misstrauen.

DIE DEUTSCHE SYNCHRONFASSUNG Funeral in Berlin wurde unter dem Titel Finale in Berlin im Wesentlichen ohne Schnitte und inhaltliche Veränderungen deutsch synchronisiert.35 Die Übersetzung folgt weitgehend dem Original und nimmt auch bei den humorvollen Textstellen nur gelegentlich behutsame Anpassungen vor. Die Dialoge, in denen es um NS-Verbrechen geht, sind sinngetreu übersetzt und vollständig. Natürlich drängt uns der Vergleich mit der Synchronisation des Quiller Memorandum die Frage auf, warum diese mit ihrem Original ganz anders umgeht. Rein quantitativ ist die Textmenge der Synchronfassung gegenüber jener des Originals um etwa 42% gewachsen. Der Versuch einer Neufassung, die das Original möglichst sinngetreu, knapp und verständlich auf Deutsch reproduziert, ergab einen notwendigen Zuwachs um 6,5%.36 Eine solche Quantifizierung mag im Einzelnen problematisch sein, insgesamt deutet das Ergebnis darauf hin, dass wir es nicht mit einer ›klassischen‹ Übersetzung zu tun haben, die

35 Gefahr aus dem Dunkel wurde in Deutschland erstmals am 24.02.1967 gezeigt, Finale in Berlin am 17.03.1967. Vgl. www.imdb.com/title/tt00604 37/releaseinfo. Für den hier vorgelegten Befund wurden zwei gleichlautende deutsche Fassungen von Finale in Berlin benutzt, eine am 25.6.2003 vom ZDF gesendete und jene auf der im Handel befindlichen DVD der Paramount Pictures, DE101061SV. 36 Der Vergleich basiert auf Silbenzählung. Diese und die folgenden Angaben stammen aus einer vergleichenden Textanalyse, die ich 2004 im Rahmen der Vorbereitung für die Lehrveranstaltung ›Übersetzungskritik‹ meines Kollegen und Freundes Rainer M. Köppl am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien angestellt habe; sie liegt nur unpubliziert als Teil eines Skriptums für die LV-TeilnehmerInnen vor.

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Quiller zwischen den Stühlen? an einer Minimierung der notwendigen Differenz von Original und Übersetzung interessiert ist, sondern mit einer Übertragung in eine Zielsprache, die zugleich Umarbeitung ist. Dabei treten die folgenden Merkmale am häufigsten auf: 1. Statt einer Übersetzunglösung werden zwei Varianten hintereinander gesetzt:

Quiller:

Originalfassung:

Synchronfassung:

What kind of business do you do?

Und wie läuft der Laden hier? Wie ist das Geschäft?

2. Im Original wörtlich wiederholte Formulierungen werden abgewandelt und 3. ausweichende Erklärungen werden eingesetzt, meist um von den Kernproblemen dieser Synchronisation, der Verwendung zweier Sprachen37 und der Nazi-Thematik, abzulenken; so ist die Drehbuchpassage Attendant (in German): You are not swimming? Quiller: Sorry, I don't understand. Attendant (in English): You are not swimming?

in der englischen bzw. synchronisierten Filmfassung folgendermaßen umgesetzt: Originalfassung:

Synchronfassung:

Quiller:

Sie schwimmen nicht? Sie schwimmen nicht? Sorry, I don’t understand.

Attendant:

You are not swimming?

Sie schwimmen nicht? Sind Sie nicht zum Schwimmen hier? Ist so’n Krach hier, ich versteh’ kein Wort. Sie wollen hier nicht schwimmen?

Attendant:

4. Im Original durch Mimik angedeuteter Ausdruck wird durch Dialogtext ergänzt, 5. einfache Aussagen des Originals werden durch aufwendige Umschreibungen ergänzt oder ersetzt. Manchmal finden dadurch andere Textteile des Originals in der betreffenden Dialogpassage keinen Platz mehr und fallen entweder weg oder werden ›ausge-

37 Wo der Dialog auf Deutsch und Englisch geführt wird oder auf die Sprache Bezug nimmt (»I speak English, I am afraid, not so very well ...« – »I’m afraid I don’t speak German at all«), muss die Synchronisation die Illusion aufgeben oder den Inhalt verändern.

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Martin Schwehla lagert‹. Umgekehrt wird gelegentlich Originaltext nicht übertragen und die Lücke durch Aufblähen benachbarter Textpassagen geschlossen. Oft entspricht die Umschreibung, bewusst oder unbewusst, nicht dem Sinn des Originals:

Quiller:

Originalfassung:

Synchronfassung:

Well – we’d like a little more information for our Philly readers.

Sehen Sie? Jetzt kommen wir uns schon näher. Das ist es nämlich. Darüber hätt’ ich gern etwas mehr von Ihnen erfahren.

6. Neutrale Formulierungen werden durch humoristische Texteinlagen und Formulierungen ersetzt oder vergröbert ...

Quiller:

Originalfassung:

Synchronfassung:

That’s because it hasn’t started yet. This is going to be the first number.

Na, dann könnten Sie auch als Hellseherin auftreten, wir arbeiten gerade an der ersten Nummer.

... oder die Ironie einer Situation wird direkt auf die Formulierung umgelegt: Originalfassung:

Synchronfassung:

Weng:

You don’t look too well.

Quiller:

Listen, don’t try to be an intellectual. What do you want?

Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus, Verehrtester. Ziehen Sie hier keine Sprüche ab, was wollen Sie von mir?

Man könnte nun versuchen, die Differenz im Textzuwachs zwischen der Fassung von 1967 und unserer Neufassung dem Umstand zuzuschreiben, dass, wo die englische Rede mit einer vor allem auf die Sachaussage beschränkten Form auskommt, im Deutschen Partikel hinzugesetzt werden, um einen bestimmten Appell an den Empfänger der Mitteilung auszudrücken. Unsere Neufassung verzichtete nämlich weitgehend auf solche Zusätze. Doch ist auch ohne genauere Auszählung evident, dass Wendungen wie »Na, wie ist das Essen?« statt »Wie ist Ihr Essen?« oder »Aber das weiß ich doch« statt »Das weiß ich« das Ausmaß des deutschen Textüberhangs nicht erklären können. ›Appellativpartikel‹, zurückhaltend eingesetzt, können die Artikulation auf der paralinguistischen Ebene (Tonhöhe, Geschwindigkeit, Lautstärke) unterstützen.38 Die Synchronbearbei-

38 Lew N. Zybatow: »Filmsynchronisation als Translation«, in: ders. (Hg.): Translation: Neue Entwicklungen in Theorie und Praxis (Forum Transla-

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Quiller zwischen den Stühlen? tung bewirkt hier jedoch das Gegenteil, denn die Freiheit der Interpretation – bzw. einer der Vorlage äquivalenten Modulation – wird empfindlich eingeschränkt, wenn Synchronsprecher in einem vorgegebenen Zeitraum mehr als 140% des ursprünglichen Textes unterbringen müssen. Die deutsche Fassung ist also eine launige Paraphrase des Ursprungstextes, aber auch eine fehlerhafte. Die notorischen Umformulierungen gleichlautender Phrasen des Originals (siehe Punkt 2), ein Phänomen, das in der Literatur häufig beschrieben wird,39 werden vollends zum Übersetzungsfehler, wenn die exakte Wiederholung einem bestimmten diegetischen Zweck dient. Das kurze Gesprächsritual bei der Begegnung einander unbekannter Agenten, das eigentlich ein Austausch von Passwörtern ist, verliert seinen Sinn, wenn der Wortlaut bei jedem Treffen aus ästhetischen Gründen variiert wird. Doch genau dies ist in Gefahr aus dem Dunkel der Fall. Insgesamt präsentiert sich die deutsche Version wie eine (deutsch synchronisierte) Agentenkomödie, speziell dort, wo Pinter in Text und Handlung ironische Brechungen einsetzte. Doch wenn sich die Übersetzung immer interessanter machen will als das Original (»Ich bin der liebe Quiller«, »Nun erzählen Sie dem Onkel doch mal, was Sie machen wollen«), kann sie keinen Kontrast mehr herstellen, wenn dieses seinen trockenen Sarkasmus ausspielt. Nur in jenem kurzen Abschnitt, in dem die Synchronübersetzung vom Original völlig abweicht, wird dieses Prinzip durchbrochen. Aus Pols Charakterisierung seines Auftrags im einleitenden Gespräch mit Quiller werden die »Nazi from top to toe« mit chirurgischer Präzision ausgeräumt und durch eine »Spionageorganisation« mit entsprechend verallgemeinerten Eigenschaften ersetzt. Die verbleibenden Dialogteile zeigen ungewöhnliche Demut gegenüber dem Originaltext.40 Diese Synchronisierung betraf eine Szene, die nicht fehlen durfte – die anderen Passagen des Films, in denen Quiller mit Inge, auch nur andeutungsweise, über neue nationalsozialistische Umtriebe in Deutschland spricht, wurden herausgeschnitten. Die launige Aufhellung des Dialogs und die Umsynchronisierung hängen wohl zusammen. Es wurde offenbar erkannt, dass die in-

tionswissenschaft 11). Frankfurt/M. u.a. 2009, S. 61-93, hier S. 70. Zybatow nennt sie Modal- oder Einstellungspartikel. Die Regel findet sich bereits in früherer Literatur, vgl. Peter Newmark: Twenty-Three Restricted Rules of Translation, zit. Hans G. Hönig, Paul Kußmaul: Strategie der Übersetzung. Tübingen 1991, S. 19. 39 Vgl. Zybatow: Filmsynchronisation, S. 82-8. Er demonstriert dies anhand zweier stereotyper Sätze von Lieutenant (Inspektor) Columbo. 40 Vgl. Pinter: Five Screenplays, S. 142f.; Gefahr aus dem Dunkel, 00:07:5500:08:30.

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Martin Schwehla haltliche Veränderung dem Film Motivation und Spannung nehmen würde, und versucht, dies durch Dialoge auszugleichen, die man als humorvoll und kurzweilig empfand. Die Umfärbung des Tons wurde begünstigt durch die Besetzung, denn George Segal als Quiller trat überwiegend in Filmkomödien auf. Zur Frage, warum die Synchronsation mit dem Film so umging, können hier nur ein paar Diskussionsanstöße gegeben werden. Als The Quiller Memorandum herauskam, hatten die Kinos in ganz Westeuropa schon seit einigen Jahren mit bedenklich hohen Besucherverlusten zu kämpfen, hauptsächlich wegen der Verbreitung des Fernsehens.41 Es könnte sich also um eine kommerzielle Kalkulation handeln, dem deutschen Publikum keine unbequeme Thematisierung Berlins als Stadt des NS-Revanchismus zumuten zu wollen, gerade als Berlin durch den Mauerbau 1961 vom ›historischen Täter‹ zum Opfer geworden war. Eine genrekonforme Positionierung unter den von Pinter selbst genannten aktuellen Spionagefilmen42 versprach möglicherweise einen größeren Kassenerfolg. Die Rolle der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft wäre hier noch zu untersuchen, das Nazi-Thema – oder dessen Fehlen – war jedenfalls kein Kriterium für die Altersfreigabe, sie wurde, wie für Finale in Berlin, auf 16 Jahre festgesetzt.43 Doch die Frage bleibt, warum Funeral in Berlin bei der Synchronisation unangetastet geblieben ist. In Finale in Berlin hatten es die einheimischen Zuschauer mit dieser einzelnen, undurchschaubaren Figur zu tun, Johnny Vulkan, einem Berliner zwar, aber einem, der nach dem Krieg Schwarzhändler war, frei für den Geheimdienst arbeitet, im Lauf der Handlung als KZ-Wächter entlarvt wird, sich das Vermögen eines jüdischen KZ-Opfers zu erschleichen versucht, das er selbst ermordet hat, dabei weitere Leben gefährdet und schließlich erschossen wird. Wo immer unangenehme Parallelen zu authentischen Biographien im Zuschauerraum auftraten – in den 60er Jahren noch sehr wahrscheinlich –, sie wurden durch die Schuld und das Schicksal der Figur auf der Leinwand neutralisiert. Die Funktion Vulkans ist hier letztlich die eines Sündenbocks. Eine Verfilmung des Quiller Memorandum, die sich an die Vorgaben Adam Halls hielt, hätte auf ähnliche Weise funktioniert, da sie die Verantwortung für die Verbrechen auf wenige exponierte Figuren beschränkt, diese auf die eine oder

41 Vgl. Dieter Prokop: »Struktur und Entwicklungstendenz der Filmwirtschaft 1947 bis 1970«, in: Manfred Brauneck (Hg.): Film und Fernsehen. Bamberg 1980, S. 235-56, hier S. 242f. 42 Vgl. S. 77. 43 Vgl. Lexikon des internationalen Films. Reinbek 1987, Bd. 2, S. 1013; Bd. 6, S. 3026.

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Quiller zwischen den Stühlen? andere Art unschädlich gemacht und mit dem Tod Zossens geendet hätte. Pinters Version hingegen sieht in Berlin – und Deutschland – eine zu einem gewissen Grad von neuen Nazis und deren Sympathisanten durchsetzte Bevölkerung. Jeder Zuschauer musste sich hier angesprochen fühlen, und Pinters Drehbuch bot auch keine stellvertretend reinigende Wirkung in Form einer deutlichen Bestrafung der Schuldigen und Beseitigung der Gefahr: die Verhaftung Oktobers wird nur über Telefon mitgeteilt, und die Helfer außerhalb des Hauptquartiers bleiben unbehelligt. Die Schuldirektorin und Inge dürfen weiterhin Kinder unterrichten. Pinter hatte wohl recht mit seiner Einschätzung, er habe das Thema »quite boldly« behandelt – zu kühn, wie manche meinten, für das deutsche Publikum. Die Translationstheorie vertritt (um einen sehr breit gefächerten Diskurs für unsere Zwecke stark zu vereinfachen) auch für die Synchronübersetzung das Äquivalenzprinzip dahingehend, dass die Übersetzung eine vom Zielpublikum nicht rezipierbare Gestalt des Ausgangsprodukts in eine rezipierbare umwandelt. Was das ursprüngliche Zielpublikum versteht, sollte auch das zielsprachliche Publikum verstehen. Vor allem in den ›schnellen‹ audiovisuellen Medien beinhaltet dies, dass für dieses Publikum alle denotativen und auch die für das Gesamtverständnis wichtigen konnotativen Lücken direkt im Zieltext geschlossen werden sollten, auch wenn dadurch Informationen des Originals verloren gehen. (Die anspruchsvolle Literaturübersetzung beispielsweise kann sich dagegen mit Anmerkungen und ausführlichen Erläuterungen im Vor- bzw. Nachwort behelfen.) Vor der philologischen Texttreue kommt bei der Synchronisation also die Anpassung an das Auffassungsvermögen der Zuschauer. Aus dieser Perspektive erscheint es z.B. sinnvoll, dass die deutsche Synchronisation einer Sitcom in den 1990er Jahren von der Schwarzwaldklinik spricht, wo im US-amerikanischen Original natürlich von einer anderen, im deutschsprachigen Raum nicht geläufigen TV-Serie die Rede ist, wenn es darum geht, dass die betreffende Figur auf keinen Fall diesen ›Straßenfeger‹ versäumen möchte. Wie diffizil dieser Anpassungsvorgang ist, wird bewusst, wenn man die Forderung nach Wahrung der Illusion einbezieht – sehr wahrscheinlich weiß das Publikum der Synchronfassung, dass es eine Serie aus den USA vor sich hat und es dort die Schwarzwaldklinik nicht gibt, zieht aber in der Regel die dadurch gegebene Information einem originalgetreuen, aber nichtssagenden Zitat vor. Möglicherweise ginge sonst auch die Pointe verloren: es gibt also eine Hierarchie der zu bewahrenden Form- und Inhaltswerte. Doch fühlt sich die Synchronisation unter diesem Prätext manchmal berufen, dem Rezipienten auch dann unter die Arme zu

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Martin Schwehla greifen, wenn er nicht zu wenig, sondern nur zu gut versteht. Schließlich wird niemand behaupten wollen, dass die Übertragung des Begriffs ›Nazi‹ aus dem Original in den deutschen Zieltext dort eine denotative oder konnotative Verständnislücke reißt (aber natürlich wird es auch niemals gelingen, die Konnotationen von ›Nazi‹ in Großbritannien und in Deutschland zur Deckung zu bringen). Zahlreiche solcher inhaltlichen Eingriffe im Rahmen der Synchronisation – meist verbunden mit einem veränderten Schnitt – wurden in der Literatur bereits beschrieben,44 thematisch betreffen sie (im politischen Bereich)45 neben dem Nationalsozialismus beispielsweise den Kommunismus, Stalinismus, Kriegsgewinnler, Kollaborateure, Terrorismus und Terroristen, die Atombombe, faschistoides Verhalten und Antisemitismus, vor allem wenn diese Elemente als Kritik an Staat und Gesellschaft des jeweiligen Zielpublikums aufgefasst werden können. Eine umfangreiche Dokumentation erfolgte seit 2003 im Rahmen des kombinierten eLearning/eResearch-Projekts ELOISE an der Universität Wien.46 Eine spannende Frage bei der Untersuchung des Phänomens ist, soweit die Motive für die Veränderung zu ermitteln sind, ob wir diese, einer Kategorisierung von Diller und Kornelius folgend, dem »Einfluss zensurähnlicher Kontrollorgane«, dem »Unterschied zwischen dem AS- und ZS-Symbolmilieu« oder der »Anpassung an Geschmack und Mentalität des zielsprachlichen Publikums« verdanken,47 abgesehen davon, dass ersteres in der Zensurpraxis gerne

44 Hier sei nur allgemein auf die Arbeiten von Guido M. Pruys, Joseph Garncarz und Rainer M. Köppl verwiesen, die sich ausführlich mit dem Thema auseinandergesetzt haben. 45 Hesse-Quack, der dieses Thema als einer der ersten aufgegriffen hat, fand allerdings »den größten Anteil an Veränderungen [...] bei Dialogstellen, die die Sexualsphäre betreffen«. Otto Hesse-Quack: Der Übertragungsprozeß bei der Synchronisation von Filmen. Bonn 1967, zit. Thomas Herbst: Linguistische Aspekte der Synchronisation von Fernsehserien (Linguistische Arbeiten 318). Tübingen 1994, S. 197. 46 Projekt ELOISE, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Univ. Wien, unter der Leitung von Rainer M. Köppl mit Beteiligung des Verfassers, www.eloise.at. Vgl. Rainer M. Köppl, Martin Schwehla: »MOVE! Multimedia Online Visualisation Experts. Aus eLearning wird eResearch«, in: A. Mettinger u.a. (Hg.): eLearning an der Universität Wien. Forschung – Entwicklung – Einführung. Münster 2006, S. 241-256; dies.: »Der Vergleich macht Sie sicher!«, in: Zybatow: Filmsynchronisation, S. 187-195. 47 Hans-Jürgen Diller, Joachim Kornelius: Linguistische Probleme der Übersetzung (Anglistische Arbeitshefte 19). Tübingen 1978, S. 104f., zit. Herbst: Linguistische Aspekte, S. 220. Diller/Kornelius zählen als weitere Möglichkeit die Forderung nach Lippensynchronität zu den Faktoren, die Veränderungen zwischen Ausgangs- und Zieltext herbeiführen können.

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Quiller zwischen den Stühlen? mit den anderen beiden bemäntelt wird. Wenn die Übersetzung dem zielsprachlichen Publikum im Sinn ausgangssprachlicher Funktionalität und Ästhetik auch mit Mitteln dienen kann, die gelegentlich einem strengeren Äquivalenzbegriff zuwiderlaufen, bedarf es aus der Sicht der Film- und der Medienwissenschaft einer methodologischen Handhabe zur Bestimmung, ob im einzelnen Fall nicht eher – oder sehr bewusst – anderweitige Interessen der Auftraggeber oder von Dritten über die der Zielrezipienten gestellt wurden.48 Dann kann der vergleichsweise kleine Produktionsschritt der Synchronisation, konsequent durchleuchtet, als Indikator für das Gesamtbild des politisch mehr oder weniger verantwortungsvollen Umgangs mit Medienmaterial dienen. Wir wollen mittlerweile ganz genau wissen, was wir essen. Warum sollte dies mit den Produkten im Kino, Fernsehen etc. anders sein?

48 Erich Pruný vertritt zwar mit seiner Forderung nach »dialogischer Translation« den m.E. unhaltbaren Totalitätsanspruch eines Übersetzers, der genau zu wissen glaubt, was für den (offenbar völlig passiven) Zielrezipienten gut ist und was nicht; er räumt aber auch ein: »Allerdings ist nicht zu übersehen, dass dialogische Translation ideologisch in der Tat leicht instrumentalisierbar ist. Die interpretative Einengung des Bedeutungspotentials des Ausgangstextes und seine Herauslösung aus dem ursprünglichen soziokulturellen Kontext trägt stets den Keim ideologischer Manipulation in sich. Auch die notwendige Kompatibilitätsstiftung mit der kognitiven Umwelt der Zieltextrezipienten kann nicht immer wertneutral erfolgen. Das manipulative Potential beider Prozessschritte wird jedoch noch vergrößert, wenn bei den TeilnehmerInnen an der transkulturellen Kommunikation das Bewusstsein für ihre Manipulierbarkeit fehlt.« E. Pruný: »Translation zwischen Absolutheitsansprüchen und Konventionen«, in: Lew N. Zybatow (Hg.): Translation zwischen Theorie und Praxis (Forum Translationswissenschaft 1). Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 139-166, hier S. 148.

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Frank Miller’s Sin City. Transformationsprozesse zwischen Graphic Novel und Film HANS-EDWIN FRIEDRICH

Als Sin City 2005 in die Kinos kam, erregte der Film aufgrund seiner ungewöhnlichen ästhetischen Gestaltung großes Aufsehen. Deren experimenteller Ansatz ergibt sich aus dem Versuch, für eine graphisch-bildkünstlerische Vorlage äquivalente filmische Erzähltechniken und Darstellungsmittel zu entwickeln. Sin City gehört zu einer Reihe ähnlicher Filme, die im Spannungsfeld von Animationsund Realfilm angesiedelt sind. Weitere Beispiele sind die Animationsfilme Final Fantasy (USA/J 2002, R: Hironobu Sakaguchi, Moto Sakakibara) und Renaissance (F/GB/L 2006, R: Christian Volckmann) sowie die Realfilme Sky Captain and The World of Tomorrow (USA 2005, R: Kerry Conran), A Scanner Darkly (USA 2006, R: Richard Linklater) oder La Antena (ARG 2007, R: Esteban Sapir).1 Frank Miller’s Sin City – so der vollständige Titel des Films – nimmt unter den aktuell boomenden Comic-Verfilmungen eine Sonderstellung ein, weil hier der Versuch unternommen wurde, die ästhetische Konzeption der zugrunde liegenden Graphic-Novel-Serie filmisch angemessen zu realisieren. Robert Rodriguez hatte schon lange die Absicht gehabt, Frank Millers Serie zu verfilmen; es war ihm aber nicht um eine Verfilmung im herkömmlichen Sinne gegangen. Miller, der sich dem Film gegenüber immer aufgeschlossen gezeigt hatte, war aufgrund der besonderen Konzeption gerade dieser Serie zurückhaltend, konnte aber aufgrund von Probeaufnahmen gewonnen werden. Er fungierte als Co-Regisseur des mit großem Staraufgebot und unter Beteiligung des Gastregisseurs Quentin Tarantino gedrehten Films.

1

Vgl. Marcus Stiglegger: »Digitale Revolution? Kino, Interaktivität und Reißbrettwelten«, in: Splatting Image Nr. 69, 2007, S. 6-10.

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Hans-Edwin Friedrich

I. In den 1980er Jahren erregte der Comiczeichner und -autor Frank Miller zunehmend Aufmerksamkeit.2 1979 hatte DC Comics ihm die Serie Daredevil übertragen, die er mit so eindrucksvollem Erfolg schrieb und zeichnete, dass man ihm den bis dahin höchst dotierten Arbeitsvertrag der Branche anbot und uneingeschränkte künstlerische Freiheit zusicherte. In der Folge arbeitete Miller verstärkt an eigenen Serien; 1985 verhalf er mit der Graphic Novel The Dark Knight Returns einem darbenden Superhelden zu neuem Schwung und löste eine neue Welle der Batmania aus, in deren Gefolge die Batman-Filmreihe (Batman, USA 1989, R: Tim Burton; Batman Returns, USA 1992, R: Tim Burton) entstand. Miller verfasste die Drehbücher für RoboCop 2 (USA 1992, R: Irvin Kershner) und RoboCop 3 (USA 1994, R: Fred Dekker), zeigte sich der filmischen Adaption graphischer Vorlagen gegenüber aufgeschlossen. Einige seiner Comics sind unterschiedlich gelungen und erfolgreich verfilmt worden. Filme wie Batman, Batman Returns und Daredevil (USA 2003, R: Mark Steven Johnson) griffen in ihrer ästhetischen Gestaltung Motive und Impulse von Millers Zeichenstil auf. Zuletzt hat er, allerdings weniger erfolgreich, seinen Beitrag zur von Will Eisner3 geschriebenen Serie The Spirit selbst inszeniert (The Spirit, USA 2008, R: Frank Miller) und sich dabei an Sin City orientiert. Miller durchlebte nach seinen aufsehenerregenden Erfolgen Mitte der achtziger Jahre eine kurze Zeit der Stagnation, während derer er an Projekten arbeitete, die ihn auf neues künstlerisches Terrain führen sollten. Im Jahr 1991 begann das Comic-Magazin Dark Horse in seiner Nummer 51 mit dem Abdruck einer längeren Erzählung, die den Auftakt zu einer Reihe von insgesamt sieben Bänden bildete.4 Der Titel der Graphic Novel, The Hard Goodbye, spielte auf

2 3

4

Vgl. dazu Andreas C. Knigge: Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer. Reinbek 1996, S. 155ff. Vgl. N. C. Christopher Couch, Stephen Weiner: The Will Eisner Companion. New York 2004; Wolfram Knorr: »Will Eisner. Oder: Das visuelle Rauschgift des Bilderromans«, in: Heinz Ludwig Arnold, Andreas C. Knigge (Hg.): Comics, Mangas, Graphic Novels. München 2009, S. 74-89. Frank Miller’s Sin City. Bd. 1: The Hard Goodbye. Milwaukee 22005; Bd. 2: A Dame To Kill For. Milwaukee 22005; Bd. 3: The Big Fat Kill. Milwaukee 2 2005; Bd. 4: That Yellow Bastard. Milwaukee 22005; Bd. 5: Family Values. Milwaukee 22005; Bd. 6: Booze, Broads & Bullets. Milwaukee 22005; Bd. 7: Hell And Back. Milwaukee 22005.

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Frank Miller’s Sin City Raymond Chandlers Roman The Long Goodbye an. Die Serie wurde 1999 mit dem siebten Band Hell And Back abgeschlossen.5 Sin City – so der Gesamttitel der Serie – greift Personal, Topographie, Strukturierungen und Versatzstücke des Noir metareflexiv auf: »Alles spürbar bewußt, spürbar auf die Spitze getriebene Stilisierung, Pastiche, nicht Plagiat, oft genug bis an die Grenze zur Persiflage.«6 Miller radikalisiert die Merkmale des Genres und macht sie dadurch als ästhetisches Material verfügbar. Jener »abstrakt funktionierende Schematismus [...], der seine eigenen rigorosen Gesetzmäßigkeiten hat«,7 das konstruktive Moment der Gattung, tritt dadurch hervor. Die so präsentierte Welt des Noir und ihre Versatzstücke werden im Rahmen einer im Übrigen konventionell strukturierten Handlung verarbeitet. Helmut Heißenbüttel hat am Beispiel des Kriminalromans beobachtet, dass dieser Schematismus sich in einer ganz besonderen Weise als organisierendes Zentrum auswirkt: Alle »realistischen Elemente, seien sie psychologischer, wirtschaftlicher oder sozialer Art, müssen von vornherein so eingerichtet werden, daß sie zu verschlüsselbaren wie auch auflösbaren Musterspielen zusammengefügt werden können«.8 Die Betonung des Schematismus führt zu einer antirealistischen Tendenz, die zum realistischen Anspruch des Genres in Gegensatz gerät. Augenfällig lässt sich dieses Moment an der Behandlung und Darstellung von Gewalt studieren. »Miller stilisiert und abstrahiert Gewalt zum wuchtigen Ballett, zu einer Choreographie stürzender Körper und fliegender Splitter.«9 Die Verletzungen der Figuren Marvin aus The Hard Goodbye und Hartigan aus That Yellow Bastard müssten, realistisch betrachtet, mehrfach tödlich sein. Die Behandlung der Genreversatzstücke durch Miller findet ihre Entsprechung in den stilistischen Mitteln. Sin City beginnt in schwarz und weiß; die Darstellungsweise reicht von realistischen Darstellungen zur Auflösung des Gegenständlichen in wenige Konstruktionselemente. Die in der Comicgeschichte ausgebildeten Mittel der Auflösung, In- und Übereinanderschichtung der Panels werden virtuos eingesetzt, Bewegungsabläufe gedehnt, ihre Wahrnehmung fragmentarisiert. Sin City zeichnet sich durch eine Kongruenz

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Vgl. Bernd Dolle-Weinkauf: »›Crime Fiction‹ im Comic der 90er Jahre. Frank Millers ›Sin City‹«, in: Dieter Petzold, Eberhard Späth (Hg.): Unterhaltungsliteratur der achtziger und neunziger Jahre. Erlangen 1998, S. 103-118. Bernd Kronsbein: »Sin City«, in: Marcus Czerwionka (Hg.): Lexikon der Comics. Meitingen 1991ff., 11. Erg. Lfg. September 1994, S. 2. Helmut Heißenbüttel: »Spielregeln des Kriminalromans [1963]«, in: ders.: Über Literatur. Stuttgart 1995, S. 104-120, hier S. 110. Ebd., S. 107. Kronsbein: Sin City, S. 2ff.

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Hans-Edwin Friedrich von Form und Inhalt aus, deren ästhetische Konzeption eine experimentelle Variation der Genremuster voraussetzt.

II. Die Filmindustrie hat erst auffallend spät auf Stoffe zurückgegriffen, die originär aus Comics stammen.10 Solche Adaptionen sind zunächst als Animationen realisiert oder innerhalb eines Medienverbunds auch als Antimationsfilme hergestellt worden. Die Übernahme solcher Stoffe für einen Realfilm war seit den dreißiger Jahren eine Domäne der Serialproduktion. Das erste bekannte Serial dieser Art war das von Universal 1934 produzierte Tailspin Tommy, gefolgt von weiteren mit den Titelhelden Flash Gordon, Buck Rogers, später Superman, Batman, Captain America, Captain Marvel, Black Hawk und Dick Tracy.11 Die ersten abendfüllenden Spielfilme entstanden verhältnismäßig spät: Dick Tracy (USA 1945, R: William Berke), Dick Tracy versus Cueball (USA 1946, R: Gordon Douglas), Dick Tracy’s Dilemma (USA 1947, R: John Rawlins) und Dick Tracy meets Gruesome (USA 1947, R: John Rawlins). Weitere folgen erst Jahre später (Superman and the Mole Men, USA 1952, R: Lee Sholem). Henry Hathaway drehte 1953 Prince Valiant (USA), und 1966 entstand mit Batman (USA, R: Leslie Martinson) ein Ableger der parodistischen TV-Serie. Ein Jahr später kam Barbarella (I/F 1967) von Roger Vadim in die Kinos, die Verfilmung von Jean-Claude Forests in Intellektuellenkreisen erfolgreichem Undergroundcomic. Die nicht unaufwendige Sexparodie Flesh Gordon (USA 1974, R: Michael Benveniste) war so erfolgreich, dass 1980 ein parodistisches Remake Flash Gordon (GB 1980, R: Michael Hodges) in die Kinos kam. Popeye von Robert Altman aus dem gleichen Jahr war ein Flop. Kurz zuvor war das Remake Buck Rogers in the 25th Century (USA 1979, R: Daniel Haller)

10 Vgl. Knigge: Comics (Anm. 2), S. 312ff.; William Schoell: Comic Book Heroes Of The Screen. Secaucus, NJ 1991. 11 Flash Gordon (USA 1936, R: Frederick Stephani, 13 Episoden); Dick Tracy (USA 1937, R: Ray Taylor, Alan James, 15 Episoden); Flash Gordon’s Trip To Mars (USA 1938, R: Ford Beebe, Robert F. Hill, 15 Episoden); Buck Rodgers (USA 1939, R: Ford Beebe, Saul A. Goodkind, 12 Episoden); Dick Tracy’s GMen (USA 1939, R: William Witney, John English, 15 Episoden); Flash Gordon Conquers The Universe (USA 1940, R: Ford Beebe, Ray Taylor, 12 Episoden); The Adventures of Captain Marvel (USA 1941, R: William Witney, John English, 12 Episoden); Dick Tracy versus Crime Inc. (USA 1941, R: William Witney, John English, 15 Episoden); Batman (USA 1943, R: Lambert Hillyer, 15 Episoden); Captain America (USA 1944, R: John English, Elmer Clifton, 15 Episoden); Superman (USA 1948, R: Spencer Gordon Bennet, Thomas Carr, 15 Episoden).

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Frank Miller’s Sin City gedreht worden. Etwas später gab es auch wieder einen Captain America (USA 1990, R: Albert Pyun). Man kann aber wohl davon sprechen, dass trotz aller Popularität solche Stoffe bei der Filmindustrie lange nicht übermäßig beliebt waren. Die eher vereinzelten Beispiele waren nicht sehr erfolgreich. Über die Gründe ließe sich trefflich spekulieren, plausibel scheint der Hinweis auf Schwierigkeiten, karikierende und nicht realistische Stilelemente plausibel umzusetzen, oder auf technische Probleme, die sich bei der Realisierung phantastischer Elemente in den Superhelden- oder ähnlichen Serien ergaben. Letztere sind erst dann erfolgreich verfilmt worden, als die Spezialeffekte ausgereift genug waren. Der erste Superman-Film mit Christopher Reeve 1978 war der erste Blockbuster, der auf einem Comic beruhte. Erstmals konnte die Vorlage tricktechnisch so umgesetzt werden, dass eine realistisch wirkende Inszenierung der Handlung möglich war. Der Film hatte drei Sequels und mit Supergirl einen Ableger.12 Batman von Tim Burton brachte den zweiten archetypischen Superhelden auf die Leinwand, der ab 1989 mit einer Reihe von Nachfolgern erfolgreich war.13 In den neunziger Jahren setzte eine Folge von Verfilmungen der Helden der Marvel-Comics und anderer ein – Hulk, Fantastic Four, X-Men, Daredevil, Spider-Man, Blade, Spawn, The Crow, um nur die bekanntesten zu nennen.14 Tim Burtons Batman12 Superman – The Movie (GB 1978, R: Richard Donner); Superman II (GB 1980, R: Richard Lester); Superman III (GB 1983, R: Richard Lester); Superman IV: The Quest for Peace (USA 1987, R: Sidney J. Furie); Supergirl (GB 1984, R: Jeannot Szwarc). Neueinsatz: Superman Returns (USA 2006, R: Bryan Singer). 13 Neben den beiden Burton-Filmen Batman Forever (USA 1995, R: Joel Schumacher) und Batman and Robin (USA 1997, R: Joel Schumacher). Ein stilistischer und narrativer Neuanfang setzte ein mit Batman Begins (USA 2005, R: Christopher Nolan) und The Dark Knight (USA 2008, R: Christopher Nolan). Vgl. Andreas Friedrich: »Der Amerikanische Traum und sein Schatten. Superman, Batman und ihre filmischen Metamorphosen«, in: Andreas Friedrich, Andreas Rauscher (Hg.): Superhelden zwischen Comic und Film. München 2007, S. 23-50. 14 Spawn (USA 1997, R: Mark Z. Dippé); Blade (USA 1998, R: Stephen Norrington); X-Men (USA 2000, R: Bryan Singer); Blade II (USA 2002, R: Guillermo del Toro); The Hulk (USA 2003, R: Ang Lee); X-Men 2 (USA 2003, R: Bryan Singer); Catwoman (USA 2004, R: Pitof); The Punisher (USA 2004, R: Jonathan Hensleigh); Spider-Man (USA 2004, R: Sam Raimi); Blade Trinity (USA 2004, R: David S. Goyer); Hellboy (USA 2004, R: Guillermo del Toro); Constantine (USA 2005, R: Francis Lawrence); Elektra (USA 2005, R: Rob Bowman); Fantastic Four (USA 2005, R: Tim Story); Spider-Man 2 (USA 2005, R: Sam Raimi); X-Men. The Last Stand (USA 2006, R: Brett Ratner); Fantastic Four: The Rise of the Silver Surfer (USA 2007, R: Tim Story); Ghost Rider

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Hans-Edwin Friedrich Filme und Warren Beattys Dick Tracy (USA 1990) hatten bereits erfolgreich versucht, Atmosphäre und Stilmittel der Comics in den Film zu übertragen.15 In den letzten Jahren griff die Filmindustrie zunehmend auf erfolgreiche Graphic Novels wie From Hell (USA 2001, R: Albert Hughes, Allen Hughes), V For Vendetta (USA 2005, R: James McTeigue), The League of Extraordinary Gentlemen (USA 2003, R: Stephen Norrington), 300 (USA 2006, R: Zack Snyder), Watchmen (USA 2009, R: Zack Snyder) und andere zurück. Man kann von der ästhetischen Konzeption her drei verschiedene Gruppen von Comic-Adaptionen unterscheiden. Zum einen solche, die im Wesentlichen die stofflichen Aspekte der Vorlage aufgreifen, medienspezifische Eigentümlichkeiten jedoch weitgehend übergehen (Astérix et Obélix contre César, F 1999, R: Claude Zidi; Superman, X-Men). Zum zweiten solche, die ihre Vorlage unter Berücksichtigung von Besonderheiten der Comics und mit klarer Referenz auf die Vorlage umsetzen. Dies kann dadurch geschehen, dass, wie etwa in Hulk, die Erzähltechnik in Panels zitiert wird, oder aber, wie in Spider-Man und anderen Marvel-Verfilmungen, der Vorspann ausdrücklich auf die Vorlage verweist und einzelne Einstellungen auf das Vorbild zurückgehen. Eine dritte und letzte Gruppe bilden Filme, die einen kongenialen filmischen Ausdruck für ihre Vorlage zu finden und dabei auch die medienspezifischen Elemente zu berücksichtigen versuchen (neben Frank Miller’s Sin City sind Popeye, Batman von 1966, Dick Tracy von 1990 zu nennen). Zwischen diesen drei Typen ist jedoch nicht trennscharf zu differenzieren.

III. Die Vorlage zu Frank Miller’s Sin City besteht aus sieben Alben. Die ersten fünf enthalten jeweils eine in sich abgeschlossene Graphic Novel mit einzelnen Querverweisen auf Personal der anderen: The (USA 2007, R: Mark Steven Johnson); Spider-Man 3 (USA 2007, R: Sam Raimi); The Incredible Hulk (USA 2008, R: Louis Leterrier); Iron Man (USA 2008, R: Jon Favreau); Wanted (USA 2008, R: Timur Bekmambetov). Vgl.: Andreas Rauscher: »Stadtneurotiker, Outlaws und Mutanten. Das Marvel-Universum im Film«, in: Andreas Friedrich, Andreas Rauscher (Hg.): Super-helden zwischen Comic und Film. München 2007, S. 51-71. 15 Weitere Beispiele: Howard The Duck (USA 1986, R: William Huyck); The Rocketeer (USA 1991, R: Joe Johnston); Judge Dredd (USA 1995, R: Danny Cannon); Tank Girl (USA 1995, R: Rachel Talalay); The Phantom (USA 1996, R: Simon Wincer). Vgl. Simon Ofenloch: »Helden aus der zweiten Reihe. Verfilmungen von Independent-Superhelden-Comics«, in: Andreas Friedrich, Andreas Rauscher (Hg.): Superhelden zwischen Comic und Film. München 2007, S. 72-88.

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Frank Miller’s Sin City Hard Goodbye (1), A Dame To Kill For (2), The Big Fat Kill (3), That Yellow Bastard (4) und Family Values (5). Der sechste, Booze, Broads & Bullets, enthält eine Reihe von Graphic Short Stories, und der abschließende siebte, Hell And Back, fällt stilistisch und erzählerisch aus dem Rahmen. Er sprengt die Grenzen der Serie und ist als Abschluss konzipiert. Der Film enthält, den Vorspann nicht eingerechnet, drei kurze und drei lange Sequenzen. Bei den langen Sequenzen handelt es sich um die Umsetzungen von drei der Graphic Novels. Die erste Erzählung (Minute 12-45) bietet die Geschichte Marvins, The Hard Goodbye, die zweite (Minute 45-82) ist die zweite Geschichte Dwights, The Big Fat Kill, die dritte (Minute 82-111) vermittelt die Geschichte Hartigans, That Yellow Bastard. Im Film nicht berücksichtigt sind die drei anderen Novels, die erste (A Dame To Kill For) und die dritte Geschichte Dwights (Family Values) sowie die Abschlussnovel. Die drei kürzeren Sequenzen bilden Rahmungen. Die Hartigan-Geschichte hat in der Vorlage drei Teile: In der Vorgeschichte befreit Hartigan Nancy aus den Händen des späteren Yellow Bastard. Den Mittelteil bildet der Zeitraum, in dem Hartigan im Gefängnis sitzt, den Schlussteil stellt die Zeit nach Hartigans Freilassung dar mit dem Showdown, in dem der Bastard getötet wird. Im Film ist die Vorgeschichte abgekoppelt, sie wird als Exposition der letzten vor der ersten Langsequenz mit Marvin eingerückt (Minute 4-12). Dadurch entsteht ein Rahmen, der die Hartigan-Geschichte zur dominierenden der drei Langsequenzen macht. Zwei weitere Sequenzen bilden einen zusätzlichen Rahmen, der Exposition und Abschluss des Films ist. Den Anfang bildet eine in sich abgeschlossene Sequenz (Minute 0-3), die Umsetzung der Graphic Short Story The Customer Is Always Right aus dem 6. Album der Comicreihe. Die Abschlusssequenz (Minute 111-115) hat als einziger Teil des Films keine Entsprechung in der Vorlage. Sie führt den Hitman vom Anfang des Films mit Becky aus der zweiten Langgeschichte zusammen. Geleistet wird mit dem doppelten Rahmen zweierlei: zum einen wirkt der Rahmen formal integrierend: drei in sich abgeschlossene und voneinander unabhängige Einzeleinheiten werden durch diesen Rahmen enger verknüpft; zugleich bietet der Schluss eine Art von Moral. Das integrierende Moment hat eine Entsprechung in den Graphic Novels, wo immer wieder inhaltliche Verknüpfungen zwischen den einzelnen Teilen hergestellt sind. Die drei Teile des Films enthalten ebenfalls interne Verknüpfungen und Verweise. Zum einen tauchen Nebenfiguren wie etwa das Killerpaar Mr. Shlubb und Mr. Klump sowie Angehörige der Patrizierfamilie Roark mehrfach auf; Hauptfiguren der drei Haupterzählungen agieren in den jeweils anderen als Nebenfiguren (Gail und Becky, Marvin, Dwight, Shelley);

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Hans-Edwin Friedrich zum zweiten ist ›Kadie’s Club‹ der soziale Treffpunkt in Sin City; zum dritten finden die Showdowns des ersten und dritten Teils auf der Roark-Farm statt. Eine weitere Übernahme aus den Graphic Novels stiftet ebenfalls narrative Kohärenz. Marvin sucht nach dem Besuch bei seiner Bewährungshelferin Lucille ›Kadie’s Club‹ auf. Als er von Shelley bedient wird, wechselt die Erzählperspektive. Shelley bedient als nächsten Dwight, der allein an einem Tisch sitzt (Minute 19). Die Vorlage zu dieser halbminütigen Sequenz findet sich nicht in The Hard Goodbye, sondern in A Dame To Kill For.16 Als Shelley auf den Tisch zusteuert, an dem Dwight sitzt, zwinkert sie ihm zu – das findet sich nicht in der Vorlage, bereitet aber im Film die Affäre beider vor, nach der der zweite Teil einsetzt. Damit wird ein Hinweis auf die Zeitstruktur gegeben. Während vor dieser Einlage Marvin als Erzähler fungiert, wechselt die Erzählposition nun zu Dwight, der Marvin charakterisiert: »He had the rotten luck of being born at the wrong time in history.«17 Nach dieser Einlage wechselt die Erzählposition wieder zu Marvin. Aufgrund der zentralen Stellung von ›Kadie’s Club‹ entsteht eine weitere narrative Verknüpfung durch Nancy, die dort Tänzerin ist und deren Leben in der Hartigan-Geschichte gerettet wird. ›Kadie’s Club‹ wird auch farbdramaturgisch herausgehoben. Den topographischen Gegenpol zu dieser Bar bildet die Farm der Roark-Familie. Sie ist in der ersten Geschichte der Ort des Showdowns zwischen Marvin und dem Serial Killer Kevin; in der letzten Geschichte findet dort der Showdown zwischen Hartigan und dem Yellow Bastard statt; in einer Einstellung ist analog zur Vorlage Kevin lesend im Lehnstuhl zu sehen (Minute 106). Beide Orte sind extreme Gegensätze. Während ›Kadie’s Club‹ ein sozialer Ort ist, an dem sich alle treffen und wo infolgedessen menschliche Wärme aufkommen kann, Grundformen von Solidarität sichtbar werden, ist Roarks Farm der Ort, an dem das radikal Böse zu Hause ist. Der Film erzählt seine Einzelgeschichten jeweils chronologisch; diese folgen allerdings nicht chronologisch aufeinander. Die Vorgeschichte Hartigans spielt sich acht Jahre vor seiner Entlassung ab. Innerhalb der langen Hartigan-Sequenz ist der erste Abschnitt bis zu dem Moment, wo der Yellow Bastard in seiner Zelle auftaucht und Nancys Briefe ausbleiben, der zeitlich früheste Handlungsabschnitt unter den langen Sequenzen. Zeitgleich spielen sich Marvins Suche nach Goldies Mörder, Dwights Engagement für die Huren von Sin City und Hartigans Abrechnung mit dem Yellow Bastard ab. Das Ende von Marvins Geschichte wiederum – Heilung, Verurtei16 Dort S. 83-95, leicht verändert. 17 In Sin City II, S. 93, leicht veränderter Text: »He had the rotten luck of being born in the wrong century.«

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Frank Miller’s Sin City lung und Exekution Marvins – folgt den anderen Ereignissen. Die erste und die dritte Langerzählung sind also von der Zeitstruktur her gegenläufig aufgebaut; die mittlere enthält keine Zeitsprünge. Die Rahmengeschichte des Hitman erhält durch das Ende einen zeitlichen Index, der auf die Handlungszeit unmittelbar nach der zweiten Erzählung verweist.

