Der moderne Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko: Mitarbeit:Malek, Nisar; Möller, Yvonne [2 ed.] 9783662665756, 9783662665763, 3662665751

Renommierte Heidelberger Wissenschaftler haben in diesem Buch zusammengetragen, was heute über Krebserkrankungen und ihr

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Der moderne Krebs - Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko: Mitarbeit:Malek, Nisar; Möller, Yvonne [2 ed.]
 9783662665756, 9783662665763, 3662665751

Table of contents :
Geleitwort zur 2. Auflage von Anne-Sophie Mutter, amtierende Präsidentin der Deutschen Krebshilfe
Geleitwort zur 1. Auflage von Prof. Dr. Harald zur Hausen, Nobelpreis für Medizin 2008
Vorwort zur 2. Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Über die Autoren
Neuigkeiten aus der Krebsforschung
Literatur
Ein beunruhigender Trend
Literatur
Das Immunsystem und Krebs
Literatur
Was uns HIV und Organspenden über Krebs verraten
Literatur
Krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen
Literatur
Alter und Krebs
Literatur
Zucker, Fette und Übergewicht
Literatur
Bewegungsmangel als Krebsursache
Literatur
Ernährung und Darmkrebs
Literatur
Infektiöse Erreger in Rindfleisch und Kuhmilch?
Literatur
Stress und Krebs
Literatur
Entzündungshemmer, Vitamine und Antioxidantien
Literatur
Krebsprävention – Allheilmittel und Anti-Aging-Therapie
Literatur
Die Therapie der Zukunft
Literatur
Personalisierte Medizin: die richtige Therapie für den richtigen Patienten zur richtigen Zeit
Literatur
Ein Denkmal für die Maus
Literatur
Schlusswort
Literatur
Stichwortverzeichnis

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Hanna Heikenwälder Mathias Heikenwälder

Der moderne Krebs Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko

Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko

Hanna Heikenwälder  Mathias Heikenwälder

Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage Mit einem Geleitwort zur 2. Auflage von Anne-Sophie Mutter, Präsidentin der Deutschen Krebshilfe und einem Geleitwort zur 1. Auflage von Nobelpreisträger Professor Harald zur Hausen

Dr. Hanna Heikenwälder Eberhard Karls Universität Tübingen Tübingen, Deutschland

ISBN 978-3-662-66575-6 https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3

Prof. Dr. Mathias Heikenwälder Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ) Heidelberg, Deutschland Direktor des M3 Forschungsinstitutes Eberhard Karls Universität Tübingen Tübingen, Deutschland

ISBN 978-3-662-66576-3 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2019, 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung: Renate Scheddin Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist. Max Planck (1858–1947)

Für Leopold, Ferdinand, Theresa und Laurenz

Geleitwort zur 2. Auflage von Anne-Sophie Mutter, amtierende Präsidentin der Deutschen Krebshilfe

Liebe Leserin, lieber Leser, jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit der Krankheit Krebs konfrontiert. Sei es als unmittelbar Betroffener oder weil jemand in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft oder im beruflichen Umfeld an Krebs erkrankt. Ich selbst habe diese leidvolle Erfahrung vor vielen Jahren machen müssen, als bei meinem Mann in den 1990er-Jahren Lungenkrebs festgestellt wurde. Der Schock saß tief. Wir haben damals versucht, seine Erkrankung zu verschweigen. Zum einen, weil meine Familie und ich sehr private Menschen sind. Doch es gab noch einen anderen Grund. Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, aber selbst vor 30 Jahren noch galt Krebs als Stigma und es herrschte das Vorurteil, dass man während der Therapie kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist. Für uns war das eine enorme psychische Belastung. Weiterhin hatten wir damit zu kämpfen, dass sich in den 1990er-Jahren noch nicht die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass man auch als Nichtraucher an Lungenkrebs erkranken kann. Zumindest nicht bei dem Arzt, der meinen Mann damals behandelte. In der Folge wurden schwerwiegende diagnostische Fehler begangen. Durch die leider erst verspätete richtige Diagnose und die sehr schleppende Behandlung empfand ich die damalige Onkologie als geradezu mittelalterlich. Und auch die Empathielosigkeit, mit der uns damals teilweise begegnet wurde, war sehr belastend. Als uns die Diagnose Lungenkrebs mitgeteilt wurde, empfand ich das als eine Urteilsverkündung. Von einer einfühlsamen Ansprache keine Spur. Doch der Mensch ist einfach mehr als die Summe seiner Laborberichte. Emotionale Intelligenz, die Fähigkeit zu kommunizieren und IX

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Geleitwort zur 2. Auflage

den Patienten empathisch zu leiten, muss bereits in die Ausbildung von Medizinern integriert werden und sollte zu den sogenannten „Professional Skills“ gehören. Letztlich ist mein Mann an seiner Krebserkrankung verstorben. Diese harte und bittere Erfahrung hat bei mir ein Bewusstsein für die Notwendigkeit entstehen lassen, mich für den Kampf gegen Krebs zu engagieren. Seit dem Jahr 2021 habe ich nun das Amt der Präsidentin der Deutschen Krebshilfe inne. In dieser Zeit konnte ich mir einen sehr guten Eindruck verschaffen, was die Deutsche Krebshilfe, aber auch die Forschenden, die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegenden, die Helfenden und all die weiteren Menschen, die für unser Gesundheitssystem so wichtig sind, für Krebspatienten und ihre Angehörigen leisten. Tag für Tag. Zum Glück sind wir heutzutage ein gutes Stück von den Umständen entfernt, mit denen meine Familie seinerzeit zurechtkommen musste. Doch wir sind auch in Zukunft vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Im Jahr 2030 werden wahrscheinlich 600.000 Menschen pro Jahr in Deutschland neu an Krebs erkranken – derzeit sind es noch etwa 510.000 Neuerkrankungen. Wir müssen uns daher bereits heute wichtige Fragen stellen: Mit welchen Mitteln und Möglichkeiten kommen wir in der Krebsbekämpfung weiter, wie können wir unser Gesundheitssystem auf diese Entwicklung vorbereiten und wie auf Dauer finanzieren? Und hier sollten wir nicht nur die Diagnostik und die Therapie von Krebspatientinnen und -patienten im Blick haben, sondern ganz besonders auch das bedeutsame Feld der Prävention. Dieses Buch schließt eine Lücke zwischen wissenschaftlichen Fakten und der dringend notwendigen adäquaten Aufklärung der Bevölkerung. Niemand ist „schuld“ daran, an Krebs zu erkranken, denn die Ursachen dafür sind vielfältig. Jeder Mensch kann jedoch dazu beitragen, das eigene Krebsrisiko zu senken. Experten sind sich einig, dass sich rund 40 % aller Krebserkrankungen durch einen gesunden Lebensstil vermeiden ließen. Das sind nach dem heutigen Stand der Neuerkrankungszahlen 200.000 Menschen, denen viel Leid erspart werden könnte. Von deren Angehörigen ganz zu schweigen. Auch die Krebs-Früherkennung möchte ich an dieser Stelle erwähnen. Sie spielt eine bedeutende Rolle, um gegebenenfalls frühzeitig Therapien einzuleiten und die Heilungschancen zu steigern. Dieses Buch trägt dankenswerterweise mit dazu bei, für das wichtige Feld der Krebs-Prävention ein Bewusstsein zu schaffen. Ihre Anne-Sophie Mutter Präsidentin der Deutschen Krebshilfe

Geleitwort zur 1. Auflage von Prof. Dr. Harald zur Hausen, Nobelpreis für Medizin 2008

Dieses Buch ist eine längst überfällige Offenbarung aus der Welt der Krebsforschung an die Öffentlichkeit. Es ist den Heidelberger Wissenschaftlern gelungen, verständlich und mit spannenden Anekdoten zu erklären, was wir zu diesem Zeitpunkt wirklich über Krebserkrankungen und ihre Ursachen wissen. Die Ära der modernen Molekularbiologie und Genetik hat es Wissenschaftlern und Ärzten erlaubt, in den letzten Jahrzehnten auf der ganzen Welt Erkenntnisse über die Entstehungsmechanismen von Krebserkrankungen zu sammeln. Die wohl erstaunlichste Erkenntnis hierbei war, dass die meisten Krebserkrankungen maßgeblich durch unsere eigene Lebensweise verursacht werden. Epidemiologische Daten und Hochrechnungen bestätigen, dass wir uns auf direktem Wege in eine Zukunft bewegen, in der genau solche Krebsleiden die Oberhand gewinnen werden, die nach heutigem Erkenntnisstand vermeidbar wären. Während die Welt der Wissenschaft mittlerweile ein Verständnis für die meisten Krebserkrankungen besitzt, besteht weiterhin eine riesige Kluft zwischen diesem theoretischen Wissen und der praktischen Umsetzung dieses Wissens in den Alltag von Ärzten und Krankenhäusern. Es bedarf einer Revolution des Verständnisses von Krebs, um diesem Trend ein Ende zu setzten und die Gesundheitssysteme dazu zu bewegen, diese neuen Erkenntnisse in die Prävention und maßgeschneiderte Behandlung von Krebspatienten einzubeziehen. Das Wissen muss eingesetzt werden, um jedem Patienten die bestmögliche Therapie und ein würdevolleres Leben zu ermöglichen. Wir haben es nicht mit „neuen“ Krebserkrankungen zu tun, sondern unser Verständnis über Krebserkrankungen hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Krebserkrankungen sind unfassbar vielschichtig und selbst innerhalb desselben Organs bei jedem Patienten einzigartig. Einige XI

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Geleitwort zur 1. Auflage

der in diesem Buch beschriebenen krebsverursachenden oder krebsfördernden Lebensgewohnheiten sind lange bekannt und erhalten in regelmäßigen Abständen mediale Aufmerksamkeit. Jedoch geht dabei häufig die enorme Gewichtung unserer eigenen Lebensweise und bestimmter wichtiger Faktoren, wie unserer Ernährung verloren. So betrachten beispielsweise die meisten Menschen Übergewicht als eine ästhetische Geschmacksfrage. Aus wissenschaftlicher Sicht stellt insbesondere starkes Übergewicht jedoch eine vermeidbare Krebsursache dar. Jeder von uns weiß, wie schwierig es ist, seinen Lebensstil grundlegend und dauerhaft zu ändern. Um einen solchen fundamentalen Wandel durchzusetzen, ist es unentbehrlich zu verstehen, weshalb dies wirklich notwendig ist. Dieses Buch schafft es auf bisher unerreichte Art und Weise, auf die wichtigsten krebsverursachenden Lebensweisen und Umweltfaktoren hinzuweisen und gleichzeitig Lösungsansätze zu präsentieren, soweit es der heutige Erkenntnisstand zulässt. Dabei werden auch viele andere wissenschaftliche Rätsel rund um das Thema Altern, Ernährung und Vitaminpräparate spannend erklärt und in das richtige Licht gerückt. Obwohl diese Informationen aufgrund ihrer enormen Bedeutung für jeden Leser von großem Interesse sind, wird insbesondere die heutige Jugend den größten Nutzen aus diesem Wissen ziehen. Die Entstehung von Krebserkrankungen ist in den meisten Fällen ein jahrzehntelanger Prozess, der durch unsere Lebensweise entscheidend beschleunigt oder verlangsamt werden kann. Indem junge Menschen über die wichtigsten Krebsursachen aufgeklärt werden, könnten zukünftig viele Krebserkrankungen vermieden werden, noch bevor sie unheilbares Leid verursachen. Selbst Kinder können an Krebs erkranken, weshalb es umso wichtiger ist, ein frühes Bewusstsein für die häufigsten Formen dieser Erkrankung, ihre Symptome und Diagnosemöglichkeiten zu entwickeln. Die Bedeutung dieses Werkes ist in vielerlei Hinsicht unschätzbar groß. In Zukunft wird es hoffentlich als Vorbild dienen, um den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu vertiefen. Um unnötige Ängste und die Verbreitung von gefährlichem Halbwissen zu verhindern, ist es unabdingbar, dass Forscher sich selbst zu Wort melden und sich die Zeit nehmen, ihr wertvolles Wissen verständlich zu teilen. Prof. Dr. Harald zur Hausen Nobelpreis für Medizin 2008

Vorwort zur 2. Auflage

Wenn die Schulmedizin an ihre Grenzen gerät, suchen viele Menschen Hilfe im Internet oder bei alternativen Heilmethoden. Diese versprechen, Krebs ohne operative Eingriffe oder Chemotherapie zu heilen, mit der Kraft des eigenen Körpers und den Waffen der Natur. Wissenschaft und Schulmedizin gelten als profitorientiert und blind für den individuellen Patienten. Sie verkennen das Problem von Krebs als eine Erkrankung, die den ganzen Körper betrifft, und gehen nicht ausreichend auf die Bedürfnisse der Patienten ein. Diese Kritik ist leider nicht ungerechtfertigt, denn sie trifft auch heute leider noch auf viele Bereiche im Gesundheitswesen zu. Dabei war die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten keineswegs untätig. Im Gegensatz zu anderen, jahrtausendealten Heilmethoden, wie der chinesischen Medizin oder dem Ayurveda, besitzt sie die besondere Fähigkeit, sich selbst immer wieder in Frage zu stellen. Sie setzt sich dem Test der Realität aus und entblößt ihre eigenen Schwachstellen, um sie dann mit der vereinten Kraft einer globalen wissenschaftlichen Gemeinschaft anzugreifen. Das Ergebnis sind regelmäßige Umwälzungen und Paradigmenwechsel, die alles andere sind als ein Zeichen der Schwäche oder Fehlbarkeit der wissenschaftliche Methode. Sie sind ihr zentralstes Element. Erkenntnis wächst durch wiederholte Versuche, Irrtümer und Korrekturen. Der Weg der wissenschaftlichen Methode ist langwierig und er verlangt von Wissenschaftlern ein hohes Maß an Selbstkritik und Durchhaltevermögen. Er ist aber das beste und einzige Mittel, das wir besitzen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen – vorausgesetzt, wir sind auch wirklich an ihr interessiert. Dank der weltweiten Digitalisierung verfügen wir heute über so umfangreiche und aussagekräftige epidemiologische Daten wie noch nie zuvor in der Geschichte. Sogar für die seltensten Krebserkrankungen können wir weltweit XIII

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Vorwort zur 2. Auflage

Daten von tausenden Patienten sammeln und Behandlungserfolge auswerten. Wir können Lebensweisen mit Risiken korrelieren, bekannte Risikofaktoren aus Datensätzen herausrechnen und neu erkannte Zusammenhänge in klinischen Studien und Experimenten auf ihre Kausalität und grundlegenden Mechanismen hin testen. Auf diese Weise haben tausende von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt in den letzten Jahrzehnten unser Verständnis von Krebserkrankungen und ihren Ursachen geradezu revolutioniert. Viele Krebserkrankungen können wir heute früh erkennen und gut behandeln. Ungefähr die Hälfte könnten wir verhindern, und wir wissen sogar, wie. Leider ist vieles von diesem wertvollen Wissen noch nicht in der Gesellschaft angekommen. Das Wissen gelangt nicht einmal dorthin, wo es am meisten benötigt wird: in Arztpraxen, Krankenhäuser und Schulen. Jeder zweite von uns wird zumindest einmal in seinem Leben eine Krebsdiagnose erhalten, und jeder von uns wird im Laufe seines Lebens geliebte Menschen an Krebs verlieren. Eine Wende in der Denkweise über Krebs ist überfällig und dringend notwendig. Die Weltbevölkerung wächst und unsere Gesundheitssysteme sind schon heute überlastet. Dabei mangelt es bei weitem nicht an Informationen, denn wir leben in einer „Infotainment“-Kultur der Medien, die uns regelmäßig mit unterhaltsamen Daten und Fakten zum Thema Krebs überschwemmt. Ohne ein fundamentales gesellschaftliches Verständnis, was Krebserkrankungen eigentlich sind und wie sie entstehen, wird es jedoch auch weiterhin unmöglich bleiben, die Qualität dieser zahlreichen und oftmals widersprüchlichen Studien zu bewerten. Es ist riskant, darauf zu hoffen, dass Krebserkrankungen in absehbarer Zeit heilbar sein werden. Die gewaltigen Fortschritte auf den Gebieten der Molekularbiologie, Immuntherapie, Operations- und Bestrahlungstechnik haben uns vor allem eine wichtige Lektion gelehrt: Dass wir ab einem gewissen Zeitpunkt vollkommen machtlos gegenüber bösartigen Krebserkrankungen sind – und das wird auch auf unbestimmte Zeit weiterhin der Fall sein. Wenn es uns gelingt, unserer Gesellschaft zu vermitteln, dass die meisten Krebserkrankungen über viele Jahrzehnte in uns heranreifen, könnten wir viele Krebserkrankungen verhindern, bevor sie unheilbares Leid verursachen. Seit der ersten Auflage dieses Buches hat sich das gesellschaftliche Bewusstsein bereits ein Stück weit gewandelt. Im Jahr 2019 startete die „Nationale Dekade gegen Krebs“, eine Aufklärungskampagne der Bundesregierung zur Prävention von Krebserkrankungen, die von zahlreichen Stiftungen, Forschungszentren und Konzernen unterstützt wird. In Deutschland entstehen immer mehr hochmoderne Zentren für personalisierte Medizin, die jedem Krebspatienten eine optimale und auf die jeweilige Krebserkrankung zugeschnittene

Vorwort zur 2. Auflage

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Therapieform ermöglichen sollen – wie beispielsweise das Zentrum für personalisierte Medizin der Universität Tübingen, dessen Leiter Prof. Dr. Nisar Malek das Kapitel über personalisierte Medizin zu diesem Buch beigetragen hat. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Krebshilfe hat das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg ein Nationales Präventionszentrum gegründet, das in Zukunft auch in anderen Regionen des Landes Bürger über ihr persönliches Krebsrisiko aufklären soll und für Risikopatienten evidenzbasierte, individuelle Präventionsstrategien entwickelt. Aber der Förderungsbedarf ist weiterhin groß, denn es existieren nach wie vor große regionale Unterschiede in der Behandlung von Krebspatienten. Nicht jeder Bürger kann es sich leisten, für eine optimale Behandlung durch das ganze Land zu reisen, und nicht jeder besitzt die Kraft, schwer erträgliche Krebstherapien fernab von Familie und Freunden durchzustehen. Am Ende müssen neue Therapieformen und die Ergebnisse aus der Forschung auch bei jedem Bürger und Patienten ankommen – sonst sind alle Investitionen und Bemühungen im Kampf gegen diese mächtige Krankheit nutzlos. Das Wissen, dass wir viele Krebserkrankungen durch unsere eigene Lebensweise verhindern oder zumindest verlangsamen können, sollte niemals ein Vorwurf für Menschen sein, die an Krebs erkrankt sind. Krebs entsteht fast immer aus einem Zusammenspiel von angeborenen oder zufälligen genetischen Veränderungen und (!) dem Einfluss von sogenannten Krebsförderern, die das Überleben und das Wachstum von Zellen mit genetischen Defekten anregen. Mit diesem neuen Wissen haben wir erstmals die Möglichkeit, verlangsamend in den Prozess der Krebsentstehung einzugreifen. Dafür benötigen wir weder Wunderheiler noch Wundermittel, sondern lediglich etwas Disziplin und Motivation. Die erfolgreichsten Methoden der Krebsprävention sind völlig kostenlos, aber niemand kann sie uns abnehmen. Wir müssen selbst mehr Sport machen, uns gesünder ernähren und rechtzeitig zur Vorsorge gehen. Wenn wir diese Aufgabe als Gesellschaft gemeinsam angehen, haben wir beste Chancen, dass der jungen Generation und unseren Kindern viele leidvolle Krebserkrankungen erspart bleiben und sie in einer modernen und gesunden Gesellschaft aufwachsen. Die in diesem Buch beschriebenen Präventionsmaßnahmen senken zudem nicht nur das persönliche Krebsrisiko, sondern verlangsamen erwiesenermaßen den gesamten Alterungsprozess und schützen vor vielen weiteren unliebsamen Begleiterkrankungen des Alters, wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Problemen, neurodegenerativen Erkrankungen und Stoffwechselstörungen. Krebsprävention ist ein wahres Allheilmittel und die beste und modernste Anti-Aging-Therapie unserer Zeit. Timmendorfer Strand Dezember 2022

Dr. Hanna Heikenwälder

Vorwort zur 1. Auflage

Die Frage nach dem „Warum“ beschäftigt vermutlich jeden Menschen, der an Krebs erkrankt intensiv. Während einige Patienten eine persönliche Vermutung haben, wodurch ihre Krankheit möglicherweise verursacht oder begünstigt wurde, quält die meisten Krebspatienten die Frage, ob sie ihre Erkrankung auf irgendeine Weise unwissentlich begünstigt haben oder hätten verhindern können. Besteht eventuell ein Zusammenhang zu anderen Krebsfällen in der Familie? Warum erkranken manche Menschen bereits in jungen Jahren und wie kann es sein, dass andere trotz scheinbar ungesunden Lebensstils uralt werden? Die Ursachen und Entstehungsmechanismen von Krebserkrankungen zu kennen, bietet die Möglichkeit sein persönliches Krebsrisiko zu senken oder nach einer Krebsdiagnose die Heilungschancen zu verbessern. Als Krebsforscher werden wir nicht nur in unserem Beruf, sondern auch privat regelmäßig um Hilfe und Auskunft zum Thema Krebs gebeten. Oft herrscht dabei eine große Diskrepanz zwischen wissenschaftlich anerkanntem Wissen und in der Gesellschaft verbreiteten Meinungen. Während viele Ängste weitestgehend unbegründet sind, werden die wichtigen „großen“ Krebsförderer unserer Zeit stark unterschätzt. Wir wissen mittlerweile, dass wir nahezu alle genetischen Veränderungen, die für die Krebsentstehung wichtig sind, erst im Laufe unseres Lebens erwerben. Dieses Wissen basiert auf den wenigen bekannten erblichen Genmutationen, welche die Krebsentstehung begünstigen und dem verstärkten Auftreten von Krebserkrankungen mit zunehmendem Alter. Es ist natürlich unmöglich, für jede Krebserkrankung eine einzelne verantwortliche Ursache zu identifizieren. Krebs entsteht in nahezu allen Fällen aus einem Zusammenspiel von zufälligen genetischen Schädigungen und krebsfördernden Einflüssen. Wir sind überzeugt, dass das Verständnis dieses XVII

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Vorwort zur 1. Auflage

Zusammenspiels einen Großteil der Krebserkrankungen verhindern könnte. Diese Annahme wird durch die aktuellen Daten der internationalen Agentur für Krebsforschung gestützt, laut der die Hälfte aller Krebserkrankungen verhindert werden könnte, wenn die Präventions- und Diagnosemöglichkeiten nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft umgesetzt werden würden. Heidelberg ist Standort des weltweit renommierten Deutschen Krebsforschungszentrums und einer exzellenten Universitätsklinik. Viele Menschen aus Deutschland und der ganzen Welt kommen nach Heidelberg, um sich hier behandeln zu lassen. Häufig haben diese Patienten bereits eine ganze Odyssee hinter sich und berichten von den Schwierigkeiten, seriöse Informationen zu ihren Erkrankungen zu finden. Das Internet ist überschwemmt von selbst ernannten Experten und Wunder versprechenden Heilmethoden. Ziel unseres Buches war es daher zusammenzufassen, was bis heute wirklich über die Entstehungsmechanismen von Krebserkrankungen bekannt ist. Heidelberg April 2019

Dr. Hanna Heikenwälder

Danksagung

Wir danken dem gesamten Springer-Verlag – insbesondere unserer Editorin Renate Scheddin – für die freundschaftliche Zusammenarbeit und dafür, dass sie die Umsetzung unserer Ideen und Ziele möglich gemacht hat. Wir danken dem Verlag Springer Nature aus tiefstem Herzen dafür, dass er die Grundsätze und Arbeitsweise der wissenschaftlichen Methode anerkennt, schätzt und in unserer Gesellschaft kultiviert. Wir danken Jenny Dreyer-Gsell für ihre Unterstützung, ihre brillanten Ideen und ihr beispielloses Engagement für krebskranke und notbedürftige Menschen in der Stiftung LebensBlicke, Stiftung Deutsche Krebsgesellschaft und der Dreyer Stiftung. Du bist eine große Inspiration für uns. Wir danken Prof. Harald zur Hausen für seine wertvollen Ratschläge und das Teilen einer tiefen gemeinsamen Überzeugung, dass wir mit Prävention und Aufklärung in Zukunft noch viel mehr Menschen vor Krebserkrankungen bewahren werden können. Wir danken Anne-Sophie Mutter, dass sie unser Werk durch ihre persönliche Geschichte, ihr Ausnahmetalent und ihre schillernde Persönlichkeit bereichert und damit unser Ziel unterstützt, Krebserkrankungen und Krebsprävention in den Blickpunkt der Gesellschaft zu rücken. Wir danken Prof. Dr. Nisar Malek, dem Ärztlichen Direktor der Inneren Medizin I am Universitätsklinikum Tübingen und Leiter des Zentrums für personalisierte Medizin (ZPM), für seinen Beitrag zu diesem Buch und seine Freundschaft. Dein Engagement für Krebspatienten und herausragendes Gespür für Innovation haben entscheidend dazu beigetragen, dass bereits heute tausenden von Krebspatienten eine personalisierte und humanere Medizin zur Verfügung steht. XIX

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Danksagung

Wir danken Dr. Yvonne Möller, der Geschäftsführerin des Zentrums für personalisierte Medizin, für ihren Beitrag zu dem Kapitel über personalisierte Medizin und ihren Einsatz für die Umsetzung der Ziele des ZPM. Wir danken Dr. Timo Bund und Sibylle Kohlstädt vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg für ihre weitreichende Unterstützung und viele hilfreiche Gespräche. Zuletzt möchten wir unseren Familien danken, die dieses Werk überhaupt erst möglich gemacht haben. Ohne die Unterstützung unserer Eltern, insbesondere meiner Mutter Katrin Johannsen und meiner Großmutter Hanna Johannsen, wäre dieses Buch nicht entstanden. Dank Euch mussten wir uns niemals zwischen unserer Arbeit und einem Familienleben und Zeit mit unseren Kindern entscheiden. Selbst wenn wir arbeiteten, ging es ihnen bei Euch mindestens genauso gut wie bei uns. Dafür sind wir Euch für immer dankbar.

Inhaltsverzeichnis

Neuigkeiten aus der Krebsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ein beunruhigender Trend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Immunsystem und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Was uns HIV und Organspenden über Krebs verraten . . . . . . . .

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Krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen . . . . . . . . .

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Alter und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zucker, Fette und Übergewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Bewegungsmangel als Krebsursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Ernährung und Darmkrebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Infektiöse Erreger in Rindfleisch und Kuhmilch? . . . . . . . . . . . 149 Stress und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Entzündungshemmer, Vitamine und Antioxidantien . . . . . . . . . 177 Krebsprävention – Allheilmittel und Anti-Aging-Therapie . . . . . . 191 Die Therapie der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

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Inhaltsverzeichnis

Personalisierte Medizin: die richtige Therapie für den richtigen Patienten zur richtigen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Ein Denkmal für die Maus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Über die Autoren

Dr. Hanna Heikenwälder (geb. 01.04.1986) studierte Molekularbiologie an der Universität zu Lübeck und in den USA. Nach ihrem Masterabschluss in Mikrobiologie und Immunologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) promovierte sie an der Technischen Universität München in Naturwissenschaften (PhD). Während ihrer Doktorarbeit am Institut für klinische Chemie und Pathobiochemie untersuchte sie bestimmte Entzündungsmoleküle und Signalwege des angeborenen Immunsystems, die bei der Entstehung von Darmkrebs eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund ihrer hohen akademischen Leistungen erhielt sie die Zulassung zu einem Zweitstudium im Fach Humanmedizin an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, um detaillierte Kenntnisse in mikroskopischer und makroskopischer Anatomie für die Anwendung in der molekularen Krebsforschung zu erlangen. Im Anschluss erforschte Hanna Heikenwälder an der chirurgischen Kli-

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Über die Autoren

nik der Universität Heidelberg personalisierte Therapien zur Behandlung von Pankreaskrebs. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Fachartikeln hat Hanna Heikenwälder auch zu einem Fachbuch über translationale Pankreaskrebsforschung beigetragen. Ihr erstes populärwissenschaftliches Sachbuch Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko erschien 2019 im Springer-Verlag. Aktuell ist sie an der Universität Tübingen tätig und arbeitet als freie Autorin. Ihr neues Sachbuch Der Himmel ist nicht genug – Wissenschaft ist die beste Religion erscheint ebenfalls 2023 im Springer-Verlag. Foto © André Leisner 2022.

Über die Autoren

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Univ. Prof. Dr. Mathias Heikenwälder (geb. 14.07.1976) studierte Genetik und Mikrobiologie an der Universität Wien. Nach seiner Diplom-Arbeit am Max Delbrück Zentrum in Berlin und Promotion an der Universität Zürich habilitierte er in experimenteller Pathologie am Universitäts Spital Zürich (USZ). Nach der Etablierung einer unabhängigen Arbeitsgruppe in der Pathologie des USZ wechselte er nach München, wo er als W2-Professor für „Chronische Entzündung, Gewebeschaden und Krebs in der Leber“ am Klinikum Rechts der Isar der Technischen Universität München tätig war. Seit Oktober 2015 ist er W3-Professor und Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und seit Oktober 2022 wissenschaftlicher Direktor des neu gegründeten M3-Instituts an der Medizinischen Fakultät Tübingen. Dort untersuchen Prof. Heikenwälder und sein internationales Team, wie chronische Entzündungen die Krebsentstehung und die Metastasierung fördern und wie man therapeutisch in diese Prozesse eingreifen kann. Seit 2019 ist Prof. Heikenwälder Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina). Er gehört zu den drei meistzitierten Zellbiologen im deutschsprachigen Raum, und seit 2018 zu den Top-1 % der meistzitierten Wissenschaftler weltweit („highly-cited scientist“). Im Jahr 2022 erhielt er für seine herausragenden Leistungen in der experimentellen Krebsforschung den Deutschen Krebspreis. Foto © Birgit Roschach 2019.

Neuigkeiten aus der Krebsforschung

Zusammenfassung Die letzten Jahrzehnte intensiver Forschung haben uns Vieles über Krebserkrankungen und ihre Ursachen gelehrt. Wir wissen heute, dass Krebserkrankungen und der gesamte Alterungsprozess unweigerlich miteinander verknüpft sind. Und wir haben verstanden, dass wir sowohl die Entstehung von Krebserkrankungen als auch den Alterungsprozess auf die gleiche Weise verlangsamen können. Klassische Karzinogene spielen dabei nach wie vor eine wichtige Rolle, aber sie sind nur der Samen, aus dem eine Krebserkrankung hervorgehen kann. Ohne einen Nährboden aus krebsfördernden Lebensgewohnheiten, Umwelteinflüssen und Begleiterkrankungen können nur die wenigsten Krebserkrankungen entstehen. Das gefährliche Zusammenspiel von genetischen Mutationen und mächtigen Krebsförderern ist der Grund, weshalb wir die Entstehung nahezu aller Krebserkrankungen durch unseren Lebensstil beeinflussen können und dabei gleichzeitig die Schuldfrage entschärfen. Krebs ist noch immer ein Tabuthema, mit dem sich niemand gerne beschäftigt, es sei denn, er muss. Wer an Krebs erkrankt, fühlt sich von einem Moment auf den anderen in eine Parallelwelt katapultiert – eine Welt, in der Krebserkrankungen plötzlich eine Rolle spielen, in der sie zwangsweise dazu gehören und in der man sogar lernen kann, mit ihnen zu leben. Dabei existiert eine derartig klare Grenze zwischen Gesunden und Krebskranken gar nicht, denn wir alle tragen die Vorstufen von Krebserkrankungen in uns. Das, was wir klinisch als ausgewachsenen Krebs diagnostizieren, ist nur die Spitze eines Eisberges aus vorgeschädigten Zellen. Während wir uns noch in sicherer Gesundheit © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_1

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H. Heikenwälder und M. Heikenwälder

wiegen, wütet in unserem Inneren in aller Verborgenheit ein unaufhörlicher Kampf. Millionen von Immunzellen beseitigen täglich tausende geschädigte Zellen und Milliarden mikroskopisch kleiner Reparaturenzyme korrigieren genetische Defekte. Eine Krebsdiagnose macht nur einen einzelnen winzigen Aspekt dieses unsichtbaren Kampfes für uns sichtbar: seinen Ausgang. Dabei könnten wir durch unseren Lebensstil ein Leben lang Einfluss auf den Verlauf dieses Kampfes nehmen. Krebserkrankungen sind bei weitem keine neue Krankheit – sie sind so alt wie das Leben selbst. Sie kommen bei allen vielzelligen Lebewesen vor, wenngleich ihre Häufigkeit und Altersverteilung bei Säugetieren, Fischen, Vögeln und Pflanzen deutlich variiert. Ihr universales Auftreten im Tierreich lässt Krebserkrankungen als scheinbar unausweichliche Konsequenz komplexen vielzelligen Lebens erscheinen. Dabei lehrt uns das unterschiedliche Alter, mit dem Tierarten typischerweise an Krebs erkranken, dass sie nicht nur unausweichlich, sondern vielmehr ein von der Evolution wohlabgewogener und in gewisser Weise gewollter Kompromiss sind. Damit sich das Leben stets an wandelnde Umweltbedingungen anpassen kann, ist eine gewisse Variation an Merkmalen zwingend notwendig. Nur so kann sichergestellt werden, dass innerhalb einer Art immer eine Untergruppe existiert, die den neuen Herausforderungen ihrer Umwelt oder Zeit gewachsen ist. Höchste Präzision bei der Vervielfältigung unserer Gene ist also von der Evolution gar nicht gewollt. Sie könnte sogar das Überleben einer ganzen Art gefährden. Dieser genetischen Variation steht der Schutz unserer Gene gegenüber, denn um gesunde Nachkommen zu zeugen und deren Überleben zu sichern, muss die Integrität und Funktion unserer Gene bis ins fortpflanzungsfähige Alter hinein oder – im Fall von uns Menschen – sogar weit darüber hinaus bewahrt werden. Tiere fangen in der Regel erst dann an zu altern, wenn ihre Stunde in der Natur ohnehin längst geschlagen hätte. Man wird daher auf dem Feld selten einer alten grauen Maus begegnen, da Mäuse in der Regel nicht an Altersschwäche sterben, sondern von Fressfeinden verspeist werden, verhungern oder erfrieren. Ein aufwendiger Schutz der Maus-Gene weit über diese Zeit hinaus wäre aus evolutionärer Sicht reine Energieverschwendung. Je höher die Lebenserwartung, desto ausgeklügelter sind die Schutzmechanismen der Gene. Um uns vor Mutationen zu schützen, hat die Evolution eine Vielzahl an Reparatur- und Kontrollmechanismen hervorgebracht, die wie ein mehrschichtiges Sicherheitsnetz wirken, das krankhafte Zellen in unserem Körper abfängt und an der Vermehrung hindert. Krebs kann nur entstehen, wenn es einer Körperzelle gelingt, mehrere bedeutende genetische Veränderungen anzusammeln und (!) alle „Sicherheitsnetze“ zu durchbrechen. Das erste Si-

Neuigkeiten aus der Krebsforschung

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cherheitsnetz bilden Enzyme, die auf die Reparatur von genetischen Schäden spezialisiert sind. Scheitern diese Reparaturversuche, wird die geschädigte Zelle aussortiert oder in eine Art Ruhestand geschickt, den man als „Seneszenz“ bezeichnet. Unsere Körperzellen erreichen aber auch ohne solche genetischen Schädigungen im Laufe ihres Lebens irgendwann den Zustand der Seneszenz, und zwar dann, wenn die Telomere an den Enden der Chromosomen aufgebraucht sind. Telomere kann man sich am besten als Schutzkappen an den Enden unserer Chromosomen vorstellen, die mit jeder Zellteilung ein kleines Stückchen kürzer werden. Sind sie aufgebraucht, nimmt das Erbgut direkten Schaden und die Zelle stirbt ab oder wird „seneszent“. Diese „pensionierten“ Zellen leben zwar noch, können sich jedoch nicht mehr teilen und somit auch nicht mehr an der Erneuerung von Geweben teilnehmen. Die Seneszenz unserer Zellen ist einer der Hauptgründe, warum wir im Alter zunehmend an Regenerationspotenzial verlieren (Khosla et al. 2020). Völlig untätig sind die pensionierten Zellen dabei jedoch nicht, denn sie produzieren und sekretieren weiterhin verschiedene Substanzen, die einer unterschwelligen Entzündungsreaktion ähneln und unter anderem für einen beschleunigten Alterungsprozess und Alterserkrankungen verantwortlich gemacht werden (Senescence-associated secretory phenotype, SASP). Bis zu 20 % aller Körperzellen in älteren Primaten sind seneszente Zellen mit irreparablen DNA-Schäden oder aufgebrauchten Telomeren (Herbig et al. 2006). Auch unsere Stammzellen gehen ab einem gewissen Alter in den Ruhestand und können nicht mehr für einen kontinuierlichen Nachschub an jungen Zellen sorgen. Dies geschieht spätestens, falls wir es tatsächlich bis dahin geschafft haben, um das 120. Lebensjahr herum. In Mausexperimenten konnte die gezielte Entfernung seneszenter Zellen den gesamten Alterungsprozess verlangsamen, Krebserkrankungen aufhalten und die Lebensspanne deutlich verlängern (Baar et al. 2017; Poblocka et al. 2021). Diese Experimente lieferten die Grundlage für eine völlig neue Art von Medikamenten, die man als „Senolytika“ bezeichnet und an deren Entwicklung intensiv geforscht wird. Bei uns Menschen beobachten wir den Alterungsprozess ab Mitte 30 meistens zuerst an unseren Haaren. Wir ergrauen, weil die Stammzellen in der Haarwurzel, die für die Produktion des braunen Farbstoffs Melanin zuständig sind, ihren Dienst für immer aufgeben. Aber wir werden mit dem Alter nicht nur grauer und weiser – uns trifft auch, statistisch gesehen, immer häufiger das Schicksal einer Krebserkrankung. Die Menge an geschädigten und seneszenten Zellen in unserem Körper steigt und damit auch das Risiko, dass bei einer dieser Zellen der Ruhestand in eine neue Selbstständigkeit ausartet.

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Abb. 1 Stadien der Krebsentstehung am Beispiel von schwarzem Hautkrebs (Melanom). Stadium 1: Ein anfänglich gutartiger Tumor mit einer Größe von weniger als 1 mm wächst in der Epidermis der Haut heran. Stadium 2: Der Tumor ist immer noch auf die Epidermis beschränkt, hat aber inzwischen eine Größe von 1–4 mm erreicht. Stadium 3: Krebszellen breiten sich in benachbarte Hautareale und nahegelegene Lymphknoten aus. Der Tumor gilt von nun an als bösartig. Stadium 4: Krebszellen wandern über die Blutbahn in andere Organe und bilden dort Metastasen. Über die Lymphe erreichen die Krebszellen nun auch entferntere Lymphknoten und verursachen hier Schwellungen. In diesem Stadium ist ein Melanom nicht mehr heilbar. Adaptiert aus „Melanoma Staging“ von BioRender.com (2022a). Abgerufen von http:// app.biorender.com/biorender-templates

Über viele Jahre bis Jahrzehnte entwickeln sich diese Zellen in aller Stille in Richtung zunehmender Bösartigkeit. Den Platz für ihr unkontrolliertes Wachstum verschaffen sich Krebszellen, indem sie spezielle Schneide-Enzyme ausschütten, die das umliegende Gewebe auflockern. Um ihren Nahrungsbedarf zu sichern, regen sie das Wachstum neuer Blutgefäße an, die derartig missgebildet sind, dass Immunzellen oder Medikamente kaum noch in den Tumor gelangen. Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sich stillschweigend eine gefährliche Invasionsfront auf ihren Weg macht (Abb. 1). Einige dieser invasiven Krebszellen sind so autark geworden, dass sie sich in benachbarte Organe oder im schlimmsten Fall sogar über die Blutbahn oder Lymphe ausbreiten können. Dort, wo ihre Reise sie hinführt, siedeln sie sich an und bilden neue Kolonien. Sie wachsen so lange weiter, bis die Ressourcen verbraucht sind und der Zyklus der Metastasierung von Neuem beginnt. Aus einem anfangs harmlosen primären Tumor werden bösartige sekundäre und metastasierte Tumoren. Von nun an versprechen Therapien kaum mehr Heilung, sondern hauptsächlich einen Gewinn an wertvoller Lebenszeit.

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Es sind die gefürchteten Metastasen, die Krebs so gefährlich machen und an denen letzten Endes 90 % aller Krebspatienten versterben (Chaffer et al. 2011). Ausgerechnet ihnen stehen wir aber auch heute noch – in Zeiten der Hightech-Medizin – völlig hilflos gegenüber. Wir können unmöglich zig Millionen dieser nur wenige Mikrometer kleinen Krebszellen, die sich in allen möglichen Winkeln unseres Körpers verstecken, herausoperieren oder bestrahlen. Wir könnten sie nicht einmal alle finden. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Metastasen häufig viele Jahre bis Jahrzehnte in einer Art Dauerschlaf befinden, in dem sie resistent gegenüber nahezu allen Medikamenten sind. Um sie zu bekämpfen, brauchen wir ein Mittel, das ebenso mikroskopisch klein, zahlreich und hartnäckig ist. Die Wissenschaft setzt daher alle Hoffnungen in den einzigen für eine solche Arbeit qualifizierten Kandidaten: unser eigenes Immunsystem. Aber noch sind wir nicht so weit. Für einige Krebserkrankungen gibt es wirksame Immuntherapien, aber auch diese wirken bisher immer nur bis zu einem gewissen Punkt. Ist dieser überschritten, ist eine Heilung ausgeschlossen. Die vollständige Heilung sollte auch nicht das alleinige Ziel aller Forschungsbemühungen sein, denn ein Herauszögern der Erkrankung oder ein Gewinn an Lebensqualität sind für Betroffene ebenso wichtige und erstrebenswerte Ziele. Wer dank einer angepassten Therapie Jahre oder Jahrzehnte gut mit einer Krebserkrankung leben kann, hat sehr viel gewonnen. Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte auf vielen Gebieten gemacht. Wir können Herz-Kreislauf-Erkrankungen wirksam mit Medikamenten, wie Blutverdünnern und Cholesterinsenkern, behandeln. Gegen viele Infektionskrankheiten, die für ältere Menschen früher gefährlich waren, stehen uns inzwischen hochwirksame Antibiotika oder effiziente Impfungen zur Verfügung. In unserer modernen Welt können wir Unfälle vermeiden, diabetesbedingte Gefäßschäden durch gentechnisch hergestelltes Insulin verhindern, Osteoporose mit Vitamin D vorbeugen und verschlissene Knieund Hüftgelenke operieren. Aber selbst wenn es uns gelänge, alle anderen Krankheiten und altersbedingten Leiden abzuwenden, so würden wir doch irgendwann an Krebs erkranken. Dabei wird ein entscheidender Faktor systematisch übersehen. Die Annahme, dass wir dem Krebs irgendwann nicht mehr entfliehen können, mag durchaus stimmen. Aber die Tatsache, dass wir das „Ob“ nicht beherrschen können, bedeutet keinesfalls, dass wir dem „Wann“ ebenso hilflos ausgeliefert sind. Weil wir die genetischen Veränderungen, die zur Entstehung von Krebserkrankungen führen, zum Großteil erst im Laufe unseres Lebens erwerben, können wir entscheidend in diesen langwierigen Prozess eingreifen. Abb. 2 veranschaulicht eindrucksvoll, dass wir dabei oftmals sogar Jahrzehnte

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Abb. 2 Geschätzter Zeitraum, den Krebserkrankungen und ihre Vorstufen zur Entstehung benötigen. Dieser Zeitraum ist durch eine Reihe von genetischen Veränderungen gekennzeichnet, wobei die Art und Reihenfolge dieser Veränderungen spezifisch für unterschiedliche Organe und Gewebe ist. Die Zeit von der Initiierung bis hin zur vollen Etablierung einer bösartigen Krebserkrankung ist direkt von dem Erwerb dieser genetischen Veränderungen abhängig. Die lange Zeit, die bis zum Erwerb aller bösartigen genetischen Veränderungen vergeht, bietet einen wertvollen Angriffspunkt für Behandlungen und Präventionsstrategien, die diesen gefährlichen Prozess frühzeitig unterbrechen könnten. Orangefarbene Zellen symbolisieren Veränderungen in der Zusammensetzung des Tumors, wie beispielsweise Immunzellen, die durch absterbende Krebszellen angelockt werden. Fortgeschrittene Tumoren zeigen eine pathologische Neubildung von Blutgefäßen und ein vermehrtes Vorkommen von Bindegewebszellen. Abkürzungen: CIN: Adenokarzinom in situ; CIS: Karzinom in situ; DCIS: Duktales Karzinom in situ; PIN: Intraepitheliale Neoplasien des Pankreas; TIS: Transitionalzellkarzinom in situ. Diese Abbildung aus Umar et al. (2012) wurde angepasst und übersetzt mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature Customer Service Centre GmbH: Springer Nature, Nature Reviews Cancer, Future directions in cancer prevention, Macmillan Publishers Limited 2012 (Umar et al. 2012)

Zeit haben, um mit Präventionsstrategien oder Therapien in den Prozess der Krebsentstehung einzugreifen (Abb. 2). Krebsprävention bedeutet neben Aufklärung, individueller Risikobewertung und regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen auch die Entwicklung von neuen Medikamenten, die Risikopatienten zukünftig vor Krebserkrankungen schützen sollen. Diese Form der Vorsorge wird „Chemoprävention“ genannt und ist trotz ihres abschreckend klingenden Namens im Prinzip das Gleiche

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wie täglich Aspirin zur Blutverdünnung und somit zum Schutz vor einem Herzinfarkt einzunehmen. Die Entwicklung von Medikamenten zum Schutz vor Krebserkrankungen wäre zudem ein rentabler Anreiz für die Pharmaindustrie, sich ebenfalls an der Präventionsforschung zu beteiligen. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir mit 60 an Krebs erkranken oder mit 80 – oder sogar die Entstehung einer Krebserkrankung so weit hinauszögern, dass sie gar nicht mehr zum Tragen kommt, weil wir zuvor an etwas anderem versterben. In den meisten Fällen sind dies Herz-KreislaufErkrankungen, denn an klassischer Altersschwäche stirbt heute kaum noch jemand. Wissenschaftlich betrachtet ist Altersschwäche jedoch nichts anderes als der allmähliche Funktionsverlust aller Organe und Gewebe aufgrund einer steigenden Anzahl an pensionierten Zellen bis hin zu einer Erschöpfung des Stammzell-Repertoires. Die wenigsten Menschen wissen, wie sehr wir das Tempo, mit dem diese Prozesse ablaufen, durch unseren Lebensstil beeinflussen können. Dass wir es können, haben unzählige wissenschaftliche Studien und auch Untersuchungen an besonders langlebigen Bevölkerungsgruppen eindrücklich gezeigt. Allein durch eine begrenzte Kalorienzufuhr kann die Lebensspanne vieler untersuchter Tierarten, darunter auch Säugetiere, zuverlässig verlängert werden. Die Tiere leben nicht nur länger, sondern bleiben auch länger von Alterserscheinungen und Krankheiten verschont (Kenyon 2010; Green et al. 2022). Die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte haben eindrücklich bewiesen, dass Krebserkrankungen und unser gesamter Alterungsprozess unweigerlich miteinander zusammenhängen. Wer Krebsprävention betreibt, macht aus wissenschaftlicher Sicht nichts anderes als eine echte „Anti-Aging“Therapie. Um Krebserkrankungen vorzubeugen und den Alterungsprozess zu verlangsamen, müssen oftmals Lebensgewohnheiten verändert werden. Und zwar dauerhaft – was uns mitunter viel Disziplin abverlangen kann. Um dieses hohe Maß an Disziplin aufzubringen, ist es notwendig, von der Sinnhaftigkeit der eigenen Bemühungen überzeugt zu sein. Eine aufrichtige Überzeugung können wir aber nur erlangen, wenn wir die Mechanismen verstehen, die uns altern und krank werden lassen. Es gibt Dinge, die niemand anderes für uns tun kann als wir selbst – und dazu gehört in besonderem Maße der Schutz unserer eigenen Gesundheit. Wir selbst müssen die Konsequenz und Motivation für uns aufbringen, um das Fortschreiten krankhafter Prozesse aufzuhalten. Niemand ist so sehr an Ihrer Gesundheit interessiert wie Sie. Niemand kann Ihnen das Leben wiedergeben, wenn es vorbei ist, auch nicht die modernste Wissenschaft. Alles, was wir Wissenschaftler tun können, ist, die Ergebnisse unserer Forschung mit Ihnen zu teilen. Wenn die Ergebnisse unserer Arbeit

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jedoch nicht in die Öffentlichkeit, die Politik oder den Alltag von Ärzten und Kliniken gelangen, sind all unsere Bemühungen nutzlos. Krebserkrankungen entstehen nicht von einem Tag auf den anderen. Sie entstehen unser Leben lang. Man könnte Krebsprävention auch als frühe und in vielen Fällen einzig rechtzeitige Form der Therapie für diese unausweichlich eintreffende Krankheit verstehen. Die Chancen stehen sehr hoch, dass sie in Ihrem Leben mit Krebs in Kontakt kommen werden. Dieser wissenschaftlichen Sichtweise steht in hartem Kontrast das Verhalten unserer Gesellschaft gegenüber. Krebserkrankungen haben den Ruf einer willkürlichen und zweifelhaften Lotterie, die niemand wirklich versteht. Die vielen empfohlenen und teilweise dubiosen Vorsichtsmaßnahmen erscheinen in diesem Licht als bloße Zeitverschwendung. Jeder kennt irgendjemand, der trotz Rauchen oder Trinken uralt geworden ist. Kaum einem fällt dabei auf, dass die Leute, die trotz Rauchen oder Trinken uralt geworden sind, prozentual in der Minderheit sind, und viele bedeutsame Krebsrisiken, wie Übergewicht oder manche Infektionen, sind so gut wie niemandem bekannt, der nicht gerade zufällig selbst in der Krebsforschung arbeitet. Die Entstehung von Krebserkrankungen ist auf vielen Ebenen ein statistischer Prozess (Abb. 3: Ebenen der Krebsentstehung). Daher bekommen wir auch keine Garantie für den Erfolg unserer Bemühungen – wir können lediglich dazu beitragen, die „Lotterie“ nicht unnötig weiter anzukurbeln. Es geht nicht darum, eine einzelne Ursache oder Schuld für eine Krebserkrankung zu finden, sondern darum, so viel Leid wie möglich zu verhindern. Anstatt uns auf sensationelle Durchbrüche in der Krebsforschung zu verlassen, sollten wir zwischenzeitlich alles in unserer Möglichkeit Stehende tun, um unserem Körper zu helfen. Und dies gelingt am effizientesten, wenn wir die Kontrollmechanismen unseres Körpers stärken oder zumindest nicht ihre Arbeit blockieren. Wir werden uns niemals völlig vor Mutationen schützen können, denn sie ereignen sich auch ganz spontan während der Zellteilung und noch viel häufiger durch natürliche, aber chemisch angriffsfreudige Nebenprodukte unseres Stoffwechsels. Wir können jedoch zu jeder Zeit unseres Lebens dazu beitragen, dass geschädigte Körperzellen durch ein gesundes Immunsystem erkannt werden und gefährliche Krebsvorläufer keine zusätzlichen Wachstumsimpulse durch „Krebsförderer“ erhalten. Krebsförderer sind für die Krebsentstehung weitaus wichtiger als die meisten heiß diskutierten Karzinogene. Dennoch sind ihre Gefahren in der Gesellschaft nahezu unbekannt. Sie zu identifizieren und zu verstehen hat viele Jahrzehnte an intensiver Forschungsarbeit gekostet, was in erster Linie ihrer verschiedenen Beschaffenheit geschuldet ist. Von Sexualhormonen, wie Östro-

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Abb. 3 Schutzebenen, die Mutationen durchbrechen müssen, um zur Krebsentstehung beizutragen. Gesunde Zellen müssen zunächst eine Reihe genetischer Veränderungen ansammeln, die sowohl angeboren als auch im Laufe des Lebens erworben sein können (z. B. durch Karzinogene oder oxidativen Stress). Je häufiger spontane Mutationen auftreten, desto häufiger müssen Reparaturen unternommen werden und desto höher ist das Risiko, dass dabei ein Fehler unterläuft. Damit defekte Zellen keine weiteren Abkömmlinge mehr produzieren, werden sie in den programmierten Zelltod oder in den Ruhestand geschickt. Dieser Schutzmechanismus kann in Anwesenheit von äußeren Wachstumsstimulatoren wie Entzündungen oder Wachstumshormonen versagen. Geschädigte Zellen, denen es dennoch gelingt, sich weiter zu vermehren, werden vom Immunsystem erkannt und vernichtet. Je höher die Kontrollebene, desto größer ist der Einfluss von Krebsförderern und somit unseres Lebensstils. Das Immunsystem ist als höchste Instanz besonders anfällig für den Einfluss von modernen Krebsförderern. Adaptiert aus „Timeline (4 Segments, Horizontal)“ von BioRender.com (2022b). Abgerufen von http://app.biorender.com/biorender-templates

gen und Testosteron, über Wachstums- und Stoffwechselhormone, wie Insulin und IGF-1, bis hin zu dauerhaften Entzündungen oder physikalischen Reizen kann alles als Krebsförderer fungieren, was der Eliminierung von defekten Zellen entgegenwirkt. Unser Körper ist bestens auf Mutationen vorbereitet. Er erwartet sie mit einer Armee aus Reparaturenzymen und Immunzellen. Mutationen sind, unabhängig von ihrer Quelle, der Ausgangspunkt aller Krebserkrankungen – aber ohne Krebsförderer, die ihnen den geeigneten Nährboden

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bereiten, können nur die wenigsten Krebserkrankungen gedeihen. Nun, da wir sie kennen und ihre Wirkungsweise verstehen, müssen wir ihnen endlich die Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, die ihnen gebührt. Wenn wir die mächtigsten Krebsförderer unserer Zeit eliminieren, können wir Krebserkrankungen rechtzeitig ihr Substrat entziehen. Wir müssen uns auch nicht mehr kampflos einem familiären und somit genetischen Risiko ergeben, wenn wir wissen, dass wir im Vorfeld viel Zeit haben, um mithilfe dieses neuen Wissens das Heranreifen von Krebserkrankungen zu verlangsamen. Selbst Menschen, die in ihrem Erbgut die Genmutation für eine bestimmte genetisch bedingte Krebsform tragen, müssen während ihrer Lebenszeit nicht zwangsweise erkranken. So lag beispielsweise das Risiko, im Laufe des Lebens an Brustkrebs zu erkranken, für Trägerinnen einer gefährlichen, für die erbliche Form von Brust- und Eierstockkrebs verantwortlichen Genmutation (BRCA1/2) vor 1940 bei lediglich 24 %. Trägerinnen der gleichen Genmutation, die nach 1940 geboren wurden, haben ein Erkrankungsrisiko von 67 %. Damit hat sich das Erkrankungsrisiko selbst bei dieser genetisch bedingten Krebsform trotz der heutigen Untersuchungsmöglichkeiten (inklusive der DNA-Analyse) inzwischen mehr als verdoppelt. Die Autoren dieser Studie mit mehr als 1000 von der Genmutation betroffenen Frauen führten die steigende Erkrankungsrate unter anderem auf Bewegungsmangel und Übergewicht zurück (King et al. 2003). Der Frage, weshalb diese häufigen Faktoren die Krebsentstehung fördern, haben wir eigene Kapitel gewidmet. Auf den Punkt Für die meisten Krebserkrankungen nimmt man heute an, dass sie aus einem Zusammenspiel von persönlicher genetischer Veranlagung, erworbenen genetischen Veränderungen (z. B. durch zufällige Fehler bei der DNA-Vervielfältigung und -Reparatur, Karzinogene oder oxidativen Stress) und Krebsförderern (Stoffe aus der Umwelt, Übergewicht, chronische Entzündungen oder Infektionen) hervorgehen. Die Ebene der Umwelteinflüsse wird wohl noch für lange Zeit die einzige bleiben, die wir wirklich beeinflussen können. Ein Lebensstil, der den Stoffwechsel und das Immunsystem gesund hält, leistet neben dem Vermeiden von Karzinogenen in unserer Umwelt und Nahrung den größten Beitrag zu einem krebsfreien Leben. Dieses Wissen bedeutet nicht, dass wir Schuld an einer Krebserkrankung sind. Es bedeutet, dass wir unser persönliches Krebsrisiko minimieren können, wenn wir unseren Lebensstil bereits in jungen Jahren anpassen. Es erteilt uns eine hohe Verantwortung, aber es macht auch Mut und Hoffnung, denn wir müssen uns nicht kampflos einem familiären Krebsrisiko ergeben.

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Literatur Baar MP, Brandt RMC, Putavet DA, Klein JDD, Derks KWJ, Bourgeois BRM, Stryeck S, Rijksen Y, van Willigenburg H, Feijtel DA, van der Pluijm I, Essers J, van Cappellen WA, van IJcken WF, Houtsmuller AB, Pothof J, de Bruin RWF, Madl T, Hoeijmakers JHJ, Campisi J, de Keizer PLJ (2017) Targeted apoptosis of senescent cells restores tissue homeostasis in response to chemotoxicity and aging. Cell 169(1):132–147.e16 BioRender.com (2022a) Melanoma Staging. https://app.biorender.com/biorendertemplates/figures/all/t-5fc92f4c030bd3328427084a-melanoma-staging. Zugegriffen: 19. Dez. 2022 BioRender.com (2022b) Timeline (4~segments, horizontal). https://app.biorender. com/biorender-templates/figures/all/t-5faadd3a8a991000a8cdfa19-timeline-4segments-horizontal. Zugegriffen: 19. Dez. 2022 Chaffer CL, Weinberg RA (2011) A perspective on cancer cell metastasis. Science 331(6024):1559–1564 Green CL, Lamming DW, Fontana L (2022) Molecular mechanisms of dietary restriction promoting health and longevity. Nat Rev Mol Cell Biol 23(1):56–73 Herbig U, Ferreira M, Condel L, Carey D, Sedivy JM (2006) Cellular senescence in aging primates. Science 311(5765):1257 Kenyon CJ (2010) The genetics of ageing. Nature 464(7288):504–512 Khosla S, Farr JN, Tchkonia T, Kirkland JL (2020) The role of cellular senescence in ageing and endocrine disease. Nat Rev Endocrinol 16(5):263–275 King M-C, Marks JH, Mandell JB, New Group (2003) Breast and ovarian cancer risks due to inherited mutations in BRCA1 and BRCA2. Science 302:643–646 Poblocka M, Bassey AL, Smith VM, Falcicchio M, Manso AS, Althubiti M, Sheng X, Kyle A, Barber R, Frigerio M, Macip S (2021) Targeted clearance of senescent cells using an antibody-drug conjugate against a specific membrane marker. Sci Rep 11(1):20358. https://doi.org/10.1038/s41598-021-99852-2 Umar A, Dunn BK, Greenwald P (2012) Future directions in cancer prevention. Nat Rev Cancer 12(12):835–848

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Zusammenfassung Die Mehrheit aller Krebserkrankungen wird durch ungesunde Lebensgewohnheiten und schädliche Umwelteinflüsse verursacht. Laut Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation wird sich dieser Trend zukünftig noch weiter verschärfen. Dabei könnte die Hälfte dieser modernen Krebserkrankungen verhindert werden, wenn der aktuelle Wissensstand aus der Forschung richtig umgesetzt werden würde. Den ernsthaften Bemühungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft, diese Krebserkrankungen in Zukunft in den Griff zu bekommen, steht das Problem einer Infotainment-Kultur vieler Medien gegenüber. Übertriebene und oftmals widersprüchliche Berichte vertiefen das Misstrauen in die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und behindern die Umsetzung erwiesener Präventionsmaßnahmen. Regelmäßige Berichte über bahnbrechende Erfolge in der Krebsforschung lassen bei vielen die Hoffnung keimen, dass wir Krebserkrankungen in naher Zukunft besiegen werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir einige Krebserkrankungen dank rasanter Fortschritte auf den Gebieten der Gentechnik, Immuntherapie und neuen Impfungen in den nächsten Jahrzehnten tatsächlich in den Griff bekommen werden. Es ist aber genauso gut möglich, dass wir metastasierten Krebserkrankungen in 50 Jahren immer noch so hilflos gegenüberstehen werden wie heute. Während unter Wissenschaftlern Skepsis und Kopfzerbrechen herrscht, wenn es um die Heilung fortgeschrittener Krebserkrankungen geht, ist man sich in einem Punkt jedoch inzwischen einig: Ein Großteil aller Fälle wäre vermeidbar.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_2

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Abb. 1 Weltweite Häufigkeitsverteilung von Krebserkrankungen nach Organ (oben) und Häufigkeitsverteilung der krebsbedingten Todesfälle nach Organ des Primärtumors (unten). Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Ferlay et al. (2020a)

Viele Millionen Menschenleben könnten jährlich gerettet werden, wenn es uns gelänge, über die Mechanismen der Krebsentstehung aufzuklären und eine sinnvolle Präventionsstrategie zu entwickeln. Jeder Zweite von uns wird zumindest einmal in seinem Leben an Krebs erkranken. Mit ca. 10 Mio. Todesfällen im Jahr sind Krebserkrankungen eine der Haupttodesursachen (WHO 2022). Trotzdem werden Krebserkrankungen nicht weniger, sondern nehmen weltweit zu. Der größte Anstieg wird ausgerechnet bei jenen Krebserkrankungen beobachtet, die anfangs keinerlei Symptome bereiten und deren Ent-

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wicklung wir maßgeblich durch unseren Lebensstil beeinflussen können, wie beispielsweise Brustkrebs, Lungenkrebs, Darmkrebs, Magenkrebs oder Leberkrebs (Abb. 1). Allein von 2018 bis 2020 ist die Zahl der jährlichen Krebserkrankungen weltweit von 18 auf 19,3 Mio. gestiegen. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, werden unsere Gesundheitssysteme im Jahr 2040 laut Hochrechnungen der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) mit 28,9 Mio. neuen Krebsfällen pro Jahr konfrontiert werden (Ferlay et al. 2020b) Leider wird die Zahl der Neuerkrankungen nicht nur durch sogenannte Überdiagnosen in die Höhe getrieben, wie man den scheinbaren Anstieg an Erkrankungen durch verbesserte Diagnoseverfahren und die Entdeckung von harmlosen Krebsvorläuferstufen bezeichnet. Bösartige Krebserkrankungen nehmen zu und mit ihnen auch die Anzahl der krebsbedingten Todesfälle. Gepaart mit dem weltweiten Bevölkerungswachstum, wird dieser düstere Trend zu einer ernsthaften Belastungsprobe für unsere Gesundheitssysteme werden. Obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung in vielen Ländern dieser Welt dank verbesserter Hygienebedingungen und medizinischer Versorgung deutlich gestiegen ist, scheinen sich diese positiven Entwicklungen nicht auf die Anzahl an neuen Krebserkrankungen auszuwirken. Je moderner und westlicher ein Land ist, desto höher ist das Krebsrisiko (Abb. 2). Auch die Häufigkeiten verschiedener Krebserkrankungen verschieben sich. Der Anteil an Rauchern sinkt in hochentwickelten Ländern und damit auch die Häufigkeit von Krebserkrankungen, die durch Rauchen verursacht werden, wie beispielsweise Lungenkrebs, Kehlkopfkrebs, Blasenkrebs, Nierenkrebs und Krebserkrankungen der Mundhöhle. Gebärmutterhalskrebs verschwindet von der Liste der häufigsten Krebserkrankungen ab dem Zeitpunkt, an dem Länder umfangreiche Impfkampagnen gegen humane Papilloma Viren starten und somit die Verbreitung des infektiösen Erregers von Gebärmutterhalskrebs eindämmen. Dafür schnellen die Inzidenzen (d. h. die Anzahl neuer Diagnosen) anderer Krebserkrankungen wie Brustkrebs, Darmkrebs und Prostatakrebs in wohlhabenderen Teilen dieser Welt rasant in die Höhe. Mit zunehmendem Wohlstand wird ein besonders steiler Anstieg dieser Erkrankungen auch in ärmeren Ländern beobachtet (Soerjomataram und Bray 2021). Laut der Internationalen Agentur für Krebsforschung könnte die Hälfte aller Krebserkrankungen vermieden werden, wenn der aktuelle Wissensstand umgesetzt werden würde (Tran et al. 2022). Dies beinhaltet das Vermeiden von krebsverursachenden Nahrungsmitteln, Umwelteinflüssen und Lebensgewohnheiten, sowie die Ausschöpfung der heutigen Präventions- und Diagnosemöglichkeiten. Alleine durch Impfungen gegen Hepatitis B und humane Papilloma Viren (HPV) könnten jährlich ca. 1 Mio. Krebserkrankungen verhindert werden (Plummer et al. 2016). Abb. 3 zeigt, wie groß der geschätzte

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Abb. 2 Weltweite Verteilung von Krebshäufigkeiten. Je dunkler der Farbton, desto höher die Anzahl der jährlichen Neuerkrankungen (Inzidenzen). Für Männer (obere Karte) und Frauen (untere Karte) zeigt sich ein vergleichbares Muster in der Verteilung von Neuerkrankungen, wobei moderne westliche Länder weltweit die höchsten Werte erreichen. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Ferlay et al. (2020a)

Anteil an vermeidbaren Todesfällen für einige der häufigsten Krebserkrankung nach heutigem Erkenntnisstand ist (Abb. 3). Wir wissen mittlerweile, dass nur etwa 5–10 % aller Krebserkrankungen auf angeborene genetische Defekte zurückzuführen sind (Aggarwal et al. 2009). Die hierfür verantwortlichen Gene sind weitestgehend gut erforscht, auch wenn wir für einige seltene Krebserkrankungen, insbesondere für frühe Erkrankungen im Kindesalter, die verantwortlichen Gene oftmals nicht identifizieren können. In dem Kapitel „Alter und Krebs“ gehen wir im Detail auf

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Abb. 3 Todesfälle durch vermeidbare Risikofaktoren: Für jede Krebserkrankung wird der Prozentsatz der Todesfälle angegeben, der unter Berücksichtigung aller bekannten Präventions- und Diagnosemaßnahmen hätte verhindert werden können. Mit freundlicher Genehmigung des „Institute for Health Metrics Evaluation“ (IHME). Alle Rechte vorbehalten

Krebs im Kindesalter ein. Die restlichen 90–95 % aller Krebserkrankungen sind also auf erworbene Gendefekte zurückzuführen – d. h., wir sammeln diese genetischen Defekte erst im Laufe unseres Lebens an. Wer dabei zuerst an klassische chemische Karzinogene wie Acrylamid in Pommes Frites oder an Abgase denkt, liegt jedoch deutlich daneben, denn die wichtigsten Krebsförderer unserer Zeit sind überhaupt keine klassischen Karzinogene. Es sind keine chemischen Substanzen, die krebserregend sind, weil sie unsere DNA direkt schädigen, sondern sie fördern die Entstehung und das Überleben von krankhaften Zellen auf eine völlig andere Weise. Aber gerade das macht es auch so schwer, sie zu finden und über ihre Gefahren aufzuklären. Um zu verstehen, wie man Krebs verhindern kann, muss man erst einmal verstehen, wieso er überhaupt entsteht. Die verschiedenen Einflüsse müssen in die richtige Relation zueinander gerückt werden. Anstatt täglich Listen von Inhaltsstoffen zu studieren, kann man beispielsweise einfach auf ein gesundes Körpergewicht achten. Regelmäßig Sport zu treiben ist weitaus zielführender und günstiger als fragwürdige Detox-Behandlungen. Nach dem aktuel-

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Abb. 4 Weltweite altersangepasste Inzidenzraten für alle Krebsarten nach Geschlecht pro 100.000 Einwohner. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Ferlay et al. (2020a)

len Erkenntnisstand sind 14–20 % aller Krebserkrankungen auf Übergewicht zurückzuführen (Calle et al. 2003; Font-Burgada et al. 2016). Infektionen verursachen 18 % aller Krebserkrankungen, die Ernährung 35 % und Umweltverschmutzung und Strahlung zusammen 7 % (Aggarwal et al. 2009). Für viele Krebserkrankungen sind die verursachenden Lebensgewohnheiten und Umwelteinflüsse noch nicht ausreichend erforscht. In diesem Fall kann es hilfreich sein, die Häufigkeit von bestimmten Krebsarten in unterschiedlichen Ländern und Erdteilen zu vergleichen, denn weltweit existieren große regionale Unterschiede in Bezug auf das Risiko, an Krebs zu erkranken. Derartige Vergleiche liefern uns wichtige Informationen über die Ursachen von Krebserkrankungen, insbesondere in Kombination mit Migrationsstudien. Beispielsweise erkranken Männer in Australien und Neuseeland mit 494,2 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner 5-mal häufiger an Krebs als Männer in Westafrika mit lediglich 100,6 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner (Abb. 4) (Ferlay et al. 2020c). Der Unterschied in der weltweiten Krebshäufigkeit bei Männern

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wird insbesondere durch das besonders häufige Vorkommen von Prostatakrebs in mittel- bis hochentwickelten Ländern verursacht. Nordeuropäische Männer erkranken durchschnittlich etwa 13-mal häufiger an Prostatakrebs als Männer in Zentralasien, Männer in Irland sogar 17-mal so häufig (Sung et al. 2021). Die Untersuchung von Krebshäufigkeiten bei Migranten offenbarte eindrücklich, dass die Unterschiede in der Inzidenz nahezu aller Krebserkrankungen nicht durch verschiedene genetische Veranlagungen von bestimmten Bevölkerungsgruppen, sondern durch die Lebensumstände in der jeweiligen geografischen Region verursacht werden. Beispielsweise ist Magenkrebs bei Japanern ungefähr 6- bis 8-mal so häufig wie bei Amerikanern. In den USA geborene Kinder von japanischen Einwanderern erkranken jedoch bereits mit der gleichen niedrigeren Häufigkeit an Magenkrebs wie Amerikaner. Gleichzeitig ist das Risiko in Nordeuropa, an Darmkrebs zu erkranken, in Abhängigkeit von den Ernährungsgewohnheiten bis zu 10-mal so hoch wie in anderen Ländern der Erde (beispielsweise Bangladesch oder Burkina Faso) (Ferlay et al. 2020d). Einige wenige Krebserkrankungen treten jedoch mit einer vergleichbaren Häufigkeit in allen Bevölkerungsgruppen und Ländern dieser Erde auf. Diese Beobachtung trifft insbesondere auf Krebserkrankungen im frühen Kindesalter zu und weist darauf hin, dass diese Krebserkrankungen durch Prozesse im Körper gesteuert werden, auf welche die Umwelt nur wenig Einfluss hat (Weinberg 2014). Interessanterweise ist die durch Krebs verursachte Sterblichkeit in entwickelten Ländern dieser Erde durchschnittlich nur ca. 15 % niedriger als in Entwicklungsländern (Abb. 5) (Ferlay et al. 2020c). Dies zeigt eindrücklich, wie hilflos wir trotz kostenintensiver und aufwendiger Therapien diesen bösartigen Krebserkrankungen ausgeliefert sind. In diesem Buch stellen wir die einflussreichsten Lebensgewohnheiten und Umwelteinflüsse vor, die in Zukunft für die Zunahme von Krebserkrankungen verantwortlich sein werden. Wir erklären, welche krebserregenden Stoffe aus unserer Umwelt und Nahrung die Krebsentstehung initiieren und welche Lebensgewohnheiten oder Erkrankungen das Wachstum von Krebszellen beschleunigen. Eine besondere Rolle kommt hierbei dauerhaften Entzündungen zu, die in unserem Körper oftmals über Jahrzehnte unentdeckt die Krebsentstehung vorantreiben. Diese dauerhaften Entzündungen können durch Erkrankungen und Infektionen, aber auch durch unsere Ernährung und Lebensgewohnheiten verursacht werden. Ein Paradebeispiel für eine stark zunehmende Krebserkrankung ist das Hepatozelluläre Karzinom (HCC), eine bösartige Form von Leberkrebs. Ein Hauptrisikofaktor für diese Krebserkrankung ist neben Alkoholkonsum und

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Abb. 5 Weltweite altersangepasste Inzidenz- und Mortalitätsraten für alle Krebsarten pro 100.000 Einwohner. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Ferlay et al. (2020a)

Hepatitis-Virus-Infektionen eine nicht-alkoholische Fettlebererkrankung, an der laut Schätzungen inzwischen etwa ein Viertel der Weltbevölkerung leidet – in fast allen Fällen vollkommen unbemerkt (Huang et al. 2021). Verursacht wird die Fettlebererkrankung durch eine fett- und zuckerreiche Ernährung, Bewegungsmangel sowie durch Begleiterkrankungen wie Diabetes, das metabolische Syndrom oder entzündliche Darmerkrankungen. Die Zahl der Patienten, die von einer Fettleber betroffen sind, wird allein in Deutschland auf 10–20 Mio. geschätzt. Ein weiterer Anstieg der Fettlebererkrankung wird in den nächsten Jahrzehnten weltweit zu einer enormen Zunahme an Patienten mit Leberkrebs führen (Altekruse et al. 2009; Malek et al. 2014). Dabei folgen die Fettleber- und Leberkrebserkrankungen dem weltweiten Trend einer Übergewichts-Epidemie (Huang et al. 2021). In einem Zeitraum von nur fünf Jahren entwickelt sich in 11,7 % der Fälle aus einer Fettleber ein hepatozelluläres Karzinom, eine bösartige Krebserkrankung der Leber. Die meisten Patienten sind zum Zeitpunkt der Diagnose nur

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30 bis 50 Jahre alt (Ghouri et al. 2017). Der unauffällige und schleichende Verlauf erschwert dabei die rechtzeitige Diagnose einer Fettleber, die jedoch nur im frühen Stadium durch eine gezielte Ernährungsumstellung aufgehalten werden kann. Ist aus einer Fettleber erst einmal Leberkrebs entstanden, überleben bei frühzeitiger Diagnose etwa 70 % der Patienten die nächsten fünf Jahre (Tong et al. 2017). Meistens wird eine Leberkrebserkrankung aber erst spät entdeckt, wenn die vergrößerte Leber relativ harmlose Symptome, wie ein andauerndes Völlegefühl oder Druck im Oberbauch verursacht. Zu diesem Zeitpunkt ist die Krebserkrankung bereits weit fortgeschritten und die Wahrscheinlichkeit, die nächsten drei Jahre zu überleben, beträgt nur noch 0–10 %. Der schleichende Verlauf und die schlechten Heilungsaussichten machen Leberkrebs zur dritthäufigsten krebsbedingten Todesursache weltweit, mit bis zu 800.000 Todesfällen pro Jahr. Welche weiteren Auswirkungen eine kalorienreiche Ernährung und insbesondere Übergewicht auf das allgemeine Krebsrisiko haben, erklären wir in dem Kapitel „Zucker, Fette und Übergewicht“. Ein bedeutender Anteil an Krebserkrankungen wird durch Infektionen verursacht. Diese wichtige Tatsache, die immer noch relativ wenigen Menschen bekannt ist, erlaubte in einigen Fällen die Entwicklungen von Impfungen gegen die krebsverursachenden Erreger. Zu den bekannten krebsverursachenden Infektionskrankheiten zählen beispielsweise Humane Papilloma Viren (HPV) als Ursache von Gebärmutterhalskrebs, Hepatitis-Viren als Ursache von Leberkrebs oder Helicobacter-pylori-Bakterien als Ursache von Magenkrebs und Lymphomen. Aktuelle Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass noch weitere bisher unbekannte krebsverursachende Infektionen existieren. Infektionskrankheiten sind erst dann in der Lage, ihr gefährliches Potenzial zu entfalten, wenn sie über viele Jahre bestehen bleiben oder dauerhafte Entzündungsreaktionen in unserem Körper verursachen. Da unser Immunsystem für die Abwehr von Infektionen verantwortlich ist und darüber hinaus auch mutierte Zellen erkennen und eliminieren kann, kommt ihm eine herausragende Bedeutung bei der Entstehung von Krebserkrankungen zu. Viele Lebensgewohnheiten verändern unser persönliches Krebsrisiko, weil sie die Funktionsweise unseres Immunsystems beeinflussen. Interessanterweise sind viele der krebserregenden Infektionskrankheiten, wie beispielsweise Helicobacter pylori, in einigen Bevölkerungen geradezu pandemisch, was bedeutet, dass nahezu jeder mit dem Erreger infiziert ist. Trotzdem entwickelt nur ein geringer Prozentsatz der Infizierten ein bösartiges Magenkarzinom, das auf der Liste der tödlichen Krebserkrankungen den vierten Platz belegt (WHO 2022). Die Krankheitserreger verursachen in den meisten Fällen eine krebsfördernde Entzündung, können aber auch die

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Gene der infizierten Zelle schädigen oder Gene aktivieren, die das Wachstum der Zelle anregen. Damit wirken sie sowohl als Karzinogene als auch als Krebsförderer, was sie zu einer besonderen Gefahr für unsere Gesundheit macht. Auch Autoimmunerkrankungen, wie die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa, können das Krebsrisiko in erkrankten Geweben erhöhen. Wie alle Autoimmunerkrankungen werden sie durch eine fehlgeleitete Immunreaktion gegen harmlose körpereigene Bestandteile verursacht – in diesem Fall gegen die gutartigen Mikroben in unserem Darm. Wir werden auf diese beiden Autoimmunerkrankungen noch in den Kapiteln über krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen und über Ernährung und Darmkrebs zu sprechen kommen. Im Verlauf des Buches erklären wir außerdem, wie sich Bewegungsmangel, Alter und Stress auf das Krebsrisiko auswirken. Wir erklären auch, welche interessanten Mechanismen im Tierreich zum Schutz vor Krebserkrankungen existieren und welche neuen Möglichkeiten sich daraus für die Entwicklung von Medikamenten ergeben. Noch vor wenigen Jahrzehnten war über die molekularen Ursachen von Krebserkrankungen nahezu nichts bekannt. Mittlerweile existiert – zumindest in der Wissenschaft – ein sehr detailliertes Verständnis der Vorgänge, die Krebserkrankungen begünstigen. Trotz einer überwältigenden Datenlast, die sich experimentell tausendfach bestätigen ließ, werden diese wichtigen Erkenntnisse bisher nicht ausreichend umgesetzt, um Krebserkrankungen zu verhindern oder Krebspatienten eine bessere Therapie zu ermöglichen. Die meisten heute in der Klinik zur Behandlung von Krebserkrankungen eingesetzten Therapiemaßnahmen, wie Operationen und Bestrahlungen, sind Methoden aus einer Zeit vor den neuen Erkenntnissen der Molekularbiologie. Der auch heute noch breitflächige Einsatz dieser standardisierten Therapien erklärt, warum sich die Sterblichkeitsraten für die meisten fortgeschrittenen Krebserkrankungen, wie Darmkrebs, Prostatakrebs, Pankreaskrebs und Brustkrebs, bis heute nicht verbessert haben. Erfolge im Überleben von Patienten werden hauptsächlich für die frühen Stadien von Brust- und Darmkrebs beobachtet und sind nahezu ausnahmslos auf eine frühzeitige Erkennung von gutartigen Vorläufern von Krebserkrankungen zurückzuführen (Weinberg 2014). Der fehlende Fortschritt bei der Prävention und Behandlung von Krebserkrankungen beruht nicht hauptsächlich auf einem Mangel an Wissen und zielgerichteten Ansätzen. Es scheitert vor allem an der Umsetzung dieser neuen Erkenntnisse in die Praxis. Die Ergebnisse der modernen Krebsforschung verlangen einen enormen Handlungsbedarf vonseiten der Gesundheitssysteme und der Politik. Damit vermeidbare Krebserkrankungen verhindert werden

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können und jeder Patient eine optimale Therapie erhält, muss endlich ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden. Leider gelangt nach wie vor wenig von dem Wissen aus der Krebsforschung an die Öffentlichkeit. Eine mangelnde Berichterstattung scheint allerdings nicht das Problem zu sein, denn wir werden täglich mit grandiosen Neuigkeiten und vielversprechenden Behandlungserfolgen konfrontiert. Trotzdem existiert zwischen wissenschaftlich anerkanntem und in der Gesellschaft verbreitetem Wissen eine große Diskrepanz. Warum ist genetisch nicht automatisch gleichbedeutend mit angeboren, und wie kann man eine genetische Erkrankung verlangsamen oder sogar verhindern? Wie gefährlich ist der vereinzelte Kontakt mit krebserregenden Substanzen wie angebrannten Speisen? Was ist der Unterschied zwischen krebserregenden und krebsfördernden Stoffen? Kann man sich mit Medikamenten wie Aspirin oder bestimmten Nahrungsergänzungsmitteln vor Krebs schützen? Dieses Wissen ist notwendig, um einige Krebserkrankungen zu verhindern, aber auch, um unbegründeten Sorgen und Ängsten ihre Kraft nehmen. Viele Menschen sind also trotz regelmäßiger Medienberichte schlecht informiert, wenn es um wissenschaftliche Fakten zum Thema Krebs geht. Das Problem liegt möglicherweise an der Art, wie Forschungsergebnisse kommuniziert werden, denn leider führt gerade ein dauerhafter Fluss von übertriebenen und sogar widersprüchlichen Meldungen zu einem Vertrauensverlust in die Wissenschaft. Medien wählen für ihre Berichterstattung häufig nur vereinzelte Aussagen aus Studien heraus, wodurch es für das Publikum schwierig wird zu erkennen, von welcher Qualität die zitierten Daten sind. Wie in jedem anderen Tätigkeitsgebiet, existieren aber auch in der Wissenschaft erhebliche Qualitätsunterschiede, und es spielt in der Tat eine Rolle, wie oft etwas gezeigt werden konnte oder ob sich die Studie mit dem gleichen Ergebnis wiederholen ließ. Häufig bleiben Studienergebnisse lange im Gedächtnis der Öffentlichkeit und werden als Fakten zitiert, die niemals wiederholt wurden oder sich nicht wiederholen ließen. Besonders schlimm ist jedoch, dass gute und fundierte wissenschaftliche Studien einen Imageschaden erleiden, wenn sie auf Augenhöhe mit anderen, nicht reproduzierbaren Studien diskutiert werden. In einem inflationären Newsfluss, in dem die Qualität von Forschungsergebnissen keine Rolle spielt, bleiben auf lange Sicht nur die Studienergebnisse im Gedächtnis, die sich ohnehin mit der eigenen Lebensphilosophie vereinbaren lassen. Das ist ein beunruhigender Trend und hat nichts mit Wissenschaft zu tun. Gute Wissenschaft ist keine Frage, welchen Studienergebnissen man „glaubt“, sondern eine Frage, ob man überhaupt die richtigen Fragen gestellt hat. Es ist eine Frage der geeigneten Mittel und Methoden, die notwendig

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sind, um aufschlussreiche Daten zu sammeln, und es ist eine Frage, ob man die geistige Unvoreingenommenheit besitzt, grundlegende Gesetzmäßigkeiten in den Daten zu erkennen, die sich experimentell bestätigen lassen. Ob unsere Beobachtungen Sinn ergeben oder der menschlichen Logik genügen, ist erst einmal zweitrangig, denn es ist kein Qualitätskriterium der Wissenschaft, dass wir sofort verstehen, was wir beobachten. Wissenschaftler wissen, dass Forschungsergebnisse erst dann wichtig und richtig sind, wenn sie sich mehrfach wiederholen ließen und zumindest langfristig in den Gesamtkontext passen. Was kann man also tun, wenn man Berichte aus der Krebsforschung liest, die entweder zu gut oder zu einfach erscheinen, um wahr zu sein? Zuerst ist es wichtig zu wissen, wo man wirklich seriöse Informationen finden kann. Sie können ebenso wie Wissenschaftler und Ärzte auf wissenschaftliche Originalveröffentlichungen zugreifen. Dafür empfiehlt es sich, beispielsweise die Online-Suchmaschine „Pubmed“ (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov) zu verwenden, die sich in einem wichtigen Punkt von anderen Suchmaschinen unterscheidet. Alle medizinischen Veröffentlichungen, die sie hier finden, stammen aus evidenzbasierten wissenschaftlichen Studien, die vor der Veröffentlichung von anderen unabhängigen Wissenschaftlern (idealerweise Experten auf demselben Gebiet) geprüft und, falls nötig, durch weitere Experimente in Frage gestellt wurden. Dieses Verfahren nennt sich „Peer Review“ („Peer“ bedeutet Fachkollege oder Gleichgestellter und „review“ Gutachten) und stellt quasi die Qualitätssicherung in der Wissenschaft dar. Echtes Wissen, das der evidenzbasierten Forschung entstammt, wird nur in Journalen veröffentlicht, die mit einem solchen Peer-Review-Prozess arbeiten. Eine Ausnahme bilden lediglich einige Online-Journale, die wissenschaftliche Artikel ohne vorherigen Peer-Review-Prozess im Internet veröffentlichen, dafür aber die Kommentare anderer Wissenschaftler unter dem Artikel anzeigen. In diesem Fall fehlt der Review-Prozess nicht wirklich, sondern jeder Wissenschaftler kann sich daran beteiligen und ihn nachverfolgen. Der Review-Prozess bremst die menschliche Tendenz, die eigene Hypothese immer nur mit weiteren positiven Daten zu untermauern. Stattdessen zwingt er Wissenschaftler, sich die Frage zu stellen, unter welchen Bedingungen sie gestehen müssten, sich geirrt zu haben und entsprechende Tests durchzuführen. Je mehr Versuche dieser Art erbracht wurden und je mehr unterschiedliche methodische Ansätze dafür gewählt wurden, desto wahrscheinlicher stimmt die Aussage der Studie. Wenn eine Hypothese diesen kritischen Tests nicht standhält, müssen die Autoren ihre Aussagen in der Veröffentlichung entsprechend anpassen. Im schlimmsten Fall kann es passieren, dass die Forschungsarbeit vom Journal als nicht mehr relevant genug betrachtet und abgelehnt

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wird. Im Alltag von Wissenschaftlern ist dies jedoch eher die Regel als die Ausnahme. Wissenschaftler werden nicht dafür bezahlt, dass sie etwas behaupten, wovon sie lediglich hoffen, dass es stimmt. Sie werden dafür bezahlt, Fragen zu stellen und zu beantworten, von denen sie wissen, dass sie wichtig sind. Wenn man wichtige Fragen mit qualitativ hochwertigen Experimenten und Methoden beantwortet, sind ihre Ergebnisse auch für andere Wissenschaftler interessant, egal wie ihre Antwort ausfällt. Eine der schönsten Eigenschaften von Wissenschaft ist, dass sie geistige Flexibilität von uns verlangt. Die Kernphysikerin Lise Meitner sagte einmal, dass Wissenschaft uns lehrt, Demut vor der Wahrheit zu haben – unabhängig davon, ob sie mit unseren vorgefertigten Meinungen übereinstimmt oder nicht. Um die Qualität von wissenschaftlichen Studien auch als Laie schnell und einigermaßen treffsicher bewerten zu können, gibt es einen weiteren Trick. Sehr gute und aussagekräftige Studien werden häufig in Journalen mit einem hohen Impact-Faktor veröffentlicht. Dieser gibt an, wie häufig ein Artikel in einem bestimmten Journal im Durchschnitt von anderen wissenschaftlichen Artikeln zitiert wird. Es gibt einen Zweijahres-, einen Dreijahres- und einen Fünfjahres-Impact-Faktor, wobei der Zweijahres-Impact-Faktor beispielsweise angibt, wie oft ein Artikel des Journals innerhalb der letzten beiden Jahre im Durchschnitt zitiert wurde. Ein hoher Impact-Faktor bedeutet also, dass der Artikel einen weitreichenden Einfluss auf die wissenschaftliche Gemeinschaft hatte, ein hoher Fünfjahres-Impact-Faktor bedeutet, dass dieser Einfluss auch besonders dauerhaft war. Gelegentlich wird am Impact-Faktor kritisiert, dass seine Zahl auch von der Größe des jeweiligen Fachgebietes abhängt. So können zum Beispiel bedeutende archäologische Studien von exzellenter Qualität in einem Journal mit relativ niedrigem Impact-Faktor veröffentlicht werden, weil die Fachgruppe der Archäologen einfach viel kleiner ist als der gewaltige Apparat der biomedizinischen Forschung. Der Impact-Faktor verrät einem also nur etwas über die Qualität von wissenschaftlichen Studien, wenn man ihn für Journale innerhalb desselben Fachgebietes vergleicht. Innerhalb eines riesigen Forschungsgebietes wie der biomedizinischen Forschung, zum dem auch die Krebsforschung zählt, ist er jedoch sehr aussagekräftig. Der Impact-Faktor eines Journals reicht von 0 bis zu den absoluten Top Magazinen wie Science (48), Nature (50) oder dem New England Journal of Medicine (91), das oft epidemiologische Studien mit vielen hunderttausend Teilnehmern veröffentlicht. Es gehört daher zu den angesehensten medizinischen Fachzeitschriften, das seine Inhalte bereits sechs Monate nach der Publikation auch öffentlich freigibt.

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Mit diesem Wissen können Sie zukünftig die Qualität von wissenschaftlichen Daten besser hinterfragen. Alle Informationen aus diesem Buch entstammen der evidenzbasierten Forschung und wurden in Journalen veröffentlicht, die mit einem Peer-Review-Prozess arbeiten. Auf den Punkt Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen epidemiologischen und experimentellen Studien. Epidemiologische Studien vergleichen das gemeinsame Auftreten von zwei oder mehreren Faktoren in einer Bevölkerungsgruppe, wie beispielsweise den Milchkonsum mit der Häufigkeit von Krebserkrankungen. Epidemiologische Studien sind rein korrelativ, können aber dabei helfen, kausale Zusammenhänge zu finden. Experimentelle Studien hingegen testen in Versuchen, ob ein echter Kausalzusammenhang (Ursache-Wirkungs-Prinzip) zwischen zwei oder mehreren Faktoren besteht. Hochwertige experimentelle Studien untersuchen Kausalzusammenhänge mit möglichst vielen unterschiedlichen Experimenten und Methoden und testen sie auch auf ihre Schwachstellen. Experimentelle Studien mit dem gleichen „Set-up“ sollten sich nicht widersprechen. Falls sie es tun, müssen Unstimmigkeiten im Studiendesign aufgeklärt werden. Ein echter Kausalzusammenhang sollte auch in epidemiologischen Studien nachweisbar sein.

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Das Immunsystem und Krebs

Zusammenfassung Unser Immunsystem ist das letzte Sicherheitsnetz, das uns vor Krebserkrankungen schützt, wenn bereits alle anderen zellulären Schutzmechanismen versagt haben. Unentwegt sortiert es geschädigte und potenziell gefährliche Körperzellen aus und hindert dadurch Krebsvorläuferzellen an ihrem Wachstum. Insbesondere dauerhafte Entzündungsreaktionen können jedoch zu einer Gefahr für unsere Gesundheit werden, denn einige Abwehrstoffe von Immunzellen können auch mit unseren Proteinen und Genen reagieren. Ab einem gewissen Stadium werden fast alle Tumore von einer krebsfördernden Entzündungsreaktion begleitet, die es den Krebszellen ermöglicht, sich im Gewebe auszubreiten und zu metastasieren. Eine der größten Herausforderungen der modernen Krebsforschung liegt daher in der Aufgabe, das Immunsystem gegen Krebszellen abzurichten und gleichzeitig krebsfördernde Entzündungsreaktionen zu verhindern. Stellen sie sich vor, Ihr bester Freund wäre gleichzeitig Ihr größter Feind. Vor genau diesem schwerwiegenden Problem steht die moderne Krebsforschung im Moment. Und der Freund mit den zwei Gesichtern ist unser eigenes Immunsystem. Seit Urzeiten verteidigt es unseren Körper zuverlässig gegen Bakterien und Viren und sortiert sogar beschädigte oder mutierte Zellen aus. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Wundheilung und hindert mikroskopisch kleine Tumorzellansammlungen am Wachstum. Normalerweise werden wir uns der Leistung unseres Immunsystems erst im Krankheitsfall bewusst. Dabei arbeitet es unser gesamtes Leben lang – auch dann, wenn wir uns gesund fühlen. Um eine bessere Vorstellung von © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_3

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der enormen Leistung des Immunsystems zu bekommen, genügt es, daran zu denken, was nach dem Tod mit unserem Körper geschieht, wenn man der Natur freien Lauf lässt. Aus der Sicht von Mikroben stellt unser Körper einen idealen Nährboden dar und trotzdem gelingt es unserem Immunsystem, die große Mehrheit aller Bakterien, Viren und Pilze in Schach zu halten, ohne dass wir uns überhaupt krank fühlen. Gleichzeitig toleriert unser Immunsystem sogenannte kommensale Bakterien und Pilze, die unseren Körper dauerhaft besiedeln und ihn bei einer Vielzahl von Funktionen, wie beispielsweise der Verdauung, unterstützen („kommensal“ stammt von dem lateinischen Wort commensalis [der Tischgenosse] ab). Diese „guten“ Mikroben bilden zusätzlich eine natürliche Barriere gegen fremde Keime, indem sie nahezu jeden Platz auf unserer inneren und äußeren Körperoberfläche besiedeln. Die Gesamtzahl aller in und auf uns lebenden Mikroben nennt sich „Mikrobiom“ und übersteigt mit einer Anzahl von 100 Billionen (1014) sogar die Zahl unserer eigenen Körperzellen um ein Zehnfaches (Bär 2009). Trotz dieses großen Durcheinanders besitzt unser Immunsystem die beeindruckende Fähigkeit, Krankheitserreger zu erkennen und zu beseitigen. Eine der größten Fragen in den letzten Jahrzehnten war, welche Rolle das Immunsystem bei der Krebsentstehung spielt. Lange Zeit galt es als unser stärkster Verbündeter im Kampf gegen Krebs. Aber es existierte auch eine erdrückende Beweislast dafür, dass entzündliche Erkrankungen ein hohes Krebsrisiko mit sich bringen. Inzwischen wissen wir, dass die schützende Funktion des Immunsystems insbesondere zu Beginn einer Tumorerkrankung zum Tragen kommt und mit voranschreitendem Wachstum immer mehr an Wirkung verliert. Die krebsfördernde Wirkung von Entzündungen auf das Tumorwachstum hingegen, kann zu jedem Zeitpunkt einer Krebserkrankung beobachtet werden. Einige Tumore entstehen mit der Hilfe von Entzündungen – aber nahezu jeder Tumor wächst und metastasiert mit ihrer Hilfe (Grivennikov et al. 2010). Aufgrund der zweischneidigen Rolle des Immunsystems haben wir dieses Kapitel in die Abschnitte „Freund“ und „Feind“ unterteilt. Im Abschnitt „Freund“ erklären wir, wie das Immunsystem Krebszellen erkennt und bekämpft. Dieselben Mechanismen sind auch für die gefürchteten Abstoßungsreaktionen nach Organtransplantationen verantwortlich und erklären, warum es so schwierig ist, einen passenden Organspender zu finden. Im Abschnitt „Feind“ erklären wir, wie das Immunsystem durch dauerhafte Entzündungen fatalerweise selbst zur Entstehung und zum Wachstum von Krebserkrankungen beitragen kann. Wenn man die Arbeitsweise des Immunsystems kennt, lassen sich auch Impfungen, Autoimmunerkrankungen und Allergien besser verstehen.

Das Immunsystem und Krebs

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Wir werden uns bemühen, Sie sicher durch eines der komplexesten Gebiete der menschlichen Biologie zu manövrieren: die molekulare Immunologie. Bei vielen Studenten, Ärzten und Biologen ist dieses Gebiet äußerst unbeliebt, denn das komplizierte Netzwerk aus unzähligen spezialisierten Zelltypen, die über hunderte Signalmoleküle miteinander kommunizieren und dadurch maßgeschneiderte Immunantworten formen, wirkt undurchschaubar. Dabei liegt gerade darin die Genialität eines ausgearbeiteten Systems, das flexibel reagieren kann und für jede Bedrohung die geeigneten Waffen produziert.

Freund Unser Immunsystem kann viel mehr als nur Krankheitserreger erkennen und bekämpfen. Es besitzt auch die besondere Fähigkeit, Zellen mit veränderten Proteinen, wie Krebsvorläuferzellen und Krebszellen, aufzuspüren und rechtzeitig zu beseitigen. Das Prinzip ist dabei gleich: Die Zellen unseres Immunsystems erkennen alles, was fremd ist und nicht zu seiner ursprünglichen Ausstattung gehört. Darüber hinaus kann es sogar unterscheiden, ob etwas fremd, aber harmlos ist, wie beispielsweise unsere Nahrung oder gutartige Darmmikroben, oder ob es sich um eine Gefahr für unsere Gesundheit handelt. Die herausragende Rolle, die unser Immunsystem bei der Krebsbekämpfung spielt, konnte in den 90er-Jahren dank der Entwicklung von genetisch veränderbaren Mäusen erstmals bewiesen werden. Mäuse, die aufgrund einer genetischen Veränderung keine T-Zellen besitzen, erkrankten wesentlich häufiger an Krebs als normale Mäuse, nachdem sie krebserregenden Substanzen ausgesetzt waren. Im Alter von 18 Monaten entwickelten 50 % dieser TZell-defizienten Mäuse spontane Tumoren im Verdauungstrakt, und obwohl 18 Monate für Mäuse bereits ein fortgeschrittenes Alter bedeuten, kommen solche Krebserkrankungen auch bei alten Mäusen normalerweise nur extrem selten vor (Weinberg 2014). In vielen nachfolgenden Studien konnten Wissenschaftler nach und nach beweisen, dass unsere Immunzellen die Fähigkeit besitzen, Krebszellen anhand ihrer „unnormalen“ Proteine als fremd zu erkennen. Damit unser Immunsystem erkennen kann, ob eine Körperzelle von Krankheitserregern infiziert wurde oder genetische Schädigungen aufweist, präsentieren unsere Körperzellen kontinuierlich alle Proteine, die sie herstellen, auf der Zelloberfläche. Dort sind sie für unser Immunsystem sichtbar und können mit der Hilfe von Rezeptor-Molekülen auf der Oberfläche von Immunzellen genauer inspiziert

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Abb. 1 Anti- und Pro-Tumor Immunität. Das Immunsystem kann Krebszellen an den veränderten Proteinen (Tumorantigenen) auf ihrer Oberfläche erkennen (A, Antigenabhängig) oder indirekt an der Abwesenheit von Humanen-Leukozyten-Antigenen (MHCI) (B, Antigen-unabhängig). Auf diese Weise bewahrt uns das Immunsystem vor Krebserkrankungen, jedoch können chronische Entzündungen auch zur Krebsentstehung beitragen: Reaktive Sauerstoffverbindungen (ROS), die von Immunzellen in das Gewebe ausgeschüttet werden, schädigen neben Krankheitserregern auch unsere Proteine und DNA (C). Gewebeschäden durch ROS, Infektionen oder chemische Stoffe provozieren eine Wundheilungsreaktion, die das Überleben und Wachstum von Krebszellen durch die Produktion von Wachstumsfaktoren fördert (D). Die Abbildung wurde erstellt und bearbeitet mithilfe der Vorlage „Two Types of Tumor Cell Killing“ von BioRender.com (2022b), verfügbar unter https://app.biorender.com/biorender-templates J

werden (Abb. 1(A) und (B)). Da Krebszellen eine sehr hohe Mutationsrate haben, die zur Herstellung von fehlerhaft geformten Proteinen führt, können diese andersartigen Proteine auf der Oberfläche von Krebszellen vom Immunsystem erkannt werden. Aber nicht nur mutierte Proteine können das Immunsystem in Alarmbereitschaft versetzen. Häufig produzieren Krebszellen auch Proteine, die normalerweise nur während der rasanten Wachstumsphase der Embryonalentwicklung hergestellt werden oder nur in deutlich geringeren Konzentrationen vorkommen. Solche verdächtigen Abweichungen vom Verhalten gesunder Zellen reichen aus, um eine schützende Immunreaktion zu starten. Eines der bekanntesten Beispiele für solch eine ungewöhnliche Proteinproduktion ist die Herstellung von Telomerase-Enzymen in Krebszellen. Nur mithilfe von Telomerase können Krebszellen die Schutzkappen an den Enden ihrer Chromosomen immer wieder erneuern und entgehen dadurch dem schützenden Zustand der Seneszenz. Sie werden im wahrsten Sinne des Wortes unsterblich. Vor mehr als 70 Jahren starb in Amerika eine junge Frau namens Henrietta Lacks kurz nach der Geburt ihres 5. Kindes an einem aggressiven Gebärmutterhalskarzinom (Masters 2002). Wenige Monate vor ihrem Tod erhielten Wissenschaftler des Johns Hopkins Hospital in Baltimore Gewebeproben aus Henrietta Lacks’ Tumor und nahmen sie erfolgreich in Kultur. Es entstand die erste unsterbliche menschliche Zelllinie (HeLa-Zellen), mit deren Hilfe bis heute mehr als 75.000 wissenschaftliche Artikel entstanden und vier medizinische Nobelpreise erarbeitet wurden (Callaway 2013). Insgesamt haben Wissenschaftler bisher ungefähr 50 Mio. Tonnen HeLa-Zellen gezüchtet, was uns die geradezu unheimliche Teilungsfähigkeit von Krebszellen und die Macht der Telomerase vor Augen führt. Damit solche gefährlichen Veränderungen vom Immunsystem erkannt werden können, müssen die Proteine aus dem Inneren von Körperzellen konti-

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nuierlich auf ihre Oberfläche befördert werden. Diese wichtige Aufgabe übernimmt eine Gruppe von Proteinen namens Humane-Leukozyten-Antigene, die man sich am einfachsten als eine Art Personalausweis unserer Körperzellen vorstellen kann und die wir daher als „Ausweis-Proteine“ bezeichnen werden. Die Ausweis-Proteine unterscheiden nicht nach gesunden oder kranken Proteinen, sondern sie binden fest an alle beliebigen Proteinstückchen, die ihnen im Inneren einer Körperzelle in die Fänge geraten und präsentieren diese anschließend auf der Zelloberfläche. In ihrer Gesamtheit stellen die unzähligen Ausweis-Proteine, die auf der Oberfläche einer einzigen Körperzelle sitzen, eine Bestandsaufnahme aller Proteine dar, die aktuell in einer Körperzelle hergestellt werden. Wenn Immunzellen eine Körperzelle entdecken, deren Ausweis-Proteine auf der Oberfläche mit einem ungewöhnlichen oder unbekannten Protein beladen sind, wird die Körperzelle von unserem Immunsystem angegriffen und vernichtet (Abb. 1(A)). In der Medizin haben Ausweis-Proteine noch eine weitere sehr wichtige Bedeutung. Jeder Mensch besitzt unterschiedliche Genvarianten für die Herstellung von Ausweis-Proteinen – eine Tatsache, die über Leben oder Tod entscheiden kann, wenn man auf eine Organspende angewiesen ist. Ein passender Spender sollte eine möglichst ähnliche Kombination an AusweisProteinen haben wie der Empfänger, da unser Immunsystem fremde Varianten von Ausweis-Proteinen als eine Kombination aus körpereigenem AusweisProtein und fremdem Protein erkennt und bekämpft. Sind die Unterschiede zu groß, kommt es kurz nach der Transplantation zu einer gefürchteten Abstoßungsreaktion. Jeder Mensch verfügt über eine besondere Kombination aus sechs verschiedenen Ausweis-Proteinen, von denen insgesamt mehr als 5000 Varianten existieren. Diese enorme Vielfalt wirkt auf den ersten Blick unnötig kompliziert, hat aber durchaus eine biologische Berechtigung. In der Natur spielen Organtransplantationen natürlich keine Rolle, dafür aber sehr wohl die Partnerwahl. Wir sind in der Lage, die Ausweis-Proteine anderer Menschen auf bisher unbekannte Weise zu riechen (möglicherweise, indem sie die Zusammensetzung unserer Mikrobiota beeinflussen, die für unseren individuellen Körperduft verantwortlich ist und eine wichtige Rolle für unsere Immunfunktion und Gesundheit spielt). Studien zeigten, dass Säugetiere und auch wir Menschen uns dabei insbesondere zu Partnern hingezogen fühlen, deren Kombination sich möglichst stark von unserer eigenen unterscheidet (Garver-Apgar et al. 2006). Auf diese Weise verhindern Ausweis-Proteine mit einer hohen Zuverlässigkeit Inzestverhalten, da wir Menschen mit einer ähnlichen Komposition an Ausweis-Proteinen, wie beispielsweise nahe Familienmitglieder, nicht sexuell anziehend finden.

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Verschiedene Varianten von Ausweis-Proteinen besitzen unterschiedliche Präferenzen, Krankheitserreger und fremde Proteine zu binden, und viele Erkrankungen, darunter Autoimmunerkrankungen und andere entzündliche Erkrankungen, stehen in Verbindung mit bestimmten Ausweis-ProteinVarianten (HLA-Typen). Wer möglichst viele verschiedene Ausweis-Proteine auf seine Nachkommen vererben konnte, verlieh ihnen die Fähigkeit, besonders viele unterschiedliche Bestandteile von Krankheitserregern zu binden und sie dem Immunsystem zu präsentieren. Gleichzeitig stellt die große Bandbreite von Ausweis-Proteinen in einer Art wie der Menschheit sicher, dass beim Ausbruch einer hochansteckenden Infektionskrankheit immer zumindest ein paar Vertreter dieser Art überleben. Ausweis-Proteine spielen aber noch eine weitere wichtige Rolle beim Erkennen von Krebszellen in unserem Körper. Krebszellen unterliegen, ähnlich wie Krankheitserreger, einem starken Selektionsdruck durch das Immunsystem. Indem Krebszellen dem Immunsystem ihre fehlerhaften Proteine darbieten, die das Resultat einer hohen Mutationsrate sind, werden sie sehr bald entdeckt und getötet. Wenn das Immunsystem alle Krebszellen beseitigt, die es erkennen kann, bleiben am Ende nur die Krebszellen übrig, die durch Mutationen oder Veränderungen der Genaktivität keine Ausweis-Proteine auf ihrer Zelloberfläche mehr tragen. Die Folgen sind vergleichbar mit AntibiotikaResistenzen oder Resistenzen von Krebszellen gegen die Substanzen einer Chemotherapie. Glücklicherweise besitzen wir Immunzellen, die genau darauf spezialisiert sind, solche Krebszellen aufzuspüren: unsere natürlichen Killerzellen. Sie patrouillieren wie Ausweiskontrolleure kontinuierlich die Zellen in unserem Körper. Finden sie auf einer Zelle genügend passende Ausweis-Proteine, unterdrückt dies ihre „Killerfunktion“ und sie ziehen weiter. Treffen sie aber auf einen blinden Passagier ohne Ausweis-Proteine, töten sie diese Zelle (Abb. 1(B)). Unsere natürlichen Killerzellen sind eine geniale Anpassung der Evolution an vorhersehbare Resistenzen. Auf diese Weise können uns Ausweis-Proteine sogar noch dann vor Krebs schützen, wenn sie gar nicht mehr da sind. Die individuelle Komposition der Ausweis-Proteine eines jeden Menschen hat noch eine weitere wichtige Schutzwirkung. Es ist von Natur aus sinnvoll, dass Zellen eines anderen Menschen nicht in uns überleben und weiterwachsen können. Dies ist der Grund, warum Krebs nicht ansteckend ist. Krebszellen werden genau wie die Körperzellen eines anderen Menschen (oder unpassenden Organspenders) anhand ihrer unpassenden Ausweis-Proteine von Immunzellen erkannt und getötet. Dieser Schutzmechanismus kann durch ein lange anhaltendes Inzestverhalten zunichte gemacht werden. Als trauriges

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Beispiel dient eine Krebserkrankung, die man in einer sehr seltenen und vom Aussterben bedrohten Tierart findet. Der tasmanische Teufel war einst auch in Australien weit verbreitet, aber inzwischen lebt er nur noch auf der Insel Tasmanien. Obwohl er seit Langem als bedrohte Tierart gilt und unter Schutz steht, könnte ihm nun eine Krebserkrankung den Todesstoß verpassen. Durch den stark geschrumpften Lebensraum und die geringe Anzahl an verbliebenen Exemplaren lebt der tasmanische Teufel in einer Art Inzestverhältnis. Die Tiere sind sich genetisch so ähnlich geworden, dass die Krebszellen eines tasmanischen Teufels in einem anderen weiterleben können (Peel und Belov 2018). Die Tumore wachsen im Gesicht der Tiere und werden vermutlich durch Bisswunden übertragen, die bei Rivalen-Kämpfen und Futterstreitigkeiten entstehen. In der Biologie gibt es für Tierarten eine kritische Zahl, die nicht unterschritten werden darf. Geschieht dies doch, so ist eine Tierart aufgrund der zunehmenden Infektanfälligkeit und der schnellen Verbreitung von Krankheiten dem Tode geweiht. Viele heute bedrohte Tierarten haben diese kritische Zahl bereits unterschritten. Auf den Punkt Das Immunsystem überwacht alle Zellen unseres Körpers regelmäßig auf bösartige Veränderungen und eliminiert verdächtige Zellen, bevor daraus eine Krebserkrankung entstehen kann. Dabei nehmen Humane-Leukozyten-Antigene eine wichtige Rolle ein, deren individuelle Zusammensetzung die Entstehung entzündlicher Erkrankungen und daher möglicherweise auch Krebs beeinflusst. Nur in den allerseltensten Fällen gelingt es einer Krebszelle, alle Schutzmechanismen des Körpers zu überwinden und einen Tumor zu bilden.

Trotz der genialen Methoden, die unser Immunsystem im Laufe der Evolution entwickelt hat, um uns vor Krebs zu schützen, gelingt es leider immer noch – wenn auch nur sehr selten – einer kleinen Anzahl an Krebszellen, zu entkommen. Warum? Es bedarf mehrerer Veränderungen der Krebszellen, um alle Schutzmechanismen unseres Körpers außer Kraft zu setzen. Das Spektrum reicht von Mutationen, die das Absterben einer genetisch schwer geschädigten Krebszelle verhindern, bis hin zur gezielten Unterdrückung von Immunzellen durch die Krebszellen. Dies ist der gefürchtete Punkt, an dem ein Tumor endlich losgekoppelt von seinem mächtigen Wächter sein rasantes Wachstum aufnimmt und nun von klinisch erkennbarer Größe zu einer ernsthaften Bedrohung für unser Leben wird. Tatsächlich wissen wir nicht einmal, wie viele Krebszellen durch unser Immunsystem direkt nach ihrer Entstehung erkannt und beseitigt werden. Dies

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liegt in der Natur der Tatsache, dass es sich um einzelne Zellen mit nur kurzer Existenz handelt. Aufgrund der Beobachtungen an Mäusen und Menschen mit einem geschwächten Immunsystem wissen wir aber, welch einen enormen Beitrag zu einem krebsfreien Leben unsere Immunzellen im Verborgenen leisten. Tumore befinden sich im frühen Stadium oftmals in einer Art Gleichgewichtszustand mit dem Immunsystem. Die Tumorzellen werden in demselben Maße vom Immunsystem vernichtet, wie sie nachwachsen. In diesem Zustand verweilt das empfindliche Gleichgewicht, bis es auf einer Seite gestört wird und die Waage kippt. Eine kleine Veränderung der Krebszellen oder eine kurzzeitige Störung des Immunsystems ist ausreichend, um nach Monaten oder Jahren des Stillstands einen Tumor oder mikroskopisch kleine Metastasen in unserem Körper zu erwecken (Weinberg 2014). Ein trauriges Beispiel sind dokumentierte Fälle von Patienten, die ein Spenderorgan erhielten, in dem sich winzig kleine Metastasen aus dem Körper des Organspenders versteckt hielten. Nach erfolgreicher Transplantation und der üblichen medikamentösen Unterdrückung des Immunsystems zum Verhindern einer Abstoßungsreaktion, begannen die Metastasen im Körper der Organempfänger ihr aggressives Wachstum (Strauss und Thomas 2010).

Feind Zu unserem Feind wird unser Immunsystem immer dann, wenn es nicht gelingt, den Auslöser einer Immunreaktion zu beseitigen. In diesem Fall wird eine normalerweise gutartige und nützliche Immunreaktion zu einer dauerhaften Entzündung mit fatalen Folgen für unsere Gesundheit. Dauerhafte Entzündungen können beispielsweise durch Infektionen verursacht werden, die manchmal vollkommen unbemerkt über viele Jahrzehnte bestehen. Aber auch ein andauernder Gewebeschaden durch bestimmte Erkrankungen oder Lebensgewohnheiten kann krebsfördernde Entzündungen provozieren. Wir werden später noch genauer auf all die Faktoren eingehen, die Entzündungsreaktionen verursachen. An dieser Stelle möchten wir vorerst nur kurz erklären, warum dauerhafte Entzündungen überhaupt Krebs verursachen können. Dieses Wissen hilft auch, Autoimmunerkrankungen, Allergien und Impfungen zu verstehen.

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Wodurch entstehen Entzündungen? Im Laufe der Evolution hat unser Körper eine Reihe äußerst zuverlässiger Mechanismen zur Abwehr von Infektionen und Krebserkrankungen entwickelt. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei sogenannte antigenpräsentierende Zellen (APCs). Wenn man sich das Immunsystem als ein Orchester mit unterschiedlichen Spielern und Instrumenten vorstellt, dann sind die antigenpräsentierenden Zellen ihr Dirigent. Sie besitzen die einzigartige Fähigkeit, Gefahren zu erkennen, ihre Qualität abzuwägen und anderen Immunzellen das Startkommando zu erteilen. Sie treffen die Entscheidung, ob überhaupt eine Immunreaktion gestartet wird, und wenn ja, welche. Kontinuierlich filtern sie ihre Umgebung auf Gefahrensignale, um Bedrohungen so früh wie möglich zu erkennen. Je nachdem, ob es sich um Bakterien, Viren, Pilze, kaputte Zellen oder Krebszellen handelt, dirigieren sie die Immunantwort und teilen anderen Immunzellen mit, wer an der Reihe ist und welches Programm gespielt werden muss (Abb. 2). Werden beispielsweise Bakterien entdeckt, schütten die antigenpräsentierenden Zellen Signalmoleküle in das Gewebe aus, die zu einer gezielten Immunantwort gegen Bakterien führen. Werden hingegen Virusbestandteile entdeckt, produzieren sie andere Signalmoleküle, und zwar solche, die das Immunsystem dazu bringen, neutralisierende Antikörper zu produzieren und Virus-infizierte Zellen zu töten (Abb. 2). Bestandteile von abgestorbenen Zellen können als Hinweis für Verletzungen dienen und eine Wundheilungsreaktion auslösen, die ebenfalls vom Immunsystem koordiniert wird. Die Folge ist eine sogenannte sterile Entzündung, da sie auch ganz ohne Krankheitserreger ablaufen kann. Sterile Entzündungen treten jedoch nicht nur isoliert bei klassischen Verletzungen auf, sondern sie können auch Infektionskrankheiten begleiten, beispielsweise wenn Virus-infizierte Zellen vom Immunsystem zerstört werden. Dabei werden Bestandteile aus dem Inneren der Körperzellen freigesetzt, wie DNA oder kostbare Energieträger (ATP), die von den antigenpräsentierenden Zellen wahrgenommen werden und auf diese Weise die Entzündungsreaktion weiter anfeuern. Sterile Entzündungen können auch durch chemische Substanzen wie Medikamente oder Alkohol und durch physikalische Reize wie Reibung oder Hitze ausgelöst werden. Sind diese Entzündungen dauerhaft, besitzen sie krebsfördernde Eigenschaften – insbesondere dann, wenn sie sich vor dem Hintergrund eines Gewebes abspielen, das bereits genetische Veränderungen angesammelt hat. Je stärker ein Gewebe im Austausch mit der Umwelt steht, desto

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Abb. 2 Antigenpräsentierende Zellen (APC) nehmen Gefahrensignale aus ihrer Umgebung wahr und rekrutieren T-Zellen und B-Zellen, um infizierte oder bösartige Zellen zu töten und Krankheitserreger mit Antikörpern zu neutralisieren. Neutralisierende Antikörper binden an die Oberflächenmoleküle von Krankheitserregern und verhindern dadurch, dass weitere Körperzellen infiziert werden können. Zudem markieren die Antikörper auf der Erregeroberfläche diese für die Zerstörung durch andere Immunzellen. Die Abbildung wurde entworfen und bearbeitet mithilfe der Vorlage „Recruitment of T and B Cells by Antigen-presenting Cells (APCs)“ von BioRender.com (2022a), verfügbar unter https://app.biorender.com/biorender-templates

höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Karzinogene bereits eine gefährliche Vorarbeit geleistet haben. Dauerhafte Entzündungen sind deshalb besonders gefährlich in Organen wie der Lunge oder dem Darm. Aber wieso können Entzündungen überhaupt unsere DNA schädigen und das Wachstum von Krebszellen anregen?

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Was passiert während einer Entzündung? Obwohl sich Immunantworten je nach Ursache und Zielsetzung unterscheiden, haben sie doch alle eines gemeinsam: Sie werden von einer Entzündungsreaktion begleitet, die dem Immunsystem in vielerlei Hinsicht die Arbeit erleichtert. Zu Beginn der Entzündungsreaktion locken Immunzellen mithilfe von Signalmolekülen weitere Immunzellen an den Ort des Geschehens. Um ihnen die Ankunft zu erleichtern, produzieren sie Substanzen, die Blutgefäße weiten und die Durchblutung der betroffenen Region verstärken. Es folgt die klassische Rötung und Wärme, die Entzündungen ihren Namen verleiht. Durch die vermehrte Durchblutung schwillt die betroffene Region an und beginnt zu schmerzen. In großen Mengen wandern nun kleine weiße Zellen in das Gewebe ein, die sich Neutrophile nennen und über 50 % unserer weißen Blutzellen (Leukozyten) ausmachen. Eine erhöhte Anzahl an Neutrophilen im Blutbild ist ein wichtiger Hinweis auf eine Entzündungsreaktion im Körper. Neutrophile können chemisch aggressive Sauerstoffmoleküle produzieren (sogenannte reaktive Sauerstoffverbindungen, ROS), mit denen sie Krankheitserreger angreifen und zerstören. Große Riesenfresszellen, namens Makrophagen, helfen den Neutrophilen anschließend dabei, die zerstörten Krankheitserreger und Trümmer am Tatort zu beseitigen, indem sie diese auffressen. In ihrem Inneren verdauen sie die Krankheitserreger zu kleineren Fragmenten, um sie anschließend auf der Zelloberfläche dem Immunsystem zu präsentieren. Wenn passende Immunzellen (T-Zellen oder B-Zellen) an diese fremdartigen Proteine binden, werden sie aktiviert und vermehren sich explosionsartig. Man spricht von einer angepassten oder „adaptiven“ Immunantwort. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass antigenpräsentierende und ausführende Immunzellen miteinander in Kontakt treten, wandern sie mit der Lymphflüssigkeit in die Lymphknoten, die überall in unserem Körper verteilt liegen. Damit sind Lymphknoten eine Art „Dating-Center“ unseres Immunsystems. Theoretisch kann unser Körper über 1 Billiarde (1015 ) unterschiedliche Immunzellen produzieren, die sich in ihrer Fähigkeit unterscheiden, fremde Proteinstückchen zu erkennen (Lythe et al. 2016). Diese Zahl ist größer als die 5000-fache Menge aller Sterne in unserer Milchstraße, die immerhin 200 Mrd. der insgesamt 1024 Sterne unseres sichtbaren Universums enthält. Durch diese enorme Vielfalt ist sichergestellt, dass immer ein paar Immunzellen existieren, die Proteinbestandteile eines Krankheitserregers erkennen und binden können. Gelingt dies einer Immunzelle, vermehrt sie sich rasant und bildet eine Armee aus Millionen von identischen Klonen, die den Krankheitserreger besiegt. Übrigens dauert es vom Eintritt des Krankheitserregers

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in unseren Körper bis hin zur Bildung der exakt auf den Krankheitserreger abgestimmten Immunzell-Armee in der Regel fünf Tage (Murphy und Weaver 2018). Viel schneller kann unser Immunsystem nicht reagieren. Es ist also keine Überraschung, wenn nach ca. einer Woche die Besserung eintritt, unabhängig davon, welches Medikament oder Hausmittel verwendet wurde. Einige der Immunzellen bleiben danach über Monate, Jahre oder sogar unser ganzes Leben als sogenannte Gedächtniszellen in unserem Körper zurück. Treffen wir in unserem Leben noch einmal auf den gleichen Krankheitserreger, reagieren diese Gedächtniszellen sofort, indem sie sich explosionsartig vermehren und die Eindringlinge beseitigen, bevor wir uns überhaupt krank fühlen. Auf den Punkt Das gesamte menschliche Genom besitzt nur etwa 21.000 Gene. Es wäre unmöglich, 1 Billiarde unterschiedlicher Antikörper-Gene in jeder einzelnen Zelle unseres Körpers unterzubringen und mit jeder Zellteilung zu verdoppeln. Dennoch ist diese Vielfalt notwendig, um uns vor immer wieder neuartigen Krankheitserregern zu schützen. Die Evolution hat dieses Dilemma mit einem beispiellosen Geniestreich gelöst: Unsere Immunzellen bauen sich ihre Antikörper und T-ZellRezeptoren einfach selbst nach einer Art kombinatorischem Baukastenprinzip zusammen und fügen ihnen zur Krönung auch noch absichtliche Mutationen zu. Immunologen nennen diesen Vielfaltsgenerator „Generator of Diversity“, kurz: GOD.