IV. Die Verfilmung ist sehr streng an der Vorlage ausgerichtet. Sie kombiniert deren Elemente etwas freier, ohne die Vorlage jedoch grundlegend zu verändern, um eine homogene und in sich geschlossene Einheit zu erreichen. Nur wenige Teile des Films sind Eigenschöpfungen. Das lässt sich auf die Grundkonzeption zurückführen. Im Bonusmaterial der DVD-Edition äußern sich die Beteiligten zum Projekt.18 Rodriguez hatte nicht »Robert Rodriquez’ Sin City«, sondern »Frank Miller’s Sin City« verfilmen wollen, so dass man Werktreue als regulative Leitidee annehmen kann. Genauer: Werktreue in der Weise, dass die Graphic Novel ihren angemessenen Ausdruck im filmischen Medium gewinnen soll. Von daher ist der Vorspann erklärungsbedürftig. Dort heißt es nach der Titeltafel: »Based on the / Sin City / Gaphic Novels / by / Frank Miller« (Minute 4). Eine solche Formulierung hat sich mittlerweile als juristische Absicherung eingebürgert für Fälle, in denen, häufig nach Interventionen von Autoren der Vorlagen, Distanz zur Verfilmung ausgedrückt werden soll. »Based on« impliziert, dass die Vorlage das Material für einen im Übrigen völlig selbständigen Film bilde. Da im vorliegenden Fall das Verhältnis von Vorlage und Film sehr eng ist und zugleich Rodriguez und Miller gleichberechtigt als Regisseure genannt sind, klingt noch eine weitere Ebene an. Quentin Tarantino hat eine Interpretation von Sin City vorgetragen, wonach Miller eine »mythology« geschaffen habe. Der Titel des Films nennt den Schöpfer und die Mythologie von Sin City als zusätzliche Ebene seines Sujets. Insofern ist nicht nur ein Stoff umgesetzt, sondern auch das Problem der Autorschaft rekursiv in die Konzeption des Films eingearbeitet. Die grundlegenden Prinzipien der Umsetzung sind der Exposition zu entnehmen. Es handelt sich um die erste Sequenz vor dem Vorspann, die Umsetzung der Graphic Short Story The Customer Is Always Right.19 Inhaltlich entfaltet sie in hoher Verdichtung eine Reihe von Themen und Motiven, die den Film prägen: die Genreelemente des Film noir, der Zusammenhang von Liebe und Tod, Lie-

18 Collector’s Edition, Miramax / Buena Vista Home Entertainment, 2008. 19 Sin City VI, S. 29-31.

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Hans-Edwin Friedrich be als Amour Fou, als Versprechen von Glück, Authentizität, Ganzheit als Repräsentation eines ganz anderen Lebens, Liebe als Illusion, Verführung als Gefahr, schließlich die Amoralität des Lebens. Die kurze Erzählung ist im Kosmos von Sin City ein Nebenwerk, eine kleine Kurzerzählung mit einer Pointe. Nach Auskunft der Kommentare zur DVD hatte ihre Umsetzung Pilotcharakter, um Miller von der Möglichkeit einer adäquaten Umsetzung seiner Graphic Novel zu überzeugen. Rodriguez wählte sie als Eingangssequenz aus, die noch vor dem Vorspann zu sehen ist. Damit wird sie in den Rang einer Exposition versetzt und zu einer kompakten Einführung in die »mythology« von Frank Miller’s Sin City, zu einer Einführung in die Zeichenwelt und zugleich in die formale Konzeption. Die Exposition rekurriert auf das Gattungsmuster des Film noir und seiner literarischen Ausprägung, indem sie in eine topische Situation führt. Während einer Abendparty tritt ein Paar auf den Balkon, man befindet sich in einer urbanen Umgebung. Gewöhnlich handelt es sich um ein private eye, der einer eleganten Schönheit folgt, die ihn erotisch fasziniert, die gefährlich ist, weil sie auf noch unbekannte Weise in seinen Fall verstrickt ist. Im Film noir erscheint der Detektiv häufig zugleich als Erzähler, dessen Perspektive die des gesamten Films ist. Also scheint auch hier das voice over des man nach dieser Konvention eingerichtet. Der sich entspinnende Dialog und seine Kommentierung unterstreichen diese Erwartung. Erst am Ende wird die Pointe erkennbar: Der man ist kein private eye, sondern ein hitman; die Frau ist sein Opfer; auf sie war er angesetzt. Doch die Pointe funktioniert auf zwei Ebenen, denn zusätzlich ist das Paar durch einen Vertrag gebunden: die Frau ist der Auftraggeber des man, begeht durch ihn Selbstmord. Damit sind zwei Konsequenzen verbunden: zum einen sind die Zeichen des Film noir nicht mehr nach deren Gattungskonventionalisierungen auflösbar; sie sind vorhanden, aber semantisch umkodiert. Zum zweiten ist in Sin City nichts so, wie es sich an der Oberfläche darbietet. Die blauen Augen von Becky signalisieren Verrat, das Kreuz vor dem Anwesen des Kardinals Roark verweist auf das Böse; auf der ländlichen Farm haust mit Kevin ein Seelenverwandter des kannibalischen Serienmörders Ed Gein – die Zahl der Beispiele ist beliebig zu vermehren. Die Oberfläche ist doppelt trügerisch. Schon der Film noir führt vor, dass Sein und Schein auseinanderklaffen, und lässt das zum Grund für Philip Marlowes pessimistischen Moralismus werden. Sin City durchkreuzt auch noch die Gewissheit, dass das Zeichensystem des Film noir intakt ist. Dem korrespondiert ein Konstruktivismus, der die Zeichenhaftigkeit als solche hervortreten lässt. Die Vielfalt der Farbigkeit wird reduziert auf die einfache Opposition der Nichtfarben Schwarz und

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Frank Miller’s Sin City Weiß und auf Grautöne. Das verweist auf die Ästhetik des alten Film noir, entspricht Millers Vorlage und seinem Zeichenstil. Die beiden Farben Rot und Grün treten hinzu, etablieren aber ein heterogenes Farbsystem. Sie markieren in der Eingangssequenz Gegenstände – rot das Kleid und der Lippenstift der Frau – und Situationen – die Augen der Frau ergrünen für einen kurzen Moment im Schein der Feuerzeugflamme, mit der sie sich eine Zigarette anzündet. Damit werden sie zu Zeichen. Die Farbe Rot verbindet Erotik und Gefahr. Da sie an der Frau geradezu überdeutlich auftritt, ist klar: sie ist die femme fatale. Diese Markierung ist redundant, weil schon die Kontextualisierung in einer Standardsituation des Film noir die Frau entsprechend charakterisiert. Die Farbgebung ist unter rein inhaltlichen Aspekten eine überflüssige Information; andererseits ist sie es nicht, weil sie auf die formale Seite verweist und die Zeichenhaftigkeit akzentuiert. Sie ist eine Abweichung von der Gestaltung der ausschließlich schwarz-weißen Bilderzählung. Die femme fatale ist nicht die gefährliche Todesbringerin, die im Verlauf der Detektion getötet werden muss, sie ist todessüchtig, sucht den Tod. Damit ist die Figur auf einen essenziellen Aspekt reduziert, der freudianische Subtext des Noir zur Kenntlichkeit zugespitzt. Sie verbindet aber Eros und Thanatos nicht mehr nur als Zeichen, sondern schließt beides gewissermaßen kurz. Der man ist in einen schwarzen Anzug gekleidet – er trägt nicht den Smoking des Film noir, der vom Dresscode der Party gefordert wäre. Er tötet ein unschuldiges Opfer. Die Zeichenfunktion dieses Details wird erst in der Schlusssequenz erkennbar. Hier trägt er einen weißen Arztkittel, ist auf Becky angesetzt, die vorher als Verräterin enttarnt wurde und sich dem big kill durch geschickte Flucht entzogen hat: er bringt nunmehr ein schuldiges Opfer zur Strecke.20 Die Liebessemantik der Eingangssequenz stiftet einen vorerst lockeren, nicht ins Denunziatorische gewendeten Zusammenhang zwischen Liebe und Geld, der später die Beziehung Marvins und Goldies kennzeichnet. Die Narration führt die Figuren mit allen Anzeichen eines Liebespaares ein; der innere Monolog des man ist als Monolog eines Liebenden lesbar, der die Frau von ihrer inneren Unruhe erlösen will – »you’re sick of running«, und im drittletzten Panel: »I tell her I love her.« Liebe als Erlösung von innerer Rastlosigkeit scheint insbesondere das viertletzte Panel anzukündigen, das die beiden in inniger Umarmung als weiße Fläche vor schwarzem Hintergrund zeigt: »The wind rises, electric. She’s soft and warm and almost weightless. Her perfume is a sweet promise that brings

20 Zu solchen Farbcodes und Umkodierungen, vgl. Elin Schneevogt: Robert Rodriguez. Chicano-Identität und ethnische Stereotypen. Alfeld 2003, S. 29.

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Hans-Edwin Friedrich tears to my eyes. I tell her that everything will be all right. That I’ll save her from whatever she’s scared of and take her far, far away.« Das intensive Weiß deutet einen erfüllten Augenblick an, einen Moment der Ganzheit, eine unio mystica des Paares. Aber es geht nicht um Liebe, auch wenn alle äußeren Anzeichen darauf hinzudeuten scheinen. Der man tötet sie, die Liebesbeziehung ist ein Geschäftskontrakt, der beidseitig erfüllt wird. Geschäft und Liebe sind unauflöslich miteinander verquickt, Reinheit des Gefühls ist in der Welt von Sin City nur angesichts des Todes möglich. Bis zur mystischen Totalität intensive Gefühle bilden eine Konstante in Basin City: Sie treiben Marvin und Hartigan an, aber auch Kevin und den Kardinal Roark. Dieser gibt Kevins Beschreibung seiner Gefühlswelt während der Ausübung seiner kannibalischen Perversion wieder: es sei Reinheit, wie er, Roark, sie offenbar nie erfahren hat. Für ihn ist das eine mystische Erfahrung, wie er sie noch niemals zuvor erlebt hat und die er zu verstetigen sucht: Er wählt sich Kevin zum spirituellen Lehrer, teilt dessen Praktik. Weiß ist von schrecklicher Reinheit, moralisch indifferent und ambivalent. Weiß ist zerstörerisch; alle Figuren, die der weißen Reinheit nachstellen, sterben. Die Beziehung des man zu her ist Liebes- und Geschäftsbeziehung zugleich: Liebhaber und Geliebte sind Angestellter und Kunde. Für den man ist der Auftrag aber zugleich ein unlösbares Rätsel. Er will wissen, warum sie ihn beauftragt, und er wird es nie erfahren, weil sie über ihre Motive weder befragt wird noch von sich aus Auskunft erteilt. An die Stelle eines einverständigen, professionellen reflexionslosen Handelns, das nach einfacher Kausalität von Auftrag und Einlösung strukturiert ist, tritt die Spaltung zwischen Reflexion und Handlung. Der man beginnt, über seinen Auftrag zu reflektieren – man kann darüber spekulieren, ob ihn sein Auftrag am Ende moralisch befriedigt, er eine Ethik entwickelt hat. Die Reflexivität wird in der Exposition als Problem plaziert, und sie treibt die erzählenden Figuren Marvin, Hartigan und Dwight an, ohne dass der Reflexionsprozess ein Ende fände. Diese Reflexivität hat einen appellativen Kern, der auch auf eine Rezeptionshaltung zielt. Das Verhältnis von Film und Vorlage ist sehr eng. Der Dialog der Vorlage ist nahezu vollständig übernommen, Auslassungen betreffen Redundanzen und haben den Zweck der Straffung. Jedes einzelne Panel der Vorlage ist in einer Einstellung wiedergegeben. Auch hier ergeben sich nur insignifikante Abweichungen, etwa dadurch, dass die Perspektive oder einzelne Körperhaltungen geringfügig anders ausfallen. Dadurch verändert sich nicht die Bildkomposition.

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In der Vorlage ist der Text den Konventionen der Comics folgend in zwei Sprechblasentypen unterschieden; runde für Dialog, quadratische für Gedanken. Im Film werden sie differenziert in die wörtliche Rede zwischen den Figuren einerseits und den Off-Kommentar des Mannes andererseits, der als homodiegetischer Erzähler profiliert wird. So lassen sich klar Handlungs- und Erzählebene unterscheiden. Die filmische Narration ergänzt die der Vorlage. Die Spatien der Vorlage werden ausgefüllt, die Verbindung der Einzelbilder durch Bewegung hergestellt. Der Film betont das noch dadurch, dass die in Filmbilder umgesetzten Panels ganz kurz, fast unmerklich, sozusagen ›eingefroren‹ werden. Dieses Verfahren wird im weiteren Verlauf des Films nicht mehr praktiziert, so dass diese Darbietungsweise ein selbstreflexives Moment enthält. Der Film fügt medienspezifische Elemente hinzu: eine Tonspur mit Geräuschkulisse und Filmmusik. Die Vergleiche von Panel und entsprechender Einstellung zeigen weitere Differenzen: Ein Panel ist häufig graphisch stilisiert und geometrisiert, so dass der Zeichenstil antinaturalistisch, artistisch wirkt. Optisch ergibt sich daraus eine Konzentration auf den Gegenstand.21 Im Film sind die Hintergründe wesentlich detailreicher, bei einzelnen Panels hingegen überhaupt nicht vorhanden. Zwischen der konstruktivistischen Perspektive des Panels und der, verglichen damit, opulenteren Einstellung ergibt sich eine stilistische Differenz. Zu diesen medienspezifischen Unterschieden tritt eine weitere Abweichung hinzu. Während die Vorlage vollständig in Schwarz und Weiß, also in Nichtfarben, gehalten ist, finden sich in der Filmsequenz Farben. Die Filmnarration folgt der Graphic Novel bis zum letzten Panel, ohne dass sich in den filmspezifischen Erweiterungen signifikante Abweichungen ergeben. Nach dem letzten Panel ändert sich das. Es zeigt den Killer kniend mit der toten Frau, die er umschlungen hält; die Sprechblasen bieten die Pointe der Geschichte. Eine Frau hat ihren eigenen Killer bezahlt, der sich ihr in der Rolle des romantischen Verführers nähern und sie nach einer Liebeserklärung erschießen soll. Damit endet die Geschichte.

21 Vgl. etwa: Sin City VI, S. 31, Panel A.

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Hans-Edwin Friedrich Das ist im Film anders: Nach der Einstellung, die dem letzten Panel entspricht, blickt der Mann nach oben. Er erweitert damit optisch den Horizont aus der hermetischen Welt von Sin City in eine weitere Dimension hinein. Der Blick nach oben scheint sich einer übergeordneten Instanz zuzuwenden, so dass die metaphysische Sinnfrage aufgeworfen ist. Nachdem der hitman seinen Blick wieder nach unten gewendet hat, fährt die Kamera nach oben weg, der Maßstab wird zunehmend kleiner. Schließlich werden Häuserblocks, dann das Stadtbild erkennbar. Der Blick aus der Vogelperspektive auf die Stadt geht bruchlos in den Schriftzug »Sin City« über, der schließlich rot eingefärbt wird und das Schriftbild der Vorlage zeigt. Die Blickrichtung des Mannes evoziert als Referenzpunkt das Werk und seinen Urheber. Die beiden Abweichungen sind nicht nur auf ein Sinnzentrum bezogen, sondern auch auf das artistische Kalkül ihres Autors.

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V. Die Abweichung in der Farbgestaltung impliziert keine grundlegende konzeptionelle Differenz zwischen Film und Graphic Novel. Schwarz und Weiß bilden die Hauptfarben der graphischen Erzählung. Das radikalisiert die ethisch-moralische Ästhetik des Noir, die dann keine Zwischentöne mehr kennt. Aufgrund des moralischen Rigorismus, den die private eyes Chandlers, Hammetts und Spillanes verkörpern, erscheint diese Welt nicht grau in grau, sondern in ihrer Gänze schwarz. Jede noch so geringe Abweichung vom Guten erweist sich unweigerlich als böse, so dass es so gut wie keine moralisch indifferenten Zonen in der Welt gibt. Hintergrund dieser Vorstellung ist die religiöse Tradition des Puritanismus. Insofern ist die grundlegende Entscheidung Millers, die Graphic Novels grundsätzlich in Schwarz und Weiß zu gestalten, eine konsequente Umsetzung der Noir-Weltsicht ins graphische Medium. Von dieser Konzeption weicht er allerdings in der Erzählfolge zunehmend ab. Der vierte Band enthält bereits im Titel (That Yellow Bastard) die Ankündigung. Erstmals ist dort auf S. 128 Gelb als Farbe verwendet, die den Serial Killer stigmatisiert, nachdem ihn Hartigan verkrüppelt hat. Farben werden dann erst wieder in den beiden Abschlussbänden verwendet: Die Killerin Delia, die in beiden Bänden erscheint, hat blaue Kleidung und blaue Augen; Amy in Daddy’s Little Girl rosa Lippen und Kleidung; Mary in The Babe Wore Red rote Lippen und ein rotes Kleid. Besonders der letzte Band Hell And Back macht reichlichen Gebrauch von Farben: Delia mit blauen Augen und blauer Kleidung; Mariah mit rostbraun gefärbten Lippen, Haaren, Kleidern, Automobil. Auf Einzelbildern, die den Charakter von Kapitelgrenzen aufweisen, erscheint Esther, die der Held der Novel liebt und sucht, in Rot; am Ende sind die wiedervereinten Liebenden vor einem roten herzförmig gestalteten Hintergrund zu sehen. Und schließlich erlebt der Held Wallace einen drogeninduzierten Traum, der die phantastischen Trauminhalte vollständig farbig wiedergibt.

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Hans-Edwin Friedrich Der Film führt den noir-typischen manichäischen Antagonismus von Schwarz und Weiß aufgrund der spezifischen Kodierung des Weiß ad absurdum. Er verwendet selektive Einfärbung von Beginn an, erweitert damit die Semantik der Vorlage. Die einzige farbliche Entsprechung zwischen Vorlagen und Film ist das Gelb des Yellow Bastard, ansonsten sind Farbsemantik und -dramaturgie ein Element des Films. Der Yellow Bastard ist insofern ein Einzelfall, da er als Figur als Ganzes durch die Farbe charakterisiert wird: er hat einen gelben Körper, sogar sein Blut ist gelb. Die Semantik der Farben zeigt einige klare Bedeutungszuweisungen, fügt sich aber nicht zu einem eindeutigen Zeichensystem. Zum einen finden sich Einfärbungen, die bestimmte Situationen charakterisieren. Beispiele sind die subtile Einfärbung von ›Kadie’s Club‹, die die natürlichen Farben ganz schwach erkennen lässt, oder die leicht fleischfarbene Färbung der Huren von Oldtown in einer Einstellung. Die Einfärbung signalisiert Ansätze positiver Emotionalität. Davon unterscheidet sich die Einfärbung der Fahrt Dwights mit der Leiche Jack Raffertys. In dieser Sequenz ist ein innerer Monolog Dwights in szenische Handlung umgesetzt: er redet mit der Leiche. Angezeigt ist diese irreale Situation durch den Wechsel der monochromen Farben Blau, Braun, Rot und Grün. Zum anderen findet sich ein insgesamt sehr sparsamer Einsatz von Einzelfarben. Da der Yellow Bastard gelb eingefärbt ist, signalisiert Gelb Gefahr, Ekel, psychische Abnormität. In diesem Sinn ist Feuer leicht gelblich eingefärbt. In diese Richtung weist auch die Einfärbung der Medikamentendose Marvins, die zwischen gelbrot und gelbbräunlich changiert. Ein Straßenschild auf dem Weg zur Farm ist ebenfalls gelb. Eine braune Augenklappe hat der Vertreter des Mob in der Dwight-Sequenz. Blau signalisiert Gefahr und Verrat: Raffertys Auto ist so blau wie die Augen der Verräterin Becky. Die Kombination von Farben ist selten. Mihos Kleidung ist blau und rot. Goldie hat goldenes Haar und rote Lippen. Ihr Körper ist leicht, allerdings nicht realistisch farbig. Ihre Schwester Wendy (gespielt von derselben Schauspielerin) ist unfarbig; sie besucht Marvin vor seiner Hinrichtung in der Rolle von Goldie und ist dann teilfarbig. Die wichtigste Farbe im Film ist Rot: Lippen und Kleid der Frau in der Exposition, der Schriftzug »Sin City«, die Lippen Goldies, das Bett, in dem Marvin und Goldie schliefen, Dwights Schuhe, die Signallichter der Polizeiautos und die Rücklichter der Autos, schließlich immer wieder Blut bei Marvin und Hartigan. Rot ist die Farbe der Stadt, verknüpft Sexualität und Gewalt: Rot ist die Sünde.

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VI. Frank Miller’s Sin City steht in der Traditionslinie einer Ästhetik des Hässlichen.22 Das Ende ist offen, deutet aber, sehr sparsam, eher andeutend als ausführend, positive Veränderungen an. Hartigan tötet sich, nachdem er den Yellow Bastard gerichtet und damit Nancy vor weiterer Verfolgung gerettet hat. In der Graphic Novel ist er nach dem Tod des Yellow Bastard mit den gelben Blutflecken seines Opfers beschmutzt und stirbt als Gezeichneter. Im Film fehlen ihm am Ende diese Flecken; er geht unbefleckt in den Tod. Der Erklärungsmonolog für seinen Selbstmord weicht im Film signifikant ab. Zwar kann er der Macht des Senators Roark nichts entgegensetzen, aber er hat eines erreicht: »I killed his only son. The blood line is cut. Roark’s lost his god damn legacy.« In einem Zwischenschnitt ist zu sehen, wie Roark aufgebracht die Nachricht vom Tod seines Sohnes aufnimmt. Das fehlt in der Vorlage. Wendet man den Blick auf die Marvin-Geschichte, wird dieses Moment noch deutlicher akzentuiert. Wir sehen kurz vor dem Tod des Yellow Bastard Kevin lesend. Er lebt; die Rache Marvins für den Tod Goldies wird also erst noch vollstreckt. Der Teil von Marvins Geschichte, an dessen Ende der Tod des Kardinals Roark steht, folgt demnach dem Ende der letzten Erzählsequenz. Die Macht der Roark-Familie, die für die Korruption und das Böse in Sin City steht, geht ihrem Ende entgegen. Gibt es also doch Gerechtigkeit? In der letzten kurzen Sequenz sehen wir Becky, mit strahlenden blauen Augen, geschmückt mit ihren Kreuzanhängern, frisch behandelt die Krankenhausstation verlassen. Während am Ende der Vorlage Becky zu den Opfern des »Big Fat Kill« gehört, entkommt sie im Film. Becky ist gerettet und telefoniert mit ihrer Mom; das evoziert ihren Verrat. Sie betritt den Aufzug, in dem bereits ein Mann in Arztkleidung auf sie wartet: Ihn kennen wir, es ist der hitman der Expositionssequenz, der Becky wie schon seiner namenlosen Auftraggeberin in der Eröffnung eine Zigarette anbietet.

22 Vgl. Hans-Edwin Friedrich: »›The sympathy of the audience should never be thrown to the side of crime.‹ Zur Darstellung von Gewalt im populären amerikanischen Kino«, in: Michael Braun (Hg.): Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. Würzburg 2007, S. 161-180.

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Die andere Seite des Wandteppichs: oder vier Versuche, Don Quijote zu verfilmen KIRSTEN VON HAGEN

VORWORT Cervantes’ Don Quijote zählt zu den am meisten verfilmten Werken der Weltliteratur: weit über 20 Adaptationen, die entweder nahe am Roman inszenieren oder ihre eigene Vision der Figur entwerfen. Anders als bei herkömmlichen Analysen von Literaturverfilmung, bei denen es zumeist darum geht, zu prüfen, inwiefern werkgetreu verfilmt wurde bzw. wie die Handlung oder die Figuren im Film umgesetzt wurden, werde ich mich darauf konzentrieren, zu untersuchen, wie die Autoreflexivität des Romans filmisch umgesetzt wird. In meinem Beitrag wird es vor allem darum gehen, am Beispiel von vier Verfilmungen aufzuzeigen, wie die bereits im Roman thematisierte mediale Fragestellung (Literatur im Medium des Buches – gelebte Literatur) als Medienreflexion in den einzelnen filmischen Adaptationen transformiert wird. Häufig ist Don Quijote verfilmt worden – des Öfteren aber auch avancierte der Plan, den umfangreichen Roman auf Zelluloid zu bannen, zu einem Kampf gegen Windmühlen. Orson Welles’ immer wieder von ihm selbst als zentral bezeichnetes Verfilmungsvorhaben wurde nie von ihm selbst fertiggestellt; Terry Gilliams Versuch, den Roman zu adaptieren, endete in einer Dokumentation über das Scheitern des Projekts mit dem sinnfälligen Titel Lost in La Mancha (2002). Neben diesen unvollendeten gibt es viele realisierte Projekte. Einige der für die hier fokussierte Fragestellung der Autoreflexivität wichtigsten Adaptationen werden Gegenstand der folgenden Analyse sein: G.W. Pabsts britisch-französische Koproduktion von 1933, das 1979 gedrehte Fernsehspiel Herr Kischott von Percy Adlon, die von Jesús Franco besorgte Realisation des Filmprojektes von Orson Welles sowie die neueste Verfilmung von Jacques Deschamps, eine Produktion des Fernsehsenders Arte. Die Auswahl erklärt sich zum einen aus der Verfügbarkeit der Filme (viele der ganz frühen Verfil107

Kirsten von Hagen mungen sind bis heute nicht vollständig rekonstruiert), zum anderen aus dem Wunsch, Adaptationen heranzuziehen, die für die hier diskutierten Fragestellungen besonders relevant sind – ohne auf die technischen, produktionsbedingten und ästhetischen Unterschiede zwischen Fernseh- und Kinofilm eigens eingehen zu können.

METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN Nun hat sich freilich Cervantes selbst in seinem Roman gleich mehrfach zur Problematik des Übersetzens geäußert – in einem ambivalenten metatextuellen und selbstreferenziellen Spiel. Was aber ist eine Verfilmung oder, um in der neueren Terminologie zu bleiben, eine Adaptation anderes als ein Übersetzungsvorgang, die Übersetzung oder Übertragung eines Textes von einem Medium in ein anderes – etwa wie im konkreten Fall von Literatur im Medium des Buches in Literatur im Medium des Films, wie Franz-Josef Albersmeier formuliert hat.1 Jede Adaptation ist zugleich ein Übersetzungsvorgang, geht es doch bei diesem Typus der intermedialen Transposition immer auch um die Übertragung eines Zeichensystems in ein anderes. Oder, wie Werner Wolf formuliert: Charakteristisch für die intermediale Transposition ist, dass im Gegensatz zur Transmedialität zumindest theoretisch immer ein genetischer Zusammenhang zwischen den Signifikaten zweier Werke verschiedener Medien (dem »Prämedium« des ursprünglichen und dem »Postmedium« des späteren Werkes) nachweisbar sein muss, wobei die in das »Postmedium« transponierten bzw. »übersetzten« Signifikate sowohl im inhaltlichen wie im formalen Bereich des »Prätextes« angesiedelt sein können.2

Jürgen E. Müller zufolge wird ein mediales Produkt dann intermedial, »wenn es das multi-mediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen«.3 Intermedialität wird im Folgenden vor allem verstanden als ein »Zwischen-die-Medien-Stellen«: Bei dem hier fokussierten Konzept der Intermedialität geht es in Anlehnung an Volker Roloff darum, die Wechselbeziehungen, Zwischen-

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Franz-Josef Albersmeier: Theater, Film, Literatur in Spanien: Literaturgeschichte als integrierte Mediengeschichte. Berlin 2001, S. 12. Werner Wolf: »Intermedialität: Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Herbert Foltinek, Christoph Leitgeb (Hg.): Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär. Wien 2002, S. 163-192, hier S. 171. Jürgen E. Müller: Intermedialität: Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster 1996, S. 128.

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Die andere Seite des Wandteppichs räume, Passagen und Differenzen, die sich aus dem intermedialen Zusammenspiel ergeben, in den Blick zu rücken: Der Begriff der Intermedialität [...] erscheint als ein Versuch, die Integration von ästhetischen Konzepten einzelner Medien in einem neuen intermedialen Kontext zu erfassen, und damit die Transformationen und Passagen zwischen den Medien, l’entre-images, das »Zwischen-den-Bildern-Liegende« als Raum, der sich im Interstitium zwischen Text und Bild und damit auch zwischen widerstreitenden Diskursen eröffnet.4

LITERATUR IM MEDIUM DES BUCHES – GELEBTE LITERATUR Es wird im Folgenden darum gehen, den medialen Diskurs des Don Quijote kurz zu erläutern und dann zu betrachten, wie dieser mediale Diskurs im Film transformiert wird. Der mediale Diskurs des Buches wird in wenigen Stichwörtern abgehandelt, der Schwerpunkt liegt auf der Analyse der Filme. Man könnte auch im Falle des Romans in Anlehnung an das soeben skizzierte Konzept von ›Intramedialität‹ sprechen, rekurriert doch der Roman selbst auf andere Medien wie Briefe, gefundene und vorgelesene Manuskripte, Archivschriften, Puppenspiele etc.5 Cervantes’ Werk ist auch geprägt durch die mediale Umbruchsituation, die durch die Gutenberg-Galaxis entstanden war. Der spanische Autor schrieb zu einer Zeit, in der nicht länger Manuskripte von Mönchen kopiert wurden, sondern gedruckte Bücher wie Waren verkauft wurden. Der Roman selbst reflektiert diesen Medienumbruch in Kapitel 62 des zweiten Teils, Don Quijotes Besuch einer Druckerei, die nicht nur Anlass gibt zu seiner Reflexion des Übersetzens, sondern ihn auch einmal mehr mit der ›falschen‹ Fortsetzung des Romans durch Avellaneda konfrontiert. Wolfram Nitsch weist darauf hin, dass es in dem zweiten Teil des Quijote nicht mehr wie im ersten um Techniken geht, die auf die Herstellung von Kleidung und Nahrung ausgerichtet sind, sondern um Illusionsmaschinen. Im Hinblick auf die Gefahren des Buchdrucks deutet Don Qui-

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Volker Roloff: »Zur Theorie und Praxis der Intermedialität bei Godard. Heterotopien, Passagen, Zwischenräume«, in: Volker Roloff, Scarlett Winter (Hg.): Godard intermedial. Tübingen 1997, S. 3-24, hier S. 11f. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Jochen Mecke, der indes hier eine andere Terminologie wählt: Jochen Mecke: »Hypertextualität und Hypermedialität im Don Quijote«, in: Christoph Strosetzki (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Berlin 2005, S. 205-230, hier S. 209f. Mecke verweist darauf, dass Don Quijote nicht nur der Roman eines Lesers, sondern auch der seiner Medien ist, dass dieser auffälligen Medienpräsenz bislang jedoch kaum Aufmerksamkeit zuteil geworden sei.

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Kirsten von Hagen jote an, dass die mechanische Reproduktion von Texten dem Autor die Kontrolle über sein Werk entzieht. In dem entscheidenden Kapitel geht es nicht nur um die Produktion und Distribution von Drucken, sondern auch und vor allem um ihre Rezeption. Der Ritter aber erscheine in dieser Perspektive als typographischer Mensch im Sinne Marshall McLuhans, als Opfer eines nunmehr ungebremsten und dadurch wahrnehmungsverändernden Lesens.6 Jochen Mecke dagegen fokussiert einen anderen Aspekt, wenn er argumentiert, dass Don Quijotes Wahn auch auf den medialen Umbruch von der Manuskriptkultur zur Gutenberg-Galaxis zurückzuführen sei, in der das Korrektiv einer gemeinschaftlichen Vorlesekultur fehle und der Leser in einer individuellen Lesesituation mit der Welt der Fiktion allein gelassen werde.7 In Don Quijotes uneingeschränkter Übernahme alles Gelesenen ohne jede vermittelnde Übertragung auf die Verhältnisse des Lesers lässt sich zugleich eine Übersteigerung des normalen Leseaktes erkennen, eine Parodie des Lesens selbst (was im Film darzustellen wäre als Effekt übermäßigen Filmkonsums). Damit aber reflektiert der Roman zugleich einen Medienumbruch seiner Zeit. Cervantes’ Don Quijote gilt als erster moderner Roman, der die Relation Individuum–Gesellschaft ebenso thematisiert, wie er die subjektive Weltsicht des Einzelnen reflektiert und Fragen nach der Autorschaft eines literarischen Textes aufwirft. Darüber hinaus thematisiert der Roman immer wieder selbstreflexiv Literatur im Medium des Buches. So lässt Cervantes im Quijote (I, 6) sein eigenes Werk, seinen Schäferroman Galatea beurteilen. Außerdem werden seine Romanfiguren mit der Fortsetzung des ersten Teils durch Avellaneda (1614) konfrontiert. In den Roman performativ integriert sind Gedichte in der Nachahmung von Garcilaso (etwa Grisóstomos Gesang, I, 14) und neu erfundene Romanzen. Immer wieder wird selbstreflexiv die Schreibsituation thematisiert, am ausführlichsten im Vorwort, aber auch in eingefügten Verweisen auf die Herausgeberfiktion sowie auf andere Autoren und Bücher, etwa im berühmten Autodafé des Pfarrers und des Barbiers. Im Don Quijote verarbeitet, travestiert und parodiert Cervantes Traditionen des Schäferromans ebenso wie der Ritterdichtung, die er selbst bereits in seinem Vorwort als Grund für die locura, den 6

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Wolfram Nitsch: »Der hohle Kopf. Don Quijote und die Technik«, in: Christoph Strosetzki (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Berlin 2005, S. 137-148, hier S. 146f. Nitsch macht deutlich, dass im zweiten Teil der »Medienreflexion« weniger der typographische als der szenographische Mensch im Mittelpunkt stehe, überrage hier doch die Macht des Theaters die des Buchdrucks (Nitsch, S. 148). Vgl. Mecke: Hypertextualität, S. 218ff.

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Die andere Seite des Wandteppichs Wahnsinn seines Helden angibt. Dass der Roman indes deutlich mehr sein will als nur eine Parodie auf Ritterromane, darauf weisen Wolfzettel u.a. hin.8 Es gehe in dem Werk, so Wolfzettel, nicht um die Parodie einer Gattung, sondern nur um die »experimentelle Erprobung bestimmter Züge dieser Gattung vor dem Hintergrund der beabsichtigten Einstimmung in die Wirklichkeit«.9 Der Ritterroman dient nur mehr als Folie und Gesprächsstoff, seine generischen Merkmale im engeren Sinne spielen kaum eine Rolle. Der Don Quijote markiert mithin nicht nur den Abschied von einer bestimmten Gattung, sondern von herkömmlicher Fiktionalität schlechthin. Nach Ansicht von Almudena Grandes ist dies »la primera novela moderna«,10 weil Cervantes das Romanhafte selbst zum Gegenstand der Reflexion erhebt. Wolfzettel konstatiert: »Die parodistischen Einzelelemente in den Abenteuern des Helden [...] sind der Dialektik der Fiktionalität und der locura untergeordnet, die den exemplarischen Charakter der Einzelepisoden und des Ganzen begründen und in ihrem beispielhaften Verweischarakter die Selbstreflexivität und Modernität des Werkes nahe legen.«11 Almudena Grandes bescheinigt dem Quijote denn auch ein erstmals modernes Erzählerbewusstsein. Deutlich ist die Verknüpfung unterschiedlicher Erzählperspektiven, die Relation Erzähl- und Figurenperspektiven. Im Allgemeinen wird dabei davon ausgegangen, dass wir es ab dem Kapitel I, 9 mit der Trias von Cide Hamete, Übersetzer und »segundo autor« zu tun haben.12 Hinzu kommt – was im Film oder auch im 8

Auch Margot Kruse macht deutlich, »dass die komische Parodie der Ritterromane keineswegs das einzige, ja nicht einmal das primäre Anliegen von Cervantes gewesen sein kann«. (Margot Kruse: »›Gelebte Literatur‹ im Don Quijote«, in: Theodor Wolpers (Hg.): Gelebte Literatur in der Literatur. Studien zu Erscheinungsformen und Geschichte eines literarischen Motivs. Göttingen 1986, S. 30-71, hier S. 51). 9 Friedrich Wolfzettel: »Don Quijote: ein deambulatorischer Roman?«, in: Christoph Strosetzki (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Berlin 2005, S. 161-176, hier S. 162. 10 Almudena Grandes: »Con estos latinicos y otros tales ... Miguel de Cervantes. La conciencia de un narrador moderno«, zitiert nach Wolfzettel: Don Quijote, S. 163. 11 Wolfzettel: Don Quijote, S. 162. 12 Matzat hingegen fügt dieser Konstellation eine weitere Erzählinstanz hinzu, die von Beginn an Don Quijotes Wahn präzise benennt. (Wolfgang Matzat: »Die Welt des Don Quijote: Wirklichkeitskonstruktion und romanhistorischer Ort«, in: Christoph Strosetzki (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Berlin 2005, S. 177193, hier S. 179f.) Seiner Auffassung zufolge sind Cide Hamete und der von seinem Text abhängige »segundo autor« bereits innerhalb der diegetischen Welt als imaginär markierte Chronisten zu bezeichnen, der vernünftige Erzähler hingegen als verlässlicher Biograph des Alonso Quijano. Damit

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Kirsten von Hagen Theater leicht adaptierbar ist – der dialogische Charakter des Romans, der sich nicht zuletzt als Dialog zwischen den Kontrastfiguren Don Quijote und Sancho Panza liest und sich damit dem Drama annähert. Es ist nicht weniger als der Gegensatz von Idealität und Realität, den Cervantes hier verhandelt. All diese Themen sind bereits Gegenstand der ersten »performativen Rahmung«, des Prologs.13 Wie nun diese Selbstreflexivität übersetzen in ein anderes Medium, den Film, jene siebte Kunst, der ebenso wie dem Buchdruck die Gefahr nachgesagt wurde, bei zu hohem Konsum schädlich zu sein? Die meisten der Don Quijote-Verfilmungen führen vor, wie in dem Roman Literatur im Medium des Buches reflektiert wird – ohne selbstreflexiv Literatur im Medium des Films zu thematisieren. Sie alle inszenieren Don Quijotes Welt der Ritterromane – nicht die neue, bunte Medienwelt, d.h., sie verfilmen den Stoff mehr oder weniger getreu, ohne ihn tatsächlich für das Medium Film zu transformieren. Die meisten Verfilmungen adaptieren vor allem die Handlung des Romans, d.h. vor allem des handlungsbetonteren ersten Teils, ohne freilich die eingeschobenen Novellen zu berücksichti-

aber sei die Perspektivenstruktur des Textes durch zwei widerstreitende Tendenzen geprägt: einer, die zur Offenheit, Ambiguität und Perspektivenvielfalt neige, und einer weiteren, die zu einer verlässlichen Erzählerperspektive und damit der Konstitution einer einheitlichen fiktiven Welt tendiere. Der Roman sei damit begreifbar als Ausdrucksform einer sich in der frühen Neuzeit ausbildenden Realitätsvorstellung, die »auf der Praxis intersubjektiver Verhandlung« beruhe und nicht wie die kanonischen Formen des barocken »desengaño« vor dem Hintergrund einer religiös verbürgten Weltvorstellung stattfinde. (S. 192) 13 Hier greife ich auf einen Terminus Uwe Wirths zurück. Wirth stellt die Überlegung an, dass Sprechakte (Performatives) und inszenierte Sprechakte (Performances) am Rand von literarischen Werken keineswegs entkräftet sind, sondern im Gegenteil »äußerst kraftvoll« zu einer performativen Rahmung des Textes beitragen: »Die Frage nach der performativen Rahmung betrifft dabei erstens die funktionalen Gelingensbedingungen der Rahmenkonstitution, zweitens die medialen Verkörperungs- und Übertragungsbedingungen des Rahmens und des Gerahmten, drittens schließlich die Inszenierungsbedingungen, welche als ›doppelte Rahmung‹ den fiktionalen Diskurs ins Werk setzen. […] Medientheoretisch und mediengeschichtlich, das heißt mediologisch betrachtet, thematisiert die Frage nach der performativen Rahmung die technischen Rahmenbedingungen für die Verkörperung, die Übertragung und die Inszenierung von Geschriebenem.« Uwe Wirth: »Performative Rahmung, parergonale Indexikalität: Verknüpfendes Schreiben zwischen Herausgeberschaft und Hypertextualität«, in: ders. (Hg.): Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. 2002, S. 403-433, hier S. 404f.

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Die andere Seite des Wandteppichs gen.14 Eine Auseinandersetzung mit dem selbstreflexiveren zweiten Teil findet im Film kaum statt. Eine Ausnahme sind, wie zu zeigen sein wird, v.a. die posthum montierte Filmfassung Orson Welles’ durch den Spanier Jesús Franco und die neueste filmische Adaptation des französischen Regisseurs Jacques Deschamps. Ich werde nun exemplarisch diese und die eingangs genannten Don QuijoteVerfilmungen kurz vorstellen, wobei ich mich inbesondere auf folgende Aspekte konzentrieren werde: 1. Literatur leben: Don Quijotes Nachahmung berühmter Ritterfiguren aus der Literatur hat Margot Kruse als »gelebte Literatur« bezeichnet.15 Insbesondere die Konflikte des ersten Teils des Romans basieren auf der Verwechslung von Fiktion und Realität. Das DonQuijote-Prinzip besteht darin, dass er seine Ritterphantasien auf die wirkliche Welt projiziert und diese so in die Welt der Romane verwandelt. Foucault spricht von Don Quijote als Leser der Welt: »Sein Abenteuer wird eine Entzifferung der Welt sein, ein minuziöser Weg, um an der Oberfläche der Erde Gestalten aufzulesen, die zeigen, daß die Bücher die Wahrheit sagen.« Es geht um die Transformation der Realität in ein Zeichen: »Don Quichotte liest die Welt, um die Bücher zu beweisen.«16 2. Spiel mit der eigenen Medialität: Die Fiktion des arabischen Chronisten, die Einbeziehung der literarischen Figuren in Fragen der Authentizität, das Spiel mit Erzählern und Quellen – all dies sind Merkmale der im Roman inszenierten Medienreflexion. Bereits im ersten Teil wird ein Spiel mit unterschiedlichen Erzähl- bzw. Autorinstanzen initiiert, das immer wieder Teil wissenschaftlicher Auseinandersetzungen war. André Stoll spricht in dem Kontext von »mindestens [...] drei Autorinstanzen bzw. Textschichten«.17 Im zweiten Teil des Romans begegnet sich Don Quijote selbst im Medium des Buches und seinen Lesern. Don Quijote wird so zweimal ein Opfer der Lektüre. Signifikant für die hier diskutierte Thematik der 14 Dabei ist in der kritischen Literatur immer wieder auf die Funktion der eingeschobenen Novellen als mise en abyme zentraler Themen des Romans hingewiesen worden. In einem fortlaufenden Spiel werden hier Literatur und Wirklichkeit verhandelt. 15 Kruse: Gelebte Literatur, S. 30-71. 16 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M. 1999, S. 79. 17 André Stoll: »Woher kommt Dulcinea, und was schreibt Cide Hamete Benengeli? Cervantes’ Erkundung der semitischen Zwischenwelten Kastiliens«, in: Christoph Strosetzki (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Berlin 2005, S. 99-135, hier S. 100.

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Kirsten von Hagen Literatur im Medium des Buches ist, dass der zweite Teil seine eigene Rezeptionsgeschichte reflektiert (II, 3). Ergänzt werden diese Angaben durch konkrete Hinweise auf Zahl und Höhe der Auflagen. Dialogizität und Autoreflexivität steigern sich im zweiten Teil des Romans. Im Zwiegespräch der Protagonisten verständigt sich der Roman auch über sich selbst, die literarischen Figuren verselbständigen sich.

VOM BUCH ZUM FILM: G.W. PABST ODER DIE MANIFESTATION DES AUTORS Auffällig an dem 1933 entstandenen Filmpoem Don Quichotte von G.W. Pabst ist zunächst einmal die performative Rahmung: Hervorzuheben sind die ersten Filmminuten, die das Vorwort Don Quijotes in Filmsprache übersetzen. Zunächst wird uns in einem kleinen Textinsert der Wahnsinn Don Quijotes präjudiziert, des Weiteren ist hier bereits von der Lesewut die Rede, aber auch von dem Erfolg des Buches: der Satz »gegen Windmühlen kämpfen« sei bereits sprichwörtlich geworden für Menschen, die ihre eigenen Ideale leben. Hierzu ist Folgendes anzumerken: dass in diesem kurzen Textinsert die zentralen Themen des Roman-Prologs zwar Erwähnung finden, diese jedoch nicht inszeniert, sondern behauptet werden, wodurch ein anderer, weniger spielerischer Charakter entsteht. Ingeniös dagegen die zweite performative Rahmung: Wir sehen Buchseiten mit Stichen versehen, Seiten des Don Quijote – man erkennt das spanische Wort »el caballero« –, ein Hinweis auf das zentrale Thema der Literatur im Medium des Buches. Aus den Buchstaben steigen wie in Imaginationen des Lesers Ritter auf, starre Zeichnungen zunächst, die erst allmählich animiert werden. Die Animationen, die dem Zuschauer hier in Überblendungen vorgeführt werden, wurden gestaltet von der für ihre Silhouettenfilme weltweit berühmten Lotte Reiniger. Sie gehen dem Zuschauer geradezu aus den Seiten entgegen: Kämpfende Ritter, noch nicht Film, sondern Zeichnung, Intermedialität. Der Film stellt seine eigene Künstlichkeit aus, scheint deutlich zu machen, dass er selbst sich aus Zeichnungen entwickelt hat: Am Anfang war das Buch. Die Buchillustration. Danach kam die Photographie, dann die Chronophotographie eines Muybridge und erst viele Versuche und Dispositive später der Film und das Kino. Der Anfang ist zum einen als Gestus der Legitimation zu sehen, beginnen Literaturverfilmungen zu der Zeit doch häufig mit Buchseiten, um das Medium Film durch die Nähe zur Literatur zu nobilitieren. Aus einer historischen Perspektive ist dies interessant, nehmen solche paratextuellen Vorspänne, die zunächst Buchseiten zeigen, doch im Lauf der Filmgeschichte ab. Zum anderen indiziert der Scherenschnitt aber auch ein phantastisches Element, war Lotte Reiniger doch vor allem wegen ihrer Märchenumsetzungen bekannt.

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Die andere Seite des Wandteppichs Gleich zu Beginn wird somit der zentrale Konflikt der Schimären, die aus dem Geist der Bücher entstehen, benannt. Das Bild schält sich am Anfang des Films buchstäblich aus der Schrift heraus. Erst in einer nächsten Einstellung sehen wir den Leser dieser Buchseiten: Don Quijote. Pabst spielt jedoch noch mit einem anderen medialen Dispositiv. So sind es nicht nur die Bücher, die Quijote zum Ritter werden lassen, sondern auch eine Theatertruppe, die Amadís de Gaula, den Klassiker der Ritterliteratur, aufführen. Eine Zuschauerin erzählt ihrem Sohn, dass die Zeit der großen Ritter vorbei sei, die Metafiktion wird so gleichsam in einem Theaterdispositiv dialogisiert. Die Schauspieler führen den Kampf Amadís gegen einen Riesen auf. Don Quijote sieht dies und greift – in Anlehnung an den Roman – in einer Verwechslung von Fiktionalität und Realität in den Bühnendiskurs ein. Der Film zitiert so zu Beginn zwei Kunstformen, die ihm selbst vorausgegangen sind und die er in ein intermediales Spiel integriert: das Buch und das Theater. Doch die Fiktionalität, das Erfinden der Figuren, das Spielen einer Rolle wird in dem Pabst-Film auch noch auf einer anderen Ebene performativ in Szene gesetzt, durch einen Kunstgriff, den Anatolij Vasilevic Lunacarskij in einem Artikel über Pabst zuallererst als sehr misslungen bezeichnete, dass nämlich die zentrale Rolle hier von dem bekannten Opernsänger Fëdor Saljapin übernommen wird, der bereits in der Oper Massenets den Quijote gab. Lunacarskij moniert, Pabst sei es nicht gelungen, die im Roman thematisierte »Aufspaltung der Welt« auf den Film zu übertragen. Dabei besitze insbesondere der Film die spezifische Qualität, beide Welten zu zeigen: das, was Don Quijote sieht, und das, was Sancho Panza und die anderen sehen.18 Dem ist sicher nichts hinzuzufügen, und Orson Welles hat in der bekannten Windmühlenepisode eben dieses Verfahren angewandt. Nun moniert Lunacarskij weiter, Saljapin hafte auch im Film etwas Opernhaftes an: »Ich weiß nicht, wie man das nennt, was Saljapin hier singt – aber man bezeichnet es wohl am besten einfach als Arien. Doch wozu sollen die nun eigentlich gut sein?« Um diese Frage zu beantworten, reicht ein Blick in das erste Drittel des Films. Don Quijote singt das Lied »Sierra Nevada-m’appelle«, während er seine Ritterausrüstung pflegt. Die Arien, die ursprünglich von Maurice Ravel komponiert werden sollten und schließlich von Jacques Ibert verfasst wurden (den Text dazu schrieb Paul Morand), indizieren demnach nichts weniger als die von Lunacarskij eben eingeklagte Aufspaltung der Welt. Dass Don Quijote in einer künstlichen Phantasiewelt lebt, wird auch durch die Arien verdeutlicht. Der Film stellt darüber hinaus erneut in ei-

18 Anatolij Vasilevic Lunacarskij: »Saljapin in Don Quichotte«, in: Wolfgang Jacobsen (Hg.): G.W. Pabst. Berlin 1997, S. 225-230, hier S. 225f.