Da Immunzellen immer nur einzelne Proteinstückchen auf den AusweisProteinen der antigenpräsentierenden Zellen erkennen können, spielt es für die Aktivierung einer Immunantwort in der Regel keine Rolle, ob das Proteinstückchen von unseren Immunzellen erschaffen wurde oder in einem Labor. Genau dieses Prinzip machen sich Protein- und mRNA-Impfungen zunutze, die gezielt Proteinfragmente auswählen, die besonders wichtig für die Infektiosität von Krankheitserregern sind. Der Schutz durch eine Impfung funktioniert also im Prinzip wie eine natürlich durchlaufene Infektion, mit dem Unterschied, dass Impfstoffe den Weg über den Verdau in Riesenfresszellen abkürzen und dem Immunsystem direkt besonders vielversprechende Proteinfragmente zur Verfügung stellen. Die häufig kritisch diskutierten Zusätze einer Impfung dienen dazu, eine Entzündungsreaktion zu induzieren, die für alle Immunantworten essenziell ist. Nur wenn gleichzeitig eine Entzündung stattfindet, werden die Immunzellen das erkannte Antigen als Gefahrensignal akzeptieren und einen Angriff starten. Dies stellt sicher, dass nicht jeder fremde

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Proteinbaustein angegriffen wird, wie beispielsweise Nahrung oder eingeatmete Partikel. Mit dem Verfahren einer Impfung kann das Immunsystem grundsätzlich gegen jeden nur denkbaren fremden Proteinbaustein „abgerichtet“ werden. Gleichzeitig ermöglicht eine Impfung, die körpereigenes Protein in Kombination mit einem Gefahrensignal enthält, aber auch die Entstehung einer sogenannten Autoimmunreaktion – ein Prinzip, das regelmäßig in der Forschung zum Einsatz kommt. Autoimmunerkrankungen sind Krankheiten, bei denen unser eigenes Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Strukturen angreift (auto ist lateinisch und bedeutet „selbst“). Das Prinzip einer Impfung ist von großem Nutzen, wenn man diese Krankheiten erforschen möchte, zu denen beispielsweise auch Multiple Sklerose gehört. Myelin ist ein Protein, das unsere Nervenzellen isoliert und dadurch die Leitungsgeschwindigkeit der Nerven erhöht. In Gehirnschnitten ist das Myelin als weiße Substanz sichtbar, die von einer Schicht aus grauer Substanz überlagert wird, in der sich die Zellkörper der Neuronen befinden. Wenn man Stückchen dieses Myelin-Proteins zusammen mit einem starken Gefahrensignal spritzt – meistens das Gift des Keuchhusten-Bakteriums und abgetötete Tuberkulose-Bakterien –, entwickeln die Mäuse eine Krankheit, die experimentelle Autoimmunencephalomyelitis genannt wird und der Multiplen Sklerose in vielerlei Hinsicht ähnelt. Moderne Krebsimpfungen versuchen genau dieses Prinzip für sich zu nutzen. Sie haben das Ziel, unser Immunsystem gegen Tumorantigene zu richten, die zwar fremd sind, aber nicht immer von einem ausreichenden Gefahrensignal begleitet werden, um eine effektive Immunantwort zu generieren. Die Kunst in der Herstellung eines Impfstoffes besteht nicht nur darin, das passende Fragment oder Antigen zu wählen, sondern darin, das begleitende Gefahrensignal genau richtig zu dosieren. Ist es zu schwach, wird das Immunsystem nicht reagieren. Ist es zu stark, droht eine gefährliche Überreaktion – vergleichbar mit einem allergischen Schock. Was im Menschen zum Verlust der Toleranz gegen das Myelin-Protein und zum Ausbruch einer Multiplen Sklerose führt, ist bisher nicht bekannt. Eine mögliche Ursache wäre die Existenz eines Krankheitserregers, dessen Bausteine unserem Myelin-Protein ähneln und auf diese Weise eine tragische Kreuzreaktion verursachen. Obwohl viele Hinweise für diese Hypothese existieren, ist es verwunderlich, dass alle Krankheitserreger, die bisher als Ursache für Multiple Sklerose und andere Autoimmunerkrankungen in Frage kamen, wie beispielsweise das Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber), weitaus häufiger vorkommen als die Multiple-Sklerose-Erkrankung selbst. Vermutlich handelt es sich hier also um Erkrankungen, zu deren Entstehung sowohl genetische Veranlagungen als auch fehlregulierte Immunantworten und unter Umständen Infektionen beitragen.

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Autoimmunerkrankungen ähneln übrigens den wesentlich häufiger vorkommenden Allergien. Während es bei Autoimmunerkrankungen zu einer ungewollten Immunreaktion gegen einen körpereigenen Bestandteil kommt, reagiert das Immunsystem bei einer Allergie fälschlicherweise gegen einen fremden, aber harmlosen Stoff aus der Umwelt. In beiden Fällen sollte also eigentlich keine Immunreaktion stattfinden. Wie bei den Autoimmunerkrankungen besteht der Verdacht, dass ein falsches Gefahrensignal dem Immunsystem den Startschuss erteilt hat. Es ist beispielsweise bekannt, dass die gefürchtete Erdnussallergie vieler Menschen durch eine erdnussölhaltige Windelcreme im Babyalter ausgelöst wurde. Dies zeigte eine Studie aus England, die 14.000 Babys von der Schwangerschaft bis zu einem Alter von 6 Jahren untersuchte (Lack et al. 2003). Das Risiko für eine Allergie war besonders hoch, wenn Eltern erdnussölhaltige Cremes auf geröteter Haut im Windelbereich verwendet hatten. Babys leiden häufig an einem wunden Po, denn die Feuchtigkeit in der Windel macht die Haut empfindlich für den Kontakt mit Bakterien und Pilzen aus dem Stuhl, die schmerzhafte Rötungen verursachen. Erdnussallergien können also durch Bakterien und Pilze im Windelbereich verursacht werden, die dem Immunsystem den Startschuss erteilen, gegen völlig harmlose Erdnussbestandteile der Creme vorzugehen. Interessanterweise entwickelten Babys von stillenden Müttern, die Cremes mit Erdnuss-Öl zur Pflege wunder Brustwarzen verwendet hatten, kein erhöhtes Erdnussallergie-Risiko. Dies passt zum immunologischen Prinzip der „oralen Toleranz“, das erklärt, warum Dinge, die wir essen, keine Allergien auslösen, sondern vom Immunsystem bevorzugt toleriert werden. Da Menschen aus evolutionärer Sicht Alles-Esser sind, ist dies eine wichtige Voraussetzung, um sich den wandelnden Nahrungsmöglichkeiten anzupassen. Man vermutet heute, dass die meisten Allergien nicht durch den Verzehr, sondern über andersartigen Kontakt in sehr geringen Mengen ausgelöst werden. Übrigens entwickelten auch Babys, die mit sojahaltigen Pflege-Produkten versorgt wurden, häufiger eine Erdnussallergie, was auf verwandte Proteine von Erdnüssen und Sojapflanzen zurückzuführen ist. Es handelt sich hier wieder um eine der gefährlichen Kreuzreaktionen, die auch für andere Pflanzen und Lebensmittel bekannt sind, wie beispielsweise Gift-Efeu und Mangos. Nicht immer ist der Allergieauslöser so eindeutig wie in dem Beispiel mit der Erdnusscreme, und auch bei Allergien spielt die persönliche genetische Veranlagung eine große Rolle. Der Ratschlag, bei entzündeten Hautarealen möglichst Produkte ohne unnötige Inhaltsstoffe zu verwenden (auch nicht, wenn sie natürlich sind!), ist jedoch sicherlich hilfreich, um der Entstehung von Allergien vorzubeugen.

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Wie verursachen Entzündungen Krebs? Die letzten Jahrzehnte der Forschung haben gezeigt, dass Entzündungen sowohl die Entstehung als auch das Wachstum von Krebserkrankungen fördern können. Viele Krebserkrankungen werden direkt durch Entzündungsreaktionen im betroffenen Organ verursacht, wie beispielsweise Darmtumore in Folge von entzündlichen Darmerkrankungen. Aber Entzündungen können die Krebsentstehung auch in anderen Körperregionen fördern, wenn Entzündungsstoffe in relevanten Mengen in den Blutkreislauf gelangen. Entzündungen tragen sogar zum Wachstum von Krebserkrankungen bei, die scheinbar eindeutig auf karzinogene Substanzen zurückzuführen sind. Ein gutes Beispiel ist Zigarettenrauch, dessen krebserregende Wirkung nicht nur auf den über 60 verschiedenen krebserregenden Substanzen beruht, die er enthält, sondern auch auf einer Entzündungsreaktion, die durch die kontinuierliche Inhalation des Rauches verursacht wird (Takahashi et al. 2010). Die Entstehung von Lungenkrebs durch Zigarettenrauch konnte bei Mäusen in beeindruckender Weise verhindert werden, wenn ein wichtiger Signalweg in Entzündungszellen ausgeschaltet wurde. Partikel im Rauch verursachen womöglich eine dauerhafte Entzündungsreaktion in der Lunge, die, ähnlich wie Asbestpartikel, das Lungenkrebsrisiko steigert. Heute ist bekannt, dass nahezu jede Krebserkrankung ab einem gewissen Stadium von einer ausgeprägten Entzündungsreaktion begleitet wird, da die Zellen im Inneren eines schnell wachsenden Tumors irgendwann nicht mehr ausreichend mit Nahrung und Sauerstoff versorgt werden und absterben (Karin 2006; Mantovani et al. 2008). Der Tod der Krebszellen wird vom Immunsystem fälschlicherweise als Gewebeschaden interpretiert. Immunzellen regen daraufhin mit Botenstoffen die Durchblutung der Region im Inneren des Tumors an und rekrutieren weitere Immunzellen für Reparaturarbeiten an den Ort des Geschehens. Somit gelangen zunehmend Entzündungszellen in den Tumor, die verbliebene Körperzellen – in diesem Fall die Krebszellen – zur Teilung anregen, um abgestorbene Zellen zu ersetzen (Abb. 1(D)). Es handelt sich dabei um eine irrtümlicherweise ausgelöste Wundheilungsreaktion mit fatalen Folgen. Gleichzeitig ermöglicht die gesteigerte Durchblutung und Auflockerung des Gewebes es den Krebszellen, sich im erkrankten Organ auszubreiten und sogar über die Blutbahn in andere Körperregionen zu gelangen. Dieser Prozess markiert den über Leben und Tod entscheidenden Übergang von einem gutartigen Tumor zu einem bösartigen Tumor. Die Fähigkeit zur Metastasierung ist das Hauptmerkmal von bösartigen Krebserkrankungen und es sind letztlich die Metastasen, die in 90 % der Fälle für das Versterben an Krebs verantwortlich sind (eine Ausnahme bilden Ge-

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hirntumore, da aufgrund des durch die Schädelknochen limitierten Raumes jede Krebserkrankung potenziell tödlich ist). Entzündungen tragen also maßgeblich zur Metastasierung von bösartigen Tumoren bei und beschleunigen und verschlimmern ihren Verlauf. Auf welche Weise können die Entzündungen aber Krebs überhaupt verursachen? Hier ist es wichtig anzumerken, dass nur dauerhafte chronische Entzündungen das Potenzial besitzen, Krebs zu verursachen. Eine vorübergehende Entzündung im Rahmen einer akuten Infektion oder einer über wenige Wochen bis Monate bestehenden Verletzung ist nicht ausreichend, um die Entstehung von Krebserkrankungen zu fördern. Chronische Entzündungen können sehr schmerzhaft sein oder auch keine spürbaren Symptome verursachen, wodurch sie oft jahrelang unbemerkt bleiben. Wenn Entzündungen chronisch werden, weil sie entweder nicht entdeckt wurden oder auf keine verfügbare Behandlung ansprechen, schädigen die Substanzen der Immunzellen mit der Zeit auch unsere Körperzellen. Im Verlauf dieses Buchs stellen wir die häufigsten Ursachen von chronischen Entzündungen vor. In diesem Abschnitt möchten wir kurz erklären, weshalb chronische Entzündungen nach Jahren bis Jahrzehnten überhaupt Krebs verursachen können. Hierbei spielen die angriffslustigen kleinen Moleküle eine wichtige Rolle, die von Neutrophilen zur Zerstörung von Mikroorganismen in das erkrankte Gewebe ausgeschüttet werden. Bei diesen kleinen Molekülen handelt es sich um hochreaktive Sauerstoffverbindungen (Reactive Oxygen Species; ROS), zu denen beispielsweise auch Wasserstoffperoxid (H2 O2 ) zählt, das man aufgrund seiner bleichenden Wirkung zum Blondieren von Haaren verwendet. Auf zellulärer Ebene ist es ebenfalls sehr aggressiv. Obwohl es dem harmlosen Wassermolekül (H2 O) ähnelt und problemlos in Zellen und Mikroorganismen eindringen kann, zersetzt es sich anschließend rasch zu einem aggressiven Hydroxyl-Radikal, das andere Moleküle und Proteine angreifen und schädigen kann. Diese reaktiven Sauerstoffverbindungen helfen sowohl bei der Zerstörung von Mikroorganismen außerhalb unserer Zellen als auch beim Verdau von Bakterien oder Zelltrümmern im Inneren der Neutrophilen. Bei akuten Infektionen oder Verletzungen sind sie ein wichtiger Bestandteil der Entzündungsreaktion. Genau diese reaktiven Sauerstoffverbindungen können aber im Falle einer chronischen Entzündung große Schäden in unserem Körper anrichten (Abb. 1(C)). Der entscheidende Hinweis darauf, dass Entzündungen tatsächlich in der Lage sind, Mutationen in der DNA von Körperzellen zu verursachen, stammt aus den entzündeten Geweben von Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa. Betroffene Patienten haben bekanntermaßen ein deutlich erhöhtes Risiko, an bösartigen Darmtumoren

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zu erkranken (Waldner und Neurath 2009). Studien zeigten, dass viele der genetischen Veränderungen und Mutationen, die gewöhnlich in Krebszellen gefunden werden, bereits in Darmzellen nachgewiesen werden können, die zwar noch keine Krebszellen sind, aber aus den entzündeten Darmabschnitten stammen (Kraus und Arber 2009). Heute wissen wir, dass auch bei chronischen Leberentzündungen (beispielsweise durch Hepatitis-Viren, eine Fettleber oder Alkoholismus) die massiven genetischen Schädigungen von Leberzellen zeitlich der Krebsentstehung vorausgehen (Boege et al. 2017). Dies ist ein eindeutiges Indiz, dass chronische Entzündungen als Vorboten einer Krebserkrankung bereits mit der Schädigung der DNA beginnen. Lange vermutete man, dass reaktive Sauerstoffverbindungen DNA-Mutationen direkt verursachen. Inzwischen geht man aber davon aus, dass die Sauerstoffverbindungen bereits kurz nach dem Eintritt in Körperzellen mit Proteinen reagieren, ehe sie zu der geschützt im Zellkern liegenden DNA vordringen können. Dies ist jedoch nicht weniger fatal für unsere Zellen und den gesamten Organismus. Wenn Proteine durch Sauerstoffverbindungen geschädigt werden, die für die DNA-Vervielfältigung oder -Reparatur verantwortlich sind, kann es zu einer rasanten Anhäufung immer weiterer Mutationen in betroffenen Zellen kommen. Auf den Punkt Chronische Entzündungen tragen zur Entstehung geschädigter und mutierter Körperzellen bei. Gleichzeitig fördern sie das Überleben von schwer geschädigten Körperzellen durch Wachstumsfaktoren, die Körperzellen zur Vermehrung anregen, um Gewebeschäden zu reparieren. Das Zusammenspiel aus schädigenden Substanzen in Gegenwart einer krebsfördernden Wundheilungsreaktion ist das grundlegende Prinzip der Krebsentstehung durch chronische Entzündungen. Der berühmte deutsche Arzt Rudolf Virchow bezeichnete Krebs bereits 1858 als „eine Wunde, die niemals heilt“ (Flier et al. 1986). Die neuen Erkenntnisse der Krebsforschung verleihen dieser Aussage eine ungeahnte Aktualität.

Tragischerweise können auch Bestrahlungen und Chemotherapien die Entzündungsreaktion innerhalb eines Tumors verstärken, da diese Methoden in großen Mengen Krebszellen töten. Die Auswirkungen dieser Entzündung auf den Ausgang einer Krebserkrankung sind schwer abzuschätzen. Einerseits können die zerstörten Zellen vom Immunsystem als Gefahrensignal wahrgenommen werden und eine gegen den Tumor gerichtete Immunantwort in Gang setzten (Zitvogel et al. 2008). Andererseits könnte die durch absterbende Krebszellen verursachte Entzündungsreaktion das Voranschreiten einer Krebserkrankung sogar beschleunigen, wenn es dem Immunsystem nicht ge-

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lingt, die Krebszellen als fremd zu erkennen und erfolgreich zu bekämpfen (Ammirante et al. 2010). Je weiter eine Krebserkrankung fortschreitet, desto mehr wird das Immunsystem zu unserem Feind und zu einem Verbündeten der Krebserkrankung. Je nach Tumor existieren große individuelle Unterschiede, in welchem Maß das Immunsystem eine Krebserkrankung beschleunigt oder verlangsamt. Für einige Krebsarten, wie beispielsweise das kolorektale Karzinom (eine bösartige Form von Darmkrebs), wurde gezeigt, dass die Menge der im Tumor vorhandenen T-Zellen maßgeblich das Überleben der Patienten bestimmt. Bei mehr als 400 Patienten mit dieser bösartigen Erkrankung sagte das Vorhandensein von T-Zellen in jedem klinischen Stadium das langfristige Überleben (mehr als 180 Monate) voraus. Waren keine T-Zellen im Tumor vorhanden, wies dies auf ein baldiges Versterben der Patienten innerhalb von nur 20 Monaten nach der ersten Operation hin (Galon et al. 2006). Ähnliche Zusammenhänge wurden für viele andere Krebserkrankungen beobachtet, wie beispielsweise das Melanom (schwarzer Hautkrebs), Eierstockkrebs, Brustkrebs, Blasenkrebs und Prostatakrebs. Diese Zusammenhänge genauer zu erforschen wird in Zukunft dabei helfen, neuartige und verbesserte Immuntherapien zu entwickeln. Die Beobachtungen von Immunreaktionen in menschlichen Tumoren sind bisher nahezu alle rein korrelativ und wir wissen immer noch sehr wenig über ihre Ursachen. Was ist der Grund dafür, dass sich manche Tumore erfolgreich vom Immunsystem im Zaum halten lassen, während andere Tumore sich völlig zügellos und sogar angefeuert durch das Immunsystem im Körper ausbreiten? Selbst in einem Tumor, in dem Immunzellen aktiv gegen Krebszellen ankämpfen, können gleichzeitig auch die gefährlichen Vorgänge einer Entzündungsreaktion ablaufen, die ihm sein Wachstum und die Metastasierung erleichtern. Eine genaue Kategorisierung der Immunantwort innerhalb eines Tumors in gut oder böse ist nur in den seltensten Fällen möglich. Genau darin liegt die Schwierigkeit bei der Wahl der wirksamsten Behandlungsmethode. Wenn wir das Immunsystem medikamentös hemmen, blockieren wir möglicherweise auch jene Immunreaktionen, die den Krebs aktiv bekämpfen. Wenn wir das Immunsystem mit Gefahrensignalen stimulieren, damit es den Tumor angreift, könnten wir fatalerweise ungewollt sein Wachstum und seine Metastasierung beschleunigen. In den Kapiteln „Die Therapie der Zukunft“ und „Personalisierte Medizin“ erklären wir, auf welche Weise es in Zukunft durchaus gelingen könnte, für jeden Patienten und jede Tumorerkrankung eine möglichst exakte Entscheidung darüber zu treffen, ob die vorhandene Immunantwort nützlich oder schädlich für das Überleben des Patienten ist. Dazu wäre es notwendig, jeden

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neu diagnostizierten Tumor exakt zu analysieren. Die Art der genetischen Mutationen und das Profil der im Tumor enthaltenen Immunzellen könnten die klinischen Daten ergänzen, damit jeder Patient eine optimale Therapie erhält. Wir müssen weiterhin intensiv Daten zu der Frage sammeln, wann wir Krebserkrankungen mithilfe des eigenen Immunsystems besiegen können und in welchen Fällen eine medikamentöse Unterdrückung der Immunantwort eher geeignet wäre, um das Überleben eines Patienten zu verbessern. Interessanterweise können chronische Entzündungen auch das Krebsrisiko der Immunzellen selbst erhöhen. Wenn Immunzellen dauerhaft aktiv sind, steigt ihr Entartungsrisiko – also das Risiko, an Blutkrebs zu erkranken. Einige chronische Infektionskrankheiten, wie beispielsweise Chlamydien und Helicobacter-pylori-Infektionen, die häufig unbemerkt verlaufen, steigern die Gefahr, an einem MALT-Lymphom zu erkranken. Eine Epstein-Barr-Virus-Infektion (Pfeiffersches Drüsenfieber) kann verschiedene Lymphome verursachen – darunter das Burkitt-Lymphom und das Hodgkin-Lymphom (Ferreri et al. 2009). Chronische Entzündungen, Autoimmunerkrankungen und eine dauerhafte Stimulation von Immunzellen gelten als Risikofaktor für chronisch lymphatische Leukämie, die 30 % aller Leukämien ausmacht (Grivennikov et al. 2010). Auch das multiple Myelom, eine weitere bösartige Krebserkrankung des Blutes, wird vermutlich durch dauerhafte Entzündungen begünstigt. Vermehrte Zellteilungen und Entzündungsstoffe können also auch die Gene von Immunzellen selbst mutieren. Genetische Veränderungen sind jedoch nicht nur ein Risikofaktor für die Entstehung von Krebs, sondern können auch das Verhalten von Immunzellen dauerhaft verändern. Auf diese Weise könnten sie entscheidend zur Entstehung von vielen entzündlichen Erkrankungen beitragen – ein wichtiger Aspekt, der in der Forschung noch immer nicht ausreichend zur Kenntnis genommen wird. Mutationen scheinen auch für viele Forscher noch immer nur die Stufe einer Treppe zu sein, die als einziges Ziel zu einer Krebserkrankung führt.

Literatur Ammirante M, Luo J-L, Grivennikov S et al (2010) B-cell-derived lymphotoxin promotes castration-resistant prostate cancer. Nature 464:302. https://doi.org/10. 1038/nature08782 Bär W (2009) Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie, S 26–33 https://doi. org/10.1007/978-3-540-46362-7_5

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Was uns HIV und Organspenden über Krebs verraten

Zusammenfassung HIV-Patienten, Organempfänger und Patienten, die langfristig Medikamente zur Unterdrückung ihres Immunsystems einnehmen müssen, haben ein erhöhtes Krebsrisiko. Je nach Ursache der Immunschwäche zeigen sich eindeutige Präferenzen für bestimmte Krebstypen. Bei Organempfängern entscheidet sogar der Typ des Spenderorgans darüber, in welchen Organen des Empfängers anschließend vermehrt Krebserkrankungen auftreten. Diese epidemiologischen Beobachtungen sind interessant, denn sie können uns vieles über den Entstehungsmechanismen von Krebserkrankungen und die Funktionsweise unseres Immunsystems lehren. Das humane Immundefizienz-Virus (HIV) und Krebs scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben. In Wirklichkeit haben uns die letzten Jahrzehnte, in denen die Menschheit mit dem HI-Virus kämpfen musste, aber auch einige wichtige Dinge über die Entstehung von Krebserkrankungen verraten. HI-Viren infizieren Zellen unseres Immunsystems und führen nach einer unvorhersehbaren Zeitspanne deren Untergang herbei. Bei den betroffenen Zellen handelt es sich um sogenannte CD4-positive T-Helfer-Zellen, die eine wichtige Vermittlerrolle zwischen dem angeborenen und dem anpassungsfähigen Immunsystem spielen. Diese Vermittlerrolle ist unentbehrlich, um eine gezielte und dauerhafte Immunantwort in Gang zu setzen. HIV-infizierte Patienten erkranken, wenn sie keine Medikamente erhalten, nach einer oftmals langen und sehr variablen Zeitspanne an AIDS, dem „Acquired Immunodeficiency Syndrom“. Das bedeutet, dass die Patienten an diversen opportunistischen Infektionen mit schwerem Verlauf erkranken © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_4

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und irgendwann auch daran versterben. Opportunistische Infektionen können durch alle möglichen Krankheitserreger verursacht werden, an denen gesunde Menschen in der Regel gar nicht oder nur leicht erkranken. Immungeschwächte Patienten, zu denen neben HIV-Patienten auch Organempfänger, Krebspatienten nach der Chemotherapie und sehr alte Menschen gehören, zeigen für nahezu alle Infektionskrankheiten eine höhere Empfänglichkeit und deutlich schwerere Verläufe. Um an AIDS zu erkrankten, muss die Anzahl der CD4-positiven T-Zellen im Blut laut Definition unter 200=μl fallen. Jeder AIDS-Patient hat also HIV, aber nicht jeder HIV-Patient leidet an AIDS. Interessanterweise ist die Haupttodesursache von HIV-Patienten seit einigen Jahren nicht mehr AIDS, sondern Krebs (Yarchoan und Uldrick 2018). Dank einer stark verbesserten antiretroviralen Therapie, die HIV-Patienten heute zur Verfügung steht, sind opportunistische Infektionen als Todesursache selten geworden. Dafür sind Krebserkrankungen bei HIV-Patienten nun häufiger als in der gesunden Bevölkerung. In Anlehnung an die opportunistischen Infektionen von AIDS-Patienten werden diese Krebserkrankungen „opportunistische“ Krebserkrankungen genannt. Zu den opportunistischen Krebserkrankungen zählen beispielsweise Gebärmutterhalskrebs, bestimmte Blutkrebstypen (Hodgkin- und Non-HodgkinLymphom), Kaposi-Sarkome und Krebserkrankungen im Mund und Rachenraum sowie eine Form von Leberkrebs, das Hepatozelluläre Karzinom. Die Ursache für das vermehrte Auftreten dieser Krebserkrankungen in HIV-Patienten ist noch immer nicht vollends geklärt. Es handelt sich jedoch vermutlich um eine Kombination aus drei verschiedenen Erklärungsansätzen: Der erste Ansatz ist, dass diese Krebserkrankungen teilweise durch bekannte oder unbekannte Viren verursacht werden, die in HIV-infizierten Patienten nicht oder nur ungenügend bekämpft werden können. Ein Beispiel sind humane Papillomviren (HPV), die Erreger von Gebärmutterhalskrebs. HIV-Patientinnen wird daher vorsichtshalber ein jährliches Screening empfohlen (Poynten et al. 2011). Der zweite Ansatz lautet, dass entweder die HIV-Infektion selbst oder eine andere Infektion, die in HIV-Patienten nicht eingedämmt werden kann, eine chronische krebsfördernde Entzündungsreaktion verursacht. Als dritten Erklärungsansatz vermuten Wissenschaftler, dass das Immunsystem von HIVPatienten Krebszellen weniger effektiv erkennen und eliminieren kann. Es ist allerdings unklar, weshalb dies auf einige Krebsarten offensichtlich mehr zutrifft als auf andere. Wahrscheinlich sind gerade solche Krebserkrankungen in HIV-Patienten häufiger, die für ein gesundes Immunsystem besonders gut zu erkennen sind. Somit wären diese Krebserkrankungen auch geeignet, um Informationen über besonders vielversprechende Tumorantigene zu gewinnen, die als Grundlage für verbesserte Immuntherapien dienen können.

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Die Vermutung, dass das erhöhte Krebsrisiko in HIV-Patienten tatsächlich durch eine beeinträchtigte Immunantwort gegen Krebszellen und Infektionen verursacht wird, und nicht beispielsweise durch das HI-Virus selbst, wird durch Daten aus der Transplantationsmedizin gestützt. Eine vergleichbare Häufung von Krebserkrankungen beobachtet man auch bei Organempfängern, die nach der Transplantation routinemäßig Medikamente zur Verhinderung einer Abstoßungsreaktion erhalten (Krynitz et al. 2013). Diese Medikamente sind selbst dann notwendig, wenn die Ausweis-Proteine eine ausreichende Kompatibilität aufweisen. Solange sie nicht identisch sind, besteht die Gefahr, dass sie als fremd erkannt werden. Durch die enorme Vielfalt an Ausweis-Proteinen ist ein genaues Match zwischen Organspender und Organempfänger nahezu unmöglich. Das Immunsystem von Organempfängern ist also ähnlich geschwächt wie das eines HIV-Patienten. Organempfänger und HIV-Patienten haben uns die beeindruckende Arbeit unseres Immunsystems bei der Kontrolle von Krebserkrankungen offenbart. Eine australische Studie beobachtete die Empfänger einer Spenderniere über 24 Jahre und zeigte, dass 72 % der Nierenempfänger in diesem Zeitraum eine oder sogar mehrere Krebsdiagnosen erhielten. Dieser Prozentsatz liegt weit über dem Durchschnitt der normalen Bevölkerung. In einer anderen Studie wurde beobachtet, dass Empfänger einer Spenderleber gewöhnlich innerhalb von nur fünf Jahren nach erfolgreicher Transplantation und Beginn der Medikamenteneinnahme Tumore entwickeln (Weinberg 2014). Eine Metaanalyse, die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenfassend auswertet, schätzte ein 3-fach erhöhtes allgemeines Krebsrisiko für Organempfänger (Grulich et al. 2007). Diese Beobachtungen an immungeschwächten Patienten offenbaren, wie groß die Anzahl der Krebserkrankungen ist, die unser Immunsystem normalerweise rechtzeitig erkennt und besiegt. Auf den Punkt HIV-Patienten und Organempfänger haben ein erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken. In beiden Fällen ist das geschwächte Immunsystem die Ursache für das erhöhte Krebsrisiko. Im Fall einer HIV-Infektion oder während der Einnahme von Medikamenten, die das Immunsystem unterdrücken, sind Krebsvorsorgeuntersuchungen daher besonders wichtig.

Auch Krebserkrankungen, die durch Infektionen verursacht werden, treten häufiger bei HIV-Patienten und Organempfängern auf. Bekannte Beispiele sind durch Helicobacter-pylori-Bakterien verursachte Magengeschwüre, durch Epstein-Barr-Viren verursachte Lymphome, durch humane Papillom-

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viren verursachte Krebserkrankungen des Genital- und Mundrachenraums oder durch humane Herpes-Viren (HHV-8) verursachte Kaposi-Sarkome. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass nicht die Infektion mit diesen Erregern bei immungeschwächten Patienten häufiger ist, sondern dass Infektionen, die normalerweise nur mild oder komplett symptomfrei verlaufen, in immungeschwächten Patienten nicht ausreichend in Schach gehalten werden können. Ein gutes Beispiel ist das Epstein-Barr-Virus, mit dem schätzungsweise 90 % der Bevölkerung infiziert sind. Meist erfolgt die Infektion in der Kindheit oder bereits als Baby durch küssende Verwandte (englisch „Kissing disease“). Wenn die Infektion erst in der Pubertät oder, noch seltener, erst im Erwachsenenalter erfolgt, kommt es häufiger zum sogenannten Pfeifferschen Drüsenfieber, das sich unter anderem durch stark geschwollene Halslymphknoten und Fieber äußert. Bei immungeschwächten Patienten hingegen treten schwere Verläufe mit Hirnhaut-, Herzmuskel- oder Leberentzündungen auf und es kann zu starken Schwellungen und Rissen in der Milz kommen (Milzruptur). Unabhängig davon, wie die Erstinfektion verläuft, bleibt das Virus danach ein Leben lang unbemerkt in unseren Immunzellen und einigen Epithelzellen versteckt. Wird das Immunsystem beispielsweise durch eine HIVInfektion geschwächt, kann das „schlafende“ Virus wiedererweckt werden. Eine dauerhafte Aktivierung des Epstein-Barr-Virus erhöht in infizierten Immunzellen das Risiko für Lymphome (Blutkrebs) (Yin et al. 2018). Andere krebserregende Infektionskrankheiten fördern die Krebsentstehung auch in nicht-infizierten Körperzellen. Beispielsweise verursacht der Kampf des Immunsystems gegen Hepatitis-Viren eine dauerhafte Leberentzündung, wodurch auch benachbarte nicht-infizierte Leberzellen in ein Schussfeuer aus reaktiven Sauerstoffverbindungen und Wachstumsfaktoren geraten. Da die Leber generell ein sehr hohes Regenerationspotenzial besitzt, haben krebsfördernde Entzündungen in unserem Entgiftungsorgan ein besonders leichtes Spiel. Man geht inzwischen davon aus, dass mindestens 20 % aller Krebserkrankungen weltweit eine direkte oder indirekte Folge von Infektionen sind. In den meisten Teilen der Welt und insbesondere in Entwicklungsländern sind Krebserkrankungen durch infektiöse Erreger, mit über einer Millionen Fälle jährlich, die Hauptursache von Krebs (z. B. HBV) (de Martel et al. 2012). Einige Studien legen nahe, dass der Prozentsatz dieser Krebserkrankungen sogar noch deutlich höher sein könnte. Für einige Krebserkrankungen werden infektiöse Erreger vermutet, die bisher aber noch nicht identifiziert werden konnten. In Laborexperimenten wurden virusähnliche DNA-Moleküle aus

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Rindfleisch und Milchprodukten zum Leben erweckt, die möglicherweise eine Rolle bei der Entstehung einiger Krebserkrankungen spielen. Wir werden auf diese neuen Forschungsergebnisse in dem Kapitel „Infektiöse Erreger in Rindfleisch und Kuhmilch?“ zurückkommen, denn sie bieten einen möglichen Erklärungsansatz auf die Frage, weshalb der Verzehr von Rindfleisch und Kuhmilch in jungen Jahren mit einem erhöhten Krebsrisiko im Alter assoziiert ist. Es ist weiterhin ungeklärt, warum auch andere Krebsarten wie Darmkrebs, Blasenkrebs, Nierenkrebs und schwarzer Hautkrebs (Melanom) in immungeschwächten Patienten vermehrt auftreten. Die Fähigkeit des Immunsystems, kranke Zellen in unserem Körper zu erkennen, ist, wie wir bereits gesehen haben, ebenfalls sehr wichtig. Fällt diese Funktion aus, wie es bei Patienten mit einem geschwächten Immunsystem der Fall ist, steigt auch das allgemeine Krebsrisiko an. Interessanterweise hängt das Krebsrisiko von Organempfängern sogar davon ab, welches Organ transplantiert wurde. Das Lungenkrebsrisiko ist bei „Herzempfängern“ beispielsweise besonders hoch. Am höchsten ist jedoch bei allen Organempfängern das Risiko für ein bösartiges Plattenepithelkarzinom der Haut, das bei ihnen bis zu 250-mal häufiger auftritt als in der normalen Bevölkerung (Krynitz et al. 2013). Regelmäßige Routineuntersuchungen zur Hautkrebsvorsorge sind daher bei Organempfängern besonders wichtig. Diese Daten zeigen eindeutig, dass wir einen Großteil der Krebserkrankungen normalerweise mithilfe unseres Immunsystems in den Griff bekommen. In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, die Verhinderung von Krebserkrankungen im Anfangsstadium nicht mit der Heilung von Krebs im fortgeschrittenen Stadium zu verwechseln. Auf den Punkt Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es unserem Immunsystem gelingt, einen bereits entstandenen und fortgeschrittenen Tumor alleine zu besiegen. Dies würde einer „Spontanheilung“ oder „Wunderheilung“ entsprechen, die leider so selten ist, dass selbst erfahrene Onkologen nach Jahrzehnten bestätigen, noch keine erlebt zu haben. Unser Immunsystem ist jedoch in der Lage, einzelne Krebszellen in ihrem Anfangsstadium zu erkennen und zu besiegen. Der einzige Unterschied zu dem Wunder einer Spontanheilung besteht darin, dass das Wunder ständig in unserem Körper geschieht – ohne dass wir es jemals erfahren.

Neben Organempfängern müssen auch viele Patienten mit chronisch entzündlichen Erkrankungen, wie beispielsweise Autoimmunerkrankungen, Medikamente einnehmen, um die fehlgeleiteten und schmerzlichen Immunreak-

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tionen zu unterdrücken. In vielen Fällen hilft leider nur der dauerhafte Einsatz von Medikamenten, die das Immunsystem breitflächig unterdrücken, wie beispielsweise Kortison. Der Grund hierfür ist, dass wir diese Krankheiten und ihre Entstehungsmechanismen noch immer nicht ausreichend verstehen. Weil wir nicht wissen, welche Zelltypen oder Signalwege des Immunsystems diese Krankheiten verursachen, Schübe auslösen oder Symptome verschlimmern, wird medikamentös ein Rundumschlag auf das Immunsystem ausgeübt. Insbesondere bei langjähriger Einnahme wäre es nicht verwunderlich, wenn dabei auch die wichtige Schutzfunktion vor Krebserkrankungen mit unterdrückt wird. Tatsächlich wird bei Patienten, die Kortison-verwandte Glukokortikoide wie Prednisol oder Dexamethason einnehmen, ein erhöhtes Risiko für Basalzellkarzinome, Plattenepithelkarzinome, Melanome und Non-HodgkinLymphome beobachtet (Olesen et al. 2008). Das erhöhte Krebsrisiko dieser Patienten konnte nicht auf die entzündlichen Grunderkrankungen zurückgeführt werden, die der Grund für die Medikamenteneinnahme waren. Es ist zudem auffällig, dass dieselben Krebsarten auch in HIV-Patienten und Organempfängern vermehrt auftreten. Die langfristige Einnahme von Kortisonpräparaten, die gegen viele entzündliche Erkrankungen eingesetzt werden, kann also vermutlich ebenfalls das Krebsrisiko erhöhen. Dies ist ein Grund, warum die weitere Erforschung dieser entzündlichen Erkrankungen so wichtig ist. Auch wenn man ein im Prinzip funktionierendes Medikament wie Kortison zur Verfügung hat, wäre es doch wünschenswert, ein Medikament herzustellen, das gezielt und ausschließlich gegen den verursachenden Zelltyp oder Signalstoff vorgeht und alle anderen Funktionen des Immunsystems intakt ließe. In jedem Fall sollten Patienten mit geschwächtem Immunsystem über ihr erhöhtes Risiko informiert werden und mit ihrem Arzt klären, welche Krebsvorsorgeuntersuchungen angebracht sind. Auf den Punkt Kortison wirkt entzündungshemmend und kann Immunreaktionen unterdrücken. Bei langfristiger Einnahme von Kortison wird ein leicht erhöhtes Risiko für einige wenige Krebsarten beobachtet, die nicht mit der entzündlichen Erkrankung in Zusammenhang stehen. Da viele chronisch-entzündliche Erkrankungen, wie beispielsweise Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa, jedoch selbst krebsfördernd im betroffenen Organ wirken, überwiegt in diesen Fällen meistens der Nutzen der Behandlung. Die Forschungsergebnisse zeigen jedoch, wie dringlich es ist, gezieltere Medikamente gegen entzündliche Erkrankungen zu entwickeln, um diese gefährlichen Nebenwirkungen in Zukunft zu vermeiden.

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Aspirin wirkt entzündungshemmend, ohne dabei unsere Immunabwehr zu beeinträchtigen. Man kann jahrzehntelang Aspirin einnehmen, ohne an opportunistischen Infektionen zu erkranken. Anders als Kortison unterdrückt Aspirin nicht zielgerichtete Immunantworten, die notwendig sind, um infizierte Körperzellen oder Krebszellen zu eliminieren, sondern nur begleitende Entzündungsreaktionen und Schmerzen. Interessanterweise zeigt Aspirin sogar eine starke Schutzwirkung vor bestimmten Krebserkrankungen. Herzinfarktpatienten, die regelmäßig Aspirin zur Blutverdünnung einnehmen, erkranken seltener an Darmkrebs, Leberkrebs und einigen anderen Krebsarten (Grivennikov et al. 2010). In den Kapiteln „Entzündungshemmer, Vitamine und Antioxidantien“ und „Krebsprävention – Allheilmittel und Anti-AgingTherapie“ beschäftigen wir uns mit der interessanten Frage, für welche Patienten eine prophylaktische Einnahme von Aspirin nach Abwägung aller Nebenwirkungen möglicherweise zu empfehlen wäre. Beobachtungen an HIV-Patienten, Organempfängern und anderen immungeschwächten Patienten haben uns vieles über Krebserkrankungen gelehrt. Die Wissenschaft ist noch immer auf der Suche nach weiteren, bisher unbekannten infektiösen Erregern von Krebserkrankungen, deren Existenz durch unzählige epidemiologische Studien gestützt wird. Indem man auswertet, wie Medikamente das Krebsrisiko beeinflussen, können wir wertvolle Informationen darüber gewinnen, welche Signalwege und Botenstoffe des Immunsystems an der Krebsentstehung und Bekämpfung beteiligt sind.

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Krebsfördernde Umwelteinflüsse und Erkrankungen

Zusammenfassung Lebensgewohnheiten, Umwelteinflüsse und Erkrankungen können als Krebsförderer auf unsere Gewebe wirken. Dabei funktionieren Krebsförderer vollkommen anders als klassische Karzinogene, da sie unsere DNA nicht direkt schädigen. Stattdessen regen sie Zellen zum Wachstum an und fördern deren Überleben. Wir erklären, warum Karzinogene und Krebsförderer erst im Zusammenspiel ihr gefährliches Potenzial entfalten und warum es so schwierig ist, Krebsförderer als solche zu identifizieren. Selbst im Fall von familiären Veranlagungen für bestimmte Krebserkrankungen, existiert ein erheblicher Spielraum, wann und ob überhaupt eine Krebserkrankung auftritt. Wenn von krebserregenden Substanzen die Rede ist, denkt man dabei insbesondere an klassische Karzinogene, die in der Lage sind, unsere Erbinformation direkt durch Mutationen zu schädigen. Solche Mutationen sind für die meisten Menschen gleichbedeutend mit einer dauerhaften und irreversiblen Schädigung des Erbguts – einem offenbar gravierenden Ereignis. In Wirklichkeit ist die Wirkung dieser klassischen Karzinogene häufig wesentlich geringer, als unsere Intuition vermuten lässt. Dies liegt an den extrem zuverlässigen Schutzmechanismen unseres Körpers, die uns vor der Ansammlung dauerhafter Schäden im Laufe des Lebens bewahren. Auch ohne den Kontakt mit Karzinogenen entstehen in jeder einzelnen Zelle unseres Körpers täglich tausende DNA-Mutationen, die in erster Linie durch Stoffwechselprodukte verursacht werden. Da die meisten DNA-Mutationen also durch Substanzen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_5

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aus unserem eigenen Körper verursacht werden, haben wir auf diese Mutationen so gut wie keinen Einfluss. Tatsächlich gelang es bisher nur bei wenigen Krebserkrankungen, einen ursächlichen Zusammenhang mit bestimmten Karzinogenen herzustellen, wie beispielsweise zwischen Zigarettenrauch und Lungenkrebs. Gleichzeitig unterschätzen wir häufig Lebensgewohnheiten oder Substanzen, die eine starke krebsfördernde Wirkung haben. Krebsförderer können die Entstehung von Krebs auf unterschiedlichste Weise begünstigen – ganz ohne DNA-Mutationen zu verursachen. In diesem Kapitel erklären wir, welche Umwelteinflüsse und Erkrankungen als Krebsförderer wirken können.

Mutationen sind nicht genug Lange Zeit vermutete man, dass Krebs lediglich eine unglückliche Folge von vereinzelten oder mehreren Mutationen in Genen ist, die für die Kontrolle des Zellwachstums wichtig sind. Eine Zelle mit solchen genetischen Veränderungen vermehrt sich unkontrolliert und führt nach einer gewissen Zeit zur Ausbildung eines klinisch sichtbaren Tumors. Dementsprechend überraschend waren die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, die leider auch heute noch kaum in unserer Gesellschaft angelangt sind. Um Krebserkrankungen besser zu verstehen und zu heilen, wurden genetisch veränderte Mäuse erzeugt, die scheinbar krebsverursachende Mutationen in ihrem Erbgut tragen. Diese Mutationen wurden zuvor in menschlichen Tumoren identifiziert und nachweislich für das unkontrollierte Wachstum der Krebszellen verantwortlich gemacht. Erstaunlicherweise entwickelten jedoch nur wenige dieser Mäuse überhaupt Tumore, die zudem auf bestimmte Organsysteme beschränkt waren. Dies sorgte unter Wissenschaftlern für große Verwunderung, denn schließlich trugen die Mäuse die verantwortliche DNAMutation in jeder einzelnen Zelle ihres Köpers. Genetische Veränderungen waren alleine anscheinend nicht ausreichend, um zuverlässig Krebserkrankungen zu verursachen. In den Organen, in denen es gelang, musste noch ein weiterer unbekannter Faktor hinzukommen, der das Krebswachstum ermöglicht. Auch bei uns Menschen scheinen einzelne genetische Mutationen selten auszureichen. Menschliche Zellen benötigen ungefähr fünf bedeutende genetische Veränderungen, um zu einer ernsthaften Gefahr für unser Leben zu werden. Aber selbst die Ansammlung von mehreren genetischen Mutationen im Laufe eines langen Menschenlebens ist keine ausreichende wissenschaftliche Erklärung für die Entstehung der meisten Krebserkrankungen. Der Grund ist die extreme Zuverlässigkeit unserer

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DNA-Reparatur und der anderen, nachgeschalteten Sicherheitsnetze, zu denen unter anderem die Seneszenz von Zellen und unser Immunsystem zählen. Genetische Mutationen können lediglich der Startpunkt für die Entstehung von Krebserkrankungen sein. Damit sich aus diesen genetischen Veränderungen zu Lebzeiten ein bösartiger Tumor entwickeln kann, bedarf es jedoch in fast allen Fällen der Wirkung krebsfördernder Umwelteinflüsse, Lebensgewohnheiten oder Erkrankungen. Zum besseren Verständnis reservieren wir den Begriff „krebserregend“ für solche Substanzen, die genetische Veränderungen in Form von DNA-Mutationen oder -Brüchen verursachen (z. B. Karzinogene oder UV-Strahlung). Substanzen und Umwelteinflüsse, die hingegen das Wachstumsverhalten und Überleben von Krebszellen beeinflussen, ohne direkte Schäden an der Erbinformation zu verursachen, bezeichnen wir als „Krebsförderer“ oder „krebsfördernd“ (wissenschaftlich werden sie Tumorpromotoren genannt). Da Krebsförderer meist dauerhaft auf unsere Gewebe einwirken, die neben gesunden Körperzellen auch Zellen mit verschiedensten genetischen Schädigungen enthalten, geht von ihnen ein deutlich höheres Gefährdungspotenzial aus als von dem vereinzelten Kontakt mit Karzinogenen. Auf den Punkt Karzinogene können Genmutationen in unserem Erbgut verursachen und gelten daher als „krebserregend“. DNA-Mutationen alleine sind jedoch nur sehr selten in der Lage, Krebserkrankungen zu verursachen. Erst wenn das Überleben und Wachstum von Zellen mit gefährlichen DNA-Mutationen durch krebsfördernde Umwelteinflüsse oder Erkrankungen dauerhaft gefördert wird, steigt das Risiko, an Krebs zu erkranken, deutlich. Die Identifizierung von Krebsförderern ist im Vergleich zu Karzinogenen schwierig, da ihre Beschaffenheit und Wirkungsweise sehr verschieden sein können.

Krebsförderer sind also besonders gefährlich für unsere Gesundheit, da sie die Krebsentstehung aus bereits geschädigten, aber ansonsten noch unauffälligen Körperzellen begünstigen. Krebsförderer zu identifizieren ist schwierig, da sie sehr unterschiedlich sind und alle eine individuelle Wirkungsweise besitzen. Man kann Stoffe also nicht einfach auf eine krebsfördernde Wirkung testen, indem man sie in der Zellkultur auf Zellen „wirft“, sondern muss sie stets im Gesamtkontext eines Organismus betrachten. Epidemiologische Studien waren in den letzten Jahrzehnten besonders hilfreich dabei, Krebsförderer überall dort aufzuspüren und zu untersuchen, wo Krebserkrankungen gehäuft mit gewissen Lebensgewohnheiten oder Begleiterkrankungen auftraten.

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Abb. 1 Bekannte Krebsförderer und ihr Wirkungsort in unserm Körper. Die Daten wurden übernommen und ergänzt aus Preston-Martin et al. (1990), Balkwill et al. (2005) und Weinberg (2014). Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

Inzwischen ist bekannt, dass Übergewicht, Hormone, Entzündungen, Medikamente, Infektionen, Chemikalien und physikalische oder chemische Reize als Krebsförderer agieren können. Einige Beispiele für Krebsförderer sind in Abb. 1 dargestellt. Besonders eindrucksvoll lässt sich das Zusammenspiel von Karzinogenen und Krebsförderern an einer Krebserkrankung des Mund- und Rachenraums beobachten, die vermehrt bei starken Rauchern auftritt. Zigarettenrauch enthält etwa 60 krebserregende Substanzen, die Mutationen in der DNA verursachen können. Nun aber folgt eine interessante und wichtige Tatsache, die kaum jemand weiß: Das Risiko, an Krebs im Mund- und Rachenraum zu erkranken, ist bei starken Rauchern, die zusätzlich regelmäßig hochprozentigen Alkohol trinken, 100-fach (!) erhöht im Vergleich zu Rauchern, die keinen hochprozentigen Alkohol trinken. Alkohol ist selbst kein klassisches Karzinogen und daher nicht in der Lage, DNA-Mutationen zu verursachen. Zwar wird Alkohol in der Leber zu Acetaldehyd und Formaldehyd verstoffwechselt, die dort eine lokale karzinogene Wirkung haben,

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jedoch spielen diese Stoffwechselprodukte bei der Aufnahme über den Mundund Halsbereich noch keine Rolle. Stattdessen tötet hochprozentiger Alkohol hier in hohen Konzentrationen die oberste Zellschicht, die den Mund und Rachenraum auskleidet. Die berühmte desinfizierende Wirkung von 50bis 70-prozentigem Alkohol beruht nämlich auf seiner Fähigkeit, Zellen zum Platzen zu bringen. Auf den Verlust der obersten schützenden Zellschicht reagieren die tieferliegenden Zellschichten mit einer erhöhten Teilungsrate, um die verloren gegangenen Zellen zu ersetzten. Diese stimulierende Wirkung auf das Zellwachstum ist ausreichend, um das Krebsrisiko zu verhundertfachen (Weinberg 2014). Der Alkohol übernimmt in diesem Fall die Rolle eines Krebsförderers. Dieses Beispiel veranschaulicht, wie zuverlässig die Schutzmechanismen unseres Körpers uns vor Karzinogenen schützen. Gleichzeitig verdeutlicht es, wie zerstörerisch Krebsförderer auf diese Kontrollinstanzen wirken. Wo wir gerade beim Thema Alkohol sind, möchten wir bei dieser Gelegenheit noch über eine weitere wichtige und weitestgehend ignorierte Tatsache zu diesem Thema informieren. Die Leber gilt bekanntermaßen als Abbauort für Medikamente, Stoffwechselprodukte und auch Alkohol. Mithilfe des Enzyms Alkoholdehydrogenase, das in der Leber produziert wird, wird Alkohol zu Acetaldehyd abgebaut. Acetaldehyd ist ein Karzinogen und erhöht das Leberkrebsrisiko. Allerdings wird Alkohol nicht nur in der Leber abgebaut. Es existiert ein weiteres Gewebe, in dem die Alkoholdehydrogenase produziert wird und Alkohol zu Acetaldehyd abbaut, und das ist das Gewebe der Brust. Alkoholkonsum ist ein wichtiger Risikofaktor für die Entstehung von Brustkrebs und sollte daher in die Risikoabwägung miteinbezogen werden (Britt et al. 2020).

Hormone als Krebsförderer Das weibliche Sexualhormon Östrogen wirkt als Krebsförderer auf Brustepithelzellen. Hormonale Verhütungsmittel und Hormonersatztherapien, die Östrogen enthalten, sind daher mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko nach den Wechseljahren assoziiert, ebenso wie Übergewicht, da Östrogen im Fettgewebe produziert wird. Es wird geschätzt, dass jährlich etwa eine Million der insgesamt 20 Mio. Brustkrebsfälle durch Hormonersatztheraphien nach den Wechseljahren verursacht werden. Orale Verhütungsmittel (ugs. Anti-BabyPille) steigern das Brustkrebsrisiko um 24 %, das sich erst zehn Jahre nach dem Absetzen wieder normalisiert (Britt et al. 2020). In Übereinstimmung mit diesen Daten senkt auch eine operative Entfernung der Eierstöcke, die für

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einen Großteil der Östrogenproduktion zuständig sind, das Brustkrebsrisiko um 90 % (Östrogen wird zu einem geringeren Teil auch in der Nebennierenrinde produziert). Der Östrogenspiegel im Blut von Frauen, die nach den Wechseljahren an Brustkrebs erkranken, ist im Schnitt um 15 % höher als bei gesunden Frauen (Weinberg 2014). Allgemein gilt, dass das Brustkrebsrisiko umso geringer ist, je weniger Menstruationszyklen eine Frau in ihrem Leben durchlaufen hat. Folglich sind sowohl ein spätes Einsetzen der ersten Regelblutung als auch häufige Schwangerschaften, eine lange Stillzeit und ein frühes Einsetzen der Wechseljahre mit einem deutlich niedrigeren Brustkrebsrisiko assoziiert. Im letzten Jahrhundert hat sich das Einsetzen der ersten Regelblutung und damit der Beginn der Fruchtbarkeit bei Frauen immer weiter nach vorne verschoben. Gleichzeitig kommen Frauen aber auch immer später in die Wechseljahre. Inzwischen liegt das Durchschnittsalter für die erste Regelblutung bei 12 Jahren, und die Menopause tritt gewöhnlich mit 51,4 Jahren ein. Mit jedem Jahr, um das sich der Eintritt der Menopause verspätet, steigt das relative Brustkrebsrisiko um 2,9 % an (Britt et al. 2020). Da Schwangerschaft und Stillzeit den Östrogenspiegel phasenweise senken, galt Brustkrebs im 19. Jahrhundert als typische Plage in italienischen Nonnenklöstern, während die Bevölkerung in Folge der damals hohen Geburtszahlen weitestgehend verschont blieb (Weinberg 2014). Heutzutage spielen vor allem unsere Ernährung und unsere Lebensweise eine wichtige Rolle für das persönliche Brustkrebsrisiko. Sowohl Übergewicht als auch Bewegungsmangel führen bei Männern und Frauen zu einer erhöhten Produktion von Sexualhormonen, die in unserem Blut nachweisbar sind und wachstumsfördernd auf Gewebe und Organe wie Brust oder Prostata wirken. Auch Männer können an Brustkrebs erkranken – allerdings deutlich seltener, mit lediglich 651 Neuerkrankungen pro Jahr im Vergleich zu den ungefähr 70.000 Neuerkrankungen bei Frauen in Deutschland (DKFZ 2019). Männer besitzen ebenfalls Brustdrüsengewebe und produzieren auch niedrige Östrogenmengen. Zusätzlich kann das männliche Sexualhormon Testosteron im Fettgewebe enzymatisch in Östrogen umgewandelt werden, weshalb das Brustkrebsrisiko auch bei männlichen Patienten mit einer Zunahme des Körpergewichts ansteigt. Östrogen wirkt krebsfördernd, indem es das Wachstum von Zellen in der Brust und der Gebärmutter über den Östrogen-Rezeptor stimuliert. Seine volle krebsfördernde Wirkung entfacht Östrogen allerdings erst in Kombination mit genetisch vorbelasteten Zellen – unabhängig davon, ob die genetischen Schäden angeboren sind oder erst im Laufe des Lebens er-

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worben wurden. Folglich wirkt Östrogen auch in solchen Patientengruppen krebsfördernd, die Träger einer erblichen Genmutation wie beispielsweise BRCA1 oder BRCA2 sind. Obwohl diese Genmutationen ein wichtiges DNA-Reparatur-Enzym schädigen und in jeder einzelnen Körperzelle ihres Trägers vorhanden sind, können sie nur unter dem Einfluss von Östrogenen in der Brust und in der Gebärmutter zu Krebserkrankungen führen. Der Grund dafür ist, dass Epithelzellen der Brust und der Gebärmutter ein Oberflächenmolekül produzieren, das Östrogen bindet: den Östrogen-Rezeptor, der das Wachstumssignal an den Zellkern weiterleitet. Während manche Träger einer BRCA1- oder BRCA2-Mutation im Laufe ihres gesamten Lebens nicht erkranken, tritt bei anderen bereits in sehr jungen Jahren eine Krebserkrankung auf. Letzten Endes sind es die Krebsförderer, die darüber entscheiden, wie schnell eine genetische Veranlagung in Form einer Krebserkrankung zu Tage tritt und ob sie es überhaupt schafft. Eine bedeutende wissenschaftliche Studie zeigte, dass sich das Brustkrebsrisiko für Trägerinnen der erblichen Form von Brustkrebs (BRCA1 und BRCA2) im letzten Jahrhundert mehr als verdoppelt hat (King et al. 2003). Die Autoren der Studie führen diesen Anstieg des Erkrankungsrisikos bei Frauen, die nach 1940 geboren wurden, insbesondere auf Übergewicht und Bewegungsmangel zurück. Interessanterweise können Sexualhormone auch das Verhalten von Immunzellen beeinflussen. Östrogen beispielsweise wirkt stimulierend auf Immunzellen und ist vermutlich dafür verantwortlich, dass Frauen ein höheres Risiko für Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose haben. Einige chemische Verbindungen haben eine Östrogen-ähnliche Wirkung. Dazu gehört Bisphenol A (BPA), das als Ausgangsstoff für die Herstellung von Kunststoffen dient. Über Trinkflaschen und Thermopapiere wie Kassenbons gelangt Bisphenol A in unseren Körper und in die Umwelt. Aufgrund der krebsfördernden Funktion von Östrogenen, kann Bisphenol A bei dauerhaft hoher Exposition unseren Hormonhaushalt stören und das Krebsrisiko erhöhen.

Krebsfördernde Entzündungen und Infektionen Entzündungen können als mächtige Krebsförderer in bestimmten Organen oder im gesamten Körper wirken. Sie nehmen eine besondere Stellung unter den Krebsförderern ein, da sie neben ihrer wachstumsstimulierenden Wirkung auch DNA-Schäden durch reaktive Sauerstoffverbindungen (ROS) verursachen können. Besonders gefährlich sind Entzündungsreaktionen, wenn sie

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in Folge von Erkrankungen und Infektionen jahrzehntelang bestehen bleiben. Infektionen mit Hepatitis-B-Viren beispielsweise bleiben oft lange Zeit unbemerkt, da sie meist nur milde oder keine Symptome verursachen. Dennoch verhundertfachen sie das Leberkrebsrisiko, denn die Vermehrung der Viren führt zum Absterben von Leberzellen, die regelmäßig durch neue Leberzellen ersetzt werden müssen. Der Tod der Leberzellen regt die Zellen in der Nachbarschaft zur Teilung an und lockt Immunzellen in die Leber, die versuchen, die Zelltrümmer zu beseitigen und virusinfizierte Leberzellen zu töten. Gelingt es dem Immunsystem nicht, das Virus zu besiegen, was bei ungefähr 10 % der infizierten Patienten der Fall ist, etabliert sich eine chronische Leberentzündung (Hepatitis), die krebsfördernd wirkt und die Entstehung eines hepatozellulären Karzinoms begünstigt. Die Hepatitis-B-Virus-Infektion ist in diesem Fall der Krebsförderer, da sie das Wachstum von Leberzellen anregt, inklusive der Zellen, die bereits genetische Veränderungen tragen. Dabei werden die Leberzellen nicht nur durch das Absterben benachbarter Zellen zur Teilung angeregt, sondern auch durch Signalmoleküle und Wachstumsfaktoren der Immunzellen. Als mächtiger Krebsförderer ist das Hepatitis-B-Virus weltweit für mindestens 50 % aller Leberkrebsfälle verantwortlich (Mittal und El-Serag 2013). Obwohl seit beinahe 30 Jahren eine Impfung gegen Hepatitis-B-Viren existiert, ist virale Hepatitis vor allem in Entwicklungsländern noch immer weit verbreitet. In westlichen Ländern sind nicht Viren, sondern starker Alkoholkonsum und eine Fettleber die Hauptrisikofaktoren für die Entstehung von Leberkrebs. Mittlerweile sind 14–27 % der Bevölkerung von einer Fettleber betroffen, die ebenfalls von einer starken Entzündungsreaktion begleitet wird (Weiß et al. 2014). Je stärker die begleitende Entzündung ausfällt, desto größer ist das Risiko, dass eine Fettleber in eine Leberzirrhose oder Leberkrebs übergeht. In Mausexperimenten konnte gezeigt werden, dass eine Fettleber nicht zu einer Krebserkrankung fortschreiten kann, wenn den Mäusen bestimmte Zelltypen des Immunsystems fehlen: sogenannte CD8 T-Zellen und NKT-Zellen (Wolf et al. 2014). Diese Zellen scheinen also für die Produktion von krebsfördernden Botenstoffen verantwortlich zu sein, die in Zukunft möglicherweise medikamentös gestoppt werden können. Es ist noch nicht endgültig geklärt, warum Fettlebererkrankungen überhaupt von Entzündungsreaktionen begleitet werden. Vermutlich stören große Fetteinlagerungen Vorgänge im Inneren der Leberzellen oder führen zu deren Absterben. Ähnlich wie im Fall einer viralen Hepatitis müssen die abgestorbenen Zellen durch benachbarte Zellen ersetzt werden. Da aber ohne die entscheidenden Immunzelltypen aus einer Fettleber keine Krebserkrankung

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entstehen kann, scheint neben der erhöhten Teilungsrate noch ein anderer wichtiger Faktor zu existieren. Als Kandidaten kommen bestimmte Fettsäuren aus der Nahrung in Frage, die Immunzellen möglicherweise direkt aktivieren und zur Produktion von krebsfördernden Substanzen anregen. Ebenso könnten einige Nahrungsbestandteile bereits im Darm von Immunzellen als Gefahrensignale wahrgenommen werden und von dort aus eine systemische Entzündungsreaktion verursachen. Es ist auch möglich, dass eine bestimmte Zusammensetzung der Darmflora in manchen Menschen zur Produktion besonders entzündungsfördernder Fettsäuren führt, die den Übergang einer Fettleber zu Leberkrebs begünstigen. Noch unklar ist, ob eine fruchtzuckerreiche Ernährung ebenfalls eine Rolle bei der Entstehung von Leberkrebs spielt. Fruchtzucker wird vermehrt anstelle von herkömmlichen Industriezuckern verwendet, meistens in Form von Fruktose oder Fruktose-Sirup. Da unser Körper Fruchtzucker in Zucker umwandeln kann, ist ein hoher Konsum von Fruchtzucker wahrscheinlich ebenfalls bedenklich. Fettlebererkrankungen werden oft erst spät diagnostiziert, weil sie anfänglich kaum Beschwerden bereiten und sich erst im fortgeschrittenen Stadium durch Völlegefühl und leichten Druck im Oberbauch bemerkbar machen. Wird eine Fettleber nicht frühzeitig erkannt und durch eine spezielle „Fettleberdiät“ geheilt, geht sie in eine andauernde Leberentzündung (Hepatitis) über, die das Lebergewebe zerstört und krebsfördernd wirkt. Diese hochgefährliche Stufe nennt sich „Zirrhose“, angelehnt an das griechische Wort kirros, das „gelbbraun“ bedeutet und auf die gelbliche Farbe der körnigen Verhärtungen des Gewebes hinweist. Die Fettleber als Ursache für Leberkrebs ist ein typisches Beispiel für eine Krebserkrankung, die bei früher Diagnose der Vorstufen (Fettleber, Hepatitis und Zirrhose) verhindert oder besser therapiert werden könnte.

Die krebsfördernde Wirkung der Darmflora Bereits kurz nach der Geburt ist die gesamte innere und äußere Oberfläche unseres Körpers von Mikroorganismen besiedelt. Diese Mikroorganismen helfen uns bei vielen Körperfunktionen, wie beispielsweise der Verdauung, und schützen uns vor Krankheitserregern, indem sie diesen schlichtweg keinen Platz lassen. Unser Körper lebt normalerweise mit diesen Mikroorganismen friedlich in einem Zustand der Symbiose. Erst wenn diese Symbiose durch eine veränderte Mikrobenzusammensetzung oder eine krankhafte Überreaktion des Immunsystems gestört wird, kann unsere körpereigene Darmflora

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zum Krebsförderer werden. Besonders interessant sind deshalb Experimente mit „keimfreien“ Mäusen und Ratten, die unter sterilen Bedingungen gehalten werden und keine Darmmikroben besitzen. Keimfreie Mäuse haben ein deutlich reduziertes Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, wenn sie chemischen Karzinogenen ausgesetzt werden oder angeborene genetische Mutationen tragen (Yoon und Kim 2018). Diese Daten zeigen, wie wichtig die Interaktion zwischen Darmmikroben und Immunzellen für die Aufrechterhaltung krebsfördernder Entzündungen ist. Menschen, die an einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung leiden, haben ein 20-prozentiges Risiko, im Laufe ihres Lebens an Darmkrebs zu erkranken. Vermutlich entstehen diese Darmerkrankungen infolge einer genetischen Veranlagung und einer Überreaktion des Immunsystems auf eine veränderte Darmflora. Wir können die Zusammensetzung unserer Darmflora durch unsere Ernährung und Medikamente beeinflussen. Beispielsweise töten Antibiotika auch nützliche Darmbakterien und schaffen somit Siedlungsraum für weniger wohlgesinnte Artgenossen. Der sorglose Antibiotikaeinsatz in der Fleischindustrie ist besonders bedenklich, denn er fördert nicht nur unnötige Antibiotika-Resistenzen, sondern kann auch die Zusammensetzung unserer Darmflora dauerhaft verändern. Resistente Darmkeime und Antibiotika aus der Tierhaltung gelangen in Form von Gülle auf landwirtschaftlich genutzte Anbauflächen. Auf diesem Weg wurde auch das gefährliche Darmbakterium „EHEC“ (Entero-Hämorrhagische Escherichia Coli) über Salatsprossen auf den Menschen übertragen. Neben diesen Extremfällen, die sich durch starke Krankheitssymptome bemerkbar machen, gelangen vermutlich auch viele andere fremdartige Darmbakterien in unseren Körper, die das Gleichgewicht unserer Darmflora stören und möglicherweise bereits gegen Antibiotika resistent sind. Eine gestörte Darmflora macht nicht nur Platz für fremde Keime, sondern begünstigt auch die Entstehung von krebsfördernden Darmentzündungen. Der großzügige Umgang unserer Gesellschaft mit Kaiserschnittentbindungen und hochdosierten Antibiotikagaben während der Geburt zur Prophylaxe von sehr seltenen Komplikationen ist in diesem Zusammenhang bedenklich. Wir werden direkt nach der Geburt von den Mikroben besiedelt, mit denen wir zuerst in Berührung kommen. Eine Studie zeigte, dass Kinder, die vaginal geboren wurden, bereits kurz nach der Geburt vollständig mit den Mikroben aus der Vaginalschleimhaut ihrer Mutter besiedelt waren. Sie konnten sogar anhand ihrer Mikroben-Zusammensetzung ihren Müttern zugeordnet werden. Bei Kaiserschnittkindern war dies nicht möglich, da sie mit Hautbakterien besiedelt waren, die sich weder der Mutter noch einer anderen bestimmten Person zuordnen ließen (Dominguez-Bello et al. 2010).

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Im Vergleich zu vaginal geborenen Kindern haben Kaiserschnittkinder ein erhöhtes Risiko für Allergien, entzündliche Erkrankungen und Stoffwechselstörungen (Dominguez-Bello et al. 2016). Der Einsatz von Antibiotika während der Geburt ist in vielen Ländern und auch in Deutschland bei einigen medizinischen Indikationen üblich, beispielsweise bei einem positiven Streptokokken-B-Abstrich. Dies könnte allerdings die positiven gesundheitlichen Effekte einer vaginalen Geburt reduzieren. Zur Minimierung eines sehr seltenen Risikos im reif geborenen Kind wird ein unüberschaubares Risiko mit vermutlich lebenslangen Auswirkungen in Kauf genommen. Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es sein kann, krebsfördernden Lebensumständen zu entkommen. Auf den Punkt Krebsförderer können von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit sein. Neben Hormonen, Infektionen, Nahrungsbestandteilen, entzündlichen Erkrankungen, Medikamenten und physikalischen oder chemischen Reizen kann auch unsere Darmflora als Krebsförderer agieren. In der Anwesenheit von vorgeschädigten Zellen können diese Krebsförderer das Krebsrisiko an ihrem jeweiligen Wirkungsort enorm steigern.

In dem Kapitel „Ernährung und Darmkrebs“ werden wir uns noch etwas genauer damit beschäftigen, welche Zusatzstoffe in Lebensmitteln die schützende Darmschleimhaut schädigen und auf diese Weise krebsfördernde Entzündungsantworten gegen unsere Darmmikroben provozieren. Genetische Mutationen dienen dabei als Grundlage für das Krebswachstum. Diese können sowohl angeboren sein als auch spontan durch Nahrungsmittelkarzinogene oder Entzündungsstoffe von Immunzellen verursacht werden.

Erkrankungen als Krebsförderer Krebsförderer können auch in Form von Erkrankungen in Erscheinung treten. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine erbliche Form der Bauchspeicheldrüsenentzündung (Pankreatitis). Die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) stellt unsere Verdauungsenzyme her und gibt sie bei Bedarf in den Zwölffingerdarm ab. Normalerweise werden die Verdauungsenzyme erst hier aktiviert, um Proteine, Fette und Kohlenhydrate in der Nahrung aufzuspalten. Bei der erblichen Form der Bauchspeicheldrüsenentzündung ist eines dieser Verdauungsenzyme (Trypsin) schon in der Bauchspeicheldrüse aktiv und verursacht eine Selbstver-

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dauung des Gewebes. Durch diesen andauernden Gewebeschaden wird eine Entzündung und Wundheilungsreaktion ausgelöst, die bei 40 % der betroffenen Patienten zur Entwicklung eines bösartigen Pankreaskarzinoms führt (Weinberg 2014). Die meisten anderen, nicht-erblichen Formen der Bauchspeicheldrüsenentzündung sind wesentlich milder und werden häufig nicht einmal bemerkt. Sie werden durch einen hohen Alkoholkonsum, Gallensteine oder bestimmte Fettsäuren im Blut verursacht (Triglyzeride). Aber auch diese milderen Formen der Bauchspeicheldrüsenentzündung können krebsfördernd wirken. Eine weitere krebsfördernde Erkrankung ist die primär sklerosierende Cholangitis (PSC), bei der die Gallenwege durch eine dauerhafte Entzündung vernarben und verdicken, was zu einem Rückstau der Galle in die Gallenblase führt. 85 % der Patienten leiden zusätzlich unter einer entzündlichen Darmerkrankung, allerdings ist nicht bekannt, wodurch PSC verursacht wird und weshalb sie vor allem in Verbindung mit entzündlichen Darmerkrankungen auftritt. In 5–10 % der Patienten mit PSC entwickelt sich unter dem Einfluss der chronischen Entzündung ein gefährliches Gallengangskarzinom. PSC-Patienten müssen sich aus diesem Grund regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen unterziehen. Die primär biliäre Cholangitis (PBC) ist eine autoimmune Lebererkrankung, deren Ursachen bis heute ebenfalls unbekannt sind. Ähnlich wie bei der PSC betrifft die Entzündung vor allem die Gallengänge, die auf Dauer vernarben. Jedoch kann die Erkrankung auch auf die ganze Leber übergreifen und eine Leberzirrhose verursachen, die als bekannter Risikofaktor für Leberkrebs gilt. Die autoimmune Hepatitis (AIH) ist eine weitere Autoimmunkrankheit der Leber, die unbehandelt zu akutem Leberversagen und zum Tod führt. Hier greift ebenfalls das Immunsystem fälschlicherweise gesunde Leberzellen an, was die Ursache für eine Hepatitis ist, die sich unbehandelt zu einer Leberzirrhose entwickelt. Hepatitis und Leberzirrhose sind starke Krebsförderer, und Patienten mit AIH haben ein deutlich erhöhtes Leberkrebsrisiko. Da die Ursachen der AIH bisher nicht bekannt sind, bleibt Ärzten, wie bei so vielen anderen Autoimmunerkrankungen, nur die Möglichkeit, das Immunsystem medikamentös zu unterdrücken – beispielsweise durch Kortison-Präparate. Chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa wirken als potente Krebsförderer im Darm. Wir haben diese beiden entzündlichen Darmerkrankungen bereits in dem Kapitel über das Immunsystem und Krebs als besonders gefährliche Krebsförderer vorgestellt. Sie können Darmepithelzellen schädigen und gleichzeitig durch Wachstumsfaktoren zur Vermehrung anregen. Autoimmunerkrankungen gelten bisher als

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unheilbar, und es ist nicht bekannt, auf welche Weise sie entstehen. Dies erschwert die Prävention von Krebserkrankungen, die durch Autoimmunerkrankungen begünstigt werden. Eine rechtzeitige Diagnose, engmaschige Überwachung und wirksame Therapien sind bei diesen Erkrankungen daher umso wichtiger.

Physikalische Reize als Krebsförderer Auch physikalische Reize können, wenn sie dauerhaft bestehen, das Krebsrisiko in dem betroffenen Organ steigern. Ein häufiges Beispiel für einen solchen Reiz sind Gallensteine, die über viele Jahre die Entstehung von bösartigen Gallenblasenkarzinomen begünstigen. Der Krebsförderer ist auch in diesem Fall eine andauernde Schädigung der auskleidenden Zellschicht der Gallenblase, die Zellen zur Vermehrung anregt. Wie in den vorherigen Beispielen erhöht diese Wundheilungsreaktion das Risiko, dass genetisch vorbelastete Zellen entarten (Weinberg 2014). Laborexperimente haben mehrfach gezeigt, wie unterschiedlich Krebsförderer sein können. Ein interessantes Beispiel für einen physikalischen Krebsförderer stammt aus Studien, in denen Wissenschaftler untersucht haben, unter welchen Bedingungen die Darmkrebszellen von Mäusen in anderen genetisch identischen Mäusen weiterwachsen. In dem Kapitel über das Immunsystem haben wir erklärt, dass dies prinzipiell möglich ist – allerdings nur in genetisch identischen Artgenossen, da sie dieselben Ausweis-Proteine besitzen. Der Zweck dieser Studien mag auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen. Tatsächlich zeigten diese Studien aber, wie wichtig auch die Umgebung eines Tumors für dessen Wachstum ist. Den Darmkrebszellen gelang es nämlich interessanterweise nicht, in anderen genetisch identischen Mäusen weiterzuwachsen. Erst als die Wissenschaftler die Darmkrebszellen zusammen mit einem kleinen Plastikstückchen einpflanzten, wuchsen diese auch in anderen Mäusen weiter (Weinberg 2014). In diesem Fall war das Plastikstückchen ausreichend, um eine krebsfördernde Entzündungsreaktion zu verursachen (Brand et al. 1975; Moizhess 2008). Fremdkörper wie Plastik, Implantate oder Projektile verursachen an ihren Kontaktstellen mit dem Bindegewebe chronische Entzündungen, die das Risiko für eine bösartige Krebserkrankung des Bindegewebes erhöhen, das sogenannte fibröse Histiozytom (Moizhess 2008). Aus diesen Beobachtungen ergibt sich die offensichtliche Frage, welche Rolle Plastikpartikel aus unserer Umwelt, wie beispielsweise Mikroplastik (< 5 mm) oder Nanoplastik (< 100 nm) spielen, wenn sie unbeabsichtigt in unseren Körper gelangen.

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Die aufschlussreichsten Daten zu dieser Fragestellung stammen aus Untersuchungen an Fischen, die über verunreinigtes Meerwasser regelmäßig kleinste Plastikpartikel aufnehmen. Die meisten Mikroplastikpartikel befinden sich nur kurzzeitig im Magendarmtrakt von Fischen und werden nahezu vollständig wieder ausgeschieden. Große Mengen an Mikroplastik können allerdings zu Darmverschlüssen und Verletzungen führen, wodurch sich das Darmgewebe auf mikroskopischer Ebene verändert. Besonders kleine Mikroplastikpartikel können im Darm aufgenommen und ebenso wie Nährstoffe in die Leber transportiert werden. In Fischen verursacht die Aufnahme von Mikroplastik auch Verhaltensänderungen und Veränderungen im Fettstoffwechsel (Jovanović 2017). Da Plastikpartikel eine extrem lange Haltbarkeit haben, wird sich Mikroplastik in Zukunft über die Nahrungskette auch im Menschen anreichern. Welche Auswirkungen das auf den menschlichen Stoffwechsel und möglicherweise sogar Krebserkrankungen haben wird, ist bisher nicht bekannt (Sharma und Chatterjee 2017).

Krebstherapie als Krebsförderer Es ist mittlerweile traurige Gewissheit, dass selbst eine Krebstherapie die Rolle eines Krebsförderers übernehmen kann. Dies scheint insbesondere für die operative Entfernung von Brusttumoren zuzutreffen, da die meisten Rückfälle bei Brustkrebserkrankungen exakt drei Jahre nach der operativen Entfernung des Primärtumors beobachtet werden. Der operative Eingriff verursacht eine Verletzung, auf die der Körper mit einer starken Wundheilungsreaktion reagiert. Unzählige Wachstumsfaktoren und Entzündungsstoffe regen dabei die verbliebenen Zellen zum Wachstum an, um die Wunden wieder zu verschließen. Die Menge und Art dieser krebsfördernden Substanzen wurde direkt im Wundsekret nachgewiesen, das nach operativen Entfernungen von Brusttumoren drainiert wurde (Ramolu et al. 2014; Wang et al. 2015). Die im Rahmen der Wundheilungsreaktion produzierten Substanzen wirken als Krebsförderer auf möglicherweise im Gewebe zurückgebliebene mikroskopisch kleine Tumorzellansammlungen, sogenannte Mikrometastasen. In einer Studie konnte das Rückfallrisiko um 50 % gesenkt werden, wenn nach der operativen Entfernung des Brusttumors eine Chemotherapie durchgeführt wurde. Dies beweist, dass versteckte Krebszellen durch die krebsfördernde Wirkung einer Operation zum Wachstum angeregt werden können (Weinberg 2014). Die potenziell krebsfördernde Wirkung des operativen Eingriffs und die Möglich-

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keit von zurückgebliebenen Tumorzellansammlungen sollte bei jeder Krebstherapie berücksichtigt werden. Wir möchten den Leser an dieser Stelle darauf hinweisen, dass solche Informationen ein hohes Potenzial haben, von sogenannten Wunderheilern als Argument gegen eine herkömmliche Krebstherapie verwendet zu werden. Diese Daten bedeuten jedoch nicht, dass auf die empfohlene operative Entfernung eines bösartigen Tumors verzichtet werden sollte, sondern dass eine zusätzliche, „operationsbegleitende“ Chemotherapie eine deutliche Verbesserung der Überlebenschancen von Krebspatienten bewirken kann. Ärzte müssen sichergehen, dass keine Krebszellen zurückbleiben, damit sich der enorm schmerzhafte Eingriff einer operativen Behandlung für Krebspatienten wirklich lohnt.

Krebsförderer geben das Tempo an Es ist eine interessante Frage, warum nicht alle Entzündungsreaktionen im Körper die Entstehung von Krebserkrankungen in den betroffenen Organen fördern. Beispielsweise gehen Arthritis (eine entzündliche Erkrankung der Gelenke), Multiple Sklerose (eine Autoimmunerkrankung gegen den Myelinbestandteil von Nervenzellen) oder Nephritis (eine Nierenentzündung) nicht mit einem erhöhten Krebsrisiko einher. Anscheinend agieren Entzündungen insbesondere in solchen Organen als Krebsförderer, die in Kontakt mit unserer Umwelt stehen, wie beispielsweise Magen, Darm oder Lunge. In diesen Organen können Karzinogene aus der Umwelt genetische Veränderungen verursachen, die als Ausgangspunkt für die Entstehung von Krebserkrankungen dienen (Grivennikov et al. 2010). Die alleinige Wirkung von Krebsförderern ist daher ähnlich gering wie die alleinige Wirkung von vereinzelten DNAMutationen durch Karzinogene. Erst im Zusammenspiel können Karzinogene und Krebsförderer ihr tödliches Potenzial entfalten. Auf den Punkt Nicht alle entzündlichen Erkrankungen erhöhen das Krebsrisiko. Krebsförderer können nur in Anwesenheit von genetisch geschädigten Zellen wirken. Dies ist vermutlich der Grund dafür, warum Entzündungen die Krebsentstehung vermehrt in solchen Organen fördern, die in Kontakt mit der Umwelt stehen. Die alleinige Wirkung von Krebsförderern ist ähnlich gering wie die alleinige Wirkung von vereinzelten DNA-Mutationen durch Karzinogene.

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Abb. 2 Krebsentstehung als mehrstufiger Prozess am Beispiel des Darmepithels. Trifft eine Mutation eine teilungsfähige Darmepithelzelle und verschafft ihr dadurch einen Wachstumsvorteil, verdrängt dieser Zelltyp mit der Zeit die Nachbarzellen. Krebszellen durchlaufen diesen Prozess durchschnittlich fünfmal. Diese Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com unter Verwendung des Templates „Colon Cancer Progression“ (2022). Abgerufen von http://app.biorender.com/biorender-templates

In Geweben, die bereits genetische Veränderungen tragen, erhöhen Krebsförderer die Wahrscheinlichkeit, dass genetisch geschädigte Zellen überleben und sich vermehren. Rein statistisch betrachtet, ist es enorm unwahrscheinlich, dass eine einzelne Körperzelle im Laufe eines Menschenlebens rein zufällig alle genetischen Veränderungen erwirbt, die für das bösartige Wachstum einer Krebszelle notwendig sind. Stattdessen durchlaufen Krebszellen in unserem Körper eine Art Evolutionsprozess. Die erste Voraussetzung für diesen Evolutionsprozess ist, dass die genetische Veränderung überhaupt einen Zelltyp trifft, der ein gewisses Vermehrungspotenzial in sich birgt. Mutationen, die nur kurzlebige Zellen ohne Nachkommen treffen, sind schlechte Kandidaten für die Entwicklung von Krebszellen. Wenn eine geeignete Körperzelle eine genetische Mutation erworben hat, die ihr Wachstum und ihre Vermehrung fördert, wird sich diese Zelle auf kurz oder lang gegenüber benachbarten Zellen durchsetzen. Dies führt dazu, dass ein Teil des Gewebes nach einer gewissen Zeit durch diesen genetisch veränderten Zelltyp gebildet wird. Die Zellen sehen dabei trotz ihrer genetischen Veränderung und erhöhten Teilungsrate noch vollkommen normal aus und

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gehen ihren gewohnten Aufgaben nach. Sollte es nun erneut, beispielsweise durch ein Karzinogen, zu einer genetischen Mutation in diesem Organ kommen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es eine der vielen genetisch vorbelasteten Zellen trifft. Eine dieser vorbelasteten Zellen hätte nun also eine zweite genetische Veränderung erworben. In seltenen Fällen verschafft diese zweite genetische Veränderung der Zelle einen weiteren Überlebensvorteil und die Expansion wiederholt sich (Abb. 2). Dieser Vorgang nennt sich „Field Cancerization“ und erklärt, warum es Zellen überhaupt gelingt, im Laufe eines Menschenlebens genügend genetische Veränderungen zu erlangen (Garcia et al. 1999). Krebsförderer bestimmen das Tempo, mit dem dieser Vorgang abläuft, indem sie das Überleben von genetisch geschädigten Zellen fördern. Durch die stimulierende Wirkung der Krebsförderer und die beschleunigte Teilungsrate der Zellen, erhöht sich auch das Risiko von spontanen Fehlern bei der DNA-Vervielfältigung. Auf den Punkt In den meisten Fällen sind es Krebsförderer, die darüber bestimmen, mit welcher Geschwindigkeit sich ein Tumor entwickelt. Ihre stark unterschiedliche Beschaffenheit macht ihre Identifizierung und Eindämmung zu einem schwierigen Unterfangen. Das Verständnis dieses grundlegend neuen Mechanismus der Krebsentstehung war aber ein bedeutender Schritt für die Aufklärung vieler Krebsursachen.

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Alter und Krebs

Zusammenfassung Ein hohes Lebensalter gilt als größter Risikofaktor für die Entstehung der meisten Krebserkrankungen. In diesem Kapitel erklären wir, wie es genetischen Mutationen im Laufe unseres Lebens mit der Hilfe von Krebsförderern gelingt, sich in unseren Geweben festzusetzen und die Entstehung von Krebserkrankungen zu begünstigen. Bei Kindern kann sich auch das intensive Wachstum mancher Gewebe krebsfördernd auswirken und die besonders tragischen Fälle von Krebs im Kindesalter erklären. Dieselben Vorgänge, die uns älter werden lassen, sind auch für das gehäufte Vorkommen von Krebserkrankungen im Alter verantwortlich. Experimente haben gezeigt, dass wir sowohl den Alterungsprozess als auch die Begleiterkrankungen des Alters durch unsere eigene Lebensweise hinauszögern können. Lange Zeit galt Altern als unaufhaltsamer Prozess, der durch die Ansammlung von Schäden an Zellen und Bindegeweben im Laufe des Lebens entsteht. Die Wissenschaft beschäftigte sich daher lange Zeit nicht mit der Frage, ob man diesen Prozess aufhalten kann. Man ging davon aus, dass ein verlangsamter Alterungsprozess uns nicht vor Krebserkrankungen bewahren würde. Inzwischen wissen wir, dass Krebserkrankungen und der Alterungsprozess in direktem Zusammenhang miteinander stehen. Seltene Genvarianten bei extrem langlebigen Menschen und Tierexperimente haben uns gezeigt, dass es durchaus möglich ist, die Lebensspanne inklusive des gesamten Alterungsprozesses zu beeinflussen. Alter ist ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung von Krebserkrankungen. Ein 70-jähriger Mann hat ein 1000-mal so hohes Risiko, an einem © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_6

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bösartigen Darmtumor zu erkranken, wie ein 10-jähriger Junge. Der Grund dafür ist, dass menschliche Zellen durchschnittlich fünf wichtige genetische Veränderungen erwerben müssen, um alle Kontrollinstanzen unseres Körpers zu überwinden. Rein statistisch gesehen, dauert es im Fall von Darmkrebs ungefähr 10–15 Jahre, bis eine weitere genetische Veränderung eine bereits vorgeschädigte Zelle trifft. Um an Darmkrebs zu erkranken, dauert es also in der Regel 50–75 Jahre – allerdings können entzündliche Erkrankungen und ein krebsfördernder Lebensstil die Krebsentstehung deutlich beschleunigen (Weinberg 2014). Interessanterweise findet man in manchen Krebsarten wesentlich mehr genetische Mutationen als in anderen. Mit ungefähr 200 genetischen Mutationen pro Zelle tragen Melanomzellen (schwarzer Hautkrebs) und Lungenkrebszellen die meisten genetischen Veränderungen, was auf die stark krebserregende Wirkung von UV-Strahlung und Zigarettenrauch zurückzuführen ist. In Lungentumoren von Rauchern findet man zehnmal so viele Mutationen wie in den Lungentumoren von Nichtrauchern (Vogelstein et al. 2013). Allerdings erhöhen nicht alle dauerhaften DNA-Mutationen das Krebsrisiko, denn nur die wenigsten Mutationen verschaffen einer Zelle wirklich einen Überlebensvorteil. Mutationen, die das Überleben und Wachstum von Körperzellen fördern, werden „Driver-Mutationen“ genannt. Alle anderen Mutationen, die nicht zu einem Überlebensvorteil führen, nennt man „Passenger-Mutationen“ (Haber und Settleman 2007). Da wir im Laufe unseres Lebens immer mehr genetische Veränderungen erwerben, findet man in bösartigen Darmtumoren von 90-jährigen Patienten beinahe doppelt so viele genetische Mutationen wie bei einem 45-jährigen Patienten (Vogelstein et al. 2013). Neben diesen erworbenen Mutationen können auch angeborene Mutationen die Krebsentstehung beschleunigen. Bei Menschen, die bereits zu Beginn des Lebens eine gefährliche erbliche DNA-Mutation in sich tragen, verkürzt sich der Prozess der Darmkrebsentstehung entsprechend um 10–15 Jahre und kann bereits einen 40-jährigen Mann treffen. In Anwesenheit besonders starker Krebsförderer oder bei mehr als einer angeborenen Mutation kann sich das Erkrankungsalter entsprechend weit nach vorn verschieben. Angesichts dieser Beobachtungen erscheint Krebs nur eine Frage der Zeit zu sein. Jeder würde irgendwann an Krebs erkranken, vorausgesetzt, er lebt lange genug. Tatsächlich findet man bei Autopsien in 60–70 % der Verstorbenen Tumore, von deren Existenz die Patienten zu Lebzeiten nichts wussten (Weinberg 2014).

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Auf den Punkt Da die Krebsentstehung ein mehrstufiger Prozess ist, nimmt das Krebsrisiko mit dem Alter deutlich zu. Körperzellen müssen im Durchschnitt fünf wichtige genetische Veränderungen erwerben, um zu Krebszellen zu werden. Angeborene Mutationen, Karzinogene und Krebsförderer können diesen Prozess gewaltig beschleunigen – vor allem in Kombination.

Interessanterweise scheint die Anzahl der genetischen Veränderungen, die für die Krebsentstehung benötigt werden, im Tierreich nicht auf fünf festgelegt zu sein. Mauszellen benötigen durchschnittlich nur etwa zwei genetische Veränderungen, um zu bösartigen Krebszellen zu werden. Mäuse haben eine relativ kurze Lebenserwartung von nur zwei Jahren und sterben in freier Wildbahn so gut wie nie an Altersschwäche, sondern werden als Beutetiere verspeist. Aufgrund dieser geringen Lebenserwartung existierte kein evolutionärer Vorteil für Mäuse, die zufälligerweise mit besseren Schutzmechanismen gewappnet waren. Mäuse mit besonders guten Genen wurden von Raubtieren genauso gerne verspeist wie andere Mäuse und der genetische Vorteil kam nicht zum Tragen. Embryonale Stammzellen von Mäusen sind sogar in der Lage, ohne jegliche genetische Veränderung Tumore in anderen genetisch identischen Mäusen zu bilden. Auch im Menschen gibt es Abweichungen von der Regel, dass eine Zelle mehrere genetische Veränderungen benötigt, um zu einer Krebszelle zu werden. Krebserkrankungen der Keimzellen oder Stammzellen bilden Tumore, die grotesk aussehen und alle möglichen Körpergewebe wie Zähne und Haare enthalten können. Sie werden als „Teratome“ bezeichnet, was übersetzt so viel wie „monsterähnlich“ bedeutet. Früher wurden diese Tumore oft für im Bauchraum eingekapselte fehlgebildete Zwillinge gehalten. Diese Tumore stellen einen Extremfall dar, da sie ohne jegliche genetische Veränderung entstehen können. Was genau ihre Entstehung verursacht, ist bisher noch unbekannt, aber es wird vermutet, dass die Teratom-bildenden Keimzellen irrtümlicherweise aus der Embryonalentwicklung übriggeblieben sind und im Körper überdauert haben (Weinberg 2014).

Krebs im Kindesalter Nach all dem, was wir über Krebserkrankungen und ihre Entstehung wissen, wirkt es sehr verwunderlich, dass manche Krebserkrankungen gehäuft im Kindesalter auftreten. Wenn es so vieler genetischer Veränderungen und zusätzlich

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noch der Hilfe von Krebsförderern bedarf, um die Entstehung einer Krebserkrankung zu ermöglichen – wie sind dann bösartige Tumore im Kindesalter zu erklären? Selbst die erbliche Form von Brustkrebs tritt frühestens im jungen Erwachsenenalter in Erscheinung oder, in manchen Fällen, während der gesamten Lebenszeit nicht. Zudem besitzen wir jedes Gen in zweifacher Ausstattung. Diese doppelte Ausstattung nennt man die zwei Allele eines Gens, von denen wir jeweils eines von unserer Mutter und eines von unserem Vater erben. Um zu verstehen, wie es zu Krebserkrankungen im Kindesalter kommen kann, muss man wissen, dass es zwei unterschiedliche Gruppen von Genen gibt, die zur Krebsentstehung beitragen. Die erste Gruppe betrifft Gene, die für das Wachstum und die Vermehrung einer Zelle zuständig sind und in der Fachsprache als „Onkogene“ bezeichnet werden (von onkos, altgriechisch für Schwellung oder Tumor). Mutationen in Onkogenen regen das Wachstum von Zellen an, auch wenn nur eines der beiden Allele für das Gen betroffen ist. Onkogene werden fast nie vererbt, da ihre Überaktivität die hochgradig koordinierte Embryonalentwicklung stört und frühe Fehlgeburten verursacht. Mutationen in Onkogenen, die das Wachstum und Überleben von Krebszellen fördern, erwerben wir also hauptsächlich erst im Laufe unseres Lebens. Angeborene genetische Defekte, die für Krebserkrankungen im Kindesalter verantwortlich sind, fallen also nahezu ausnahmslos in die zweite Kategorie, in die der „Tumorsuppressoren“, was übersetzt Tumorunterdrücker bedeutet. Klassische Tumorsuppressor-Gene schützen unsere Körperzellen davor, sich in Krebszellen zu verwandeln, indem sie beispielsweise wichtige Aufgaben bei der DNA-Reparatur übernehmen. Sie sind dafür verantwortlich, dass DNASchäden in unseren Zellen repariert werden oder dass die geschädigte Zelle abstirbt. Anders als ein Onkogen ist ein einzelnes defektes Tumorsuppressor-Gen nicht in der Lage, die Krebsentstehung zu fördern. Da wir alle Gene in doppelter Ausführung besitzen, kann der Funktionsausfall eines TumorsuppressorGens durch das andere, intakte Gen kompensiert werden. Erst wenn im Laufe des Lebens auch das zweite Gen innerhalb derselben Körperzelle mutiert, macht die Zelle einen entscheidenden Schritt in Richtung Krebszelle. Durch einen angeborenen Tumorsuppressor-Gendefekt kann eine einzige zufällige Mutation innerhalb des zweiten, intakten Tumorsuppressor-Gens bereits in jungen Jahren zu einem vollständigen Funktionsverlust führen. Bekannte Beispiele für angeborene Tumorsuppressor-Gendefekte sind die BRCA1- und BRCA2-Gene, die das Brustkrebsrisiko deutlich erhöhen, da sie für die Herstellung wichtiger DNA-Reparatur-Enzyme verantwortlich sind. Infolge der erblichen Mutation kommt es mit der Zeit zu einer Ansammlung von immer weiteren genetischen Schäden. Aber auch andere Krebsarten

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können durch genetische Defekte begünstigt werden. Beim „Li-FraumeniSyndrom“, das durch einen Defekt im Tumorsuppressor-Gen „TP53“ (p53) verursacht wird, erkranken 75 % der männlichen Träger und 93–100 % der weiblichen Trägerinnen im Laufe ihres Lebens an Krebs. 41 % erkranken sogar bereits im Kindesalter, also vor dem Erreichen des 18. Lebensjahres (Bougeard et al. 2015). Obwohl die angeborene Mutation in jeder Körperzelle vorkommt, beobachtet man bei Patienten mit dem Li-Fraumeni-Syndrom hauptsächlich Leukämien, Sarkome, Karzinome der Nebennierenrinde und eine frühe Form von Brustkrebs, die meist schon vor dem 31. Lebensjahr auftritt. Interessanterweise entwickeln Kinder mit Li-Fraumeni-Syndrom häufig sehr aggressive Gehirntumore (hochgradige Gliome), obwohl diese Krebsform bei Erwachsenen mit Li-Fraumeni-Syndrom deutlich seltener auftritt (Michaeli und Tabori 2018). Diese Beobachtung gibt den entscheidenden Hinweis darauf, weshalb bösartige Gehirntumoren im Kindesalter die häufigste Krebserkrankung sind und warum sie überhaupt so früh auftreten können. Auf den Punkt Krebserkrankungen im Kindesalter können durch angeborene Defekte in Tumorsuppressor-Genen verursacht werden. In diesem Fall kann eine einzige weitere genetische Veränderung im gesunden, zweiten Tumorsuppressor-Gen eine gefährliche Zelle erschaffen, deren Entstehung normalerweise viel mehr Zeit in Anspruch nimmt. Der vollständige Verlust des schützenden Tumorsuppressors beschleunigt die Ansammlung immer weiterer genetischer Mutationen.

Tumorsuppressoren sind der genetische Teil der Erklärung für Krebserkrankungen im Kindesalter. Aber genetische Defekte sind selten ausreichend für die Krebsentstehung, selbst wenn sie angeboren sind. Was also ist der Krebsförderer in ansonsten völlig gesunden kleinen Kindern? Die Antwort liegt in der kindlichen Entwicklung selbst. In der frühen Kindheit befindet sich der menschliche Körper in einer intensiven Wachstums- und Entwicklungsphase, in der viele Körperzellen ihr größtes Vermehrungspotenzial besitzen. Wenn zu diesem Zeitpunkt bereits angeborene Gendefekte vorhanden sind, können genau diese Wachstumsbedingungen als Krebsförderer auf die geschädigten Zellen wirken. Insbesondere Nervenzellen sind in der Kindheit einem enormen Wachstumsund Umwandlungsprozess ausgesetzt. Nie wieder besitzen wir so viele Gehirnzellen wie im Alter von 2 Jahren. Ab einem Alter von 10 Jahren bis zum Erwachsenenalter schrumpft die Anzahl der Gehirnzellen von 200 Billionen

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auf nur noch 100 Billionen. Im Erwachsenenalter besitzen Nervenzellen nur noch ein sehr eingeschränktes Vermehrungspotenzial. Vermutlich ist genau dieses enorme Wachstumsverhalten der Nervenzellen die Ursache für die Häufigkeit von hochaggressiven kindlichen Gehirntumoren. Wachstumshormone überfluten die kindlichen Gehirnzellen und überwinden dadurch die starken zellinternen Sicherheitsmechanismen. Auch andere frühkindliche Krebserkrankungen, die auf Gendefekte zurückzuführen sind, werden durch den krebsfördernden Einfluss der körperlichen Entwicklung begünstigt. Eine bösartige Krebserkrankung des Auges, die vor allem bei Kindern zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr auftritt, wird ebenfalls durch einen Tumorsuppressor-Gendefekt verursacht. Obwohl Kinder, die von einem solchen Retinoblastom betroffen sind, das defekte Gen in jeder Körperzelle tragen, kann es nur in unreifen Netzhautzellen des Auges eine Krebserkrankung verursachen. Die kindliche Netzhaut bildet dabei das krebsfördernde Wachstumsmilieu, in dem sich eine bösartige Augenkrebserkrankung in den ersten Lebensjahren entwickeln kann. Ab einem Alter von 5 Jahren kommt es selbst bei Trägern des defekten Gens nur noch extrem selten zur Entwicklung eines Augentumors (de Neto et al. 2007). Ab diesem Alter ist die Netzhaut vollständig entwickelt und der krebsfördernde Einfluss der ausreifenden Netzhaut nicht mehr vorhanden. Aus diesem Blickwinkel heraus scheint es auch plausibel, weshalb Trägerinnen des Brustkrebs verursachenden BRCA1- oder BRCA2-Gens erst nach 2–3 Jahrzehnten erkranken. Der krebsfördernde Einfluss der weiblichen Sexualhormone auf das Brustgewebe setzt erst in der Pubertät ein und unterliegt – je nach genetischer Veranlagung und Lebensstil – erheblichen individuellen Schwankungen. Auch in kindlichen Tumoren bedarf es neben den angeborenen Gendefekten vermutlich noch weiterer genetischer Veränderungen, damit bösartige Krebserkrankungen entstehen können. Da Tumorsuppressor-Gene die Erbinformation für Proteine kodieren, die wichtige Funktionen bei der DNAReparatur und dem programmierten Zelltod von schwer geschädigten Zellen übernehmen, begünstigt ein Funktionsverlust dieser Gene die Anhäufung von immer weiteren genetischen Veränderungen. Es scheint jedoch eine weitere Besonderheit bei Krebserkrankungen im Kindesalter zu geben. Die Anzahl der genetischen Veränderungen erreicht fast nie das Ausmaß, das bei Krebserkrankungen im Erwachsenenalter beobachtet wird. In den meisten Fällen kann sogar überhaupt keine bekannte genetische Veränderung identifiziert werden, auf die die Krebserkrankung zurückgeführt werden könnte. Genetische Untersuchungen konnten nur in 10 % der kindlichen Tumoren angeborene Gendefekte ausfindig machen

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(Brodeur et al. 2017). Wir haben am Beispiel der Teratome bereits erwähnt, dass sogenannte Keimzellen und embryonale Stammzellen in der Lage sind, Tumore zu bilden, ohne dass diese Zellen genetische Veränderungen tragen. Es ist gut möglich, dass die Körperzellen von Kindern in Hinsicht auf die genetischen Veränderungen, die für die Krebsentstehung benötigten werden, eine Zwischenstufe zwischen embryonalen Stammzellen (keine genetische Veränderungen notwendig) und den Körperzellen von Erwachsenen (durchschnittlich fünf genetische Veränderungen notwendig) darstellen (Weinberg 2014). Da es nicht möglich ist, Krebserkrankungen im Kindesalter generell vorzubeugen, sind frühe Diagnosen und unverzügliche Behandlungen von oberster Priorität. Eltern, Erzieher und Lehrer müssen besonders über die Symptome kindlicher Krebserkrankungen aufgeklärt werden, damit sie so früh wie möglich erkannt und gestoppt werden können. Es gibt einfache und extrem aussagekräftige Untersuchungsmethoden, die nicht nur ein Kinderarzt durchführen kann, der das Kind vielleicht nur ein- oder zweimal im Jahr zu Gesicht bekommt. Die Harvard-Universität und die Kinderaugenkrebsstiftung machen seit Jahren darauf aufmerksam, dass man das tödliche Retinoblastom ganz einfach bei Kindern diagnostizieren kann, indem man mit einem Smartphone ein Blitzlicht-Foto schießt. Normalerweise zeigt sich der Augenhintergrund auf Blitzlichtfotos rot. Ist er nur auf einem Auge rot und auf dem anderen farblos oder weißlich, ist das ein gefährliches Indiz. Da ein Retinoblastom meist nicht auf beiden Augen gleichzeitig auftritt, sind vor allem Unterschiede verdächtig. Kindliche Lymphome machen sich vor allem durch Müdigkeit und nächtliches Fieber bemerkbar. Wenn Kinder insbesondere nachts über mehrere Tage oder Wochen stark schwitzen und sich tagsüber schwach fühlen, sollten sie unverzüglich einem Arzt vorgestellt werden. Gehirntumore machen sich durch extrem starke Kopfschmerzen bemerkbar, die in der Intensität zunehmen, sich auch durch Medikamente nicht verbessern und mit Erbrechen einhergehen können. Sie verlangen ein besonders schnelles Handeln. Innerhalb weniger Stunden können Tumore innerhalb des Schädelknochens dazu führen, dass der Stoffaustausch im Gehirn nicht mehr funktioniert und das Kind verstirbt. Auf den Punkt Obwohl bei einigen Tumoren im Kindesalter angeborene Gendefekte für die Erkrankung verantwortlich gemacht werden können, findet man bei einem Großteil der kindlichen Tumore keine bekannten Mutationen. Möglicherweise existieren noch andere, bisher unbekannte Gendefekte, die in der krebsfördernden Umgebung eines wachsenden Organismus fatale Auswirkungen haben.

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Kindliche Tumore entstehen vermutlich aus einem Zusammenspiel folgender Faktoren: einer generell niedrigeren Entartungsschwelle kindlicher Zellen, angeborenen Tumorsuppressor-Gendefekten und dem mächtigen krebsfördernden Einfluss der kindlichen Entwicklung selbst.

Zellalterung Die Prozesse des Alterns und der Krebsentstehung scheinen in vielerlei Hinsicht miteinander gekoppelt zu sein. In beiden Fällen wird beispielsweise eine Ansammlung von genetischen Schäden beobachtet. Wodurch der Alterungsprozess überhaupt verursacht wird, ist wissenschaftlich noch nicht einmal endgültig geklärt. Die bisherigen Daten weisen darauf hin, dass Altern nicht einfach nur eine Ansammlung von Zellschäden durch Stoffwechselprodukte und Umwelteinflüsse ist. In Tierexperimenten konnte wiederholt gezeigt werden, dass es möglich ist, das gesamte Spektrum des Alterns inklusive Alterskrankheiten durch einfache genetische Veränderungen hinauszuzögern. Zumindest Tiere besitzen also das Potenzial, erheblich länger zu leben als sie es normalerweise tun. Die unterschiedlichen Lebenserwartungen im Tierreich sind nichts anderes als ein Produkt der Evolution. Für viele Tierarten, die ihre Nachkommen lediglich gebären, aber nicht aufziehen, macht es schlichtweg keinen Sinn, über die reproduktive Zeit hinaus zu überleben. Würden sie länger leben, müssten sie mit ihren eigenen Nachkommen um Lebensraum und Ressourcen kompetieren. In vielen Tierarten konnte sich keine hohe Lebenserwartung entwickeln, da sie in der Regel Raubtieren zum Opfer fallen. Die längsten Lebensspannen werden meist bei Tieren beobachtet, die in sozialen Gruppen leben, einen langsamen Stoffwechsel und einen langen Vermehrungszyklus haben oder keinen Fressfeinden ausgeliefert sind. Die Evolution ist also in der Lage, die Lebensspanne von Tieren durch die Selektion spontaner Genmutationen zu verändern. Wenn Wissenschaftler im Labor wiederholt nur die ältesten Fruchtfliegen miteinander verpaaren, steigt die Lebenserwartung in der Population innerhalb weniger Generationen rapide an. Dies deutet auf die Existenz von genetischen „Schaltern“ hin, an denen die Evolution und womöglich auch ein Wissenschaftler drehen kann, um die Lebensspanne bedeutend zu verändern. Manche dieser Schalter werden auch von Krebszellen genutzt, um die begrenzte Lebensspanne unserer Körperzellen zu umgehen.

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Jeden Tag werden in unserem Körper Millionen alte und kaputte Zellen aussortiert und durch neue Zellen ersetzt, die durch Teilung aus anderen Körperzellen hervorgehen. Die Teilungsfähigkeit unserer Zellen bestimmt daher maßgeblich das Regenerationspotenzial unseres Körpers. Manche Körperzellen, beispielsweise Stammzellen, besitzen eine sehr hohe Teilungsfähigkeit, während andere Zellen, beispielsweise die meisten Nervenzellen, nicht mehr in der Lage sind, neue Zellen zu produzieren. Aber selbst Stammzellen können nur eine bestimmte Anzahl an Tochterzellen hervorbringen. Der Grund hierfür sind wieder unsere Telomere, die bei jeder Zellteilung um ein kurzes, aber definiertes Stückchen kürzer werden. Auf den Punkt Telomere sind lange repetitive DNA-Sequenzen an den Enden der Chromosomen. Bei jeder Zellteilung verkürzen sich die Telomere, ohne dass Erbinformation verloren geht. Die Länge unserer Telomere variiert je nach Zelltyp und Lebensalter. Je kürzer die Telomere im Laufe des Lebens werden, desto anfälliger wird die DNA für Schädigungen. Wenn die Telomere nahezu aufgebraucht sind, wird die Zelle sich nie wieder teilen und begibt sich in eine Art Altersruhestand (Liu et al. 2019).

Selbst wenn wir alle tödlichen Erkrankungen verhindern oder besiegen könnten, würde unsere Lebensspanne am Ende des Tages durch das Schrumpfen unserer Telomere begrenzt. Bei sehr langlebigen Menschen kommt es spätestens ab einem Alter von ungefähr 110 Jahren als Erstes zu einer Erschöpfung der Blutstammzellen. Da Blutstammzellen auch unsere Immunzellen hervorbringen, können sehr alte Menschen bereits an leichten Infektionen versterben. Bis zu welchem Alter die Länge unserer Telomere ausreicht, hängt zu einem bedeutenden Teil auch davon ab, wie oft sich unsere Blutstammzellen zu Lebzeiten teilen mussten. Dauerhafte Infektionen und Entzündungen bringen Blutstammzellen dazu, sich besonders häufig zu teilen (Walter et al. 2015). Dadurch steigt nicht nur das Risiko für DNA-Schäden und Blutkrebserkrankungen, sondern auch unsere Telomere verkürzen sich schneller und somit auch unsere Lebenszeit. Die Verkürzung der Telomere stellt sicher, dass Zellen ihre Vermehrungsphase rechtzeitig beenden, bevor sie ausreichend Schäden angesammelt haben, um die Entstehung einer Krebserkrankung zu ermöglichen. Ein bedenklicher Trend der Anti-Aging-Medizin sind Bluttransfusionen von jugendlichen Spendern in ältere Menschen, die sich von diesem Verfahren ein jugendlicheres Aussehen und eine bessere Gesundheit versprechen. Die

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Wachstumshormone der jugendlichen Spender könnten jedoch auf die genetisch vorbelasteten Körperzellen eines älteren Menschen als mächtige und unkalkulierbare Krebsförderer wirken. Diese Annahme wird durch die Beobachtungen an kindlichen Tumoren und den krebsfördernden Auswirkungen von weiblichen Sexualhormonen nach der Menopause gestützt. Lebensumstände wie Rauchen, Übergewicht oder regelmäßiger Alkoholkonsum können ebenfalls die Länge unserer Telomere verkürzen. Um möglichst lange und gesund zu leben, ist es also von entscheidender Bedeutung, die Zellteilungsrate so gering wie möglich zu halten und die Telomere zu schonen. Wissenschaftler vermuteten lange, in den Telomeren läge der Schlüssel zu unendlicher Jugend und Gesundheit. Wenn es möglich wäre, Telomere zu verlängern, dann würden unsere Zellen und auch unser ganzer Körper unsterblich werden. Wie so oft in der Biologie scheint aber auch die Unsterblichkeit einen hohen Preis zu haben. Einige unserer Körperzellen, darunter Stammzellen, sind in der Lage, ihre Telomere mit der Hilfe eines besonderen Enzyms namens Telomerase bis zu einem gewissen Maß zu erneuern. Normale Körperzellen können die Länge ihrer Telomere nur in einem sehr viel geringeren Maß modulieren. Ausgerechnet Krebszellen nutzen aber genau diesen Mechanismus, um ihre Unsterblichkeit zu erlangen. Viele Tumore tragen genetische Veränderungen, die zu einer vermehrten Telomerase-Produktion führen und den Zellen dadurch ein sprichwörtlich unendliches Teilungsvermögen verleihen. Genetisch veränderte Mäuse, die extrem lange Telomere besitzen, leben zwar länger, erkranken dafür aber auch wesentlich häufiger an Krebs. Damit unterscheidet sich ein durch „künstliche“ Telomere verlängertes Leben in einem entscheidenden Punkt von anderen „natürlichen“ lebensverlängernden Maßnahmen. Eine kalorienreduzierte Diät beispielsweise, verlängert das Leben und senkt gleichzeitig auch das Krebsrisiko. Eine genetische Manipulation der Telomere oder des Telomerase-Gens eignet sich also vermutlich nicht als Anti-Aging-Medizin, denn derartige genetische Veränderungen bergen ein bedeutendes Krebsrisiko. Interessanterweise ist es aber dennoch möglich, die Länge unserer Telomere und die Aktivität der Telomerase durch unseren Lebensstil positiv zu beeinflussen, ohne dabei das Krebsrisiko zu erhöhen. Wie das funktioniert, hat die Medizin-Nobelpreisträgerin und Entdeckerin des Telomerase-Enzyms Elizabeth Blackburn in ihrem Buch „Die Entschlüsselung des Alterns: Der Telomer-Effekt“ beschrieben (Blackburn und Epel 2017). Letztendlich sind die Maßnahmen exakt dieselben, die auch zur Krebsprävention empfohlen werden: eine hochwertige, aber kalorienreduzierte Ernährung, genügend körperliche Bewegung, ausreichend Schlaf und die Reaktion auf Stress mit einer „Challenge Response“ anstelle einer „Threat Response“.

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Menschen, die auf Stress mit einer „Challenge Response“ reagieren, sehen Stress als Herausforderung, an der man wachsen kann und die unser Leben bereichert. Wer Stress jedoch als Bedrohung (engl. threat) empfindet, bei dem manifestiert sich Stress mit all seinen negativen gesundheitlichen Auswirkungen: Die Telomere schrumpfen schneller und auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und manche Krebserkrankungen steigt (siehe Kapitel „Stress und Krebs“). Wie viel Stress wir haben, scheint also weniger wichtig zu sein, als die Art und Weise, wie wir auf Stress reagieren. Stress wird in der Psychologie übrigens nicht etwa an vielbeschäftigten Managern gemessen, sondern an einer anderen Gruppe unserer Gesellschaft: Die nachweislich stärkste Stressbelastung haben Eltern von pflegebedürftigen kranken Kindern oder Familienangehörigen. Stress wird immer dann als besonders negativ empfunden, wenn wir das Gefühl haben, viel zu leisten, aber keine Anerkennung für die geleistete Arbeit erhalten. Deshalb leiden beispielsweise erfolgreiche Manager deutlich weniger unter der ständigen Stressbelastung in ihrem Leben als Menschen mit pflegebedürftigen Familienmitgliedern. Interessanterweise geht ein hohes Lebensalter nicht in allen Tierarten mit einer Verkürzung der Telomere einher. Von Hummern ist bekannt, dass sie in allen Körperzellen große Mengen an Telomerase produzieren und ihre Zellen dadurch eine potenziell unendliche Teilungsfähigkeit besitzen. Wie andere Krustentiere wachsen auch Hummer im Laufe ihres Lebens kontinuierlich weiter und behalten ihre Fortpflanzungsfähigkeit. Hummer zeigen keinerlei Alterserscheinungen wie Krebserkrankungen und auch die Sterblichkeitsrate steigt nicht mit dem Alter, wie es bei Säugetieren der Fall ist (Vogt 2012). Hummer beweisen uns, dass eine hohe Telomerase-Aktivität und eine unendliche Lebensdauer von Körperzellen prinzipiell mit einem krebsfreien Leben vereinbar sind. Trotzdem sind auch Hummer nicht unsterblich. Nach spätestens 100 Jahren erkranken sie an Infektionen des Außenskelettes, das nicht mehr ausreichend mitwächst und allmählich zu eng wird. Aber warum müssen Hummer nicht, so wie wir, altern und bleiben sogar von Krebserkrankungen verschont? Wieso können sie sich den Luxus einer unbegrenzten Telomerase-Produktion leisten, ohne dass sich das Entartungsrisiko ihrer Zellen erhöht? Lange Zeit vermuteten Wissenschaftler, dass der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage in der Körpertemperatur von Lebewesen zu finden sei. Warmblütige Lebewesen, wie Säugetiere und Vögel, müssen ihre Körpertemperatur mithilfe einer hohen Stoffwechselrate konstant halten. Eine hohe Stoffwechselrate führt jedoch auch zur Produktion von deutlich mehr Stoffwechselprodukten, die Zellen schädigen können und auf diese Wei-

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se die Entstehung von Krebserkrankungen begünstigen. Zum Schutz vor Krebserkrankungen, so war die Vermutung, müssen warmblütige Tiere die Verfügbarkeit des Telomerase Enzyms streng reglementieren. Entsprechend dieser „Stoffwechseltheorie“ wären kaltblütige Lebewesen, zu denen auch der Hummer gehört, generell einem deutlich niedrigeren Krebsrisiko ausgesetzt und könnten sich daher den Luxus einer unbegrenzten Telomerase-Aktivität leisten. Wissenschaftliche Studien konnten diese Theorie jedoch nicht eindeutig bestätigen, denn andere kaltblütige Lebewesen haben ein vergleichbar hohes Krebsrisiko wie die meisten warmblütigen Lebewesen. Manche Amphibien, wie Frösche (Xenopus) oder Fische (Zebrafisch), haben sogar ein sehr hohes Krebsrisiko, weshalb sie gezielt in der Krebsforschung eingesetzt werden (Olsson et al. 2018). Überraschenderweise zeigten die Beobachtungen im Tierreich, dass überhaupt kein universales Muster der Telomer-Verkürzung zum Lebensende hin existiert. Manche Tierarten, wie beispielsweise Schlangen, zeigen im Laufe ihres Lebens sogar komplexe Muster der Verkürzung und Verlängerung ihrer Telomere, die durch schwankende Telomerase-Konzentrationen innerhalb der Zelle gesteuert werden. Eine Verkürzung der Telomere scheint in erster Linie bei Menschen und anderen Säugetieren mit dem biologischen Alterungsprozess einherzugehen. Die Frage, weshalb manche Tierarten ihre Telomere anscheinend beliebig verlängern können, ohne häufiger an Krebs zu erkranken, bleibt vorerst ein ungelöstes Rätsel. Bekannt ist aber, dass alle Tierarten ab einem Körpergewicht von 10–15 kg die Länge ihrer Telomere einschränken (Seluanov et al. 2018). Bis zu einer gewissen Zellzahl ist es für kleine Lebewesen also durchaus möglich, die Seneszenz von Zellen zu umgehen. Für große Tierarten ist dies aber unmöglich – das Krebsrisiko wäre einfach zu groß. Möglicherweise haben einige besonders langlebige kleine Tiere im Laufe der Evolution zusätzliche Schutzmechanismen entwickelt, um die gewaltige Sicherheitslücke zu kompensieren, die sich aus einer unbegrenzten Lebensdauer von Zellen ergibt. Wenn wir diese Mechanismen erforschen, könnten wir daraus eines Tages vielleicht lernen, unter welchen Bedingungen wir eine gezielte Verlängerung unserer menschlichen Telomere wagen könnten. Es ist die Suche nach dem Heiligen Gral mit den Methoden der modernen Biologie. Da es normalerweise einige Jahre bis Jahrzehnte dauert, bis Forschungsergebnisse in Form von Medikamenten oder Therapien der Gesellschaft zugutekommen, müssen wir uns wohl noch etwas gedulden. Bis dahin dient die Länge der menschlichen Telomere zumindest als guter Marker, um das biologische Alter zu bestimmen, das weit vom chronologischen Lebensalter abweichen kann. Das chronologische Alter gibt das Alter

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eines Menschen in Jahren an, das biologische Alter gibt an, welchem chronologischen Alter der Zustand seiner Zellen entspricht. Wenn man beispielsweise einen gesunden Lebensstil mit viel Bewegung und einer gesunden Ernährung pflegt, kann man mit 40 Jahren ein biologisches Alter von 35 Jahren oder jünger haben. Möchte man das chronologische Alter eines Menschen möglichst exakt bestimmen, ist die genauste Methode bis heute eine Analyse des sogenannten Methylierungsmusters der DNA (Weidner und Wagner 2014). Methylierungen sind kleine chemische Veränderungen an den Bausteinen unserer DNA, mit denen die Aktivität von Genen gesteuert wird. Das Forschungsgebiet, das sich mit der Funktion dieser chemischen Veränderungen beschäftigt, nennt sich Epigenetik und könnte in Zukunft ebenfalls wichtige Informationen darüber liefern, wie man den Alterungsprozess und möglicherweise auch die Entstehung von Krebserkrankungen verlangsamen kann. Wir haben bereits erwähnt, dass eine kalorienreduzierte Diät die Lebenserwartung von Tieren deutlich steigern kann. Eine ähnliche lebensverlängernde Wirkung zeigen auch genetische Veränderungen, die bestimmte Stoffwechselwege oder Wachstumshormone betreffen. Kleine Hunde, die aufgrund einer genetischen Mutation reduzierte Level des Wachstumshormons IGF-1 besitzen, leben deutlich länger als große Hunde (Kenyon 2010). Allerdings existiert ein ähnlicher Zusammenhang zwischen der Lebenserwartung und der Körpergröße nicht bei allen Tierarten. Bei Mäusen und Fliegen beispielsweise kann durch eine Reduktion der Körpergröße keine Verlängerung der Lebensspanne erzielt werden. Um herauszufinden, ob ein solcher Zusammenhang auch bei Menschen besteht, hat eine Studie 8000 Männer über 40 Jahre lang beobachtet und die Lebenserwartung in Abhängigkeit von der Körpergröße untersucht. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Lebenserwartung auch bei Menschen mit jedem weiteren Zentimeter überdurchschnittlicher Körpergröße um 0,6 % sinkt (He et al. 2014; Nunney 2018). Diese Beobachtungen passen interessanterweise überhaupt nicht zu dem, was generell für Säugetiere über die Artengrenze hinweg gilt – nämlich, dass die Lebenserwartung mit der Körpergröße steigt. Kleine Säugetiere, wie Mäuse, wiegen durchschnittlich 20 g und werden höchstens 2 Jahre alt. Ein Blauwal hingegen wiegt bis zu 200 t und besitzt eine Lebenserwartung von 80 Jahren. Damit ist er etwa 10 Mio.-mal schwerer als eine Maus und 2500-mal schwerer als ein Mensch, wobei er natürlich auch entsprechend mehr Körperzellen besitzt, die sich in ihrer Größe jedoch nicht von denen anderer Säugetiere unterscheiden (Abb. 1). Es ist erstaunlich, dass Blauwale dennoch kein höheres Krebsrisiko haben als Mäuse, Menschen oder andere Säugetiere. Diese interessante Beobachtung wird in der Biologie als Peto’s Paradoxon bezeichnet.