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Kirsten von Hagen nem intermedialen Spiel seine eigene Künstlichkeit aus. Der Opernsänger fällt aus seiner Rolle, scheint hier nur wie die Figuren des Romans eine bestimmte Rolle zu verkörpern, die zunächst für ihn erfunden wurde. Dieses Aus-der-Rolle-Treten jedoch ist es, was ihn für die übrigen Figuren des Films zuallererst verdächtig macht. Als Don Quijote zu Beginn des Films auf einmal anfängt, Opernarien zu intonieren, fällen der Pfarrer und Carasco, der hier als Verlobter der Nichte figuriert, als Vertreter der Ordnungswelt ihr Urteil: Der Herr Quijote sei über der Lektüre seiner Bücher wahnsinnig geworden. Der Filmanfang präfiguriert die zentrale Thematik des Films. Im weiteren Verlauf folgt der Film den bekannten Stationen des Romans und fügt ihm – sieht man einmal von der besonderen Art ab, wie beispielsweise der Kampf gegen die Windmühlen hier inszeniert wird – nicht viel Neues hinzu, was denn auch Lunacarskij zu der Bemerkung veranlasste, Pabst habe eine ziemlich vulgäre, an Kinderbücher erinnernde Auswahl der bei Cervantes vorhandenen Szenen vorgenommen. Doch ist es ja gerade das, was Pabst zeigen will: den Don Quijote, der Teil des kollektiven Gedächtnisses ist. Er inszeniert den Ritter in der Tradition der deutschen Romantik als Idealisten, dessen Kampf gegen Windmühlen sprichwörtlich geworden ist. Außerdem wählt Pabst zwar die bekannten Episoden aus dem ersten und zweiten Teil, arrangiert sie jedoch neu und inszeniert ein Spiel mit unterschiedlichen Medien.19 Konstatiert er auch nach dem Kampf mit Carasco, »They have made a fool of me«, lässt ihn erst der Kampf mit den Windmühlen scheitern. Dieser ist hier durchaus symbolisch zu verstehen, ruft man sich den Anfang des Films, das erste Textinsert vor Augen.20 Sein Tod erfolgt, als man auf Anordnung der Inquisitoren seine Bücher verbrennt. Die Szene lässt sich durchaus als weitsichtiger antizipatorischer Kommentar zur Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 lesen, bedenkt man, dass der Film im selben Jahr in Frankreich als französisch-englische Koproduktion entstanden ist. Sancho umarmt weinend den Kopf seines Esels, die Bücher verbrennen. Doch in den letzten Bildern des Films 19 Im zweiten Teil kommt es zum Kampf zwischen Carrasco und Don Quijote, der Herzog und die Herzogin treten auf und treiben ihr Spiel mit Sancho, der zum Herren der Insel wird. Hinweise, dass Don Quijote sich im zweiten Teil als literarischer Figur begegnet (wie Foucault dies in Die Ordnung der Dinge so treffend beschrieben hat), entfallen (vgl. Foucault, S. 80). 20 Gleichzeitig ist sinnfällig, dass fast alle Filme – sieht man einmal von der TV-Fassung Percy Adlons ab – diesen Windmühlenflügelkampf inszenieren. Dies nicht zuletzt, da es sich bei dieser Szene um eine bewegte handelt und Film zuerst Bilder in Bewegung ist, »motion pictures«. Der Windmühlenkampf selbst scheint auf das filmische Dispositiv zu verweisen, ähnelt er doch dem Malteserkreuzgetriebe, das als Mechanismus für Bildverschmelzung und Bewegungseindruck sorgt.

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Die andere Seite des Wandteppichs blättert der vom Brand entfachte Wind die Buchseiten wieder nach vorn – die Brandspuren weichen zurück, die versengten Seiten sind wiederhergestellt. Das Buch ist gerettet und damit der Geist der Bücher dieser Welt. Gerettet durch das Medium des Films – denn nur der Film vermag die Bilder zurücklaufen zu lassen –, auch eine Selbstreflexion. Eine Rettung des einen Mediums durch ein anderes. Pabst inszeniert den Triumph der Bilder in einer Zeit des Verbots, des Tabus, der Zensur.

PERCY ADLONS BAYERISCHE KAPITALISMUS- UND MEDIENKRITIK Eine ungewöhnliche Adaptation ist die weitgehend unbekannte TVVerfilmung Percy Adlons, der die Handlung seiner Don Quijote-Verfilmung ins Bayern der 1970er Jahre verlegt. Sein Don Quijote ist Frührentner, der von der Deutschen Bundesbahn auf Grund seiner Vergesslichkeit entlassen wurde. Von allen belächelt, fristet er ein einsames Dasein in einer Dachkammer. Einzige Gesprächspartner sind der Gastarbeiter Sancho, der ihn immer mit »Chef« anredet, und ein Fernseher, den er gegenüber am Tisch platziert, wenn er zu Abend isst. Einem Ritual gleich schaltet Herr Kischott (Rolf Illig) jeden Abend den Fernseher ein, um die Tagesschau zu sehen, und schaltet ihn dann nach wenigen Minuten wieder ab. Für Minuten holt er sich mit dem Fernseher die Welt in seine eigenen vier Wände – per Knopfdruck. Der Konflikt Idealismus-Realismus, die Aufspaltung der Welt, werden hier gleichsam in das Medium übertragen, das wiederum Herr Kischott 1979 als kleines Fernsehspiel ausstrahlte. Herr Kischott wird als ein Mann dargestellt, der die Wirklichkeit, wie sie ihm abends mit ihren Tagesschau-Bildern ins Haus flimmert, ablehnt und stattdessen die bunte Filmphantasiewelt mit ihren Stars bevorzugt. Das Problem des Films ist jedoch, dass er dieses Thema nicht weiter ausarbeitet. Wir sehen nur in einer Subsequenz Bilder von Stars, die Herr Kischott, der jede Woche alle Fernsehzeitschriften am Kiosk aufkauft, gesammelt hat. Eines Nachts zieht er mit Sancho los, ein Mofa ersetzt hier das Pferd, um gegen »U«, das Syndikat der Unbescheidenheit, zu Felde zu ziehen. Eine Erntemaschine wird zur Mehrzweckwaffe des Syndikats, eine Fabrik zum Privatpalast von U. In einer Aktion des Widerstandes rettet Kischott das dicke Mädchen Rosi, das hier als Dulcinea figuriert, vor einer Motorradgang. Nach einem Streit, der ihn arg beschädigt zurücklässt, wird er der heimliche Anführer der Gang. Er beginnt, Einrichtungen wie den Kiosk zu zerstören. Der pensionierte Bahnbeamte avanciert zum Helden wider Willen, verhindert er doch, dass ein auf den Schienen liegen gebliebener Personenwagen einen Unfall verursacht – die Auseinandersetzungen mit der zunehmend technisierten Welt,

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Kirsten von Hagen wie sie ja bereits bei Cervantes verhandelt werden, münden bei Adlon in eine Kapitalismuskritik. Schließlich wird er selbst in eben jenem Medium als Held gefeiert, das er selbst stets abgelehnt hatte: im Fernsehen. Am interessantesten ist der Film im Hinblick auf die Selbstthematisierung des Fernsehens, die hier die Reflexion des Mediums Buch im Medium Film überwiegt. Der Film versucht darüber hinaus nicht nur diese Selbstreflexivität des Prätexts filmisch zu transformieren, sondern auch, die Ironie des Romans zu inszenieren, ganz ähnlich wie Orson Welles.

ORSON WELLES’ OPUS MAGNUM – ODER DIESE VERZAUBERTEN MASCHINEN Orson Welles begann bereits in den 1960er Jahren das Filmmaterial zu seinem Opus Magnum auf Zelluloid zu bannen, schaffte es indes nicht, dem Ganzen eine Form zu verleihen. Erst sein Freund und Mitarbeiter, der spanische Filmemacher Jesús Franco sollte, nachdem er sich 1989 die Rechte an dem Film gesichert hatte, das umfangreiche Material in aller Welt zusammensuchen und nach Aufzeichnungen von Welles zu einem fertigen Film montieren: Don Quijote de Orson Welles (1992). Welles hatte die Cervantes’schen Figuren ins Spanien der 1960er Jahre transferiert und ließ sie über die Sitten und Gebräuche des »modernen« Spanien reflektieren. Der Film, der postum auf die Leinwand gebracht wurde, ist wie der Roman zweigeteilt: der erste Teil inszeniert einige der bekanntesten Abenteuer Don Quijotes, der hier wie bei Pabst zuallerst als Lesender vorgestellt wird. Der Film lässt dabei zunächst eine Off-Stimme den Beginn des Romans rezitieren, wodurch ein Effekt der Distanzierung entsteht und die Vermittlungsebene deutlich wird. Interessant ist, dass der Film deutlicher als andere Produktionen den Dialog zwischen Sancho und Quijote sehr ausführlich gestaltet. Beide werden so als Kontrastfiguren etabliert, und Sancho avanciert zur zweiten Hauptperson. Im ersten Teil des Films wird v.a. die locura Don Quijotes mit dem Realismus Sanchos kontrastiert. Nur die ersten Einstellungen des Films und das erste Abenteuer Don Quijotes deuten zunächst auf die Modernität des Films hin. Zu Beginn ist nach den schon topischen Windmühlen kurz Orson Welles mit der Kamera zu sehen: die Windmühlen, Insignien des technischen Fortschritts der ersten industriellen Revolution in Spanien,21 werden so ganz unmittelbar mit dem Drehen eines Films verglichen, genauer 21 Vgl. Nitsch: Der hohle Kopf, S. 140. Nitsch betont, dass es sich bei den Windmühlen um Monumente der sogenannten ersten industriellen Revolution des Spätmittelalters handelt. Die Wind- wie die Walkmühlen avancieren kraft ihrer dunklen Machinationen und opaken Technik zu Widersachern des Ritters und zum Inbegriff einer zunehmend undurchsichtigen Wirklichkeit.

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Die andere Seite des Wandteppichs mit der filmischen Apparatur. Der erste Teil des Films inszeniert, sieht man von einem gelegentlichen Spiel mit der Off-Stimme, die hier als zentraler Erzähler fungiert, einmal ab, v.a. die bekanntesten Abenteuer des Romans und die unterschiedliche Weltsicht Don Quijotes und seines Knappen Sancho Panza. Interessanter für unsere Analyse ist der zweite Teil des Films, der das Spiel der Selbstreflexion vom Anfang wieder aufnimmt, indem er sich nun stärker auf sein eigentliches Medium, den Film, konzentriert. Wie der Roman setzt dieser Teil zunächst die Begegnung der beiden zentralen Figuren mit anderen in Szene, die den Text über den Ritter und seinen Knappen gelesen haben. Hier jedoch avancieren sie zu Protagonisten eines Films, plant doch der berühmte amerikanische Regisseur Orson Welles, wie es in einer Fernsehübertragung heißt, die Verfilmung der beiden berühmten Figuren des Autors Cervantes. Es ist Sancho, der diese Übertragung mit ansieht und daraufhin – wie im Roman nach Erhalt der vermeintlichen Statthalterschaft – seiner Frau Teresa einen Brief schreibt, in dem er ihr mitteilt, er hoffe, zu Geld zu kommen, solle doch über ihn und seinen Herren ein Film gedreht werden. Sancho fragt die zum Stierkampf in Pamplona strömende Menschenmenge, ob sie nicht seinen Herren gesehen hätten, der zuletzt in einer sprechenden Kiste zu hören gewesen sei (»una cajita oscura con ruidos y se ven cosas raras«) – als solche bezeichnet er den Fernseher. Wenig später wird im Spanien der 1960er Jahre eine Begegnung zwischen Regisseur und Sancho inszeniert, der verzweifelt seinen Herrn sucht. Interessant ist, dass dabei wie im Roman auf technische Neuerungen und mediale Brüche aufmerksam gemacht wird. Sancho sieht für zwei Peseten durch ein Teleskop den Mond (»la luna por dos pesetas«), nachdem er zuvor in der Fernsehübertragung auch erfahren hat, dass die USA jetzt erstmals Cruise Missiles einsetzen und dass man in naher Zukunft mit Raketen wird zum Mond fliegen können. Als einer der Befragten ihm auf die Frage, wo sich sein Herr befinde, antwortet, »està en la luna«, versteht Sancho dies nicht im übertragenen Sinne, sondern ganz wörtlich und glaubt nun, mit dem Teleskop Don Quijote auf dem Mond finden zu können. Der Film stellt so zugleich einen Bezug zur Clavileño-Episode des Romans her. Derart wird einerseits verdeutlicht, dass das, was heute noch als imaginär, als rein fiktiv erscheint, wie die Fahrt zum Mond, morgen bereits Realität sein kann. Wie sagt Sancho, der hier zur eigentlichen Hauptfigur avanciert: Wahnsinnig oder gesund sei doch eigentlich dasselbe. Andererseits wird so auch implizit auf einen Medienumbruch hingewiesen. War es die Illusionsmaschinerie der Bühne, ein Bühneneffekt, der die Reise zum Mond im Roman möglich machte, so steht hier die Magie des Films

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Kirsten von Hagen im Mittelpunkt (Sancho bezeichnet denn auch Orson Welles an einer Stelle als Magier). Der Film verständigt sich dabei wie der Roman auf einer Metaebene über sich selbst. Welles lässt die Off-Stimme, die zugleich die zentrale Autorinstanz nun nicht länger des Romans, sondern des Films markiert, sagen, dass Don Quijote nicht nur der Zerstreuung gedient habe, sondern vielmehr der einzig wahre Edelmann22 gewesen sei. Welles begreift Don Quijote als Mythos und Sancho als wahren Helden der Geschichte, weshalb er ihn denn auch zur Hauptfigur und zentralen Reflexionsinstanz seines Films macht. Am Ende begegnen Don Quijote und Sancho dem Filmteam. Die Menge jubelt ihnen zu. Don Quijote beschließt angesichts des Einzugs der neuen Unterhaltungsmedien, bis zum Mond zu reisen, da dort vielleicht noch fahrende Ritter gebraucht würden. Seine Worte sind ein Angriff auf die moderne Illusionsmaschinerie, die Menschen etwas vorgaukele, nur mehr Schein produziere und es unmöglich mache, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Somit lässt Welles hier Don Quijote in einem anderen Medium eben die Gefahr reflektieren, die im Roman zu seinem eigenen Wahn führte – übertragen auf ein anderes Medium: »El mal està en el ser humano por hacerse esclavo de las infames máquinas.« Der Schluss gehört dem Regisseur des Films, Orson Welles: »Este film fue escrito, producido y dirigido por un hombre cuyas cenizas yacen esparcidas sobre tierra española siguiendo su última voluntad. Su nombre era Orson Welles.« Mit diesem Schlusswort fand zugleich eine Produktionsgeschichte ihr Ende, die sich nicht weniger aufregend liest, als die fiktive Quellenhistorie des Don Quijote. Interessant ist, dass diejenigen, die schließlich Orson Welles davor bewahrten, an dem Projekt »Don Quijote« gescheitert zu sein, hier ihre Autorschaft zurücknehmen zugunsten des Mannes, dessen Vision es war, den Roman zu verfilmen. Resümierend könnte man demzufolge konstatieren, dass die Autoreflexion des Romans in diesem Projekt in eine medienspezifische Selbstreferenzialität des Films übersetzt wird.

JACQUES DESCHAMPS’ DON QUICHOTTE. VON EINEM DER AUSZOG, DEN ROMAN AUF DIE BÜHNE ZU BRINGEN Noch deutlicher wird das Spiel mit dem eigenen Medium in der aktuellsten der hier vorgestellten Adaptationen, die zugleich den Abschluss meiner Ausführungen markiert: die französische Don Quijote-Verfilmung von Jacques Deschamps (geschrieben zusammen mit dem Autor und Produzenten Jean-Michel Mariou). Don Qui-

22 In der spanischen Fassung heißt es »caballero«, was in der englischen Synchronfassung mit »gentleman« übersetzt wird.

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Die andere Seite des Wandteppichs chotte ou les mésaventures d’un homme en colère / Don Quichotte oder Die Missgeschicke eines zornigen Mannes wurde 2004 von dem Fernsehsender Arte produziert. Die Verfilmung rekurriert auf zahlreiche Dokumente über Cervantes und seine Zeit sowie auf Illustrationen, Adaptationen und Übersetzungen des Romans. Sie alle spielen eine zentrale Rolle in dem Film, der wie Cervantes’ Don Quijote ein Werk im Werden inszeniert. Als Beispiele sind hier zu nennen: die Verfilmung durch Orson Welles, Illustrationen des Romans von Gustave Doré, das Buch Rodrigo de Zayas über die Morisken (Les Morisques et le racisme d'Etat, 1992), die Übersetzung des Romans ins Französische von Aline Schulman (L’ingénieux Hidalgo Don Quichotte de la Manche de Miguel Cervantes, Editions Le Seuil 1997), die von ihr selbst kommentiert wird, oder das geopolitische Arte-Magazin Le dessous des cartes / Mit offenen Karten. In einer Sequenz des Films erörtert der Regisseur einer Theateradaptation des Romans, der selbst immer mehr donquijotteske Züge annimmt, mit dem Moderator der Sendung Jean-Christophe Victor – der während der gesamten Sequenz aus dem Fernsehbildschirm mit ihm spricht – die geopolitische Situation Spaniens zur Zeit von Cervantes. Gleich zu Beginn werden unterschiedliche Medien kontrastiert: So übersieht der als Theaterportier arbeitende Regieassistent (Samir Guesmi) – der eine täuschend echte Nachahmung der ersten Buchausgabe des Don Quijote erstellt und selbst wiederum später im Film als Ricote auftreten wird – auf seinem Monitor den Direktor, der vor dem Eingang des Theaters wartet. Der Beginn exponiert damit zugleich bereits sein zentrales Thema, werden in dem Film doch ingeniös nicht nur Schein und Sein, Fiktion und Realität, Realität und Imaginäres kontrastiert, sondern auch verschiedene Zeitebenen und Medien. Das Theater wird dabei wie im Roman als Illusionsmaschinerie inszeniert, der Regisseur (dargestellt von Patrick Chesnais) avanciert immer mehr selbst zum Don Quijote. Gegen die Widerstände des Theaterdirektors, der Schauspieler und übrigen Mitarbeiter versucht er seine Interpretation des Romans durchzusetzen. Seiner Auffassung zufolge symbolisiert der Text vor allem den Kampf eines Einzelnen für ein wahrhaft goldenes Zeitalter in einer bestialischen Zeit. Im Lauf der Handlung wird er indes immer wieder mit anderen Deutungen des Don Quijote konfrontiert. So fragt ihn etwa eine Journalistin, wo in seiner Adaptation die Frauen bleiben. Ihrer Ansicht nach ist Liebe das zentrale Thema des Romans, die Rolle der Frau ein wesentlicher Bestandteil. Der verzweifelte Regisseur erwidert auf diese Kritik nur, er könne unmöglich alle Episoden auf die Bühne bringen – eine Problematik jeglicher Adaptation eines Romans auch im Film.

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Kirsten von Hagen In einer Situation, die bewusst zwischen Realem und Imaginärem changiert, begegnet der Regisseur Sancho Pança (der gleichzeitig der ungeliebte Darsteller des Helden ist, beide gespielt von Jean Benguigui) in Spanien. Inszeniert wird ein Gegenwarts-Spanien, in dem Sancho einen ganzen Schinken am Kiosk kauft und mit Hilfe eines Handys mit dem Agenten von Penelope Cruz telefoniert, der heutigen Dulcinea. Der Regisseur macht sie, ein per Fax übermitteltes Photo von ihr in der Hand, zu seiner Muse und reist mit Sancho nach Toboso, wo sie wie im Roman wohnen soll. Ein Touristenbus der »Don-Quijote-Tours« bringt die beiden ans Ziel, doch im Haus der Dulcinea trifft der Regisseur nur eine Dame, die vorgibt, die wahre Dulcinea zu sein und von der er doch bis zum Schluss nicht weiß, ob sie nicht nur, wie im Prätext, Projektion, eine Folge seiner Einbildungskraft ist. Der Film macht dies explizit, indem er mit den Mitteln des eigenen Mediums spielt: Auf der Tonebene sind neben einer Musik, die an Traumdiskurse denken lässt, eine Off-Stimme zu hören, die Teile des Don Quijote rezitiert und bspw. von Pferd und Esel spricht, als das Auto der beiden nicht mehr anspringt. Dabei handelt es sich zugleich um einen Versuch, die Cervantes’sche Komik filmisch zu transformieren, wollen die Touristen doch unbedingt ein Photo des Regisseurs mit Sancho Pança vor den Windmühlen der Mancha knipsen, da sie in ihnen die wahren Protagonisten des Cervantes’schen Romans zu erkennen glauben. Das Photo, das kurz danach durch Einfrieren des Bildes für den Zuschauer sichtbar wird, zeigt tatsächlich das berühmte Paar, wie es in Form zahlreicher Darstellungen längst Teil des kollektiven Gedächtnisses ist: Don Quijote mit dem Helm des Mambrin auf dem Kopf, daneben der wesentlich kleinere und rundliche Sancho Pança. Der Film zeigt aber auch die Aktualität des Cervantes’schen Romans auf, wenn er etwa Ricote als Opfer modernen Menschenschmuggels auftreten lässt. Clavileño ist hier ein Motorrad, und am Ende zerschlägt der Regisseur wie Don Quijote die Figuren eines Puppenspiels. Mit dem Unterschied, dass es sich dabei um ein Teil der Bühnendekoration seines eigenen Stückes handelt. Immer wieder geht es in dem Film um die Mittel des Theaters, die ja auch im Roman selbst diskutiert werden. Der Film reflektiert gleichsam in einem anderen Medium seine eigene Problematik, die Adaptation eines buchliterarischen Textes, die Übersetzung eines Mediums in ein anderes. Wie auch die Übersetzerin Aline Schulman steht der Regisseur vor der Aufgabe, seinen eigenen Don Quijote zu schaffen, ohne, wie er selbst sagt, an dem Werk Schiffbruch zu erleiden: Es geht ihm darum, den Ritter von la Mancha nicht als »komischen Kauz«, wie es in der deutschen Synchronfassung heißt, zu gestalten, sondern als Visionär, der in einem gar nicht goldenen Zeitalter seine Vision eines besseren, toleranteren und liberaleren

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Die andere Seite des Wandteppichs Zeitalters zu realisieren sucht. Es sei, so der Regisseur, eine Zeit ethnischer Säuberungen und grausamer Kriege gewesen. Bei seinem Wunsch, die eigene ästhetische Vision umzusetzen und dabei seine Interpretation des Don Quijote zu schaffen, nähert er sich immer mehr dem Don Quijote des Prätextes an, wird zu seiner eigenen Figur, ohne jedoch, wie es im Film heißt, wie der Mann aus la Mancha auch wirklich an sich zu glauben. Deutlich wird dies in seinem Gespräch mit der Übersetzerin Aline Schulman, die 1997 Cervantes’ Don Quijote ins Französische übersetzt hatte. Sie verdeutlicht ihm, dass er wie sie und alle, die in der ein oder anderen Weise versuchen, den Text zu übertragen, Angst habe, an dem gewaltigen Werk zu scheitern, dass dies jedoch zugleich das Thema des Romans sei und dass es gelte weiterzumachen – um jeden Preis. Interessant auch für die hier im Zentrum stehende Frage nach der Transformation der Autoreflexion im Film ist, dass die Übersetzerin hier eine zentrale Stellung einnimmt. Rufen wir uns noch einmal das 62. Kapitel aus Cervantes’ Don Quijote ins Gedächtnis. Der Held reflektiert, dass es mit Übersetzungen sei wie mit flandrischen Wandteppichen: Man sehe immer nur die Rückseite, die zwar die Formen und Farben erkennen lasse, aber eben auch die Fäden, die Materialität, so könnte man argumentieren. Des Übrigen ist in diesem Beispiel gleich von mehreren Transferprozessen die Rede: vom Text zum Bild (Don Quijote reflektiert über Bücher, verdeutlicht dies aber an einem Sprachbild), ein Wandteppich stellt im westlichen Kulturkreis ebenfalls Geschehnisse dar und verschiebt damit Text in Bild, und dann der Transfer von einer idealen oder wirklichen Kartonvorlage in die Form des Gewebten, in einen Teppich, und schließlich der letzte Transfer: die Seitenverkehrung. Achim Hölter hat über diese Episode reflektiert und kommt am Ende zu dem Schluss: »Ist nicht die Rückseite des Teppichs das Interessantere, sei es als neue Sicht der Welt, sei es auch nur als Dechiffrieraufgabe?«23 Somit gilt es, wie auch in den anderen diskutierten filmischen Realisationen, den Roman hinter dem bloßen Mythos Don Quijote immer wieder aufs Neue zu entdecken. So dokumentieren alle der hier vorgeführten Beispiele, dass insbesondere ein so intermedial angelegter Roman wie Cervantes’ Don Quijote – der selbst immer wieder nach dem Ort der Bilder fragt und ein Kino im Kopf avant la lettre formuliert – einen selbstbewussten Umgang mit dem Medium Film voraussetzt, als Reflexion über die eigene Materialität oder – wie bei Deschamps – über den Adapta23 Achim Hölter: »Zum spanisch-deutschen Diskurs des Gewebes und der Übersetzbarkeit im Don Quijote«, in: Christoph Strosetzki (Hg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Berlin 2005, S. 347-364, hier S. 361.

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Kirsten von Hagen tionsprozess selbst. Der komplexe Roman fordert nicht zuletzt aufgrund der ihm eingeschriebenen Selbstreflexivität eine Medienreflexivität, will die Verfilmung mehr sein als Bilder in Bewegung oder abgefilmte Literatur.

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Figuren der Drittheit: Übersetzungen zwischen Leben, Literatur und Film. Jules et Jim zwischen Franz Hessel, Helen Grund, Henri Pierre Roché … und François Truffaut JOCHEN MECKE

1. ÜBERSETZEN UND INTERMEDIALITÄT Wenn die Betrachtung der Intermedialität unter der Perspektive der Übersetzung Sinn machen soll, dann muss sie einen spezifischen Beitrag zur Theorie der Intermedialität leisten. Aber auch umgekehrt ist zu fragen, was die Theorie der Intermedialität zu einem besseren Verständnis der bei der Übersetzung wirksamen Prozesse beitragen kann. Allerdings spricht der erste Eindruck, der sich bei der Konfrontation zwischen Film und Übersetzung einstellt, gegen ein solches Unterfangen, denn der Vergleich zwischen Film und Übersetzung hinkt offenkundig so sehr, dass er auf den ersten Blick weder den Problemen der Übersetzung noch denen der Intermedialität theoretisch oder praktisch auf die Sprünge helfen kann. Um sich davon zu überzeugen, bedarf es nur eines kleinen Gedankenexperiments, das Umberto Eco im zweiten Kapitel seines Übersetzungsbuches Dire quasi la stessa cosa – Quasi dasselbe mit anderen Worten angestellt hat. Im übrigen lade ich den Leser zu einem einfachen Gedankenexperiment ein: Angenommen, wir geben einem Übersetzer einen französischen Text, der im Format A4 und im Schriftgrad 12 Punkt gedruckt 200 Seiten umfasst, und der Übersetzer bringt uns als Resultat seiner Arbeit einen Text im selben Format und gleicher Schrift, der 400 Seiten umfasst. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass mit dieser Übersetzung etwas nicht stimmen kann. Ich denke, man könnte den Übersetzer fortschicken, ohne sein Produkt gelesen zu haben. Gäben wir jedoch einem Filmregisseur die kürzeste jemals geschriebene Kurzgeschichte, die wir dem guatemaltekischen Schriftsteller Augusto Monterroso verdanken und die da lautet: »Cuando despertó, el dinosauro todavía estaba

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Jochen Mecke allí« (»Als er/sie/es erwachte, war der Dinosaurier immer noch da«), und er brächte uns ein Videoband mit einem zwei Stunden langen Film, so könnten wir nicht ohne weiteres entscheiden, ob es sich um ein inakzeptables Produkt handelt. Wir müssten den Film erst sehen, um zu verstehen, wie der Regisseur diese unheimlich anmutende Geschichte interpretiert und in Bilder umgesetzt hätte.1

Aber welche Schlussfolgerung sollen wir aus Umberto Ecos Gedankenexperiment ziehen? Offenbar gelten für die interlinguale Übersetzung nicht die gleichen Regeln wie für die intersemiotische und intermediale, d.h., die Übersetzung innerhalb eines semiotischen medialen Systems ist nicht vergleichbar mit einer Übersetzung zwischen verschiedenen semiotischen Systemen. Aber gerade mit dieser Vergleichbarkeit steht und fällt der Ansatz der Hintergrundmetapher vom Film als Übersetzung von Gedanken, Theorien oder Literatur. In dieser Situation eröffnet der Blick auf die Filmgeschichte eine interessante Perspektive. Denn genau diese Möglichkeit eines Vergleichs hatten einst die Kritiker der Cahiers du cinéma von der Literaturverfilmung eingefordert. Interessanterweise wird diese Forderung aus einem direkten Vergleich zwischen der Übersetzung und der Literaturverfilmung abgeleitet. In seinem berühmten Aufsatz Pour un cinéma impur. Défense de l’adaptation vergleicht Bazin die Literaturverfilmung mit einer Übersetzung: »Pour les mêmes raisons qui font que la traduction mot à mot ne vaut rien, que la traduction trop libre nous paraît condamnable, la bonne adaptation doit parvenir à restituer l’essentiel de la lettre et de l’esprit.«2 François Truffaut greift Bazins Forderung in dem noch immer als Manifest der Nouvelle Vague geltenden Aufsatz Une certaine tendance du cinéma français auf und verlangt, der Film solle ohne Umschweife die Sache der Literatur in das eigene Medium übersetzen, ohne auf die von Truffaut so bezeichneten und ihm verhassten »Äquivalenzverfahren« zurückzugreifen, bei denen eine vermeintlich nicht drehbare Szene im Film

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2

Umberto Eco: Dire quasi la stessa cosa. Mailand 2003; dt. Übersetzung: Quasi dasselbe mit anderen Worten. München, Wien 2006, S. 22. Eco entwickelt in seinem bewusst nicht von der Theorie, sondern von den eigenen Erfahrungen ausgehenden Buch eine Auffassung der Übersetzung als Verhandlung zwischen Ausgangstext, Zieltext, Verlagsindustrie (deren Diktat sich, nebenbei bemerkt, am deutlichsten in der »Übersetzung« der Titel manifestiert) und natürlich dem Übersetzer, der gleichzeitig jedoch als Person auch der Ort der Verhandlung ist (S. 16, 22ff.). André Bazin: »Pour un cinéma impur. Défense de l’adaptation«, in: ders.: Qu’est-ce que le cinéma ? Paris 1993, S. 81-106, hier S. 95.

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Figuren der Drittheit durch eine sogenannte »äquivalente« Szene ersetzt wurde, wenn man sie nicht gleich ganz strich.3 Und die Cahiers-Kritiker gingen sogar noch einen Schritt weiter, denn sie billigten dem Film nicht nur die Übersetzung des Geistes und des Buchstabens literarischer Werke zu, sondern auch die Fähigkeit, abstrakte Gedanken in den Film zu übersetzen: Das tiefste Denken unserer Zeit – so hieß es ebenso lapidar wie programmatisch – findet sich in den Filmen von Alfred Hitchcock.4 Wenn aber die Metapher von der interlingualen als intermediale Übersetzung eine der wirkmächtigsten Filmströmungen der Moderne bestimmte, lohnt es sich vielleicht, genauer hinzuschauen und sich nicht einfach mit den quantitativen Überlegungen Umberto Ecos zufrieden zu geben.

2. ÜBERSETZUNG IN INTERMEDIALER PERSPEKTIVE 2.1 Übersetzung aus der Perspektive von Medium und Form Wie – wenn überhaupt – lassen sich nun die beiden Extrempositionen von Bazin und Eco für die wechselseitige Befruchtung von Übersetzungstheorie und Intermedialität nutzen? Dazu ist es sinnvoll, einige Vorüberlegungen zur Übersetzung anzustellen, Überlegungen, die fast ohne hohen Theorieaufwand und komplexe Übersetzungstheorien auskommen. Es geht dabei um die Frage, als welche Art sprachlicher Praxis sich die Übersetzung eigentlich charakterisieren lässt. Betrachtet man die Übersetzung rein phänomenologisch, und das heißt mit einem zwar genauen, aber dennoch fremden, rein beschreibenden Blick, der vor allem die Materialität der Übersetzungskommunikation in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, so erscheint die Übersetzung zunächst einmal als ein Text, der in einer komplexen Beziehung zur Ausgangssprache und zur Zielsprache steht, zwischen denen er vermittelt. Die Übersetzung existiert somit – um mit Charles Sanders Peirce zu sprechen – nicht im Seinsmodus der Erstheit, sondern der Drittheit, d.h. »im Seinsmodus dessen, das so ist wie es ist, indem es ein Zweites und ein Drittes zueinander in Beziehung setzt«.5 In zeitlicher Hinsicht ließe sich die Übersetzung als Posttext auffassen, der sich auf einen ihr vorangehenden Prätext, d.h. den Text in der Originalsprache bezieht. Offenbar ist die Beziehung zwischen beiden 3 4 5

François Truffaut: »Une certaine tendance du cinéma français«, in: ders.: Le plaisir des yeux. Paris 1987, S. 211-229, hier S. 213, 216. Jacques Rivette: »Die Kunst der Fuge«, in: ders.: Schriften fürs Kino. München 1989, S. 44-50, hier S. 45. Charles Sanders Peirce: »Über Zeichen«, in: ders.: Die Festigung der Überzeugung und andere Schriften. Hg. v. Elisabeth Walter, Frankfurt/M. 1985, S. 143-166, hier S. 144.

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Jochen Mecke Texten hierarchisch, denn die Übersetzung als Posttext bezieht ihre Legitimität aus dem Prätext. Die höchste Legitimität scheint nach dieser Logik einem Posttext zuzukommen, der seine eigene Identität zugunsten des Prätextes völlig auslöscht. Die hierarchische Ordnung von Prä- und Posttext gibt auch eine Antwort darauf, warum Schriftsteller oftmals als schlechte Übersetzer gelten. Denn sie beherrschen zwar die Sprache des Posttextes perfekt, doch zu dieser Bedingung tritt eine zweite hinzu, dass nämlich die Übersetzung, gerade weil sie durch den Prätext legitimiert wird, völlig in den Hintergrund treten muss, sie muss ihre eigene Identität zugunsten des Originals auslöschen. An dieser Stelle bietet es sich an, erstmals einen Versuch zu machen, die interlinguale Übersetzung aus der Perspektive intermedialer Übersetzung zu betrachten. Wenn wir mit Luhmann Medien systemtheoretisch als »relativ lockere Koppelung von Elementen« definieren, vor deren Hintergrund sich Formen als »relativ feste Verknüpfung« profilieren,6 so können wir den Prätext als Form betrachten, die sich, wie Roman Jakobson in einer seiner ersten Arbeiten zur Poetik festhält, aus einer bestimmten Menge sprachlicher Primärnormen und literarischer Sekundär- (=literarische Tradition) und Tertiärnormen des Prätextes selbst, d.h. narrativen, stilistischen, metrischen etc. Verknüpfungsregeln gebildet hat.7 Die Übersetzung muss gegenüber dieser Form als bloßes heterolinguales Medium im Hintergrund bleiben, darf nicht selbst als Form in Erscheinung treten, sondern lediglich die Form des Originals transportieren. Bei der Übersetzung dürfen also weder das Medium der Ausgangssprache noch das der Zielsprache, noch die Übersetzung selbst als Formen in Erscheinung treten. Im Gegenteil: die Übersetzung legitimiert sich dadurch, dass sie ihren eigenen Formaspekt auslöscht und sich zum reinen Medium der Form des Prätextes macht. Damit ist der Grund für die vermeintliche oder reale Unfähigkeit von Schriftstellern zur Übersetzung allerdings bereits genannt: Zwar beherrschen sie das linguale, semiotische und mediale System des Posttextes perfekt und verste6 7

Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 168172. Dieser Punkt wird weiter unten systematisch entwickelt. Roman Jakobson macht deutlich, dass jedes literarische Werk in Konfrontation mit drei Momenten wahrgenommen wird, der gegenwärtigen poetischen Tradition, der gegenwärtigen Alltagssprache und der poetischen Tendenz, die der betreffenden Äußerung vorgezeichnet ist (vgl. Roman Jakobson: »Fragments de ›La nouvelle poésie russe‹. Esquisse première: Vélimir Khlebnikov«, in: ders.: Huit questions de poétique. Paris 1977, S. 1129, hier S. 11). Damit sind auch diejenigen Normen gemeint, die vom Text selbst konstituiert werden, rezeptionsästhetisch gesprochen also jener Erwartungshorizont, den der Text selbst aufbaut.

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Figuren der Drittheit hen sich ausgezeichnet darauf, neue Formen in diesem Medium zu generieren, doch vermögen sie es häufig gerade aufgrund dieser hochentwickelten Fähigkeit nicht, die geforderte Auslöschung ihres eigenen, also des Posttextes zugunsten des Prätextes zu leisten. Vielmehr behandeln sie ersteren als ›Prä-Text‹ im französischen Sinn des Wortes, nämlich lediglich als ›Vorwand‹ für die eigene Textproduktion. Dichter wollen eigene Formen schaffen, nicht bloße Medien für die Formen anderer. Allerdings entspricht die bisherige Darstellung nicht ganz unserer alltäglichen Auffassung vom Übersetzen. Denn Übersetzungen stehen keinesfalls nur im Zeichen der Identität. Dazu brauchen wir nur ein weiteres kleines Gedankenexperiment anzustellen. Denn selbst dann, wenn wir in einem Medium, in einem semiotischen System, ja in einer Sprache bleiben, also im Fall einer ›intralingualen‹ Übersetzung, soll unsere Wiedergabe eines fremden Gedankens – so lautet zumindest die allgemeine Maxime bereits im Schulunterricht – mit ›unseren eignen‹ Worten erfolgen, in unsere eigene Sprache übersetzt werden. Man erwartet offenbar von einer Wiedergabe – und das heißt letztlich von einer intralingualen Übersetzung –, dass wir in der Lage sind, fremde Gedanken in eigenen Worten wiederzugeben. Das heißt aber, dass selbst innerhalb einer Sprache, also mithin für intralinguale Übersetzungen, die Forderung gilt, dass sie nicht vom Prinzip der Kopie bestimmt werden. Das Gleiche gilt auch für intralinguale, aber intersemiotische Übersetzungen. Den Audiomitschnitt einer Seminarsitzung und deren wörtliche Transkription werden wir wohl kaum als angemessenes Protokoll akzeptieren, ganz einfach, weil hier nicht übersetzt wurde bzw. die intersemiotische Übersetzung zu nahe am Original, dem mündlichen Text bleibt. Eine angemessene Übersetzung des mündlichen in das schriftliche Zeichensystem der Sprache muss die Differenzen der Kodesysteme ebenso berücksichtigen wie eine literarische Übersetzung die Differenz der Sprachen. Anscheinend ist also eine Übersetzung keine Kopie, sondern muss – wenn sie als Übersetzung legitim sein will – sich nicht nur durch ein gewisses Maß an Identität, sondern auch durch ein gewisses Maß an Differenz in Bezug auf das Original legitimieren. Damit müsste Umberto Ecos Gedankenexperiment, das ganz im Zeichen einer Legitimation der Übersetzung durch Identität steht, durch die Forderung nach Differenz ergänzt werden. Allerdings bleibt diese Differenz auf die Unterschiede zwischen Sprachen, Zeichensystemen und Medien beschränkt. Sie bezieht sich immer auf ›Medien‹, nicht auf ›Formen‹. Wenn aber die Übersetzung im Zeichen nicht nur einer Identität der Form, sondern auch der Differenz von Sprachen, Zeichensystemen und Medien steht, dann ist es möglicherweise völlig legitim, den Begriff der Übersetzung auch auf intersemiotische und intermediale Übertra-

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Jochen Mecke gungen anzuwenden, bzw. die Übersetzung im engeren Sinne, d.h. die interlinguale Übersetzung als Sonderfall des allgemeinen Begriffs von Übersetzung zu deuten. Fassen wir zusammen: Übersetzung wäre somit ein Posttext, der sich auf einen Prätext bezieht, dessen Position zum Prätext durch die beiden Pole der Identität bzw. Ähnlichkeit der Form auf der einen Seite und der Differenz der sprachlichen, semiotischen und medialen Systeme auf der anderen Seite angesiedelt ist. Übersetzungen können daher sowohl intra- als auch interlingual, -semiotisch oder -medial sein. 2.2 Hypertextualität und Hypermedialität der Übersetzung Übersetzt man die in Ecos Gedankenexperiment dominierenden zeitlichen Kategorien in logische, so wird deutlich, dass die Übersetzung ein Text wäre, der sich auf einen ihm vorausgehenden Text bezieht, sich sozusagen auf ihn aufpfropft. Gerade mit diesen Worten hat jedoch Gérard Genette in seinem Buch Palimpsestes Hypertextualität definiert. Darunter versteht er toute relation unissant un texte B (que j’appellerai hypertexte) à un texte A (que j’appellerai, bien sûr hypotexte), sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle d’un commentaire. […] J’appelle donc hypertexte tout texte dérivé d'un texte antérieur par transformation simple (nous dirons désormais transformation tout court) ou par transformation indirecte: nous dirons imitation.8

Hypertextualität unterscheidet sich von der Intertextualität durch ein quantitatives und ein qualitatives Kriterium: Intertextualität beschränkt sich auf Textabschnitte, Hypertextualität meint hingegen den Text als Ganzes,9 Intertextualität kann punktuell sein, Hypertextualität bestimmt den Text kontinuierlich.10 Das Interessante da8

Gérard Genette: Palimpsestes: la littérature au second degré. Paris 1982, S. 13, 15. 9 Genette unterscheidet fünf Typen sogenannter transtextueller Beziehungen: Intertextualität meint eine effektive Präsenz eines Textes in einem anderen, Paratextualität die Beziehung der Begleittexte zum Text wie etwa Titel, Vorworte, Motti etc., Metatextualität bezeichnet vor allem Kommentare zum Text, während Architextualität sich auf das Verhältnis des Textes zu seinem Gattungsmuster bezieht (vgl. Genette: Palimpsestes, S. 7-16). 10 Die umfassenden Bezüge zwischen ganzen Texten müssen dabei nicht immer explizit sein, sondern können auch als grundlegendes Prinzip im Untergrund wirken. Dies ist etwa der Fall, wenn der fremde Text als Magnetpol für eine Abstoßungsbewegung dient, durch die sich der eigene Text überhaupt erst konstituiert. Harold Bloom hat versucht, diesen komplexen Sonderfall einer indirekten Transformation eines Textes durch einen anderen Bezug mit dem Begriff des Agon zu erfassen (vgl. Harold Bloom: Anxiety of Influence. Oxford 1973, und ders.: Agon: Towards a Theory of Revi-

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Figuren der Drittheit ran ist nun, dass Gérard Genette – und Umberto Eco in seinem Übersetzungsbuch mit ihm – die Übersetzung unter dem Stichwort der Hypertextualität subsumiert.11 Wenn Genette die Übersetzung als eine ernsthafte Transformation (=Transposition) eines Hypotextes in einen Hypertext definiert,12 dann insistiert auch er auf dem Element der Differenz, denn Genette unterscheidet ausdrücklich zwischen den beiden Beziehungen der Imitation und der Transformation, bei der der Ausgangstext stärker verändert wird.13 Das Gleiche gilt für die intermediale Übersetzung. Analog zu Genettes genealogischem Begriff der Hypertextualität könnte man für diese Beziehung den Begriff der Hypermedialität vorschlagen. Wie die Intermedialität wäre die Hypermedialität ein Phänomen der über ein einzelnes Medium hinausgehenden Transmedialität. Während der Begriff der Intermedialität jedoch für die Präsenz eines Mediums in einem anderen, das heißt die Kopräsenz zweier Medien reserviert ist, wie sie sich zum Beispiel im Medienzitat oder der medialen Anspielung manifestieren kann, meint Hypermedialität den Bezug zwischen Medien als Ganzen, wie sie etwa bei der Imitation und/oder Transformation eines Hypomediums durch ein Hypermedium vorliegen. ›Intermedialität‹ wird hier in erster Linie als medialer Bezug verstanden, bei dem Elemente, Strukturen und spezifische Kontexte eines Mediums in ein anderes Medium übertragen werden. Dabei erscheint das Bezugsmedium im anderen Medium als markierte Form. Diese Markierung kann etwa durch Thematisierung geschehen, durch die Sichtbarmachung technischer Dispositive oder aber durch Verweise auf jene Institutionen und Kategorien, mit denen zusammen Medien ein bestimmtes Diskurs- oder Aufschreibesystem bilden.14 Im Unterschied dazu betrifft der hypermediale Bezug Beziehungen zwischen Medien in ihrer Gesamtheit.

3. FIGUREN DER DRITTHEIT IN JULES ET JIM Truffauts dritter Spielfilm eignet sich in besonderer Weise für die Untersuchung des Verhältnisses von Übersetzung und Intermedialität, zunächst weil die Übersetzung im Film die Rolle eines zentralen Handlungsmotivs spielt: Beide Hauptfiguren sind Übersetzer, und ihre Freundschaft beruht zum Teil auf der Faszination und der Fähigkeit der beiden Freunde, die eigene Kultur in die fremde zu übersetzen und umgekehrt. Darüber hinaus handelt es sich bei

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sionism. Oxford 1983). Die Übersetzung unterscheidet sich von der literarischen Transformation dadurch, dass solche Prozesse hier nicht existieren. Vgl. Eco: Quasi dasselbe, S. 10. Vgl. Genette: Palimpsestes, S. 293. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900. München 1987.