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Abb. 1 Maßstabsgetreuer Größenvergleich von Blauwal und Mensch. Trotz der enormen Unterschiede in Körpergröße und Zellzahl unterscheiden sich diese beiden Säugetiere kaum in Bezug auf ihr Krebsrisiko. Da Wale eine deutlich niedrigere Stoffwechselrate haben, wird vermutet, dass diese neben möglichen weiteren Schutzmechanismen für das reduzierte Krebsrisiko verantwortlich ist. Quelle: Wikimedia commons, public domain

Wir bezeichnen etwas als paradox, wenn unsere Beobachtungen überhaupt nicht zu dem passen, was wir anhand unseres bisherigen Wissens vermuten würden. Daher deutet ein Paradoxon in der Regel auf eine Lücke in einer gängigen Theorie hin. Manchmal ist sie sogar völlig falsch. Was also passt hier nach Meinung der Wissenschaftler nicht zusammen? Der Blauwal ist nicht nur 10 Mio.-mal schwerer als eine Maus – er lebt auch 40-mal länger. Da die Körperzellen dieser beiden Säugetiere gleich groß sind, durchläuft ein Blauwal im Laufe seines Lebens etwa eine halbe Milliarde Zellteilungen mehr als eine Maus. Wenn Krebs hauptsächlich durch Fehler während der DNA-Vervielfältigung entstehen würde, müssten Wale ein enorm hohes Krebsrisiko haben. Offensichtlich und glücklicherweise ist dies nicht der Fall. Die Lösung zu Peto’s Paradoxon – oder zumindest ein Teil davon – findet sich in den unterschiedlichen Stoffwechselraten von Lebewesen. Kleine sehr aktive Tiere wie Fledermäuse, Singvögel oder Mäuse haben Stoffwechselraten, die bis zu 1000-fach höher sind als die eines Blauwals. Da die meisten Mutationen im Genom eines Lebewesens durch Nebenprodukte des Stoffwechsels verursacht werden, haben Blauwale trotz ihrer enormen Körpergröße, Zellzahl und Lebenserwartung nur ein geringfügig höheres Krebsrisiko als die kleinsten Säuger (Weinberg 2014; Seluanov et al. 2018). Dies wirft die Frage auf, ob auch wir Menschen unser Krebsrisiko durch eine Veränderung unseres Stoffwechsels oder die Einnahme von bestimmten Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln (beispielsweise Vitamin C) senken können. Einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zu diesem

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Thema, geben wir in dem Kapitel „Entzündungshemmer, Vitamine und Antioxidantien“. Auf den Punkt Obwohl große Säugetiere aus mehr Körperzellen bestehen und im Durchschnitt sogar eine höhere Lebenserwartung haben als kleine Säugetiere, lässt sich bei ihnen kein erhöhtes Krebsrisiko beobachten. Die Entstehung von Krebserkrankungen kann also nicht in erster Linie auf zufällige Mutationen während der Zellteilung zurückgeführt werden. Stattdessen werden die meisten Mutationen im Genom von Lebewesen durch Nebenprodukte des Stoffwechsels verursacht. Da große Säugetiere weniger Energie zur Aufrechterhaltung ihrer Körpertemperatur benötigen als kleine Säugetiere, sind ihre Stoffwechselraten bis zu 1000-fach niedriger. Aber auch Säugetiere von vergleichbarer Größe und Aktivität können unterschiedliche Lebenserwartungen und Krebsraten aufweisen. Einige Fledermausarten sind extrem langlebig und krebsresistent, obwohl das Fliegen eine hohe metabolische Belastung darstellt. Möglicherweise hat die Evolution diese Tiere mit zusätzlichen Schutzmechanismen ausgestattet, um den Gefahren einer sehr hohen Stoffwechselrate entgegenzuwirken. Solche zusätzlichen Schutzmechanismen könnten auch bei großen Säugetieren zu der hohen Lebenserwartung und bemerkenswerten Krebsresistenz beitragen.

Unsere Stoffwechselaktivität spielt anscheinend eine ganz besondere Schlüsselrolle bei allen Prozessen, die unsere Gesundheit und unser biologisches Alter steuern. Eine kalorienreduzierte Diät und intermittierendes Fasten (d. h. täglich mehrere Stunden kein Essen, beispielsweise nicht mehr nach 18 Uhr) sind erwiesene Methoden, um den Alterungsprozess verschiedenster Tierarten zu verlangsamen und gleichzeitig das Risiko für viele Erkrankungen wie Krebs, Schlaganfälle, Herzinfarkte, Bluthochdruck, Diabetes und neurodegenerative Erkrankungen zu reduzieren (Green et al. 2022). Interessanterweise ist die Reduktion von schädlichen Stoffwechselprodukten nicht die einzige Ursache für die positiven gesundheitlichen Effekte von Nahrungsknappheit. Auch bei Nahrungsmangel muss unser Körper noch immer dieselbe Energiemenge aufbringen, um die Körpertemperatur zu halten. Die lebensverlängernde Wirkung einer strengen Diät beruht also vermutlich nicht bloß auf einer Reduktion von schädlichen Stoffwechselprodukten, sondern auf zusätzlichen Mechanismen, die uns aktiv vor oxidativem Stress schützen. Diese Mechanismen scheinen gleichermaßen durch Nahrungsknappheit, körperliches Training oder andere körperliche Stressreaktionen aktiviert zu werden (Schulz et al. 2007). Es ist überraschend, dass vermeintlich ungünstige Bedingungen und extreme Verausgabungen unseren Körper dazu bringen, langsamer zu altern.

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Untersuchungen an extrem langlebigen Menschen haben gezeigt, dass diese vermehrt genetische Veränderungen in Genen tragen, die für die Wahrnehmung von Nährstoffen und zellulärem Stress verantwortlich sind. Bei Hundertjährigen findet man beispielsweise gehäuft Mutationen im IGF-1Rezeptor-Gen, das für die Signalweiterleitung von IGF-1 verantwortlich ist (Kenyon 2010). IGF-1 ist ein wichtiges Stoffwechselhormon, das in der Leber und auch im Fettgewebe produziert wird und das Wachstum von Zellen anregt. Genetische Mutationen im selben Wachstumsfaktor sind auch für die bereits erwähnte höhere Lebenserwartung von kleinen Hunden verantwortlich. Eine Studie, die nach genetischen Ursachen für die Langlebigkeit von Japanern suchte, fand bei ihnen insbesondere Veränderungen im Gen für den Insulin-Rezeptor, der eine wichtige Rolle im Zuckerstoffwechsel spielt. Besonders langlebige Menschen tragen also vermehrt Mutationen in den Genen für Wachstumsfaktoren und deren Rezeptoren. Neben Insulin und IGF-1 wurden auch Genmutationen mit Langlebigkeit assoziiert, die für die Antwort von Körperzellen auf Stoffwechselhormone verantwortlich sind und somit die Reaktion auf das Nahrungsangebot regulieren. Am häufigsten sind die Gene „AKT “, „FOXO1“ und „FOXO3a“ betroffen, wobei insbesondere Varianten des FOXO3a-Gens auf der ganzen Welt in langlebigen Menschen gefunden wurden. Die Tatsache, dass diese Genvarianten bei langlebigen Hawaiianern, Italienern, aschkenasischen Juden, Kaliforniern, Deutschen und Chinesen nachgewiesen wurden, weist darauf hin, dass sich diese Genvarianten mehrmals unabhängig voneinander durchgesetzt haben und mit einem Selektionsvorteil verbunden sind. Es existieren also anscheinend genetische Mutationen, die uns vor einem Überangebot an Nahrung schützen und die vermehrt in besonders langlebigen Menschen auf der ganzen Welt nachgewiesen wurden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass hohe Insulinlevel, die durch Zucker verursacht werden, die Lebenserwartung von Menschen und anderen Säugetieren deutlich verkürzen könnten. Experimentelle Daten und genetische Untersuchungen an extrem langlebigen Menschen sprechen dafür. Die Frage, weshalb ein Lebewesen auf Nahrungsknappheit mit einem verlängerten Leben reagieren sollte, bleibt jedoch weiterhin ungeklärt. Es widerspricht der Intuition, dass ein Mangel an Nahrung, die essenziell für unsere Fitness und alle Lebensvorgänge ist, sich derart positiv auf die Lebensspanne auswirken soll. Besonders die Fortpflanzung ist aus biologischer Sicht eine extrem energieaufwändige Angelegenheit. Wer sich im Tierreich gegenüber Rivalen behaupten will, der muss mit einer sehr guten körperlichen Konstitution auftreten und häufig sogar in Kämpfen seine Weibchen oder sein Revier verteidigen.

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Ein momentan weitestgehend akzeptierter Lösungsansatz für dieses Rätsel lautet, dass die Lebenserwartung und der Fortpflanzungserfolg sich gegenseitig regulieren oder, besser gesagt, in einer Art Wettstreit miteinander stehen. Es ist beispielsweise bekannt, dass Hormone, die von den Geschlechtsorganen produziert werden, den Alterungsprozess beeinflussen. Frauen verbrauchen im Laufe des Lebens den in ihren Eierstöcken gespeicherten Vorrat an Eizellen. Während jedes Monatszyklus reifen mehrere Follikel mit jeweils einer Eizelle heran, wovon der größte Follikel springt und eine befruchtungsfähige Eizelle freigibt. Wenn der Eizell-Vorrat zur Neige geht, kommt eine Frau in die Wechseljahre. Wissenschaftliche Studien kamen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass der gesamte Alterungsprozess direkt von der Anzahl an Eizellen in den Eierstöcken abhängen könnte. Wenn man die Eierstöcke von jungen Mäusen in ältere Mäuse verpflanzt, verlängert dies die Lebensspanne der alten Mäuse deutlich (Kenyon 2010). Da Menschen im Gegensatz zu Labormäusen genetisch nicht identisch sind, funktioniert diese Form der Anti-Aging-Therapie zum Glück nicht bei uns. Jedenfalls nicht ohne schwere Medikamente zur Unterdrückung des Immunsystems, die bekanntlich nicht lebensverlängernd wirken. Allerdings genügt auch im Menschen die Entfernung des Eierstockgewebes, um die Sterblichkeit durch verschiedenste Erkrankungen zu erhöhen (Parker et al. 2007). Offenbar ist das biologische Programm so lange auf Fortpflanzung programmiert, wie die Bedingungen gut sind und ausreichend Nahrung zur Verfügung steht. Bei ungünstigen Bedingungen oder einem knappen Nahrungsangebot schaltet der Körper auf eine Art „Sparprogramm“, das auf bisher ungeklärte Weise die Lebenserwartung erhöht. Vielleicht ermöglichte dieser Mechanismus es Tieren, so lange zu überdauern und mit der Fortpflanzung zu warten, bis sich die Bedingungen besserten. Von vielen Tierarten ist bekannt, dass sie kurz nach ihrer Vermehrung sterben. Es ist ein altbekanntes Prinzip, und nicht die Ausnahme, dass der Fortpflanzungserfolg die Lebenserwartung direkt bestimmt. Möglicherweise liegt irgendwo in diesem Wettstreit der Schlüssel zu einem längeren und gesünderen Leben verborgen. Diese Daten zeigen uns allerdings auch, dass der bisher einzige wissenschaftlich bestätigte Weg zu einem längeren und gesünderen Leben sehr viel Disziplin, Eigeninitiative und körperliche Anstrengung erfordert (Kenyon 2010).

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Zusammenfassung Eine zucker- und fettreiche Ernährung begünstigt die Entstehung von krebsförderndem Übergewicht und Diabetes mellitus Typ II. Wie anfällig wir für Stoffwechselstörungen sind, wird jedoch nicht nur durch unsere Ernährungsgewohnheiten bestimmt. Auch unser Lebensstil, unsere Darmflora und unsere Gene entscheiden mit, wie schnell wir auf ein übermäßiges Nahrungsangebot mit Stoffwechselstörungen und Übergewicht reagieren. Da das Stoffwechselhormon Insulin auch die Lebenserwartung verschiedenster Lebewesen bestimmt, könnte ein hoher Zuckerkonsum nicht nur die Entstehung von Krebserkrankungen begünstigen, sondern sogar den gesamten Alterungsprozess beschleunigen. Dieses Kapitel widmet sich einem der wichtigsten und zugleich am stärksten unterschätzten Krebsförderer unserer Zeit. Obwohl Übergewicht häufig auf eine rein ästhetische Geschmacksfrage reduziert wird, fördert es die Entstehung nahezu aller Krebsarten. Wir möchten in diesem Kapitel erklären, worin nach neuestem Erkenntnisstand die Gefahren bestehen und warum gleichzeitig so viele Gerüchte rund um das Thema Zucker und Ernährung kursieren. Es ist wichtig, diese Prozesse zu verstehen, um sich nicht verunsichern zu lassen und nur die Maßnahmen umzusetzen, die auch wirklich sinnvoll sind. Zucker hat zwar keinen sonderlich guten Ruf, allerdings assoziieren die meisten Menschen ihn eher mit kneifenden Hosen oder unangenehmen Zahnarztbesuchen als mit Altern oder Krebs. Zucker ist im klassischen Sinne weder giftig noch krebserregend. Zucker begünstigt aber die Entstehung eines extrem mächtigen und häufigen Krebsförderers: Übergewicht. Man kann seine © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_7

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Wirkung in unserem Körper nur verstehen, wenn man weiß, dass Krebserkrankungen aus einem Zusammenspiel von Karzinogenen und Krebsfördern entstehen. Wenn es uns nicht gelingt, diesen wichtigen Zusammenhang zu vermitteln, werden die Warnungen von Ärzten und Wissenschaftlern auch in Zukunft nicht ernst genommen. Gelegentlich liest man in den Medien, dass Krebserkrankungen einfach durch einen Verzicht auf Zucker ausgehungert werden können. Diese Informationen sind falsch, denn sie fehlinterpretieren häufig den Warburg-Effekt und vernachlässigen die Tatsache, dass unser Körper Zucker aus anderen Nahrungsmitteln selbst herstellen kann. Wir erklären in diesem Kapitel, wie der Warburg-Effekt richtig zu verstehen ist und warum ein Verzicht auf Zucker sich dennoch lohnt. Wenn man dauerhaft mehr Kalorien zu sich nimmt als man verbraucht, nimmt man zu. Leichtes Übergewicht hat keine gesundheitlichen Nachteile, aber verschafft uns auch nicht die gesundheitlichen Vorteile einer kalorienreduzierten Ernährung. Insbesondere starkes Übergewicht fördert zahlreiche Krankheitsprozesse, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen, entzündliche Erkrankungen und auch Krebs. Zusätzlich kurbelt es den Alterungsprozess an und kann anscheinend sogar den Stoffwechsel unserer Nachkommen verändern. Angesichts des weltweit rasant steigenden Prozentsatzes an übergewichtigen Menschen in der Bevölkerung sind diese neuen Erkenntnisse alarmierend. Im Jahr 2016 war bereits ein Drittel der Weltbevölkerung übergewichtig (Soerjomataram et al. 2021). In Deutschland sind aktuell 53 % der Frauen und 67 % der Männer übergewichtig. Ungefähr 25 % der Erwachsenen in Deutschland sind stark übergewichtig (adipös) (RKI 2022). Diese Zahlen kommen denen der USA bereits erschreckend nahe, wo mittlerweile mehr als ein Drittel der Bevölkerung stark übergewichtig ist. Starkes Übergewicht, medizinisch „Adipositas“ genannt, gilt schon lange nicht mehr nur als Hauptursache für Diabetes, Bluthochdruck, Arteriosklerose und Schlaganfälle. Tatsächlich gilt Übergewicht als die vermeidbare Krebsursache überhaupt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist der Zusammenhang zwischen starkem Übergewicht und der Entstehung von Krebserkrankungen mittlerweile fast so gut belegt wie der Zusammenhang zwischen Zigarettenrauchen und Krebs. In vielen Ländern übertrifft der Prozentsatz der Übergewichtigen in der Bevölkerung allerdings bereits den Prozentsatz der Raucher und wird daher zukünftig die größte Herausforderung für die Gesundheitssysteme darstellen (Grivennikov et al. 2010; Font-Burgada et al. 2016). Epidemiologische Studien zeigen, dass mittlerweile 20 % aller krebsbedingten Todesfälle auf das Konto von Übergewicht gehen (Calle et al. 2003; Aggarwal et al. 2009). Als

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übergewichtig gilt, wer einen Body-Mass-Index (BMI) von über 25 kg / m2 hat, wobei sich der BMI wie folgt errechnet: Gewicht in kg geteilt durch die Körpergröße in m2 . Starkes Übergewicht oder Adipositas beginnt ab einem BMI von 30 kg / m2 . Übergewicht ist allerdings längst nicht mehr nur ein Problem in entwickelten westlichen Ländern. Auch in Schwellenländern und in Entwicklungsländern ist der Anteil der übergewichtigen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen, wobei auch eine besorgniserregende Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit im Kindesalter beobachtet wird (Font-Burgada et al. 2016). Übergewicht erhöht das Risiko und die Sterblichkeitsrate für viele Krebsarten, darunter Leukämien, bösartige Karzinome der Brust, Speiseröhre, Gallenblase und Leber sowie des Pankreas, Endometriums, Rektums und der Nieren. Die stärksten Auswirkungen von Übergewicht werden aber mit Abstand auf das Brust- und Darmkrebsrisiko beobachtet (Choi et al. 2018; Calle et al. 2004; Anstee et al. 2019). Für diese beiden Krebserkrankungen steigt sowohl die Zahl der Diagnosen als auch die Zahl der Todesfälle direkt mit dem BMI an bzw. mit jedem weiteren Kilogramm (Kohls et al. 2022). Eine Metaanalyse, die mehr als 82 wissenschaftliche Studien zu dem Thema Übergewicht und Krebs auswertete, kam zu dem Ergebnis, dass die allgemeine Sterblichkeit für stark übergewichtige Patientinnen mit Brustkrebs um 41 % höher ist und die krebsspezifische Sterblichkeit um 35 % (Chan et al. 2014; Kohls et al. 2022). Zu viel Fettgewebe in unserem Körper begünstigt die Krebsentstehung durch metabolischen und oxidativen Stress, Veränderungen im Hormonhaushalt und eine dauerhafte systemische Entzündungsreaktion.

Übergewicht erhöht die Produktion von Hormonen Zu viel Fettgewebe im Körper begünstigt die Entstehung von Krebserkrankungen und besonders schweren Verläufen. Welche Rolle das Körpergewicht für die Krebsentstehung und den Krankheitsverlauf spielt, muss man allerdings für jede Krebsart gesondert betrachten, da jede Krebserkrankung ihre eigenen Entstehungsmechanismen besitzt. Dies trifft sogar auf unterschiedliche Krebserkrankungen im selben Organ zu. Da im Fettgewebe wichtige Hormone produziert werden, wie beispielsweise Östrogen, kann es bei einem hohen Körperfettanteil zur Ansammlung kritischer Hormonmengen kommen. Ein erhöhter Östrogenspiegel fördert die Entstehung einer Form von Brustkrebs, die vor allem nach der Menopause auftritt – also zu einem Zeitpunkt, an dem die weiblichen Hormone normalerweise sehr niedrige Level erreichen (sogenannter Östrogenrezeptor-positiver

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Brustkrebs). Gleichzeitig steht Übergewicht in direktem Zusammenhang mit einer schlechteren Prognose für alle bekannten Arten von Brustkrebs, obwohl die weiblichen Hormone bei diesen anderen Brustkrebsarten nicht die entscheidende Rolle für den Verlauf der Erkrankung spielen (Argolo et al. 2018). Stattdessen treiben in diesen Fällen gefährliche Entzündungsreaktionen das Krebsrisiko in die Höhe, die ihren Ursprung ebenfalls im Fettgewebe haben. Testosteron wird im Fettgewebe durch ein Enzym namens Aromatase in Östrogen umgewandelt. Daher sinkt bei Männern der Testosteronspiegel, je größer ihre Fettdepots sind. Die gezielte Blockade von Testosteron ist ein bewährter Therapieansatz bei Prostatakrebs, weshalb man bei übergewichtigen Männern eigentlich einen schützenden Effekt durch das Testosteron-Defizit auf das Prostatakrebsrisiko erwarten würde. Es ist verwunderlich, dass übergewichtige Männer dennoch häufiger unter aggressiven Prostatatumoren leiden und insgesamt eine schlechtere Prognose haben als normalgewichtige Männer. Die Gründe hierfür sind noch nicht ausreichend geklärt und werden weiterhin erforscht. Da Testosteron allerdings wichtige Funktionen im Stoffwechsel und Muskelaufbau übernimmt, könnte seine schützende Wirkung vor Krebserkrankungen auch mit diesen Fähigkeiten zusammenhängen. Ab dem 30. Lebensjahr sinkt der Testosteronspiegel im Blut von Männern jährlich um ca. 1 %, wodurch sich mit zunehmendem Alter auch der Stoffwechsel verlangsamt. Wer nicht mit ausreichend Sport dagegen an arbeitet, baut an Muskelmasse und Knochendichte immer weiter ab. Durch den Verlust an Muskelmasse sinkt auch die Aufnahmefähigkeit der Skelettmuskulatur für Zucker aus dem Blut, wodurch der Blutzucker nach Mahlzeiten länger erhöht bleibt. Der Körper muss kompensatorisch immer mehr Insulin produzieren, um eine Aufnahme von Zucker aus dem Blut in die Muskulatur oder Leberzellen zu erreichen. Allein durch einen Verlust an Muskelmasse werden zwei der bedeutendsten Krebsförderer erschaffen: ein dauerhaft erhöhter Blutzucker und eine Überproduktion an Insulin. Da eine ausgeprägte Muskulatur auch den Grundumsatz erhöht – also auch in Ruhe mehr Kalorien zu Wärme verbrennt – wirkt Krafttraining der Entstehung von Übergewicht effektiver entgegen als Ausdauertraining, das die Fettverbrennung nur vorübergehend anregt. Die weitreichenden hormonalen Veränderungen, die durch Übergewicht verursacht werden, könnten in Kombination mit Entzündungsstoffen, die ebenfalls vom Fettgewebe produziert werden, das erhöhte Prostatakrebsrisiko von übergewichtigen und älteren Männern erklären. Insbesondere starkes Übergewicht kann eine frühzeitige Diagnose von vielen Krebserkrankungen erschweren. Übergewichtige Männer haben niedrigere PSA-Werte und eine vergrößerte Prostata, wodurch die Wahrscheinlichkeit sinkt, Prostatakrebs rechtzeitig zu erkennen und bei einer Biopsie-Entnahme

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das kranke Gewebe zu erwischen. Auf diese Weise werden Krebserkrankungen später erkannt als bei Normalgewichtigen und gehen von vornherein mit schlechteren Heilungschancen einher. Dasselbe gilt für Brustkrebs, da die Brust bei übergewichtigen Frauen durch vermehrte Fetteinlagerungen ebenfalls vergrößert ist, was sowohl den Tastbefund als auch die Biopsie-Entnahme erschwert. Auf den Punkt Ein hoher Anteil an Fettgewebe im Körper erhöht die Produktion von Sexualhormonen. Dabei spielt insbesondere das weibliche Geschlechtshormon Östrogen, das unter anderem im Fettgewebe produziert wird, eine wichtige Rolle bei der Entstehung vieler Krebserkrankungen. Eine Überproduktion von Östrogen und Insulin kann in Kombination mit Entzündungsstoffen, die aus dem überbelasteten Fettgewebe stammen, die Entstehung und das Wachstum vieler Krebserkrankungen fördern.

Übergewicht verursacht Entzündungen Es ist inzwischen bekannt, dass das Fettgewebe eine wichtige Quelle von Entzündungsreaktionen in unserem Körper ist. Einige Fettsäuren und Stoffwechselprodukte können direkt als Signalmoleküle wirken und ein wichtiges Enzym aktivieren, das nahezu alle entzündlichen Prozesse steuert. Es ist dasselbe Enzym, das von Aspirin blockiert wird und dessen Produkte das Wachstum von Darmtumorzellen unterstützen (Jain et al. 2018). Übergewicht spielt allerdings nicht nur bei der Entstehung von Brustkrebs, Prostatakrebs oder Darmkrebs eine gefährliche Helferrolle, sondern erhöht auch die Wahrscheinlichkeit und Aggressivität vieler anderer bösartiger Tumorerkrankungen wie Leberkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Nierenkrebs oder Gebärmutterhalskrebs (Park et al. 2014; Lengyel et al. 2018). All diese Krebserkrankungen werden durch einen gefährlichen Entzündungszustand gefördert, der den gesamten Körper betrifft und durch Stoffwechselprodukte, aber auch durch alarmierte Immunzellen im überbelasteten Fettgewebe ausgelöst wird. Die Fettdepots unseres Körpers enthalten, ebenso wie alle anderen Gewebe und Organe, zusätzlich zu spezialisierten Zelltypen auch Immunzellen. Neben sogenannten Adipozyten, in denen das Fett gespeichert wird, findet man im Fettgewebe vermehrt große Riesenfresszellen (Makrophagen), die bei der Beseitigung von Zelltrümmern und Krankheitserregern helfen und gezielte

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Abb. 1 Im Fettgewebe werden Entzündungsstoffe, Hormone und Wachstumsfaktoren produziert, die das Überleben von mutierten Zellen fördern und das Wachstum von etablierten Tumoren anregen. Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

Immunantworten in Gang setzen können. Da Fettzellen nur zu einem gewissen Maße aus Vorläuferzellen neu gebildet werden und sich nicht durch Teilung vermehren, besteht bei starkem Übergewicht die Gefahr, dass einzelne Fettzellen überlastet werden. Vermutlich behindern zu große Fetteinlagerungen essenzielle Abläufe im Inneren der Zellen, was zu deren Absterben führt. Die Trümmer der abgestorbenen Fettzellen werden von benachbarten Riesenfresszellen als Warnsignale empfangen und als Anlass gewertet, in den Entzündungsmodus zu wechseln. Von nun an produzieren sie eine Reihe von gefährlichen Entzündungsstoffen, darunter TNF und Interleukin-6, die über die Blutbahn in den gesamten Körper gelangen und dort das Überleben und Wachstum von Krebszellen anregen (Abb. 1). Insbesondere der Botenstoff TNF (Tumor Necrosis Factor) fördert auch das bösartige und metastatische Verhalten von Krebszellen. Neben TNF sind noch viele weitere Entzündungsstoffe im Blutserum von übergewichtigen Patienten erhöht, wie beispielsweise IL-1“, IL-8, IL-10, IL-12, IL-17, IL-18, IL-22 und IFN” (Font-Burgada et al. 2016). Diese Sub-

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stanzen werden von Zellen des angeborenen Immunsystems produziert, die sich bei übergewichtigen Menschen in einer Art dauerhaftem Aktivierungszustand befinden und dadurch eine ungezielte chronische Entzündungsreaktionen anfeuern. Für das anpassungsfähige (adaptive) Immunsystem, das Krebszellen aufspüren und vernichten kann, wird seltsamerweise das Gegenteil beobachtet. Gerade die wichtigen Abwehrzellen (T- und B-Zellen) sind bei übergewichtigen Patienten sowohl in geringerer Zahl vorhanden als auch in ihrer Funktion beeinträchtigt (Lamas et al. 2002). Die beeinträchtigte Immunfunktion übergewichtiger Menschen tritt jedoch nicht nur in Form eines deutlich erhöhten Krebsrisikos zu Tage. Übergewichtige Menschen erkranken auch schwerer und länger an viralen, bakteriellen und fungalen Infektionskrankheiten. Jede Saison erkranken übergewichtige Menschen schwerer an Influenza als normalgewichtige Menschen. Erst die Corona-Pandemie führte diese Tatsache in aller Deutlichkeit der Weltöffentlichkeit vor Augen (Calder 2021). Die erhöhte Infektanfälligkeit von übergewichtigen Patienten ist jedoch keine Besonderheit von CoronaVirus-Infektionen. Eine krebsfördernde systemische Entzündungsreaktion, gepaart mit einer reduzierten adaptiven Immunantwort, die Krebszellen erkennt und eliminiert, trägt also zu dem erhöhten Krebsrisiko von übergewichtigen Patienten bei.

Die Rolle der Darmflora Unsere Darmflora ist nicht bloß eine beliebige Ansammlung von Mikroben, die völlig autonom und abgeschieden von der Außenwelt vor sich hin wimmelt. Ihre Zusammensetzung ist von Mensch zu Mensch verschieden und so einzigartig wie der Fingerabdruck. Aufgrund ihrer Komplexität und enormen gesundheitlichen Bedeutung kann die Mikrobiota als eigenständiges Organ betrachtet werden. Es scheint beinahe so, als ob keine Körperfunktion und kein Krankheitsprozess existiert, bei dem unsere Mikrobiota nicht ein Wörtchen mitzusprechen hat. Ihre einzigartige Zusammensetzung leitet uns bei der Partnerwahl, beeinflusst unsere Stimmung und entscheidet darüber, wie viel wir essen können, ohne zuzunehmen. Viele entzündliche Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und auch Übergewicht gehen mit bestimmten Veränderungen der Darmflora einher, die sogar die Wirkung von Medikamenten und den Erfolg einer Chemotherapie beeinflussen können. Unsere Geburt entscheidet darüber, mit welcher Mikroben-Zusammensetzung wir ins Leben starten. Innerhalb nur weniger Stunden nach der Geburt ist unsere gesamte Körperoberfläche von Milliarden Mikroben besiedelt. Eine

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vaginale Geburt ohne Antibiotika-Einsatz führt zu einer raschen Besiedlung mit der mütterlichen Flora, die nachweislich mit einem niedrigeren Risiko für entzündliche Erkrankungen und Allergien verbunden ist. Kaiserschnittkinder starten mit einer Mikrobenmischung ins Leben, die von der Krankenhausumgebung bestimmt wird und mehr potenziell virulente Keime enthält (Shao et al. 2019). Allerdings ist die Zusammensetzung unserer Mikrobiota keineswegs in Stein gemeißelt. Kaiserschnittkinder können durch ihre Ernährungsweise und ihren Lebensstil viel zu einer gesunden Darmflora beitragen – ebenso, wie eine ungesunde Lebensweise auch bei spontan geborenen Kindern eine krank machende Darmflora fördern kann. Wer mit einer gesunden Mikrobenmischung ins Leben startet, scheint jedoch widerstandsfähiger gegen negative Einflüsse, wie eine einseitige oder kalorienreiche Ernährung, zu sein und seltener mit Stoffwechselstörungen, Entzündungen oder Infektionen zu reagieren. Bei stark übergewichtigen Patienten weist die Darmflora eine Reihe von interessanten Veränderungen auf, die sowohl die Zusammensetzung der Mikrobenarten als auch deren Vielfalt betreffen (Dysbiose). Ähnliche Veränderungen der Darmflora werden auch bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis Ulcerosa und Morbus Crohn beobachtet. Lange Zeit war nicht bekannt, ob eine veränderte Darmflora erst in Folge von Übergewicht und entzündlichen Erkrankungen entsteht oder ob sie möglicherweise sogar ursächlich zu der Entstehung dieser Erkrankungen beiträgt. Tausende wissenschaftliche Veröffentlichungen haben in den letzten Jahren Licht in die unsichtbare und nahezu unverstandene Mikrobenwelt unseres Körpers gebracht. Das Ergebnis dieser Forschungsarbeiten war eindeutig. Unsere Ernährung und unser Lebensstil formen unsere Darmflora und tragen somit direkt zu pathologischen Veränderungen bei. Beispielsweise können zwei nahezu universell in Fertigprodukten verwendete Bindemittel (Carboxymethylcellulose und Polysorbat-80) in niedrigen Mengen bei Mäusen zu Entzündungsreaktionen, Übergewicht und dem damit assoziierten Krankheitsbild des metabolischen Syndroms führen, das durch Diabetes, Bluthochdruck und erhöhte Blutfettwerte gekennzeichnet ist (Chassaing et al. 2015). Wenn der Kot der erkrankten Mäuse in gesunde sogenannte „Germ-free“-Mäuse transferiert wurde, die keine Darmmikroben besitzen, entwickelten auch diese zuvor gesunden Mäuse eine Darmentzündung, Übergewicht und Symptome des metabolischen Syndroms. Ähnliche Beobachtungen ließen sich auch bei menschlichen Patienten machen, die freiwillig an Studien teilnahmen, in denen Stuhl „transplantiert“

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wurde. Es ist beeindruckend, dass alleine eine Stuhltransplantation von gesunden Patienten direkt in den Darm von Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen oder starkem Übergewicht ausreichend ist, um Krankheitssymptome zu lindern und eine Gewichtsreduktion zu bewirken. Diese Daten zeigten eindrücklich, welchen immensen Einfluss unsere Ernährungsgewohnheiten auf die Zusammensetzung unserer Darmflora und damit auch auf die Entstehung von Übergewicht und Erkrankungen haben. Im Kapitel über Ernährung und Darmkrebs erklären wir die wichtige Bedeutung unserer Ernährung für die Darmflora und das Krebsrisiko noch ausführlicher. Auf den Punkt Unsere Ernährung und unser Lebensstil beeinflussen die Zusammensetzung unserer Darmflora. Eine einseitige oder ungesunde Ernährung kann das empfindliche Gleichgewicht der Mikroben in unserem Darm erheblich stören und auf diese Weise zur Entstehung von Entzündungskrankheiten, Übergewicht und Stoffwechselstörungen wie dem metabolischen Syndrom beitragen. All diese Faktoren sind bekannte Krebsförderer und zeichnen sich durch eine gestörte Zusammensetzung und reduzierte Vielfalt an Darmmikroben aus.

Fettgewebe kann mit Krebszellen kommunizieren Nicht nur Immunzellen können Signalmoleküle und Substanzen produzieren, die auf Krebszellen wirken, sondern auch Fettzellen können über Hormone mit Krebszellen und anderen Geweben kommunizieren. Der Füllstand unserer Fettspeicher bestimmt auf diese Weise wichtige Stoffwechselprozesse, unser Essverhalten und das Wachstumsverhalten von Zellen. Hormone, die im Fettgewebe von Fettzellen (Adipozyten) produziert werden, bezeichnet man als „Adipokine“. Das wohl bekannteste dieser Adipokine ist Leptin, das auch als Sättigungshormon bezeichnet wird, weil es das Hungergefühl unterdrückt. Es wirkt direkt auf den Hypothalamus in unserem Gehirn und informiert ihn über unseren Ernährungsstatus. Im Blutserum von stark übergewichtigen Patienten ist Leptin aufgrund der vergrößerten Fettdepots stark erhöht (Considine et al. 1996). Anders als früher vermutet, mangelt es übergewichtigen oder fettleibigen Menschen also nicht an diesem Hormon, sondern es hat sich bereits eine problematische Resistenz gegen dieses Hormon entwickelt (El-Haschimi et al. 2000). Leptin besitzt neben seiner appetitregulierenden Wirkung allerdings noch eine weitere, erst seit kurzem bekannte Funktion. Am Beispiel von Schilddrü-

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sentumoren konnte gezeigt werden, dass Leptin die Neubildung von Blutgefäßen fördert und somit das Tumorwachstum unterstützt (Uddin et al. 2011). Da wachsende Tumore auf eine Neubildung von Blutgefäßen angewiesen sind, um ihren Nährstoff- und Sauerstoffbedarf zu decken, ist diese Funktion von Leptin im Hinblick auf Krebserkrankungen bedenklich – insbesondere, weil Leptin in Form von Kapseln und Tabletten als Nahrungsergänzungsmittel zur Gewichtsreduktion frei verkäuflich angeboten wird. Eine zusätzliche Verabreichung von Leptin scheint kaum zielführend, da übergewichtige Menschen nicht zu wenig davon besitzen, sondern zu viel. Durch die dauerhaft erhöhten Leptinwerte im Blut besteht in vielen Fällen bereits eine Unempfindlichkeit gegen die Wirkung dieses Hormons. Leptin in Tablettenform kann das Problem auf lange Sicht also eher verschlimmern als verbessern und Krebserkrankungen möglicherweise sogar zu einem schnelleren Wachstum verhelfen. Ein weiteres wichtiges Adipokin ist Adiponectin, das eine entzündungshemmende und wachstumshemmende Wirkung auf Tumorzellen besitzt. Anders als Leptin wird es in übergewichtigen Patienten allerdings nicht zu viel, sondern zu wenig produziert, wodurch seine schützende Funktion verloren geht. Die Adiponectin-Konzentration im Blut ist von Mensch zu Mensch verschieden und wird zum Teil durch unsere Gene bestimmt. Daneben spielen Ernährungsgewohnheiten für die Adiponectin-Produktion eine ebenso wichtige Rolle wie die Größe der Fettdepots oder das Maß, in dem wir Sport treiben. Insbesondere größere Ansammlungen von innerem Bauchfett hemmen bei übergewichtigen Menschen die Adiponection-Produktion und sind generell mit vielen gesundheitlichen Risiken verbunden. Verliert man an Gewicht, steigen die Adiponectin-Werte im Blut an. Da niedrige Mengen an Adiponectin mit einem erhöhten Risiko für Diabetes, Herzinfarkte, Schlaganfälle und auch bösartige Tumorerkrankungen korrelieren, könnten sie womöglich einen Teil der Ursache für das erhöhte Krebsrisiko und die aggressiveren Verläufe in übergewichtigen Patienten darstellen (Dalamaga et al. 2012). Gleichzeitig bietet dieses Wissen einen Ansatzpunkt für zukünftige Therapien. Zur Unterstützung der Krebstherapie könnte bei übergewichtigen Patienten auch eine medikamentöse Gabe von Adiponectin in Erwägung gezogen werden – insbesondere dann, wenn der gesundheitliche Zustand das Abnehmen erschwert. Adiponectin erhöht die Empfindlichkeit für das Stoffwechselhormon Insulin (Straub und Scherer 2019). Der Adiponectin-Mangel könnte somit auch ein Grund für die Insulin-Resistenz übergewichtiger Patienten sein, die durch eine kompensatorische Überproduktion von Insulin ausgeglichen wird und auf diese Weise die Entstehung von Diabetes mellitus Typ II und anderen Stoffwechselstörungen begünstigt. Adiponectin schützt uns also zusätzlich

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auch vor den bekannten negativen Auswirkungen eines erhöhten InsulinSpiegels auf das Krebsrisiko und den Alterungsprozess.

Unsere Ernährung beeinflusst die Gesundheit unserer Nachkommen Neben unserer Ernährungsweise und unserem Lebensstil spielen auch genetische Faktoren eine Rolle bei der Entstehung von Übergewicht. Seit kurzem wissen wir, dass die negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Übergewicht sogar an die nächsten Generationen weitergegeben werden können, und zwar nicht nur während der Schwangerschaft, sondern bereits vor der eigentlichen Empfängnis. Tatsächlich ist gerade der Zeitraum in den Tagen vor der Befruchtung besonders wichtig (Fleming et al. 2018). Obwohl alle Eizellen einer Frau bereits zu Beginn ihres Lebens vorhanden sind, befinden sie sich bis kurz vor dem Eisprung in einem unfertigen Zustand. Erst wenn eine Eizelle während des Menstruationszyklus im Follikel heranreift, vollendet sie den letzten Schritt ihrer Reifeteilung. In diesem kurzen Zeitfenster ist der Stoffwechsel der Eizelle aktiv und kann sich mit ihrer Umwelt austauschen. Bei übergewichtigen Frauen können sich während dieser wenigen Tage Stoffwechselprodukte und Fettsäuren im heranreifenden Follikel und in der Eizelle ansammeln. Wichtige Organellen der Eizelle können dadurch beschädigt werden, wobei insbesondere Schädigungen der Mitochondrien beobachtet wurden, die sozusagen die Energie-Kraftwerke unserer Zellen sind. Mitochondrien stammen ursprünglich von Bakterien ab und bilden eine symbiotische Lebensgemeinschaft mit unseren Zellen. Sie besitzen nicht nur ihre eigene DNA und Zellmembran, sondern teilen und vermehren sich auch vollkommen unabhängig vom Zellzyklus unserer Zellen. Bei jeder Zellteilung werden sie beliebig mit dem Zytoplasma auf die neu gebildeten Tochterzellen verteilt. Indem sie ihr eigenes Erbgut besitzen und vervielfältigen, bilden sie wortwörtlich eine eigene Vererbungslinie in vielzelligen eukaryotischen Lebewesen wie uns Menschen. Die in der Eizelle enthaltenen Mitochondrien bilden den Stamm für alle weiteren jemals gebildeten Mitochondrien eines Lebewesens. Eine Schädigung der Mitochondrien innerhalb der Eizelle kann zu schweren und komplexen Krankheitsbildern führen, die je nach Art der genetischen Schädigung und dem Prozentsatz der betroffenen Mitochondrien innerhalb von Zellen und Geweben variieren (Russell et al. 2020). Da Väter im Normallfall keine Mitochondrien mit den Spermien an ihre Nachkommen

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weitergeben, beeinflussen vermutlich nur die mütterlichen Mitochondrien in der Eizelle den Stoffwechsel der Nachkommen direkt und dauerhaft. Neben eingelagerten Stoffwechselprodukten und mitochondrialen Schäden können sogenannte epigenetische Veränderungen in den Eizellen übergewichtiger Mütter nachgewiesen werden. Epigenetisch bedeutet, dass nicht die DNA-Information selbst verändert wird, sondern nur bestimmte chemische Strukturen an der DNA, die für die Steuerung von Genaktivitäten wichtig sind (die Vorsilbe epi ist altgriechisch und bedeutet „auf, über“). All diese Faktoren haben weitreichende gesundheitliche Konsequenzen und könnten die Krebsentstehung im späteren Leben eines Kindes beeinflussen (Reichetzeder 2021). Mütterliches Übergewicht erhöht zudem das Risiko des Kindes, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erkranken (Roberts et al. 2015). Auch wenn Väter keine Mitochondrien an ihren Nachwuchs vererben, kann ein ungesunder Lebensstil und väterliches Übergewicht dennoch zu einer Schädigung der in den Spermien enthaltenen DNA und epigenetischen Veränderungen führen. Wie bei der Mutter wirken sich diese Veränderungen negativ auf die spätere Gesundheit des Kindes aus. Untersuchungen zeigten, dass sogar Eingriffe, wie die unter Laborbedingungen stattfindende künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation), Auswirkungen auf die spätere Gesundheit eines Kindes haben können. Kinder, die durch künstliche Befruchtung gezeugt wurden, weisen häufiger angeborene Anomalien auf und haben ein niedrigeres Geburtsgewicht. Bei ihrer Geburt treten vermehrt Komplikationen auf, inklusive einer erhöhten Sterblichkeit. Zudem leiden sie im späteren Leben häufiger an Herzkrankheiten und Stoffwechselstörungen wie Diabetes (Scherrer et al. 2012; Gkourogianni et al. 2014; Fleming et al. 2018). Es ist anzunehmen, dass der Eingriff der künstlichen Befruchtung die Gesundheit von Kindern auf eine ähnliche Weise beeinflussen kann wie der Stoffwechsel, das Körpergewicht oder der Lebensstil der Eltern. Vor der Implantation in die Gebärmutter werden die Eizellen und auch die nur aus wenigen Zellen bestehenden Embryonen in einem kommerziell erwerblichen Zellkulturmedium gehalten. Es existieren sehr fundierte Studien zu der Frage, welches Zellkulturmedium für diesen Zweck am besten geeignet ist. Genau diese Studien offenbarten erstmals auch in aller Deutlichkeit, welchen enormen Einfluss die Umgebung der Eizelle zum Zeitpunkt der Befruchtung auf die Entwicklung des Kindes hat. Kleinste Unterschiede in den verwendeten Zellkulturmedien waren ausreichend, um zu signifikanten Veränderungen des Geburtsgewichts zu führen, die sogar noch in einem Alter von zwei Jahren nachweisbar waren (Kleijkers et al. 2014; Kleijkers et al. 2016).

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Auch diese weitreichenden gesundheitlichen Auswirkungen werden durch epigenetische Veränderungen in der Eizelle und den Zellen des frühen Embryos verursacht. Auf diese Weise erhöhen künstliche Befruchtungen zusätzlich das Risiko für eine Reihe von ansonsten sehr seltenen „ImprintingKrankheiten“, die durch Fehler bei der epigenetischen Bearbeitung der DNA verursacht werden (beispielsweise Methylierungsfehler). Aber warum sind Eizellen und Spermien eigentlich so empfindlich gegenüber veränderten Ernährungssituationen und reagieren darauf mit epigenetischen Veränderungen? Wir wissen es nicht genau, aber vermutlich war dieser Mechanismus im Laufe der Evolution hilfreich, um sich schneller an wandelnde Umweltbedingungen anzupassen. Menschen haben im Vergleich zu anderen Tierarten eine extrem lange Generationszeit und leisten einen enormen Aufwand bei der Aufzucht ihrer Jungen. Diese lange Generationszeit steht dabei in direktem Konflikt zu einer schnellen Anpassungsfähigkeit auf dem Weg der klassischen genetischen Vererbung. Lange Zeit galt es als Rätsel, wie es der Menschheit gelang, sich innerhalb kürzester Zeit immer wieder an unterschiedliche Lebensbedingungen anzupassen. Vermutlich liegt das Geheimnis genau in diesem kurzen Zeitfenster um die Befruchtung, das es weiblichen und männlichen Keimzellen erlaubt, Informationen aus ihrer Umwelt aufzunehmen und an jede einzelne Zelle des gebildeten Embryos weiterzugeben. Auf diesem Wege können Umweltinformationen direkt in den Bauplan eines neu gezeugten Organismus mit einfließen. In Hungerszeiten führen gewisse Stoffwechselprodukte möglicherweise dazu, dass der Stoffwechsel über epigenetische Veränderungen in den Keimzellen verlangsamt wird. Jedoch stand Nahrung während der gesamten Menschheitsgeschichte selten dauerhaft und im Überfluss zur Verfügung, wie in unserer heutigen modernen Gesellschaft. Stattdessen wurde unser Körper über Jahrmillionen darauf optimiert, die Nahrung so effektiv wie möglich zu speichern, um längere Hungerperioden zu überbrücken. Dieser Anpassungsmechanismus könnte dem modernen Menschen in einer Überflussgesellschaft zum Verhängnis werden. Unsere Keimzellen können nicht unterscheiden, ob sie nützliche Informationen aus der Umwelt aufnehmen oder schädliche Stoffwechselprodukte. Gesundheitsprobleme der Eltern oder eine schlechte körperliche Verfassung zum Zeitpunkt der Befruchtung und Schwangerschaft könnten auf diese Weise die Entstehung vieler chronischer Erkrankungen und Stoffwechselstörungen begünstigen, die im späteren Leben des Kindes als erwiesene Krebsförderer wirken. Es wäre daher wichtig, dem Zeitfenster direkt vor und nach der Befruchtung ein besonderes medizinisches Interesse im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge zu widmen.

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Der Einfluss der Umgebungstemperatur auf den Stoffwechsel Glücklicherweise müssen wir nicht erst neu geboren werden, um unseren Stoffwechsel zu verändern. Die Aktivität unseres Stoffwechsels und damit auch unser Energieumsatz werden nicht nur durch unsere Gene, sondern auch durch unsere Ernährung, unser Alter, unsere körperliche Fitness und sogar durch die Temperatur unserer Umgebung bestimmt. Unter streng kontrollierten Versuchsbedingungen wurde gezeigt, dass es genügt, einen Monat lang die nächtliche Umgebungstemperatur von 24 auf 19 °C zu reduzieren, um den Anteil an braunem Fettgewebe in unserem Körper zu erhöhen (Lee et al. 2014; Daanen und Lichtenbelt 2016). Mehr Fettgewebe ist in diesem Fall tatsächlich von Vorteil, denn braunes Fettgewebe unterscheidet sich nicht nur in seiner Farbe, sondern vor allem in seiner Funktion von unserem weißen Speicherfett. Braunes Fettgewebe besitzt die besondere Fähigkeit, die im Fettgewebe gespeicherte chemische Energie in Wärmeenergie umzuwandeln, also Fett zu verbrennen. Neugeborene besitzen prozentual die größte Menge an braunem Fettgewebe, was sie vor dem Auskühlen schützt. Interessanterweise befinden sich die Depots aus braunem Fettgewebe bei Neugeborenen und auch bei Erwachsenen vor allem auf der Körperrückseite und im Nacken, was zu der Tatsache passt, dass Menschen aus biologischer Sicht „Traglinge“ sind. Somit war der Wärmeschutz an der Körpervorderseite weniger überlebenswichtig als auf der ungeschützten, von der Mutter abgewandten Körperrückseite. Eine niedrigere Umgebungstemperatur kann zusätzlich zur Förderung des braunen Fettgewebes auch die Empfindlichkeit für das wichtige Stoffwechselhormon Insulin erhöhen und auf diese Weise den Blutzuckerspiegel positiv beeinflussen (Lee et al. 2014). Sowohl ein gesundes Körpergewicht als auch niedrige Insulinwerte und ein niedriger Blutzuckerspiegel reduzieren nachweislich das Krebsrisiko. Durch die zahlreichen positiven Auswirkungen auf den Stoffwechsel nimmt man an, dass eine dauerhaft leicht erniedrigte Umgebungstemperatur ausreicht, um das Krebsrisiko zu senken. Ein Leben in extremer Kälte ist jedoch leider keine Lösung, da für Bevölkerungsgruppen in extrem kalten Regionen der Erde ein erhöhtes Krebsrisiko beobachtet wird. Allerdings wirkt hier wieder eine tendenziell ungesündere Lebensweise mit viel Fleisch und wenig frischem Obst und Gemüse dem positiven Effekt einer niedrigen Umgebungstemperatur auf den Stoffwechsel entgegen. Wie die wissenschaftlichen Studien unter Laborbedingungen zeigten, genügt es vermutlich, einfach die Raumtemperatur nachts etwas zu reduzieren.

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Zucker als Krebsrisiko Das Stoffwechselhormon Insulin wird nach Mahlzeiten von spezialisierten Zellen der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttet und über die Blutbahn im gesamten Körper verteilt. In den Zielgeweben fördert Insulin die Aufnahme von Zucker aus dem Blut in Körperzellen, wobei der meiste Zucker in Muskelzellen eingeschleust wird. Dort wird er in Form von Glykogen gespeichert, das der Muskulatur als schnelle Energiequelle für Bewegungen zur Verfügung steht. Erst wenn die Glykogen-Speicher der Muskulatur erschöpft sind, setzt die Fettverbrennung ein, was sich kurzzeitig als Gefühl der Erschöpfung bemerkbar macht. Überschüssiger Zucker, der nicht von Muskelzellen aufgenommen werden kann, bleibt im Blut zurück und muss von anderen Körperzellen aufgenommen werden. Ein Großteil des überschüssigen Zuckers wird ebenfalls als unlösliches Glykogen in der Leber gespeichert oder in Fett umgewandelt und im Fettgewebe gespeichert. Wenn wir dauerhaft zu viel Zucker mit der Nahrung aufnehmen, kann er auch in Form von Fett in Leberzellen abgelagert werden. Eine gefährliche Fettleber entsteht, die in vielen Fällen von einer krebsfördernden Entzündungsreaktion begleitet wird. Das Label „fettfrei“ auf stark zuckerhaltigen Lebensmitteln ist in diesem Zusammenhang besonders kritisch zu sehen. Es ist nicht nur irreführend, sondern es hat darüber hinaus auch keinen gesundheitlichen Nutzen, den Fettanteil eines Lebensmittels durch Zucker zu ersetzen. Ein hoher Zuckerkonsum führt auf Dauer häufig zu einer Unempfindlichkeit gegenüber dem Stoffwechselhormon Insulin, die auch als Insulinresistenz, erworbene Zuckerkrankheit oder Typ-II-Diabetes bezeichnet wird. Bei dieser Erkrankung reagieren die Körperzellen nicht mehr ausreichend auf das nach Mahlzeiten ausgeschüttete Insulin. Der Zucker bleibt in erhöhten Mengen im Blut zurück, wodurch eine lebensbedrohliche Überzuckerung entstehen kann. Diese Überzuckerung wird auch als Hyperglykämie bezeichnet und ist mit einem stark erhöhten Leberkrebsrisiko assoziiert. Unabhängig vom Zuckerkonsum kann auch Übergewicht eine gefährliche Insulinresistenz verursachen. Schuld daran sind freie Fettsäuren, die von Fettzellen in das Blut abgegeben werden und die Insulin-vermittelte Zuckeraufnahme in Körperzellen blockieren. Wie viele freie Fettsäuren im Blut zirkulieren, hängt dabei sowohl von der Größe als auch vom Ort der Fettdepots ab. Insbesondere das problematische innere Bauchfett produziert große Mengen dieser freien Fettsäuren (Font-Burgada et al. 2016). Aus evolutionärer Sicht mag es unlogisch erscheinen, dass unser Körper eine Energiequelle wie Zucker freiwillig ablehnt. Tatsächlich ist es für den Körper aber wenig sinn-

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voll, Zucker aufzunehmen und unter Energieaufwand in speicherbares Fett umzuwandeln, wenn er stattdessen direkt auf freie Fettsäuren zurückgreifen kann. Eine falsche Ernährung und Diabetes erhöhen nicht nur das Leberkrebsrisiko, sondern auch das allgemeine Krebsrisiko. Wie alle Körperzellen werden auch geschädigte Zellen und potenziell vorhandene Krebszellen den Zuckerkonzentrationen in unserem Blut ausgesetzt. Da die meisten Krebszellen auf Zucker als Nahrungsquelle angewiesen sind, profitieren sie in besonderem Maße von einem Überangebot. In Experimenten an Mäusen konnte gezeigt werden, dass die Aufnahme von Zucker mit der Nahrung das Wachstum von Lebertumoren beschleunigt, die durch ein injiziertes Karzinogen (Diethylnitrosamin) verursacht wurden. Dieser Effekt wurde sogar bei normalgewichtigen Mäusen beobachtet, was darauf hinweist, dass das Wachstum der Krebszellen direkt durch einen erhöhten Blutzucker angeregt wird, und nicht etwa durch Stoffwechselstörungen, die erst in Folge von Übergewicht entstehen (Healy et al. 2015). Diese Forschungsergebnisse sind besonders wichtig, denn häufig wird angenommen, dass Zucker bei schlanken Menschen kein gesundheitliches Risiko darstellt. Ein hoher Blutzucker kann also das Krebsrisiko erhöhen und das Wachstum von Tumoren fördern. Der Blutzucker erhöht dabei das Krebsrisiko, unabhängig von Übergewicht, das als eigenständiger Krebsförderer über Hormone, Wachstumsfaktoren und Entzündungen wirkt. Die Auswirkungen eines hohen Zuckerkonsums dürfen aber nicht zu dem Umkehrschluss führen, dass der Verzicht auf Zucker Krebserkrankungen heilen kann. Häufig kommt es bei der Interpretation von Forschungsergebnissen zu einer solchen Verwechslung. Zur Veranschaulichung dieses Denkfehlers nehmen wir das Rauchen als einfaches Beispiel: Nur weil es bewiesen ist, dass Rauchen Lungenkrebs verursachen kann, bedeutet dies nicht automatisch, dass man Lungenkrebs durch einen sofortigen „Rauchstopp“ heilen kann. In jedem Fall aber ist es richtig, das Rauchen zu beenden, um die Krebserkrankung nicht unnötig zu verschlimmern. So ähnlich verhält es sich auch mit dem Zuckerkonsum. Es ist nicht verwunderlich, dass der „Verzicht auf Zucker als Krebstherapie“ jedem Leser eines Lehrbuchs der Tumorbiologie in den Sinn kommt, wenn er über den Warburg-Effekt stolpert. Der Warburg-Effekt ist benannt nach dem deutschen Arzt und Nobelpreisträger Otto Warburg, der vor beinahe 100 Jahren entdeckte, dass Krebszellen einen stark erhöhten Zuckerbedarf haben. Um den Warburg-Effekt zu verstehen, muss man wissen, dass gesunde Zellen normalerweise Zucker (chemisch: Glukose) in einem Stoffwechselvorgang, der Glykolyse genannt wird, zu einem Stoffwechselprodukt namens Pyru-

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vat abbauen. Dieses Pyruvat wird anschließend im Citratzyklus in den Mitochondrien weiter zu Kohlenstoffdioxid abgebaut. Dieser energetisch optimale Vorgang nennt sich Zellatmung, weil er nur in Anwesenheit von Sauerstoff funktioniert. Wenn nicht genügend oder kein Sauerstoff verfügbar ist, müssen die Zellen auf die Glykolyse als alleinige Energiequelle zurückgreifen. Die Glykolyse ist energetisch viel weniger effizient als die Zellatmung (18-fach weniger) und daher normalerweise nur ein Reserveprogramm. Anders ist dies bei den meisten Krebszellen, die selbst in Anwesenheit von Sauerstoff die Glykolyse zur Energiegewinnung verwenden. Da Krebszellen also Zucker auf dem Weg der Glykolyse nur sehr ineffizient verwerten, müssen sie ihren extrem hohen Energiebedarf durch eine ebenso hohe Zuckeraufnahme kompensieren. Diese Eigenschaft von Krebszellen wird in der klinischen Bildgebung auch genutzt, um Krebserkrankungen und Metastasen mithilfe von radioaktiv markierten Glukosemolekülen sichtbar zu machen, da diese sich schnell in Tumorgeweben anreichern. Die Ursachen für den Warburg-Effekt sind bis heute nicht vollends geklärt. Eine plausible Erklärung ist, dass Krebszellen von der Sauerstoffunabhängigkeit profitieren, weil sie ihnen erlaubt, ungeachtet der oftmals schlechten Sauerstoffversorgung innerhalb eines schnell wachsenden Tumors zu überleben. Interessanterweise greifen Krebszellen aber auch in Anwesenheit von Sauerstoff nicht auf die energetisch günstigere Zellatmung zurück. Dies legt nahe, dass die Glykolyse den Krebszellen eventuell noch weitere Vorteile verschafft, wie beispielsweise die Bereitstellung von Zwischenprodukten der Glykolyse als Baumaterial für Proteine (Weinberg 2014). Es stimmt also, dass Krebszellen Zucker brauchen, und nicht wie unsere gesunden Zellen vorwiegend Sauerstoff zur Energiegewinnung verwenden. Nur ist leider der Ansatz falsch, dass man den Krebs einfach aushungern kann, indem man auf Zucker und Kohlenhydrate verzichtet. Für viele Krebspatienten wäre das sogar fatal, denn ungewollter Gewichtsverlust bis hin zur Tumorkachexie ist eine häufige Begleiterscheinung vieler Krebserkrankungen. Das Wort „Kachexie“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „schlechter Zustand“, in Anlehnung an den schwachen und stark abgemagerten Zustand vieler Krebspatienten. Tumorkachexie ist lebensbedrohlich und betrifft besonders Patienten mit Magenkrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Darmkrebs, Brustkrebs, Lungenkrebs und Speiseröhrenkrebs. Eine zusätzliche Hungerkur würde in diesem Fall die Krebserkrankung nicht besiegen, sondern die Lebenszeit noch verkürzen. Da auch unser Gehirn auf Zucker als Nahrungsquelle angewiesen ist, kann unser Körper Zucker aus nahezu allen anderen Nahrungsmitteln im Bedarfsfall selbst herstellen. Hinsichtlich einer Krebstherapie wäre die Verwendung „glykolysehemmender“ Medika-

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mente der sinnvollere Ansatz, um die Zuckerverwertung gezielt in Krebszellen zu blockieren und somit deren Wachstum zu hemmen. Auf den Punkt Zucker selbst ist nicht karzinogen, aber eine zuckerreiche Ernährung begünstigt die Entstehung von Übergewicht und Diabetes mellitus Typ II, die als Krebsförderer auf Körperzellen mit genetischen Schädigungen wirken können. Zusätzlich kann ein hoher Blutzuckerspiegel das Wachstum bereits vorhandener Krebszellen erleichtern, indem er ihnen hilft, ihren erhöhten Zuckerbedarf zu decken. Es gibt zu diesem Zeitpunkt jedoch keine Studie, die belegt, dass der alleinige Verzicht auf Zucker sich positiv auf das Überleben von Krebspatienten auswirkt. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass unser Körper Zucker aus vielen Nahrungsmitteln selbst herstellen kann und dies bei Bedarf auch tut – beispielsweise aus Kohlenhydraten, Fruchtzucker, Milchzucker und sogar aus Fett (Kaleta et al. 2011). Am Beispiel der Tumorkachexie erahnen wir, wer den Kampf um die Ressourcen verlieren würde.