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Jochen Mecke dem Film um eine Übersetzung des literarischen in ein audiovisuelles Medium. Hinzu kommt, dass der Film an zentraler Stelle die Beziehung zwischen Literatur, Photographie und Film selbst thematisiert und damit eine theoretische Perspektive eröffnet. Dem ist hinzuzufügen, dass der Film sich darum bemüht, ein abstraktes Prinzip zu verbildlichen, indem er das Denken in Bilder übersetzt. Schließlich illustriert Jules et Jim vielleicht in einer besonders profilierten Weise eine Form intermedialer Übersetzung, die dazu beigetragen hat, die Praxis intermedialer Übersetzungen von Film und Literatur zu verändern. Jules et Jim ist darüber hinaus einer derjenigen Filme, die zu einer Revolution des Verhältnisses zwischen Film und Literatur beigetragen haben. 3.1 Die Drittheit des Verlangens Wie im realen Leben Franz Hessel und Henri Pierre Roché, so bilden auch Jules und Jim in der literarischen und filmischen Fiktion ein Übersetzungstandem. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zeichnet sich ab: Im realen Leben begegnet der Schnitzler-, Altenberg- und Keyserling-Übersetzer Henri Pierre Roché dem Stendhal-, Balzac- und Proust-Übersetzer Franz Hessel, in Franz Hessels Roman Pariser Romanze begegnen sich der Deutsche Andreas Wächter und der Franzose Claude. Alle Protagonisten der realen und fiktiven Geschichten im Umkreis von Jules et Jim, des Romans und der Realität bringen dem Freund jeweils die eigene Sprache und Literatur bei. Jules et Jim ist vorrangig und zunächst einmal der Roman einer deutsch-französischen Freundschaft, die durch die wechselseitige Übersetzung der eigenen in die andere Kultur bereichert wird. Jules ist Deutscher und übersetzt für seinen Freund Jim die deutsche Literatur und Kultur in das Französische, während Jim sich dafür mit Übersetzungen und Erläuterungen zur französischen Literatur für seinen deutschen Freund revanchiert. Als Übersetzer sorgen sie dafür, dass der andere die schönsten Texte und die schönsten kulturellen Errungenschaften der eigenen Kultur kennen lernt. Sie übersetzen das Eigene in das Fremde, wählen aus der Menge des Möglichen das bedeutende Objekt aus und übertragen es in die Kultur des Freundes: »Chacun enseignait à l’autre, jusque tard dans la nuit, sa langue et sa littérature. Ils se montraient leurs poèmes, et ils traduisaient ensemble.«15 Damit üben sie eine Mittlerrolle aus. Denn was der Lektüre wert ist, entscheiden sie als interlinguale Vermittler. Diese Mittlerrolle geht allerdings weit über das Übliche der sprachlichen Übersetzung hinaus, denn Jules und Jim dienen einander auch als Mittler und Vermittler im wahren Leben. Sie lieben beide dieselben Frauen und tauschen sie untereinander aus.

15 Henri Pierre Roché: Jules et Jim. Paris 1988 [1953], S. 11.

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Figuren der Drittheit Der Roman von Henri Pierre Roché lässt ebenso wenig Zweifel an den Grundlagen dieses Tauschgeschäftes wie der aus dem Off gesprochene Kommentar in Truffauts Film: »Jules n’avait pas de femme dans sa vie parisienne et il en souhaitait une. Jim en avait plusieurs. Il lui fit rencontrer une jeune musicienne.«16 Die Frau ist das Gastgeschenk des Freundes, und Gastgeschenke kommen in Jules et Jim wegen des Tausches nur im Plural vor. Jules revanchiert sich für die geschenkten französischen Frauen mit dem Geschenk deutscher Frauen an Jim. Jules beschreibt Jim die deutschen Frauen, die er liebt, und Jim entscheidet daraufhin spontan, mit Jules nach München zu reisen und die potenziellen Gaben in Fleisch und Blut zu besichtigen. Als Gegengabe für die drei französischen Frauen, die Jim ihm in Paris vorgestellt hat, präsentiert Jules seinem Freund in München drei deutsche Frauen. Liebe wird transitiv, ökonomisch vermessen und genau durchkalkuliert.17 Auch macht der Roman nichts anderes, als die tatsächliche neue Liebesunordnung zu beschreiben, die unter den Protagonisten im wirklichen Leben galt.18 Der deutsch-französische Liebesreigen gehorcht aber nicht nur der Logik des friedens- und freundschaftserhaltenden Frauentausches und Gastgeschenks. Er ist von der Ökonomie des Tausches bestimmt, nicht von der Ökonomie der Verausgabung und auch nicht von der Logik der Gabe.19 Vielmehr verdeckt die Logik des Gastgeschenks eine viel tiefer liegende Logik des Begehrens, die aber gerade – im pointierten Gegensatz zu Gabe und 16 Ebd., S. 11. 17 Ebd., 3. Kapitel, Les trois belles, S. 15-19. Auch später, nach der Rückkehr beider nach Paris, wird Jules Jim nach einem »nouvel arrivage de filles«, einer ›neuen Lieferung‹ von Mädchen, drei Berlinerinnen vorstellen. Eine von ihnen ist Kathe (S. 81). 18 Die Lektüre der veröffentlichten Tagebücher von Roché zeigt, dass zumindest das Leben in seiner unmittelbar verschriftlichten Form der Fiktion auch tatsächlich entsprach (vgl. Henri Pierre Roché: Carnets: Les Années ›Jules et Jim‹ – Première Partie 1920-1921. Marseille 1990). 19 Die Logik des Frauentausches in Jules et Jim ist derjenigen der Verausgabung geradezu diametral entgegengesetzt. Sie sprengt nicht, wie bei Bataille, die Ökonomie des Tausches (vgl. Georges Bataille: »La notion de dépense«, in: ders.: La Part Maudite précédée de la notion de dépense. Paris 1967, S. 23, 45). Vielmehr wird sie hier peinlich genau befolgt bis in die Details der Zahlenangaben, wie auch Roché in seinen Tagebüchern genauestens verzeichnete, mit wem, wo, wann und in welcher Form er Geschlechtsverkehr hatte (vgl. Roché: Carnets). Erst recht steht sie in Gegensatz zu Derridas Theorie der Gabe. Aus diesem Grund können wir uns an dieser Stelle einen Exkurs zu Batailles Untersuchung über die Dépense ebenso ersparen wie eine Erörterung von Jacques Derridas Analyse der Paradoxie der Gabe (vgl. Jacques Derrida: Donner le temps (I): la fausse monnaie. Paris 1991).

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Jochen Mecke Verausgabung – die Ökonomie nicht sprengt, sondern bestätigt und begründet. Es handelt sich um eine Logik, die als Handlungsgesetz von Jules et Jim gelten kann. In Jules et Jim ist jene Logik des Begehrens am Werk, die von René Girard in Mensonge romantique et vérité romanesque in ihrer Systematik und Historik ausführlich beschrieben und untersucht wurde. Die zentrale These seiner Untersuchung läuft bekanntlich auf eine radikale Widerlegung der romantischen Auffassung hinaus, nach welcher Liebe spontan im Subjekt entsteht, dessen Begehren sich unvermittelt auf ein geliebtes Objekt richtet. Die von Girard untersuchten Romane zeigen, dass das Begehren in Wirklichkeit von einer Ökonomie des Tausches, das heißt von Wertbeziehungen bestimmt wird. Einen Wert erhält ein geliebtes Objekt erst durch das Begehren, aber dieses Begehren selbst verdankt sich einer Vermittlungsinstanz, eines sogenannten médiateur.20 Dieser Mittler kann vielerlei Formen annehmen, er kann abstrakt sein; die Gesellschaft insgesamt kann seine Rolle übernehmen, oder aber der Mittler wird inkarniert durch eine konkrete Person aus Fleisch und Blut, etwa durch einen Konkurrenten. Die Pointe bei Girard ist nun, dass er die zeitlichen und logischen Verhältnisse der Genese des Begehrens umkehrt. Dies wird besonders deutlich dann, wenn der Dritte im Liebesbunde in Form eines gesellschaftlichen Tabus oder als Konkurrent auftritt: Girard zeigt, dass der Konkurrent oder das Verbot die Liebesbeziehung nicht bedroht oder verhindert, sondern sie geradezu erst ermöglicht. Was ein wenig wie Batailles Theorie des Eros klingt – das Begehren ist nur als Übertretung möglich – folgt allerdings bei Girard einer klaren ökonomischen Logik.21 Denn erst Verbot und Konkurrent zeichnen das Objekt vor allen anderen möglichen als begehrenswert aus. 3.2 Pas celle-là: Kathe als Ausnahme? Die Gesamtkonstellation nimmt die Form eines von Girard sogenannten triangle érotique an. Liebe ist dementsprechend keine zwei-, sondern eine dreistellige Relation oder eine Figur der ›Drittheit‹. Bei Jules et Jim sind es allerdings zunächst nicht Verbote oder Konkurrenten, sondern Freunde, die füreinander die Rolle des Dritten bzw. des Mittlers übernehmen. Diese Konstellation gilt unter20 Vgl. René Girard: Mensonge romantique et vérité romanesque. Paris 1961, S. 15-67. 21 Batailles Untersuchungen sind differenzierter als hier dargelegt, denn das Verbot fundiert nicht nur einen in der inneren Erfahrung angesiedelten Eros, es fordert nicht nur zur Übertretung auf, die Übertretung ist aber nicht bloße Negation des Verbotes, sondern überschreitet und vervollständigt es (vgl. Georges Bataille: Der heilige Eros. Frankfurt/M. 1984, S. 25-36, S. 59).

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Figuren der Drittheit schiedslos im Leben, im Tagebuch, im Roman und im Film, so lange bis Helen (bzw. Kathe, Catherine, Lotte) in das Leben der Freunde eintritt.22 Sie scheint der bisher geltenden Tauschökonomie des Begehrens und der Logik der Gastfreundschaft entzogen zu sein. Franz Hessel hat Helen Grund in der Tat alleine kennen gelernt, und Roché tritt erst sehr viel später hinzu. Hessel macht dies in der Pariser Romanze deutlich. Der Roman besteht aus einem langen Brief, in dem der Deutsche Arnold Wächter seinem französischen Freund Claude aus dem Feldlager des Ersten Weltkriegs erzählt, wie er Lotte kennen und lieben gelernt hat. Aber auch der Roman Jules et Jim hält klar und deutlich fest, dass Kathe der Frauentauschökonomie entzogen ist. Dies gilt sowohl für die Wirklichkeit als auch für die Fiktion. Manfred Flügge, der – soweit dies möglich war – die ›wahre Geschichte‹ recherchiert hat, schreibt, dass Franz Pierre gebeten habe: »Pierre, pas Helen, je vous prie, pas celle-là«, und dass Roché seinem Freund bestätigt habe: »Bien sûr que non, Franz, pas celle-là«.23 Desgleichen in Roman und Film: »mais ... (il [i.e. Jules] regarda Jim en face et articula bas et lentement) ... pas celle-là? ... n’est-ce pas, Jim? – Pas celle-là, Jules, repondit Jim.«24 Warum dieser Entzug? Wenn die Liebe in Leben, Roman und Film bei Roché und Hessel so verfasst ist, wie Girard sie beschreibt, so ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit, die in Mensonge romantique geschilderte Ökonomie zu durchbrechen. Denn ein herausragender Wert käme im deutsch-französischen Liebesreigen nur einem Objekt zu, das der konventionellen Liebesordnung des Tausches und des erotischen Dreiecks entzogen ist. Dieses tritt mit Helen ein: Ihr hoher Wert manifestiert sich in der Tatsache, dass sie zunächst der Ökonomie des Tausches entzogen wird. Sie avanciert dadurch zum Objekt eines absoluten Begehrens. Aber stimmt das wirklich? Ist Helen ein Objekt, dessen Begehren keiner Übersetzung und keines Mittlers mehr bedarf? 3.3 Die mediale Vermittlung des Begehrens Auch in diesem Fall sprechen Tagebücher, Roman und Film Bände. Es bedarf daher kaum subtiler Interpretationskünste, um der Über22 Die Namen der Protagonisten sind in geradezu irritierender Weise symbolisch: Franz Hessel trifft Helen, die mit Nachnamen Grund heißt. Und tatsächlich werden Pierre Henri Roché – immerhin ein Fels (rocher) – und Franz Hessel dank Helen der Liebe, ihrer Freundschaft und sich selbst auf den Grund gehen, wobei sie all dies im selben Atemzug zugrunde richten werden. 23 Manfred Flügge: Gesprungene Liebe: die wahre Geschichte zu »Jules und Jim«. Berlin 1996, S. 72. 24 Roché: Jules et Jim, S. 82; und Jules et Jim (François Truffaut. DVD, Concorde Home Entertainment 2004), 00:11:37.

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Jochen Mecke setzung auf die Spur zu kommen. Der Roman spricht Klartext: Denn in Wirklichkeit entdecken Jules und Jim zunächst eben nicht Kathe, sondern die Statue einer griechischen Göttin, deren Lippen ein geheimnisvolles archaisches Lächeln umspielt: Elle [i.e. la statue] dépassait encore leur espérance. Ils tournèrent longuement autour d’elle, en silence, son sourire planait là, puissant, juvénile, assoiffé de baisers et sang peut-être. [...] Avaient-ils jamais rencontré ce sourire ? – Jamais. – que feraient-ils s’ils le rencontraient un jour? Ils le suivraient.25

Ein paar Seiten später begegnen sie Kathe. Der Roman hält fest: »Kathe, la troisième, avait le sourire de la statue de l’île.«26 Der deutsch-französische Liebesreigen wird also zunächst beendet dank der Vermittlung durch eine Statue, die Kathe später als Objekt des Begehrens auszeichnet. Was jedoch das Buch nur beiläufig erwähnt, das zeigt der ansonsten mit jeder Filmminute geizende Truffaut in aller Ausführlichkeit.

Das archaische Lächeln im Diapositiv, als Statue und Catherine27

Im Film ist die Vermittlung eine doppelte: Die Photographien Alberts zeigen eine Statue, die wiederum als Mittlerin zwischen Jules und Kathe fungiert. Als Mittler eines unvermittelten Begehrens, als Wertgarant und -verleiher in einer wertfreien Konstellation, als Ökonomie der Antiökonomie fungiert in diesem Fall kein menschliches Wesen mehr. Vielmehr wirkt als Übersetzer dessen, was scheinbar reines, übersetzungsfreies Original ist, ein Mittler par excellence, der für das Prinzip der Vermittlung steht, die reine Vermittlung selbst, die reine Medialität, nämlich das Medium an und für sich. 25 Roché: Jules et Jim, S. 76. 26 Ebd., S. 81. 27 Jules et Jim, 00:08:05; 00:08:52; 00:10:32.

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Figuren der Drittheit Das Verhältnis zwischen Original und Kopie ist bei Roché und Truffaut umgekehrt: Kathe bzw. Catherine ist nicht das Original ihrer in Form von Statuen und Photographien vorliegenden Kopien, sondern sie erscheint als Abbild und Inkarnation einer göttlichen Statue, die selbst jedoch der Deutlichkeit halber nur als Synekdoche vorkommt. Denn sie interessiert nicht als ganze Person, sondern nur als archaisches Lächeln. Untersuchen wir die gezeigte Szene genauer: Als Jules und Jim die Statue zum ersten Mal während der Diaprojektion sehen, schaut sie die beiden Freunde zunächst direkt an, wird dann aber im Profil gezeigt. Genau diese Technik verwendet Truffaut auch in der Szene der tatsächlichen Begegnung zwischen den Freunden und der Statue. Die mise en scène und die Montage spielen mit dem Portrait im Profil. Die subjektive Kamera betrachtet die Statue aus ihrem Blickwinkel und nähert sich ihr, betrachtet sie von allen Seiten und schließlich auch auf Augenhöhe.

Die Begegnung mit der Statue28

Die Wirklichkeit der Begegnung folgt dem gleichen Schema wie die Diaprojektion. Als Catherine dann aber den beiden Männern zum ersten Mal begegnet, folgt die Inszenierung dem gleichen Schema. Der Tenor wird deutlich: Catherine ist eine Projektion der Wünsche der befreundeten Männer … und eines Diaprojektors. Truffauts Adaptation geht noch einen Schritt weiter: Denn in einer berühmten Szene, als Catherine den beiden Männern mitteilt, früher sei sie sehr traurig gewesen und habe auch sehr traurig ausgesehen und erst seit sie Jules und Jim kenne, könne sie lachen, hält der Film die Gesichtsausdrücke Catherines im Freeze fest.

Standbilder von Catherine im Freeze29 28 Jules et Jim, 00:08:34. 29 Jules et Jim, 00:22:54.

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Jochen Mecke Damit wird deutlich, dass auch die wirkliche Catherine das Abbild einer Projektion ist, aber darüber hinaus verweist Truffaut auf die Medialität des Films selbst. Intermedialität produziert hier offenkundig eine spezifische Bedeutung, die aus der Differenz der beiden Medien Photographie und Film resultiert und die im vorliegenden Beispiel dazu dient, das Reale der Bilder mit dem medialen Imaginären der beiden Männer und des Mediums selbst zu koppeln. Die Sequenz ist für unsere Fragestellung deshalb bemerkenswert, weil Intermedialität hier nicht auf eine Form der bloßen, expliziten Referenz beschränkt bleibt, sondern zu einem tatsächlichen, wirkungsvollen ästhetischen Prinzip wird. Um den Unterschied zu verdeutlichen, ist es notwendig, die zentralen Begriffe von Medium, Form und Inter- bzw. Hypermedialität zu explizieren. Greift man nochmals die weiter oben bereits bemühte Definition des Mediums als »relativ lockere Koppelung von Elementen« auf (s.o.), vor deren Hintergrund sich Formen als »relativ feste Verknüpfung« profilieren, so wird die besondere Form von Intermedialität in der vorliegenden Episode ersichtlich.30 Während normalerweise vor allem die relativ festen Verknüpfungen zwischen den Elementen der Form wahrgenommen werden, die durch zusätzliche Regeln entstehen, müssen die losen Koppelungen selbst, die ihre Basis ausmachen, im Hintergrund bleiben. So bilden die Geräusche das Medium für die Sprache, diese wiederum das Medium für die Lyrik, die sich durch die zusätzlichen Regeln der Metrik und der rhetorischen Figuren von der Sprache absetzen.31 Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen Übersetzungen gleichfalls als Medien (s.o.), welche den Originaltext als Form sichtbar machen. Aus dieser Differenz von Medium und Form folgert Joachim Paech im Anschluss an Niklas Luhmann, dass Medien an und für sich niemals direkt der Beobachtung zugänglich sind, sondern immer nur als Konstante an den variablen Formen beobachtet werden können, die durch Medien vermittelt werden. »Intermedialität als Prozess wird aktualisiert als Form einer Differenz in einem (spezifischen) Formwandel.«32 Diese für die Intermedialität entscheidende Differenz zwischen Medien kann allerdings nicht nur durch die Differenzen zwischen technischen Dispositiven sichtbar gemacht werden. Aus kommunikationstheoretischer Perspektive ergibt sich allerdings die Notwendigkeit, auch jene Differenzen mit einzubeziehen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass Medien nicht als reine Techniken vorkommen, son30 Vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 168-172. 31 Vgl. ebd., S. 172. 32 Vgl. Joachim Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen«, in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998, S. 14-31, hier S. 16.

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Figuren der Drittheit dern immer im Verbund mit Institutionen und Netzwerken, die für sie spezifisch sind.33 Unter ›Intermedialität‹ als wahrnehmbarem ästhetischem Prinzip lässt sich unter diesen Prämissen daher in erster Linie ein medialer Übertragungsprozess verstehen, bei dem Elemente, Strukturen und spezifische Kontexte eines Mediums auf ein anderes übertragen und in diesem sichtbar gemacht werden, wobei das Ausgangsmedium im Zielmedium als markierte Form (s.o.) erscheint. Genau dies geschieht in Kathes Grimassen-Sequenz: Die Photographie erscheint durch das Standbild als Form im Medium des Films und wird dadurch im Kontrast zum im Film selbst ›unsichtbaren‹ Medium des Films zum Träger des Imaginären, in diesem Fall eines Imaginären, das das Medium selbst zeigt. Man kann den Unterschied zwischen beiden Formen der Intermedialität anhand der Filme von Truffaut selbst verdeutlichen: Denn in Jules et Jim selbst, vor allem jedoch in La Peau douce verwendet er eine andere Art von Standbildern, die dazu dienen, bestimmte Mimiken und Gestiken länger und damit deutlicher für den Zuschauer sichtbar zu machen. Während ein Standbild mindestens 8 Bilder pro Sekunde braucht, um wahrgenommen werden zu können, sind Wiederholungen unterhalb dieser Schwelle für den Zuschauer selbst nicht wahrnehmbare Verlängerungen der Dauer des Einzelbildes: »Maintenant je me sers des arrêts d’image uniquement dans un but dramatique. Je crois qu’ils ne sont intéressants que quand ils sont invisibles pour le spectateur.« In diesem Fall erscheint das Medium der Photographie nicht als markierte Form im Medium des Films, sondern bleibt als »lose Koppelung« im Hintergrund.34 Damit wird aber auch deutlich: Kathe wird erst durch die Photographie und die Statue zu einem Original, zu einem ›Charakter‹ oder – wie die beiden Freunde meinen – zur Frau schlechthin. Das Original erweist sich aus dieser Perspektive selbst erst als Ergebnis einer Vermittlung, es hat nicht den Status der Erstheit, sondern der Zweitheit bzw. Drittheit. Truffaut scheint in seinem Film die Verhältnisse umzukehren: Das Medium macht die Realität erst zu dem, was sie ist, oder in übersetzungstheoretischer Diktion, die Übersetzung bringt den Originaltext als Originaltext erst hervor.

33 Dazu ausführlicher: Jochen Mecke: »Im Zeichen der Literatur: Literarische Transformationen des Films«, in: Jochen Mecke, Volker Roloff (Hg.): Kino (Ro-)Mania. Intermedialität und Intertextualität im Kino der Romania. Tübingen 1999, S. 97-123. 34 Vgl. François Truffauts Erläuterungen in: Jean-Pierre Chartier: »Les cinéastes de notre temps: François Truffaut ou l’esprit critique«, INA 1965, Bonustrack der DVD Jules et Jim / Truffaut: Commentaire de »Jules et Jim«, 00:06:00.

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Jochen Mecke Auf diese Weise gelingt es Truffaut, einen äußerst komplexen Gedanken filmisch zu veranschaulichen, d.h. gerade jenes Kriterium einer Übersetzung von Gedanken in Bilder zu erfüllen, das für die medientheoretische Erweiterung der Übersetzungstheorie eine wichtige Rolle spielt. Allerdings kommt diese Übersetzungsleistung bei Truffaut nicht von ungefähr. Denn es war eine der berühmten provokanten Thesen der Cahiers-Kritiker, dass das bedeutendste Denken unserer Zeit sich im Film findet (s.o.).35 Damit verbindet sich ein poetologischer Anspruch an die eigenen Filme, den François Truffaut hier einlöst, wobei er allerdings im Unterschied zu Godard alles nur Erdenkliche getan hat, damit dieser Anspruch unsichtbar bleibt.36 Daher scheint eine der wichtigsten Übersetzungsleistungen, die der Film vollbringt, nämlich die eines Gedankens in Bilder, von der Kritik kaum wahrgenommen zu werden. Weitaus auffälliger und von der Kritik dementsprechend mehr gewürdigt ist natürlich die intermediale Übersetzung des Buches in einen Film. Um die These vorwegzunehmen: Das im Film selbst reflektierte Verhältnis von Original und Abbild gilt auch für das Verhältnis zwischen Buch und Film: Das Hypermedium des Films wird sich als Original des Hypomediums Buch erweisen, die Übersetzung als das Abbild, welches das Urbild erst als solches hervorbringt. Dabei nimmt das Buch für den Film eine so zentrale Stellung ein, dass man die filmische Übersetzung in diesem Fall durchaus als einen Fall von Hypermedialität auffassen kann. Der Film von François Truffaut ist dabei jedoch nur der letzte Punkt in einer langen Kette sich aufeinander beziehender Werke: Lassen wir das Leben als die ›wahre Geschichte‹ zunächst einmal außen vor, so sind

35 In seinem berühmten Aufsatz zu Hitchcock weist Rivette allerdings den Gedanken der Übersetzbarkeit des Films in Ideen und Gedanken zurück: »Wenn das bedeutendste Denken unserer Zeit sich dafür entscheidet, sich durch das Kino auszudrücken, dann doch nicht, um es anschließend hinzunehmen, wieder in eine wildfremde Sprache übersetzt zu werden, sondern um für alle unsichtbar zu bleiben, die nicht für die Erscheinungen dieser Kunst empfänglich sind.« (Rivette: Kunst der Fuge, S. 45). 36 Genauso versuchte Truffaut in seinen Filmen jegliche Spuren intellektueller und cinephiler Ansprüche zu tilgen, um den Publikumserfolg und damit die finanzielle Rentabilität zu garantieren. Allerdings ist nicht nur das Kinopublikum, sondern auch die Filmkritik und die Filmtheorie dieser Strategie auf den Leim gegangen, was dazu geführt hat, dass Truffauts Filme im Vergleich zu Godard, Rivette oder Robbe-Grillet in der Regel als theoretisch unterbelichtet gelten ... was aber, abgesehen davon, dass es nicht stimmt, erstaunlicherweise von einer Übernahme der Autorenpolitik durch die vornehmsten ihrer theoretischen Gegner zeugt: Truffauts Filme gelten nicht als intellektuell, weil ihr Autor sie so gedeutet hat.

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Figuren der Drittheit bereits die Romane über die Geschichte von Franz Hessel, Helen Grund und Pierre Roché Hypertexte, denn sowohl Hessel als auch Roché schöpfen beim Schreiben der Romane aus den eigenen Tagebüchern und – im Fall Rochés – aus dem Tagebuch Helens. Damit ergibt sich eine ganze Reihe hypertextueller und hypermedialer Beziehungen, deren Elemente hier kurz aufgezählt werden sollen: Da ist zunächst die Geschichte, die das Leben schrieb. Sie wurde von Manfred Flügge sorgfältig rekonstruiert, doch seine Rekonstruktion zeigt bereits: Mitunter wählt das wahre Leben fiktive Geschichten zum Vorbild, die Realität imitiert die Fiktion. Das, was sich zwischen Helen Grund, Henri Pierre Roché und Franz Hessel abspielt, folgt dem Schema des erotischen Dreiecks so genau, dass es keines großen Sprungs mehr bedurfte, damit diese Geschichte in der Fiktion verschiedener Romane ankommen konnte. Einen ersten Sprung wagt die wahre Geschichte allerdings in verschiedene Tagebücher, die dann auch den Romanen als Vorlage dienten: Henri Pierre Roché und Helen Grund haben ihre Versionen der gemeinsamen Geschichte in Tagebüchern festgehalten,37 die Aufzeichnungen Franz Hessels dagegen sind verloren gegangen, doch geben seine Romane Aufschluss über die Ereignisse um die zwei Freunde und Liebespaare in ihren wechselnden Konstellationen, denn er hat diese Geschichte als erster in Romanform verarbeitet, wobei einige Unterschiede auffallen. In seinem Roman Pariser Romanze spielt Claude nur als Briefpartner, nicht allerdings als Konkurrent gegenüber Lotte eine Rolle, während Jules und Jim schließlich die Ereignisse erzählen, die dann auch als Vorlage für Truffauts Verfilmung dienten.38

37 Vgl. Roché: Carnets; Helen Hessel: Journal d’Helen. Lettres à Henri Pierre Roché. Marseille 1990. 38 Hessel hat in seinen Büchern mehrmals Dreierkonstellationen behandelt: Während sich die Rolle des Dritten in der Pariser Romanze noch auf die eines Briefadressaten beschränkt, wird in Hessels nicht vollendetem und erst posthum veröffentlichtem Roman Alter Mann die Geschichte von Roché, Grund und Hessel in den Figuren des Schwiegersohnes, des alten Mannes, Ernst, seiner Frau Lella und deren Geliebtem Claude neu erzählt. Und auch der Roman Heimliches Berlin wartet mit einer Dreiecksbeziehung zwischen dem Helden Wendelin, seiner Geliebten Karola und deren Ehemann Clemens Kestner auf (vgl. Franz Hessel: Pariser Romanze. Frankfurt/M. 1985 [1920]; Franz Hessel: Alter Mann. Frankfurt/M. 1987; Franz Hessel: Heimliches Berlin. Frankfurt/M. 1982). Und auch Henri Pierre Roché konnte Liebe lediglich in Dreierkonstellationen erzählen: Neben Jules et Jim geschieht dies auch in Deux Anglaises et le Continent (Paris 1956); François Truffaut hat beide Dreiecksgeschichten verfilmt: Jules et Jim, F 1962 und Les Deux Anglaises et le Continent, F 1971.

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4. TRUFFAUTS INTERMEDIALE TRANSPOSITIONEN Welche Transpositionen, um Genettes Terminologie aufzugreifen, hat François Truffaut bei seiner Übertragung des Stoffs auf den Film vorgenommen? Wenn es tatsächlich möglich sein sollte, den Begriff der Übersetzung nicht bloß als luftige Metapher zu gebrauchen, sondern den Vergleich zwischen Literatur und Film zu einer systematischen Erweiterung des Übersetzungsbegriffs zu nutzen, so dass interlinguale, intramediale und intermediale Übersetzungen als Sonderfall eines allgemeinen Begriffs von Übersetzung fungieren, dann müsste es möglich sein anzugeben, welchen Gesetzmäßigkeiten die filmische Übersetzung von Literatur gehorcht. Dass es sich bei Truffauts Adaptation um eine gelungene ›Übersetzung‹ des Buches von Roché in diesem allgemeinen, noch nicht sehr spezifischen Sinn handelt, darüber war sich die Kritik einig, unabhängig davon, ob die Kritiker den Film ablehnten oder befürworteten.39 Daher lohnt der Versuch, den Code und die Regeln der intermedialen Übersetzung anhand von Truffauts Verfilmung zu analysieren und seine Verfahren herauszupräparieren. Daraus lässt sich vielleicht das Spezifikum intermedialer Übersetzungen entwickeln. Welche Regeln gelten also für die intermediale Übersetzung zwischen Roman und Spielfilm? Es beginnt mit einer Reihe von Weglassungen von Figuren und Episoden. Die Personen Odile, Magda, Lucie, Gertrude (=Thérèse) werden im Film gestrichen. Dies ist natürlich auf der einen Seite der kürzeren Dauer des Films geschuldet. Truffaut seinerseits hat die Streichungen der Figuren allerdings auch mit der Absicht begründet, den Film auf Jeanne Moreau zu konzentrieren und ihren Auftritt so früh wie möglich zu garantieren.40 Neben den Figuren wird eine Reihe von Sequenzen ausgelassen, etwa die vielen Szenen zu Beginn des Romans, die den Frauentausch zwischen den Protagonisten schildern, die Szenen in der Mitte und gegen Ende des Romans, die das Handlungsschema von Liebe-Trennung-Rache-Wiedervereinigung-Trennung-Rache etc. mehrfach wiederholen. Stehen diese Kürzungen ganz im Zeichen der Straffung des Romans auf Filmformat, so haben die Streichungen anderer Sequenzen ganz eindeutig die Funktion, den Zuschauer nicht zu sehr zu schockieren. Gestrichen wurde etwa eine Szene, in der Jules, Kathe und Albert sich zu dritt im Bett befinden, gestrichen wurde auch eine Sequenz, die den Äther-Rausch der Protagonisten schildert. Die Streichung vieler Szenen, die im Intellektellenmilieu von Paris spielen,

39 Ein kleines Dossier findet sich in dem Buch von Carole LeBerre: François Truffaut. Jules et Jim. Étude critique. Paris 1995, S. 121-125. 40 Vgl. ebd., S. 29.

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Figuren der Drittheit sind allerdings der Sorge Truffauts um den kommerziellen Erfolg seines Films geschuldet.41 Die Streichungen einzelner Frauenfiguren führen allerdings nicht zu einer Beeinträchtigung der Werktreue, da sie durch eine Adaptationstechnik der Konzentration kompensiert werden. Denn die Frauenfiguren Odile, Magda, Lucie und Gertrude werden im Film zu einer einzigen Figur zusammengezogen, die von Marie Dubois gespielt wird. Einzelne Merkmale dieser Frauen werden auf Kathe übertragen, wie zum Beispiel Odiles Verbrennung eines Briefes oder die Szene, in der sie das Vitriolfläschchen bei sich führt, »für die Augen der Männer, die lügen«.42 Damit wird deutlich, dass die für den Fortgang der Handlung wichtigen Eigenschaften sowie auch diejenige, die ›der‹ Frau schlechthin Profil verleihen, auf Kathe konzentriert werden. Die im Roman auf Lucie gemünzte Beschreibung als »fierté de province« wird im Film ebenfalls auf Kathe übertragen, ebenso wie die ursprünglich auf Lucie gemünzten Sätze: »Jim, aimez-la, épousez-la, et laissez-moi la voir! Je veux dire: si vous l’aimez, cessez de penser que je suis un obstacle«, die gleichfalls nunmehr auf Kathe bezogen werden.43 Ähnliche Konzentrationen werden in Bezug auf Harold, Albert und Paul, die Geliebten Catherines, vorgenommen, die alle zu Harold zusammengezogen werden, und Michèle und Gilberte, die Maitressen Jims, die im Film zu Gilberte zusammengefasst werden. Darüber hinaus nimmt Truffaut eine Reihe von Verschiebungen von Szenen vor, die im Roman an anderer Stelle stehen, wieder andere Szenen übernimmt Truffaut aus dem Roman Les deux Anglaises et le continent, etwa wenn Muriel schreibt: »Ce papier est ta peau, cette encre est mon sang, j’appuie fort pour qu’il entre.« Schließlich übernimmt Truffaut auch das Motto des Films aus dem zweiten Roman Rochés: »Tu m’as dit: Je t’aime. Je t’ai dit: Attends. J’allais dire: Prends-moi. Tu m’as dit: Va-t-en.«44 Betrachtet man nun die Summe der von Truffaut vorgenommenen Veränderungen, so zeigt sich, dass ihnen ganz präzise Funktionen zukommen: Ein Großteil der Änderungen sind technischer Natur, um einen dreihundertseitigen Roman in die 90 Minuten eines Films pressen zu können. Ein weiterer Teil der Veränderungen besteht in der Streichung gewagter Szenen (Drogen, Sexualität, Freizügigkeit), die im Film eine andere Wirkung entfalten würden als im

41 42 43 44

Vgl. ebd., S. 33. Roché: Jules et Jim, S. 46f. Ebd., S. 30. Für einen systematischen Vergleich von Roman und Film s. Carole LeBerre: Jules et Jim, S. 26-35, und die ausführliche Studie von Sandro Volpe: La forma intermedia: Truffaut legge Roché, Palermo 1996.

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Jochen Mecke Buch. Schließlich ging es darum, Jules et Jim zu entintellektualisieren, um den Film für ein breites Publikumsinteresse zu öffnen. Wie lassen sich diese gravierenden Eingriffe in die Makrostruktur des Romans, die Streichungen von Handlungen und Figuren und die daraus resultierenden Folgen für die Bewertung der Figuren rechtfertigen? Wenn Umberto Ecos These stimmt, dann gilt für die intermediale Übersetzung, dass diese Streichungen unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt sein können. Eine erste Legitimation lässt sich mit der von Walter Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers vorgelegten Theorie finden.45 Zu Beginn seines Aufsatzes betont Benjamin, dass das Wesentliche an Dichtung nicht Mitteilung, nicht Aussage sei.46 Vielmehr gilt: »Die Übersetzung ist eine Form. Sie als solche zu erfassen, gilt es zunächst zurückzugehen auf das Original.«47 Die Radikalität der Benjamin’schen Auffassung der Übersetzung lässt sich mit Sicherheit relativieren, denn der Leser einer Übersetzung von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu würde sich mit Recht betrogen fühlen, wenn er feststellen müsste, dass der Übersetzer Figuren und Ereignisse einfach weggelassen hat. Die intramediale und interlinguale Romanübersetzung muss mithin auch Mitteilungen und Aussagen übermitteln, auch wenn hier nicht das Wesentliche ihrer Wirkung liegt. Für die intermediale Übersetzung einer Literaturverfilmung gelten hingegen die gleichen Prinzipien wie für die Übersetzung von Dichtung: Die Nachricht, das heißt die getreue Eins-zu-Eins-Umsetzung der Figurenkonstellationen und Sequenzen ist sekundär, hier können Elemente weggelassen werden unter der Bedingung, dass das Wesentliche übertragen wird. Diese Forderung erfüllt Truffaut, denn was er in seinem Film getreu übersetzt hat, ist die wesentliche ästhetische Einstellung des Romans. Rochés Roman zeichnet sich durch eine Abweichung vom klassischen moralischen Schema des Romans aus, das die Darstellung von leidenschaftlicher Liebe und Ehebruch um den Preis erkauft, den gehörnten Ehegatten entweder als schlechten Menschen oder aber als komische Figur zu zeichnen. Wie Flaubert, so stellt auch Roché alle seine Figuren aus einer Perspektive jenseits von Gut und Böse dar, auch er nimmt seinen Figuren gegenüber eine von impartialité und impassibilité gekennzeichnete Haltung ein.48 Im Unterschied zu Flaubert ist diese Einstellung zwar positiv, aber entscheidend ist, dass der Roman hinsichtlich der Grundkonstellation zwi45 Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Illuminationen. Frankfurt/M. 1977, S. 50-62. 46 Vgl. ebd., S. 50. 47 Ebd., S. 50. 48 Zur Poetik der impassibilité, impartialité und impersonnalité vgl. Gustave Flaubert: Correspondance, tome II: 1851-1858. Paris 1980, S. 691.

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Figuren der Drittheit schen den Figuren unparteiisch bleibt. Er trifft keine Wahl zwischen Leidenschaft und Ehe, Geliebtem und Ehemann, Treue und Ehebruch. Weder eine Ethik der Leidenschaft noch eine Moral von Treue, Ehe und Familie werden verfochten. Die Liebenden erscheinen im selben positiven Licht wie der gehörnte Ehemann. Liebhaber, Ehefrau und Ehemann werden alle als durchweg sympathische Figuren geschildert, mit denen sich der Leser identifizieren kann. Damit bezieht Rochés Roman eine Position jenseits eines abendländischen Liebesdiskurses, der Passion und Ehe auseinanderdividiert, so wie ihn Denis de Rougemont in seinem Buch L’amour et l’occident analysiert hat.49 Diese grundlegende Einstellung Rochés setzt Truffaut in seinem Film um. In diesem Sinne sind auch die Tilgungen aller Szenen zu verstehen, welche die Hauptfiguren in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen könnten. Die zahlreichen Liebhaber von Catherine fallen diesem Prinzip ebenso zum Opfer wie die Maitressen Jims oder die Szenen, in denen im Roman die Einnahme von Drogen geschildert wird. Diese Streichungen sind nicht das Ergebnis des Versuchs, eine Filmversion ad usum delphini herzustellen oder die Figuren einem breiten Publikum als wahre Helden erscheinen zu lassen, sondern sie ziehen die Konsequenz aus der Tatsache, dass der Film nicht über eine Innenperspektive verfügt, welche ein ideales Mittel bietet, den Rezipienten zur Identifikation mit dem Helden zu bringen. Durch die sympathische Schilderung der Figuren wird daher im Falle des Films der zentrale und unlösbare, dramatische Konflikt zwischen den Figuren, die nicht ohneeinander, aber auch nicht miteinander leben können, noch verschärft.50 Wenn Roché von der klassischen Konstellation des romanesken Liebesdiskurses abweicht, so sucht Truffaut eine Position jenseits der von ihm abgelehnten Filme der tradition de la qualité, die entweder Treue und Ehe durch eine moralische Verurteilung der Untreue oder aber die Leidenschaft durch die Lächerlichmachung des gehörnten Ehemanns erkaufte. In Jules et Jim findet sich nichts dergleichen. Die allen Figuren und Handlungen zuteil werdende positive Haltung ist Ausdruck eines viel tiefer liegenden Prinzips bei Roché, das sich vor allem in den formalen und

49 Vgl. Denis de Rougemont: L’amour et l’occident. Paris 1979. 50 Truffaut hatte lange Zeit geglaubt, im Kino sei eine solche verurteilungsfreie Einstellung zu den Figuren nicht möglich. Erst der Film The Naked Dawn von Edgar Ulmer zeigte ihm, dass auch das Kino sich zu einer Haltung gegenüber den Figuren aufschwingen kann, in der die Schilderung der leidenschaftlichen Liebe nicht um den Preis der Karikatur des gehörnten Ehemanns erkauft wird (vgl. François Truffaut: »The Naked Dawn [1956]«, in: ders.: Le plaisir des yeux. Paris 1975, S. 179-180, hier S. 179f.).

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Jochen Mecke stilistischen Merkmalen seines Romans bemerkbar macht, die gleich auf den ersten Seiten deutlich werden. Jules n’avait pas de femme dans sa vie parisienne et il en souhaitait une. Jim en avait plusieurs. Il lui fit rencontrer une jeune musicienne. Le début sembla favorable. Jules fut un peu amoureux une semaine, et elle aussi. Puis Jules la trouva trop cérébrale, et elle le trouva ironique et placide.51

Eine Liebesgeschichte im Telegrammstil, der keinen Raum lässt für zu große Dramatik, auch wenn das, was er berichtet, äußerst dramatische Formen annehmen kann. Beispielhaft hierfür ist die Todesszene: »La voiture renversée tomba sur les deux comme un couvercle, fit un plouf! [sic!] éclaboussant dans la Seine en crue. Et rien n’apparut.«52 Der Gegensatz zwischen diesem prosaisch-nüchternen Stil einerseits, der sich nicht scheut, auch den Tod der Protagonisten mit durchaus komischen onomatopoetischen Ausdrücken zu würzen, und den dramatischen Ereignissen andererseits könnte größer nicht sein. Dies gilt in abgeschwächter Form für den gesamten Roman: Elliptischer Stil, hohes Tempo der Handlung, permanente Kontingenz, welche den Leser nie erraten lässt, welche Handlung die Figuren als nächstes ausführen werden, die überraschende, durch narrative Ellipsen unterbrochene Abfolge der Szenen, welche die Freiheit und Ungebundenheit der einzelnen Figuren ausdrückt, vor allem jedoch der jenseits von Drama und Komödie, aber auch von Gut und Böse angesiedelte Stil, all dies war es, was Truffaut an Roché so sehr fasziniert hat: Dès les premières lignes, j’eus le coup de foudre pour la prose d’Henri Pierre Roché. A cette époque mon écrivain favori était Jean Cocteau pour la rapidité de ses phrases, leur sécheresse apparente et la précision de ses images. Je découvrais, avec Henri Pierre Roché, un écrivain qui me semblait plus fort que Cocteau, car il obtenait le même genre de prose poétique en utilisant un vocabulaire moins étendu, en formant des phrases ultra-courtes faites de mots de tous les jours.53

Diese Techniken sind Ausdruck einer ästhetischen Haltung, die Truffauts Einstellung entsprach, das Schwere mit ungeheurer Leichtigkeit zu erzählen. Die für Roché so typische (wohlwollende) Distanz zu seinen Figuren und den geschilderten Ereignissen ist zum einen biographisch bedingt. Roché hat seinen ersten Roman im Alter von mehr als siebzig Jahren verfasst, und diese zeitliche Di-

51 Roché: Jules et Jim, S. 11. 52 Ebd., S. 240. 53 François Truffaut: »Henri Pierre Roché revisité«, in: ders.: Le plaisir des yeux, S. 162.

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Figuren der Drittheit stanz hat ihn in die Lage versetzt, auch für ihn lebensbedrohliche Szenen wie Helens Revolverangriff auf ihn in einem milderen Licht zu schildern. Darüber hinaus ist dieser Stil jedoch auch das Resultat einer hypermedialen Transposition: Denn Roché schöpfte den Stoff seines Romans aus seinen Tagebüchern, die er in einem elliptischen Telegrammstil abfasste: »A l’aurore elle vient dans mon lit – son pyjama rouge – sans pantalon – étreinte, gaîté, rires, grande caresse.«54 Diese Besonderheit hat man dem Buch von Roché offenbar noch in der Manuskriptfassung angemerkt, denn Rochés Lebensgefährtin Denise, die das Manuskript liest und es abtippt, findet, dass der Stil an eine Übersetzung erinnert.55

5. DIE DRITTHEIT DER ÜBERSETZUNG Den gleichen Effekt erreicht Truffaut durch eine intermediale Übersetzungstechnik. Denn Truffaut beschränkt sich nicht darauf, Rochés Buch zu bebildern bzw. Geschichte, Erzählung und Stil in ein anderes Medium zu übersetzen, sondern er ruft dem Leser die Tatsache dieser Übersetzung immer wieder ins Bewusstsein. Dies geschieht vor allem durch die Übernahme ganzer Passagen aus dem Roman von Roché durch einen Kommentator, der die Handlung aus dem Off kommentiert. Eine solche Technik ist vor allem aus den frühen Tagen des Stummfilms bekannt, als die mit den komplexen Codes des Films noch nicht vertrauten Zuschauer durch einen sogenannten Kinoerzähler durch die Handlung geführt wurden. Auch der Kinoerzähler kommentierte das Geschehen aus einer extra- und heterodiegetischen Position.56 Mit dem Tonfilm war sein Verschwinden vorprogrammiert, aber sein Wiederauftauchen bei Truffaut hat dadurch eine gänzlich andere Funktion. Während das Theater keine Vermittlungsinstanz zwischen äußerer und innerer Kommunikation kennt, das Kino in der Kamera eine technische Vermittlungsinstanz aufweist, verfügt der Roman in der Erzählerfigur über eine menschliche Instanz, die zwischen den Welten der Diegese und des Lesers vermittelt. Die Einführung eines Off-Kommentars und damit eines literarischen Erzählers führt somit in das kinematographische Vermitt54 Roché: Carnets, S. 80. 55 Vgl. Flügge: Gesprungene Liebe, S. 285. 56 Da der Kinoerzähler eine Figur war, die aus der Literatur in die Kinowelt geraten war, lag es nahe, dass das literarische Medium ihm nach seinem Aussterben eine nostalgische Reverenz erweist. Gert Hofmann hat dieser ephemeren Figur der Kinogeschichte in seinem Roman Der Kinoerzähler (München 1993) eine letzte Hommage erwiesen. Und was liegt näher, als diese Figur aus der Literatur nochmals in den Film zurückkehren zu lassen, wie dies in Bernhard Sinkels Film Der Kinoerzähler (D 1992/93) geschah.

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Jochen Mecke lungssystem ein literarisches ein und konfrontiert die beiden miteinander. Damit markiert Truffaut jedoch explizit den hypermedialen Charakter seines Films. Dies wird noch durch die weitere Besonderheit unterstrichen, dass der Kommentar des Erzählers, obwohl mündlich gesprochen, ganz eindeutig nach dem Prinzip – zwar nicht medialer, aber dennoch – konzeptioneller Schriftlichkeit geprägt ist. Denn der von Michel Subor neutral und fast sachlich gesprochene Kommentar trägt alle Zeichen der Schriftlichkeit und der Literarizität und macht damit deutlich, dass hier eine konzeptionell hergestellte, das heißt in einem anderen Medium simulierte, Schriftlichkeit vorliegt, die im Buchmedium der Gutenberg-Galaxis natürlich in materieller und medialer Form gegeben ist.57 Damit tut Truffaut ein Übriges, um die realistische Illusion zu durchbrechen und den Film als das erscheinen zu lassen, was er tatsächlich ist: ein von einer inter- und hypermedialen Ästhetik bestimmtes Werk, das im Medium des Films neben der Photographie das Medium der Literatur, genauer gesagt der Gutenberg-Galaxis evoziert. Truffauts Film wird nun zu jenem Hypermedium, das Literatur, Photographie und Film integriert, um aus der Konfrontation dieser Medien einen permanenten Illusionsbruch entstehen zu lassen, der es erlaubt, ihre Medialität zur ästhetisch wahrnehmbaren und bedeutsamen Form werden zu lassen. Der ›Kinoerzähler‹ wird vom bloßen Hilfsmittel und Instrument zu einem eigenständigen Prinzip, das aus der medialen Differenz zwischen Literatur und Film neue ästhetische Effekte gewinnt. Truffauts Film stellt seine vermittelnde Übersetzerposition zwischen den Medien Buch und Film heraus. Nicht nur in der Handlung, sondern auch medienästhetisch steht der Film im Zeichen der Drittheit. Der Zuschauer ist sich immer der Tatsache bewusst, dass es sich bei Jules et Jim um einen Film über einen Roman handelt. Von allen Effekten, die Truffaut durch diese Technik erreicht – zum Beispiel ruft das Geschehen durch den neutralen und emotionslosen Kommentar eine gesteigerte emotionale Reaktion hervor –, interessiert an dieser Stelle jedoch nur eine einzige, nämlich die Wirkung in Bezug auf das Verhältnis von Literatur und Film. Truffauts Vorgehensweise ist provokativ, denn er konzipiert seinen Film unter Umgehung aller Äquivalenzprinzipien als cinéma im57 Ludwig Söll, Peter Koch und Wulf Österreicher haben die Unterscheidung systematisch ausgearbeitet (vgl. Ludwig Söll: Gesprochenes und geschriebenes Französisch. Berlin 1974, S. 24ff.; Peter Koch und Wulf Österreicher: »Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte«, in: Romanistisches Jahrbuch Nr. 36, 1985, S. 15-43, hier vor allem S. 17; Peter Koch und Wulf Österreicher: Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch. Tübingen 1990).

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Figuren der Drittheit pur, das sich gerade nicht durch die künstliche Reduktion filmischer Mittel auf den visuellen Kanal beschneidet. Damit setzt er jedoch seinen eigenen Film permanent in den Bezug zum Roman von Roché. Was ein Film an und für sich hätte sein können, wird zu einem Film durch die Literatur und für die Literatur. Truffaut durchbricht damit permanent die mediale Illusion. Damit ergeht es dem literarischen Werk in Jules et Jim jedoch genauso wie der Photographie: Das Medium des literarischen Werkes erscheint im Film dank der von Truffaut inszenierten medialen Differenz und Polyphonie als Form. Dies geschieht einfach dadurch, dass die zusätzlichen Selektionsbeschränkungen, welche die Differenz zwischen Form und Medium ausmachen – erinnert sei an die Luhmann’schen Beispiele von Geräusch, Sprache und Dichtung –, hier miteinander kontrastiert werden. So wie das Medium der Photographie durch das Standbild als stehendes Bild im Kontrast zu den sich bewegenden Bildern des Films als Form im Film sichtbar gemacht wurde, so werden hier die Syntax und das Vokabular des schriftlichen Diskurses im Kontrast zur medialen Mündlichkeit des Films als zusätzliche Selektionsbeschränkungen zum Vorschein gebracht. Dadurch wird aber genau das erreicht, was auch Walter Benjamin als die Aufgabe des Übersetzers bezeichnet hat: Sie besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Orignals erweckt wird. Hierin liegt ein vom Dichtwerk durchaus unterscheidender Zug der Übersetzung, weil dessen Intention niemals auf die Sprache als solche, ihre Totalität geht, sondern allein und unmittelbar auf bestimmte sprachliche Gehaltszusammenhänge.58

In diesem Sinne geht Truffauts Intention in Jules et Jim auf die literarische Sprache als Ganzes oder in den Termini Luhmanns ausgedrückt: sie geht auf die literarische Sprache als Medium. Vor dem Hintergrund der locker gekoppelten Elemente der gesprochenen Sprache erscheint die literarische Sprache des Kommentars als eine kontingente Form der Koppelung ihrer Elemente unter vielen anderen Möglichkeiten und kann dadurch in ihrer Medialität wahrgenommen werden. Allerdings wird die Hypermedialität des Films erst im Kontrast der verschiedenen Medien wie Literatur, Sprache, Photographie und Film sichtbar. Das heißt aber, dass die Dialektik von Form und Medium immer auf ein drittes Medium bezogen bleibt, in welchem sie aufscheint. Mit der Konfrontation eines neutral gelesenen, prosaischen literarischen Diskurses aus dem Off und einem dramatischen filmischen Geschehen wird jener Effekt der Distanzierung verstärkt, den Roché in seinem Buch durch den elliptischen Telegrammstil erreicht. 58 Benjamin: Aufgabe des Übersetzers, S. 57.

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Jochen Mecke Noch interessanter aber als der von Truffaut betriebene Stufenbau und -abbau von Medium und Form scheinen die Motive, aus denen dies geschieht. Um die These vorweg zu nehmen: Mit Jules et Jim revolutioniert Truffaut die Praxis der Literaturverfilmung auf eine ganz besondere Art und Weise. Denn dadurch, dass der hypermediale Bezug im Film etabliert wird, erscheint nunmehr der Film als dasjenige Medium, durch das das Buch erst zu dem wird, was es ist. Jules et Jim enthält eine polemische Stellungnahme zum Verhältnis der Medien. Denn zum Original wird Rochés Roman erst dadurch, dass ihn Truffaut in seinem Film adaptiert, erst die Vermittlung macht das Original zum Original, erst das Medium des Films bringt den Roman als Buch zum Vorschein. Was der Film über das Verhältnis zwischen Medium und Realität, zwischen Photographie und Kathe sagt, das gilt auch für das Verhältnis zwischen den Medien. Das Buch ist zwar das Original, aber erst der Film macht es zu dem, was es ist. Übertragen wir diesen Gedanken nochmals zurück auf die Übersetzung, so wird deutlich, dass der Originaltext erst durch die Existenz einer Übersetzung zum Original wird, er ist von der Übersetzung nachgängig. Anders formuliert: Die Übersetzung lässt insofern die mediale Dimension des Originals, d.h. seine Sprache, als Form erscheinen, als sie dessen Sprache in ein anderes Medium überträgt und damit – allerdings erst im Vergleich – durch seine divergente Perspektive die Form des Originals als kontingente und damit lose Koppelung sichtbar macht. Das an sich unsichtbare Medium wird sichtbar. Dies ist übrigens auch bei reiner Intramedialität möglich. Denn wenn Literatur etwa damit beginnt, die eigenen Selektionsmechanismen zu lockern und sich als Aufzeichnungsmedium des Unsinns zu verstehen beginnt, wie dies im Dadaismus, im Surrealismus oder der konkreten Poesie der Fall war, dann wird auch das Medium im Sinne von Luhmann spürbar gemacht. Die marxistisch inspirierte Avantgarde von Tel Quel hat dieses Prinzip auf die Materialität des Signifikanten als Basis des semantischen Überbaus zurückgeführt und als Revolution des poetischen Zeichens, als Révolution du langage poétique bezeichnet.59 Man kann dieses Prinzip 59 Vgl. den programmatischen Aufsatz von Philippe Sollers, der die grundlegende These von Tel Quel pointiert zusammenfasst und poetische Praxis und Revolution miteinander gleichsetzt, indem er die Zeichenpraxis als Basis und die Bedeutung als Überbau bezeichnet: »Les infrastructures (travail signifiant) sont déterminantes dans l’élaboration des superstructures (›significations‹) et le lecteur doit renverser sa lecture puisqu’il prend d’abord contract avec une surface dont il n’aperçoit pas les déterminations.« (Philippe Sollers: »Écriture et révolution«, in: ders. (Hg.): Tel Quel: Théorie d’ensemble. Choix. Paris 1980, S. 69-81, hier S. 80f.) Julia Kristeva sieht die Revolution der poetischen Sprache im Rückgriff der Dichtung auf

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Figuren der Drittheit allerdings auch mit Luhmann medientheoretisch und ohne revolutionäres Pathos formulieren. Praktisch lässt es sich ganz leicht umsetzen, etwa durch eine wortwörtliche Übersetzung, welche gleichfalls die Regeln der Zielsprache oder des Zielmediums außer Kraft setzt und damit in der Zielsprache eine lockere Koppelung von Elementen produziert, welche die Kontingenz der Gesetze der Kombination der Elemente (in) der Zielsprache sichtbar macht und damit gleichzeitig das Medium der Ausgangssprache als Form erscheinen lässt.60 Das ist auch der Grund dafür, warum Dichter häufig schlechte Übersetzer sind. Denn ihnen geht es gerade um die Materialität und Medialität der Sprache, die bei ihnen als Form erscheint. Dies darf allerdings bei einer Übersetzung nicht der Fall sein. Sie sollte von einer Sprache in eine andere, von einem Medium in ein anderes transportieren und daher das Medium in den Hintergrund treten lassen. Man darf es einer Übersetzung nicht anmerken, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Aber gerade das leistet Truffaut im Rahmen seiner intermedialen Übertragung zwischen Literatur und Film. Die Frage nach seinem Motiv stellt sich daher aus der Perspektive der Übersetzungstheorie neu.

6. DER AGON ZWISCHEN LITERATUR UND FILM Die Anekdote ist bekannt: Seinen Gewohnheiten folgend hatte Truffaut eines Tages in einer kleinen Antiquariatsbuchhandlung den Roman eines völlig unbekannten Autors entdeckt, den er zunächst nur wegen der im Titel enthaltenen Alliteration gekauft hatte. Truffaut war bei der Lektüre von der konzisen Syntax, dem poetischen und geradezu telegraphischen Stil sowie von der Tatsache fasziniert, dass ein Siebzigjähriger seinen ersten Roman über eine Liebesgeschichte verfasst hatte. Truffaut sah in dem Roman ein Beispiel für das, was das Kino bisher nie geschafft hatte, nämlich zwei Männer zu zeigen, die in dieselbe Frau verliebt sind, wobei alle drei Personen so sympathisch geschildert werden, dass der Rezipient nie geeine semiotische, vor-symbolische Zeichenpraxis, vor der Spiegelphase (Lacan), vor der Setzung von Sinn und Bedeutung (Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. Paris 1985, v.a. das Kapitel »Le Sémiotique et le symbolique«, S. 17-100.) 60 Zur Illustration ein Beispiel der wörtlichen Übersetzung morphosyntaktischer Koppelungen: »Aujourd’hui, il fait du soleil« würde nach diesem Prinzip als »Heute, es macht von der Sonne« übertragen werden, »Comment allez-vous?« als »Wie gehen Sie?«. Sprachlehrer setzen die wörtliche Übersetzung bisweilen ein, um Schülern, die nicht mit den Begriffen der Grammatik vertraut sind, einen ›direkten‹ Einblick in die grammatikalischen Konstruktionen der zu lernenden Sprache zu geben.

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Jochen Mecke zwungen wird, zwischen den Figuren Partei zu ergreifen (s.o.).61 Im Hintergrund dieser Begeisterung steht Flauberts impartialité als eine der großen Errungenschaften des realistischen Romans, eine ästhetische Haltung jenseits von Gut und Böse, die das Kino – zumindest laut Truffaut – bisher noch nicht verwirklicht hat. Später entdeckt Truffaut einen Film, der in der Lage ist, dies zumindest für einen kurzen Moment zu leisten. In seiner Kritik von The Naked Dawn von Edgar Ulmer schreibt er über Jules et Jim: L’essentiel réside surtout dans le rapport des personnages entre eux d’une finesse et d’une ambiguïté proprement romanesques. Un des plus beaux romans modernes que je connaisse est Jules et Jim de Henri Pierre Roché, qui nous montre sur toute une vie, deux amis et leur compagne commune s’aimer d’amour tendre et sans presque de heurts, grâce à une morale esthétique et neuve sans cesse reconsidérée.62

Jules et Jim sollte sich von der Dominanz der Moral befreien, ein Film jenseits von Gut und Böse, der für das Kino die in der Literatur bereits hundert Jahre zuvor vollzogene Emanzipation des Schönen vom Guten erreichen sollte. Abgesehen davon, dass Truffaut von Rochés Buch fasziniert war, ging es ihm jedoch noch um etwas anderes. Bereits in seiner Zeit als Filmkritiker der Cahiers du cinéma hatte er die tradition de la qualité vor allem deshalb gegeißelt, weil deren Drehbuchautoren Aurenche und Bost und deren Regisseure wie z.B. Jean Delannoy oder Claude Autant-Lara eine bestimmte Form der Literaturverfilmung praktizierten, die in der Regel berühmte Romane in Filmbilder übersetzte. Diese instrumentelle Form intermedialer Übersetzung bietet dem Film eine intermediale Legitimation, die vor allem darin besteht, den Bildern des Films das Laufen auf den Krücken prestigeträchtiger Literatur beizubringen.63 Bei Truffaut steht diese Kritik in einem agonalen Kontext der Emulation: Denn statt das junge Medium ›Film‹ durch das alte Medium ›Literatur‹ zu legitimieren, ist die Motivation bei Truffauts Kritik genau auf das Gegenteil ausgerichtet. Dies wird deutlich in seiner bereits erwähnten Kritik am sogenannten Äquivalenzverfahren (s.o.): Der Film bedarf weder der Krücken der Literatur, um sich zu legitimieren, noch braucht er auf sogenannte Verfahren äquivalenter Ersetzungen zu rekurrieren, um literarische Szenen, die für eine filmische Umsetzung scheinbar zu kompliziert und daher als nicht

61 Vgl. François Truffaut: The Naked Dawn, S. 179f. In Truffauts Filmkritik findet sich der erste Hinweis auf Jules et Jim. 62 Ebd. 63 Truffaut: Une certaine tendance, S. 211-229.

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Figuren der Drittheit drehbar angesehen werden, durch andere, ähnliche Szenen zu ersetzen.64 Der Film – und dies meint die Kritik Truffauts und seiner unter der Fahne der politique des auteurs versammelten Kampfgenossen vor allem – ist in der Lage, all das zu leisten, was Literatur vermag … und noch viel mehr! Und in der Tat verfilmte Truffaut zu Beginn seiner Karriere als Regisseur zumeist ›kleine‹, nicht anerkannte literarische Genres und Werke: einen Kriminalroman von David Goodis (Tirez sur le pianiste, 1960) und den Roman eines unbekannten Autors, der im Alter von mehr als siebzig Jahren seinen ersten Roman vorgelegt hatte. Erst der Film verhalf Rochés Buch zu einem nationalen und internationalen Erfolg. So konnte Truffaut in einem Interview mit Stolz auf das neue Selbstbewusstsein des neuen Mediums sagen: [S]ouvent, au cinéma, il y quelque chose d’immoral, c’est quand le cinéma s’empare d’un livre très connu, […] il y a toujours l’idée quand-même de profiter de la réputation d’un livre […] et là [avec Jules et Jim, J. M.], j’ai eu la satisfaction de faire l’inverse, [c’est-à-dire, J. M.] grâce au film de faire découvrir un chef d’oeuvre inconnu.65

Mit Jules et Jim hat Truffaut die Revolution der Literaturverfilmung vollzogen. Zwar ist bereits Truffauts zweiter langer Spielfilm Tirez sur le pianiste eine Literaturverfilmung, doch der Roman, der als Vorlage diente, stammte aus einem damals als minderwertig betrachteten Genre, einem Kriminalroman. Im Unterschied zu Jules et Jim wurde der Roman völlig vom Film überblendet. Aber Truffauts Strategie intermedialer Übersetzung zeigt sich bereits hier. Der Film geht nicht mehr auf literarischen, sondern auf eigenen Füßen, er befreit sich von der künstlichen inter- oder hypermedialen Veredelung durch berühmte literarische Werke und emanzipiert sich so von Literatur. Und so besteht die Literaturpolitik der Nouvelle Vague zunächst einmal darin, nicht auf berühmte literarische Werke zurückzugreifen, um dem Film zu einer künstlichen Aufwertung durch eine anerkannte Kunst zu verhelfen, sondern vielmehr darin, kleine, unbekannte und weniger legitime Gattungen wie zum Beispiel dem Kriminalroman angehörende Werke zu verfilmen, um die neue Eigenständigkeit zu dokumentieren. In Jules et Jim geht Truffaut noch einen Schritt weiter: Denn es handelt in diesem Fall nicht mehr um ein berühmtes, sondern um ein völlig unbekanntes literarisches Werk. Nicht mehr ein genre mineur bildet das Ausgangsme64 »Aurenche et Bost sont essentiellement des littérateurs et je leur reprocherai ici de mépriser le cinéma en le sous-estimant.« (Ebd., S. 219). 65 François Truffaut in: »Interview, Extrait de l’émission Yannick Bellon ›La Bibliothèque de Poche‹«, Bonustrack der DVD Jules et Jim, 00:04:38.

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Jochen Mecke dium, sondern eine hoch geschätzte Gattung wie der Roman. Das Ziel dieser Art von Übersetzungspolitik ist klar und deutlich: Nicht mehr der Film sollte auf den Krücken der Literatur laufen, sondern umgekehrt, ein literarisches Werk sollte durch den Film bekannt gemacht und legitimiert werden. Auch wenn Truffaut subjektiv andere Dinge vorrangig interessierten wie der lakonische Stil und die Wertfreiheit der Erzählung, kommt seinem Film objektiv die Funktion zu, das bis dahin hierarchische Verhältnis zwischen Literatur und Film revolutioniert und damit auch die Koordinaten für die Literaturverfilmung beträchtlich verschoben zu haben. Damit verdeckt die ›intermediale Übersetzung‹ des Buches von Roché eine viel tiefer liegende Übertragung, welche die Kategorien literarischer und filmischer Kommunikation verändert. Die grundlegendere Legitimationsstrategie, die sich unter dieser Ablehnung der künstlichen Veredelung des Films durch die Literatur verbirgt, liegt in der Konstruktion der filmischen Kommunikation nach dem Muster der Literatur: Der Film erhält dadurch einen Autor, den Regisseur, der die Welt der Bilder und Töne als Möglichkeit des Ausdrucks seiner Persönlichkeit auffasst, er wird mit einer symbolisch kodierten filmischen Botschaft ausgestattet, die sich auf die Geschichte des Films bezieht, und er wird rezipiert von einem filmästhetisch und filmhistorisch versierten Zuschauer, der in der Lage ist, all dies zu dekodieren, zu verstehen und zu interpretieren.66

7. DER FILM IM ZEICHEN DER LITERATUR Das Resultat der Übersetzungspolitik der Cahiers-Kritiker und späteren Nouvelle-Vague-Regisseure ist bekannt: Der Regisseur wird zum Autor, die Ökonomie reduziert, der Film wird lesbar, der Zuschauer zum Interpreten. Aus dieser intermedialen Übersetzungspolitik entsteht nicht nur der moderne Autorenfilm, sondern viel mehr: Der Film selbst bzw. das gesamte Feld filmischer Produktion wird vom bloßen Handwerk zur hohen Kunst, das Feld der Kinoproduktion wird nach dem Muster der Literatur zum relativ autonomen Feld künstlerischer Produktion. Man hat dieser Wende in der Filmkritik, die dann eine radikale Wende der europäischen Kinoproduktion nach sich gezogen hat, vorgeworfen, sie habe unter Rekurs auf den romantischen Geniebegriff ein Konzept von Autorschaft aus der Mottenkiste einer längst verabschiedeten und obsolet gewordenen Literaturtheorie geholt, um durch ein intermediales Recycling eine reaktionäre Wende in der Filmtheorie einzuleiten.

66 Vgl. dazu Mecke: Im Zeichen der Literatur, S. 97-123.

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Figuren der Drittheit Hier kann nun aber die Übersetzungstheorie einen spezifischen Beitrag zur Analyse der filmischen Autorentheorie leisten. Denn aus deren Perspektive betrachtet wird deutlich, dass eine solche Kritik verkennt, dass die Autorenpolitik ihre Kategorien zwar aus einem neoromantischen Reservoir konservativer literaturtheoretischer Begriffe schöpft, dass deren Funktion sich jedoch erheblich davon unterscheidet, da sie das Ergebnis eines intermedialen Übersetzungsprozesses ist. Die Kategorien medialer Systeme verändern bei einer intermedialen Übersetzung ihre Funktion genau so, wie Worte und Sätze dies bei einer interlingualen Übersetzung tun. Die Übertragung des Autors von der Literatur auf den Film entspricht daher genau dem, was in der Übersetzungstheorie als ›falscher Freund‹ bezeichnet wird, also jene Worte und – in diesem Fall – Begriffe, denen aufgrund von Interferenzen zwischen Ausgangs- und Zielsystem fälschlicherweise die gleiche Bedeutung zugeschrieben wird. Im Rahmen der kollektiven Produktions- und Rezeptionsweise des Films kann der Begriff des Autors nicht das Gleiche bedeuten wie in der Literatur: Nehmen wir das konkrete Beispiel der Verfilmung von Jules et Jim: Der Film hat ein Buch zur Vorlage, das von einem fremden Autor stammt. Damit entziehen sich Geschichte und Figuren dem Einfluss des Regisseurs. Das Drehbuch hat überdies Truffaut nicht allein, sondern zusammen mit Jean Gruault verfasst, die Kamera führte Raoul Coutard, der Produzent war Marcel Berbert, und schließlich haben Oskar Werner, Henri Serre und vor allem Jeanne Moreau den Film mindestens genauso geprägt wie Truffaut. Was kann Autorschaft im Film aber dann noch meinen? Im Rahmen der intermedialen Übertragung von der Literatur zum Film verliert der Autor seine traditionelle Stellung als allmächtiges Genie, das über sein Produkt frei verfügen kann. Ein Bereich allerdings steht ihm als Ausdrucksmittel frei zur Verfügung: Zwar herrscht er nicht über Figuren und Geschichte, doch die Bilder und Töne des Films kann er als Ausdrucksmittel nutzen.67 Auch wenn ein Bedeutungskern beim Übersetzungsprozess erhalten geblieben ist, der Autor als diejenige Instanz nämlich, die ein Werk als Mittel für den Ausdruck eigener Absichten, Intentionen, Emotionen oder gar der eigenen Persönlichkeit nutzt, so erfährt er jedoch einen beträchtlichen Bedeutungswandel. Pointiert formuliert: Übersetzt in das mediale System des Films hat die Ausrufung der Geburt des Autors als Regisseur eine ganz ähnliche Funktion wie die Verkündigung des Todes des Autors in der Literatur: Beide vollziehen sich im Zeichen zunehmender Autonomie des Signifikanten. 67 Zu diesem Punkt ausführlicher: Jochen Mecke: »Death and Rebirth of the Author: on a Specific Case of an Intermedial Chiasmus between Literature and Film«, in: Winfried Nöth (Hg.): Semiotics in the Media. State of the Art, Projects and Perspectives. Berlin u.a. 1997, S. 363-377.

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Jochen Mecke Während in der Literatur der Tod des Autors die Schrift und den literarischen Signifikanten etwa von der Dominanz der Autorenintentionen befreit – was will der Autor uns damit sagen? –, dient dessen Geburt im Film zu einer Befreiung des filmischen Signifikanten, das heißt der Befreiung von Bild und Ton von der Vorherrschaft des Prätextes, des Produzenten und des Drehbuchs und damit paradoxerweise von der Vorherrschaft der Literatur. Welche Konsequenzen ergeben sich aber aus den hier diskutierten Phänomenen für die Theorie der Übersetzung? Aus der Perspektive der intermedialen Übersetzung erscheint ihre interlinguale Schwester als ein Sonderfall neben intersemiotischen und intermedialen Übersetzungen. Vor dem Hintergrund intermedialer Differenzen erweisen sich substanzialistische Übersetzungstheorien als problematisch: Denn bei der intermedialen Übersetzung wird nicht eine Sache aus einem Kontext in einen anderen ›übersetzt‹ oder ›übertragen‹, ohne den eigenen Wesenskern zu verändern, so wie ein Gegenstand von einem Ufer zum anderen Ufer eines Flusses übergesetzt oder transportiert wird. Vielmehr vollzieht sich mit dem Element eine grundlegende Veränderung. Übersetzungen erweisen sich eher als Umsetzungen, als funktionale Äquivalente, die in einem anderen Kontext erzeugt werden. Darüber hinaus ist die Übersetzung nicht eine bloß zweistellige Relation von einer Ausgangs- und einer Zielsprache. Der Kontrast von intra- und intermedialer Übersetzung eröffnet die Perspektive eines allgemeinen Übersetzungsbegriffs. Dessen Koordinatensystem ist dann allerdings nicht mehr zwei-, sondern dreistellig. Denn neben Ausgangs- und Zielmedium, Zeichensystem und Sprache muss als drittes Element das Codesystem einbezogen werden, im Hinblick auf welches die Übertragung vorgenommen werden soll: Sind es sprachliche, literarische, audiovisuelle oder kinematographische Codes, die als Maßstab für die Übersetzung wirken? Bezieht man diese Codes mit in die Bewertung von Übersetzungen ein, so können sich auch Übersetzungen, die eigentlich »hinken« – wie zum Beispiel die Übertragung des Autorenbegriffs auf den Film – als äußerst effizient erweisen. Die traditionelle Darstellung der Übersetzung als Pfeil, der zwischen Ausgangs- und Zielsprache verläuft, müsste zu einem translatologischen Dreieck erweitert werden, das alle Arten von Codes und Strategien mit einbezieht, wie zum Beispiel im Fall der Nouvelle Vague die Filmliterarisierung als Strategie zur Umwandlung des Films selbst von einem Handwerk in eine Kunst.

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen – Lost in Translation MARIA OIKONOMOU

I. HE FLIPS THROUGH TV CHANNELS FROM THE REMOTE CONTROLE. HE PASSES A JAPANESE GAME SHOW, TO AN 80’S [...] MOVIE WITH HIM IN IT DUBBED INTO JAPANESE1 Zu Beginn von Lost in Translation (Sofia Coppola, 2003) sieht der Zuschauer die Hauptfigur des Films aufwachen. Allerdings ist dies kein morgendliches Erwachen in der vertrauten Realität, sondern ein nächtliches Erwachen in einem Wunderland. Im Taxi auf dem Weg vom Tokioter Flughafen zu seinem Hotel findet sich der Schauspieler Bob Harris (Bill Murray) inmitten einer in mannigfaltigen Farben glühenden Welt, die einzig aus Zeichen zu bestehen scheint.

Bob Harris im Reich der Zeichen2 1

Sofia Coppola: Script von Lost in Translation (Version 02.09.2002), Szene 14; online: http://www.dailyscript.com/scripts/lost_in_translation.pdf

2

Die Bildzitate des Beitrags sind ausnahmslos der DVD-Edition von Lost in Translation, Süddeutsche Zeitung Cinemathek, 2006, entnommen.

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Maria Oikonomou Schriftzeichen auf überdimensionierten Bildschirmen, Neonbuchstaben, leuchtende Wortcluster – die ganze Stadt wirkt wie ein großer Text; ein Text jedoch, der nicht zu entziffern ist. So reibt sich Bob Harris die Augen, wie einer es tut, der erwacht und halb noch im Schlaf die unscharfe Welt um ihn her nicht versteht. Er blickt durch die Seitenscheibe, und seine Lippen bewegen sich, als versuchte er im Stillen das Zeichengefunkel zu lesen, das nicht zu lesen ist. Ins Bild gesetzt, so ließe sich behaupten, ist dies das Argument von Roland Barthes, wie er es nach einer Japanreise in seinem Buch Das Reich der Zeichen vertritt.3 Für Barthes werden die Phänomene der japanischen Alltagskultur zum Arsenal, aus dem er vereinzelte Elemente und – wie er sagt – »eine gewisse Anzahl von Zügen« herausgreift, um sie zu einem System zu ordnen, das er ›Japan‹ nennt.4 Anders aber als die Mythen des Alltags, in denen ja ein Zeichen, also der Zusammenhang zwischen Bedeutendem und Bedeutetem, zum Element eines nächsten, eben des mythischen Zeichens wird und die Lektüre so eine Bedeutungsebene hinzugewinnt,5 verfügt Barthes’ ›Japan‹ über keinen solchen semiotischen Mehrwert. Im Gegenteil: Das ›Japan‹ genannte System besitzt noch nicht einmal ein Signifikat. Dem Lesenden wird etwas gezeigt, was nichts bedeutet; ihm wird nichts gezeigt. Das fremde und befremdende Symbolsystem ist nichts als reines Spiel des von seiner Bedeutung befreiten Signifikanten. Das allerdings bewirkt, dass dessen ganze Sinnlichkeit umso leuchtender hervortritt, dass dessen Physis vor dem nächtlich dunklen Grund der Struktur aufleuchtet, so dass man sich nur die Augen reiben kann. Natürlich haben wir es bei der beschriebenen Szene mit einem synekdochischen Bild zu tun. Das Schriftzeichen, die nicht entzifferbare Leuchtreklame ist für sich wiederum ein Signifikant, der in dem System Lost in Translation die Unlesbarkeit der ganzen fremden Kultur meint. Es ist eben nicht nur das konventionelle Zeichen, die Schrift oder die Sprache, die sich dem Reisenden nicht erschließen, sondern schlichtweg jede Äußerung der ihn umgebenden Wirklichkeit, die Rituale, Formeln, Artefakte und Verhaltensweisen. Beispiele dafür sind schnell genannt, zum einen die natürliche Sprache: Bob Harris versteht kein Wort von den Regieanweisungen des japanischen Regisseurs, der ihn in einem Werbespot für SuntoryWhisky auftreten lässt. Und auch in der Übersetzung dieser Anwei3

4 5

Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt/M. 1981. Japan als angeblich radikal fremdes Zeichensystem ist ebenso Gegenstand von Uta Schaffers: Konstruktionen der Fremde. Erfahren, verschriftlicht und erlesen am Beispiel Japan. Berlin, New York 2006. Ebd., S. 13. Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M. 1996, S. 88f.

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen sungen durch eine sichtlich überforderte Dolmetscherin zeigt sich, dass die eigentliche Botschaft den Vermittlungsversuchen zum Opfer fällt: the message is lost in translation, wenn – als selbstironische Variante des wohl abgedroschensten Translations-Ulks – aus einem mäandernden Redeschwall des Regisseurs in der Übersetzung der denkbar knappste Imperativ wird: »Turn to camera!« Was sich stattdessen in den Vordergrund drängt, sind Geste und Laut, der professionelle und coole Beschwörungstanz des Regisseurs und die Modulation seiner inspiriert-kantigen Wortbrocken: die Sinnlichkeit des leeren Signifikanten. Ebenso wenig versteht Bob den schrillen Plastikmonolog des blondierten Showmasters, in dessen Fernsehsendung er sich als der Stargast des Abends verirrt hat. Verloren steht er der anfallartigen guten Laune und den Sprachlawinen des Moderators gegenüber, und wiederum ist es – in Ermangelung eines decodierbaren Inhalts – das Performative der Äußerung, das alles andere verdrängt und sich in seinem rätselhaften Sagen von Sinn emanzipiert. Wiederum ist es ein Tanz, sind es einige wenige Schritte eines Modetanzes, an dessen Ende der TV-Moderator für einen Moment in beinahe klassischer Pose erstarrt. Jeder dieser ›Tänze‹ markiert, dass hier statt der Wortbedeutung die Körperlichkeit des Signifikanten herrscht, das Zeichen in seiner bloßen Erscheinungsweise. Und auch die Begegnung Bobs mit dem merkwürdig kindlichen und geschlechtslosen Greis (der Greisin?) im Wartesaal eines Tokioter Krankenhauses entspinnt sich als Unterhaltung, die sich zunächst ausschließlich auf den Lautanteil des gesprochenen Wortes stützt, während dessen Begriffsanteil vollkommen abgesondert wird. Das Gespräch ist ein Austausch von Silben, reine Phonetik ohne jede erkennbare Semantik, reine Sinnlichkeit ohne erkennbaren Sinn.

Lediglich die Geste, die diesen Austausch beschließt, lässt sich – paradoxerweise – auch als dessen sinnvolle Bezeichnung verstehen: 159

Maria Oikonomou Indem zuerst der alte Mann und daraufhin Bob Harris mit dem Finger einen Kreis in der Luft beschreiben, scheinen sie auf das Zirkuläre eines Signifikanten zu weisen, der nichts denotiert als sich selbst, oder auch auf die Leere, die sich an die Stelle des Signifikats gesetzt und sie in eine ›Nullstelle‹ verwandelt hat. Freilich handelt Lost in Translation nicht nur von scheiternder Verständigung und mangelnder übersetzerischer Äquivalenz zwischen zwei Kulturen oder natürlichen Sprachen. Übersetzung – so viel ist spätestens seit Schleiermachers Abhandlung »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens« bekannt – vollzieht sich nicht nur in der Kommunikation zwischen den Sprachgemeinschaften: Wenn auf der einen Seite dadurch Menschen in Berührung kommen können, welche ursprünglich vielleicht um den Durchmesser der Erde von einander entfernt sind [...]: so dürfen wir auf der andern Seite nicht einmal über das Gebiet Einer Sprache hinausgehen, um dieselbe Erscheinung anzutreffen. [...] Ja sind wir nicht häufig genöthiget, uns die Rede eines andern, der ganz unseres gleichen ist aber von anderer Sinnes- und Gemüthsart, erst zu übersetzen?6

Wenn zuvor die nächtliche Landschaft aus Leuchtschrift und Neonzeichen als Synekdoche für das Unentzifferbare der fremden Kultur gelten durfte, so wird an diesem Punkt deutlich, wie das ganze im Film dargestellte Land Japan, besser: wie eine »gewisse Anzahl von Zügen«, die hier das filmische System ›Japan‹ ergeben, ihrerseits zur Synekdoche für eine viel grundsätzlichere Art der Fremdheit geraten. Kurz gesagt: Fremd ist dem Amerikaner nicht allein der Japaner, fremd ist ihm ebenso seinesgleichen. So kommt es, dass etwa die Verständigung zwischen Bob Harris und seiner Ehefrau mehr als einmal scheitert. Auch sie basiert auf konventionellen Zeichensystemen, die im Übertragungsprozess von einem Individuum zum anderen alle Signifikanz einbüßen. Die Ehefrau schickt Bob ein FedEx-Paket über den Ozean nach Japan, das eine ganze Anzahl von Farbmustern für den Teppich im heimischen Arbeitszimmer enthält; dazu eine Notiz mit der Bitte, die für das Büro geeignetste Farbe herauszusuchen, obwohl ja ihr – der Ehefrau – das Burgunderrot am besten gefalle. Welche aber, so rätselt Bob Harris angesichts der vielen roten Teppichfliesen, ist die burgunderrote? Offenbar setzt sich nicht lediglich die fremde Kultur aus asignifikanten Zeichen zusammen, sondern im selben Maße das scheinbar Vertraute. Das Wort »Burgunder« wird zu einem referenzlosen Klang, umso mehr, als es das durch es Bezeichnete, die Teppichfarbe, 6

Friedrich Schleiermacher: »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens«, in: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt 1963, S. 38-70, hier S. 38.

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen nicht von den übrigen Farben zu unterscheiden hilft und damit mehrere potenzielle Referenten besitzt, sondern auch weil die Muster ihrerseits Zeichen sind, die weiter verweisen auf etwas anderes, nämlich auf die bloße Idee eines räumlich abwesenden, mit rotem Teppich ausgestatteten Arbeitszimmers. Und während Charles Sanders Peirce seine Kategorie der Erstheit als etwas definiert, was so ist, wie es ist, ohne sich auf etwas anderes zu beziehen, und als Beispiel gerade die Farbe Rot wählt,7 so zeigt sich hier, dass die Farbe Rot und das Wort »Burgunder« eben den Abstand zwischen einer Erstheit und einer Drittheit, auch zwischen einem Ikon und einem Symbol ausmessen und dabei alle Übersetzbarkeit in Frage gestellt wird. Auch die Telefongespräche zwischen den beiden kranken – so ließe sich sagen – an unscharfen Bezeichnungen, die sich der Translation in den Weg stellen. Von der Farbe des neuen Teppichs im Arbeitszimmer ist die Rede, von japanischem Essen, das der vielen Pasta vorzuziehen sei (die Klarheit der Suppen, der erholsame Mangel an Tiefe des Sukiyaki, seine unvermischte Bedeutungslosigkeit).8 Aber den Signifikanten dieses fernmündlichen Austauschs über alles Mögliche das rechte Signifikat zuzuordnen, oder vielmehr dem reinen Denotat von Auslegeware und rohem Fisch das hier viel wichtigere Konnotat an die Seite zu stellen, nämlich grausame Vereinzelung im Ehealltag, Überdruss, Müdigkeit und das Ausbluten aller Zuneigung, das misslingt immer wieder – eben die Übersetzung der Rede eines Menschen »von anderer Sinnes- und Gemüthsart«. Schließlich bemerkt Friedrich Schleiermacher: »Ja unsere eigene Reden müssen wir bisweilen nach einiger Zeit übersetzen, wenn wir sie uns recht wieder aneignen wollen.«9 Und welches treffendere Bild ließe sich für die Übersetzung der eigenen Rede ins eigene Verständnis finden, und wie ließe sich zugleich besser zum Ausdruck bringen, dass eine solche Übersetzung an Selbstentfremdung und Selbstaufgabe scheitern mag, als durch Bob Harris, der in einem alten Spielfilm im Fernsehen auf sein japanisch synchronisiertes Alter ego stößt und von seinen eigenen Worten nun kein einziges mehr verstehen kann. Ob also in der Begegnung mit dem fremden Land, seiner Sprache und seinen Eigenarten, ob im Umgang zweier Individuen, die denselben kulturellen Hintergrund teilen, ob in der Aus7

8 9

»Diese Röte ist eindeutig, was sie ist. Ein Kontrast mag unser Bewußtsein von ihr verstärken, aber die Röte ist nicht relativ zu irgend etwas anderem, sie ist absolut und eindeutig. [...] Sie ist für sich genommen, in der Tat eine bloße Möglichkeit.« Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. von Helmut Pape, Frankfurt/M. 1983, S. 56. Vgl. Barthes Ausführungen zur japanischen Kochkunst in: Reich der Zeichen, Kapitel 4-7. Schleiermacher: Methoden des Uebersezens, S. 38 (Hervorhebung: M. O.).

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Maria Oikonomou einandersetzung mit dem eigenen Selbst – stets interveniert die Sprache, und stets versagt die Übersetzung. Was die Translationswissenschaft ›Relativismus‹10 nennt – die grundsätzliche Inkommensurabilität zweier Denkweisen und Weltsichten, die sich in der Unübersetzbarkeit der aus ihr entspringenden Sprachen äußert, und genauso die grundsätzliche Inkommensurabilität zweier Sprachen, die in der Verschiedenheit der aus ihnen entspringenden Denkweisen und Weltsichten resultiert – der Relativismus also ist in Sofia Coppolas Film nicht nur auf das Interlinguale beschränkt, sondern erstreckt sich auf das Interkulturelle, das Intersubjektive und auf das Intrasubjektive. Lost in Translation entwirft eine Welt, in der alle Übersetzung und damit alles Verstehen misslingt.

II. HE TRIES WIGS ON HER. HE PUTS A LIGHT PINK WIG ON HER AND BEAMS. BOB SMOKES AND WATCHES11 Das aber – der Relativismus und die Unübersetzbarkeit – bildet nur den Boden, auf dem der Film seine Utopie ansiedelt. Indem er nämlich Sprache und Schrift als stumpfe Instrumente der Kommunikation präsentiert, träumt er zugleich davon, auf einer Ebene unterhalb der bewusst einsetzbaren Zeichensysteme weniger offenbare alternative Verständigungs- und Übersetzungskanäle zu öffnen. Mehr noch: Lost in Translation träumt nicht nur von der Überwindung des strikten Relativismus in einer übersetzerischen Praxis, sondern von einem alles einenden Universalismus, der – ganz wie die Tiefenstrukturen als Basis der Generativen Transformationsgrammatik eines Noam Chomsky12 – seine Matrix unterhalb des manifesten Sprachaustausches besitzt. Das heißt, der Film begibt sich auf die Suche nach einer Ebene des Verstehens, die nicht von arbiträrer Sprache abhängt, sondern sich auf Gemeinsamkeiten des Denkens und Auffassens in einem vorsprachlichen Bereich stützt. Wie man jedoch auch Chomsky entgegenhalten kann, dass die Stufe der Abstraktion, auf der sich jene unkonkreten vorsprachlichen Universalien fänden, kaum zu bestimmen sei – zumal sie sich ja gerade aller sprachlichen Festlegung entziehe –, so scheint auch der Film gezwungen, mehrere solcher Ebenen oder Tiefenstrukturen als Alternativen des Sprachlichen zu durchlaufen, um gleichsam im Versuch diejenige Stufe auszumachen, auf der Kommunikation glücken kann: Eine dieser Ebenen, und im Film die fraglos zunächst wichtigste, ist diejenige des Acting.

10 Zum Begriff des Relativismus bzw. Monadismus, siehe Kapitel II »Language and Gnosis«, in: George Steiner: After Babel. Oxford 1998, S. 76-97. 11 Coppola: Script, Szene 61. 12 Vgl. besonders Noam Chomsky: Syntactic Structures. Den Haag 1957.

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen Erste Voraussetzung des Acting ist, von aller (sprachlichen) Vermittlung unabhängig zu sein. Derweil mag man zwar annehmen, dass Bob Harris als erfolgreicher Schauspieler über ein wohlfunktionierendes Ausdrucksrepertoire verfügt. Aber sein Schauspielen ist zumeist noch ans Wort gebunden, an das seines Regisseurs, der Anweisungen in fremder Sprache erteilt, und an die darauf folgende und sekundäre Übersetzung dieser sprachlichen Anweisung in Geste und Mimik, die somit immer auf das Wort reagieren, aus ihm entspringen und auf es zurückweisen. Darüber hinaus lässt sich die Vermitteltheit des Audrucks besonders dann nicht übersehen, wenn die Regieanweisung vom Schauspieler Bob Harris verlangt, den Schauspieler Roger Moore zu imitieren. Durch die Sprache des Regisseurs und zudem durch den Gestus des Vorbilds gefiltert, verliert hier das Schauspiel alle ihm vielleicht mögliche Direktheit und Spontaneität. Es gerät zur unbeholfenen und schlaksigen Pose, es hat sich vom Körper gelöst, nutzt ihn bestenfalls als Ausdrucksmedium, statt ihm zu entspringen und damit im Moment des Acting die Körpersprache erst zu ›erfinden‹. Das echte Acting, der Ausdruck, der die Sprache durch den Gestus ersetzt, will also erst gelernt sein. Und es hat tatsächlich den Anschein, als mache sich Bob Harris im Verlauf des Films mit den expressiven Möglichkeiten seiner Leiblichkeit bekannt. Zuerst noch ungeübt, kämpft sein Körper im Badezimmer mit dem zu niedrig montierten Duschkopf, im Fitness-Raum des Hotels mit dem Trainings-Laufband, das sich nicht mehr abschalten lässt. Hier mündet der Umgang mit dem Leib vor allem in ein Ausstellen seiner Unzulänglichkeiten, Beschränkungen und Mechanik – in den Slapstick, der (mit Henri Bergson) ja nichts anderes ist als das Scheitern des Leibes an der eigenen und der umgebenden physischen Bedingung, die seine Bewegung dem Maschinellen sowohl aussetzt als auch annähert. Nach der ersten Begegnung mit Charlotte (Scarlett Johansson), der jungen Frau, die seinen Lernprozess einleitet und begleitet, beginnt er allerdings unvermittelt und recht ziellos, den Körper auf die Aufgabe wortloser Verständigung zu stimmen: Nachdem sich die spiegelnden Türen im Fahrstuhl des Hotels vor seinem Gesicht schließen, kann er nicht umhin, in diesem Spiegel sich selbst stumm und noch ratlos als eine Ausdrucksfläche wahrzunehmen und spontan ein Lächeln zu versuchen. Dieses Lächeln aber – und daher ist das Ziellose der Mimik keineswegs unerheblich – dient nicht höflicher Konvention. Vielmehr erscheint es auf oder gar aus seinem Gesicht als ein ungewolltes und absichtsloses Phänomen. Auch im Falle Charlottes, die genau wie Bob Harris besonders im Austausch mit ihrem Ehepartner die Grenzen der Sprache und des Verstehens schmerzhaft kennen lernt, lässt sich ein ähnlicher Impuls der Aneignung des Körpers in Richtung auf ein intentionslo-

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Maria Oikonomou ses Acting feststellen. Einerseits ist sie es, die – im Gegensatz zu Bob – das Hotelgebäude ein um das andere Mal verlässt, um mit einem durchsichtigen Regenschirm in der Hand die Straßen der Stadt zu durchstreifen. Dies schon wäre als der Versuch der Lektüre des Fremden und seiner Zeichen zu verstehen, als das Lesen von Spuren und Äußerungen der japanischen Kultur im Habitus des Benjamin’schen Flaneurs, der auf dem Asphalt botanisieren geht.13 Andererseits sind es stets die Momente ritualisierten Verhaltens, das Kostüm, das regelvolle Gebaren, Positionen, Formen und Formulierungen des in Szene gesetzten Körpers, die sie in Bann schlagen. In Tokio bewundert sie die gemessene Zeremonie, die Mönche in einem Shinto-Schrein abhalten; in Kyoto beobachtet sie während einer traditionellen Hochzeitsfeier den Bräutigam Hand in Hand mit der kalkweiß geschminkten Braut; in einem Spielsalon begegnet sie Jugendlichen, die die Videospiele zum Anlass einer ebenso ungeplanten wie ästhetisierten Selbstdarstellung nehmen und vor den Geräten in Pose und Tanz verfallen.

Wortlose Codes: Zeremonie und Pose

All dies ebenso stumme wie expressive Augenblicke, in denen der Körper – durch ein drapiertes Kostüm, durch eine stilisierte Bewegung – aus dem Allgemeinen in einen Gestus aufzusteigen beginnt und eine besondere, zuweilen festgeschriebene, zuweilen aber auch unkodierte Signifikanz erhält. Zwar ist auch die Hochzeit eine Symbolanordnung, ein Zeichenensemble, das wie ein Text gelesen werden will, aber sie markiert bereits den Beginn des Wegs, der (über die Selbstdarstellung des japanischen Pop-Mod-Punk) hinausführt aus dem Bereich arbiträrer Signifikanz und vielleicht hin zu einem unbedachten und doch ausdrucksvollen Spiel der Performanz. Und heimgekehrt, steht nun auch Charlotte vor dem Spiegel in ihrem Zimmer und malt sich die Lippen rot ... Nachdem sich Charlotte und Bob so mit dem Acting vertraut gemacht haben, scheinen sie und der Film sich auf diese neue Art der 13 Walter Benjamin: »Charles Baudelaire: Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.2. Frankfurt/M. 1972, S. 511-604, hier S. 538.