Die Konsequenzen für unser Verhalten, die sich aus diesem Wissen ergeben, sind simpel, aber erfordern meist viel Disziplin angesichts der Welt, in der wir leben. Um Übergewicht zu vermeiden und den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken zu entgehen, müssen wir die Ernährungsgewohnheiten unserer Gesellschaft ernsthaft überdenken. Am einfachsten ist es, reinen Industriezucker, zuckerhaltige Fertigprodukte und gesüßte Getränke zu vermeiden, da unser Körper industriellen Zucker nicht braucht. Zwar sind einige Organe, wie beispielsweise das Gehirn, auf eine kontinuierliche Bereitstellung von Zucker angewiesen, jedoch kann unser Körper diesen Zucker aus der Nahrung selbst herstellen, ohne ständige „Blutzuckerpeaks“ zu verursachen, wie es bei industriell hergestelltem Zucker der Fall ist. Hohe Blutzuckerwerte belasten unseren Stoffwechsel (Gefahr der Insulinresistenz!) und führen durch einen Gewöhnungseffekt zu Heißhungerattacken. Die Herstellung von Zucker aus anderen Nahrungsmitteln in unserem Körper erfolgt langsamer und gleichmäßiger. Der gelegentliche Konsum von kleinen Zuckermengen hat jedoch sicherlich keine dramatischen Auswirkungen auf unsere Gesundheit und die Krebsentstehung – vor allem, wenn wir uns ansonsten ausreichend bewegen und gesund ernähren. Komplizierter wird es bei den Fetten, denn sie sind nicht nur „leere“ Kalorienträger. Sie werden für die Aufnahme von fettlöslichen Vitaminen benötigt, und einige von ihnen, die sogenannten essenziellen Fettsäuren, sind sogar lebenswichtig, weil unser Körper sie nicht selbst herstellen kann. Essenzielle Fettsäuren, wie beispielsweise die bekannten Omega-3-Fettsäuren,

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müssen deshalb mit der Nahrung aufgenommen werden und kommen in Algen, pflanzlichen Ölen und in fettreichem Fisch vor. Omega-3-Fettsäuren sind wichtig für die Ausbildung unseres Nervensystems und eine gesunde Gehirnfunktion. Hochwertige Fette sind ein wichtiger Bestandteil einer gesunden Ernährung, aber auch hier gilt es, die Menge im Blick zu behalten. Die Hypothese, dass gesättigte Fette, die beispielsweise in Butter, Sahne und Schmalz vorkommen, generell ungesund sind und Herz-KreislaufErkrankungen verursachen, ließ sich übrigens in wissenschaftlichen Studien bisher nicht eindeutig bestätigen. Tatsächlich kann Butter sogar eine wertvolle Quelle von hochwertigen, einfach ungesättigten Omega-3-Fettsäuren und Vitaminen sein – vorausgesetzt, die Kühe hatten Zugang zu hochwertiger frischer Nahrung (Cholewski et al. 2018).

Übergewicht beschleunigt den Alterungsprozess Die herausragende Bedeutung der Ernährung für unsere Gesundheit zeigt sich am eindrucksvollsten an besonders langlebigen Menschen und Bevölkerungsgruppen. Eine der wenigen wissenschaftlich erwiesenen Maßnahmen, um länger zu leben – wenn nicht, sogar die einzige – ist eine kalorienreduzierte Diät. Bei Tieren kann eine kalorienreduzierte Diät die Lebensspanne wiederholbar um mehr als 50 % verlängern. Die Verlängerung der Lebensspanne geht dabei in allen Fällen mit einem deutlich verbesserten Gesundheitszustand einher. Interessanterweise beruht die lebensverlängernde Wirkung der kalorienreduzierten Diät nur zum Teil auf einer Reduktion von Stoffwechselprodukten und Schadstoffen. Übergewicht wirkt sich negativ auf einen wichtigen zellulären AufräumMechanismus aus, der Autophagie genannt wird und so viel wie „Selbstverdauung“ bedeutet. In Hungerszeiten ermöglicht die Autophagie es unseren Zellen, die Bestandteile der Zelle als Nahrungsquelle für überlebenswichtige Zellvorgänge zu nutzen. Allerdings ist Autophagie nicht nur ein Notprogramm, sondern findet in einem geringeren Ausmaß ständig in unseren Körperzellen statt. Auf diese Weise verhindert Autophagie die Ansammlung von kaputten Proteinen und Zellorganellen, die auf Dauer die DNA schädigen können. Defekte Mitochondrien produzieren beispielsweise besonders aggressive Sauerstoffmoleküle, die Proteine und Enzyme innerhalb der Körperzellen schädigen (Font-Burgada et al. 2016). Besonders gefährlich ist eine solche Schädigung, wenn die betroffenen Proteine und Enzyme an der DNA-Vervielfältigung oder -Reparatur beteiligt sind.

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Übergewicht blockiert den Vorgang der Autophagie in unseren Körperzellen und kann auf diesem Wege im schlimmsten Fall sogar die Entstehung von Krebserkrankungen fördern. Somit spielt auch die Autophagie eine wichtige Rolle für die Langlebigkeit von Zellen und Organismen (Lapierre et al. 2015). Wissenschaftliche Studien zeigten, dass 40–75 % der Tumore von Brust, Gebärmutter und Prostata einen Defekt in dem besonders wichtigen AutophagieGen Beclin-1 aufweisen. Gestörte Autophagie-Prozesse spielen auch bei der Entstehung von Leber- und Bauchspeicheldrüsenkrebs eine wichtige Rolle, die beide zu den aggressivsten Krebsarten mit den schlechtesten Heilungsaussichten zählen. Diese Daten lassen vermuten, dass Autophagie der Krebsentstehung entgegenwirkt und eine gestörte Autophagie, wie sie bei übergewichtigen Menschen oder in fortgeschrittenen Tumoren beobachtet wird, die Krebsentstehung fördert (Aghajan et al. 2012). Heute weiß man, dass eine kalorienreduzierte Ernährung noch viel weitreichendere Auswirkungen hat, als nur die Ansammlung von oxidativen Zellschäden im Laufe des Lebens gering zu halten. Eine strenge Kalorienreduktion kann auch Signalwege in unseren Zellen verändern, die den Alterungsprozess direkt steuern. Wissenschaftler finden bei langlebigen Menschen besonders häufig Mutationen in den Genen für mTOR, AMP Kinase, Sirtuine, Insulin und IGF-1, die allesamt wichtige Aufgaben bei der Wahrnehmung von Wachstumshormonen und Nährstoffen wie Zucker spielen. Wir wissen aber leider zu wenig darüber, wie diese Signalwege die Lebensspanne regulieren und ob man die Effekte einer kalorienreduzierten Diät möglicherweise durch Medikamente imitieren oder verstärken kann. Die lebensverlängernde Wirkung einer kalorienreduzierten Ernährung wird bei Tieren interessanterweise sogar noch verstärkt, wenn die Tiere schlechter riechen oder schmecken können. Ob dies auch bei Menschen der Fall ist, wurde bisher noch nicht in aussagekräftigen Studien untersucht. Es ist allerdings bekannt, dass der Geruch oder die Erwartung von Essen auch bei Menschen ausreicht, um die Insulinlevel in die Höhe zu treiben. Da insbesondere hohe Insulin- und IGF-1-Level die Lebensspanne verkürzen können, ist es vorstellbar, dass der Geruch und Geschmack von industriell verarbeiteter Nahrung, die häufig mit chemischen Hilfsmitteln zur Verbesserung des Geruchs und Geschmacks versetzt ist, im Menschen ausreicht, um den Alterungsprozess durch eine regelmäßig erhöhte Insulinausschüttung anzukurbeln. Bei Tieren kann eine beträchtliche Verlängerung der Lebensspanne auch erzielt werden, wenn die kalorienreduzierte Diät erst in der Mitte des Le-

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bens beginnt – oder die Fütterung nur jeden zweiten Tag stattfindet (Kenyon 2010). Warum eine verminderte Nahrungszufuhr das Leben dermaßen deutlich verlängert, ist unklar, aber die Natur scheint dabei einem interessanten Prinzip zu folgen: Wenn ausreichend Nahrung zur Verfügung steht, ist der Körper auf Wachstum und Vermehrung programmiert. In Zeiten der Nahrungsknappheit schaltet der Körper jedoch auf Erhaltungsmechanismen um, die den Alterungsprozess verlangsamen. Nahrungsrestriktion führt bei Tieren interessanterweise nicht nur zu einem verlängerten Leben, sondern auch zu einem verspäteten Einsetzen von Alterserscheinungen und Alterskrankheiten. Es ist also möglich, das gesamte Spektrum des Alterns, inklusive der damit verbundenen Erkrankungen, alleine durch die Ernährung zu beeinflussen. Im Kapitel „Krebsprävention – Allheilmittel und Anti-Aging-Therapie“ haben wir uns noch etwas genauer mit der Frage beschäftigt, wie der jetzige Wissensstand schon heute zur Krebsprävention genutzt werden könnte. Die Nahrungsmittelindustrie rund um Superfoods wie Chia-Samen, Quinoa, Topinambur, Baobab und Moringa boomt. Diese Superfoods sollen unsere Gesundheit steigern und dadurch zu einem deutlich längeren Leben beitragen. Dabei wird oft völlig außer Acht gelassen, dass auch regionale Obstoder Gemüsesorten und insbesondere Nüsse eine sehr wertvolle und oftmals günstigere Quelle von Vitaminen, Mineralstoffen und Omega-3-Fettsäuren sein können. Am Ende entscheidet nicht nur die Qualität und Schadstoffbelastung, sondern insbesondere die Menge unserer Ernährung darüber, ob sie unserer Gesundheit zuträglich ist oder nicht. Geld lässt sich bekanntlich besser mit einer „kaufbaren“ Gesundheit verdienen als mit dem Ratschlag, einfach weniger und bewusster Nahrung zu konsumieren. Auf den Punkt Eine kalorienreduzierte Ernährung kann die Lebensspanne von Menschen und Tieren deutlich verlängern. Dieser Effekt beruht auf einer Reduktion von Stoffwechselprodukten, veränderten Signalwegen innerhalb von Körperzellen, niedrigeren Leveln von Wachstumshormonen und einem ungestörten zellulären Aufräum-Prozess namens Autophagie. Autophagie ist wichtig für die Gesundheit unserer Zellen und somit für die Gesundheit unseres gesamten Körpers. Eine hohe Kalorienzufuhr und starkes Übergewicht stören den Vorgang der Autophagie und erhöhen dadurch das Risiko, an Krebs zu erkranken (Abb. 2). Wir müssen nicht in teure Superfoods investieren, um länger und gesünder zu leben. Stattdessen genügt es, auf die Qualität und Menge der Ernährung zu achten.

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Abb. 2 Mechanismen, durch die eine hohe Kalorienzufuhr und starkes Übergewicht zur Krebsentstehung beitragen können. Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

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Bewegungsmangel als Krebsursache

Zusammenfassung Die positiven gesundheitlichen Auswirkungen von Sport reichen weit über die Regulation des Körpergewichtes hinaus. Sport verändert viele verschiedene Körperfunktionen in einer koordinierten Weise, wie es kein Medikament dieser Welt zu imitieren vermag. Er verbessert die Immunfunktion, die Knochendichte, die Durchblutung, den Blutdruck und den Schlaf. Indem er die Konzentration von Stresshormonen und Wachstumsfaktoren im Blut senkt, erhöht er unsere Stressbelastbarkeit und reduziert das Krebsrisiko. Deshalb kann Sport auf vielfältige Weise zu einer höheren Lebensqualität beitragen und das Leben verlängern. Diese antike Weisheit ist inzwischen von wissenschaftlichen Studien eindeutig belegt. Die evolutionäre Erfolgsgeschichte der Menschheit ist untrennbar mit der Entwicklung des aufrechten Gangs vor rund zwei Millionen Jahren verknüpft. Die neue Gangart ermöglichte es unseren Vorfahren, mit geringem Energieaufwand enorme Strecken zu Fuß zu bewältigen und extrem ausdauernd zu rennen. Von nun an konnten Menschen riesige Lebensräume für ihre Nutzung erschließen, besser vor Gefahren fliehen und sehr erfolgreich jagen (Bramble und Lieberman 2004). Obwohl andere Tierarten, wie beispielsweise Geparden mit bis zu 100 km/h, noch wesentlich schneller als Menschen sind, nimmt die sogenannte kardiorespiratorische Fitness von Menschen eine im gesamten Tierreich einzigartige Position ein. Sie übertrifft sogar die von Pferden. Diese beispiellose Ausdauergabe muss den damaligen Menschen einige überlebenswichtige Vorteile verschafft haben. Ein Vorteil war mit Sicherheit die Fähigkeit, Beutetiere so © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_8

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lange verfolgen zu können, bis diese vor Erschöpfung zusammenbrachen. Diese als Persistenzjagd bezeichnete Jagdmethode wird auch heute noch von Völkern in der Kalahari-Wüste eingesetzt, um Beutetiere zu erlegen, die in der Mittagszeit schnell überhitzen. Zusätzlich zu seiner herausragenden Ausdauer, besitzt der Mensch noch eine bemerkenswerte physiologische und anatomische Anpassungsfähigkeit an körperliche Anstrengungen und Bewegungen. Neben dem äußerlich sichtbaren Wachstum der Muskulatur. geschehen bei körperlicher Belastung im Inneren des Körpers noch weitere interessante Veränderungen. Das Besondere an diesen Veränderungen ist, dass sie gleich mehrere Organsysteme betreffen und in einer koordinierten Weise ablaufen. Neben dem Wachstum der Muskulatur, beeinflusst Sport auch das Herz-Kreislauf-System, die Knochendichte, den Stoffwechsel, die Fettdepots, die Blutgefäße, das Immunsystem und die im Blut verfügbaren Hormone und Nährstoffe (Koelwyn et al. 2017). Auf den Punkt Körperliche Belastungen, wie beispielsweise Sport, verändern den Nährstoffgehalt des Blutes und alle Organsysteme unseres Körpers – inklusive des Skeletts, der Muskulatur, des Gefäßsystems, des Immunsystems, des Nervensystems und des Hormonsystems – in einer koordinierten Weise. Daher stellt Sport eine einzigartige und extrem wirkungsvolle Methode dar, um den Verlauf von komplexen Erkrankungen, wie Krebs, zu beeinflussen.

Unsere heutige Lebensweise hat zu einem großen Ungleichgewicht in einem System geführt, das auf körperliche Arbeit und Anstrengung optimiert ist. Selbst Menschen, die regelmäßig Sport treiben, erreichen heute nur noch selten das Ausmaß an täglicher Bewegung, das für unsere Vorfahren üblich war. Bewegungsmangel ist ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung von Krebserkrankungen geworden. Die Auswertung von mehr als 300 Studien zu der Frage, ob Bewegungsmangel das Krebsrisiko steigert und das Wachstum von bereits entstanden Tumoren fördert, kam zu einem eindeutigen Ergebnis (Kruk und Czerniak 2013). Am deutlichsten ist der Zusammenhang zwischen Bewegungsmangel und Darmkrebs, gefolgt von Brust- und Gebärmutterkrebs nach den Wechseljahren. Weitere Krebsarten, für die das Erkrankungsrisiko durch dauerhaften Bewegungsmangel um bis zu 30 % steigt, sind Brustkrebs vor den Wechseljahren, Lungenkrebs, Prostatakrebs, Eierstockkrebs, Magenkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Laut Schätzungen könnten bis zu 330.000 der jährlich allein in Europa diagnostizierten Fälle mit diesen Erkrankungen vermieden werden, wenn die

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Bevölkerung sich ausreichend bewegen würde (Friedenreich et al. 2010). Da Sport bekanntermaßen auch das Risiko für viele andere Erkrankungen und Todesursachen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle und neurodegenerative Erkrankungen senkt, könnten auf diese Weise noch deutlich mehr Todesfälle verhindert werden. Auf den Punkt Bewegungsmangel erhöht das Risiko, an folgenden Krebsarten zu erkranken: Darmkrebs, Brust- und Gebärmutterkrebs, Lungenkrebs, Prostatakrebs, Eierstockkrebs, Magenkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Durch ausreichende Bewegung könnte ein bedeutender Anteil dieser Erkrankungen vermieden werden.

Sport reguliert mehrere Organsysteme, die für das Krebswachstum von zentraler Bedeutung sind. Daher schützt Sport nicht nur vor Krebs, sondern könnte in Zukunft sogar zur Unterstützung der Krebstherapie eingesetzt werden. In einer Studie wurde gezeigt, dass körperliche Betätigung das Krebswachstum verlangsamt und die Sterblichkeitsrate reduziert (Friedenreich et al. 2016). Obwohl die positiven Auswirkungen von Sport auf das Krebsrisiko und den Krankheitsverlauf seit langem bekannt sind, ist bisher nicht eindeutig geklärt, warum sich Sport derart positiv auf das Krebsrisiko und den Krankheitsverlauf auswirkt. Im vorherigen Kapitel erklärten wir, warum Übergewicht die Entstehung vieler Krebserkrankungen beeinflusst. Da regelmäßige Bewegung das Körpergewicht reduziert, werden dadurch auch die Krebsrisiken minimiert, die nachweislich mit einem erhöhten Körpergewicht assoziiert sind, wie beispielsweise erhöhte Entzündungswerte, erhöhte Leptinwerte, niedrige Adiponectinwerte, freie Fettsäuren, schädliche Stoffwechselprodukte und die aus dem Fettgewebe freigesetzten Sexualhormone.

Sport verändert das Tumormicroenvironment Regelmäßige Bewegung beeinflusst das Krebsrisiko allerdings nicht nur über das Körpergewicht, sondern noch durch weitere interessante Veränderungen. Diese Veränderungen betreffen den gesamten Körper und erreichen somit auch die direkte Umgebung des Tumors, die als „Tumormicroenvironment“ bezeichnet wird und das Wachstumsverhalten von Tumoren in vielfältiger Weise beeinflusst.

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Das Wachstum von Körperzellen wird durch Hormone, Wachstumsfaktoren und durch Signale aus ihrer unmittelbaren Umgebung gesteuert. Unsere Körperzellen können sich nur dann teilen und vermehren, wenn sie von außen die Erlaubnis dazu erhalten. Diese Regelung stellt sicher, dass alle Zellen in einer koordinierten und dem Nährstoffangebot entsprechenden Weise wachsen. Regelmäßige Bewegung führt zu niedrigeren Konzentrationen von Nährstoffen und Hormonen im Blut. Dies beruht jedoch nur teilweise auf dem erhöhten Nährstoffverbrauch während der Aktivitätsphase, denn sportliche Menschen produzieren auch dauerhaft geringere Mengen an Hormonen und Wachstumsfaktoren, wie Östrogen, Insulin und IFG-1. Es ist bekannt, dass Sport die Empfindlichkeit für das Hormon Insulin erhöht, wodurch Zucker schneller und effektiver aus dem Blut in Zellen aufgenommen werden kann. Dadurch muss auch langfristig insgesamt weniger Insulin nach Mahlzeiten ausgeschüttet werden und die Zellen unseres Körpers werden vor der krebsfördernden Wirkung von Insulin und IGF-1 geschützt. An Mäusen konnte beobachtet werden, dass regelmäßige Bewegung in einem Laufrad ausreicht, um die Entstehung von Brustkrebs zu verlangsamen. Im Blut der sportlichen Mäuse wurde dabei eine Reduktion von Insulin, IGF-1 und Leptin im Vergleich zu unsportlichen Mäusen beobachtet. All diese Hormone stehen unter Verdacht, in hohen Konzentrationen die Krebsentstehung und das Krebswachstum zu begünstigen und können nachweislich durch regelmäßige moderate körperliche Betätigung gesenkt werden (Thompson et al. 2010). Unzählige wissenschaftliche Studien konnten bestätigen, dass Sport präventiv vor Krebserkrankungen schützt. Je nach Krebsart und je nach Patient existieren jedoch erhebliche Unterschiede, in welchem Ausmaß regelmäßige Bewegung das Wachstum fortgeschrittener Erkrankungen verlangsamen kann. Beobachtungsstudien an Krebspatienten offenbarten, dass die Wirkung von Sport auf das Krebswachstum von bestimmten genetischen Veränderungen innerhalb der Tumorzellen abhängt (Koelwyn et al. 2017). Sport konnte das Überleben von Krebspatienten nur dann verbessern, wenn deren Tumorzellen noch keine genetischen Veränderungen in bestimmten Signalwegen aufwiesen, die das Zellwachstum regulieren (wie beispielsweise dem WNTSignalweg). Waren diese genetischen Veränderungen bereits erfolgt, ermöglichten sie Krebszellen unabhängig von Wachstumshormonen oder Wachstumsfaktoren aus ihrer Umgebung zu wachsen. Eine durch Sport erzielte Reduktion von Wachstumshormonen im Blut konnte in diesen Fällen keine Verlangsamung des Krebswachstumes mehr bewirken. Um entscheiden zu können, ob und wie viel Sport zur Unterstützung der Krebstherapie sinnvoll ist, müssten also zuerst die bereits erworbenen Mu-

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tationen bestimmt werden. In Krebszellen herrscht häufig ein Zustand, der sich „genetische Instabilität“ nennt. Dieser Zustand entsteht, wenn Mutationen bestimmte Gene und Proteine getroffen haben, die für die Kontrolle der DNA-Vervielfältigung und -Reparatur verantwortlich sind. Sind diese wichtigen Kontrollinstanzen erst einmal außer Kraft gesetzt, häufen sich rasant immer weitere Mutationen an. Die Identifizierung dieser genetischen Veränderungen spielt eine wichtige Rolle, um die beste Behandlungsstrategie für jeden einzelnen Patienten auszuwählen. In den Kapiteln „Die Therapie der Zukunft“ und „Personalisierte Medizin“ werden wir darüber detailliert berichten. Auf den Punkt Sport kann das Wachstum von Tumoren verlangsamen, indem er die im Blut verfügbaren Wachstumshormone und Wachstumsfaktoren reduziert. Diese Wirkung auf das Krebswachstum kann Sport jedoch nicht mehr erzielen, wenn die Krebszellen durch Mutationen bereits unabhängig von äußeren Signalen zur Wachstumskontrolle geworden sind. Die individuellen genetischen Veränderungen innerhalb eines Tumors zu identifizieren ist deshalb ein zentraler Aspekt einer zeitgemäßen und personalisierten Krebsmedizin.

Sport verbessert die Durchblutung von Tumoren Sport kann das Tumorwachstum noch auf einem anderen Weg verlangsamen. Regelmäßiger Sport stimuliert die Neubildung von Blutgefäßen im Skelettmuskel, um eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen im wachsenden Muskel zu gewährleisten. Dabei aktiviert Sauerstoffmangel in arbeitenden Muskelzellen Gene und Signalwege (z. B. HIF-1’), die für die Neubildung von Blutgefäßen verantwortlich sind. Häufig herrscht in Tumoren infolge des rasanten Wachstums der Krebszellen ebenfalls eine schlechte Sauerstoffversorgung. Und ebenso wie im Muskel, lässt der Sauerstoffmangel auch in Tumoren neue Blutgefäße sprießen. Allerdings sind die neugebildeten Blutgefäße innerhalb von Tumoren unnormal bzw. krankhaft oder pathologisch geformt. Diese krankhaften Blutgefäße im Inneren von Tumoren leisten nur eine schlechte Sauerstoffversorgung und kurbeln dadurch die Ausbildung weiterer krankhafter Blutgefäße an. Die minderwertige Gefäßausbildung bringt jedoch Vorteile für den Tumor, denn durch das nur spärlich und krankhaft ausgebildete Gefäßnetz gelangen weniger Immunzellen – und auch weniger Medikamente – in das Innere des Tumors (Koelwyn et al. 2017).

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Während körperlicher Anstrengung wird das Blutvolumen in unserem Körper umverteilt, um die arbeitende Muskulatur, das Herz und die Lunge optimal zu versorgen. Dafür wird in Organen, die nicht direkt an der Arbeit beteiligt sind, wie zum Beispiel im Magen-Darm-Trakt, die Durchblutung gedrosselt. Dies bewirken die Neurotransmitter Noradrenalin, Adrenalin und Dopamin, die als sogenannte Katecholamine an ’-Adrenorezeptoren auf der Oberfläche von Blutgefäßen andocken. Es war daher eine spannende wissenschaftliche Frage, auf welche Weise Sport die Sauerstoffversorgung und damit auch das Wachstum von Tumoren beeinflusst. Bei Mäusen konnte freiwilliges „Laufrad-Training“ die Blutgefäßbildung und damit die Sauerstoffversorgung in Brusttumoren verbessern. Dieser Vorgang wird in Tumoren als „vaskuläre Normalisierung“ bezeichnet. Erstaunlicherweise verlangsamte die bessere Gefäßversorgung in sportlich aktiven Mäusen das Tumorwachstum im Vergleich zu Mäusen, denen kein Laufrad in ihrem Käfig zur Verfügung stand. Diese Ergebnisse wurden in weiteren Mausexperimenten für Brust- und Prostatakrebs bestätigt. Eine Studie zeigte, dass die Durchblutung von Prostatatumoren, entgegen der Annahme von Wissenschaftlern, während körperlicher Anstrengung um 200 % steigt. Anscheinend funktioniert die Katecholamin-vermittelte Gefäßverengung, die normalerweise die Durchblutung von Organsystemen drosselt, die nicht direkt an der körperlichen Arbeit beteiligt sind, nicht ordnungsgemäß innerhalb von Tumoren. Sport kann also die Blutgefäßbildung und die Sauerstoffversorgung innerhalb von Tumoren verbessern. Dadurch wird ein Teufelskreis durchbrochen, der durch eine schlechte Sauerstoffversorgung das weitere Wachstum von krankhaften Blutgefäßen und gefährliche Zellprogramme ankurbelt. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Immunzelltypen sauerstoffarme Bereiche meiden. Für das bösartige und seltene pulmonale Fibrosarkom, das aus Bindegewebszellen in der Lunge entsteht, konnte in Mäusen gezeigt werden, dass eine verbesserte Sauerstoffversorgung die Einwanderung von natürlichen Killerzellen in den Tumor erleichtert, wodurch sich langfristig die Überlebenschancen verbessern. Ob Sport zur Verbesserung der Blutversorgung eines Tumors als unterstützende Krebstherapie eingesetzt werden kann, wird momentan intensiv erforscht. Aktuell werden zur Krebstherapie noch häufig Medikamente eingesetzt, die der Gefäßneubildung entgegenwirken und auf diese Weise das Absterben von Bereichen im Inneren des Tumors bewirken sollen. Es handelt sich dabei um sogenannte Angiogenesehemmer, die in Wirklichkeit nur bei einem geringen Prozentsatz von 20–30 % der Patienten die gewünschte Wirkung zeigen. Nach heutigem Erkenntnisstand ist eine schlechte Durchblutung von Tumoren allerdings mit bösartigen Zellprogrammen und einem aggressi-

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veren Wachstumsverhalten assoziiert, weshalb der Einsatz dieser Medikamente bedenklich ist. Zukünftige Therapien sollten nach aktuellem Wissensstand darauf abzielen, die Gefäßversorgung innerhalb von Tumoren zu verbessern und die Gefäße zu „normalisieren“. Eine bessere Durchblutung von Tumoren könnte helfen, Medikamente und Immunzellen effektiver an ihren Zielort zu bringen und gleichzeitig den Teufelskreis einer zunehmenden Bösartigkeit bei schlechterer Sauerstoffversorgung von Tumoren zu durchbrechen. Im Moment scheint Sport die einzige Möglichkeit zu sein, diesen Effekt in Tumoren zu erzielen (Koelwyn et al. 2017).

Sport stärkt das Immunsystem Sport hat eine Reihe bemerkenswerter Auswirkungen auf die Funktionsweise unseres Immunsystems. Er reduziert beispielsweise die Anzahl der im Blut zirkulierenden Entzündungszellen und hemmt deren Fähigkeit, Entzündungsstoffe und gefährliche Sauerstoffverbindungen zu produzieren. Er verhindert bei Mäusen die Metastasierung von Hautkrebszellen und verbessert die „Tötung“ von bösartigen Hautkrebszellen durch die großen Riesenfresszellen des Immunsystems (Makrophagen). Auch bei Menschen verbessert Sport die Immunreaktion auf Krebszellen. Um diese Wirkung zu erzielen, war bei Brustkrebspatientinnen ein moderates mehrwöchiges Training ausreichend. Während körperlicher Anstrengung wandern Immunzellen, die Krebszellen töten können, vermehrt vom Blut ins Gewebe ein und zeigen einen erhöhten Aktivierungsstatus. Auf diese Weise verbessert Sport die Bekämpfung von Krebszellen im gesamten Körper. Bei älteren Menschen kann regelmäßige Bewegung zusätzlich die Lebenszeit von Immunzellen verlängern. Es ist jedoch wichtig, das Training nicht zu übertreiben und dem Körper ausreichend Zeit zur Erholung und Regeneration zu geben. „Übertraining“ kann die Funktion des Immunsystems schwächen – inklusive der wichtigen Überwachung von geschädigten Zellen. Bei starkem Übertraining wird daher eine erhöhte Infektanfälligkeit beobachtet (Koelwyn et al. 2017). Auf den Punkt Es gibt keine wissenschaftlichen Daten, die darauf hinweisen, dass Sport alleine Krebs heilen kann. Der Zusammenhang zwischen regelmäßiger Bewegung

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Abb. 1 Mechanismen, durch die körperliche Aktivität das Krebsrisiko senken und das Krebswachstum verlangsamen kann. Diese Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

und einem reduzierten Krebsrisiko (Abb. 1), sowie einer Verlangsamung des Tumorwachstums, ist allerdings sehr gut belegt. Die schützende Wirkung von regelmäßiger Bewegung und Sport beruht dabei nicht nur auf der Gewichtsreduktion, sondern ebenso auf der reduzierten Verfügbarkeit von Nährstoffen und Wachstumshormonen im Blut, einer verbesserten Durchblutung und Sauerstoffversorgung des Tumors, niedrigeren Entzündungswerten im Blut und einer verbesserten Tumorbekämpfung durch das Immunsystem.

Weitere Untersuchungen und Experimente sind notwendig, um herauszufinden, welche Patientengruppen besonders von den Auswirkungen des körperlichen Trainings profitieren könnten. Zudem wird es notwendig sein, im Rahmen einer unterstützenden Krebstherapie, die richtige Trainings-Dosis zu finden, ohne die Gesundheit der Patienten unnötig zu belasten. Studien belegen, dass sich körperliche Aktivität sehr positiv auf den oftmals kritischen Gemütszustand vieler Krebspatienten auswirkt und körperlich meist gut vertragen wird. Im Moment laufen zwei große internationale klinische Studien bereits in der 3. Phase, die untersuchen, welche Auswirkungen Sport auf den Krankheitsverlauf von Darmkrebs (Stufe 2–3) und metastasierendem Prostatakrebs hat (Courneya et al. 2008; Koelwyn et al. 2017; ClinicalTrials.gov (2019).

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Ernährung und Darmkrebs

Zusammenfassung Darmkrebs gehört zu den häufigsten und gleichzeitig tödlichsten Krebserkrankungen weltweit. In den letzten Jahrzehnten ist das Risiko für diese Krebserkrankung insbesondere bei jüngeren Menschen stark angestiegen. Die Gründe hierfür sind unklar, aber vermutlich eine Kombination aus verschiedenen ungünstigen Lebensgewohnheiten in westlichen Ländern mit hohem Einkommen. Neben bekannten Risikofaktoren wie Übergewicht, Bewegungsmangel, Rauchen, Alkoholkonsum und einer genetischen Vorbelastung, kann auch eine ballaststoffarme Ernährung das Darmkrebsrisiko steigern. Industriell hergestellte Nahrung enthält oft unzureichende Mengen an Vitaminen und Ballaststoffen, dafür aber reichlich Kalorien und undurchschaubare Zusatzstoffe. Insbesondere einige Bindemittel stehen unter Verdacht, die Entstehung von chronischen Darmentzündungen zu begünstigen, die als Krebsförderer auf geschädigte Zellen und bereits etablierte Tumore wirken. Unzählige wissenschaftliche Studien wiesen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Fertigprodukten und einem erhöhten Krebsrisiko nach. Darmkrebs ist die dritthäufigste Krebserkrankung und die zweithäufigste krebsbedingte Todesursache. Dabei gilt früh entdeckter Darmkrebs generell als gut heilbar. Leider zeigen sich seine typischen Symptome wie Krämpfe, Bauchschmerzen, Durchfälle, Müdigkeit oder Gewichtsverlust oft erst, wenn die Krankheit bereits weit fortgeschritten ist. Ein Viertel der Patienten hat zum Zeitpunkt der Diagnose bereits Metastasen entwickelt, die bevorzugt Leber, Lunge, Knochen und das Gehirn befallen und nur noch schwer behan© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_9

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delbar sind. Selbst durch eine Kombination modernster Therapieformen kann in diesen Fällen häufig nur noch eine Verlängerung der Lebenszeit erreicht werden (Luedde et al. 2016). Darmspiegelungen gelten deshalb seit langem als Goldstandard, um Darmkrebs frühzeitig zu diagnostizieren und somit schwere Operationen und Todesfälle zu vermeiden. In den letzten Jahrzehnten ist die Anzahl der durch Darmkrebs verursachten Todesfälle bei älteren Menschen dank verbesserter Diagnoseverfahren und Vorsorgemaßnahmen kontinuierlich gesunken. Dieser Erfolg wird jedoch von einer anderen, beunruhigenden Entwicklung überschattet. Ein starker Anstieg von Darmkrebserkrankungen bei jungen Erwachsenen macht die Vorsorge-Erfolge der älteren Generation zunichte – und niemand weiß, warum (Willyard 2021). Unzählige Studien belegen diesen besorgniserregenden Trend, der insbesondere in westlichen Ländern mit einem hohen Einkommen beobachtet wird, ganz an der Spitze: Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, Norwegen, die USA und Australien (Akimoto et al. 2021; Brenner et al. 2018; Hofseth et al. 2020; Vuik et al. 2019; Sharma et al. 2022). Die Studie von Vuik et al. wertete die Daten von 143,7 Mio. Europäern von 1990 bis 2016 aus und dokumentierte, wie viele Personen innerhalb dieser 25 Jahre an Darmkrebs erkrankten und wie alt sie zum Zeitpunkt der Diagnose waren. Insgesamt erhielten 187.918 Personen im Beobachtungszeitraum eine Darmkrebsdiagnose. Dabei wurde – anders als für die Altersverteilung von Darmkrebs erwartet – ein merkwürdiger Anstieg der Fälle in der Gruppe der jungen Erwachsenen zwischen 20 und 29 Jahren beobachtet, der jährlich im Schnitt um 7,9 % zunahm. In der Gruppe der 30- bis 39-Jährigen stieg das Darmkrebsrisikos jährlich um 4,9 % und für alle 40- bis 49-Jährigen immerhin noch um 1,6 % (Vuik et al. 2019). Diese Studie beschreibt für Europa, was auch amerikanische Studien schon gezeigt haben: Darmkrebs ist auf dem Vormarsch und diesmal ist er anders. Die frühe Form von Darmkrebs unterscheidet sich in einer Reihe an klinischen, pathologischen und molekularen Merkmalen von den Darmkrebserkrankungen, die gewöhnlicher Weise erst ab einem Alter von 50 Jahren vermehrt auftreten. Sie betreffen häufiger das Rektum, liegen öfter linksseitig, werden meistens spät entdeckt und haben eine schlechtere Prognose (Low et al. 2020). Auffällig ist auch, dass sich für diese frühen Darmkrebserkrankungen (Early-Onset Colorectal Cancer; EO-CRC) kein eindeutiger Zusammenhang mit klassischen Risikofaktoren wie einem hohen Body-Mass-Index, Bewegungsmangel, Diabetes oder Rauchen nachweisen ließ. Stattdessen konnten bisher nur wenige Risikofaktoren beobachtet werden, darunter männliches

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Geschlecht, familiäre Vorbelastung durch einen Verwandten ersten Grades, bestehende entzündliche Darmerkrankungen wie Colitis Ulcerosa oder ein regelmäßiger Konsum von hochverarbeiteten Fleischwaren und anderen industriell hergestellten Nahrungsmitteln (Akimoto et al. 2021; Keum et al. 2019; Ugai et al. 2022).

Karzinogene und Krebsförderer in unserem Essen In den letzten Jahrzehnten haben sich die Ernährungsgewohnheiten in vielen Ländern der Welt stark verändert (Archambault et al. 2021). Der Anteil an Fleisch, Kohlenhydraten und Salz in der Ernährung ist gestiegen, dafür ist der Anteil an Ballaststoffen und Fetten gesunken. Industriell gefertigte Nahrungsmittel enthalten Zusatzstoffe, deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit wir bisher kaum verstehen. Die enorme Vielfalt dieser chemischen Substanzen und die Intransparenz, mit der sie eingesetzt werden, erschweren auch die Auswertung wissenschaftlicher Studien zu der Frage, ob sie Krebs verursachen. Da die Entstehung von Krebserkrankungen sowohl Karzinogene als auch Krebsförderer benötigt, können Substanzen in unserer Nahrung ebenfalls über diese beiden Ebenen auf die Krebsentstehung einwirken. Die meisten Substanzen, die regelmäßig in der Kritik stehen, werden aufgrund ihrer Wirkungsweise als klassische Karzinogene diskutiert. Solche klassischen Karzinogene erhöhen das Krebsrisiko, indem sie Mutationen verursachen, die ohne erfolgreiche Reparatur den Ausgangspunkt für die Entstehung von Krebserkrankungen bilden können. Karzinogene können aber auch dazu führen, dass bereits vorgeschädigte Zellen immer weitere genetische Veränderungen ansammeln und sich somit der langjährige Prozess der Krebsentstehung beschleunigt. Damit Karzinogene aus unserem Essen ihre gefährliche Wirkung voll entfalten können, brauchen aber auch sie die Hilfe von Krebsförderern, um die Schutzmechanismen unseres Körpers zu durchbrechen. Neben bekannten Krebsförderern (d. h. Wachstumshormonen, Bewegungsmangel, Übergewicht oder chronischen Entzündungen) können auch Substanzen aus unserer Nahrung die Funktion von Krebsförderern in unserem Darm übernehmen. Bevor wir erklären, weshalb ausgerechnet Bindemittel als Kandidat für diese Rolle in Frage kommen, möchten wir noch kurz auf die verschiedenen Substanzen eingehen, die besonders häufig in den Medien als mögliche Krebsursachen diskutiert werden: Pestizide, Gentechnik, Schwermetalle und N-Nitrosoverbindungen.

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Auf den Punkt Bei all den vielen Karzinogenen in unserer Umwelt und Nahrung ist es wichtig, stets im Hinterkopf zu behalten, dass ihre krebserregende Wirkung von vielen weiteren Faktoren abhängt. Mutationen sind nicht sofort gleichbedeutend mit einer dauerhaften DNA-Schädigung, denn Mutationen werden in der Regel repariert. Selbst wenn die Reparatur misslingt, existieren noch weitere Schutzmechanismen, und sogar anfängliche Tumore sterben mit der Zeit noch ab, da sie entweder unzureichend versorgt werden oder vom Immunsystem erkannt wurden. Wer sich in hohen Dosen karzinogenen Substanzen aussetzt, erhöht jedoch sein Risiko, dass bei einem dieser Prozesse Fehler unterlaufen. Sie werden kaum ein Nahrungsmittel finden, das vollkommen frei von jeglichen Schadstoffen ist. Es ist aber wichtig, häufige Karzinogene und besonders belastete Nahrungsmittel zu kennen, um Krebsförderern keine unnötige Angriffsfläche zu bieten.

Pestizide Der vermehrte Einsatz von Pestiziden führte zu der Frage, welche gesundheitlichen Auswirkungen diese Mittel langfristig für den Verbraucher haben werden. Wissenschaftliche Studien, die das Krebsrisiko bei Landwirten, PestizidHerstellern, Bewohnern von Anbauregionen und Verbrauchern von pestizidbelasteten Nahrungsmitteln untersuchten, lieferten gemischte Ergebnisse in Bezug auf das Darmkrebsrisiko (Matich et al. 2021). Während einige zugelassene Pestizide wie Terbufos, Dicamba, Trifluralin, S-ethyl dipropylthiocarbamat (EPTC), Imazethapyr, Chlorpyrifos, Carbaryl, Pendimethalin und Acetochlor das Darmkrebsrisiko erhöhen, zeigen andere Mittel sogar gegenteilige Effekte. Eine Verallgemeinerung in Bezug auf das Darmkrebsrisiko ist daher für Pestizide nicht möglich. Da auf Nahrungsmitteln nicht gekennzeichnet werden muss, welche Pestizide verwendet wurden, können Verbraucher lediglich selbst ein paar Maßnahmen zu ihrem Schutz ergreifen: Essen Sie regionale und saisonale Produkte, denn Produkte aus Deutschland und der EU sind in der Regel weniger belastet. Waschen Sie Obst und Gemüse gründlich und reiben Sie es danach mit einem Küchentuch ab. Essen Sie öfter Wurzelgemüse wie Karotten, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Knollensellerie, Radieschen oder Rote Bete, da diese Sorten ebenfalls weniger Pestizide enthalten als überirdisch angebaute Sorten. Entfernen Sie die äußersten Salatblätter und waschen Sie sich nach dem Schälen von Zitrusfrüchten, Mangos, Bananen und Avocados die Hände (Verbraucherzentrale 2022).

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Gentechnik Gentechnisch hergestellte Gemüse- und Getreidesorten sorgen regelmäßig für hitzige Debatten, obwohl in den meisten Fällen weder Hinweise noch Gründe existieren, weshalb diese krebserregender sein sollten als herkömmlich gezüchtete Sorten. Tatsächlich können sie sogar den Einsatz von Pestiziden reduzieren, da Gensorten resistenter gegenüber Schädlingsinsekten sind (AAAS 2022; Economidis et al. 2022). Ihre Auswirkungen auf die Umwelt sind ein anderes, kompliziertes Thema. Häufige Bedenken betreffen ihre unkontrollierte Ausbreitung und die Giftigkeit mancher Sorten für Nutzinsekten. Schädlinge und Unkräuter können außerdem im Laufe der Zeit resistent gegen die Gensorten werden, was wiederum zu einem vermehrten Einsatz von Pestiziden und Herbiziden führt, der die Vorteile der gentechnischen Züchtungen zunichte macht. Die Ablehnung von Gentechnik in der Bevölkerung ist groß: Etwa zwei Drittel aller Menschen wünschen sich in Umfragen regelmäßig ein Verbot von Gentechnik. Natürlich wäre ein rein biologischer Anbau ohne Monokulturen wünschenswert. Aber ob die Menschheit auf diese Weise den enormen Bedarf ihrer wachsenden Weltbevölkerung decken könnte, ist fraglich. Für die Gesundheit jedoch gilt: Pestizid-belastete gentechnisch hergestellte Nahrungsmittel sind genauso ungesund wie herkömmlich gezüchtete Pestizid-belastete Nahrungsmittel. Die Gentechnik selbst ist jedoch nicht giftig oder krebserregend. Gentechnische Verfahren sind zudem keineswegs neu und auch nicht allesamt bösartig. Bereits seit 1978 wird Insulin, das zur Behandlung von Diabetes benötigt wird und dessen Bedarf weltweit kontinuierlich steigt, gentechnisch hergestellt. Das menschliche Insulin-Gen wird zu diesem Zweck geklont und in E. Coli-Bakterien oder Hefen eingeschleust. Die kleinen Mikroorganismen dienen als unerschöpfliche Fabriken für die gewaltigen Insulinmengen, die als lebensrettendes Diabetesmedikament benötigt werden (Baeshen et al. 2014). All das Insulin, das seit Jahrzehnten sicher genutzt wird und weltweit mehr als 500 Mio. Diabetiker versorgt, ist nichts anderes als Gentechnik. Neue Methoden, wie das Genome-Editing via CRIPR/Cas9, für das die beiden Molekularbiologinnen Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna im Jahr 2020 den Nobelpreis für Chemie erhielten, könnten in Zukunft eine Gentechnik möglich machen, die Gene von Nutzpflanzen bearbeiten kann, ohne artfremde Gene zwischen Spezies transferieren zu müssen. Während die klassische Gentechnik fremde Gene ungezielt an irgendwelchen Stellen in das Genom von Pflanzen einbaut und dadurch unbeabsichtigt noch weitere Gene und Eigenschaften der Pflanzen verändern kann, geschieht die genetische Be-

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arbeitung mittels CRISPR/Cas9 zielgerichtet an einer bestimmten Stelle im Genom. Für das Genome-Editing müssen auch keine weiteren genetischen Elemente wie Start- oder Stoppsignale oder Regulatoren mit eingeschleust werden. Tatsächlich ist CRISPR/Cas9 so „sauber“, dass im Nachhinein kein Nachweis mehr möglich ist, ob das betreffende Gen gentechnisch oder durch Züchtung verändert wurde. Nun, da das Genome-Editing viele Probleme mit einem Schlag gelöst zu haben scheint, machen genau diese Vorteile aber wiederum vielen Menschen Angst. Die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten dieser neuen Methode lassen in Zukunft dennoch auf ökologisch verträglichere Gensorten hoffen (Agarwal et al. 2018), die beispielsweise resistent gegen Pilzkrankheiten wie Mehltau sind. Während die Gentechnik von Kritikern unter Beschuss genommen wird, bedient man sich zwischenzeitlich in der Landwirtschaft und auch im ÖkoLandbau einer Methode namens Mutationszüchtung. Bei diesem Verfahren wird die klassische Züchtung neuer Sorten beschleunigt, indem man mittels chemischen Mutagenen oder Röntgenstrahlung das Saatgut mutiert. Auch die Abkömmlinge dieser Zuchtmethode sind nicht krebserregend, aber ihre genetischen Veränderungen sind vollkommen ungezielt und nicht bekannt. Wenn man sich CRISPR/Cas9 als eine molekulare Schere vorstellt, mit der man das Genom an einer exakt definierten Stelle bearbeitet, kann man sich die klassische Mutationszüchtung als eine Schrotflinte vorstellen, mit der man ziellos das gesamte Genom beschießt.

Schwermetalle und andere Karzinogene Metalle wie Arsen, Cadmium, Chrom und Nickel sind laut dem Klassifizierungssystem der internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) Gruppe1-Karzinogene, da sie DNA-Schäden verursachen können. Über die Industrie gelangen sie in die Umwelt und sammeln sich im Grundwasser an, das zur Bewässerung von Anbauprodukten wie beispielsweise Reis dient. Cadmium ist in höheren Mengen in Innereien, Meeresfrüchten, Ölsaaten und Bitterschokolade nachweisbar. Quecksilber, das sich hauptsächlich in Raubfischen, wie beispielsweise Thunfisch, ansammelt, ist ein Nervengift und kann Verätzungen verursachen – es ist jedoch kein Karzinogen. Bei intakter Darmschleimhaut kann es den Magen-Darm-Trakt passieren, ohne aufgenommen zu werden (BVL 2022). Wildpilze haben die Fähigkeit, Schwermetalle anzusammeln, und sollten daher so selten wie möglich verzehrt werden. Auch die Innereien von Wildtieren können schwermetallbelastet sein und sollten ebenfalls nur selten verzehrt werden.

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N-Nitrosoverbindungen, heterozyklische Amine oder polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe sind chemische Verbindungen, die DNA-Mutationen in Darmepithelzellen verursachen können und dadurch die Entstehung von Krebserkrankungen begünstigen. Diese Verbindungen entstehen durch zu langes oder starkes Erhitzen (Grillen, Braten, Backen oder Rösten) von proteinhaltigen Lebensmitteln, insbesondere von Produkten, die Nitritpökelsalze enthalten, wie Schinken, Speck oder Bockwürste. Aufgrund der Vielzahl an krebserregenden chemischen Verbindungen, die verarbeitete Fleischwaren enthalten, zählen sie nach dem Klassifizierungssystem der internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) ebenfalls zu den Gruppe-1-Karzinogenen. Damit fallen Würstchen, Speck und Schinken in die höchste Kategorie und nehmen einen Platz neben Zigaretten und Alkohol ein. Acrylamid entsteht durch starkes Erhitzen stärkehaltiger Lebensmittel wie Kartoffeln, Chips oder Pommes Frites und gilt als potenziell krebserregend (Gruppe-2-Karzinogene der IARC). Furan zeigte in Experimenten an Mäusen eine krebserregende Wirkung und kommt in gerösteten Nüssen, Räucherwaren, Kaffee, Popcorn und einigen Fertigprodukten vor.

Industriell hergestellte Nahrungsmittel Die Tatsache, dass der häufige Verzehr industriell gefertigter Lebensmittel nicht gesund ist, ist inzwischen von unzähligen Studien belegt worden (Lane et al. 2021). Epidemiologische Daten zeigen, dass das Krebsrisiko direkt mit dem Anteil an hochverarbeiteten Nahrungsmitteln auf unserem Speiseplan ansteigt. Für jede zusätzlichen 10 % an hochverarbeiteten Lebensmitteln, die wir regelmäßig konsumieren, steigt das allgemeine Krebsrisiko um 12 % und das Brustkrebsrisiko um 11 % (Fiolet et al. 2018). Aber nicht nur das Krebsrisiko steigt, wenn wir uns mit industriellen Lebensmitteln ernähren, sondern auch das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Krankheit, einem Reizdarmsyndrom, dem metabolischen Syndrom oder einer Fettstoffwechselstörung zu erkranken, nimmt signifikant zu (Lane et al. 2021). Eine umfangreiche Studie mit 200.000 amerikanischen Studienteilnehmern zeigte, dass ein hoher Konsum von industriell hochverarbeiteten Nahrungsmitteln das Darmkrebsrisiko bei Männern um 29 % steigert. Dieser Effekt blieb auch dann bestehen, wenn andere Risikofaktoren wie der BodyMass-Index und die allgemeine Qualität der Nahrung mitberücksichtigt wurden (Wang et al. 2022). Besorgniserregend ist auch, dass inzwischen 57 % der täglich konsumierten Kalorien eines amerikanischen Erwachsenen aus industriell gefertigten Nahrungsmitteln stammen.

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Abb. 1 Die in westlichen Ländern dominierende „Western-Style“-Ernährung ist reich an Weißmehl- und Kartoffelprodukten, enthält viel Zucker, Fett und Salz, dafür aber wenige Vitamine, Mineralien und Ballaststoffe (links). Eine mediterrane Ernährung ist reich an frischem Obst und Gemüse, Fisch und Ballaststoffen. Sie enthält hochwertigere Öle und Fette, wie beispielsweise Omega-3-Fettsäuren in Fischen oder Nüssen (rechts). Eine Stunde Bewegung oder Sport am Tag gilt als ideal, um positive Effekte auf das Immunsystem, das Herz-Kreislauf-System, den Alterungsprozess und das Krebsrisiko zu erzielen. Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

In Abb. 1 haben wir die in westlichen Ländern dominierende „WesternStyle“-Ernährung der sogenannten mediterranen Ernährungsweise gegenübergestellt. Die mediterrane Ernährungsweise gilt immer noch als Paradebeispiel für eine frische und ausgewogene Ernährung mit ausreichend vielen Vitaminen, Ballaststoffen und ungesättigten Fettsäuren – auch wenn sich die Menschen in vielen mediterranen Ländern leider zunehmend „westlich“

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ernähren und beispielsweise Griechenland inzwischen sogar den höchsten Anteil an übergewichtigen Erwachsenen und Kindern in Europa hat: 40 % aller griechischen Kinder sind übergewichtig, die Hälfte davon sogar stark übergewichtig (Fettleibigkeit ab BMI > 30) (Buoncristiano et al. 2021). Neben den Ernährungsgewohnheiten verändern sich auch in den südlichen Ländern Europas die Lebensgewohnheiten in Richtung steigendem Medienkonsum, immer weniger körperlicher Arbeit und einer zunehmend sitzenden Lebensweise. Die meisten Menschen essen mehr als sie benötigen, bzw. verbrauchen weniger als sie zu sich nehmen. Die Kombination aus Bewegungsmangel und industriellen Nahrungsmitteln, wie Fast Food, führt zu einem massiven Ungleichgewicht im Energiehaushalt. Ansprechend verpackte Produkte, die lecker schmecken und mit geringem Zeitaufwand verbunden sind, lassen uns schneller, mehr und öfter essen, als gut für uns ist. Es ist das zügellose Essen, zu dem industrielle Nahrungsmittel und Fast Food uns verleiten, das schnell zu Übergewicht führt. Um diese Tatsache zu veranschaulichen, zeigte der amerikanische Professor und Ernährungswissenschaftler Mark Haub in einer Selbststudie, dass man sogar mit Fast Food abnehmen kann. Sein Ernährungsexperiment ging als „Junk Food Diät“ durch die Medien – wobei einige Artikel natürlich die Tatsache unbetont ließen, dass es sich hierbei um den scherzhaften Beweis dieser einfachen Energiebilanz handelte. Obwohl Mark Haub sich über Wochen nur von Fast Food ernährte, nahm er dabei ab und senkte sogar seine Blutfettwerte. Es gibt kein Geheimnis – er aß täglich einfach weniger als er verbrauchte: exakt 1800 Kilokalorien (kcal) und somit ca. 200 kcal weniger als die 2000 kcal, die ein unsportlicher Erwachsener täglich verbrennt. Diese Form der Ernährung ist natürlich weder gesund noch ausgewogen, aber sie zeigt eindrücklich, dass es am Ende egal ist, ob wir mit Paleo-, Keto-, Low-Carb- oder Low-FatErnährung abnehmen. Wer abnehmen möchte, muss am Ende doch einfach nur weniger essen als er verbraucht oder seinen Verbrauch entsprechend anpassen. Warum eine ketogene Ernährung für Patienten mit Typ-2-Diabetes, Übergewicht oder einer Fettlebererkrankung dennoch zu empfehlen ist, erklären wir in dem Kapitel „Prävention“. Um das Körpergewicht auch langfristig zu reduzieren, ist es hilfreich, Dinge zu essen, die satt machen, aber einen geringeren Kaloriengehalt als Fertigprodukte oder Fast Food haben. Und das sind eben nun einmal die frischen und ballaststoffreichen Lebensmittel wie Nüsse, Obst, Gemüse, Fisch, Eier und Vollkorn.

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Das französische Paradoxon, das eigentlich keins ist Auf die gleiche Weise lässt sich auch das angebliche französische Paradoxon erklären, wonach französische Erwachsene trotz ihres scheinbar ungesunden Lebensstils mit viel Rotwein und fettreicher tierischer Nahrung, wie Käse, Gänseleber und Fleisch, nicht zunehmen, seltener an Krebs erkranken und überdurchschnittlich alt werden. Besonders beliebt als Erklärung für dieses Paradoxon ist der im Rotwein enthaltene antioxidative Pflanzenfarbstoff Resveratrol. Das französische Paradoxon ist jedoch nur teilweise durch epidemiologische Daten untermauert: Menschen in Frankreich haben ein vergleichbares Krebsrisiko und eine vergleichbare Lebenserwartung wie Menschen in anderen europäischen Ländern, und das Land liegt statistisch weltweit sogar hinter den Niederlanden, Katar, Finnland, Luxemburg, Dänemark, Spanien, Kanada, Neuseeland, Irland, Südkorea, Israel, Schweden, Schweiz, Australien oder Norwegen. Wirklich an der Spitze der Liste der weltweiten Lebenserwartung befinden sich Japan, Hongkong, Island und Singapur. Es ist vermutlich also lohnenswerter, einen Blick auf die Ernährungsgewohnheiten von asiatischen und nördlichen Ländern mit einem hohen Fischkonsum und hohen Einkommen zu werfen. Was jedoch stimmt: Franzosen sind im europäischen Vergleich seltener übergewichtig. Dies passt vielleicht zu einem Land, in dem viel Wert auf hochwertiges Essen und gemeinsame Mahlzeiten gelegt wird. Ebenso wie in Frankreich ist Übergewicht daher auch in Italien im europäischen Vergleich eher selten (Eurostat 2022). Die Datenlage ist kaum ausreichend, um von einem Paradoxon zu sprechen. Auch ist zweifelhaft, ob der gute französische Rotwein für die im europäischen Vergleich eher schlanke Linie der Franzosen verantwortlich ist. So sehr wir Rotwein schätzen – er enthält reichlich Sulfite (die für die Lagerbarkeit verantwortlich sind), Zucker und natürlich Alkohol. Das im Rotwein enthaltene Resveratrol aus der Gruppe der Polyphenole stammt aus der Schale der roten Trauben und ist in anderen roten Früchten sogar in deutlich höheren Konzentrationen enthalten. Wenn Sie beispielsweise 100 g Preiselbeeren essen, nehmen Sie dabei eine Menge an Resveratrol auf, für die Sie 1,5 Flaschen Rotwein leeren müssten. 100 g Erdbeeren oder Johannisbeeren enthalten mehr Resveratrol als ein Glas Rotwein und dafür weniger Kalorien und so gut wie keinen Alkohol (reife Früchte enthalten in geringen Mengen Alkohol). Den höchsten Resveratrolgehalt haben übrigens rote Weine aus Muscadine-Trauben (Vitis rotundifolia), die konzentrationsmäßig in etwa den Preiselbeeren entsprechen (ca. 3 mg/100 ml bzw. 100 g). Die hochdosierte Einnahme von Antioxidantien in Tablettenform oder anderen Nahrungsergänzungsmitteln zeigte in wis-

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senschaftlichen Studien keine lebensverlängernde Wirkung, sondern teilweise sogar negative gesundheitliche Auswirkungen (Bjelakovic 2012). Wir kommen auf dieses Thema in dem Kapitel „Entzündungshemmer, Vitamine und Antioxidantien“ zurück. Auf den Punkt Anstatt Essen zur Lebensphilosophie zu machen und akribisch Zutatenlisten zu studieren, empfehlen wir industriell hochverarbeite Nahrungsmittel wie Tütensuppen, Saucen, Fertig- und Tiefkühlgerichte, abgepackte Backwaren, Puddings, Süßigkeiten, Wurstwaren, Fast Food, Softdrinks und Milchmischgetränke möglichst vom Speiseplan zu verbannen und stattdessen Gerichte so oft wie möglich selbst zuzubereiten. Dadurch kann das allgemeine Krebsrisiko und auch das Risiko für eine Vielzahl weiterer Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen oder entzündliche Darmerkrankungen gesenkt werden. Frische Nahrung enthält keine Zusatzstoffe, weniger Kalorien und Salz, dafür aber mehr Ballaststoffe, Vitamine und Mineralstoffe. Man isst dadurch automatisch weniger, dafür aber hochwertiger und fühlt sich länger gesättigt. All dies wirkt sich positiv auf das Körpergewicht und die Gesundheit aus.