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen Verständigung außerhalb geregelter Sprach- und Zeichensysteme zu einigen. An die Stelle des Gesprächs, an die Stelle der Schrift treten jetzt Geste, Pose, Rolle, die freilich ebenso ›unmotiviert‹ erscheinen wie ein konventionelles Zeichen, die hingegen dessen bloßen Status der Übereinkunft hinter sich gelassen haben: Bedeutung ist hier dem ›Zeichen‹ nicht mehr unbedingt strukturell zugeordnet und ein Effekt des Systems, in dem es auftritt; sie ergibt sich stattdessen vieldeutig aus der Äußerung selbst – aus ihrer unvorhersehbaren Erscheinungsweise, aus der Form, der Farbe, der Kostümierung und Inszenierung dessen, was geschieht und doch auch als Zeichen fungiert. Aus der resignativen Haltung gegenüber der Sprache entsteht so die resignierte Fröhlichkeit des Acting, das die Sprache abstreift und eine alternative Form des Interagierens darstellt: Charlotte und Bob schließen sich einer Gruppe junger Japaner zum nächtlichen Streifzug durch Tokio an. Die ganze Nacht steht im Zeichen des Acting, das eine Gemeinschaft produziert, in der keinerlei sprachliche Übersetzung mehr möglich oder notwendig und der Traum vom Universalismus wahr zu werden scheint. Alle verkleiden sich, Bob Harris tritt in grellgelbem T-Shirt auf, Charlotte in metallic-pinkfarbener Perücke, im Lichtregen der Bars ist Sprache einerlei, in einem Bonny-und-Clyde-Act stürmt man durch die nassen Straßen auf der Flucht vor dem funkensprühenden Spielzeuggewehr eines Lokalbesitzers, der den Aufgebrachten mimt, in sorgloser Pose greift man zum Mikrophon und singt schief zur Musik aus der Karaoke-Maschine, deren zufällige Worte eben nicht die eigenen sind und also mit derselben Wahrscheinlichkeit sinnlos oder bedeutungsschwanger sein können: »Gonna use my arms, gonna use my legs, gonna use my style, gonna use my side-step ...« (The Pretenders: Brass in Pocket). Zudem wird deutlich, wie durch solches Acting auch die Sprache ihren Problemcharakter verliert. Sie wird zu einem Teil der Darstellung und funktioniert damit nicht mehr als herkömmliches Zeichensystem, sondern als paritätischer Teil eines neuen Verständigungsverfahrens. Nun ist sie Element eines körperlichen Agierens, zu dem die Darstellung gegenseitigen Verstehens ebenso gehört wie die Parodie – oder vielmehr Pastiche – gegenseitigen Unverständnisses. Bob Harris sitzt also am Tisch einer Bar und unterhält sich angeregt mit seinem Gegenüber, der japanisch auf ihn einredet; die Antwort, der Einwand, die Replik ergeben hier die Imitation eines Gesprächs, scheinen aber auf einer anderen Ebene, im Bereich der Tiefenstruktur der Kommunikation, einen tatsächlichen, wenn auch schwer zu definierenden Austausch beziehungsweise die Adäquatheit der Übersetzung zu gewährleisten. Ähnliches trifft nun auch zu für die bereits angesprochene Szene, in der sich Bob im Warteraum der Klinik mit dem alten Mann unterhält. Wiederum spricht dieser

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Maria Oikonomou nur Japanisch, während sich Bob darauf verlegt, sein Nicht-Verstehen als Spielszene auszuagieren. Sein Acting legt es darauf an, dem anderen den Amerikaner, der der Sprache nicht mächtig ist und daher zu Lautmalerei und Gestik Zuflucht nimmt, vor Augen zu führen. Es geht nicht um den Ausdruck des Unverstehens, sondern um die Darstellung des Ausdrucks des Unverstehens – zum einen also um Metazeichen, zum anderen aber um ein unvermitteltes Verstehen des Fremden als solchen und um ein Einverständnis jenseits des Wortes. So bekommt der Kreis, den die beiden durchaus vergnügt mit dem Finger in die Luft zeichnen, noch eine weitere Bedeutung. Er ist nicht mehr Leerstelle und Null, er ist die Geste des Zusammenfassens, auch das Gestische, in dem sich die Individuen treffen, ein Zeichen der Konnexion individueller Punkte durch die Bande gemeinsamer subsprachlicher Tiefenstruktur, ein Zeichen des Universalismus. Es lässt sich jedoch auch einiges einwenden gegen das Acting als Methode des Verstehens und damit als universalistisches und universales Übersetzungsverfahren. Denn einerseits mag der Leib als Instrument des Acting jenseits bewusster Aktivität siedeln, mögen sich leibliche Empfindungen und Handlungen jenseits der bewussten Kontrolle vollziehen, da – wie Bernhard Waldenfels es ausdrückt – »die leibliche Spontaneität [...] eben gerade dadurch charakterisiert [ist], daß etwas mit mir beginnt, bevor ich beginne«.14 Aber das Acting scheint demgegenüber doch immer auch intentional zu funktionieren. Stets besitzt es einen varianten Grad an Bewusstheit, wenn das Acting eben ›darauf zielt‹, etwas jenseits der Sprache auszuagieren, mehr noch, wenn es sich des Zitats bedient und damit vollends in den Bereich des Symbolischen übergeht. Meist ist es ja das Aufrufen einer Konnotation oder der Verweis auf popkulturelles Allgemeinwissen, die jenes Körperspiel bestimmen. Es beginnt vielleicht zunächst in absichtsloser Bewegung, einer zufälligen Geste, die sich noch kaum bewusst ist, der Keim einer ›Szene‹ zu sein; aber bald gerät die Geste zur Rolle, die sich gewisser Versatzstücke bedient – einer pinkfarbenen Perücke oder einer Plastikpistole –, um durch sie auf kulturelle Stereotypen zu verweisen. In vielen Momenten nähert sich so das Acting der Sprache. Beide setzen am Ende die Konvention voraus. Was in Lost in Translation beide voneinander trennt, ist, dass im Sprechen das Verstehen scheitert und in der körperlichen Darstellung dieses Scheitern zwar fortbesteht, aber zugleich auf fröhliche und sorglose Weise gefeiert wird. Nichtsdestoweniger formuliert der Film die Utopie eines Universalismus und einer transkulturellen und auch transindividuellen 14 Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt/M. 2000, S. 194.

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen gemeinsamen Verstehensmatrix, die sich jenseits der konkreten natürlichen Sprache findet. Nur scheint diese Matrix auf einer so abstrakten Ebene angesiedelt, dass sich ihre Benennung schwierig gestaltet – nicht nur im sprachlichen Zeichensystem, dessen sich der vorliegende Text bedient, sondern genauso im filmischen Zeichensystem, dessen sich Sofia Coppola bedient. Anders ausgedrückt: Die Übersetzung und die Kommunikation glücken auf einer Ebene, die dem Zeichenhaften derart fern ist, dass ein Zeichensystem sie kaum auszudrücken vermag. Das wiederum setzt voraus, dass die glücklichen filmischen Momente der Kommunikation, in denen nichts in der Übersetzung verloren geht, in denen die Utopie verwirklicht scheint, keine Sprache verwenden oder dort zumindest die Sprache in den Hintergrund tritt, um für einen außersprachlichen Austausch Platz zu machen. Und tatsächlich sind derlei Momente, in denen sowohl Sprache als auch Körper gleichsam stillgestellt sind, im Film leicht auszumachen. Wenn Bob Harris nach durchfeierter Nacht Charlotte in deren Zimmer trägt, auf das Bett legt und zudeckt, erleben beide – neben dem müden und kindlich-dankbaren Lächeln des Mädchens und dem großzügig-bedauernden Gesichtsausdruck Bobs – eine Übersetzung ineinander, die kaum selbst der Mimik bedarf. Bei anderer Gelegenheit liegen sie gemeinsam auf einem Hotelbett, sprechen über das Scheitern der Übersetzung in versagenden Beziehungen (Bobs Ehe) und über das Scheitern des Ausdrucks in künstlerischen Medien (Charlotte, die sich erfolglos im Schreiben, Malen und Photographieren versucht hat), doch es sind nicht die Worte, die hier das Gelingen der Kommunikation garantieren, ebenso wenig die Körper, die – in Aufsicht gefilmt – parallel nebeneinander staffiert sind.

Nichts darstellen – nur liegen

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Maria Oikonomou Stattdessen scheint es das langsame ›Versickern‹ des Gesprächs, das dem Verstehen Raum schafft. Indem sich zwischen Satz und Entgegnung immer längere Pausen schieben, bis ein Gesprächszusammenhang kaum mehr auszumachen ist und die Unterhaltung in die Stille hineintreibt, wird die Übersetzung zwischen Charlotte und Bob in dem wohl ›verständnisinnigsten‹ Moment des Films erst möglich. Und als sich beide nach einem nächtlichen Feueralarm im Morgenmantel vor dem Eingang des Hotels wiederfinden, ist es ein absichtsloser und einverständiger Blickkontakt, der sie zusammenbringt, damit sie im kurzen Gespräch einige Belanglosigkeiten austauschen, in Wahrheit aber, damit zwischen ihnen etwas wie wortlose Übereinkunft eine unsichtbare Form gewinnt. Danach sitzen sie in der Bar, halten des anderen Hand und schweigen, während – offensichtlich, obwohl unsichtbar – rege und vollends unmissverständliche Kommunikation zwischen ihnen stattfindet.

III. BOB’S P.O.V.– TOKYO GOES PAST HIS WINDOW. FADE TO BLACK15 Was Lost in Translation also als Utopie formuliert, ist ein Verstehen, das der Übersetzung erst gar nicht oder nicht mehr bedarf, da an diesem Austauschprozess keine Zeichensysteme beteiligt sind. Weder Schrift, die nicht entzifferbar, noch Sprache, die unverständlich, noch auch der Körper, der selbst gerne zum Zeichen gerät, stellen hier die Ebenen, auf denen der Universalismus der Filmhandlung beruht. Vielmehr geht Lost in Translation zurück bis zum Schweigen, das sich dem verstörenden Geplapper der Metropole Tokio als dem Bild einer allgemeinen postmodernen conditio entgegenstellt. Das ähnelt in seiner vielleicht ein wenig esoterischen Innerlichkeit und in seinem Idealismus gar der mystischen Lehre eines Angelus Silesius, über die George Steiner vermerkt: Das kosmische Wort kann in keiner der bekannten Sprachen entdeckt werden; die Sprache nach Babel kann nie dorthin zurückführen. Der Lärm der menschlichen Stimmen, so geheimnisvoll vielfältig und verwirrend, schließt den Klang des Logos aus. Dorthin gibt es keinen Zugang, außer durch das Schweigen. So sind für Silesius die Tauben und die Stummen unter allen lebenden Menschen der verlorenen Sprache Edens am nächsten.16

Und geht es bei Silesius auch um die Vereinigung mit dem Himmelreich und um Sprachmystik, die die Welt vom Sündenfall reinigt, und bei Sofia Coppola scheinbar um weniger, um die vergleichsweise simple Verständigung zwischen den vom ennui geplagten post15 Coppola: Script, Szene 118. 16 Steiner: After Babel, S. 65.

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen modernen Menschen, so lässt die letzte Szene des Films doch ahnen, dass sich die Ansprüche auf Erlösung in diesen beiden ›Modellen des Schweigens‹ tatsächlich nicht so sehr unterscheiden: Bob Harris, in seinem Wagen bereits auf dem Weg zum Flughafen, erspäht Charlotte in einer Menschenmenge auf der Straße, lässt anhalten, spricht sie an, und während der ersten geglückten Umarmung der beiden flüstert er ihr etwas ins Ohr, das sie gleichzeitig zum Weinen und Lachen bringt und die bisherige Befangenheit und Unsicherheit von ihnen abfallen lässt. Ein mächtiges Wort, das dergleichen bewirkt! Ein Wort jenseits der alltäglichen Sprache, gar kein ›Wort‹ mehr, und wenn doch, dann eben das eine einzige, mit dem – wie bei Silesius – die Welt des Films ihre vormals zerbrochene Einheit wiederfindet. Mit der letzten Szene findet der Film zur Erfüllung seiner Utopie, zum unsprachlichen Wort, das die beiden Protagonisten vollkommen in eins setzt und jede Übersetzung überflüssig macht.

Diese letzte Szene wirft eine zentrale Frage auf, nämlich die nach der medialen Vermittlung des vorgeblich Unvermittelten und Unzeichenhaften. Sie tut das, indem sie uns, die Zuschauer, zwar sehen und hören lässt, dass Bob Charlotte etwas zuflüstert, uns aber vorenthält, was er ihr zuflüstert. Dies könnte man darauf zurückführen, dass der Film am Ende selbst versucht, sich durch Verzicht des konventionellen Zeichens auszudrücken: Die Utopie von Lost in Translation wird von der inhaltlichen auf die formale Ebene gehoben, indem sich das Bild verständlich macht, ohne zu sprechen. Das wiederum bedeutet, dass der Film an dieser Stelle über die Vermittlungsstrategien des Kinos, über seine Medialität und seine »Universalität« reflektiert und darin vielleicht sogar zu einem Verständnis zurückkehrt, wie es bereits Béla Balázs in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts formuliert hat. Denn mit der Erfindung des

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Maria Oikonomou Kinematographen sieht Balázs die Universalsprache der Menschheit wiedergefunden und den Fluch der Sprachverwirrung überwunden. Ihm scheint »gerade die Filmkunst eine Erlösung von dem babelschen Fluch zu versprechen. Denn auf der Leinwand der Kinos aller Länder entwickelt sich jetzt die erste internationale Sprache«.17 Überhaupt scheint der Dreischritt der bisherigen Argumentation – Kritik des konventionellen Zeichens, Leib und Acting als Alternative, Ideal der zeichenlosen Kommunikation – in der formal-ästhetischen Ausdrucksweise des Films sein Analogon zu finden: Parallel zum Scheitern sprachlicher und schriftlicher Verständigung und der Übersetzung zwischen den Charakteren ist eine deutliche Tendenz zur ›Verunklarung‹ des Bilds zu verzeichnen. Wenn man auch nicht im engeren Sinne vom Film als einer Sprache sprechen kann, so manipuliert Sofia Coppola doch die Syntax des Filmischen auf eine Weise, dass sie immer wieder die Lektüre des Bildes erschwert: Lost in Translation enthält so gut wie keine Establishing shots; das heißt, kaum eine Szene beginnt mit einer Einstellung, die einen Überblick über den Raum und die Personen gewähren würde. Überhaupt machen sich Totalen in diesem Film überaus rar; stets ist die Kamera nah an ihrem Gegenstand, zeigt Details und weniger deren Position und Kombination. Arbeitet Lost in Translation also bereits durch Einstellungsgrößen und Kadrierung an der Erschwerung seiner Lektüre, so tut der Bildaufbau ein Übriges. Es fällt auf, wie eng Sofia Coppola den Bereich der Bildschärfe setzt, wie gering häufig die Schärfentiefe der Einstellungen gehalten ist. Eine Ebene erscheint klar, aber alles Davor- und Dahintergelagerte, was dem fokussierten Gegenstand vielleicht nützlicher Kontext sein könnte, verschwimmt, und das Bild verflacht. Die Raumtiefe verschwindet, und was bleibt ist entweder ein in Nebel getauchtes Objekt – Charlotte im Garten des Tempels in Kyoto – oder aber ein Tableau ohne dritte Dimension – Bob in der Menschenmenge von Tokio –, dessen Flachheit besonders bei Außenaufnahmen meist aus TeleoptikStauchungen resultiert. Diese Strategien mögen zeigen, wie sich das Misslingen der sprachlichen Kommunikation in einer gleichsam ›asyntaktischen‹ und ›unlesbaren‹ Form des Films manifestiert.

17 Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt/M. 2001, S. 22.

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen Die Frage nach der Leiblichkeit, nach dem Acting des Films sei nur kurz angeschnitten: Der ›Körper‹ des Films kann auf der formalen Ebene nur sichtbar werden, indem die Form das Medium und dessen dispositive Anteile in den Blick nimmt. Und diese Physikalität des Aufnahmeprozesses, der Kamera, der Produktions- und Projektionsbedingungen wird von Lost in Translation unaufhörlich untersucht und abgetastet. Zunächst ist da natürlich die Kamera, die nicht müde wird, auf sich selbst aufmerksam zu machen. Sie verweist etwa auf den Bildkader, indem sie ihn in das Bild hineinnimmt: Türrahmen, Fensterrahmen, Spiegel begrenzen, beschneiden, verdoppeln das Bildfeld immer wieder – Verfahren, die in ihrer Autoreflexivität unter Umständen als ein Acting, als Agieren des Filmischen in der Form deutbar sind. Lost in Translation zeigt so permanent auf den eigenen Körper und das eigene Dispositiv. Denselben Zweck erfüllen auch all die Elemente, die das Medium und dessen Geschichte ins Bild heben – die Photographie im Film, der Film im Film, der Schauspieler Bill Murray, der den Schauspieler Bob Harris spielt, der den Schauspieler Roger Moore spielt. Die Besetzung der männlichen Hauptrolle mit Bill Murray ist es übrigens, die hinleitet zum dritten Komplex, zur Verbannung des Zeichens aus dem künstlerischen Vermittlungsprozess. (Um das Ideal schweigender Kommunikation zu erfüllen, hätte der Film zwar jenseits signifikanter Strukturen zu operieren, müsste aber trotzdem – beziehungsweise eben deshalb – verstanden werden.) Bill Murray nämlich ist nicht nur der patente Darsteller komischer Melancholie und einer in anhaltender Verzweiflung versinkenden, sanft lächelnden Krise – man denke an seine Rollen in den Filmen Wes Andersons oder an Jim Jarmuschs Broken Flowers (2005). Ebenso ist sein Schauspiel durch das Paradox eines ›ausdruckslosen Expressionismus‹ gekennzeichnet; er erzielt mit kleinsten mimischen Mitteln großen Effekt. Es handelt sich immer um einen reduzierten, überaus zurückgenommenen, gefilterten Ausdruck, mithin um einen Ausdruck, der auf deutliche Zeichen scheinbar verzichtet. Folgt der Film auch formal-ästhetisch dieser Utopie eines zeichenlosen Kommunizierens? Findet er eine Darstellungs- und Erzählweise, die sich durch eine ideale ›Bedeutungslosigkeit‹ dem Dekodierungsprozess entgegenstellt? Findet er geheimnisvolle Zeichen ohne Denotat, besser noch: vollkommen unzeichenhafte Bilder, die keine Handlung tragen und auf nichts verweisen? Dabei gölte es allerdings zugleich, verstanden zu werden, zu vermitteln und eine Stufe des Austauschs mit dem Rezipienten zu erreichen, die auf einer allgemein vertrauten ›Tiefenstruktur‹ angesiedelt ist. Diese Frage nach der zeichenlosen Kommunikation im Film ist – natürlich – einfach zu beantworten, so einfach, wie die Suche nach zeichenfreien und dennoch lesbaren Bildern in Lost in Translation – natürlich –

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Maria Oikonomou erfolglos ist. Was einem solchen Bild wohl am nächsten käme, wäre das Abstrakte, eine Komposition, die den Gegenstand als Signifikat vollends abgestoßen hat. Abstrakte Bilder aber sind bei Sofia Coppola nicht zu finden. Freilich stößt man auf ›inhaltsleere‹; immer wieder sind Szenen eingefügt, denen es an Handlung vollkommen gebricht. Wenn Bob Harris in Hotelpantoffeln auf der Kante seines Bettes sitzt, wenn er alleine im Restaurant eine Portion Sushi verzehrt, dann scheinen dies wiederum ›Nullszenen‹ zu sein, Zeitbilder, die sich zumindest der klassischen Auffassung des Erzählens in Aktion oder Bewegungsbildern entziehen. Um mehr zu wagen, um die Grenzen der Zeichenhaftigkeit filmischer Form auszutesten, ist Sofia Coppola nicht etwa zu zurückhaltend oder konventionell, sondern zu ›realistisch‹. Ihr Film ist kein postmodern-autoreflexives Experiment, das das Ende des Erzählens und der Referenz ansteuert wie den Rand der bekannten Welt. Vielmehr geht es dem Film einerseits ganz offensichtlich um die Utopie eines Verstehens ohne Übersetzung, andererseits aber auch darum, diese Utopie als Utopie zu markieren. Denn, so viel ist klar, der Film kann als Zeichensystem über eine Kommunikation ohne Zeichen sprechen, jedoch nie zeichenlose Kommunikation sein. Mit Bildern der Welt und ihren Gegenständen kann man Zeichenlosigkeit bestenfalls fingieren. Das versucht der Film oft, weiß aber zugleich um die Geschichtlichkeit, den Zitatcharakter, den Konnotationsreichtum dieser scheinbar bedeutungslosen Bilder. Er zeigt also keine leeren Zeichen (Barthes zufolge ist er damit vollends ›unjapanisch‹), sondern inszeniert seine Zeichen als leer, um aus ihnen das (sehr abendländisch-idealistische) Wunder eines übersetzungslosen Verstehens steigen zu lassen.

Die abschließende Kamerafahrt durch die morgendlichen Straßenschluchten Tokios formuliert genau diese Unmöglichkeit: Die alltäg-

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Zur Sinnlichkeit des Unverständlichen lichen, grauen Bilder von Hochhausfassaden und Schnellstraßen bedeuten gar nichts, sie sind von allen missverständlichen Schriftzeichen, allem Glühenden und Nächtlichen gesäubert und so flach und asignifikant, dass man eigentlich erst hier von einem Erwachen sprechen kann, vom Erwachen in Japan, nicht im Wunderland. Gleichzeitig aber – wer weiß – kommen diese Bilder so bedeutungslos daher, weil sie absichtsvoll eben das Bedeutungslose einer Hauswand aus Beton zitieren? Und weshalb wohl das? Um der Bedeutungsfülle des letzten Kusses zwischen Bob und Charlotte in der vorangehenden Einstellung etwas entgegenzusetzen? Um nicht mit einem Kuss zu enden, was abgenutzt und deshalb bedeutungsleer wäre, sondern mit bedeutungslosen Betonfassaden, was dem Ende von Lost in Translation eine besondere Bedeutung verliehe?

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Träume, Tiere, Translationen: Die Filme der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society ULRICH MEURER

I. AMATEUR / FILM Im Sperrdruck, der die Bedeutung dieser Passage anzeigt, fordert Sigmund Freuds Schrift zur Frage der Laienanalyse, »d a ß n i e mand die Analyse ausüben soll, der nicht die Berechtigung dazu durch eine bestimmte Ausbildung e r w o r b e n h a t «.1 Arzt, so Freud an anderer Stelle, müsse man dazu freilich nicht sein. Insofern urteilt der Diskursbegründer zwar weniger streng als seine eigenen, in der Mehrzahl medizinisch geschulten Adepten und Anhänger;2 im Ganzen jedoch mag auch er dem Unkundigen nicht erlauben, sich nach Gutdünken auf seinem Terrain zu betätigen. Noch misstrauischer allerdings, wenn nicht gar mit unverhohlener Ablehnung, beäugt Freud das allfällige Zusammentreffen der Psychoanalyse mit dem Kino. Seien Verfilmungen seiner Wissenschaft scheinbar auch so unvermeidlich wie ein Bubikopf, so wolle er sich doch selbst keinen schneiden lassen, schreibt er Sándor Ferenczi in einem vielzitierten Brief vom August 1925,3 und zwei Monate zuvor erklärt er gegenüber Karl Abraham: »Mein Haupteinwand bleibt, daß ich es nicht für möglich halte, unsere Abstraktionen in irgendwie respektabler Weise plastisch darzustellen.«4 In Anbetracht also der Freud’schen Gesinnung gegenüber

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Sigmund Freud: Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen. Leipzig, Wien, Zürich 1926, S. 94. Vgl. ebd., S. 103ff. Vgl. etwa Barbara Eppensteiner, Karl Fallend, Johannes Reichmayr: »Die Psychoanalyse im Film 1925/26 (Berlin/Wien)«, in: Psyche – Z Psychoanal 41 (1987), S. 129-139, hier S. 131. Hilda C. Abraham, Ernst L. Freud (Hg.): Sigmund Freud–Karl Abraham. Briefe 1907-1926. Frankfurt/M. 1980, S. 357.

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Ulrich Meurer mangelndem Fachwissen und filmischer ›Begriffsstutzigkeit‹, was könnte ein größeres Ärgernis darstellen als psychoanalytische Amateurfilme? Gleichwohl ist es – soweit bekannt – eben die Begegnung mit den Schriften Freuds, die den jungen Schausteller und Unternehmer Albert Grass 1926 dazu anregt, die Coney Island Amateur Psychoanalytic Society ins Leben zu rufen. Nachdem er acht Jahre zuvor, als Kameramann für das US-amerikanische Signal Corps in Frankreich, auf die Traumdeutung gestoßen und sein begeisterter Plan, im Süden Brooklyns einen Vergnügungspark nach psychoanalytischen Prinzipien zu errichten, an den Bedenken der potenziellen Investoren gescheitert ist, gründet er eine Gesellschaft, die sich zuallererst die Engführung von Filmbild und Unbewusstem zur Aufgabe machen wird.5 Wie der Präsident dieser Vereinigung zeichnen sich auch deren Mitglieder besonders durch Enthusiasmus und Wissensdurst, kaum aber durch ihre akademische oder professionelle Vorbildung aus (eine der wenigen Ausnahmen ist die WallStreet-Erbin Charmion de Forde, die Psychologie an der Clark University in Worcester, MA, studierte – dort, wo Freud 1909 seine bahnbrechenden Five Lectures on Psycho-Analysis gehalten hatte).6 Demgemäß beschreibt die Film- und Installationskünstlerin Zoe Beloff, zugleich ›Biographin‹ und Archivarin der Society, die Gruppe als self-taught Freudians poring over dog-eared copies of The Interpretation of Dreams and The Psychopathology of Everyday Life. Most of them were workingclass men and women who couldn’t afford to become professional psychoanalysts yet wanted to take part in the great intellectual adventures of the city. [...] One can think of them as working-class utopians, a link between the Workers Film and Photo League of the 1930s and today’s YouTube activists and dreamers.7

Ziel dieser utopischen Vereinigung ist die individuelle und gesellschaftliche Befreiung auf der Grundlage der Freud’schen Lehre; zu ihren allmonatlichen Aktivitäten zählen Vorträge, Diskussionen und nicht zuletzt die Vorführung und gegenseitige Analyse selbst inszenierter Schmalfilme, die die Phantasien der Mitglieder zu rekreieren und ihre Träume ins Bild zu setzen suchen. Während Freud als Er5

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Zum Werdegang und den Projekten Albert Grass’ sowie zur Geschichte der von ihm gegründeten Gesellschaft siehe Zoe Beloff: »An Introduction to the Coney Island Amateur Psychoanalytic Society«, in: dies. (Hg.): The Coney Island Amateur Psychoanalytic Society and its Circle. New York 2009, S. 5169. Zu Freuds Vortragsreise, seinem einzigen Besuch in den USA, vgl. Saul Rosenzweig: The Historic Expedition to America (1909). Freud, Jung and Hall the King-maker. St. Louis 1994. Beloff: Introduction, S. 60f.

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Träume, Tiere, Translationen finder der talking cure und ergiebiger Autor an Wort und Sprache glaubt, an die freie Assoziation, an die Fallgeschichte, die sich liest wie eine Novelle,8 und an den Versprecher, scheint Albert Grass das ›oneirische‹ Potenzial des Kinos beziehungsweise das kinematographische Potenzial der Träume zu erfassen. Denn angeleitet von seiner – freilich sehr wortgetreuen – Lektüre Freuds versteht er Träume als Ideen, die zu mentalen ›Bildern‹ verdichtet und verschoben sind und deren nächste Entsprechung im Wachzustand das erzählende Kino ist. Vor diesem Hintergrund formuliert Grass das ehrgeizige Anliegen der Amateur Psychoanalytic Society, to reenact our dreams on film, producing a perfect reproduction of our mind’s nocturnal wanderings, the strange adventures of our soul. As it will surely soon be with sound and color to perfect the illusion, we will open up our darkest dreams to the bright light of reason.9

Grass’ programmatische Erklärung macht deutlich, wie die so oft beschworene Affinität des Films zur materiellen Welt hier ihre Umwendung erfährt, indem nun alle Eigenschaften des Mediums nicht mehr im Dienste eines photographischen Realismus’ stehen, sondern der angemessenen Übersetzung des Imaginären dienen. Zudem hängt mit jener Frage nach den inhärenten Möglichkeiten und Neigungen des Mediums auf einer ganz praktischen Ebene diejenige nach den technischen Grundlagen des Traumfilm-Projekts zusammen: Wenn 120 Jahre nach der Einführung des photographischen Bewegtbildes die Idee psychoanalytischer Amateurfilme auch kaum mehr spektakulär anmutet, so hat sie doch zur ersten Bedingung, dass 1923 – nur mehr drei Jahre vor der Gründung der Society – Eastman Kodak eine 16-mm-Kamera und einen DirektumkehrSicherheitsfilm für Amateure entwickelt. Während die meisten der früheren Cellulosenitrat-Heimfilme überaus leicht entflammbar und durch die notwendige Übertragung des in der Kamera belichteten Negativs auf einen zweiten Positivstreifen auch sehr kostspielig waren, markiert Kodaks direct reversal safety film ($6 für 100 ft. inkl. Entwicklung) eine Wasserscheide in der Popularität der Amateurfilmerei10 und schafft offenbar die Voraussetzung für die Inauguration nicht nur der landesweiten Amateur Cinema League (A·C·L), sondern ebenso der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society im selben Jahr. 8

»Die Krankengeschichten, die ich schreibe, sind wie Novellen zu lesen.« Freud, zitiert nach Patrick J. Mahoney: Der Schriftsteller Sigmund Freud. Frankfurt/M. 1989, S. 21. 9 Grass, zitiert nach Beloff: Introduction, S. 64. 10 Vgl. Alan D. Kattelle: »The Amateur Cinema League and its Films«, in: Film History. Bd. 15, Nr. 2 (2003), S. 238-251, hier S. 238.

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Ulrich Meurer Das Unternehmen von Albert Grass und seiner Gefolgschaft entspringt also dem kontingenten, wenn auch nicht einzigartigen Zusammentreffen zweier Faktoren: Einerseits beruht es auf einer diskursiven Entwicklung, auf der Erfindung der ›Masse‹ und zugleich des Privaten in der Moderne, auf der Erfindung des (Klein-)Bürgers, des säkularen Laien und seiner zögerlichen Selbstermächtigung im alltäglichen Umgang mit Medien (vom Tagebuch und Schattentheater über die private Phonographie bis hin zum Urlaubsphoto). Andererseits erwächst sie einer parallelen technischen Entwicklung, der konkreten Realisierung der von ihrer Zeit gewünschten und erträumten Apparate, wenn »die Stunde für die Erfindung gekommen [ist] und von mehr als einem verspürt«11 wird. Für die Coney Island Amateur Psychoanalytic Society hängt alles von der Synchronität eines gesellschaftlichen Bewusstseins und einer medialen Innovation ab, ohne dass dabei zu entscheiden wäre, welche Seite die auslösende oder beeinflussende und welche die beeinflusste ist. Etwas bietet sich an – der Nachttraum dem Schmalfilm, der Schmalfilm dem Traum? Es bleibt herauszufinden, ob die aus diesem Zusammentreffen resultierenden Kurzfilme – hergestellt zwischen 1926 und den letzten Tagen der ›Analytischen Gesellschaft‹ zu Beginn der siebziger Jahre – mehr sind als hastige Reflexe des jeweils populären Zeitverständnisses seelischer Phänomene, ob sie tatsächlich Einblick geben in das Traumerleben ihrer Produzenten, mehr noch, ob sie zunächst diese persönliche, dann aber auch eine das Individuelle und den bloßen Moment übersteigende Sphäre psychischer Strukturen zu übersetzen vermögen.

II. ZWERG / BÄR / HUHN »THE MIDGET CRANE, A dream of September 18th, 1926, by Mr. Albert Grass. Revealing upon analysis a repressed wish to tower over one’s employer.« / »I dream that my employer Mr. Edward Tilyou and his staff are a group of midgets. I operate the powerful crane that will ship them out to sea.« Auf diese beiden einleitenden Titelkarten des Stummfilms folgt eine Einstellung, die die Spitze eines großen Lastkrans zeigt; die unsichere Kamera schwenkt an dessen Ausleger herab, bis unten, vor den Lagerhallen einer Hafenanlage, das Führerhaus mit rauchendem Schlot und davor auf der 11 Gleich die ersten Sätze der Benjamin’schen Kleinen Geschichte der Photographie legen nahe, dass ein technisches Medium eine vielleicht nur unbewusst gefühlte Reifephase seiner Zeit erfüllt. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/M. 2003, S. 45-64, hier S. 45.

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Träume, Tiere, Translationen Drehplattform eine Gruppe elegant gekleideter ›Liliputaner‹ sichtbar werden.

»How anxiously they await my inspection.« Vor der vernieteten Eisenwand des Führerhauses sind die sechs kleinwüchsigen Herren und vier Damen mit Topfhüten wie für ein Gruppenphoto aufgereiht; die Männer streichen einander – scherzhaft posierend – das pomadisierte Haar, den Aufschlag des Sakkoanzugs glatt, Gehstock oder Schiebermütze in der Hand. »INTERPRETATION: Yesterday I asked Mr. Tilyou what he thought of my designs of a great dream park constructed according to strict Freudian principles.« Offenbar an der Rehling eines Fährschiffes neckt ein breiter, jovialer Mann mit grauem Schnauzbart und Drahtbrille eine dunkel gelockte Frau mit ausladendem Pelzkragen; beide feixen in die Kamera.

»Tilyou replied, ›I’ve seen too many flops to take a chance on all this unconscious nonsense. You don’t know the public the way I do.‹« / »I object forcefully. Mr. Tilyou calls me a ›mies yid‹ an ›ugly jew‹. Mrs. Tilyou finds this most amusing.« Derselbe süffisant schmun179

Ulrich Meurer zelnde Mann, neben ihm jetzt eine vergnügte Dame im Tirolerhut, die sich vor Lachen biegt. »In my dream I turn the tables. ›Mies yid‹ becomes ›midget‹. I shrink them and ship the Tilyous out to Lilliputia, destroyed in the Dreamland of my youth.« Drei Einstellungen folgen hastig aufeinander: zuerst die mürbe und zittrige Kinematographen-Aufnahme einiger aufgeregt gestikulierender Passanten, gekleidet im Stil der Jahrhundertwende, die beschürzten Frauen heben die Arme; dann – ebenso körnig – Helm und Schultern eines dicht an der Kamera vorübereilenden Feuerwehrmannes, dahinter ein Pferdegespann; schließlich das hektische Treiben, Kutschen und Fuhrwerke auf der Straße vor einer Hausfassade, die in Flammen steht. Aus einem hoch gelegenen Fenster springen Personen in ein zwischen Pfosten aufgespanntes Zirkusnetz und rollen sich wie Artisten bäuchlings über dessen Rand. (Der vorangehende Zwischentitel legt nahe, dass diese Szenen den Brand des von Kleinwüchsigen bewohnten Lilliputian Village in einem der Vergnügungsparks von Coney Island im Jahr 1911 darstellen sollen. Tatsächlich handelt es sich jedoch um Ausschnitte aus dem Film Fighting the Flames, Dreamland, hergestellt 1904 von der American Mutoscope and Biograph Company, der eine der beliebten pyrotechnischen Attraktionen des Parks zeigt.)12 »I resolve to erect ›The Royal Road to the Unconscious‹ on the site of ›Sodom by the Sea‹« Dieser Schrifttafel, die auf Freuds berühmtes Diktum vom Traum als der »Via regia zur Kenntnis des Unbewußten«13 wie auch auf eine um 1900 verbreitete Titulierung Coney Islands anspielt, folgt aus der Vogelschau ein langer Panoramaschwenk über die nächtlichen Vergnügungsparks, deren Gebäude und Fahrgeschäfte nur als Umrisse aus zahllosen elektrischen Glühlampen zu erkennen sind. Den Film beschließt das Logo der A·C·L. Nun gilt es weniger, die Schlüssigkeit der analytischen Argumentation in diesem von Albert Grass gedrehten (beziehungsweise kompilierten) frühesten Traumfilm der Society zu beurteilen, sondern vielmehr um die Mechanismen, mit deren Hilfe der Film das Freud’sche Denkmodell in ein Bild übersetzt. Nicht der Bedeutung, sondern der Art und Weise ihrer Erzeugung, nicht der Psychoanalyse, sondern ihrer Visualisierung soll im Folgenden nachgegangen werden. Während sich der Film einem wichtigen Ereignis im Leben Grass’ widmet, das im Traum seine Verarbeitung erfährt – der Ablehnung des Dreamland-Projekts durch seinen Arbeitgeber Edward 12 Vgl. Zoe Beloff: »The Dream Films: Films by Members of the Coney Island Amateur Psychanalytic Society with Brief Biographical Notes by Zoe Beloff«, in: dies. (Hg.): The Coney Island Amateur Psychoanalytic Society and its Circle. New York 2009, S. 76-99, hier S. 77. 13 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt/M. 2000, S. 577.

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Träume, Tiere, Translationen Tilyou14 –, rückt also die Frage in den Fokus, ob The Midget Crane wie auch die übrigen Filme der ›Analytischen Gesellschaft‹ in irgend gültiger Weise dem oft (und nicht zuletzt von Freud selbst) erhobenen Einwand zu entgegnen vermögen, dass sie als Filme sprach-, begriffs- und deshalb gegenüber der Psychoanalyse hilflos seien. Anders gesagt: Wenn etwa das neuerdings viel interpretierte Trauma- und Therapie-Melodram Le mystère des roches de Kador (Léonce Perret, 1912),15 G.W. Pabsts Geheimnisse einer Seele (1926) oder auch Alfred Hitchcocks Spellbound (1945) angesichts der Komplexität seelischer Vorgänge und analytischer Praxis zu versagen scheinen, inwiefern könnten dann die hier vorgestellten Amateurfilme treuere Translationen von Seele und Analyse liefern? Dabei dürfte eine erste Hypothese vielleicht lauten, dass sie keinerlei diskursive Erklärung der (schlicht vorausgesetzten) Begriffswelt Freuds unternehmen, sondern ein gleichsam spontanes enactment der Analyse. Wie bei Perret, Pabst oder Hitchcock vermischen sich in ihnen Traummaterial und dessen Lektüre, während – anders als in jenen meist beflissen in die Theorie einführenden Filmexempeln – die konzeptuelle und methodologische Basis dieses Übersetzungsvorgangs nur mehr implizit in dessen Ergebnis aufscheint.16 Zuerst also fällt die wörtliche und teils recht bemühte Treue ins Auge, mit der die Filme den Freud’schen Lehrsätzen zu folgen scheinen, etwa wenn sie gemäß seinem zentralen Diktum ausnahmslos jeden Traum als Wunscherfüllung darstellen.17 So schrumpft in The Midget Crane Albert Grass seinen Arbeitgeber und lässt ihn zusammen mit ganz Liliput untergehen – die sehr offensichtliche Realisie14 Zoe Beloff schlägt derweil vor, nicht die Weigerung des Investors, den geplanten freudianschen Vergnügungspark zu finanzieren, als das hier zu Grunde liegende Trauma anzunehmen. Stattdessen seien es die Schreckbilder des verhehrenden Brandes von Dreamland 1911, den Grass als Kind miterlebte, wie auch die traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die er durch die Bestrafung Tilyous zu exorzieren versuche. Vgl. Beloff: Dream Films, S. 76f. 15 Siehe u.a. Janet Bergstrom: »Introduction: Parallel Lines«, in: dies. (Hg.): Endless Night. Cinema and Psychoanalysis, Parallel Histories. Berkeley, Los Angeles, London 1999, S. 1-23, hier bes. S. 15-20; Frank Kessler, Sabine Lenk: »›Die Anwendung der Kinematographie auf Gemütskranke‹. Le Mystère des Roches de Kador (1912)«, in: Thomas Ballhausen, Günter Krenn, Lydia Marinelli (Hg.): Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film. Wien 2006, S. 41-54; schließlich den Eröffnungsfilm und die beiden ihn rahmenden Vorträge, »Gedächtnis und Kino um 1900 (mit Bezug auf Kador)« von Heike Klippel sowie Pasi Väliahos »Contingent Pasts: Cinema, Memory, Forgetting«, auf der Basler filmwissenschaftlichen Tagung Memoryscapes, Filmformen der Erinnerung im November 2011. 16 Darauf ist noch zurückzukommen. Vgl. S. 193, Fußnote 26. 17 Vgl. Freud: Traumdeutung, Kap. III, S. 141-150, bzw. VII/c, S. 525-545.

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Ulrich Meurer rung eines verdrängten Antriebs, »to tower over one’s employer«, der vom ›Autor‹ des Traums sogar unmissverständlich als solcher erkannt und bezeichnet wird.18 Genauso kehrt das Motiv der Wunscherfüllung in den darauf folgenden Filmen der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society wieder: Da blickt zum Beispiel Charmion de Forde in The Praying Mantis (1931) durch die Tragflächenverstrebungen eines Doppeldeckers auf die Wolkenkratzer Manhattans tief unter ihr hinab, prompt gefolgt von einem Zwischentitel, der Sigmund Freuds Deutung von Flugträumen als die Begleiter nächtlicher Erektionen zitiert, während sie bei Frauen den häufigen – und beinahe ebenso häufig unbewussten – Wunsch anzeigten, ein Mann zu sein. In The Bear Dream (1937) verwandelt sich derweil der Oberschullehrer Arthur Rosenzweig in einen sexuell merkwürdig attraktiven Bären, der, an die Kette gelegt, von einer gut gelaunten Schar junger Damen umringt, gefüttert und gestreichelt wird.

Es ließe sich freilich einwenden, dass der Bear Dream, vor allem in seinen Anfangsszenen, nicht nur ein Bild animalischer Erotik oder des lustvollen Ausgeliefertseins entwirft. Zugleich zeigt er – indem die Schüler Rosenzweigs die unerklärliche und peinliche Metamorphose durch ein Teleskop verfolgen und die Nachricht daraufhin via Rundfunk verbreiten – den Spott der Beobachter, in dem sich offenbar eine vom Träumer internalisierte Zensurinstanz zu erkennen gibt. Dass aber auch jenes höhnische Gebaren der Umgebung mit der Dominante der Wunscherfüllung vereinbar ist, erweist sich neuerlich im Abgleich mit der Traumdeutung; denn während sich das Fell, das Behaarte, das Tierische ohne Weiteres als sexuelle Phanta-

18 Freilich dürfen wir uns die Frage stellen, weshalb denn ein solcher Wunsch ohne allen strikt tabuisierten oder sexuellen Inhalt verdrängt werden muss, ein Hinweis auf die vielleicht zu oberflächliche Deutung des Traums durch Grass? Vgl. Fußnote 14.

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Träume, Tiere, Translationen sie und vielleicht als Potenztraum lesen, der einer unbewussten Neigung entspringt, geht das Gefühl der Peinlichkeit Freud zufolge auf einen anderen Teil des ƹ-Apparates zurück, namentlich auf das von den Vorschriften des kulturellen Regelwerks beeinflusste ›Vorbewusstsein‹, das solch ungebührliche Wunscherfüllung – selbst im Traum – nicht gutheißen mag.19 Wiederum erweist sich so der Wunsch als raison d’être des Traums und der Film als exemplarische Einlösung Freud’scher Theorie. Neben der Wunscherfüllung als dem movens und Gegenstand der Handlung zeigt sich in den filmischen ›Übersetzungen‹ der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society noch ein anderer, diesmal formaler Aspekt der Konzepte der Traumdeutung: Stets führen sie die Umwandlung des abstrakten Wunsches in eine konkrete und anschauliche Narration vor – dies nicht lediglich ein dem audiovisuellen Medium oder seinen Erzählkonventionen geschuldetes Verfahren, sondern zugleich (und zumindest im selben Maße) ein Prozess, der sich auf die Mechanismen der ›Traumarbeit‹ zurückführen lässt. Wenn Freud erklärt, dass keine Gefühle oder körperlosen Gedanken geträumt, dass solche Seelenregungen vielmehr zunächst in eine dem Traum eigene Bildsprache transponiert werden, wenn alle Inhalte erst den Weg über die Dramatisierung und Symbolisierung, die Verdichtung und Verschiebung nehmen müssen, um sich am Ende als nächtliche ›Vision‹ manifestieren zu können, dann sind klassische Momente solcher Traumarbeit immer wieder auch in den Filmen der Society anzutreffen. Hier sei nur ein typisches (weil in seiner Sprachgebundenheit überaus ›freudianisches‹) Beispiel angeführt, die sowohl lautlich als auch semantisch gleichsam leicht versetzte oder ›verschobene‹ Wortäußerung, die so zum Träger eines unbewussten Inhalts gerät: Da wird aus dem »mies yid« in Albert Grass’ Traum ein »midget«; die Beschimpfung durch seinen Arbeitgeber erfährt jedoch nicht lediglich eine phonetische Verschiebung, bis sie nur noch klanglich-assoziativ mit der neu generierten Wendung »midget« verbunden ist; dieser neue Begriff beginnt darüber hinaus das Traumgeschehen wesentlich zu steuern, so dass dessen Grund und eigentlicher Inhalt – die rassistische Beleidigung, die be19 Freud erläutert diese Konkurrenz zweier psychischer Instanzen innerhalb des Traums mit Blick auf den »Verlegenheitstraum der Nacktheit«: »Die peinliche Empfindung des Traums ist ja die Reaktion des zweiten psychischen Systems dagegen, daß der von ihr verworfene Inhalt [...] dennoch zur Vorstellung gelangt ist. Um sie zu ersparen, hätte die Szene nicht wieder belebt werden dürfen. Von der Empfindung des Gehemmtseins werden wir später nochmals handeln. Sie dient im Traum vortrefflich dazu, den Willenskonflikt, das Nein, darzustellen. Nach der unbewußten Ansicht soll [die Wunscherfüllung] fortgesetzt, nach der Forderung der Zensur unterbrochen werden.« Freud: Traumdeutung, S. 251.

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Ulrich Meurer rufliche Kränkung – beinahe restlos durch das allein von einem Schlüsselwort erzeugte Motiv des Zwergwuchses verdrängt werden. Und dieses wiederum bezieht der Träumer nicht auf sich selbst (obwohl das Schimpfwort ursprünglich ja gerade ihm gegolten hatte), sondern jetzt auf seinen Widersacher Tilyou. Derart setzt hier, ausgehend vom nicht zuletzt verbalen Anlass des Traums, eine sprachliche und narrative Bewegung ein, die im charakteristischen Gleiten und Changieren der Worte und in der Unbestimmbarkeit ihrer proliferierenden Signifikate mündet. Demselben Verfahren, denselben Verschiebungen begegnet man wenig später im Bear Dream, dessen Titel auf diese Weise unversehens an Vieldeutigkeit gewinnt: Im unterdrückten Liebesverlangen nach »dear Dorothy« (einer Kollegin? einer Schülerin?) führt Arthur Rosenzweig vor, wie der Traum die Sprache in eine weite Zone der Ähnlichkeiten und Äquivokationen transformiert:

Nun ist nicht mehr festzustellen, ob der Drang des Träumers, seine Seele zu entblößen, ob die Furcht vor Zurückweisung im ›Bären‹ einen Gleichklang und damit ein Bild findet oder ob umgekehrt der Bär als Auslöser sprachlicher Verkettungen und Assoziationen fungiert. Und dass hier außerdem »zu Zwecken der Darstellung im Traume die Orthographie weit hinter dem Wortklang zurücktritt, wird uns nicht gerade wundernehmen«.20 In jedem Fall aber legen die im Zwischentitel auftauchenden Anführungszeichen offen, wie Sprache und Visualität einander im Traum bedingen und der Film diesen Umstand durchaus bewusst ›in Szene setzt‹. Neuerlich also ist es ein Wort (besser vielleicht: ein phonetisches Konstrukt, dem diverse Bedeutungen zukommen), das den Trauminhalt festlegt, zum Motiv wird, zur Figur, zum Schlüsselwort, und so sämtliche Sinnebenen in The Bear Dream durchläuft. Angesichts solch kom20 Freud: Traumdeutung, S. 396.

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Träume, Tiere, Translationen plexer und fast unvorhersehbarer Projektionen von Klang auf Wort auf Bild erscheint die direkte Visualisierung einer idiomatischen Redewendung, wie sie 1954 Beverly D’Angelos The Lonely Chicken Dream vornimmt, vergleichsweise schlicht. Ihren in Technicolor gedrehten und musikalisch unterlegten Traumfilm leitet Beverly, Hausfrau und Mutter aus Brooklyn, mit der Nahaufnahme eines Brathuhns auf dem gedeckten Esstisch ein, zum einen – so ihr begleitender Kommentar – da sie »too chicken« sei, um an der Bergund-Tal-Fahrt ihrer Ehe etwas zu ändern, zum anderen weil eine Freundin ihr vorgehalten habe, sie sei mittlerweile kein »spring chicken« mehr. Freilich hat man es in den drei Beispielen mit unterschiedlichen Verfahren sprachlicher Verschiebung zu tun; im ersten Fall mit nur annähernder interlingualer Homophonie zwischen dem Jiddischen und Englischen, im zweiten mit vollständiger intralingualer Homophonie innerhalb der englischen Sprache, im dritten dann mit Polysemie, worauf stets die Verbildlichung des jeweils ersetzenden Begriffs (Zwerg, Bär, Huhn ...) im Traum und dann im Film stattfindet. Immer aber nimmt der Traum(film) eine Visualisierung von Sprache vor, der eine lautlich-semantische Verschiebung vorausgeht, wie Freuds Traumdeutung und besonders deren Abschnitt über das »Rechnen und Reden im Traum« darlegt: [Die] Analyse zeigt uns jedesmal, daß der Traum [...] nur Bruchstücke von wirklich geführten oder gehörten Reden den Traumgedanken entnommen hat und höchst willkürlich mit ihnen verfahren ist. Er hat sie nicht nur aus ihrem Zusammenhange gerissen und zerstückt, das eine Stück aufgenommen, das andere verworfen, sondern auch oft neu zusammengefügt [...]. Bei dieser Neuverwendung hat er oft den Sinn, den die Worte in den Traumgedanken hatten, beiseitegelassen und dem Wortlaut einen völlig neuen Sinn abgewonnen.

Sämtlich also scheint in den Filmen der Society der Gebrauch der Sprache (ob in Schrifttafeln oder im voice over) in die Sphäre zu fallen, die Freud ihr zuweist. Ein weiteres – und nun vor allem strukturelles – Indiz für die Treue der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society gegenüber Freud’schem Gedankengut liefert schließlich die deutliche Zweiteilung der Traumfilme in ein Bild und dessen Lektüre. Im exemplarischen Nachvollzug der ›Traumarbeit‹ folgen die Filme unweigerlich der Grundannahme, dass etwas nur durch etwas anderes zur Darstellung kommt. Immer wird dem Zuschauer ein Bild vor Augen gestellt, das mit einem Bedeutungskomplex außerhalb seiner selbst versehen ist. Daraus folgt zunächst eine gleichsam horizontale Teilung eines jeden Films entlang seines Verlaufs. Jede Einstellung, jedes Bild verliert zusehends alle Selbstgenügsamkeit des häufig postulierten sogenannten photographischen Realismus’, da es nicht mehr zeigt, was es zeigt, und wie der Traum auf einen geheimen Ge185

Ulrich Meurer halt verweist, der hinter der Repräsentation, im derrière-champs, erst ausfindig gemacht werden will. Dieser eigenwillige Gebrauch eines ikonisch-indexikalischen Mediums wirkt sich auf jedes einzelne Bild aus und versetzt es in oszillierende Bewegung, denn der Kleinwüchsige dort in all seinem feingliedrigen, sonntäglichen Gebaren, der Bär in seiner ruhelosen Massigkeit, mit schwarzem Fell und stöberndem Maul, ist ungeachtet aller ›Präsenz‹ und Stofflichkeit jetzt aufgefordert, zum Symbol zu werden, zum bloßen Zeichen eines Gedankens oder einer Neurose, die an anderem Ort als im Filmbild statthaben. So wird jene horizontale Zweiteilung der Traumfilme in ein anwesendes Bild und dessen abwesende Bedeutung zugleich zur Reibungsfläche, an der beide Aspekte ununterbrochen und auf teils irritierende Weise aneinandergeraten. Neben jener kontinuierlichen Spaltung zwischen Index und Symbol (A) weisen die Filme jedoch noch eine zweite Bruchlinie auf, die nicht weniger als die erste dem zutiefst hermeneutischen, dem lesenden und deutenden Anspruch der Psychoanalyse entspringt. Diese Linie verläuft nicht entlang der Längs-, sondern nun entlang der Querachse der Filmstruktur und führt zu deren vertikaler Zweiteilung in Repräsentation und Analyse (B): Einmal überaus klar, ein andermal eher verwischt gliedert sich jeder der Filme in einen ersten Abschnitt, der die Traumbilder anschaulich zu rekonstruieren sucht, und in einen zweiten, der sich – vor einem Hintergrund aus Bildern, Erinnerungen, ›Tagesresten‹ – der Interpretation widmet.

Die Schwelle zwischen beidem ist meist durch einen erläuternden Hinweis markiert; da mag, wie in Grass’ The Midget Crane, in Versalschrift das Wort »INTERPRETATION« auf der Leinwand den zweiten Filmteil einleiten oder auch die Erklärung »I wake up«. Darüber hinaus ordnen einige der später hergestellten Filme, etwa The Abandoned Ark (1962) von Stella Weiss oder Eddie Kammerers The Bobsled: A Recurring Dream (1972) den Traumbildern und Kindheitserinnerungen Schwarzweißmaterial, den darauf folgenden deutenden Abschnitten hingegen Farbfilm zu. Damit sind vom alles beherrschenden Mechanismus der ›Lektüre‹ nicht nur die semantische, sondern auch die syntaktische Ebene der Filmbilder und ihre Mon186

Träume, Tiere, Translationen tage betroffen: Hier wie dort ist der Evidenz des Gezeigten ein (zuweilen nur latenter) Sinn beigeordnet, und zwischen beidem tut sich ein Riss der Signifikanz auf. Diese Teilungen entlang einer horizontalen beziehungsweise vertikalen Achse finden ihr Korrelat in einer weiteren Dichotomie, die vor allem in den Stummfilmen der Society zutage tritt. Hier nämlich erweist sich ein um das andere Mal die mediale Differenz zwischen Bild und Schrifttitel zugleich als Grenze, die der Darstellung deren Deutung gegenüberstellt (fraglos lässt sich in Beverly D’Angelos Lonely Chicken Dream, dem einzigen Film, der von voice over begleitet ist, eine analoge Grenze ausmachen zwischen Bild und gesprochenem Kommentar). Indem ohne die erklärenden Titelkarten die Filmbilder nicht selten undechiffrierbar erscheinen und sich gegen ihre Einordnung in einen sinnvollen Kontext stemmen, indem das Gezeigte im Sinnzusammenhang des Traumfilms oft erst zu bedeuten beginnt, wenn seine Bedeutung schriftlich aufgedeckt wird, ist letzten Endes auch die Unterscheidung zwischen jenen beiden Bildtypen als eine Fortsetzung der stets zweiseitigen Konzepte Freuds zu verstehen, die Traumgedanke und Trauminhalt, Bild und Wort, Symbol und Analyse, Unbewusstes und Bewusstsein, Inhalt und Ausdruck, Neurose und Therapie zuerst auseinanderhalten und dann miteinander in ein signifikantes Verhältnis setzen.

III. LÖWE Bis hierher zeigen sich die Traumfilme als ›orthodox‹, sie orientieren sich (nicht streng, aber eifrig) an Freud’schem Gedankengut und bewegen sich in Bezug auf das Motiv der Wunscherfüllung, auf die Behandlung der Sprache und auf ihre hermeneutische Doppelstruktur auf dem Terrain eben jener »Unterschiede«, die Freud – laut Foucault – als Begründer des psychoanalytischen Diskurses ermöglicht hat.21 Nun aber sind es gerade die in die Filme eingefügten Schrifttitel, an denen zuerst kenntlich wird, wie das ursprünglich dichotome Schema von Träumen und Wachen, von Traum und Analyse sich aufzulösen beginnt. Zwar mag der Wechsel von Bild zu Schrift auf den ersten Blick denjenigen von Repräsentation zu Lektüre implizieren; andererseits aber muss vor dieser Übersetzung22

21 Vgl. Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 198-229, hier S. 220. 22 Wie bereits im Vorwort dieses Bandes (S. 17) angedeutet, gehen solche Relationierungen von Traumdeutung und dem Konzept der Übersetzung auf Freud selbst zurück, dem zufolge zum Beispiel »die Darstellung der Traumarbeit [...] dem Übersetzer keine größeren Schwierigkeiten zumutet als et-

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Ulrich Meurer immer zunächst bestimmt werden, um was für ein Bild es sich handelt, was für ein Bild da zum Objekt der deutenden Übersetzung gemacht wird – eines, das Traumgesichte darstellt, oder eines, das vielleicht selbst bereits dem ›analytischen‹ Filmteil angehört. Mit anderen Worten: die eben aufgezählten Aspekte schlichter Zweiteilung gehen in einer ganzen Anzahl von Möglichkeiten auf, wenn zuweilen beschreibende, zuweilen auch interpretierende Zwischentitel sowohl in den filmischen Traumbeschreibungen als auch in den Trauminterpretationen auftauchen. So nämlich sind unversehens mindestens vier unterschiedliche Bildtypen zu benennen, so dass die Filme über ein bipolar reduziertes Modell des Freud’schen Denkens hinauszugehen beginnen, sich ihm zumindest nicht mehr vollends und willfährig einordnen lassen. In der Bewegung von a) Bildern, die sich den Traum unreflektiert ›einbilden‹, über b) Titelkarten, die diese Trauminhalte in Worte fassen, und c) Bilder, die ihrerseits die Traumbilder zu kommentieren versuchen, bis hin zu d) Titelkarten, die den Traum lesen und erläutern wollen, nimmt der Gehalt an rein ›oneirischem‹ Imaginären stufenlos und sukzessive ab, anstatt seinem rational-symbolischen Pendant einfach nur gegenüberzustehen. Auch die Aufeinanderfolge von Repräsentation und Analyse ist im steten Wechsel dieser Bildtypen nicht mehr klar zu bestimmen; vielmehr lösen sie einander ebenso und im selben Augenblick ab wie Bild und Schrift, jedoch ohne dabei noch eindeutig an diese Instanzen gebunden zu sein, bis letzten Endes sogar ihr geregeltes Alternieren (solange wären Traum und Deutung ja noch differenzierbar) in ein polymorphes Feld übergeht, in dem das einzelne Bild nicht mehr mit Gewissheit einer Absicht oder psychischen Fakultät zugewiesen werden kann: Freuds Ziel, dem Traum einen Sinn beizuordnen, ihn durch seinen Sinn zu »ersetzen«,23 gerät in der Vermischung beider zum Problem. Und bei genauerem Hinsehen tendieren alle Filme der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society zu solcher Vermischung. Zunächst deutet etwa in Teddy Weisengrunds The Lion Dream (1947) wenig auf jenen prekären Status der Bilder hin. Das Thema der Wunscherfüllung prägt Repräsentation wie Deutung, und beide Kategorien scheinen nachdrücklich voneinander geschieden. Der erste Teil des Films stellt den Traum nach: Im sonnigen Wohnzimmer des bildungsbürgerlichen Elternhauses »on Tiergartenstrasse« versucht der dreijährige Teddy, ein blondes Kind in Trachtenhose, seine Familie vor den ›Löwen‹ zu warnen; Tante Lisle [sic!] erklärt den amüsierten Verwandten, es handele sich hierbei um eine Externalisierung von Teddys aggressiven Phantasien. Der zweite Teil wa die alten Hieroglyphenschreiber ihren Lesern«. Freud: Traumdeutung, S. 337. 23 Vgl. Freud: Traumdeutung, S. 117.

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Träume, Tiere, Translationen nennt daraufhin die Quellen, denen diese Traumbilder entspringen, zum einen die regelmäßigen Besuche Teddys im Zoologischen Garten während seiner Kindheit (wir sehen kurz eine Straßenflucht mit Hakenkreuzbanner, dann das Jugendstil-Portal des Tierparks Hagenbeck), zum anderen einen Kinobesuch, bei dem ein Kulturfilm über exotische Wildtiere24 vorgeführt wird (einige Löwen, die sich über den Kadaver eines Zebras hermachen).

Neben diesen weit zurückliegenden Kindheitsszenen zählt zu den Traumquellen auch, dass Weisengrund am Vortag auf der Promenade von Coney Island einem Kind begegnet ist, das ihm ähnlich gesehen und ihn an seine eigene Jugend erinnert hat (Bilder eines blonden Jungen, der auf einem Pony reitet, dann wiederum der dreijährige Teddy auf einem Schaukelpferd und rittlings auf dem Rücken seiner Mutter). Schließlich identifiziert Teil drei, der nur aus einer Einstellung, einer Schrifttafel besteht, den Traum als Ausdruck des Wunsches, die Eltern vor der hier ungenannten, aber doch benennbaren Gefahr nationalsozialistischer Verfolgung zu retten und sie wieder am Leben zu sehen. Ungeachtet aller vermeintlichen Klarheit filmischer Struktur ist derweil die Grenze zwischen Traum und Lektüre in The Lion Dream allein durch die Bestimmung des Gegenstandes oder Kontexts einzelner Bilder doch nicht eindeutig bestimmbar. Die eigenartige Unschärfe, die sich im Rücken der systematischen Dreiteilung des Films bemerkbar macht, resultiert aus dessen mangelnder Markierung der Unterschiede zwischen Traum-, Erinnerungs- und analyti24 The Lion Dream bedient sich hier offenbar einiger kurzer Ausschnitte aus dem Schulfilm Afrikanische Steppentiere, der 1936 von der Berliner Reichsstelle für den Unterrichtsfilm (RfdU) produziert wurde. Siehe auch Georg Hampel (Hg.): Afrikanische Steppentiere. Beihefte der Reichsstelle für den Unterrichtsfilm. F95, Berlin 1936.

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Ulrich Meurer schem beziehungsweise ›Denk‹-Bild. So weist offenbar lediglich der Zwischentitel »I often accompanied Papa to the Zoologischer Garten to see the wild animals.« auf den Übergang vom Traum- zum Erinnerungsbild hin. Grundsätzlich jedoch beruht die Annahme, diese Titelkarte signalisiere den ansonsten nicht weiter explizit gemachten Wechsel vom Imaginären zum Retrospektiven, einizg auf der Vertrautheit mit narrativer (oder gar Freud’scher) Konvention – dem Traumerleben scheint hier, wie gewohnt, die Kindheitsreminiszenz als dessen Auslöser erklärend nachgestellt. Indem und gerade weil sie aber direkt auf die Traumbilder folgen, könnten die Besuche im Hamburger Zoo oder Kino, könnten die Löwen, die sich an dem toten Zebra zu schaffen machen, ebenso nichts anderes als Traumbilder sein. Und bis zur letzten Einstellung des Films bleibt da Ungewissheit, insofern sich zwar annehmen lässt, welche ontologischen oder Realitätsstufen der Film von der nächtlichen Phantasie bis zu ihrer systematischen Deutung durchläuft. An seinen Bildern oder der Erzählstruktur selbst ist das aber nicht zweifelsfrei zu verifizieren. Das betrifft genauso die Einschaltung der Zwischentitel: Obgleich ihr altermedialer Charakter wie auch die allgemeine ›Begrifflichkeit‹ von Sprache und Schrift nahelegen, eine Titelkarte als Erläuterung des Bildgeschehens wahrzunehmen und damit auf einer abstrakteren und analytischeren Ebene anzusiedeln als dieses Geschehen selbst, verwischen abermals die Differenzen zwischen Traumbild und kommentierendem Insert. Wenn Teddy Weisengrund erklärt, sein Vater habe ihn eines Tages ins Kino mitgenommen, dann hält man das für eine Auslassung, die der ›Autor‹ des Traums einfügt, um dem Publikum von einer Kindheitserinnerung zu berichten; somit würde sich diese Texteinblendung – als Schrift im Umfeld der Bilder und zugleich als deren Auslegung – auf gleich doppelte Weise vom Traumdiskurs distanzieren. Unversehens aber tauchen auch innerhalb des Komplexes, den man spontan als Erinnerungs- oder als Traumbild identifizieren will, Schrifttafeln auf, denen nun kaum eine interpretierende oder analysierende Funktion zugesprochen werden kann: Hier fängt das Gedächtnis, fängt die Phantasie zu schreiben an, so dass das bloße Faktum einer Schrifttafel nicht länger die Schwelle zwischen Imaginärem und Symbolischem bezeichnet. Der Titel »Afrikanische Steppentiere« ist Schrift mitten im Imaginären. Das Auftauchen von Texteinblendungen, deren Inhalt, die Form allein liefern keinerlei Hinweis auf ihren ontologischen Status; auch typographische Unterschiede (zum Beispiel die als ›Demarkierung‹ wirkende Frakturschrift) erlauben ohne eine vorangehende, immer spekulative und unzuverlässige Kontextualisierung des Inserts keinen Rückschluss auf dessen Seinsstufe.

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Träume, Tiere, Translationen Alle Schrift im Film ist daher nur dies: Schrift – ohne jeden für sich bereits deutenden Wert.

Erinnerung und Traum: beides schreibt

Auf diese Weise also tilgt The Lion Dream die Unterschiede im selben Maße, wie sie der Film durch seinen Bezug auf das Differenzsystem Freud’scher Theorien zuerst implementiert. Da finden sich ›zeigende Schrift‹ und ›deutendes Bild‹, Traumhaftes inmitten seines eigenen Kommentars und umgekehrt Interpretation innerhalb der Illusion, so dass es letzten Endes kaum verwundert, wenn schon in den ersten Traumszenen des Films Tante Lisle, eine Anhängerin Melanie Kleins,25 vom Löwen als einer »externalization of [...] aggressive phantasies« spricht, wenn sich hier (zumindest als ein Motiv oder ›Gestus‹) die Interpretation bereits in den Schlaf einzuschreiben scheint und der Traum beginnt, sich selbst zu analysieren. Und ebenso wenig erstaunt es, dass am Ende auch die Subjektivität, besser vielleicht: das ›Selbstbild‹ des Träumers durch die objektivierenden, egalisierenden Bilder des Films auf allen Realitäts-, Zeitund diegetischen Ebenen dieselbe Gestalt annimmt:

Der geträumte Teddy, der erinnerte Teddy: dasselbe Kind

25 Vgl. Beloff: Dreamfilms, S. 87.

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Ulrich Meurer Ob uns The Lion Dream vorführt, wie Teddy Weisengrund am 7. März 1947 von seiner Kindheit träumt, oder ob er uns seine Erinnerungen an diese fünfzehn Jahre zurückliegende Kindheit in Hamburg präsentiert, ob sich der Film mit Phantasie, Tagesrest oder Deutung beschäftigt – er zeigt unweigerlich dasselbe Kind, er konstruiert Traum und Gedächtnis aus ein und demselben Material, einem alten 16-mm-Amateurfilm. Wiederum also kein Unterschied. So wird der Familienfilm, dem doch immer das ›So war es‹, das Festhalten des Gewesenen und die dokumentarische Verlässlichkeit am Herzen liegen, funktionalisiert für die Darstellung des Imaginären; in seine Bilder scheinen neben Reminiszenzen nun auch die Eindrücke des gegenwärtigen Traums einzugehen: Die im Filmbild fixierte Gegenwart des Jahres 1933, die Erinnerung an diese bereits verstrichene Gegenwart als ›vergangen‹, ihre Reaktualisierung durch das träumende Ich des Jahres 1947 fallen in jedem der zeitlich unauflösbar verschachtelten Bilder ineinander. Man darf deshalb von einer eigenartigen Dynamik der Verlagerung in diesem und mutatis mutandis auch in allen übrigen Traumfilmen der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society sprechen: Zum einen fließt das ›Oneirische‹, das Traumhafte über in den vermeintlich analytischen Teil, die Interpretation ist von der Fiktion infiziert, und die Bilder enthalten keinen Anhaltspunkt mehr, wie beides zu unterscheiden wäre. Demzufolge löst sich die aktuelle oder erinnerte, die persönliche oder historische ›Wirklichkeit‹ außerhalb des Traumes langsam auf, bis kein einziges der Bilder noch irgend dokumentarisch genannt oder als ein Abdruck der Realität betrachtet werden könnte. Ausnahmslos geraten sie in den Ereignishorizont der Illusion, so dass bald von einem Außen, von einem Außerhalb des Traums keine Rede mehr sein kann. Das heißt aber auch, dass alle Analyse, wie Freud sie betreiben möchte, damit obsolet wird, dass kein Ort mehr existiert, von dem aus der Traum als Traum betrachtet werden könnte. Die diskursive Stellung der Analyse ist aufgegeben. Wie aber nun alle Bilder mit einem Schlag ›oneirisch‹ werden, sind sie zum anderen – und umgekehrt – ganz unversehens alle ›analytisch‹. Dies wiederum ist nicht allein Folge der Bild- und Filmstruktur, die hier die Grenze zwischen beiden Sphären löscht, sondern eine wesentliche Folge der Medialisierung des Traums. Schon der Einsatz der Kamera, die Montage von vorgefundenem Filmmaterial und dessen Projektion fügen unweigerlich eine Entfernung, einen vermittelnden Abstand zwischen dem Nachttraum und seiner filmischen Nachstellung ein; dem Traumfilm wohnt immer schon die (inszenierende, interpretierende) Distanz des Bildes inne. Er zeigt niemals einen Traum, sondern dessen ehemalige Präsenz, die durch ein Medium gegangen ist. Letzten Endes weiß deshalb jeder

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Träume, Tiere, Translationen der Filme der Society um seine Bildhaftigkeit – wie es zuvor nur noch Traum gegeben hat, so gibt es da jetzt kein träumendes Unbewusstes, gibt es da nur Bewusstsein. Einerseits also machen uns die Traumfilme der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society ausnahmslos glauben, dass sie Sigmund Freud folgen, dass sie ihn weit angemessener ins Werk setzen als alle Filme, die die psychoanalytische Methode nicht vorzuführen, sondern auch zu erläutern suchen. Indem jene knappen kinematographischen Skizzen die Bilder des Traums aufzeichnen, Erinnerungsspuren und Tagesreste als Auslöser dieser Bilder anführen, um sich dann deren Interpretation zu widmen, vollziehen sie scheinbar die analytische Schrittfolge Freud’scher Therapie nach – ein praktisches ›Agieren‹, das offenbar weit besser als jede Grundsatzerklärung oder stumpfe Begründung psychoanalytischer Vorgehensweisen im (Spiel-)Film26 die konzeptuellen Voraussetzungen und Regeln der Traumarbeit, die Wunscherfüllung, die Reduktion der Sprache auf Lautspiel und Rebus, den Zweischritt aus Bild und Lektüre anschaulich übersetzen kann. Andererseits unterwandern die Filme ihren eigenen Anspruch, indem plötzlich das Traumbild vollends seiner Analyse gleicht, indem die Analyse in den Traum hineinstürzt und so die allererste und wichtigste Prämisse der Verfahren Freuds nicht mehr gegeben ist: die hermeneutische Trennung von Außen und Innen. Bedeutet aber dieser Mangel an Unterscheidung – ob nun formal oder medial begründet, durch die Assoziationen und Koppelungen der Montage oder durch eine unabänderliche ›Modalität des Realen‹ im Filmbild – unweigerlich ein Scheitern gegenüber der wohlstrukturierten Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse? Ist Freud im medizinischen Dokumentar-, im Spiel-, im autotherapeutischen Amateurfilm nicht beizukommen? 26 Als Einleitung zur berühmten (von Dalí gestalteten) Traumsequenz liefert Hitchcocks Spellbound nicht das einzige, aber ein prominentes Beispiel für solche Kurzeinführungen in die Prinzipien der Psychoanalyse. Hier ist es der alternde Dr. Alexander Brulov (Michael Chekhov), der seinen Patienten und das Publikum aufklärt: »I explain to you about dreams so you don't think it is hooey. The secrets of who you are and what has made you run away from yourself – all these secrets are buried in your brain, but you don't want to look at them. The human being very often does not want to know the truth about himself. Because he thinks it will make him sick. So he makes himself sicker trying to forget. You follow me? [...] Now here is where dreams come in ... They tell you what you are trying to hide. But they tell it to you all mixed up like pieces of a puzzle that don't fit. The problem of the analyst is to examine this puzzle and put the pieces together in the right place – and find out what the devil you are trying to say to yourself.« Zitiert nach der elektronischen Ausgabe des Drehbuchs von Ben Hecht, S. 96f., in: American film scripts online. Alexander Street Press 2005, solomon.afso.alexanderstreet.com [letzter Zugriff: 01.11.2011].

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Ulrich Meurer Verweigert er sich den Bildern oder, allgemeiner, den visuellen Konstellationen, die sich damit (gleich, wie weit man ihr Feld auch fassen will) als das Gegenteil der Analyse erweisen? Oder zielen Albert Grass und seine Gesellschaft womöglich gar nicht auf Übersetzungstreue, so dass die ihrem Projekt innewohnenden Widersprüche am Ende auf einen Bereich jenseits der Translation weisen?

IV. FLOHMARKT Aus Anlass des einhundertsten Jubiläums von Sigmund Freuds Besuch im Dreamland-Vergnügungspark kuratiert Zoe Beloff 2009 eine Ausstellung für das Coney Island Museum. Hier versammelt sie Grass’ Notizbücher, die Skizzen der Fahrgeschäfte und Attraktionen seines eigenen, nie realisierten Dreamland, außerdem Photographien, die die Geschichte der Amateur Psychoanalytic Society dokumentieren, und nicht zuletzt zeigt sie in den Ausstellungsräumen eine Auswahl der Traumfilme auf einem Videoschirm.

Dass aber Beloffs Ausstellung mehr (und anderes) leistet als die Rekonstruktion historischer Fakten, das lässt zuerst die Einleitung des Katalogs ahnen, in der Aaron Beebe, Direktor des Museums, die Aufgabe seiner Institution umreißt: Ihr Anliegen sei vor allem die Überwindung einer von der Spezialisierung der Disziplinen in der

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Träume, Tiere, Translationen Moderne verschuldeten tiefen Kluft zwischen Kunst und Wissenschaft; demgemäß stelle man Künstler aus, die den Geist Coney Islands zwischen artistischer Neugier und beobachtendem Forscherdrang verträten: »With an eye toward undoing the split between fact and fantasy, art and science, they are beginning to break down the disciplinary boundaries that have come to seperate them from ›the hard sciences‹.«27 Während sich aber dieser Ruf nach einer Engführung der Künste und Wissenschaften im Sinne der Aufklärung – oder P.T. Barnums – noch auf den kreativen Transfer von Traumphantasie und -theorie ins Medienbild beziehen mag, wie ihn die Filme der Society vornehmen, macht John Strausbaughs Artikel über Beloffs Ausstellung in der New York Times derart kreative Grenzüberschreitungen nun an anderer Stelle aus: Curiously, no books on the history of Coney Island mention the Amateur Psychoanalytic Society. An online search yielded only references to Ms. Beloff’s exhibit. Knowing of Ms. Beloff’s past efforts to »conjure« the past, one might wonder how much of what she presents in »Dreamland« is historical fact, and how much is wish fulfillment and projection on her part. Did the Coney Island Amateur Psychoanalytic Society really exist? »That’s a good question,« she said with a smile. »What do you think? Let’s think about interpreting this. That’s what Freud was about, taking real things and recontextualizing them to see what that said about us. Maybe that’s the approach I took.«28

Daraus wohl ist triftig zu schließen, dass Albert Grass, seine Pläne für einen freudianischen Themenpark und auch die Coney Island Amateur Psychoanalytic Society freie Erfindung sind. Die Traumfilme stellen eine besondere Klasse des Found footage dar; Zoe Beloff stückelt sie offenbar aus Amateuraufnahmen zusammen, die sie zuvor auf den Flohmärkten von Chelsea entdeckt hat, die sie dann neu montiert und mit selbst hergestellten Zwischentiteln versieht. Was aber nun als ›Fälschung‹ erscheinen will, das ist umstandslos als integraler Bestandteil der künstlerischen Arbeit Beloffs erkennbar: Ihre Tätigkeit als Filmemacherin und Medienkünstlerin besteht vor allem darin, Dispositive, Medienkomplexe und Bilder zu entwerfen, die es – damals – nicht gegeben hat, die jedoch in ihrer eigenartigen ›utopischen Verspätetheit‹, in ihrem zukunftsträchtigen Blick, der einer vergangenen Zeit zugesprochen wird, die visuelle 27 Aaron Beebe: »The Coney Island Museum. A Brief History of the Way Things That Weren’t Separate Are Separate Now«, in: Zoe Beloff (Hg.): The Coney Island Amateur Psychoanalytic Society and its Circle. New York 2009, S. 911, hier S. 11. 28 John Strausbaugh: »The Case of Sigmund F. and Coney I.«, in: The New York Times, 22. Juli 2009, online: www.nytimes.com/2009/07/26/arts/ design/26strau.html?pagewanted=all [letzter Zugriff: 01.11.2011].

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Ulrich Meurer Sensibilität einer zurückliegenden Epoche in sich tragen und im Jetzt entfalten. In Shadowland or Light from the Other Side (2000) sind es der Spiritismus der viktorianischen Ära, prä-kinematische Projektionen wie die Bilder der Laterna magica und stereoskopische Optiken des 19. Jahrhunderts, die Beloff in einer 3D-SchmalfilmInstallation zu einem ungekannten, zugleich aber historisch anmutenden Dispositiv verschränkt, und mit Charming Augustine (2004) erfindet sie eine ähnliche Anordnung, ein überaus komplexes Kino vor dem Kino auf der Grundlage von medizinischen Photoserien der 1870er Jahre und der Chronophotographie eines Marey oder Albert Londe. Wie jene visuellen Konstellationen ausnahmslos die Arten und Weisen des Sehens und dabei auch die wissenschaftlichen Diskurse einer vergangenen Zeit höchst verdichtet darstellen (das heißt in konzentrierter wie poetisierter Form), wie sie außerdem deren Fortsetzungen und Anschlüsse in der Gegenwart aufdecken, so verfügt auch das Projekt der Coney Isand Amateur Psychoanalytic Society über eine historische und eine gleichsam präsentische Komponente. Zunächst setzt dieser Bildkomplex, der aus den nie realisierten Plänen für einen Vergnügungspark und den Filmen der Society besteht, ganz unabhängig von seinem ›Wahrheitsgehalt‹ geradezu exemplarisch Beloffs zentrales Thema um, die Visualisierung des Abwesenden, »the idea of photographing the intangible, something that is not there«.29 Vor allem das – die Beschäftigung mit Ablichtungen des Geisterhaften und Geistigen, mit Bildern des Abstrakten und Unfassbaren – betrifft dabei stets den informativen Status der Bilder. Immer scheint Beloff sie zu fragen, was sie zu zeigen imstande sind; immer steht daher auch die vermeintliche Wissenschaftlichkeit des Bildes zur Debatte, seine Belegfunktion ebenso wie die Stelle, an der es den Bereich objektiver Indizes verlässt und übergeht ins Traumhafte, Imaginäre oder Phantastische. Insofern also werden die Filme der ›Analytischen Gesellschaft‹ Teil einer umfassenden kritischen Untersuchung des Wissensgehaltes von (nicht nur photographischen) Abbildern. Derweil erweist sich das Ergebnis einer solchen Untersuchung als recht widersprüchlich. Zwar glaubt das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert fest an die Beweiskraft des technisch produzierten und reproduzierbaren Medienbildes, das die Realität getreu abbildet oder gar dem stumpfen menschlichen Auge erst zu enthüllen vermag (man photographiert die Aura der Hysterie, röntgt das verborgene Gerüst des Weltinnern, lichtet Geister ab und erhält Einblick ins Jenseits, die Cousinen Elsie Wright und Francis Griffiths können mit ihren Lichtbildern die Existenz 29 Zoe Beloff: »Mental Images: The Dramatization of Psychological Disturbance«, in: Karen Beckman, Jean Ma (Hg.): Still Moving. Between Cinema and Photography. Durham, London 2008, S. 226-252, hier S. 226.

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Träume, Tiere, Translationen von Feen beweisen,30 und die Society macht Träume sichtbar ...). Aber zugleich bleibt der wissenschaftliche Diskurs, so oft er sich optischer Techniken auch bedient, eben dies: ein discours, manches Mal mündlich geführt, meist schriftlich fixiert, der dem Bild, obwohl es ihm direkt aufruht, misstraut und dessen argumentatives Potenzial in Frage stellt. Bestenfalls gilt es ihm als höchst selektives, nur punktuell gültiges Beweismaterial. Denn im Gegensatz zur Sprache, die versteht, ist das Bild eine Oberfläche; es bildet ab, erklärt aber nichts. Diese Frage nach der Beweiskraft der Bilder, nach ihrer Fähigkeit, etwa die Seele und deren Analyse auf die Leinwand zu übersetzen, ist freilich überaus modern, ist ein Relikt der Moderne: Brian McHale erinnert daran, dass die Dominante dieser Moderne ›epistemologisch‹ ist, indem sie fragt: »Was ist zu wissen? – Wer weiß es? – Wie haben sich diese Instanzen ihr Wissen angeeignet und mit welchem Grad an Sicherheit?«31 Indem sie unablässig über die Grenzen des Wissens und über dessen Subjekte nachdenkt, will sie gleichzeitig hinter die Dinge schauen, um dort Wirklichkeit oder Wahrheit zu erfahren. Sie ist wie ihr Abkömmling, die Psychoanalyse, wesentlich hermeneutisch; sie will lesen, das Unbekannte ins rational Bekannte übersetzen und verstehen – und versteht dabei nur langsam und erst in ihrem katastrophischen Ende, dass dieser Anspruch ihrer epistemologischen Dominante kaum je erschöpfend zu erfüllen war. Insofern führt Zoe Beloff mit den Plänen für ein freudianisches Dreamland und den Filmen der Society einen Bildkomplex vor, der als Translation und Veranschaulichung der Psychoanalyse eine eminent moderne Wissensanordnung darstellt und damit den Blick freigibt auf eine historisch zurückliegende Phase kulturellen und visuellen Selbstverständnisses. Jedoch gibt sich neben jener geschichtlichen auch die präsentische Komponente des Coney-Island-Projekts zu erkennen – namentlich im Aspekt des ›Falschen‹. Denn Beloffs Found footage ist eben nicht (nur) dazu angetan, die Freud’sche Traumdeutung ins Bewegtbild zu übertragen oder über eine vergangene Moderne Auskunft zu geben. Stattdessen wären die Filme der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society, wäre Zoe Beloffs Unternehmung mit Brian McHale wohl als ›postmodern‹ zu bezeichnen, nicht mehr epistemologisch interessiert, sondern nun ›ontologisch‹ an den Möglichkeiten des Seins: Ihre ontologische Dominante veranlasst die Postmoderne, statt nach dem Wissen nun danach zu fragen, was eine Welt ist, welche Arten von realen oder fiktiven Welten es gibt, 30 Vgl. hierzu u.a. den Ausstellungskatalog des Städtischen Museums Abteiberg Mönchengladbach (Hg.): Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren. Ostfildern-Ruit 1998, S. 91. 31 Vgl. Brian McHale: Postmodernist Fiction. London, New York 1987, S. 9f.

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Ulrich Meurer wie sie konstruiert sind und was geschieht, wenn mehrere solcher Welten in Kontakt geraten. Dieser Wechsel der Dominante – der charakteristische Mangel an moderner ›Leselust‹ und ›Wissbegier‹ einerseits, andererseits die experimentelle Konfrontation von getrennten Seinssphären – kündigt sich an in jener am Lion Dream vorgeführten Löschung der Differenz zwischen Imagination und ›Realität‹, in der Wendung restlos aller Bilder ins Imaginäre, so dass keine distanzierte, deutende Position mehr Bestand hat. Genauso gerät das Wissen der Moderne in Bedrängnis, wenn in Beloffs Film der mediale Unterschied zwischen Schrift- und Bildanteil (oder derjenige zwischen Schwarzweiß- und Farbmaterial) nicht länger hinreicht, eine zu schwache Markierung ist, um beide Welten, die Psyche und die Analyse, auseinanderzuhalten. Da sie deren Gegensatz lediglich simulieren, da sie ihn außerdem nur lustlos und unentschieden bestimmen mögen, geht es den Traumfilmen offenkundig weniger um die Einsicht in ein fernes Immaterielles, Unsichtbares und Seelisches, sondern eher um die Kritik eines solchen Prinzips der ›Kenntnis‹. Schon Zoe Beloffs Verfahren zur Herstellung der Filme zeugt von der Absicht, dem sinnvollen Artefakt oder lesbaren Zeichen allen Sinn zu entziehen. Denn wo Sigmund Freud – wie Foucault in leicht mokantem Ton bemerkt – durch seine ganze »Arbeit der Hermeneutik« aus dem Traum »den Sinn des Unbewussten« macht, die »Manifestation seines verborgenen Sinnes«,32 da tilgt Beloff zuerst einmal die ursprüngliche Bedeutung der Zeichenkomplexe, mit denen sie operiert, bis sie auf nichts mehr verweisen und mit einem gänzlich neuen, arbiträren und fiktiven Gehalt angefüllt werden können: Was früher Heimfilm war, das verliert in der Montage und Rekontextualisierung durch Beloff seinen Bezug auf ein Vorheriges; es ist nicht länger mehr Dokumentation einer privaten Wirklichkeit (ein Familiengeburtstag, ein Tag auf dem Land, ein Ausflug in den Zoo). In den Kombinationen des Found footage entsteht stattdessen die Fiktion eines nie geträumten Traums ohne jedes reale ›Vor-Bild‹, dessen Ursprung, eigentliches Signifikat und neuer Sinn die Sogkraft des Irrealen selbst ist. Der Film bildet nichts ab, was vor ihm existiert hat; er produziert die Struktur einer Bedeutung, die es ohne ihn nicht gegeben hätte. Indem das Bild keine Realität attestiert (und sei es die Realität der Träume), indem es keinerlei Einsicht zu vermitteln scheint in die Mechanik des Unbewussten, kein Wissen um einen äußeren Sachverhalt, äußert sich in ihm die ontologische Dominante McHales. Der Film gerät zum konstruktiven Agenten und kreativen Erfinder des Traums und damit sogar einer ganzen Welt, in der dieser Traum statthaben darf; es entsteht um ihn her eine alternative 32 Michel Foucault: »Einleitung«, in: Ludwig Binswanger: Traum und Existenz. Bern, Berlin 1992, S. 7-93, hier S. 13.

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Träume, Tiere, Translationen und selbstbezügliche Realität – will man sie ›Fälschung‹ nennen, dann tritt in ihr fraglos zutage, was Gilles Deleuze als die positive »Macht des Falschen«33 bezeichnet –, in der ein Albert Grass ›tatsächlich‹ sein Dreamland plant und die Coney Island Amateur Psychoanalytic Society gründet. Der Wechsel von Fakt zu Fiktion, von einfältigem Wissen zu mannigfaltigen Welten, von Epistemologie zu Ontologie ersetzt zugleich das moderne Unbewusste durch eine postmoderne Sphäre, in der die ›Wahrheit‹ und deren Bild in eins fallen. Es scheint, als könnte sich einzig im Found footage eine derartige Synthese ereignen, in einem Bild, das real und erfunden ist, dem 20. und dem 21. Jahrhundert entstammt, zugleich Wissenschaft und Kunst ist.

V. KANINCHENBAU Da sich jetzt nicht mehr die Frage stellt, ob das Filmbild den Traum oder auch dessen Analyse nach Freud in sich aufnehmen und wiedergeben kann (diese hinfällige Frage einer bereits vergangenen Moderne), da sich jenes Filmbild, indem es nichts anderes darstellt als die eigene Fiktionalität, über die bloße Re-präsentation erhebt, kann auch von Übersetzung, wie es scheint, nicht länger die Rede sein. Die nämlich benötigt – neben einer medialen Grundlage aus relativ locker gekoppelten Elementen – zudem ein ›Original‹ als ihr zweites Medium, ein wie auch immer geartetes System, dessen Ausdruck oder »Art des Meinens«34 sie in ihr eigenes System übertragen kann. Ohne diesen besonderen Bezug auf einen vorgängigen Text, ein Bild, ein Traumnarrativ, eine wissenschaftliche Disziplin wären für die Arbeiten Zoe Beloffs allein die Amateuraufnahmen, aus denen sie durch Rekombination hervorgegangen sind, als einziges Me-

33 Deleuze lehnt sein Konzept einer »Macht des Falschen« an Leibniz und dessen Prinzip möglicher, aber inkompossibler Welten an: »Eine Macht des Falschen substituiert und verdrängt die Form des Wahren, weil sie die Gleichzeitigkeit der inkompossiblen Gegenwarten oder die Koexistenz der nicht notwendigerweise wahren Vergangenheit setzt.« (Gilles Deleuze: Das ZeitBild. Kino II. Frankfurt/M. 1991, S. 174f.) Aus der Unvereinbarkeit eines Wahrheitsanspruchs mit unterschiedlichen kontingenten Realitäten und Zeiten erwachsen daraufhin narrative Konstrukte, die sich nicht für eine jener Realitäten entscheiden, sondern diverse Welten nebeneinanderstellen – eine ohne und eine mit der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society. 34 Die »Art ihres Meinens« ist, was nach Benjamin zwei Sprachen (oder auch Zeichensysteme) unterscheidet. Siehe Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. IV.1. Frankfurt/M. 1972, S. 9-21, hier S. 14.

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Ulrich Meurer dium auszumachen.35 Mit anderen Worten: Indem die Traumfilme keinerlei ›doppelte Bezüglichkeit‹36 aufweisen (zu einem Medium und zu einem Original), stellen sie schlicht ein gleichsam in sich selbst beschlossenes ›Kunstwerk‹ dar, das den vermittelnden Prozess einer Translation lediglich fingiert. Da deshalb auch kein Differenzraum mehr auszumachen ist zwischen einem primären Zeichenkomplex und einem sekundären, der jenen ersten übersetzte, bliebe nur übrig, ohne einen Seitenblick auf etwa signifikante Bedeutungslücken oder Abstände, in denen – mit Niklas Luhmann – ein Basismedium aufscheinen könnte, von der Struktur der Filme selbst zu sprechen. Gleichwohl wären Zoe Beloffs Traumfilme doch noch in das Paradigma der Übersetzung einzuordnen, wenn man ihnen zum einen das Material der auf dem Trödel entdeckten Bildstreifen als ihre mediale Grundlage zuwiese, während zum anderen die ›Form des Wissenschaftsfilms‹ den Gegenstand der Translation und damit das für einen Übersetzungsprozess unerlässliche ›Original‹ lieferte. Nähme man also neben den von Beloff verarbeiteten Werkstoffen aus dem amerikanischen Heimkino die medizinische Dokumentation, den psychoanalytischen Lehrfilm, allgemein die Visualisierungen Freudscher Theorie im Bewegtbild als diejenigen (virtuellen) Formen an, die hier ihre Übersetzung erfahren, dann gewährleistete dies nicht nur die zweifache Bezüglichkeit, die für jede Übersetzung sowohl typisch als auch unerlässlich ist; darüber hinaus eröffnete es gerade jene Distanz, jenen Abstand und Vergleichsraum zwischen der allgemeinen Form des Wissenschaftsfilms und der speziellen Form der Traumfilme der Society, in dem der darunter liegende mediale Stufenbau (Film, Visualität, Episteme, Wissensstruktur ...) bis hinab zum Grund und ›Sinn‹ sichtbar würde. Ist man nun aber willens, der Bezugnahme Beloffs auf eine doch sehr generelle Form translatorischen Wert zuzugestehen, ist man zuvorderst bereit, die Teilhabe ihrer Traumfilme am Komplex konventioneller Genremerkmale des Wissenschaftsfilms als ›Übersetzung‹ zu verstehen, dann gewinnt fraglos der Umstand zentrale Bedeutung, dass der Transfer von (zum Beispiel psychoanalytischen) Thesen in die Bildfolge eines jeden solchen Wissenschaftsfilms sei35 Diese und alle folgenden Überlegungen zur Frage der Übersetzung beziehen sich auf das im Vorwort, S. 20-26, an Benjamin und Niklas Luhmann entwickelte Konzept, das sich durch vier Hauptmerkmale auszeichnet: Übersetzung ist eine Form, die aus Formen gebildet ist; sie bezieht sich nur indirekt auf ein Basismedium (Sinn, Sprache ...); sie bezieht sich zusätzlich auf ein vorgängiges ›Original‹; die Differenz zwischen Übersetzung und Original macht das Basismedium kenntlich. Siehe hierzu v.a. S. 24 dieses Bandes. 36 Vgl. ebd., S. 21.

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Träume, Tiere, Translationen nerseits schon Übersetzung ist.37 Mithin wäre die darauf folgende Neuformung und -formulierung verfilmter Wissenschaft durch Zoe Beloff nicht nur ebenfalls Übersetzung, sondern Übersetzung einer Übersetzung. Und noch genauer ließe sich dieser Vorgang vielleicht bestimmen als die Translation weniger eines abgeschlossenen Zeichenensembles, das selbst Übersetzung ist, sondern als Translation seines Verhältnisses zu einem Original. Das heißt, es treten hier nicht mehr nur zwei Instanzen (Werk und Übersetzung) miteinander in Kontakt; vielmehr sind es drei Elemente, deren erste beide bereits ein Translationspaar, einen vollständigen Relationskomplex bilden und ihren eigenen Zwischenraum besitzen, der dann zum Gegenstand einer nächsten Übersetzung werden kann. Im Lichte Walter Benjamins ist dabei eben dies maßgeblich: dass es nicht um die Übersetzung des Ergebnisses einer vorangegangenen Übersetzung geht, eines fertigen Artefakts, eines (filmischen) ›Texts‹. Denn ein derartiger Übersetzungstext ist – da er kaum mehr auf einen Gehalt, sondern vor allem auf seine eigene formale Verfasstheit und so zugleich auf das Medium selbst fokussiert – recht eigentlich nicht weiter, nicht noch einmal zu übertragen.38 Was Beloffs Filme deshalb in den Diskurs der Kunst übersetzen, das sind nicht einfach Beispiele oder Formen des Wissenschaftsfilms; es ist dessen übersetzende Beziehung, dessen Bezüglichkeit zu Traumphänomenen und psychoanalytischer Lehre. Statt der Übersetzung einer Übersetzung, was Benjamin als ebenso unmöglich wie überflüssig deklariert, leisten Beloffs Traumfilme die Übersetzung des ganzen Gefüges aus Original, Translation und ihrem Differenzraum; und indem sie auf diesen gesamten Block zweier Werke einschließlich ihres strukturalen Unterschieds zielen, übersetzen sie am Ende die ›Struktur des Übersetzens‹ oder auch das ›Übersetzerische‹.39 37 Vgl. ebd., S. 41f. 38 Vgl. Benjamin: Aufgabe des Übersetzers, S. 15: Der wesenhafte Kern der Übersetzung lasse sich »als dasjenige bestimmen, was an ihr selbst nicht wiederum übersetzbar ist. Mag man nämlich an Mitteilung aus ihr entnehmen, soviel man kann und dies übersetzen, so bleibt dennoch dasjenige unberührbar zurück, worauf die Arbeit des wahren Übersetzers sich richtete. Es ist nicht übertragbar wie das Dichterwort des Originals, weil das Verhältnis des Gehalts zur Sprache völlig verschieden ist in Original und Übersetzung. Bilden nämlich diese im ersten eine gewisse Einheit wie Frucht und Schale, so umgibt die Sprache der Übersetzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten. Denn sie bedeutet eine höhere Sprache als sie ist und bleibt dadurch ihrem eigenen Gehalt gegenüber unangemessen, gewaltig und fremd. Diese Gebrochenheit verhindert jede Übertragung, wie sie sie zugleich erübrigt.« 39 Dementsprechend will das umseitige Diagramm veranschaulichen, wie die End- oder Zielterme des Übersetzungskonzepts, das im Vorwort dieses Bandes erläutert ist, nunmehr gemeinsam zum Ausgangsterm und Objekt

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Ulrich Meurer

Weil aber so die Traumfilme der Coney Island Amateur Psychoanalytic Society nicht länger eine einfache, um Äquivalenz bemühte Doppelung des Wissenschaftsfilms darstellen, muss auch der Vorwurf mangelnder historischer und besonders epistemischer ›Wahrheit‹ ins Leere gehen. Denn Fälschung kann nur sein, was sich ähnlich zu machen versucht und eine bestimmte Form nachahmt. Währenddessen richten sich all die kurzen filmischen Collagen nicht auf eine Form, sondern auf das Verfahren ihrer Herstellung; sie simulieren keine Wissenschaft – und sei es eine von Laien praktizierte –, sie reflektieren vielmehr den Anspruch und die Fähigkeit von Bildern, Wissenschaft zu visualisieren. Das ist es, was jetzt im Differenzraum zwischen dem primären Übersetzungsgefüge und seiner anschließenden Übersetzung aufscheint: zunächst (als ein erstes Medium) eben die Übersetzungsstruktur, das Funktionieren, die Mechanik des Übersetzens. Dann (als ein bereits tiefer gelagertes Medium) sicher auch die Bilder, der weite Bereich des Visuellen, aus dem die Translationen der Wissenschafts- wie auch Traumfilme hervorgehen. Dann (wiederum darunter) möglicherweise das Feld des Wissens und die Methoden seiner Speicherung, zu denen eben auch das Bild zählt. Dann (nochmals tiefer) das Symbolische und – weil es sich um Träume handelt – das Imaginäre, denen jedes zeigoder diskursivierbare Wissen aufruht. Bis zum Grund dieses Stufen- und Kaninchenbaus weit mehr sichtbar geworden ist als nur Traum und nur Freud.

eines zweiten Translationsprozesses (Übersetzung') werden. Vgl. dazu die Graphik auf S. 25.