Bindemittel Die Einführung von sogenannten „Low-fat“-Milchsorten, -Joghurts, -Puddings und -Desserts machte den Einsatz von Bindemitteln notwendig, um die festigenden Eigenschaften der gesättigten Fettsäuren zu ersetzen, die natürlicherweise in diesen Produkten enthalten sind. Bindemittel kommen in tausenden von Supermarkt-Produkten zum Einsatz, wodurch es schnell zu einer Aufnahme größerer Mengen kommen kann. Aber nicht nur ihr quasi universaler Einsatz in der Lebensmittelindustrie, sondern auch ihre besonderen chemischen Eigenschaften bereiten Wissenschaftlern Sorgen. Hinter diesen scheinbar harmlosen Substanzen könnte sich eine ganze Familie von Krebsförderern verstecken, die unterschwellige Darmentzündungen verursachen und dadurch Krebsvorstufen das Wachstum erleichtern. Bindemittel besitzen seifenartige Eigenschaften, wodurch es ihnen gelingt, wasserlösliche und fettlösliche Substanzen, die sich normalerweise abstoßen, miteinander zu vermischen. In Lebensmitteln verhindern sie also, dass sich wässrige und fetthaltige Komponenten nach der Abfüllung wieder voneinander trennen, und halten Produkte über viele Wochen in appetitlich cremiger Konsistenz, bis wir schließlich die Verpackung öffnen und die Produkte verzehren. Die Motive der Hersteller sind durchaus nachvollziehbar, denn das

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Abb. 2 Eine defekte Schleimbarriere verursacht krebsfördernde Darmentzündungen: (a) In einem gesunden Darm schützt die intakte Schleimbarriere das Darmepithel und Immunzellen vor dem Kontakt mit Darmmikroben und Stuhlbestandteilen. Eine durch Zusatzstoffe geschädigte Schleimbarriere (b) ermöglicht es Darmbakterien und Nahrungsbestandteilen, in das darunter liegende Gewebe einzudringen und Entzündungen zu verursachen

Auge isst bekanntlich mit. Die meisten Verbraucher wären über den Anblick einer abgesetzten Fettschicht auf ihrem Essen nicht sonderlich erfreut, insbesondere wenn sie den Hinweis „Vor dem Öffnen bitte schütteln“ erst nach dem Öffnen lesen. Einige Bindemittel, darunter Carboxymethylcellulose, Polysorbat-80, Carrageen und Glycerol Monolaurate, stehen im Verdacht, in größeren Mengen eine anatomische Struktur zu schädigen, die besonders wichtig für die Gesundheit unseres Darms ist: die Schleimbarriere (Zhu et al. 2021; Gillois et al. 2018). Sie besteht aus einer nur 0,2 mm dicken Schicht aus Schleim, die

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Abb. 3 Immunzellen produzieren reaktive Sauerstoffverbindungen (ROS) zur Abwehr von Mikroben, die Körperzellen auf Dauer schädigen können. Um Epithelschäden zu reparieren, produzieren die Immunzellen im Darmgewebe Wachstumsfaktoren, die sowohl gesunde als auch geschädigte Zellen zur Vermehrung anregen. Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

das Darmepithel überzieht und auf diese Weise das Gewebe vor andauernden Reizen durch Darmmikroben und Stuhlbestandteilen schützt (Abb. 2). Sie lässt Nährstoffe hindurch, jedoch keine unverdaulichen hochmolekularen Bestandteile, mikrobielle Produkte, krank machende Pathogene oder Verdauungssäfte. Eine intakte Schleimbarriere schirmt die Darmepithelzellen aber auch gegen Schadstoffe aus der Nahrung ab und verhindert, dass Karzinogene wie N-Nitrosoverbindungen oder Schwermetalle überhaupt erst aufgenommen werden. Ist diese Schleimbarriere beschädigt, dringen karzinogene Nahrungsbestandteile tiefer in das Darmgewebe ein. Ebenso Darmmikroben und Stuhlbestandteile, die in den tieferliegenden Gewebeschichten auf Immunzellen treffen und diese zur Produktion von Entzündungsstoffen anregen. Zur Abwehr der Mikroben schütten Immunzellen aggressive Sauerstoffverbindungen (ROS) in das Darmgewebe aus und regen eine Wundheilungsreaktion an, um Schäden am Darmepithel zu reparieren (Abb. 3). In dem Kapitel „Das Immunsystem und Krebs“ haben wir bereits erklärt, dass reaktive Sauerstoffverbindungen auch für unsere Körperzellen gefährlich werden können. Gleichzeitig ist die Wundheilungsreaktion ein starkes Wachstumssignal, das auf alle Darmzellen einwirkt – auch auf solche mit genetischen

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Defekten. Immunzellen feuern die Zellen im Darmepithel so lange zur Vermehrung an, bis alle Lücken im Zellrasen wieder geschlossen sind. Wenn die Ursache des Defekts aber nicht behoben wird oder sogar immer wieder neu über die Nahrung zugeführt wird, entsteht eine chronische Entzündung. Es ist genau diese gefährliche Kombination aus schädlichen reaktiven Sauerstoffverbindungen und Wachstumsfaktoren, die Darmepithelzellen zum Wachstum anregen, die als ideale Ausgangssituation für die Entstehung von Krebserkrankungen im Darm gelten. Die von außen auf die Darmepithelzellen einwirkenden Wachstumsfaktoren unterdrücken dabei die wachstumshemmenden Mechanismen im Inneren von geschädigten Darmzellen. Defekte in der Schleimbarriere des Darms gelten als Paradebeispiel für eine Entzündung, die Zellen selbst schädigt und gleichzeitig den mutierten Zellen eine optimale Umgebung zum Überleben und Wachsen bietet. Daher sollten alle Bindemittel und anderen Nahrungsmittelzusätze, die in irgendeiner Weise mit der Schleimbarriere in unserem Darm interagieren, besonders genau untersucht werden. Entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa gehen häufig mit Defekten in der Schleimbarriere einher und erhöhen das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, bis zu 30-fach (Romano et al. 2016). Aufgrund ihrer starken krebsfördernden Wirkung wird bei besonders schweren Verläufen daher vorsorglich der betroffene Darmabschnitt entfernt. Die Colitis-assoziierten Darmtumore treten oft schon bei jüngeren Patienten auf, überspringen gutartige Vorstufen wie Polypen und haben eine schlechte Prognose. Epidemiologische und klinische Studien haben gezeigt, dass eine westliche Ernährungsweise und Nahrungsmittelzusätze die Entstehung von entzündlichen Darmerkrankungen begünstigen (Adolph et al. 2022). In Übereinstimmung mit diesen Beobachtungen führt eine Ernährungsweise, die frei von üblichen Nahrungsmittelzusätzen ist (exklusive enterale Ernährung), bei 80 % der Morbus-Crohn-Patienten zu einem Abklingen der Krankheitssymptome (MacLellan et al. 2017). Auf den Punkt Mehrere wissenschaftliche Studien haben nachgewiesen, dass Nahrungsmittelzusätze einen entscheidenden Beitrag zum Krankheitsverlauf von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa leisten.

Die beiden Bindemittel Carboxymethylcellulose und Polysorbat-80 führten in Experimenten an Mäusen, deren Darmepithel wie bei uns Menschen

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aufgebaut ist, zu einer Abnahme der Schleimschichtdicke und zu Veränderungen in der Zusammensetzung der Darmflora. Darmbakterien wurden vermehrt innerhalb des entzündeten Darmepithels nachgewiesen und die Mäuse nahmen kontinuierlich an Gewicht zu, wurden adipös und zeigten Symptome einer Glukose-Intoleranz, also Diabetes (Chassaing et al. 2015; Viennois et al. 2020). Zudem zeigten diese beiden häufig verwendeten Bindemittel eine krebsfördernde Wirkung, die noch verstärkt wurde, wenn die Zellen des Darms bereits genetische Defekte aufwiesen (Viennois und Chassaing 2021). Eine Studie mit über 100.000 französischen Erwachsenen hat kürzlich erstmals auch im Menschen den Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Bindemitteln und Krebserkrankungen untersucht und konnte für einige Bindemittel ein erhöhtes allgemeines Krebsrisiko (Sodium Citrate E331, Xanthan Gum E415, Mono- und Diglyceride von Fettsäuren E471) oder ein erhöhtes Brustkrebsrisiko nachweisen (Sodium Citrate E331, Sodium stearoyl-2lactylate E481, Lactylate E481-482, Cellulosen E460–468, darunter Carboxymethylcellulose E466, Carob bean gum E410, Mono- und Diglyceride von Fettsäuren E471). Der Verzehr von Produkten, die hohe Mengen an Carrageenan (E407), Xanthan Gum (E415) oder Triphosphaten (E451) enthalten, korrelierte mit einer Form von Brustkrebs, die nach den Wechseljahren auftritt (post-menopausaler Brustkrebs) (Sellem et al. 2022). Diese Studie zeigt erstmals, dass der häufige Verzehr von Bindemitteln auch im Menschen das Krebsrisiko erhöhen kann. Sie liefert jedoch keinerlei Hinweise darauf, auf welche Weise die hier gelisteten Bindemittel das Krebsrisiko steigern. Die Intransparenz und Vielzahl der Zusatzstoffe in industrieller Nahrung machen es für Verbraucher extrem schwierig, sich auf einzelne Inhaltsstoffe zu fokussieren und diese zu vermeiden. Industrielle Nahrungsmittel, die Bindemittel enthalten, beinhalten oft auch weitere Zusatzstoffe wie Geschmacksverstärker, künstliche Süßstoffe, Verpackungsbestandteile (z. B. Bisphenol A), Nitrate und andere Konservierungsmittel, sowie hohe Salz- und Kalorienmengen. Gleichzeitig fehlen ihnen wichtige Mineralstoffe, Vitamine und Ballaststoffe, was das Ausloten einzelner Risikofaktoren erheblich erschwert. Die Entzündungsreaktionen bleiben zudem nicht nur auf den Darm beschränkt, sondern können über das Pfortader-System, das Nährstoffe aus dem Darm direkt in die Leber transportiert, in den gesamten Körper gelangen. Bei geschädigter Schleimbarriere werden neben Nährstoffen auch Bestandteile von Darmmikroben (sogenannte Endotoxine) auf diesem Wege zur Leber transportiert, wo sie von Immunzellen wahrgenommen werden. Die Immunzellen reagieren mit der Produktion von Entzündungsstoffen, die über

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den Kreislauf in den gesamten Körper gelangen und dort das Überleben und Wachstum von Krebszellen unterstützen (Font-Burgada et al. 2016). Interessanterweise findet man im Blut von Patienten mit Depressionen und Angststörungen ebenfalls erhöhte Entzündungswerte. Entzündliche Erkrankungen und Infektionen werden daher seit einigen Jahren auch als Ursache für psychiatrische Erkrankungen diskutiert. In Mausexperimenten konnte gezeigt werden, dass der Verzehr der beiden Bindemittel Carboxymethylcellulose und Polysorbat-80, in vergleichbaren Konzentrationen wie in industriellen Nahrungsmitteln, Angst- und Stressreaktionen auslösen kann (Arnold et al. 2022). Eine andere Studie hat nachgewiesen, dass diese beiden Bindemittel bei Mäusen Symptome von Depressionen herbeiführen, wie beispielsweise sozialen Rückzug und Ängstlichkeit (Holder et al. 2019). Auf den Punkt Die herausragende Bedeutung der Schleimbarriere für die Gesundheit unseres Darms wurde in zahllosen Experimenten nachgewiesen. Eine durch Bindemittel und andere Nahrungsmittelzusätze geschädigte Schleimbarriere könnte der fehlende Link in einem klassischen Zusammenspiel aus Karzinogenen und Krebsförderern sein, das auf der einen Seite hochgefährlich ist, auf der anderen Seite aber auch die Chance bietet, in diese unerwünschte Liaison einzugreifen. Der springende Punkt hierbei ist, dass Bindemittel selbst keine karzinogenen Eigenschaften besitzen und somit auch nicht in der Lage sind, Mutationen in unserer DNA zu verursachen. Als Ausgangspunkt für die Krebsentstehung dienen Mutationen durch Nahrungs-Karzinogene (z. B. N-Nitrosoverbindungen, heterozyklische Amine oder Schwermetalle), Darmentzündungen (ROS) oder eine genetische Veranlagung (angeborene Mutationen). In allen Fällen aber begünstigen die Wachstumsfaktoren einer dauerhaften Entzündungs- und Wundheilungsreaktion das Überleben und Wachstum von genetisch geschädigten Zellen.

Eine Reduktion der Schleimschicht in unserem Darm als Ursache für Darmentzündungen scheint ein reproduzierbares biologisches Prinzip zu sein. Im gesunden Darm kommen neben Darmepithelzellen, die für die Nährstoffaufnahme zuständig sind, in regelmäßigen Abständen auch „Goblet-Zellen“ und „Paneth-Zellen“ vor, die den schützenden Schleim produzieren. In fortgeschrittenen Darmtumoren kommen allerdings nur noch Krebszellen und keine schleimproduzierenden Goblet- oder Paneth-Zellen mehr vor. Dadurch liegt der Tumor ohne eine schützende Schleimschicht in direktem Kontakt mit dem Darminhalt. Als Folge können Darmmikroben und andere Substanzen aus dem Darm tief in das Innere des Tumors eindringen und eine fatale Entzündungsreaktion verursachen, die sein Wachstum weiter vorantreibt (Grivennikov et al. 2012).

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Ballaststoffe Es ist lange bekannt, dass eine ballaststoffarme Ernährung die Entstehung von Darmkrebs begünstigt. Ballaststoffe sind faserige Bestandteile von Pflanzen, die unseren Darm nahezu unverdaut passieren und die Passagezeit des Stuhls durch unseren Darm beschleunigen. Lange Zeit ging man davon aus, dass gerade darin die schützende Wirkung der Ballaststoffe liegt. Wenn die Nahrung unseren Darm schneller passiert, können schädliche und potenziell krebserregende Stoffe nicht so lange mit den Darmzellen in Kontakt treten und dadurch weniger Zellschäden verursachen. Diese Annahme stimmt mit der Beobachtung überein, dass die meisten Darmtumore in den untersten Abschnitten des Darms, dem Dickdarm (Kolon) und dem Rektum, entstehen. An diesen Orten verweilt der Stuhl am längsten, bevor er ausgeschieden wird. Ballaststoffe können uns aber noch auf eine ganz andere Art und Weise vor Darmkrebs schützen, denn sie dienen Mikroben in unserem Darm als Nahrung (Desai et al. 2016). Wenn nicht genügend Ballaststoffe mit der Nahrung aufgenommen werden, verdauen die Mikroben stattdessen Glykoproteine aus der Schleimschicht des Darms. Eine ballaststoffarme Ernährung kann also ebenfalls die Ursache einer erodierten Schleimbarriere sein. Interessanterweise unterscheiden sich die unteren Darmabschnitte noch in einem weiteren wichtigen Punkt von anderen Darmabschnitten: Sie enthalten die meisten Verdauungsbakterien. Da die Magensäure im Verlauf des Darms immer weiter verdünnt wird, finden sich in diesen unteren Abschnitten des Darms die besten Lebensbedingungen für unsere kleinen Mitbewohner. Durch eine ballaststoffarme Ernährung könnte also die Schleimschicht des Darms schrumpfen, was insbesondere in den untersten Darmabschnitten, wo besonders viele Verdauungsbakterien angesiedelt sind, entscheidend zur Krebsentstehung beitragen könnte. Neben Vollkornprodukten enthalten auch Nüsse, Obst und Gemüse viele Ballaststoffe. Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wird häufig von dem Verzehr von Ballaststoffen abgeraten, da ein hoher Konsum von Ballaststoffen Durchfälle verursachen kann, unter den Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen ohnehin schon leiden. Dies könnte die Entzündungen allerdings ungewollt verschlimmern. An diesem Punkt sind weitere Studien und alternative Richtlinien notwendig. Wir sind bereits darauf eingegangen, dass ein Großteil aller Darmtumoren im letzten Abschnitt des Darms und viele sogar in einem Abstand von nur 10 cm Entfernung zum Darmausgang entstehen. Daher gehört die jährliche Tastuntersuchung ab einem Alter von 50 Jahren zur Darmkrebsvorsorge. Diese wichtige Vorsorgeuntersuchung wird jedoch aus Gründen der Unannehm-

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lichkeit aufseiten der Patienten und auch der Ärzte nicht immer durchgeführt. Weiter oberhalb liegende Darmtumoren wachsen oft langsam über Jahrzehnte und können frühzeitig in Form von harmlosen Vorläuferstufen während einer Darmspiegelungen entdeckt und entfernt werden. Schätzungen zufolge können neun von zehn Darmkrebspatienten geheilt werden, wenn die Erkrankung frühzeitig diagnostiziert wird. In Deutschland übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen für Frauen ab dem 55. und für Männer ab dem 50. Lebensjahr die Darmspiegelung. Leider fallen dabei all jene frühen Fälle von Darmkrebs durch das Raster, die bereits vor dem 50. Lebensjahr auftreten und die derzeit auf dem Vormarsch sind (Hofseth et al. 2020). Wenn sich dieser Trend weiterhin fortsetzt, müssen frühzeitigere Untersuchungen in Betracht gezogen werden. Da Darmspiegelungen mit sehr viel Aufwand, Einschränkungen und Kosten verbunden sind, sollte auch intensiv an spezifischeren Diagnosetests geforscht werden.

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Infektiöse Erreger in Rindfleisch und Kuhmilch?

Zusammenfassung Der Verzehr von rotem Fleisch und Kuhmilch wurde in epidemiologischen Studien wiederholt mit einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert, insbesondere für Brust- und Darmkrebs. In diesem Kapitel stellen wir einen aktuellen Erklärungsansatz der Wissenschaft für diese Beobachtungen vor. Ähnlich wie im Fall von Gebärmutterhalskrebs könnten wir es mit einem neuartigen virusähnlichen Erreger zu tun haben. In den letzten Jahren entdeckten Forscher im Fleisch und in Milchprodukten von Rindern der Rasse Bos taurus, ebenso wie in den Gehirnen von Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen, verdächtige ringförmige DNA-Moleküle, die BMMFs genannt werden. Im Jahr 1984 gelang es erstmals einer Forschergruppe um den deutschen Arzt und heutigen Medizin-Nobelpreisträger Harald zur Hausen, die Gebärmutterhalskrebs verursachenden humanen Papillomvirus-Typen HPV-16 und HPV-18 in Tumorzellen von erkrankten Frauen nachzuweisen. Diese Entdeckung war die Grundlage dafür, dass wir seit 2006 erstmals eine Impfung zum Schutz vor einer krebsverursachenden Infektionskrankheit haben. Die Impfung richtet sich speziell gegen die krebsverursachenden Untertypen des Virus und wird von der Impfkommission für alle Mädchen und Jungen zwischen dem 9. und 17. Lebensjahr empfohlen. Da diese Viren beim Geschlechtsverkehr übertragen werden, sollte die Impfung im Idealfall schon vor dem ersten sexuellen Kontakt erfolgen. Die Impfung verhindert die Infektion mit den gefährlichen Virustypen und dadurch die Entstehung von HPV-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_10

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bedingten Krebserkrankungen, zu denen neben Gebärmutterhalskrebs, auch Krebs im Mund- und Rachenraum, Peniskrebs, Analkrebs und Scheidenkrebs gehören. Die Zuverlässigkeit der HPV-Impfung liegt inzwischen bei bis zu 97 %, allerdings wissen wir aufgrund der relativ kurzen Einsatzzeit noch nicht, wie viele Jahrzehnte der Schutz wirkt. Angesichts der Häufigkeit von Gebärmutterhalskrebs (ca. 4600 Neuerkrankungen jährlich in Deutschland), dem oftmals bösartigen Verlauf (1500 Sterbefälle jährlich in Deutschland) und dem gehäuften Auftreten bereits ab dem 35. Lebensjahr ist die Impfung eindeutig zu empfehlen (RKI 2019). Leider betrug der Prozentsatz der geimpften 17-jährigen Mädchen im Jahr 2015 nur 44,6 %. Die Impfempfehlung wurde erst 2018 auf Jungen ausgeweitet, um auch diese vor HPV-bedingten Krebserkrankungen zu schützen. Immerhin erkranken neben 6250 Frauen auch 1600 Männer jährlich in Deutschland an HPV-bedingten Krebsarten (Krebs im Mund- und Rachenraum, Penis- und Analkrebs) (ZfKD 2019). Die Impfung von Jungen soll die Übertragung einschränken und auf diese Weise auch ungeimpfte Mädchen und Frauen schützen. Seit vielen Jahren beschäftigt sich das Team um Harald zur Hausen am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg nun mit einer anderen, bisher noch ungeklärten Krebsursache. Epidemiologische Daten weisen seit langem vehement darauf hin, dass die Ursache für viele Krebserkrankungen auf den Verzehr von rotem Fleisch und Kuhmilch zurückzuführen ist. Die Ursache hierfür sind nicht krebsverursachende Milchproteine, wie es leider häufig fälschlicherweise zitiert wird. Hierfür gibt es keine wissenschaftlich fundierten Beweise. Milch ist zudem für Menschen, die nicht gerade an einer Laktoseintoleranz oder Kuhmilcheiweiß-Allergie leiden, ein wertvolles Nahrungsmittel. Woran liegt es dann also, dass der Verzehr von rotem Fleisch und Kuhmilch mit einem erhöhten Risiko für Krebserkrankungen in Zusammenhang steht? Der Verzehr dieser Lebensmittel führt unter anderem zu einem um bis zu 30 % erhöhten Risiko, an Brustkrebs, Lungenkrebs, Prostatakrebs und Darmkrebs zu erkranken (zur Hausen et al. 2019). Der Zusammenhang ist so gut untermauert, dass rotes Fleisch von der internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) als „wahrscheinlich krebserregend“ (Stufe 2A) eingestuft wurde. Die Klausel „wahrscheinlich“ ist in erster Linie auf den noch ausstehenden mechanistischen Beweis zurückzuführen. Die genaue Ursache für das erhöhte Krebsrisiko ist nämlich nach wie vor nicht eindeutig geklärt. Es schien naheliegend, den Zusammenhang in der Zubereitungsform zu suchen, da beim starken Erhitzen von Fleisch bekanntermaßen krebserregende Stoffe entstehen (z. B. heterocyclische aromatische Amine).

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Wenn man die vorhandenen epidemiologischen Daten allerdings genauer betrachtet, wird schnell klar, dass dies nicht der einzige Grund für das erhöhte Krebsrisiko sein kann. Interessanterweise ist nämlich in erster Linie der Konsum von Rindfleisch mit einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert. Für andere rote Fleischsorten, wie beispielsweise Pferdefleisch, Lammfleisch, Ziegenfleisch und Schweinefleisch, konnte kein ähnlich eindeutiger Zusammenhang bestätigt werden. Des Weiteren entstehen beim starken Erhitzen von anderen Fleischsorten (wie Geflügel) oder auch von Fisch die gleichen krebserregenden chemischen Verbindungen, wie beim Erhitzen von Rindfleisch, ohne dabei das Krebsrisiko zu erhöhen. Für Fisch wurde sogar ein leicht schützender Effekt im Zusammenhang mit Darmkrebserkrankungen nachgewiesen. Statistische Untersuchungen zeigen, dass Bevölkerungsgruppen, die kein Rindfleisch konsumieren, wie beispielsweise die Hindus in Indien, nur selten an Darmkrebs erkranken (zur Hausen et al. 2017). Auf den Punkt Epidemiologische Studien weisen darauf hin, dass der Verzehr von Kuhmilch und Rindfleisch insbesondere das Risiko für Darmkrebs und Brustkrebs um bis zu 30 % steigert. Das erhöhte Krebsrisiko kann nicht alleine auf die während der Zubereitung entstehenden krebserregenden chemischen Verbindungen zurückgeführt werden, da beim Erhitzen von anderen Fleischsorten und Fisch die gleichen krebserregenden chemischen Verbindungen entstehen – ohne dass ein erhöhtes Krebsrisiko beobachtet wird.

Es scheint also naheliegend, dass sich der Übeltäter in Rindern versteckt hält. Ganz so einfach ist es jedoch leider nicht. Denn es gibt einige Länder, in denen Rindfleisch eine Hauptnahrungsquelle ist und Darmkrebserkrankungen trotzdem relativ selten sind. Worin liegt also der Unterschied zwischen uns in der westlichen Welt und diesen Ländern wie China, der Mongolei oder Bolivien? Die Antwort ist vermutlich: Wir essen nicht die gleichen Rinder. In der gesamten westlichen Welt ist das vom Auerochsen abstammende eurasische Rind (Bos Taurus) die am weitesten verbreitete Rinderrasse in der Fleischund Milchindustrie. In der Mongolei werden stattdessen traditionell vor allem Yaks gehalten und als Nahrungsquelle verwendet. In China und Bolivien sind es die Zebu-Rinder oder nahe Verwandte diese Art. Auch in Äquatorialafrika, wo Darmkrebs eher selten ist, werden nicht unsere eurasischen Rinder, sondern Watussi-Rinder gehalten. Es könnten also artspezifische Unterschiede im krebserregenden Potenzial von Rindfleisch existieren. In den meisten Teilen der Welt wächst das Darmkrebsrisiko in demselben Maße wie das Brustkrebsrisiko. Dabei steigt das Krebsrisiko in Ländern

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mit einem ehemals geringen Risiko für diese Erkrankungen, wie Japan und Korea, erst, seitdem Rindfleisch aus westlichen Ländern importiert wurde. Ebenfalls korrelieren Abstillen vor dem vollendeten ersten Lebensjahr und das anschließende „Zufüttern“ mit kuhmilchbasierter Säuglingsnahrung mit einer Zunahme von Brust- und Darmkrebserkrankungen. So stieg beispielsweise in Indien mit dem Ausbau industrieller Rinderfarmen zur Produktion von Milcherzeugnissen in den letzten Jahrzehnten die Brustkrebsrate nachweislich an (zur Hausen et al. 2017). Auch wenn diese Zusammenhänge bisher nur auf Beobachtungen beruhen und nicht zwangsweise ursächlich miteinander verknüpft sind, liegt die Beweislast doch sehr drückend aufseiten unserer westlichen Hausrinderrassen und der daraus hergestellten Nahrungsmittel. Auf welche Weise der Konsum von Fleisch und Milch dieser Rinder zur Krebsentstehung beiträgt, ist momentan ein wichtiges Forschungsgebiet. Epidemiologische Daten und erste Laborergebnisse verweisen stark auf die Existenz eines neuartigen infektiösen Erregers hin. Auf den Punkt Epidemiologische Studien zeigen wiederholt einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von rotem Fleisch, das von dem eurasischen Rind Bos taurus abstammt, und einem erhöhten Brust- und Darmkrebsrisiko. Auch frühes Abstillen und Zufüttern mit kuhmilchbasierter Säuglingsnahrung wurde mit einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert. Der mechanistische Beweis für einen ursächlichen Zusammenhang steht noch aus. Jedoch gelang es kürzlich, einen neuartigen infektiösen Erreger in Rindern der Rasse Bos taurus zu identifizieren, der auch in Rindfleisch und kuhmilchbasierten Nahrungsmitteln nachgewiesen werden konnte.

Es existieren zahlreiche Untersuchungen zu der Frage, welche Umstände bei der Entstehung von Krebserkrankungen besonders ausschlaggebend sind. Neben einer genetischen Veranlagung und schädlichen Lebensgewohnheiten spielen Infektionen eine wichtige Rolle. Häufig wird bei epidemiologischen Studien außer Acht gelassen, dass es besondere Zeitfenster im Laufe des Lebens gibt, in denen bestimmte schädliche Einflüsse oder Infektionen sich besonders negativ auf unsere langfristige Gesundheit auswirken. Von den bekannten krebsverursachenden Infektionen, wie humanen Papillomviren oder Hepatitis-Viren, wissen wir, dass die Infektionen über einige Jahre bis hin zu vielen Jahrzehnten bestehen müssen, ehe sich eine Krebserkrankung daraus entwickelt.

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Für Darmkrebs und Brustkrebs sowie einige neuronale Erkrankungen, darunter Multiple Sklerose, verweisen Studien unter anderem auf zwei schützende Faktoren in den ersten beiden Lebensjahren. Der erste schützende Faktor in dieser Zeit sind sehr häufige, vorwiegend leichte Erkrankungen, wie beispielsweise Atemwegsinfektionen. Es ist nicht bekannt, warum häufige leichte Infektionen in den ersten beiden Lebensjahren vor der Krebsentstehung im späteren Leben schützen. Es liegt aber nah, zu vermuten, dass häufige Infektionen das angeborene Immunsystem in einem aktiven Zustand halten, wodurch die Erkennung und Bekämpfung von potenziell krebserregenden Infektionen und Krebsvorläuferzellen verbessert wird. Wird eine solche Infektion gleich zu Beginn des Lebens verhindert, kann es nach Jahrzehnten nicht zur Entstehung einer durch die Infektion verursachten Krebserkrankung kommen (zur Hausen et al. 2017). Der zweite schützende Faktor innerhalb der ersten beiden Lebensjahre ist Langzeitstillen, d. h. eine Stillzeit von mindestens sechs Monaten. Im ersten Lebensjahr und vor allem in den ersten Lebensmonaten ist unser Immunsystem noch nicht vollständig ausgebildet. Dennoch sind Neugeborene in den ersten drei Lebensmonaten durch den sogenannten Nestschutz relativ zuverlässig vor den gängigsten Infektionskrankheiten geschützt. Dies liegt daran, dass im Blut von Neugeborenen noch Antikörper vorhanden sind, die sie während der Zeit im Mutterleib aus dem Blut ihrer Mütter erhalten haben. Der Schutz besteht allerdings nur gegen Infektionskrankheiten, für welche die Mutter eine dauerhafte Immunität aufgebaut hat, wie beispielsweise Windpocken. Ab einem Alter von wenigen Wochen bis ca. drei Monaten verschwinden die mütterlichen Antikörper wieder aus dem Blut der Babys. Von nun an sind Babys mit ihrem noch unreifen Immunsystem einem besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt. Damit die Babys auch in der Zeit danach weitestgehend geschützt sind, versorgt die Muttermilch den Magendarmtrakt des Neugeborenen weiterhin mit Antikörpern gegen Krankheitserreger (mit denen die Mutter im Laufe ihres bisherigen Lebens Kontakt hatte). Über die Muttermilch können diese Antikörper jedoch nicht in die Blutbahn der Babys gelangen, sondern nur in deren Mund- und Rachenraum sowie in den Magen-Darm-Trakt. Trotzdem stellt dies eine äußerst raffinierte Barriere gegen Infektionen dar, weil Antikörper die Fähigkeit besitzen, Krankheitserreger zu binden und für andere Immunzellen als Angriffsziel zu markieren. Hohe Antikörpermengen sind in der Lage, einen Krankheitserreger zu „neutralisieren“, was bedeutet, dass der Krankheitserreger von Antikörpern in einer Weise bedeckt wird, die es verhindert, dass er weiterhin an seine Zielzellen andocken und eindringen kann.

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Muttermilch enthält zusätzlich zu Antikörpern noch sogenannte humane Milch-Oligosaccharide, also Zuckerverbindungen, die anders als Antikörper nicht nur mit einem bestimmten Erreger reagieren, sondern an alle möglichen Krankheitserreger binden können (Plaza-Díaz et al. 2018). Sie schützen das neugeborene Baby während der Zeit des Nestschutzes und darüber hinaus zusätzlich vor Krankheitserregern, die auch für seine Mutter neu sind oder gegen die keine langfristige Immunität besteht, wie beispielsweise MagenDarm-Viren (Noro- oder Rotaviren). Interessant ist auch die relativ neue Erkenntnis, dass Muttermilch sogar Immunzellen, Wachstumsfaktoren und Signalmoleküle enthält (Ballard und Morrow 2013). Diese Signalmoleküle werden von den Immunzellen der Mutter produziert (beispielsweise IFN-”) und gemeinsam mit 10 Mrd. Immunzellen täglich über die Muttermilch an das Baby weitergegeben, um die Aktivität des unreifen kindlichen Immunsystems zu stimulieren. Ähnlich wie bei häufigen Infektionen in der frühen Kindheit, könnte die Schutzwirkung des Stillens vor Krebserkrankungen also auf einer erfolgreichen Abwehr potenziell krebserregender Infektionen beruhen. Auf den Punkt Epidemiologische Studien weisen darauf hin, dass insbesondere zwei Faktoren in den ersten beiden Lebensjahren vor Brust- und Darmkrebs sowie vor Multipler Sklerose schützen: Sowohl häufige und vorwiegend leichte Erkrankungen als auch eine länger als sechs Monate dauernde Stillzeit. Vermutlich tragen diese beiden Faktoren zu einer verbesserten Immunfunktion des Kindes bei und schützen es dadurch vor potenziell krebsverursachenden Infektionen.

Wird die Stillzeit erst beendet, nachdem das Immunsystem des Kindes ausreichend entwickelt ist – also ab einem Alter zwischen ein und zwei Jahren –, kann eine Infektion mit krebsverursachenden Erregern möglicherweise verhindert werden. Alternativ könnte auf die Einführung von Rindfleisch oder Kuhmilchprodukten verzichtet werden, was bei nicht gestillten Kindern jedoch schwierig ist, da nahezu jeder käufliche Muttermilchersatz auf Kuhmilch basiert. Dieser Schutzmechanismus, der gestillte Kinder vor Infektionen und Krebserkrankungen im späteren Leben schützt, sollte nicht mit dem bekanntermaßen niedrigeren Krebsrisiko der stillenden Mutter selbst verwechselt werden. Das Brustkrebsrisiko einer Frau sinkt umso stärker, je mehr Kinder eine Frau gestillt hat und je länger die Stillzeit andauerte. Dieser protektive Effekt beruht auf hormonellen Veränderungen, die durch eine lange Stillzeit verursacht werden.

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Epidemiologische Daten zeigen, dass das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, direkt mit der Anzahl an Menstruationszyklen zusammenhängt, die eine Frau in ihrem Leben durchläuft. Folglich sind neben einer langen Stillzeit und hohen Kinderzahl auch ein später Menstruationsbeginn und ein früher Eintritt in die Wechseljahre mit einem niedrigeren Brustkrebsrisiko assoziiert. Frauen, die bereits mit 45 Jahren in die Wechseljahre kommen, haben nur ein halb so hohes Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, wie Frauen, die erst mit 55 Jahren in die Wechseljahre kommen. Dennoch ist es möglich, dass die stillende Mutter selbst von der Produktion der schützenden Zuckerverbindungen profitiert und diese auch sie vor Infektionen oder Krebserkrankungen schützen. Bei Müttern, die mehrere Kinder geboren und gestillt hatten, konnten diese Zuckerverbindungen auch langfristig nachgewiesen werden. Auf diese Weise könnten sie ebenfalls zu den positiven Auswirkungen von Schwangerschaft und Stillzeit auf das Krebsrisiko beitragen. Zwar enthält auch Kuhmilch ähnliche schützende Zuckerverbindungen, jedoch dienen diese zur Abwehr von rinderspezifischen Infektionen und eignen sich aufgrund ihrer Andersartigkeit nicht, um uns vor menschlichen Infektionen zu schützen. Was noch fehlt, ist letztendlich die eindeutige Bestätigung eines krebsverursachenden Erregers in Rindfleisch und Kuhmilch. Dieser müsste sich sowohl in Rinderprodukten nachweisen lassen als auch in menschlichen Zellen. Kürzlich gelang bei dieser Suche möglicherweise ein entscheidender Durchbruch. Wissenschaftler am Deutschen Krebsforschungszentrum entdeckten in Blutproben von gesunden Rindern und in Kuhmilchprodukten aus Supermärkten eine Vielzahl kleiner ringförmiger DNA-Moleküle (Abb. 1). Untersucht wurden Milchsorten, Joghurts und Frischkäse, die aus beliebigen Supermärkten in Heidelberg stammten. Die ringförmigen DNA-Moleküle konnten in allen Produktkategorien nachgewiesen werden, unabhängig von der Marke oder dem Geschäft, in dem die Produkte gekauft wurden (Funk et al. 2014; Lamberto et al. 2014; Whitley et al. 2014; Falida et al. 2017). Ähnliche kleine ringförmige DNA-Moleküle konnten Wissenschaftler auch in Gehirnproben von Patienten mit neuronalen Erkrankungen wie Multipler Sklerose nachweisen (Eilebrecht et al. 2018). Das auf diesen DNAMolekülen gespeicherte Genmaterial weist starke Überlappungen mit anderen DNA-Molekülen auf, die man bei Schafen nachweisen konnte, die an Scrapies erkrankt sind – eine dem Rinderwahnsinn ähnliche Prionen-Krankheit. Dass der Nachweis dieser neuen DNA-Moleküle lange Zeit nicht gelang, lag an einem technischen Problem, denn besonders kurze DNA-Moleküle wurden bei der Analyse systematisch eliminiert. Erst als die Forscher keinen Erreger fanden und begannen, gezielt auch sehr kurze Sequenzen mit

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Abb. 1 Arbeitshypothese, wie infektiöse Bovine Milk and Meat Factors (BMMFs) zur Entstehung von neurodegenerativen Erkrankungen und Krebs beitragen könnten: Milchprodukte und Fleisch der Hausrinderrasse Bos taurus enthalten BMMFs, die über die Nahrung in menschliche Organe wie Gehirn, Leber, Lunge, Brustgewebe, Darm, Pankreas und Prostata gelangen. Dort tragen sie möglicherweise durch die Produktion von BMMF-kodierten Proteinen oder unterschwellige Entzündungsreaktionen über Jahrzehnte zur Krebsentstehung bei. Diese Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

in die Auswertungen einzubeziehen, stießen sie endlich auf die kleinen ringförmigen DNA-Moleküle. Diese neu entdeckten DNA-Moleküle wurden BMMFs genannt, was für „Bovine Meat and Milk Factors“ steht. Die Virusähnliche ringförmige DNA dieser BMMFs weist große Übereinstimmungen mit Plasmidsequenzen von Bakterien der Art Acinetobacter baumannii auf (zur Hausen et al. 2019). Plasmide sind besonders kleine ringförmige DNAMoleküle, die von Bakterien untereinander ausgetauscht werden können. Häufig sind auf diesen Plasmiden wichtige Funktionen gespeichert, wie beispielsweise Antibiotika-Resistenzen. Durch den Austausch von Plasmiden können Bakterien diese Resistenzen an ihre Artgenossen weitergeben. Ähnlich wie Viren, benötigen Plasmide für ihre Vervielfältigung einen Wirt. Anders als Viren, können sie jedoch keine Hülle oder Kapsel bilden. Das Vorkommen und die Funktion von Plasmiden in den Zellen höherer Lebewesen, wie dem Menschen, ist bisher noch sehr wenig erforscht.

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Abb. 2 Mikroskopische Aufnahme einer Immunfluoreszenz-Färbung von der Darmschleimhaut eines Patienten mit bösartigem kolorektalem Karzinom. Der Ausschnitt zeigt Gewebe in der Nachbarschaft des Tumors im Longitudinalschnitt: DNA-haltige Zellkerne sind blau gefärbt, Makrophagen (Riesenfresszellen) sind in Rot, BMMFs in Grün und schnell proliferierende Stammzellen und Epithelzellen (Ki67+ ) in den basalen Darmkrypten in Magenta zu sehen. Die BMMFs befinden sich sowohl in der Nähe der basalen Stammzellnische als auch innerhalb von Makrophagen am apikalen Ende der Krypten, das besonders mit dem Darmlumen und seinem Inhalt in Kontakt steht. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Timo Bund, Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), 2022

Auf den Punkt Wissenschaftlern gelang kürzlich der Nachweis von kleinen virusähnlichen DNAMolekülen in Blutproben von Rindern und Milchprodukten aus Supermärkten. Diese neu entdeckten DNA-Moleküle werden als „Bovine Meat and Milk Factors“ (BMMFs) bezeichnet und ähneln bekannten DNA-Molekülen, die in Gehirnproben von Patienten mit neuronalen Erkrankungen gefunden wurden.

In Laborversuchen gelang es, eine Bioaktivität der BMMFs in menschlichen Zellen nachzuweisen: Bringt man BMMFs in menschliche Zellen ein, vermehren sich die DNA-Moleküle eigenständig, was auf eine spezifische Anpassung an das Leben in menschlichen Zellen hinweist (Abb. 2). Auch Genprodukte der BMMFs konnten in menschlichen Zellen nachgewiesen werden (Eilebrecht et al. 2018). Bei diesen Genprodukten handelt es sich um Proteine, die vermutlich eine Rolle bei der Vervielfältigung von DNA und der Zellteilung

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spielen (Replication Initiator Proteine) und somit möglicherweise auch bei Krebserkrankungen. Einige BMMFs scheinen in menschlichen Zellen auf eine zeitgleiche Infektion mit sogenannten Hilfsviren angewiesen zu sein. Als Kandidaten kommen Herpesviren, wie das Epstein-Barr-Virus in Frage, die ebenfalls mit einem erhöhten Krebsrisiko und neurodegenerativen Erkrankungen assoziiert sind. Da nahezu jeder von uns mit diesen Viren infiziert ist, bedarf es eines weiteren Auslösers, um eine dieser ernsthaften Erkrankungen zu verursachen. Neben einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus ist auch Vitamin-D-Mangel mit neurodegenerativen Erkrankungen und einem erhöhten Risiko für Brustund Darmkrebs assoziiert. Interessanterweise wurde bei Menschen, die einen Vitamin-D-Mangel haben, wie beispielsweise Teilnehmer von AntarktisExpeditionen, eine Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus beobachtet. Auch ist bekannt, dass Erkrankungen wie Multiple Sklerose in südlicheren und damit sonnenreicheren Regionen der Erde viel seltener vorkommen als in nördlichen Regionen (Nord-Süd-Gefälle). Das Epstein-Barr-Virus konnte in Laborexperimenten durch die Zugabe eines Signalmoleküls aktiviert werden, das im Menschen durch Vitamin D3 unterdrückt wird (zur Hausen et al. 2017). Auf diese Weise könnte ein Vitamin-D-Mangel die Reaktivierung von EpsteinBarr-Viren begünstigen, die mit unzähligen entzündlichen und neurodegenerativen Erkrankungen und auch Krebs in Zusammenhang stehen. Diese aktuellen und brisanten Daten bieten einen Einblick in die mögliche Komplexität vieler Erkrankungen. Auf den Punkt BMMFs können sich unter Laborbedingungen in menschlichen Zellen vermehren. Einige BMMFs benötigten hierfür die Hilfe anderer BMMFs oder Hilfsviren. Im Menschen könnten Hilfsviren, wie beispielsweise das Epstein-Barr-Virus, diese Rolle übernehmen. Infektionen mit diesem Virus wurden ebenfalls mit neurodegenerativen Erkrankungen und einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert.

Sollten BMMFs tatsächlich zur Krebsentstehung beitragen, ist es wichtig zu bedenken, dass die Infektion mit diesen Erregern vermutlich zu einem sehr frühen Zeitpunkt in unserem Leben stattfindet, da die Entwicklung einer Krebserkrankung viele Jahre bis Jahrzehnte benötigt (zur Hausen et al. 2019). Auf diesen Zeitraum haben wir im Erwachsenenalter rückwirkend keinen Einfluss. Es ist aber ratsam auf eine gute Vitamin-D-Versorgung und eine ausgewogene Ernährung zu achten. Unser Körper ist in der Lage, Vitamin D selbst mithilfe von Sonnenlicht herzustellen, aber auch einige Nahrungsmittel

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wie Fisch, Nüsse und Pilze sind ausgezeichnete Vitamin-D-Quellen. Im Winter kann auch auf eine medikamentöse Einnahme zurückgegriffen werden. In Bezug auf das Stillen wäre es ratsam, Babys mindestens ein Jahr zu stillen oder zumindest eine Weile weiter zu stillen, während Kuhmilchprodukte und Rindfleisch eingeführt werden. Somit kann das Kind im besten Fall eine Immunität entwickeln, bevor eine Infektion des ungeschützten Magen-Darm-Traktes erfolgt (zur Hausen et al. 2017). In Blutproben von gesunden Menschen konnten überraschenderweise sogar Antikörper gegen die Proteine der BMMFs nachgewiesen werden (zur Hausen et al. 2019). Unser Immunsystem scheint also generell in der Lage zu sein, eine Immunantwort gegen die von BMMFs produzierten Proteine zu richten. Wie wir im Kapitel „Das Immunsystem und Krebs“ erklärt haben, können Krankheitserreger durch ihre fremden Proteine an das Immunsystem verraten werden. Auf diesem Wege könnten auch BMMF-infizierte Zellen regelmäßig aus unserem Körper beseitigt und die Entstehung einer Krebserkrankung nach vielen Jahrzehnten verhindert werden. Es wird in Zukunft spannend sein, die weitere Entwicklung dieser Forschungsarbeiten zu verfolgen. Ob BMMFs tatsächlich zur Krebsentstehung beitragen und ob man sich auch als Erwachsener noch effektiv vor ihnen schützen kann, weiß bisher niemand. Der Umstieg auf milchfreie Alternativen ist unter Vorbehalt zu empfehlen, da viele Milch-Ersatzprodukte, wie beispielsweise Sojamilch, mit bedenklichen Zusatzstoffen wie Bindemitteln versetzt werden (siehe Kapitel „Ernährung und Darmkrebs“). Es ist fragwürdig, ob der Verzicht auf Rindfleisch und Kuhmilch im Erwachsenenalter überhaupt einen schützenden Effekt hat, da die epidemiologischen Studien vor allem auf ein Erkrankungsrisiko in den ersten Lebensjahren hinweisen (zur Hausen et al. 2017, 2019). Wir „Erwachsenen“ sind also vermutlich ohnehin schon infiziert, und uns bleibt als einzige Schutzmaßnahme, dass wir unser Immunsystem gesund halten, damit es krebsverursachende Infektionen und Krebsvorläuferzellen frühzeitig eliminiert und eine Reaktivierung von möglichen Hilfsviren verhindert. Der einfachste Schutz vor einer Infektion mit BMMFs ist bislang eine ausreichend lange Stillzeit. Falls Stillen nicht möglich ist, kann gespendete menschliche Muttermilch in Erwägung gezogen werden. So befremdlich es für uns in der westlichen Welt auch klingen mag, so üblich ist diese Praktik in anderen Teilen der Welt bzw. war es vor einigen Dekaden sogar im ostdeutschen Raum. Es existieren immer mehr Zentren, in denen stillende Mütter ihre überschüssige Muttermilch an andere Mütter spenden können. Die Beweggründe sind bisher vor allem ein veganer Lebensstil oder einfach der Wunsch, seinem Nachwuchs die bekannten positiven Wirkungen von

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Muttermilch zugute kommen zu lassen. Erst seit kurzem ist bekannt, dass menschliche Muttermilch sogar Stammzellen enthält, sogenannte „human milk stem cells“. Welche Funktion diese Stammzellen haben und ob sich möglicherweise neue Therapien aus diesen leicht zugänglichen Stammzellen ableiten lassen, wird momentan intensiv erforscht (Cacho und Lawrence 2017). Aus evolutionärer Sicht sind Infektionskrankheiten vor allem dann besonders schädlich, wenn sie neu auf eine Art übergreifen. In der neuen Art trifft der Erreger auf einen vollkommen ungeschützten Gastgeber und führt meist schnell dessen Tod herbei. Aus der Sicht eines Virus, das sich nur mithilfe des Wirtes vermehren und überleben kann, ist es nicht besonders günstig, dessen Tod herbeizuführen. Der Tod des Wirtes bedeutet auch für das Virus das Ende seiner Vermehrungsphase. Ohne den Wirt sind Viruspartikel der Gefahr der Austrocknung und anderen schädlichen Einflüssen, wie beispielsweise UVStrahlung, ausgesetzt. Auf lange Sicht sind die Viren erfolgreicher, die ihren Wirt nicht töten oder schwächen. Im Laufe der Zeit entwickeln sich Krankheitserreger in einer Art Wettbewerb mit dem Immunsystem. Auf jede Veränderung des Krankheitserregers folgt eine Anpassung des Immunsystems. Dieser Prozess läuft so lange weiter, bis eine gut angepasste Virusinfektion vollkommen unbemerkt für immer in unseren Zellen bestehen bleibt. Tierische Produkte sind seit Urzeiten ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Ernährung. Es ist daher anzunehmen, dass sich bereits ein schützender Mechanismus gegen BMMFs entwickelt hat. Die bisherigen epidemiologischen und experimentellen Daten bestätigen, dass der menschliche Körper sich vor diesen Erkrankungen schützen kann, wenn wir ihn sein uraltes biologisches Schutzprogramm erfüllen lassen.

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Infektiöse Erreger in Rindfleisch und Kuhmilch?

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Stress und Krebs

Zusammenfassung Viele Krebspatienten vermuten, dass Stress oder einschneidende Lebensereignisse, wie Scheidungen oder Todesfälle in der Familie, eine Mitschuld an ihrer Erkrankung tragen. Dennoch wissen wir auch heute noch immer relativ wenig darüber, welche Auswirkungen Stress auf die Entstehung und den Verlauf von Krebserkrankungen wirklich hat. Das liegt zum Teil daran, dass Stress oft mit einem ungesünderen Lebensstil einhergeht, der ebenfalls das Krebsrisiko erhöht. Da Stresshormone jedoch auch unser Immunsystem und unseren Stoffwechsel beeinflussen, ist ein Zusammenhang mehr als wahrscheinlich. Dieses Kapitel fasst zusammen, was bis heute wirklich über die Auswirkungen von Stress auf das Krebsrisiko bekannt ist. Dabei werden auch indirekte Stressfolgen, wie beispielsweise Schlafmangel, berücksichtigt. Seit der Antike ist bekannt, dass die körperliche und geistige Gesundheit eng miteinander verknüpft sind. Dabei ist wenig überraschend, dass sich schwere Erkrankungen, wie beispielsweise Krebs, negativ auf das seelische Wohlbefinden auswirken. Weitaus weniger klar ist jedoch, inwiefern sich beruflicher und privater Stress auf das Krebsrisiko auswirkt. Andauernder psychischer Stress erhöht den Blutdruck und gilt als bedeutender Risikofaktor für Herz-KreislaufErkrankungen, die für ein Drittel aller weltweiten Todesfälle verantwortlich sind (Ushakov et al. 2017; Richards et al. 2017). Aber existiert ein ähnlich eindeutiger Zusammenhang auch für psychischen Stress und Krebserkrankungen? Und auf welche Weise können Gemütszustände wie Stress, Depressionen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_11

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und Angststörungen überhaupt in Körpervorgänge eingreifen und die Entstehung von Krankheiten fördern? Dauerhafter Stress stört die Funktionsweise des Immunsystems, beschleunigt den biologischen Alterungsprozess und verkürzt das Leben (Prather et al. 2018). Bei all diesen Prozessen spielt die Wirkung von Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol eine wichtige Rolle. Diese Stresshormone dienen normalerweise dazu, den Körper – als Reaktion auf drohende Gefahr – in Alarmbereitschaft zu versetzen und die Leistungsfähigkeit von Muskulatur, Herz und Lungen entsprechend zu steigern. Empfindet man Angst, führt dies zur Ausschüttung der Hormone Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark, was vorübergehend den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel steigen lässt. Dieser „Fight-or-Flight“-Reflex bereitet den Körper innerhalb von Sekunden auf ein Angriffs- oder Fluchtverhalten vor. Die Wirkungsweise von Adrenalin und Noradrenalin ist dabei willentlich kaum steuerbar und zeitlich auf wenige Minuten begrenzt. Patienten mit Angststörungen leiden unter spontanen und unvorhersehbaren Adrenalinschüben, die den Blutdruck und Puls schlagartig in die Höhe treiben und starke Angstgefühle verursachen. Aufgrund der kurzen Wirkungszeit von Adrenalin und Noradrenalin können diese Schübe aber schnell besiegt werden, wenn es Patienten gelingt, die Wirkung dieser beiden Hormone nicht weiter zu verstärken. Das typische Stresshormon Cortisol erhöht, ähnlich wie Adrenalin und Noradrenalin, den Blutdruck und den Blutzuckerspiegel. Im Gegensatz zu Adrenalin hält seine Wirkung jedoch länger an und die Menge an Cortisol, die produziert wird, kann bei gleichem Auslöser von Mensch zu Mensch sehr verschieden sein. Auch nimmt die Wirkung von Cortisol durch einen starken Gewöhnungseffekt mit der Zeit ab. Die Wirkung von Stresshormonen ist nicht auf das Herz-Kreislauf-System und den Stoffwechsel beschränkt. Auch viele andere Körperzellen, darunter Immunzellen und Krebszellen, können Stresshormone wahrnehmen und daraufhin ihr Verhalten ändern. Beispielsweise unterdrückt Cortisol die Funktion von Immunzellen und verhindert die Produktion von Entzündungsstoffen. Als Medikament ist es als Kortison bekannt und wird zur Behandlung von Entzündungen und Autoimmunkrankheiten eingesetzt. Welchen Nutzen aber sollte eine Unterdrückung des Immunsystems durch Cortisol in unserem Körper haben? Man sollte meinen, dass ein gut funktionierendes Immunsystem gerade in Gefahren- oder Stresssituationen einen entscheidenden Überlebensvorteil darstellt. In der Tat wurde gezeigt, dass aggressive Auseinandersetzungen unter Tieren zu einer sofortigen Aktivierung von Immunzellen und der unverzüg-

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lichen Ausschüttung von Entzündungsstoffen ins Blut führen. Die schnelle Aktivierung des Immunsystems wird dabei durch Noradrenalin gesteuert, das in Stress- und Angstsituationen im Körper freigesetzt wird. Interessanterweise wird Noradrenalin bereits dann ausgeschüttet, wenn Gefahr nur zu erwarten ist oder man Angst hat – selbst wenn sie grundlos ist. Allein die Aussicht auf Verletzungen in Folge von Auseinandersetzungen mit Artgenossen oder Fressfeinden ist ausreichend, um das Immunsystem in einen alarmierten Zustand zu versetzen. Diese Alarmbereitschaft dient vermutlich dazu, im Fall von Verletzungen unverzüglich und optimal reagieren zu können. Leicht verzögert setzt dann die entzündungshemmende Wirkung des Cortisols ein, um das hochaktive Immunsystem wieder zu drosseln und die Konzentration der im Blut zirkulierenden Entzündungsfaktoren wieder auf ein Normalniveau zu senken. Glücklicherweise lösen Menschen Konflikte meistens verbal und nicht durch körperliche Auseinandersetzungen. Trotzdem existieren die gleichen biologischen Stressmechanismen auch bei uns Menschen. Eine Studie zeigte beispielsweise, dass die beiden wichtigen Entzündungsstoffe Interleukin-6 und TNF’ im Blut von Ehepartnern nach Auseinandersetzungen erhöht sind. Auch bei professionellen Rugby-Spielern konnte bereits zwei Stunden vor einem wichtigen Match ein erhöhter Blutwert des wichtigen Entzündungsfaktors Interleukin-1“ nachgewiesen werden. Sozialer und psychischer Stress erhöht zwar langfristig auch die Konzentration von entzündungshemmendem Cortisol im Blut, allerdings scheinen Immunzellen bei andauerndem Stress resistent gegen dessen Wirkung zu werden. Mäuse, die ununterbrochen sozialem Stress ausgesetzt werden, beispielsweise indem die Hierarchie innerhalb ihres Käfigs regelmäßig durch die Anwesenheit eines fremden dominanten Männchens gestört wird, produzieren trotz erhöhter Cortisol-Produktion mehr Entzündungsfaktoren (Takahashi et al. 2018). Sozialer Stress kann also eine krankhafte Überaktivierung des Immunsystems verursachen. Da chronische Entzündungen und Autoimmunerkrankungen ein bekanntes Krebsrisiko darstellen, vermuteten Wissenschaftler, dass sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen langjährigem Stress und Krebs relativ einfach nachweisen ließe. Auf den Punkt Das Stresshormon Cortisol unterdrückt das Immunsystem und verhindert die Produktion von Entzündungsstoffen. Bei Mäusen wurde beobachtet, dass Immunzellen bei dauerhaftem Stress resistent gegen die Wirkung von Cortisol

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werden. Gestresste Mäuse produzieren trotz hoher Cortisol-Werte im Blut vermehrt Entzündungsstoffe, die auch bei der Krebsentstehung eine wichtige Rolle spielen.

Tatsächlich bereitete es Wissenschaftlern bisher aber große Schwierigkeiten, einen eindeutigen Zusammenhang zwischen langjährigem Stress und Krebserkrankungen nachzuweisen. Das Problem liegt in der Komplexität der Fragestellung. Zum einen existieren sehr unterschiedliche Formen von Stress, wie beispielsweise beruflicher oder sozialer Stress – zum anderen reagiert jeder Mensch anders auf vergleichbare Stresssituationen. Mehrere als stressig empfundene Lebensereignisse, wie beispielsweise der Tod von nahen Familienangehörigen oder der Verlust des Arbeitsplatzes, erhöhen das Brustkrebsrisiko. Dabei ließ sich ein direkter Zusammenhang zwischen der Anzahl der als stressvoll empfundenen Lebensereignisse und der Höhe des Risikos beobachten (Fischer et al. 2018). Einschneidende Lebensereignisse hatten interessanterweise nur dann einen messbaren Einfluss auf das Brustkrebsrisiko, wenn sie als stressreich empfunden wurden. Der größte Zusammenhang zwischen dem Stressempfinden und einem erhöhten Brustkrebsrisiko konnte bei Frauen vor den Wechseljahren beobachtet werden, die bisher keine Kinder geboren hatten oder bei der Geburt ihres ersten Kindes über 30 Jahre alt waren. Vorherige persönliche Erkrankungen steigerten das Brustkrebsrisiko jedoch unabhängig davon, ob sie als stressig empfunden wurden oder nicht. Bei Männern erhöht ein als stressig empfundener Arbeitsplatz deutlich das Risiko, vor dem 65. Lebensjahr an Prostatakrebs zu erkranken (Blanc-Lapierre et al. 2017). Das persönliche Stressempfinden scheint also eine größere Rolle für das persönliche Krebsrisiko zu spielen als die tatsächliche Belastung am Arbeitsplatz oder die Anzahl an besonders einschneidenden Lebensereignissen. Dieser Zusammenhang scheint dabei insbesondere für geschlechtsspezifische Krebserkrankungen, wie Brust- und Prostatakrebs, zu gelten. Als Maß für die persönliche Stress-Belastbarkeit dient die sogenannte StressResilienz. Als Resilienz wird in der Psychologie die Fähigkeit bezeichnet, sich von Schicksalsschlägen oder einer hohen Stressbelastung zu erholen und zu seinem inneren Gleichgewicht zurückzufinden. Wenn man mithilfe von psychologischen Tests statt stressigen Lebensereignissen die Stress-Resilienz von Testpersonen bestimmt und in den darauffolgenden Jahren die Häufigkeit von Krebsdiagnosen untersucht, findet man interessanterweise plötzlich auch Unterschiede bei anderen Krebsarten.

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Eine im Jahr 2017 veröffentlichte Studie ergab, dass Personen mit einer niedrigen Stress-Resilienz ein deutlich erhöhtes Risiko für Krebserkrankungen der Leber und Lunge haben. Andererseits wurden manche Krebsarten, wie beispielsweise das bösartige Melanom (schwarzer Hautkrebs), im Untersuchungszeitraum seltener bei Testpersonen mit einer niedrigen Stress-Resilienz diagnostiziert (Kennedy et al. 2017). Dies liegt vermutlich daran, dass Stress nicht nur körperliche Auswirkungen hat, sondern meist auch unser Verhalten ändert und auf diesem Wege ebenfalls das Krebsrisiko beeinflussen kann. Dieser Punkt darf nicht vernachlässigt werden, denn er erschwert die Auswertung von wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema enorm. Menschen verhalten sich in Stresssituationen häufiger ungesund, indem sie beispielsweise rauchen oder sich einseitig ernähren. Zusätzlich leiden Menschen, die psychischem oder beruflichem Stress ausgesetzt sind, häufiger unter Schlafmangel oder Schlafstörungen. In Studien, die den Einfluss von Stress auf das Krebsrisiko untersuchen, müssen diese Faktoren neben Aspekten wie Alter, Geschlecht und Stress-Resilienz in die Auswertung der Daten einbezogen werden. Insbesondere, weil viele dieser stressbedingten Verhaltensweisen schon alleine bekannte Krebsrisiken darstellen. Nicht nur Rauchen oder Trinken und einseitige Ernährung gehören zu den stressbedingten Verhaltensweisen, sondern auch Schlafstörungen. Schlafmangel wirkt sich allerdings nicht nur kurzfristig nachteilig auf unser Wohlbefinden aus und sollte ernst genommen werden. Die Liste der Erkrankungen, die durch Schlafmangel begünstigt werden, ist lang und umfasst unter anderem Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht, das metabolische Syndrom, Diabetes mellitus Typ 2 und auch Krebs (Medic et al. 2017). Schlafstörungen haben einen beeindruckenden Einfluss auf das Krebsrisiko und es ist schwierig, Schlafstörungen zuverlässig von psychischem Stress zu trennen. Diese beiden Faktoren verstärken sich zudem gegenseitig, denn Stress kann nicht nur Schlafstörungen verursachen, sondern schlechter Schlaf setzt auch die Stressbelastbarkeit herab. Es wurde beobachtet, dass Schlafstörungen das Risiko erhöhen, an Brustkrebs, Prostatakrebs und Darmkrebs zu erkranken. Dieser Zusammenhang konnte besonders deutlich bei Nachtarbeitern und Krankenschwestern im Schichtdienst beobachtet werden. Da Schlafstörungen und Schlafmangel ein weit verbreitetes Problem in unserer Gesellschaft sind, darf die gesundheitliche Bedeutung von Schlafmangel nicht unterschätzt werden. Eine Umfrage der US-amerikanischen National Sleep Foundation aus dem Jahr 2014 ergab, dass 35 % der amerikanischen Erwachsenen ihre Schlafqualität nur als schlecht oder mittelmäßig einstufen. Als Ursache für das erhöhte Krebsrisiko durch Schlafstörungen und Schlafmangel vermuten Forscher eine reduzierte Melatonin-Produktion durch

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nächtliches Licht. Melatonin ist ein natürliches Hormon, das den Tag-NachtRhythmus und das Schlafverhalten steuert. Durch Licht wird die Produktion von Melatonin gehemmt. Bei Dunkelheit steigt die Produktion des Müdigkeit verursachenden Hormons an. Im Winter bei weniger Tageslicht und häufiger Bewölkung wird es daher vermehrt produziert und ist für die sogenannte Winterdepression verantwortlich. Nächtliche Licht-Exposition reduziert die Produktion von Melatonin und behindert auf diese Weise auch dessen Wirkung in unserem Körper. Melatonin verursacht nicht nur Müdigkeit, sondern reduziert zusätzlich auch die Menge an Sexualhormonen in unserem Blut, übernimmt Aufgaben bei der DNA-Reparatur, unterdrückt das Wachstum von Tumorzellen und wirkt als Radikalfänger. Ein Melatonin-Mangel durch zu wenig Schlaf könnte also die Produktion von Sexualhormonen anregen und so das Risiko für Brust- und Prostatakrebs erhöhen. Auf den Punkt Jeder Mensch reagiert anders auf Stress. Besonders einschneidende Lebensereignisse oder Stress am Arbeitsplatz können sich insbesondere dann auf das Krebsrisiko auswirken, wenn sie als stressreich empfunden werden. Dies gilt vor allem für Krebserkrankungen der Brust und Prostata. Als Maß für die persönliche Stressbelastbarkeit gilt die Stress-Resilienz. Menschen mit einer niedrigen Stress-Resilienz haben ein höheres Risiko, an Leber- und Lungenkrebs zu erkranken. Jedoch neigen die meisten Menschen bei Stress auch zu einem ungesunden Lebensstil, der die Studienergebnisse beeinflussen kann.