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Zum Problem des Über-Setzens in Tom Tykwers Heaven VOLKER MERGENTHALER

1. HEAVEN – KEIN FILM ZUM THEMA ›ÜBERSETZEN‹? Heaven, Tom Tykwers fünfter spielfilmlanger Film, ist 2001 in die Kinos gekommen. Sein Thema ist, so stellt es sich zumindest dann dar, wenn man den lakonischen Hinweisen auf der Vorderseite der DVD-Hülle1 vertraut, »ein Verbrechen aus Verzweiflung« und »der Anfang einer unendlichen Liebe«. Auf der Rückseite findet sich eine plot-summary für diejenigen, die es noch genauer wissen wollen. Darin heißt es: Turin. Vier unschuldige Menschen fallen einem Attentat zum Opfer. Widerstandslos lässt sich die Englischlehrerin Philippa [...] festnehmen. Sie leugnet nichts – und ist am Boden zerstört. Denn ihr Ziel war ein anderer, ein Drogendealer, der ihren Mann und viele ihrer Schüler auf dem Gewissen hat. Die Polizei beharrt auf einem politischen Motiv. Nur ein junger Polizist [...] schenkt der Engländerin Glauben, denn insgeheim ist er fest davon überzeugt, dass sie füreinander geschaffen sind. Er entwirft einen Plan, der ihr die Freiheit zurückgeben soll – egal, ob es seine Karriere oder gar sein Leben kosten kann. Er ahnt, dass er keine Bedingungen stellen darf, um ihr seine Liebe zu beweisen ...2

Was sich in den eben zitierten Paratexten nun gar nicht findet, das ist ein wenigstens schwaches Indiz dafür, dass der Film sich dem Thema ›Übersetzung‹ widmet. Und doch ist ›Übersetzen‹, wie ich meine, die vielleicht entscheidende Chiffre dieses Filmes. Es gilt daher herauszubringen, wie Tykwers Heaven den Begriff des Übersetzens theoretisch auflädt.

1 2

Heaven (Tom Tykwer, DVD, Warner Home Video, 2002). Ebd.

203

Volker Mergenthaler

2. FILIPPO ALS DOLMETSCHER Sucht man im Expliziten, so wird man schnell fündig: Philippa, die in den Augen der Ermittlungsbehörden im dringenden Verdacht steht, ein schweres Verbrechen begangen zu haben, verhaftet und anschließend vernommen wird, besteht darauf, wie es ihr als britischer Staatsbürgerin von Rechts wegen zusteht, nicht in der Landes- und Amtssprache, auf Italienisch, sondern in ihrer Muttersprache Englisch aussagen zu dürfen. Zugegen sind neben der Tatverdächtigen der Staatsanwalt, ein Kriminalpolizist, Novicov, und vier Carabinieri: nämlich Maresciallo Capo Marescotti und Brigadiere Cassande als Wachmänner, Maggiore Pini als Leiter der polizeilichen Ermittlungen und als Protokollführer Sottotenente Filippo Fabrizi: Staatsanwalt: Sie ist Engländerin. Novicov: Na und? Staatsanwalt: Sie will auf Englisch aussagen. Wir brauchen einen Dolmetscher. Novicov: Nichts da. Keinen Dolmetscher. Sie versteht uns sehr gut. Jedes Wort! Schluss mit dem Theater! Staatsanwalt: Es ist ihr gutes Recht. Novicov: Ich scheiß auf ihre Rechte. Sie werden auf Italienisch zuhören, italienisch sprechen und gestehen. Auf Italienisch! Filippo: Entschuldigung … Ich kann übersetzen. Ich bin qualifiziert.3

Fortan, bis zum Ende der Verhöre, übersetzt Filippo. Und seine Tätigkeit ist – anders als es vor flüchtigen Blicken den Anschein gewinnen könnte – durchaus von dramaturgischem Gewicht. Philippa und er verfügen nämlich über die Möglichkeit, sich auf Englisch zu verständigen, da sie offenbar die Einzigen sind, die diese Sprache sprechen. Gleichwohl unterliegt dieses Privileg einer erheblichen Einschränkung: Filippo darf als Protokollant und Dolmetscher, als reines Medium, nicht frei mit ihr kommunizieren. Es gelingt ihm aber, einen winzigen Freiraum zu schaffen und Philippa unbemerkt einen kurzen Hinweis zu geben. Er hat ihr ein Diktiergerät zugesteckt, das sie später in ihrer Zelle heimlich abspielen kann. Sie erfährt auf diese Weise, wie er ihr zur Flucht verhelfen will, spricht sodann, wie angewiesen, ihr Einverständnis aufs Band und lässt Filippo die Aufzeichnung zukommen. Filippo wiederum bespricht erneut ein Tonband, um ihr präzise Anweisungen für die Flucht zu geben: »Donnerstag, so gegen 10 Uhr, kriegst du Bauchschmerzen. Du gehst zur Toilette und kommst nach ein paar Minuten wieder. Wenn du gefunden hast, was dort für dich versteckt liegt, gib mir 3

Heaven, 00:12:38-00:13:22; italienische Rede wird in der deutschen Filmfassung untertitelt. Ich zitiere den Text der Untertitel.

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Zum Problem des Über-Setzens ein Zeichen.«4 Dieses Zeichen gibt Philippa auf überaus brisante Weise, und zwar als sie nach dem Besuch der Toilette ins Verhörzimmer zurückgeführt und vom Staatsanwalt nach ihrem Befinden gefragt wird: »Ich habe«, so beginnt sie, »einen Beutel, eine Notiz und einen Schlüssel auf der Toilette gefunden.«5 Filippo zögert einige Zeit und übersetzt ihre Rede erst nach Aufforderung durch den Staatsanwalt: Filippo: In der Toilette habe ich eine Tasche gefunden, einen Zettel und einen Schlüssel. Staatsanwalt: Wann? Philippa: Vor einer Woche ... In dem Beutel waren eine Spritze und die Testergebnisse einer HIV-Untersuchung. Auf dem Zettel standen nur drei Worte: Werft ... mich ... weg. Der Schlüssel gehörte zu der Tür vom Gewächshaus unserer Schule. Eine von meinen Schülerinnen, Carla … über drei Tage hatte sie dort schon gehangen.6

Philippa hat nicht etwa den Fluchtplan und damit Filippo preisgegeben, sondern mit den Mitteln einer hoch ambivalenten, dialogischen,7 in den Ohren der sie Verhörenden allerdings unverdächtig klingenden Narration Filippo wunschgemäß wissen lassen, dass sie auf der Toilette gefunden hat, was er dort für sie deponiert hatte. Zwar gibt sie diese Bestätigung auf Englisch, doch tut sie es im offiziellen Raum der Übersetzungssituation, sie integriert ihren ausschließlich für Filippo vorgesehenen Hinweis bruchlos in die offizielle Rede des Verhörs und gefährdet auf diese Weise, auch wenn es zunächst nicht den Anschein hat, sich selbst so wenig wie Filippo. Wenig später setzt Philippa den von Filippo entworfenen Plan in die Tat um und flieht aus der Untersuchungshaft. Filippos Tätigkeit als Dolmetscher ist damit beendet. Nicht länger als elf Minuten hat man ihn in dieser Funktion gesehen, so dass man begründeten Zweifel daran hegen kann, dass dem Problemfeld ›Übersetzung‹ in Tykwers Film mehr als nur eine Nebenrolle zukommt. ›Übersetzen‹, so scheint es, ist vollständig dem filmischen Plot untergeordnet, es ist offenbar nicht Thema des Films, sondern ein Element der Narration – eines lediglich unter vielen.

4 5 6 7

Ebd., 00:35:19-00:35:33. Ebd., 00:39:06-00:39:17. Ebd., 00:39:39-00:40:30. Im Sinne von Michail [M.] Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Frankfurt/M. u.a. 1985, S. 207-211; Michail M. Bachtin: »Das Wort im Roman«, in: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel, Frankfurt/M. 1979, S. 154-300, hier S. 155-168.

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Volker Mergenthaler

3. DAS THEMA DES FILMS Was aber ist das Thema des Films – welches Problem stellt er in sein Zentrum? Folgt man der von seinem Titel Heaven ausgelegten Spur, so geht es um den Himmel – nicht im physikalischen, englisch durch ›sky‹ auszudrückenden, sondern im soteriologischen Sinne des Wortes, mithin um das Reich Gottes: jenseitig gefasst als ›afterlife concept‹, diesseitig gefasst als die in Glauben und Liebe sich manifestierende Gottesherrschaft. In den ersten sechzig Minuten scheint diese Spur zwar nicht in die Irre, dafür aber in die schiere Gegenrichtung zu führen: nicht in das Gnadenreich, sondern in eine sündige Welt. Vorgeführt wird nämlich, wie vier Menschen durch Philippas Anschlag zu Tode kommen. Es wird deutlich, dass das eigentliche Zielobjekt des Anschlags, der Unternehmer Vendice, Turin in großem Stil mit Drogen versorgt, dass einflussreiche Personen der örtlichen Polizeibehörde davon Kenntnis haben, den Kriminellen decken und bereit sind, die ihn belastende Philippa umzubringen, dass Filippo seine Dienstpflicht verletzt und einer geständigen Tatverdächtigen zur Flucht verhilft, und dass er es ihr ermöglicht, Vendice schließlich doch noch zu ermorden. Philippa ist allerdings nicht als kaltblütige Mörderin akzentuiert, sondern als Verzweiflungstäterin. Sie hat, wie sie glaubhaft beteuert, mehrfach versucht, Vendice anzuzeigen. Ihre Hinweise, ihre Anrufe und Schreiben wurden aber offenbar von korrupten Polizisten abgefangen. Nun will sie Vendice, den sie für Elend und Tod der oftmals noch minderjährigen Drogenabhängigen Turins verantwortlich macht, mit den Mitteln der Selbstjustiz zur Strecke bringen. Ihren Anschlag kündigt sie telefonisch an und bekennt sich mit ihrem Namen dazu. Dass ihr Attentat Unbeteiligte in den Tod gerissen hat, erfährt sie erst später und ist zutiefst schockiert. Unmittelbar nach ihrer Flucht legt sie Filippo ihre Haltung dar: »Weißt du, warum ich einverstanden war? ... Warum ich fliehen wollte? ... Ich will mich meiner Strafe nicht entziehen. Ich habe vier unschuldige Menschen umgebracht … Und dafür will ich einstehen. ... Aber vorher … will ich ihn töten ... Das ist der einzige Grund, warum ich fliehen wollte.«8 Wenig später, nachdem Philippa mit Filippos Hilfe Vendice erschossen hat, gewinnt die durch den Titel Heaven ausgelegte Spur erstmals einen deutlich erkennbaren Bezugspunkt. Aufgeworfen ist die Frage von Schuld und Sühne, und zwar in einem nicht mehr juridischen, sondern von nun an religiösen Sinne – warum sonst sollte sich Philippa den Behörden nach der gelungenen Ermordung Vendices nicht stellen?

8

Heaven, 00:46:32-00:47:05.

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Zum Problem des Über-Setzens Am Ende des Films steigen Filippo und Philippa mit einem gestohlenen Hubschrauber der Carabinieri senkrecht in den Himmel auf. Die Kamera fängt ihren Flug vom Boden aus ein, hält in einer 50-sekündigen Einstellung fest, wie der Hubschrauber aufsteigt, bis er kleiner und kleiner werdend im Blau des Himmels verschwindet.

4. ›HEAVEN‹ ODER ›SKY‹? FILIPPO ALS HERMENEUTISCHES VORBILD Filippo und Philippa gehen also am Ende in den Himmel ein. Was aber sollte den Rezipienten annehmen lassen, dass ihr Flug nicht den Gesetzen der Physik, sondern denjenigen der Metaphysik unterstellt ist, dass ihr Aufstieg die Flüchtigen nicht in den ›sky‹, sondern eben in den ›heaven‹ führt? Diese Frage lässt sich erst dann beantworten, wenn man das von Philippa eingeführte und an Filippo erprobte Modell ambivalenter Kommunikation als hermeneutische Gebrauchsanweisung für die Filmrezipienten entziffert. Es gilt demnach, so wie Filippo die Ambivalenz der Rede Philippas durchschaut, die Ambivalenz der im filmischen Code unterbreiteten Informationen zu erfassen.

5. ARCHITEKTUR UND RAUMORDNUNG DES FILMS Dies ist allerdings erst dann möglich, wenn man die Architektur des Filmes berücksichtigt: Heaven verfügt über zwei Akte und einen ›Prolog im Simulator‹. Zu Beginn sieht man eine computergenerierte intensiv-grün gefärbte Landschaft. Filippo lernt, wie man schnell begreift, Hubschrauber fliegen in einem Simulator. Gegen Ende des virtuellen Fluges zieht er den ebenso virtuellen Hubschrauber in die Höhe, bis zum Absturz des Programms. »Mit einem echten Hubschrauber«, so ist der mutmaßliche Fluglehrer aus dem Off zu hören, »kannst du nicht so hoch fliegen.«9 Es folgt der erste Akt, Schauplatz ist Turin. Gezeigt werden der von Philippa verübte Anschlag, ihre Festnahme, das Verhör, die Ermordung Vendices und die Flucht mit Filippo. Schauplatz des zweiten Aktes ist Montepulciano in der Toskana, der Ort, an dem Philippa aufgewachsen ist. Hier suchen Filippo und Philippa Zuflucht, werden aufgestöbert und fliehen mit dem gestohlenen Hubschrauber. Alle drei Teile – Prolog, erster und zweiter Akt – sind auf sehr augenfällige Weise voneinander getrennt oder, wenn man so will, miteinander verknüpft: Der Prolog endet mit dem Absturz des Simulationsprogramms. Zu sehen ist, wie das computergenerierte Bild abgeschaltet wird:

9

Ebd., 00:02:32-00:02:35.

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Volker Mergenthaler Die Bildschirmfläche zieht sich schlagartig zu einem kleinen hellen Punkt zusammen, der sich in eine Schwarzblende auflöst.10

Der erste Akt endet und der zweite beginnt mit einer Eisenbahnfahrt durch einen Tunnel. Zu sehen ist eine den gesamten Filmkader ausfüllende schwarze Fläche, in deren Mitte ein winziger heller Punkt – das Licht am anderen Ende des Tunnels – auftaucht, ein Punkt, der sich rasch vergrößert zu einer Landschaft, der Toskana.11

Der zweite Akt schließlich endet mit dem Verschwinden des Hubschraubers im Himmel über der Toskana. Wie am Ende des Prologs

10 Ebd., 00:02:25-00:02:28. 11 Ebd., 01:03:07-01:03:23.

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Zum Problem des Über-Setzens verkleinert sich auch hier etwas bis zur Punktgröße, um schließlich vollständig zu verschwinden. Ikonographisch betrachtet schließt sich nun der Kreis, denn die letzte Einstellung bildet das empirische Äquivalent zur computergenerierten Himmelsansicht des Prologs.12

Man wird diese strukturellen Äquivalenzen schwerlich Zufall nennen können.13 Was aber besagt dieser Befund? Was sind seine Implikationen, insbesondere seine räumlichen? Denn mit solchen hat man es zuvörderst zu tun: Die Übergänge etablieren nämlich eine Raumordnung, eine Raumordnung, deren Beginn durch eine virtuelle Sphäre markiert wird: durch die vom Flugsimulator erzeugte Landschaft. Nachdem sie implodiert ist, befindet man sich offenbar in der Realität, aus der man nach der Tunnelfahrt wieder entlassen und in eine neue, im Folgenden näher zu bestimmende Sphäre überführt wird. In der Logik der zu Beginn, durch die Überführung von einer virtuellen in die Sphäre der Realität begründeten Raumordnung (in dieser Logik) müsste jetzt wieder eine virtuelle Sphäre eröffnet werden, denn man hat es ja mit einer Umkehrung zu tun. Die Implosion des Simulatorbildes zum verschwindenden Punkt hat in die Realität geführt, ein aus einer Schwarzblende hervorgehender heller, explodierender und zur Toskanalandschaft sich öffnender Punkt dagegen müsste konsequenter Weise in eine virtuelle, zumindest aber in eine klar von der empirischen Lebenswirklichkeit unterschiedene Sphäre führen. Und tatsächlich gleicht die Flurlandschaft

12 Ebd., 01:28:14-01:28:25. 13 Zu dieser Einschätzung kommt bereits Peter Riedel: Spiegel im Spiegel – Passagen der Subjektivität bei Tom Tykwer und Frank Griebe, in: Gunnar Bolsinger u.a. (Hg.): Der Kameramann Frank Griebe. Das Auge Tom Tykwers. Marburg 2005, S. 149-182, hier S. 179: »Bereits mit dem Bild des Flugsimulators, das zu einem Punkt zusammenschrumpft, ist ein Abtauchen aus der Welt des Möglichen, der Virtualität, in die Nacht des Realen, die Philippa und Filippo zunächst durchirren, vorgezeichnet. Das Aufgreifen des Bildpunktes als Licht am Ende des Tunnels zu Beginn der Reise in die Toskana, des letzten Drittels des Films, ist die Umkehrung dieses Gestus, das Eintauchen in einen spirituell durchwirkten Raum, der sich mit der letzten Einstellung in ein irreales Bild verflüchtigt.«

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Volker Mergenthaler der Toskana in vieler Hinsicht der im Flugsimulator generierten. Man hat es in beiden Fällen mit hügeligen, ähnlich strukturierten, dünn besiedelten Kulturlandschaften zu tun.14

Und beide Landschaften sind in ein unwirkliches, überhöhendes und die Gemachtheit ausstellendes Licht getaucht: die Simulatorenlandschaft in grünes, die Toskana in orangerotes.

6. WIE HEAVEN SAKRAMENTE AUSGIBT Viel entscheidender aber als diese Markierungen ist das in dieser neuen Sphäre angesiedelte Geschehen, genauer: die Art und Weise, in der es gezeigt wird, seine mise en scène, womit deutlich wird, dass nicht so sehr das Geschehen, sondern viel eher seine filmische Präsentation den durch die Tunnelfahrt markierten neuen Raum in einer für das zentrale Anliegen des Filmes eminent wichtigen Weise auflädt. Was also geschieht in der Toskana, und – wichtiger noch – wie wird es gezeigt? Filippo und Philippa kommen dort am Vormittag des dritten Tages an (am ersten hatte Philippa den Anschlag verübt, am zweiten wurde sie festgenommen und verhört). Bis zu ihrer Himmelfahrt am frühen Morgen des vierten Tages führen die beiden ausgiebige Gespräche, suchen die Domkirche von Montepulciano auf, lassen sich die Haare schneiden, essen ein Eis, begegnen gelegentlich eines Hochzeitsfestes einer alten Freundin von Philippa, bei der sie kurze Zeit bleiben wollen, treffen Filippos Vater, mit dem sie zuvor Kontakt aufgenommen haben, stärken sich am Abend auf dem Gehöft der Freundin, verbringen eine Nacht, sich liebend, im Freien und fliehen schließlich am nächsten Morgen. Nichts deutet, so gesehen, darauf hin, dass man es mit einem ontologisch andersartigen Raum zu tun haben könnte. Betrachtet man indes die einzelnen Sequenzen eingehender, so ändert sich diese Einschätzung ebenso schnell wie grundlegend. Die erste Sequenz zeigt Filippo und Philippa in einem Friseursalon, wo sie sich die Haare schneiden lassen. In einer Aufsicht sieht man, dass der Friseur Philippas Haare mit einem elektrischen Haar14 Ebd., 00:01:27 / 01:04:08.

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Zum Problem des Über-Setzens schneider, beim Scheitel beginnend, vollständig entfernt. Die nächste Einstellung gibt zu erkennen, dass Filippo denselben Haarschnitt trägt.15 Warum sich die beiden für diesen Schnitt entschieden haben, wird nicht gesagt.

Die zweite Sequenz schildert die Begegnung mit dem telefonisch informierten Vater von Filippo. Wir sehen den Vater mit dem Auto am vereinbarten Treffpunkt, an der Kirche Madonna di San Biagio, ankommen, aussteigen, die Kirche umrunden und nach den beiden suchen. Erst auf einen Zuruf von Filippo entdeckt er sie an der Kirchenmauer, tritt dazu, zieht sie in eine Nische, um nicht entdeckt zu werden. Filippos Vater beginnt, offenbar gegen seine Gewohnheit, zu rauchen. Dieser Sachverhalt bildet den Ausgangspunkt des anschließenden Gesprächs: Vater: Setzt euch ... Hier ist etwas Geld. Filippo: Du rauchst? Vater: Man fahndet jetzt im ganzen Land nach euch. Sie nehmen an, dass ihr noch in Italien seid. Vor der Stadt haben sie eine Straßensperre errichtet. Ich glaube, sie kontrollieren noch keine Nebenstraßen. Aber das werden sie sicher bald tun ... Ihr könntet mit mir kommen. Es ist den Versuch wert. Philippa: Ich komme nicht mit … Aber ich wäre dankbar, wenn Sie Filippo mitnehmen würden. Vater: Er hat mir gesagt, er liebt dich. Philippa: Ja. Vater: Und du? Philippa: Ja.16

15 Ebd., 01:08:43. 16 Ebd., 01:16:43-01:19:02.

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Volker Mergenthaler Im Wahrnehmungshorizont der am Gespräch beteiligten Figuren nimmt sich die Unterredung nicht eben sonderbar aus. Filippo stellt Philippa und seinen Vater einander vor, der Vater rät, sie mögen sich stellen, die beiden überlegen und lehnen ab, der Vater fragt, wie Philippa und Filippo zueinander stehen, es kommt zur schmerzlichen Verabschiedung. Viel entscheidender als ihre Rede ist hier nun die mise en scène. Sie nämlich öffnet die Rede für das ›fremde Wort‹, unterlegt ihr eine zweite, den Figuren freilich nicht bewusste Bedeutungsebene: Filippo, Philippa und der Vater treffen sich, kurz nachdem sie in Montepulciano Philippas Freundin im Kreis einer Hochzeitsgesellschaft begegnet sind, vor der nahe gelegenen Kirche Madonna di San Biagio. Sie ziehen sich in eine Nische zurück, um nicht gesehen zu werden. In einer Mischung aus Schuss-Gegenschuss-, totalen und halbtotalen Einstellungen wird das Gespräch gezeigt (s.u.).17 Wenn man die unmittelbar lebensweltlichen Bezüge, die Rede von der Fahndung und den Straßensperren und dergleichen mehr herausstreicht, so bleibt ein kurzer Dialog übrig, der – in einer Kirche gesprochen – über einen durchaus nicht mehr nur lebensweltlich-profanen Gehalt verfügt: Vater: Er hat mir gesagt, er liebt dich. Philippa: Ja. Vater: Und du? Philippa: Ja.

Was, wenn nicht eine Trauung,18 in der die Liebenden vom Priester vor Gott gefragt werden, ob sie einander lieben und den Bund der Ehe schließen wollen, wird hier, in der Nische einer Kirche vollzogen?

Dass man es nicht mit einem Einzelfall zu tun hat, mit einer alltäglichen Gesprächsituation, die sich eher zufällig für eine solche Interpretation in Dienst nehmen lässt, wird spätestens dann deutlich, wenn man die dritte Sequenz betrachtet, die ich herausgreifen 17 Ebd., 01:16:20 / 01:16:47. 18 Auf den Charakter einer Trauung weist bereits Peter Hasenberg hin: Arbeitshilfen. Unterrichtsvorschläge. Heaven. Frankfurt/M. o.J., S. 10.

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Zum Problem des Über-Setzens möchte. Sie betrifft die Mahlzeit, die Filippo und Philippa auf dem Gehöft ihrer Freundin einnehmen. Filippo und Philippa sitzen einander gegenüber. Die Kamera zeigt Philippa zunächst von schräg hinten, Filippo im over-the-shoulder-shot schräg von vorn, ehe sie sich nähert und zugleich, in einer langsamen, etwa 70 Bogenminuten umfassenden Kreisbewegung den Tisch ins Zentrum rückt und die beiden Speisenden im Profil erfasst. Nach 25 Sekunden folgt ein Schnitt, ein Gegenschuss, der Filippo nun auf der linken, Philippa auf der rechten Seite zeigt,19 im Close-up, so dass die beiden ganz an den Rand des Bildkaders gerückt im Profil zu sehen sind.20

Die erste Einstellung exponiert die von Philippas Freundin bereitgestellten Speisen. Zu sehen sind einige Schüsseln, Gläser, Brot, Trauben, eine Wasser- und eine Weinflasche. Beide essen vom Brot und trinken vom Wein. Ihre Kommunikation beschränkt sich auf eine von Philippa vorgebrachte Mutmaßung, auf ausgetauschte Blicke und ein einverständiges Nicken. Auch hier gibt es eine lebensweltlich-pragmatische Komponente. Ihre gemeinsame Mahlzeit wird allerdings unabhängig vom Wahrnehmungshorizont der Figuren durch die Kameraarbeit als Feier des Abendmahls akzentuiert. Neuerlich wird auf diese Weise ein alltägliches Geschehen diaphan auf einen religiös-sakramentalen Gehalt, so dass es mittlerweile schwerfällt, die religiöse Grundierung der einzelnen Sequenzen als Zu- oder Einzelfall zu verbuchen. Ganz im Gegenteil: In diesem allein von der Kameraarbeit eingezogenen Horizont gewinnen zunächst unverständlich bleibende Handlungen wie der Friseurbesuch entschieden an Bedeutung. Der von Philippa

19 Auf diesen Sachverhalt macht bereits Riedel aufmerksam: Spiegel, S. 181. 20 Heaven, 01:22:46 / 01:23:07 / 01:23:13.

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Volker Mergenthaler und Filippo gewählte Haarschnitt wird kenntlich als Tonsur, genauer noch »als Zeichen der Übereignung an Gott«.21 Dass eine solche Lesart schon vor dem Friseurbesuch über hohe Plausibilität verfügt, wird deutlich, sobald man eine weitere Sequenz mit in Betracht zieht. Sie bildet in der von mir vorgestellten Reihe die erste; ich komme allerdings erst jetzt darauf zu sprechen, weil ich sie für besonders geeignet halte, die mit der Toskana verknüpfte Sphäre, die Gehalte der Flucht, die Rolle Filippos und die Leistung des Films im Hinblick auf die Übersetzungsproblematik genauer zu bestimmen. Philippa und Filippo betreten nach ihrer Ankunft in Montepulciano als erstes den Dom und lassen sich nebeneinander auf der vordersten Kirchenbank nieder: Philippa: Ich hab’ viel Schaden angerichtet. Und ein paar dumme … wirklich dumme Dinge getan. Ich hab’ gelogen. Ich hab’ meine Mutter und meine Schwester angelogen. Oft, sehr, sehr oft … Einmal bin ich meinem Mann untreu gewesen. Und ich hab’ nicht alles getan, um ihn zu retten. Aber vielleicht kann man auch nicht alles tun … Vier Menschen sind meinetwegen gestorben. Und ich kann damit nicht leben. Das wird mir niemals gelingen ... Ich habe eine schutzlose Person erschossen. Wie du weißt. Aber was du nicht weißt, ist … ich habe aufgehört zu glauben. Filippo: Aufgehört zu glauben … an was? Philippa: An einen Sinn. An Gerechtigkeit. An das Leben. Filippo: Ich liebe dich. Philippa: Ich weiß. Ich … ich will nur, dass es bald zu Ende ist.22

Es ist der Rede vor allem Philippas unschwer abzulesen, dass man es hier mit einer Beichte zu tun hat. Nichts deutet allerdings darauf hin, dass Filippo und Philippa diese Situation als Beichte im religiös-sakramentalen Sinne des Wortes auffassen, dass in ihrem Wahrnehmungshorizont beichten etwas anderes hieße, als freimütig über das eigene Fehlen zu sprechen, die eigenen Versäumnisse und Mängel dem andern gegenüber zur Sprache zu bringen. Und doch werden hier – jenseits dessen, was die Figuren wollen oder wissen – Philippas Sünden vor Gott gebracht. Ausschlaggebend hierfür ist nicht allein das Setting – die beiden befinden sich ja in einer Kirche, im Dom zu Montepulciano –, sondern einmal mehr die Kameraarbeit: Die ersten beiden von Philippa vorgebrachten Sätze sind aus dem Off zu hören, während die Kamera zeigt, wie die Flüchtigen die Kirche betreten, der nächste Satz ist ebenfalls aus dem Off zu hören, während sich die Kamera im Innern der Kirche langsam auf ei-

21 »Tonsur/Tonsura (Corona) clericalis«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 474-475, hier Sp. 474. 22 Heaven, 01:05:36-01:07:49.

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Zum Problem des Über-Setzens nen Beichtstuhl zubewegt. Erst nach einem weiteren Schnitt sieht man die beiden nebeneinander in einer 5-sekündigen Einstellung von hinten auf einer Kirchenbank sitzen, im Hintergrund den von Taddeo di Bartolo angefertigten dreiflügligen Altar mit Mariae Himmelfahrt im Mittelteil. Nach einem weiteren Schnitt hat sich, obwohl Philippas Rede kontinuierlich fortgesetzt wird, die Platzierung der beiden maßgeblich verändert. Sie sind einander zugewandt, Filippo sitzt erhöht, hält den Kopf leicht geneigt und ist von Philippa durch einen kaum merklichen Holzbalken am unteren Bildrand getrennt:23

Währenddessen gesteht Philippa ein (was Filippo im Übrigen ja längst weiß), dass sie »vier unschuldige Menschen« und »eine schutzlose Person getötet« und darüber hinaus den Glauben »an einen Sinn« verloren habe. Die mise en scène markiert diese Sprechsituation als Sakrament der Beichte und rückt Filippo in die Position des Beichtvaters ein. Vor diesem Hintergrund gewinnt seine Replik auf die Konfessionen Philippas einen zweiten, zutiefst religiösen Sinn. Aus Filippo spricht – heilsversichernd – Gott selbst, der die Sünden vergibt und – sola fide – auch und gerade diejenigen liebt, die gefehlt und ihren Glauben verloren haben. An Philippa werden demnach – wie anders sollte man diese Markierung lesen – Sakramente ausgegeben: Philippa beichtet, übt sich zusammen mit Filippo in Buße, schließt mit ihm den heiligen Bund der Ehe und nimmt mit ihm das Abendmahl ein.24 Nicht erst mit dem vertikalen Hub23 Ebd., 01:05:41-01:05:58. 24 Auf einige der religiösen Elemente (auf die Rede über die Erstkommunion Philippas, auf die Beichte, den Abschied des Vaters, das Hochzeitsfest, die Tonsur) hat bereits Traugott Roser hingewiesen: »Wie hoch kann ich fliegen? Tom Tykwers Traktate über Liebe und Religion«, in: Heike Radeck (Hg.): Die Filmsprache Tom Tykwers. Hofgeismar 2004, S. 7-32, insbes.

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Volker Mergenthaler schrauberflug am Ende des Films, sondern bereits nach Verlassen des Tunnels sind Philippa und Filippo demnach in einer andersartigen, auf den Bereich der Transzendenz hin geöffneten Sphäre angekommen. In ihr manifestiert sich – diesseitig – das Reich Gottes. Die Figuren allerdings haben davon – im Unterschied zum Filmrezipienten – kein, zumindest kein vom Film ausgestelltes Wissen, denn die Ausgabe der Sakramente wird nicht intradiegetisch, in der vorgestellten Welt vollzogen, sondern in der Dimension des filmischen discours.

7. DER FILM ALS ÜBER-SETZER Vor diesem Hintergrund nun ist die Funktion des Übersetzers Filippo neu zu bestimmen. Es griffe nämlich entschieden zu kurz, wenn man ihn – eindimensional – lediglich als handelnde Figur, als Element der vorgestellten Welt zu fassen und – folgerichtig – einer psychologischen Betrachtung zu unterziehen suchte. Eine solche Betrachtung führte zu Einschätzungen wie derjenigen, die die eingangs zitierte DVD-Hülle ziert, und bezifferte die hochkomplexe Beziehung zwischen Filippo und Philippa schlicht und, wie ich meine, verfehlend als »Anfang einer unendlichen Liebe«. Filippos Funktion lässt sich angemessen nur dann bestimmen, wenn man Kamerabewegungen, Einstellungen, Schnitte, Motivwiederholungen und Farbsymbolik nicht als für Tykwer und Griebe, den Kameramann, typische Manierismen verbucht, sondern als aussagekräftige Effekte der filmischen mise en scène ernsthaft in Betracht zieht. Filippo ist in der Dimension der histoire des Filmes als Übersetzer eingeführt, mithin als eine Instanz, genauer als ein Medium, das in der Lage ist, das in einem (dem Rezipienten unverständlichen) Code Mitgeteilte in einem (dem Rezipienten verständlichen) Code zum Ausdruck zu bringen.25 In dieser Dimension ist er als sich verliebender junger Carabiniere gezeichnet. In der Dimension des filmischen discours26 dagegen ist er als Übersetzer akzentuiert, als Transfer-Medium, das – einem Engel oder dem mythologischen Fährmann Charon etwa vergleichbar – eine Person vom Diesseits ins Jenseits überführt. Für eine solche Bestimmung ausschlaggebend ist die den ersten vom zweiten ›Akt‹ trennende TunS. 25-28. Nicht im Blick sind bei Roser allerdings Funktion und Gehalte der von den Figuren strikt zu trennenden Kameraarbeit. 25 Ich folge in dieser Bestimmung von »Übersetzung« den Überlegungen von Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV.1. Frankfurt/M. 1972, S. 9-21. 26 Die Unterscheidung von histoire und discours übernehme ich von Tzvetan Todorov: »Les categories du récit littéraire«, in: Communications. Nr. 8, 1966, S. 125-151.

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Zum Problem des Über-Setzens nelfahrt. Ihre an den zu Beginn, im Prolog, entworfenen Code anknüpfende, ihn logisch umkehrende filmische Präsentation promoviert Filippo vom verliebten Fluchthelfer zum soteriologisch aufgeladenen Begleiter. Nach der Tunnelfahrt in die Toskana kann seine Liebe nicht mehr (nur) in einer psychologischen, sondern muss zudem und vor allem in einer spirituellen Perspektive gefasst werden. Sämtliche Transformationen, diejenige Filippos vom Übersetzer zum Übersetzer, diejenige einer profanen Sphäre in das im Diesseits sich manifestierende Reich Gottes, diejenige des physikalischen Himmels in den metaphysischen und schließlich diejenige einer im juridischen Sinne schuldbewussten Täterin zur büßenden Sünderin verdanken sich einzig der filmischen Präsentation. Tykwers Heaven ist daher selbst Übersetzer und Übersetzer in einem, denn der Film ist es, der – als Kunstwerk – Philippa über-setzt und der ein uns Rezipienten unverständliches Drittes, die Manifestation der Gottesherrschaft, des Reiches Gottes in Glaube und Liebe in der diesseitigen, in der Lebenswelt sinnenfällig macht, in eine uns Rezipienten vertraute Sprache über-setzt, in die Sprache des Films.

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PERSONEN- UND FILMTITELREGISTER Abandoned Ark, The 186 Abraham, Karl 175 Adlon, Percy 107, 116-118 Alexander Nevsky 53 Altenberg, Peter 132 Altman, Robert 90 Anderson, Michael 63, 68, 77 Anderson, Wes 171 Angelus Silesius 168f. Antena, La 87 Arnheim, Rudolf 55 Astérix et Obélix contre César 92 Autant-Lara, Claude 152 Avellaneda, Alonso Fernández de 109f. Bachtin, Michail M. 205 Balázs, Béla 50, 56, 169f. Balzac, Honoré de 132 Barbarella 90 Barnum, Phineas Taylor 195 Barthes, Roland 158, 161, 172 Bassnett, Susan 15 Bataille, Georges 133f. Batman (1966) 90, 92 Batman (1989) 88, 91 Batman Begins 91 Batman Returns 88 Baudry, Jean-Louis 50f. Bazin, André 126f. Bear Dream, The 182, 184 Beatty, Warren 92 Beloff, Zoe 176, 181, 194-201 Benguigui, Jean 122 Benjamin, Walter 20-25, 28, 34, 38, 56, 144, 149, 164, 178,

199-201, 216 Benveniste, Michael 90 Berbert, Marcel 155 Bergson, Henri 163 Berke, William 90 Berüchtigt siehe Notorious Blade (I+II) 91 Blistène, Marcel 45, 48f. Bloom, Harold 131 Bobsled, The 186 Broken Flowers 171 Buck Rogers in the 25th Century 90 Burton, Tim 88, 91 Captain America 91 Cardinale, Claudia 57 Cervantes, Miguel de 107-113, 116, 118f., 121-123 Champollion, Jean-François 17 Chandler, Raymond 89, 103 Chanson der Liebe siehe Etoile sans lumière Charming Augustine 196 Chekhov, Michael 193 Chesnais, Patrick 121 Chomsky, Noam 162 Cocteau, Jean 146 Conan Doyle, Arthur 35-37 Conran, Kerry 87 Constantine 91 Coppola, Sofia 157, 162, 167f., 170, 172 Coutard, Raoul 155 Cruz, Penelope 122 Dalí, Salvador 193

219

Register Dane, Cyril 26 Daredevil 88, 91 Dark Knight, The 91 Deighton, Len 77 Dekker, Fred 88 Delannoy, Jean 152 Deleuze, Gilles 9f., 14, 199 Derrida, Jacques 18f., 134 Descartes, René 12, 14 Deschamps, Jacques 107, 113, 120, 123 Deux Anglaises et le continent, Les 141, 143 Dick Tracy (Spielfilm-Serial) 90 Dick Tracy (1990) 92 Diener, Der siehe The Servant Dolmetscherin, Die, siehe The Interpreter Donan, Stanley 57 Donner, Richard 91 Don Quichotte (1933) 114-117 Don Quijote de Orson Welles 107, 113, 115, 118-121 Don Quichotte ou les mésaventures d’un homme en colère 120-123 Doré, Gustave 121 Douglas, Gordon 90 Eco, Umberto 60, 125-127, 129-131, 144 Edison, Thomas Alva 47, 52 Ejzenstejn, Sergej 53 Etoile sans lumière 45, 48 Favreau, Jon 92 Faulkner, William 13 Ferenczi, Sándor 175 Finale in Berlin siehe Funeral in Berlin Final Fantasy 87 Fischinger, Oskar 53 Flash Gordon (Spielfilm-Serial) 90 Flash Gordon (1980) 90

Flatland 42 Flaubert, Gustave 144, 152 Flesh Gordon 90 Fließ, Wilhelm 17 Flusser, Vilém 20 Foucault, Michel 113, 116, 187, 198 Foxwell, Ivan 68 Franco, Jesús 107, 113, 118 Frank Miller’s Sin City 89f. 92, 94-105 Freud, Sigmund 17, 175-177, 179-183, 185, 187f., 190195, 197-200, 202 From Hell 92 Funeral in Berlin 75f., 82 Garcilaso de la Vega 110 Gefahr aus dem Dunkel siehe The Quiller Memorandum Geheimnisse einer Seele 181 Gein, Ed (Edward Theodore) 96 Genette, Gérard 130f., 142 Gilliam, Terry 107 Girard, René 134f. Godard, Jean-Luc 40, 140 Goodis, David 153 Greek Interpreter, The 26-40 Greenaway, Peter 42 Gruault, Jean 155 Grund, Helen 125, 135f., 141, 147 Guesmi, Samir 121 Hall, Adam 63, 65, 67, 69f., 72, 76-78, 82 Haller, Daniel 90 Hamilton, Guy 77 Hammett, Dashiell 103 Hathaway, Henry 90 Heaven 203-217 Heißenbüttel, Helmut 89 Hellboy 91 Herr Kischott 107, 117f.

220

Register Hessel, Franz 125, 132, 135, 141 Hieronymus (Sophronius Eusebius) 18 Hitchcock, Alfred 58f., 127, 140, 181, 193 Hitler, Adolf 66, 72 Hodges, Michael 90 Hofmann, Gert 147 Hughes, Albert & Allen 92 Hulk, The 91f.

Linklater, Richard 87 Lion Dream, The 188-192, 198 Lonely Chicken Dream, The 185, 187 Londe, Albert 196 Losey, Joseph 68 Lost in La Mancha 107 Lost in Translation 157-173 Lubitsch, Ernst 59 Luhmann, Niklas 21-25, 34, 38, 128, 138, 149-151, 200

Ibert, Jacques 115 Ich kämpfe um dich siehe Spellbound Illig, Rolf 117 Interpreter, The 40 Ipcress File, The 77 Iron Man 92

Marey, Etienne-Jules 196 Mariou, Jean-Michel 120 Martin, Eric 42 Martinson, Leslie 90 Massenet, Jules 115 McLuhan, Marshall 52, 110 McTeigue, James 92 Mépris, Le 40 Metz, Christian 53 Midget Crane, The 178-181, 183, 186 Miller, Frank 87-89, 95-97, 103 Mitry, Jean 53 Montand, Yves 45, 48 Monterroso, Augusto 125 Moore, Roger 163, 171 Morand, Paul 115 Moreau, Jeanne 142, 155 Mortimer, Penelope 68 Mosley, Oswald 72 Murnau, Friedrich Wilhelm 59 Murray, Bill 157, 171 Muybridge, Eadweard 114 Mystère des roches de Kador, Les 181

Jakobson, Roman 18f., 35, 128 James, Henry 10 Jannings, Emil 56 Jarmusch, Jim 171 Johansson, Scarlett 163 Johnson, Mark Steven 88, 92 Jules et Jim 125, 131-155 Jurassic Park 42 Kershner, Irvin 88 Keyserling, Eduard von 132 Kinoerzähler, Der 147 Klein, Melanie 191 Kraus, Karl 73, 75 Kristeva, Julia 150 Lang, Fritz 59 Lawrence, Francis 91 League of Extraordinary Gentlemen, The 92 Le Carré, John 78 Lee, Ang 91 Lefevere, André 15 Leibniz, Gottfried Wilhelm 9, 199

Naked Dawn, The 145, 152 Nolan, Christopher 91 Norrington, Stephen 91f. Norwood, Eille 26 Notorious 59 Ozu, Yasujirż 59

221

Register Pabst, Georg Wilhelm 107, 114118, 181 Painlevé, Jean 42 Parnet, Claire 9f. Peau douce, La 139 Peirce, Charles Sanders 39, 127, 161 Perret, Léonce 181 Pfenninger, Rudolf 53f. Piaf, Edith 45, 47, 52 Pickford, Mary 56 Pinter, Harold 63, 68-73, 75-77, 81-83 Platon 51 Pollack, Sidney 40 Pollock, Jackson 10 Popeye 90, 92 Praying Mantis, The 182 Prince Valiant 90 Proust, Marcel 15, 132, 144 Pyun, Albert 91 Quiller Memorandum, The 63, 68-83 Raimi, Sam 91f. Ravel, Maurice 115 Rawlins, John 90 Reeve, Christopher 91 Reiniger, Lotte 114 Renaissance 87 Ridgwell, George W. 26, 30, 37, 40 Rivette, Jacques 140 Robbe-Grillet, Alain 140 Robinet, André 10 RoboCop (2+3) 88 Roché, Henri Pierre 125, 132f., 135, 137, 141-147, 149f., 152-154 Rodriguez, Robert 87, 95-97 Rougemont, Denis de 145 Sakaguchi, Hironobu 87 Sakakibara, Moto 87

Saljapin, Fëdor 115 Santiago – Der Verdammte siehe The Naked Dawn Sapir, Esteban 87 Scanner Darkly, A 87 Schießen Sie auf den Pianisten siehe Tirez sur le pianiste Schleiermacher, Friedrich 160f. Schnitzler, Arthur 132 Schulman, Aline 121-123 Schumacher, Joel 91 Segal, George 82 Serre, Henri 155 Serres, Michel 11f., 14, 17, 20 Servant, The 68 Shadowland or Light from the Other Side 196 Sholem, Lee 90 Sin City siehe Frank Miller’s Sin City Singer, Bryan 91 Singin’ in the Rain 57 Sinkel, Bernhard 147 Sky Captain and The World of Tomorrow 87 Snyder, Zack 92 Sollers, Philippe 150 Spellbound 181, 193 Spider-Man (1,2,3) 91f. Spielberg, Steven 42 Spillane, Mickey 103 Spy Who Came in from the Cold, The 77f. Steiner, George 168 Steiner, Rudolf 69 Stendhal (Marie-Henri Beyle) 132 Subor, Michel 148 Superman (I-IV) 91f. Superman and the Mole Men 90 Superman Returns 91 Süße Haut, Die, siehe La peau douce Taddeo di Bartolo 215

222

Register Tailspin Tommy 90 Tarantino, Quentin 87, 95 Tilyou, Edward 178-181, 184 Tirez sur le pianiste 153 Toro, Guillermo del 91 Trevor, Elleston siehe Adam Hall Truffaut, François 125f., 131, 133, 136-155 Turner, Joseph Mallord William 13 Tykwer, Tom 203, 205, 209, 216f. Ulmer, Edgar 145, 152 Vadim, Roger 90 Verachtung, Die, siehe Le Mépris Vermeer, Jan 12-14, 26, 52 Verne, Jules 50 V for Vendetta 92 Victor, Jean-Christophe 121 Villiers de Lille Adam, Auguste de 52 Volckmann, Christian 87 Waldenfels, Bernhard 166 Watchmen 92 Welles, Orson 107, 113, 115, 118-121 Werner, Oskar 155 Willis, Hubert 26 Windtalkers 40 Woo, John 40 Xenakis, Iannis 10 X-Men (1, 2, The Last Stand) 91f. Zidi, Claude 92 Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent siehe Les deux Anglaises et le continent

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AUTORINNEN UND AUTOREN Hans-Edwin Friedrich (Prof. Dr.) ist Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Kirsten von Hagen (PD Dr. habil.) vertritt zur Zeit Prof. Jörg Dünne am Lehrstuhl für Romanistische Literaturwissenschaft der Universität Erfurt. Jochen Mecke (Prof. Dr.) hat den Lehrstuhl für Romanische Philologie II am Institut für Romanistik der Universität Regensburg inne. Volker Mergenthaler (Prof. Dr.) ist Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg. Ulrich Meurer (Dr. phil.) ist Gastprofessor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Maria Oikonomou (Dr. phil.) arbeitet als Wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung für Neogräzistik des Instituts für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien. Joachim Paech (Prof. Dr.) war bis zu seiner Pensionierung 2007 Professor für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Martin Schwehla (Dr. phil.) ist Lektor, Redakteur, Übersetzer und Projektmitarbeiter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien.

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Kultur- und Medientheorie Uta Daur (Hg.) Authentizität und Wiederholung Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes Juli 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1924-9

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Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften September 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2

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Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs

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Janina Karolewski, Nadja Miczek, Christof Zotter (Hg.) Ritualdesign Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse »neuer« Rituale Mai 2012, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1739-9

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)

Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011

2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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