Sehr interessant im Zusammenhang mit der Frage, welche Auswirkungen Stress auf das Krebsrisiko hat, sind Beobachtungen an Patienten die dauerhaft sogenannte Beta-Blocker einnehmen. Beta-Blocker sind Medikamente, die seit einigen Jahrzehnten erfolgreich zur Behandlung von Bluthochdruck, Herzinfarkten und Angststörungen eingesetzt werden und die Wirkung der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin hemmen. Wenn diese Stresshormone eine Rolle bei der Entstehung von Krebskrankheiten spielen, sollte sich ein reduziertes Krebsrisiko bei Patienten beobachten lassen, die langjährig Beta-Blocker einnehmen. Interessanterweise tragen auch Krebszellen Adrenalin-Rezeptoren auf ihrer Zelloberfläche – was bedeutet, dass sie dieses Hormon wahrnehmen und darauf reagieren können. In Studien an Mäusen konnte die Aktivierung des Adrenalin-Signalweges in Krebszellen deren Ausbreitung im Körper beschleu-

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nigen und die Verabreichung von Beta-Blockern die Metastasierung von Krebszellen verhindern. Zusätzlich wurde bei Mäusen, die mit Beta-Blockern behandelt wurden, eine im Vergleich zu unbehandelten Mäusen abgeschwächte Entzündungsreaktion in der direkten Umgebung des Tumors beobachtet. Solche Entzündungsreaktionen, die das Tumorwachstum begleiten, spielen eine wichtige Rolle bei der Metastasierung von Krebszellen. Da Adrenalin Immunzellen zur Produktion von Entzündungsstoffen anregt, können BetaBlocker hemmend in diesen Vorgang eingreifen (Arif et al. 2022; Peixoto et al. 2020). Eine Studie untersuchte deshalb, welche Auswirkungen eine langfristige Beta-Blocker-Einnahme auf das Überleben von Krebspatienten ab dem Zeitpunkt der Diagnose hat (Yap et al. 2018). Die Ergebnisse der Studie waren gemischt, denn zum einen verbesserte die Einnahme von Beta-Blockern das Überleben von Krebspatienten, die an schwarzem Hautkrebs (Melanom) oder Eierstockkrebs erkrankt waren. Zum anderen verkürzte die Einnahme von Beta-Blockern aber anscheinend das Überleben von Patienten, die an Lungenkrebs oder einem Endometriumkarzinom erkrankt waren. Der Einfluss von Beta-Blockern auf das Überleben von Krebspatienten scheint also von der Art der Krebserkrankung abzuhängen. Eine interessante Studie aus dem Jahr 2013 zeigte, dass Männer, die Beta-Blocker einnahmen, deutlich seltener an Prostatakrebs erkrankten als ihre Kontrollgruppe (Hassan et al. 2013). Prostatakrebs ist eine der Krebsarten, deren Entstehung laut epidemiologischen Studien maßgeblich durch Stress gefördert wird. Auch bei Mäusen kann Stress die Entstehung von Prostatakrebs in einer Adrenalinabhängigen Weise fördern und das Krebswachstum beschleunigen. Ein großes Problem bei allen Studien mit menschlichen Patienten, die dauerhaft Beta-Blocker einnehmen, ist allerdings die Tatsache, dass diese Patientengruppen Beta-Blocker zumeist wegen einer existierenden Herz-KreislaufErkrankung einnehmen. Diese Patienten sind also gesundheitlich vorbelastet und haben vermutlich bisher ein stressreicheres Leben geführt oder einen ungesünderen Lebensstil gepflegt als die gesunden Menschen in der Vergleichsgruppe, die keine Beta-Blocker einnehmen müssen. Weitere aussagekräftigere Studien wären in diesem Zusammenhang sehr wichtig, um das Krebsrisiko von Patienten, die langjährig Beta-Blocker einnehmen, besser beurteilen zu können. Solche Studien müssten mit gesunden Studienteilnehmern starten, die zufällig in eine Versuchs- und eine Placebo-Gruppe verteilt werden und über viele Jahre auf ihr Krebsrisiko hin beobachtet werden. Da Beta-Blocker jedoch auch den Blutdruck senken, könnte sich dies als schwierig erweisen.

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Auf den Punkt Beta-Blocker sind häufig eingesetzte Medikamente, die Stresshormone in ihrer Wirkung hemmen und deshalb möglicherweise das Risiko für einige Krebsarten senken, die durch Stress gefördert werden. Die Einnahme von Beta-Blockern senkt das Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken, und verbessert das Überleben von Patienten, die an schwarzem Hautkrebs und Eierstockkrebs erkrankt sind. Bei einigen Krebsarten scheinen diese Medikamente jedoch das Überleben zu verkürzten, weshalb weitere Studien notwendig sind.

Interessanterweise können Stresshormone nicht nur unser Immunsystem beeinflussen, sondern die Aktivität unseres Immunsystems beeinflusst auch umgekehrt unser seelisches Wohlbefinden. Wenn wir krank sind, produzieren unsere Immunzellen Substanzen, die für die typische Müdigkeit, den Appetitverlust und die Abgeschlagenheit verantwortlich sind. Da auch psychischer Stress die Produktion von Entzündungsstoffen fördert, kann Stress unser Wohlempfinden ebenfalls über diese Substanzen beinträchtigen. Bei ansonsten vollkommen gesunden Personen, die an Depressionen leiden oder ein hohes Aggressionspotenzial aufweisen, konnten erhöhte Werte von bestimmten Entzündungsfaktoren wie Interleukin-6, TNF und CRP im Blut nachgewiesen werden. Obwohl es sich bei Depressionen und Aggressionen um sehr unterschiedliche Verhaltensmuster handelt, werden bekanntermaßen beide durch Stress begünstigt. Eine erhöhte Produktion von Entzündungsstoffen unter stressigen Lebensbedingungen könnte mechanistisch zur Entstehung dieser beiden Krankheiten beitragen (Takahashi et al. 2018). Diese Vermutung wird durch die Beobachtung von psychologischen Nebenwirkungen bei einigen Medikamenten gestützt, die Entzündungsstoffe enthalten oder deren Wirkung nachahmen. Beispielsweise verursacht der von Immunzellen produzierte Entzündungsstoff Interferon-’, der zur Therapie von HepatitisC-Erkrankungen medikamentös eingesetzt wird, bei manchen Patienten Reizbarkeit, Zorn und Feindseligkeit. Stress kann sogar die Zusammensetzung der Darmflora stören, was sich als sogenannte Dysbiose bemerkbar macht, die auch bei vielen chronischen Entzündungskrankheiten und starkem Übergewicht auftritt. Wir sind der Dysbiose schon an vielen Stellen dieses Buches begegnet. Eine solche pathologische Veränderung der Darmflora regt unabhängig von ihrer Ursache die Produktion von Entzündungsstoffen im Körper an, wodurch depressive Stimmungen verursacht werden und das Stressempfinden steigt (Inserra et al. 2018). In der Tat zeigen Patienten, die an depressiven Erkrankungen leiden, eine in ähnlicher Weise veränderte Darmflora wie Patienten mit chronisch

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Abb. 1 Direkte und indirekte Stressfolgen, die mit einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert sind. Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

entzündlichen Darmerkrankungen (Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa). Aufgrund der vielseitigen Wechselwirkungen zwischen Stress und dem Immunsystem, ist es durchaus möglich, dass sich Stress, Depressionen und Entzündungen bei vielen dauerhaften Erkrankungen gegenseitig verstärken (Abb. 1). Es ist bekannt, dass Krebspatienten nach der Diagnose oft unter Depressionen leiden, die zudem mit einer schlechteren Prognose assoziiert wurden (Sotelo et al. 2014). Die depressiven Verstimmungen könnten allerdings nicht nur durch die Krebsdiagnose verursacht werden, sondern auch durch Entzündungsvorgänge, die fast alle Krebserkrankungen begleiten (Grivennikov et al. 2010). Entzündungsstoffe beeinträchtigen das psychische Wohlergehen in einer Weise, die dem Krankheitsbild einer klinischen Depression ähnelt. Depressive Verstimmungen könnten bei Krebspatienten also auch auf eine

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starke Produktion von Entzündungsstoffen in der Nähe des Tumors hinweisen, die das Voranschreiten der Krebserkrankung fördert. Wissenschaftliche Studien weisen seit Jahren vermehrt darauf hin, dass stressbedingte Entzündungsreaktionen generell eine Ursache von depressiven Erkrankungen sein könnten. Möglicherweise kann einigen depressiven Patienten in Zukunft sogar mit entzündungshemmenden Medikamenten geholfen werden. Dies könnte insbesondere für solche Patienten relevant sein, bei denen gängige Therapien nicht anschlagen und die zusätzlich erhöhte Entzündungswerte im Blut aufweisen. Interessanterweise gelten auch einige Virusinfektionen als wichtiger Risikofaktor für Depressionen, darunter Herpes-Viren wie das Herpes-simplexVirus Typ 2, Windpockenviren (Varizella-Zoster) und Influenza-Viren (Gale et al. 2018). In diesen Fällen könnten Entzündungsstoffe, die zur Virusbekämpfung dienen, die depressiven Verstimmungen direkt verursachen oder vorhandene Depressionen verstärken. Entzündungsstoffe, die von unserem eigenen Immunsystem produziert werden, sind auch für die sogenannte postinfektiöse Depression verantwortlich, die noch Wochen bis Monate nach einer Influenza-Infektion auftreten kann und Symptome einer Depression verursacht. Trotz ihrer Häufigkeit ist diese Form der Depression vielen Menschen unbekannt. Angesichts der vielfältigen Auswirkungen von Stress auf unser Verhalten und der unterschiedlichen Stresswahrnehmung von Menschen scheint es nahezu unmöglich, eine wissenschaftliche Studie zu designen, die all diese Faktoren berücksichtigt. Einer sehr umfangreichen Studie aus England mit insgesamt 163.363 Männern und Frauen ist es gelungen, die Mehrheit dieser Faktoren zu berücksichtigen (Batty et al. 2017). Das persönliches Stresslevel der Teilnehmer wurde zu Beginn der Studie bei einem Hausbesuch mit einem anerkannten psychologischen Test ermittelt. Zusätzlich wurden andere wichtige Faktoren, wie der Alkohol- und Zigarettenkonsum, der Body-Mass-Index, der Ausbildungsgrad und der sozioökonomische Status bestimmt. Anschließend wurden die Studienteilnehmer über einen Zeitraum von durchschnittlich 9,5 Jahren beobachtet. In dieser Zeit verstarben insgesamt 16.267 Teilnehmer – 4353 davon an Krebs. Diese umfassende Studie lieferte, erstmals und anders als viele Studien zuvor, ein eindeutiges Ergebnis auf die Frage, ob Stress die Krebsentstehung begünstigt oder nicht. Studienteilnehmer, die in den psychologischen Tests die höchsten Stresswerte erzielt hatten, besaßen im Vergleich zu entspannten Menschen ein deutlich höheres Krebsrisiko. Nachdem die Studienergebnisse nach Alter und Geschlecht der Teilnehmer angeglichen wurden, ergab sich für die gestressten Teilnehmer ein um 32 % erhöhtes Risiko, an einer beliebigen Krebsform zu

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Stress und Krebs 1. Mesotheliom 2. Blasenkrebs 3. Leukämie 4. Leberkrebs 5. Non-Hodgkin’s Lymphom 6. Pankreaskarzinom 7. Speiseröhrenkrebs 8. Multiples Myelom 9. Prostatakrebs 10. Magenkrebs 11. Eierstockkrebs 12. Dickdarm- und Rektumkrebs 13. Krebserkrankungen des zentralen Nervensystem 14. Nierenkrebs 15. Brustkrebs 16. Lungenkrebs

Abb. 2 Krebsarten, für die im Studienzeitraum ein erhöhtes Sterberisiko bei hoher Stressbelastung festgestellt wurde. Die Krebsarten sind nach absteigendem Risiko sortiert. Fettgedruckte Krebsarten waren nach Einbeziehung aller anderen Risikofaktoren, wie beispielsweise dem BMI, Rauchen oder Alkoholkonsum, am stabilsten mit einer hohen Stressintensität assoziiert. Die für die Abbildung verwendeten Daten stammen aus Batty et al. (2017)

versterben. Die größte Auswirkung hatte Stress auf das Risiko, an einem Mesotheliom zu versterben, einer seltenen Krebserkrankung der Auskleidung der inneren Organe, die das Brustfell, den Herzbeutel oder das Bauchfell betreffen kann. In Abb. 2 sind die Krebserkrankungen aufgelistet, für die im Beobachtungszeitraum der Studie ein erhöhtes Sterberisiko bei gestressten Teilnehmern nachgewiesen wurde. Eine weitere Angleichung der Studienergebnisse für Einflussfaktoren wie den Bildungsgrad, Rauchen oder Alkoholkonsum führte interessanterweise nur zu geringfügigen Veränderungen am Gesamtergebnis. Eine Ausnahme hierbei bildete allerdings das Rauchen, denn hier führte die Berücksichtigung zu einer deutlichen Abnahme der direkten Stresseffekte auf das Risiko, an Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs zu sterben. Nach Einbeziehung aller weiteren Risikofaktoren zeigte Stress seine stabilsten Auswirkungen auf das Risiko, an Darmkrebs, Prostatakrebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs, Speiseröhrenkrebs und Leukämie zu erkranken. Für Darmkrebs und Prostatakrebs konnte sogar ein stufenweise zunehmender Effekt der Stressintensität auf das Sterberisiko beobachtet werden. Die aktuellen Daten weisen darauf hin, dass tatsächlich ein Zusammenhang zwischen psychischem Stress und dem Risiko, an Krebs zu sterben, existiert. Allerdings ist auch diese Studie noch lange nicht perfekt. Auch in dieser Studie kann nicht ausgeschlossen werden, dass stark gestresste Menschen die Krebs-

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erkrankung möglicherweise erst später entdecken, weil sie seltener oder später zum Arzt gehen. Auf diese Weise könnten die Heilungsaussichten in der gestressten Gruppe möglicherweise von Anfang an schlechter sein als in der weniger gestressten Gruppe. Es wäre auch denkbar, dass gestresste Menschen größere Probleme haben, die teilweise sehr aufwändigen und unangenehmen Behandlungen wahrzunehmen und konsequent zu Ende zu bringen. Dieses als „Compliance“ bezeichnete Verhalten könnte sich auf den Behandlungserfolg und damit das Überleben der Patienten auswirken. Aufgrund der vielfältigen Auswirkungen von Stress auf nahezu alle Körpervorgänge kann ein Zusammenhang zwischen Stress und dem Krebsrisiko jedoch kaum bezweifelt werden. Da Stress unser Krebsrisiko mit hoher Sicherheit beeinflusst, stellt sich automatisch die Frage, ob wir unser Krebsrisiko möglicherweise auch durch positive Emotionen oder Methoden zum Stressabbau senken können. Positive Emotionen, wie Glück und Zufriedenheit, wirken sich positiv auf unsere Gesundheit aus. Sie fördern die Produktion von Antikörpern zur Krankheitsabwehr (IgA) und senken die Werte des Stresshormons Cortisol im Speichel, das die Immunfunktion unterdrückt (Barak 2006). Wissenschaftliche Studien weisen darauf hin, dass Methoden zur Verbesserung der Achtsamkeit (engl. mindfullness) die Stress-Resistenz erhöhen können. Achtsamkeit wird gerne als Buddhismus ohne Buddhismus beschrieben, denn tatsächlich erinnert die wissenschaftlich anerkannte Methode der „Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion“ an eine Mischung aus Yoga und Meditationskurs. Das Ziel dieser Methode ist es, ein auf die Gegenwart orientiertes Bewusstsein zu entwickeln und den Augenblick mit einer Mischung aus Neugier, Offenheit und Akzeptanz aufzunehmen. Eine neugierige und offene Lebenseinstellung hat nachweisbar positive Effekte auf die Gesundheit und schützt vor stressbedingten Erkrankungen. Die Methode der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion kann auf zellulärer Ebene sogar die Länge unserer Telomere und somit auch unseren biologischen Alterungsprozess beeinflussen (Epel et al. 2009). Ebenfalls kann diese Methode bei der Therapie und Prävention von vielen anderen stressbedingten Begleiterkrankungen und Problemen helfen, etwa bei depressiven Verstimmungen, Schlafstörungen, Angststörungen, Migräne und chronischen Schmerzen. Dies sind insgesamt sehr gute Nachrichten, denn sie zeigen, dass wir nicht durch Lebensereignisse, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, zu einem unglücklichen oder sogar krank machenden Leben determiniert sind. Unser Stressempfinden und unser Umgang mit Stress spielen eine weitaus wichtigere Rolle. Indem wir lernen, besser mit Stress umzugehen, können wir unsere Gesundheit langfristig schützen.

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Entzündungshemmer, Vitamine und Antioxidantien

Zusammenfassung Vielen Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln wird nachgesagt, dass sie das Krebsrisiko senken oder sogar Krebs heilen können. Dabei zeigen wissenschaftliche Studien mit hunderttausenden Teilnehmern für die meisten Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel keine positiven Effekte auf das Krebsrisiko oder die Lebenserwartung. Stattdessen können entzündungshemmende Medikamente wie Aspirin tatsächlich das Risiko für Darmkrebs, Brustkrebs und eine Reihe anderer Krebserkrankungen deutlich reduzieren. In diesem Kapitel hinterfragen wir, welche Vitamine, Mineralstoffe und Medikamente in Zukunft zur Prävention von Krebserkrankungen eingesetzt werden könnten und bei welchen mit gefährlichen Nebenwirkungen zu rechnen ist. In den vorherigen Kapiteln erklärten wir, dass dauerhafte Entzündungen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Krebserkrankungen spielen. Schuld daran sind die aggressiven Sauerstoffverbindungen, die während einer Entzündungsreaktion produziert werden und die Proteine und die DNA schädigen können. Zeitgleich verhindern Wachstumsfaktoren, die ebenfalls von Immunzellen produziert werden, dass geschädigte Zellen absterben. In entzündeten Geweben herrscht also ständig die Gefahr, dass geschädigte Körperzellen überleben und sich vermehren. Deshalb begünstigen entzündliche Erkrankungen häufig die Krebsentstehung in den betroffenen Organen. Aber selbst Tumoren, die ohne erkennbare vorhergehende Erkrankungen oder Entzündungen entstehen, enthalten meist unzählige Immunzellen. Je höher die Anzahl der in einem Tumor enthaltenen entzündlichen Immunzellen, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_12

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desto schlechter ist dabei häufig die Prognose. Mäuse, die genetisch so verändert wurden, dass ihre Immunzellen bestimmte Entzündungsstoffe nicht herstellen können, erkranken seltener an Krebs, wenn sie Karzinogenen ausgesetzt werden, und entwickeln sogar seltener Metastasen. Einer dieser von Entzündungszellen produzierten Botenstoffe (TNF) war in Laborexperimenten sogar ausreichend, um normale Körperzellen in Krebszellen zu verwandeln.

Entzündungshemmer Es ist naheliegend, dass entzündungshemmende Medikamente die Krebsentstehung auch im Menschen behindern oder das Tumorwachstum verlangsamen könnten. Tatsächlich konnte diese Vermutung in umfangreichen Studien bestätigt werden. Sehr interessante Beobachtungen stammen von Patienten, die zur Behandlung und Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über viele Jahre bis Jahrzehnte Aspirin einnehmen. Aspirin wurde ursprünglich als Kopfschmerztablette bekannt. Neben seiner schmerzstillenden und fiebersenkenden Funktion wirkt Aspirin aber auch gerinnungshemmend, wodurch die Entstehung von lebensbedrohlichen Gefäßverschlüssen sehr effektiv verhindert wird. Interessanterweise erkranken und sterben Patienten, die regelmäßig Aspirin einnehmen, aber auch deutlich seltener an Darmkrebs (Gupta und DuBois 2001; Markowitz 2007). Diese Beobachtung wurde wiederholt in unzähligen Studien nachgewiesen und unterstreicht die wichtige Bedeutung, die Entzündungen bei der Krebsentstehung insbesondere im Darm zukommt. Aspirin schützt jedoch nicht nur vor Darmkrebs. Die tägliche Einnahme von Aspirin verringert auch das Risiko, an Lungenkrebs, Brustkrebs und Pankreaskrebs zu erkranken. Das Risiko für Pankreaskrebs (Bauchspeicheldrüsenkrebs) halbierte sich durch die tägliche Aspirin-Einnahme sogar (Streicher et al. 2014; Risch et al. 2017). Ähnlich beeindruckende Effekte zeigte Aspirin für erbliche Brustkrebserkrankungen, wo die regelmäßige Einnahme das Erkrankungsrisiko um 37–39 % senkte. Andere entzündungshemmende Medikamente aus der Klasse der Cox-2-Inhibitoren, wie Ibuprofen oder Paracetamol, zeigten mit einer Risikoreduktion von 61–71 % sogar einen noch größeren Effekt (Britt et al. 2020). Zusätzlich senkt Aspirin auch die Sterberaten für Eierstockkrebs, Blasenkrebs und Prostatakrebs in untersuchten Patientengruppen. Insgesamt kann Aspirin das Gesamtrisiko, an Krebs zu sterben, über einen Zeitraum von

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20 Jahren um 20 % reduzieren (Weinberg 2014). Die Daten für Aspirin sind beeindruckend, denn es gibt kein anderes verfügbares Medikament auf dem Markt, für das auch nur annähernd eine so bedeutende und breitflächige Schutzwirkung bekannt ist. Aber wie genau schützt Aspirin vor Krebserkrankungen, und sollte man Aspirin oder andere entzündungshemmende Medikamente zum Zweck der Krebsprävention dauerhaft einnehmen? Der Gedanke scheint verlockend, insbesondere da Aspirin auch vor anderen häufigen Todesursachen und Erkrankungen, wie Herzinfarkten, Schlaganfällen, Lungenembolien und Thrombosen, schützt. Andere bekannte Medikamente wie Ibuprofen, Paracetamol und Sulindac zeigen einen ähnlichen Effekt auf das Krebsrisiko wie Aspirin. All diese Medikamente gehören zur Gruppe der sogenannten „Nicht-steroidalen Entzündungshemmer“, kurz NSAIDs. Dabei bedeutet „nicht-steroidal“, dass es sich nicht um Medikamente aus der Gruppe der „Steroide“ handelt, die aus dem chemischen Gerüst von Kortison oder Sexualhormonen gebildet werden. NSAIDs blockieren die Cyclooxygenase-2 (Cox-2), ein wichtiges Entzündungsenzym, das den Botenstoff Prostaglandin-E2 produziert. Wird Prostaglandin-E2 im Gewebe freigesetzt, erhöht dies die Durchblutung und Schmerzempfindlichkeit in der betroffenen Region. Man sagt, das Gewebe ist entzündet. Gleichzeitig ist Prostaglandin-E2 auch für die Erhöhung der Körpertemperatur bei Fieber verantwortlich und reguliert weitere Funktionen in anderen Organsystemen, wie Lunge, Magen oder Nieren. Die im Patienten beobachteten Effekte von Prostaglandin-E2 auf die Krebsentstehung und das Tumorwachstum konnten im Labor an Zelllinien und Mäusen experimentell bestätigt werden. Eine Inaktivierung der Cyclooxygenase-2 verhinderte die Krebsentstehung bei Mäusen mit einer genetischen Veranlagung für Darm- oder Brustkrebs. Bei menschlichen Patienten wurde beobachtet, dass Krebszellen mit fortschreitendem Tumorwachstum und zunehmend bösartiger Orientierung immer mehr Cox-2 produzieren, was darauf hinweist, dass dieses Enzym den Krebszellen einen wichtigen Überlebens- oder Wachstumsvorteil verschafft. In anderen Experimenten war sogar die Aufnahme von Prostataglandin-E2 mit der Nahrung ausreichend, um die Entwicklung von Darmpolypen in genetisch vorbelasteten Mäusen stark zu beschleunigen (Chan et al. 2007; Weinberg 2014). Epidemiologische und experimentelle Daten deuten also unmissverständlich auf eine vor Krebs schützende Wirkung von Aspirin und anderen entzündungshemmenden Medikamenten hin. Die Frage ist jedoch: Überwiegen diese Vorteile die Nebenwirkungen einer langfristigen Einnahme?

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Auf den Punkt Eine regelmäßige Einnahme von Aspirin senkt das Risiko, an Krebsarten wie Darmkrebs, Lungenkrebs, Brustkrebs und Pankreaskrebs zu erkranken. Die stärksten Effekte wurden dabei für Darmkrebs (30 %) und Pankreaskrebs (bis zu 50 %) beobachtet. Die Wirkung von Aspirin und ähnlichen Medikamenten auf das Krebsrisiko beruht auf einer Blockade des Enzyms Cyclooxygenase-2, das für die Herstellung von Prostaglandin-E2 zuständig ist und eine wichtige Rolle bei Entzündungsreaktionen spielt.

Leider hat die langfristige Einnahme von NSAIDs wie Aspirin auch einige Nebenwirkungen. Prostaglandin-E2 wird nämlich nicht nur im Rahmen von Entzündungsreaktionen von Immunzellen gebildet. Prostaglandin-E2 hat beispielsweise im Magen, wo es von den Zellen der Magenschleimhaut produziert wird, eine wichtige schützende Funktion. Prostaglandin-E2 reduziert die Magensäureproduktion und regt gleichzeitig die Produktion von basischem Schleim an, der die Magenschleimhaut vor der Magensäure abschirmt. Die langfristige Einnahme von Cox-2-Hemmern, wie Aspirin, blockiert die Herstellung von Prostaglandin-E2 und kann auf diese Weise zu einer dauerhaft erhöhten Magensäureproduktion führen, die im Zusammenspiel mit der, ebenfalls durch Aspirin geschwächten Schleimbarriere fatale Auswirkungen haben kann. Die Entstehung von Schäden in der Magenschleimhaut und Magenblutungen sind daher gefürchtete Nebenwirkungen einer langjährigen AspirinEinnahme. Besonders in Kombination mit den gerinnungshemmenden Eigenschaften einiger NSAIDs wie Aspirin, stellen Magenblutungen eine tödliche Gefahr dar. Jährlich sterben alleine in den USA 16.550 Menschen an Magenblutungen, die durch die Einnahme von Aspirin und verwandten Medikamenten verursacht wurden (Weinberg 2014). Neben tödlichen Magenblutungen verursachen NSAIDs noch viele weitere Gesundheitsschäden. Von den vielen Millionen Menschen, die diese Medikamente täglich einnehmen – der Großteil davon zur Behandlung von Arthritis und Herzerkrankungen – entwickeln 15–40 % Geschwüre im Magen oder Zwölffingerdarm. Zusätzlich verursacht die regelmäßige Einnahme von NSAIDs bei 70 % der Patienten dauerhafte Entzündungen im Dünndarm und bei 30 % davon sogar Geschwüre im Dünndarm (Bjarnason et al. 2018). Aufgrund der Palette von inakzeptablen Nebenwirkungen kann eine provisorische Einnahme von NSAIDs – wie Aspirin – zur Krebsprävention bis-

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lang nicht allgemein empfohlen werden. Insbesondere vor einer dauerhaften Einnahme von anderen NSAIDs, wie Ibuprofen oder Paracetamol, muss ausdrücklich gewarnt werden, denn sie können Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen oder schwere Leberschäden verursachen. Die Frage, welche Patienten dennoch von einem provisorischen Einsatz von Aspirin profitieren könnten, beantworten wir im Kapitel „Krebsprävention – Allheilmittel und Anti-Aging-Therapie“. Auf den Punkt Trotz der beeindruckenden Schutzwirkung von Aspirin vor Krebserkrankungen kann die Einnahme von Aspirin nur zum Zweck der Krebsprävention bisher nicht allgemein empfohlen werden. Grund dafür sind häufige gefährliche Nebenwirkungen, wie beispielsweise Blutungen und Geschwüre. Damit entzündungshemmende Medikamente zur Krebsprävention eingesetzt werden können, müssten die gefährlichen Nebenwirkungen minimiert oder durch ergänzende Medikamente eliminiert werden. Bei einigen Hochrisikopatienten für Brust- oder Darmkrebs könnten die Vorteile von Aspirin dennoch die Gefahren überwiegen und ein präventiver Einsatz in Betracht gezogen werden.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass NSAIDs in unserem Körper noch auf weitere Enzyme wirken als nur auf die Cyclooxygenase-2. In diesem Fall wäre es möglich, dass uns bald entzündungshemmende Medikamente zur Verfügung stehen, mit denen Krebserkrankungen verhindert oder behandelt werden können, ohne die bekannten Nebenwirkungen anderer NSAIDs zu verursachen. Kortison, das nicht zu den NSAIDs, sondern zur Gruppe der steroidalen Entzündungshemmer zählt, hat trotz seiner starken entzündungshemmenden Wirkung nur wenig Potenzial, um dauerhaft zur Vorbeugung von Krebserkrankungen eingesetzt zu werden. Die Auswirkungen des Kortisons auf das gesamte Immunsystem sind einfach zu stark. Wie im 4. Kapitel (über HIV, Organspenden und Krebs) bereits berichtet wurde, birgt eine dauerhafte Unterdrückung des gesamten Immunsystems auch selbst immer eine latente Krebsgefahr. Kortison blockiert auch die Arbeit von Immunzelltypen, die an der körpereigenen Erkennung und Eliminierung von Krebszellen beteiligt sind (Abb. 1).

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Abb. 1 Wirkungsweise von nicht-steroidalen Entzündungshemmern (NSAIDs). Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

Antioxidantien Mit zunehmendem Alter sammeln sich vermehrt Schäden in unseren Geweben und Körperzellen an. Diese Schäden können die Arbeitsweise von Proteinen oder Genen verändern und dadurch zur Krebsentstehung beitragen. Erstaunlicherweise ist bis heute nicht eindeutig geklärt, wodurch diese Schäden hauptsächlich verursacht werden. Die aggressiven Sauerstoffverbindungen, die vom Stoffwechsel und auch im Zuge von Entzündungsreaktionen gebildet werden, leisten hierbei aber mit Sicherheit einen wichtigen Beitrag. Es scheint naheliegend und einfach, diese Schäden ganz einfach dadurch verhindern oder reduzieren zu wollen, indem man regelmäßig Substanzen zu sich nimmt, die aggressive Sauerstoffverbindungen unschädlich machen. Solche Substanzen werden Antioxidantien genannt und kommen in großen Mengen in Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten, Vollkorn und hochwertigen pflanzlichen Ölen vor. Als Polyphenole, Selen, Resveratrol, Vitamin C oder Ascorbinsäure sind sie frei käuflich in Form von Tabletten als Nahrungsergänzungsmitteln erhältlich. Aber wie so oft im Leben, und gerade in der Molekularbiologie, ist es auch hier leider kompliziert. Während aggressive Sauerstoffverbindungen in hohen Konzentrationen nachweislich Zellen schädigen, scheinen kleine Mengen dieser Sauerstoffverbindungen sogar nützlich zu sein. Erstaunlicherweise können niedrigdosierte Substanzen, die die Herstellung von aggressiven Sauerstoffverbindungen im Körper fördern, das Leben von Würmern sogar verlängern (Heidler et al. 2010). Andere Studien zeigten, dass durch die Verabreichung von Antioxidantien zwar Schäden durch aggressive Sauerstoffverbindungen reduziert werden konnten – dies aber nicht gleichzeitig die Lebensspanne verlängert.

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Bei Menschen zeigen Antioxidantien ebenfalls nicht ausschließlich positive Wirkungen. Während körperlicher Arbeit behindern Antioxidantien beispielsweise die Aufnahme von Zucker aus dem Blut in Zellen, wodurch sie den Blutzucker erhöhen und die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen (Kenyon 2010). Anders als erwartet, zeigte die Gabe von Antioxidantien in Studien bisher also keine eindeutige lebensverlängernde Wirkung – obwohl diese Substanzen mit schädlichen Stoffwechselprodukten reagieren und sie dadurch abfangen können. Auch epidemiologische Studien offenbarten, dass die langjährige Einnahme von Antioxidantien weder das Krebsrisiko senkt, noch die Lebenszeit verlängert. Einige Studien wiesen sogar ein erhöhtes Krebsrisiko und eine verkürzte Lebensspanne bei langjähriger Einnahme von Antioxidantien nach. Insgesamt weisen die Forschungsergebnisse darauf hin, dass Antioxidantien in Form von Nahrungsergänzungsmitteln eher negative als positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben. In Tablettenform verkürzen sie anscheinend die Lebenserwartung, fördern die Entstehung von Krebserkrankungen und lassen die positiven gesundheitlichen Effekte von Sport verschwinden (Bjelakovic et al. 2012; Green et al. 2022). Bei all den Diskussionen über Stoffwechselprodukte und freie Radikale darf jedoch ein wichtiger Aspekt nicht vergessen werden. Sowohl Stoffwechselprodukte als auch die aggressiven Sauerstoffverbindungen der Immunzellen haben unter normalen Bedingungen durchaus eine Daseinsberechtigung. Die aggressiven Sauerstoffverbindungen werden von Entzündungszellen produziert und ins Gewebe ausgeschüttet, um Krankheitserreger zu bekämpfen. Zusätzlich spielen sie eine Rolle bei der Beseitigung von alten und kaputten Zellen. Nur wenn es dem Immunsystem nicht gelingt, Krankheitserreger zu beseitigen (z. B. Hepatitis-Viren) oder es sich um einen kontinuierlichen Gewebeschaden handelt (z. B. Gallensteine oder entzündliche Darmerkrankungen), kann das Immunsystem durch seine Arbeit langfristig Gewebeschäden verursachen und die Entstehung von Krebserkrankungen begünstigen. Diese Situation stellt jedoch bereits eine krankhafte Veränderung dar, nicht den Normalzustand. Während aggressive Sauerstoffverbindungen in hohen Konzentrationen also schädlich sind, scheinen niedrige Konzentrationen wichtige Aufgaben in einem gesunden Körper zu übernehmen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind alle molekularen Prozesse, die in unserem Körper ablaufen, nichts anderes als chemische Reaktionen. Und fast alle dieser chemischen Reaktionen sind auf „reaktionsfreudige“ Radikale als Zwischenprodukte angewiesen, um ordnungsgemäß ablaufen zu können. Antioxidantien wirken in unserem Körper als Radikalfänger und fangen nicht nur die aggressiven Sauerstoffverbindun-

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gen der Immunzellen ab, sondern auch Radikale, die an normalen Stoffwechselprozessen beteiligt sind. Antioxidantien werden häufig unbedacht und in viel zu großen Mengen als Nahrungsergänzungsmittel eingenommen. Ihre langfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit sind bisher nicht eindeutig geklärt. Aktuelle Forschungsergebnisse rufen jedoch zur Vorsicht auf, denn eine hochdosierte Einnahme von Antioxidantien, die weit über die Menge hinausgeht, die wir mit einer gesunden und frischen Ernährung aufnehmen, wurde wiederholt mit einer verkürzten Lebenszeit und einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert. Auf den Punkt Reaktive Sauerstoffverbindungen und andere Radikale, die in unserem Körper natürlicherweise vorkommen, können in hohen Konzentrationen Schäden an unseren Zellen und Geweben verursachen. Auf diese Weise können sie – in hohen Konzentrationen und über lange Zeit – die Entstehung von Krebserkrankungen und anderen Krankheiten, wie beispielsweise Fibrosen, fördern. In geringeren, physiologischen Konzentrationen sind diese chemisch-reaktiven Verbindungen jedoch an lebenswichtigen Körpervorgängen und einer gesunden Immunabwehr beteiligt. Die Versorgung mit Antioxidantien über eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist deshalb der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln oder Vitamin-Präparaten vorzuziehen, da es dabei leicht zu Überdosierungen kommen kann.

Ein bekanntes natürliches Antioxidationsmittel ist beispielsweise Vitamin C, das allgemein als sehr gesund gilt. Gelegentlich wird es sogar als Wundermittel gegen Krebs angepriesen. Was ist dran an den vielen Mythen um dieses berühmte Vitamin? Überraschenderweise existieren für viele der positiven Effekte, die Vitamin C zugeschrieben werden, in Wirklichkeit kaum wissenschaftliche Belege. Beispielsweise spielen Vitamin D und Vitamin A für das Immunsystem eine weitaus wichtigere Rolle als Vitamin C (Mora et al. 2008). Vitamin C spielt stattdessen eine wichtige Rolle für ein gesundes Bindegewebe, da es für die Herstellung von Kollagen benötigt wird. Ein ernsthafter Vitamin-C-Mangel macht sich daher auch nicht durch eine erhöhte Infektanfälligkeit bemerkbar, sondern als eine heute nahezu ausgestorbene Krankheit, die „Skorbut“ genannt wird und früher als eine Plage unter Seefahrern galt. Damals war es schwierig, frisches Obst und Gemüse über längere Zeit auf hoher See zu lagern, und Seeleute begannen nach einigen Monaten unter seltsamen Symptomen zu leiden, wie Entzündungen des Zahnhalteapparates und Zahnausfällen,

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Muskelschwund, Knochenschmerzen, Gelenkentzündungen und Hautkrankheiten. Die Palette der Symptome spiegelt dabei das biologische Vorkommen von Kollagen als Bausubstanz für Gelenke, Haut, Knochen und Bindegewebe wider. Zu jener Zeit jedoch waren Vitamine – und somit auch Vitamin C und dessen Wirkung – noch vollkommen unbekannt. Sehr interessant war die Beobachtung, dass Tiere wie Ratten, Mäuse oder Ziegen, die sich ebenfalls an Bord befanden, nicht an Skorbut erkrankten. Heute weiß man, dass fast alle Tierarten Vitamin C über einen einfachen Syntheseweg aus natürlichen Zuckerverbindungen selbst herstellen können. Damit handelt es sich in Bezug auf die meisten Tierarten genau genommen gar nicht um ein Vitamin, da Vitamine per Definition nicht selbst hergestellt werden können und mit der Nahrung zugeführt werden müssen. Höhere Primaten, Menschen, Meerschweinchen und früchtefressende Fledermäuse haben im Laufe der Evolution die Fähigkeit verloren, Vitamin C selbst zu synthetisieren, und sind daher auf eine Vitamin-C-haltige Ernährung angewiesen (Mizushima et al. 1984). Unsere heutige Ernährung und insbesondere die ganzjährige Verfügbarkeit von Vitamin-C-reichem Obst und Gemüse machen eine Unterversorgung mit Vitamin C nahezu unmöglich. Eine ergänzende Einnahme von Vitamin C oder Ascorbinsäure konnte in wissenschaftlichen Untersuchungen nur bei sehr wenigen Erkrankungen, wie beispielsweise Gefäßerkrankungen, positive Effekte erzielen und wirkt sich nicht verlängernd auf die Lebensspanne aus. Häufig wird zitiert, dass ein hoher Vitamin-C-Konsum das Krebsrisiko senkt. In diversen wissenschaftlichen Studien konnte eine solche Schutzwirkung von Vitamin-C-Präparaten nicht beobachtet werden. Die Annahme, dass Vitamin C das Krebsrisiko senkt, beruht vermutlich auf der Tatsache, dass eine gesunde Ernährungsweise – die meist mit einer vitaminreichen Ernährung gleichzusetzen ist – ebenfalls das Krebsrisiko reduziert. Inzwischen ist bekannt, dass die Schutzwirkung einer gesunden Ernährung in erster Linie auf einer Reduktion von Zucker, Fetten, Salz und anderen Zusatzstoffen basiert, die in hohen Mengen unserer Gesundheit schaden. Zudem enthält eine frische und vitaminreiche Ernährung auch mehr Ballaststoffe und unzählige sekundäre Pflanzenstoffe, die unsere Darmgesundheit beeinflussen und die Zusammensetzung unserer Darmflora formen können. Ein häufig vernachlässigter Aspekt ist, dass es gar nicht möglich ist, die Vitamin-C-Konzentration im Körper wesentlich über die Werte hinaus zu erhöhen, die allein durch eine ausgewogene Ernährung erzielt werden. Vitamin C ist, anders als Vitamin A, D oder E, nicht fettlöslich, sondern wasserlöslich. Deshalb kann überschüssiges Vitamin C in unserem Körper nicht

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gespeichert werden, sondern wird mit dem Urin ausgeschieden. Eine ergänzende Einnahme von Vitamin C oder Ascorbinsäure ist vermutlich zwar nicht schädlich, aber bei einer einigermaßen gesunden Ernährung auch nicht notwendig. Krebspatienten sollten vorsichtig mit Vitamin-C-Präparaten sein, denn einige Studien haben gezeigt, dass Vitamin C in hohen Dosen die Wirkung von Krebsmedikamenten beeinträchtigen kann (Cancer Research UK 2019). Beispielsweise beeinträchtigt Vitamin C die Vernichtung von menschlichen Brustkrebszellen durch das Medikament Tamoxifen (Subramani et al. 2014). Neben Menschen und höheren Primaten haben auch einige Fisch- und Vogelarten die Eigenschaft verloren, Vitamin C aus Zuckerverbindungen selbst herzustellen. Veränderungen, die mehrmals unabhängig voneinander im Tierreich stattfinden, deuten in der Regel auf einen evolutionären Vorteil dieser Veränderungen hin. Möglicherweise ist die Fähigkeit, Vitamin C herzustellen, einfach deshalb verloren gegangen ist, weil Vitamin C im Nahrungsangebot dieser Tierarten mehr als reichlich vorhanden war. Gelegentliche DNAMutationen in den Genen für die Herstellung von Vitamin C wirkten sich demnach nicht nachteilig auf das Überleben der betroffenen Individuen aus. Damit sich ein vollständiger Gendefekt bei einer ganzen Art durchsetzt, muss für die Träger des Gendefekts allerdings ein evolutionärer Vorteil bestanden haben. Ob die geringfügige Energieersparnis für die Herstellung von Vitamin C tatsächlich bedeutend genug war, um als treibende evolutionäre Kraft zu wirken, ist schwer zu sagen. Denn auch Vitamin C aus der Nahrung muss zuerst im Darm aufgenommen werden und anschließend an seinen Zielorten über bestimmte Transportmoleküle in Zellen aufgenommen werden – ein Vorgang, der meist Energie benötigt. Interessanterweise beobachtet man eine sehr unterschiedliche Verteilung dieser Vitamin-C-Transporter in den Geweben und Organen von Säugetieren. Diese unterschiedliche Verteilung weist darauf hin, dass verschiedene Gewebe – und möglicherweise auch ganze Tierarten – unterschiedliche „Komfortzonen“ haben könnten, wenn es um die Verfügbarkeit von Vitamin C geht. Übrigens existieren auch Darmbakterien, die Vitamin C aus unserer Nahrung herstellen können, wie beispielsweise bestimmte E. coliBakterien. Somit sind wir – oder zumindest einige von uns – vielleicht sogar doch in der Lage, in Anwesenheit bestimmter Nahrungsbestandteile Vitamin C selbst herzustellen.

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Vitamine und Mineralstoffe Unzähligen weiteren Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln wird eine Schutzwirkung vor Krebs oder anderen Erkrankungen nachgesagt. Vitamine sind wichtig, sogar lebenswichtig – das sagt uns schon ihr Name. Aber welche Dosis für die Bedürfnisse eines Menschen optimal ist, hängt stark von individuellen körperlichen Unterschieden, sowie von den Lebens- und Ernährungsgewohnheiten ab. Aussagekräftige und hochwertige wissenschaftliche Studien kamen wiederholt zu dem Ergebnis, dass die Einnahme von Vitaminen und Mineralien in Form von Nahrungsergänzungsmitteln das Leben nicht verlängert, sondern eher verkürzt (Dolara et al. 2012). Dabei lieferten insbesondere Kombi-Präparate, die unzählige Vitamine und Mineralstoffe in einer nicht auf den individuellen Konsumenten abgestimmten Menge enthalten, schlechte Ergebnisse. Bisher konnte in Studien nur für die Einnahme von Vitamin D und Magnesium ein reduziertes Krebsrisiko beobachtet werden. Wer regelmäßig Vitamin D einnimmt, senkt sein Risiko, an Brust- oder Darmkrebs zu erkranken, und profitiert von den positiven Wirkungen von Vitamin D auf die Knochendichte und die Immunfunktion. Eine ergänzende Einnahme von Magnesium scheint insbesondere vor Darmkrebs zu schützen. Auf welche Weise Vitamin D und Magnesium vor Krebs schützen, ist noch nicht endgültig geklärt. Da Vitamin D für das Immunsystem wichtig ist und unser Körper Vitamin D mithilfe von UV-Strahlung auch selbst in der Haut synthetisieren kann, könnte es möglicherweise für das ausgeprägte „Nord-Süd-Gefälle“ vieler entzündlicher Erkrankungen verantwortlich sein. Es könnte auch sein, dass Vitamin D unserem Immunsystem hilft, unbekannte krebserregende Infektionen in Schach zu halten. Da sowohl entzündliche Erkrankungen als auch Infektionen als Krebsförderer wirken können, beruht die schützende Wirkung von Vitamin D vermutlich auf seiner wichtigen Bedeutung für unser Immunsystem. Magnesium-Mangel wird häufig erst bemerkt, wenn Symptome wie Wadenkrämpfe und Muskelzuckungen auftreten. Neben diesen eindeutigen Folgen eines starken Magnesium-Mangels geht auch ein leichter bis mittlerer Magnesium-Mangel mit negativen Folgen für die Gesundheit einher. Bei Tieren wurde beobachtet, dass bereits ein symptomloser Magnesium-Mangel Immunzellen zur Produktion von Entzündungsstoffen und aggressiven Sauer-

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stoffverbindungen anregt (Nielsen 2010, 2018). Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass eine magnesiumreiche Ernährung mit niedrigen Werten des Entzündungsmarkers CRP im Blut korreliert und eine magnesiumarme Ernährung die CRP-Werte erhöht (> 3,0 mg/L). Dauerhaft erhöhte CRP-Werte (über 3,0 mg/L) gelten allgemein als Marker für chronische Entzündungen im Körper und sind mit einer Vielzahl von Erkrankungen assoziiert. Die Einnahme von Magnesium war in klinischen Studien ausreichend, um erhöhte CRP-Werte im Blutserum und Blutplasma von Patienten mit chronischen Entzündungskrankheiten zu senken (Nielsen 2018). Diese Beobachtungen lassen vermuten, dass eine ausreichende Magnesiumversorgung möglicherweise den Symptomen oder sogar der Entstehung von einigen chronischen Entzündungskrankheiten entgegenwirken könnte. Da Magnesium auch den Blutdruck senkt und selbst bei hoher Dosierung nur geringe Nebenwirkungen verursacht, wäre der Einsatz von Magnesium als unterstützende Therapie bei einigen Erkrankungen vorstellbar (Dibaba et al. 2017). Überschüssiges Magnesium wird über den Darm ausgeschieden und hat eine „abführende“ Wirkung. Dabei könnte genau diese als Nebenwirkung abgetane Eigenschaft von Magnesium ein möglicher Grund für seine Schutzwirkung vor Darmkrebs sein. Magnesium könnte, ebenso wie Ballaststoffe, die „Passagezeit“ des Stuhls im Darm verkürzen und dadurch vergleichbare positive Effekte auf die Darmgesundheit haben. Eine verkürzte Passagezeit reduziert die Zeit, in der potenziell karzinogene Nahrungsbestandteile im Stuhl mit dem Darmepithel in Berührung kommen können. Auf den Punkt Nur für die wenigsten Nahrungsergänzungsmittel und Vitaminpräparate konnte bisher eine Schutzwirkung in Bezug auf Krebserkrankungen beobachtet werden. Insbesondere Kombi-Präparate bewirken keine Verlängerung der Lebensspanne, sondern zeigen in Untersuchungen entweder keine oder negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Eine ausgewogene und gesunde Ernährungsweise ist der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln vorzuziehen, um ungewünschte Nebeneffekte oder Überdosierungen zu vermeiden. Auch Vitamine, für die eine positive Auswirkung auf das Krebsrisiko beobachtet wurde, wie beispielsweise Vitamin D, können bei Überdosierung schwere Nebenwirkungen haben. Vitamin D ist fettlöslich und kann sich bei einer zu hohen Dosierung im Fettgewebe anlagern.

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Risch HA et al (2017) Aspirin use and reduced risk of pancreatic cancer. Cancer Epidemiol Prev Biomarkers 26:68–74 Streicher SA, Yu H, Lingeng L, Kidd MS, Risch HA (2014) Case-control study of Aspirin use and risk of pancreatic cancer. Cancer Epidemiol Prev Biomarkers 23:1254–1263 Subramani T et al (2014) Vitamin C suppresses cell death in MCF-7 human breast cancer cells induced by Tamoxifen. J Cell Mol Med 18:305–313 Weinberg RA (2014) The biology of cancer, 2. Aufl. Garland Science (Taylor & Francis Group), New York. ISBN 978-0-8153-4220-5.

Krebsprävention – Allheilmittel und Anti-Aging-Therapie

Zusammenfassung Die Gesundheitssysteme dieser Welt werden dem prognostizierten Anstieg an Krebserkrankungen nur schwer standhalten können. Wann und ob es jemals gelingen wird, bösartige und bereits fortgeschrittene Tumorerkrankungen zu besiegen, ist ebenfalls fragwürdig. Krebsprävention ist die beste und einfachste Möglichkeit, einen Großteil aller Krebserkrankungen zu verhindern, noch bevor sie unheilbares Leid verursachen. Es ist nie zu spät für Prävention, aber die größten Effekte werden wir nur erreichen, wenn wir auch die Jugend für dieses Thema sensibilisieren. Eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten und insbesondere Schulsport sind einfache, günstige und bestätigte Maßnahmen, um das Risiko für viele Krebserkrankungen, HerzKreislauf-Erkrankungen und neurodegenerative Erkrankungen zu reduzieren. Indem sie den Alterungsprozess verlangsamen und vor Begleiterkrankungen des Alters schützen, wirken die Maßnahmen der Krebsprävention lebensverlängernd und verbessern die Lebensqualität. Krebsprävention hat einen gewaltigen Image-Schaden. Sie klingt anstrengend und langweilig. Wer sich mit ihr beschäftigt, ist eindeutig zu ängstlich oder – wie unsere Kinder sagen würden – „uncool“. Als wäre das nicht schon genug, wirkt sie auch noch unglaubwürdig, denn Wissenschaftler scheinen ständig ihre Meinung zu ändern. Am Ende war doch alles für die Katz und man stirbt vielleicht an einem Herzinfarkt. Oder einer neuen Seuche. Man kann ja nicht alles verhindern. Dann käme man ja überhaupt nicht mehr zum Leben und wo bliebe da überhaupt noch der Spaß?

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_13

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Diese Denkweise ist offensichtlich das Resultat einer gewaltigen Wissenslücke, die jedoch verzeihbar ist, wenn man bedenkt, wie Wissenschaft in unserer Gesellschaft kommuniziert wird. Wir verdanken der Wissenschaft unseren gesamten heutigen Wohlstand. Alle Technologien und Medikamente, über die wir heute verfügen, sind auf dem langen und steinigen Weg der wissenschaftlichen Methode entstanden. Unsere Gesellschaft lebt von den Ergebnissen der Wissenschaft, aber nur sehr wenige Menschen wissen, wie sie wirklich funktioniert. Wenn es uns aber nicht einmal gelingt, die Bedeutung von Wissenschaft zu kommunizieren – wie können dann Ratschläge, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, Gehör finden? Aus Angst, mit zu vielen Informationen Verwirrung zu stiften, liefern viele Aufklärungskampagnen nur sehr wenige Hintergrundinformationen und fokussieren sich auf ein paar altbekannte Verhaltensvorschriften. Auf diese Weise scheint es, als hätte sich seit Jahrzehnten überhaupt nichts getan. Als ginge in der Wissenschaft nichts voran. Wir wissen schließlich bereits von unseren Müttern, dass wir gesünder essen sollten oder Bewegung an der frischen Luft gut tut. Es ist ein großer Fehler der Politik, die Arbeit der Wissenschaft derart intransparent zu kommunizieren. Aber auch Wissenschaftsorganisationen wie Universitäten müssen es als einen Teil ihrer erfolgreichen Arbeit betrachten, ihre Ergebnisse – insbesondere auch die negativen – offen zu kommunizieren. Was wurde untersucht, wieso wurde es untersucht und warum hat es so lange nicht funktioniert? Was muss in Zukunft noch getan werden und wie lassen sich die Ergebnisse ehrlich in den Gesamtkontext einordnen? Wenn wir unserer Gesellschaft fortwährend nur fertige Glaubenssätze präsentieren, machen wir Wissenschaft zu etwas, was sie nicht ist: dogmatisch, ideologisch und eine Meinungsangelegenheit. Dabei ist es gerade ihre Fehlbarkeit, die Wissenschaft so liebenswürdig macht. Ihre Ehrlichkeit, mit der sie immer wieder ihre Irrtümer erkennt und akzeptiert, ist ihre größte Stärke. Wissenschaftliche Revolutionen bahnen sich oftmals über eine lange Zeit hinweg mit widersprüchlichen Daten an. Der wissenschaftliche Fortschritt verlangsamt sich und tappt im Dunkeln, bis eine oder mehrere einfallsreiche Personen eine geniale Idee haben. Erweist sie sich als richtig, kommt es zum Paradigmenwechsel, wobei sich ein neues wissenschaftliches Konzept sprungartig durchsetzt (Kuhn 1970). Neue Konzepte leiden oftmals unter der Kinderkrankheit, dass ein Teil der Gesellschaft und der wissenschaftlichen Gemeinschaft sich nicht von dem alten Modell lösen kann. Das diesem Buch vorangestellte Zitat von Max Planck spricht auf dieses Phänomen an. Als einer der Gründungsväter der Quantenmechanik, weiß er, wovon er spricht. Die Quantenmechanik ist mit nichts zu vergleichen, das wir uns vorstellen können – dennoch spiegeln ihre Formeln

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unwiderlegbar die Realität wider. Wenn Paradigmenwechsel in der Physik nur langsam vonstattengehen, behindern sie unseren technologischen Fortschritt. In der Krebsmedizin hingegen kostet ein zögerlicher Wandel jährlich Millionen Menschenleben. Viele Länder dieser Welt werden dem enormen Anstieg an Krebserkrankungen in den nächsten 20 Jahren nicht gewachsen sein. Wenn wir die Anzahl an Krebserkrankungen in 20 Jahren wirklich senken wollen, müssen wir jetzt damit beginnen, eine sinnvolle Präventionsstrategie zu entwickeln. Die Zeit drängt. Um die schlechten Prognosen der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) nicht Realität werden zu lassen, müssen Wissenschaftler, Politiker und Medien heute mit einer transparenteren Berichterstattung und sinnvollen Maßnahmen beginnen. Das Wissen muss auch bei jenen ankommen, die sich nicht dafür interessieren und sich nicht aktiv mit ihrer Gesundheit beschäftigen. Und vor allem muss es Menschen erreichen, noch lange bevor sie an Krebs erkranken. Am besten also Kinder und Jugendliche. Ein schwieriges Unterfangen mit einem Thema, das weitaus spannender ist als sein langweiliger Ruf. Die Maßnahmen der Krebsprävention verlangsamen den gesamten Alterungsprozess und wirken vorbeugend gegen viele weitere unliebsame Begleiterkrankungen des Alters. Damit dienen die einfachen empfohlenen Präventionsmaßnahmen als eine Art Allheilmittel gegen körperliche und psychische Erkrankungen und geistigen Verfall. Sie erhöhen unsere Chancen auf ein längeres Leben, das wir gesund und mit jugendlicher Kraft verbringen können.

Prävention ist einfacher, günstiger und besser als man denkt Krebsprävention muss nicht kompliziert oder teuer sein. In Wirklichkeit ist sie einfach und günstig und geht mit vielen weiteren positiven Nebeneffekten einher. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es beispielsweise nicht nachvollziehbar, weshalb Schulsport so selten stattfindet. Er gehört täglich auf den Stundenplan, am besten gleich in die erste Stunde. Eine Stunde Sport am Tag lautet auch die offizielle Empfehlung der WHO für Kinder im Alter von 5 bis 17 Jahren (WHO 2022a). Diese Stunde bereits vor Unterrichtsbeginn zu absolvieren schafft nicht nur soziale Gerechtigkeit für alle Kinder, die sich keine kostenoder zeitintensiven Sportarten am Nachmittag leisten können, sondern hat darüber hinaus viele weitere positive Effekte auf den schulischen Erfolg. Unzählige Studien und Langzeitexperimente an Schulen haben gezeigt, dass eine Stunde Sport vor Unterrichtsbeginn ausreicht, um die Konzentration zu ver-

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bessern, die schulischen Leistungen zu heben, das Körpergewicht zu regulieren, Diabetes und Rückenschmerzen vorzubeugen, Stress und Leistungsdruck zu reduzieren und sogar die Performance von Schülern in IQ-Tests zu steigern (Ratey 2008; Bryan et al. 2019; Harveson et al. 2019; Barbosa et al. 2020; Baloh 2022; Carson und Webster 2019; Doyle und Zakrajsek 2018; Loprinzi und Frith 2019; Merriman et al. 2020). Dabei sind diese Beobachtungen nicht einmal überraschend, denn auch bei Erwachsenen wirkt regelmäßiges Ausdauer- und Krafttraining dem kognitiven Verfall entgegen (Cotmann et al. 2007; Pedersen 2019). Die Liste der gesundheitlichen Vorteile von Sport ist so lang, dass es verrückt wäre, darauf zu verzichten. Sport wirkt vorbeugend gegen 35 chronische Erkrankungen, indem er unzählige Körperfunktionen optimiert (McGee und Hargreaves 2020). Er verbessert den Blutdruck, die Blutzucker- und Blutfettwerte, die Knochendichte, die Elastizität von Sehnen und Gelenken, die Stressbelastbarkeit, die Libido, die Durchblutung, die körperliche Leistungsfähigkeit, das Selbstwertgefühl, die Körperhaltung, das Gedächtnis, die Immunfunktion und den Schlaf. Er schützt vor Depressionen, vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, vor Krebs und vorzeitigem Altern. Von 325 Mio. US-Amerikanern bewegen sich 86 % jeden Tag zu wenig (Booth et al. 2017). Die Langzeitfolgen für die Gesundheit und auch die Gesundheitssysteme sind vorhersehbar. Doch leider hat in der Vergangenheit auch die Politik selten präventiv agiert. Die Forderungen nach mehr Schulsport klingen nebensächlich, im Vergleich zu den Problemen der heutigen Zeit – sie sind es jedoch keineswegs. Gäbe es Sport in Tablettenform zu kaufen, wäre er das, was man in der Pharmazie als einen „Blockbuster“ bezeichnet. Und obwohl er nichts kostet, scheint er einen hohen Preis zu haben. Disziplin fordert anfangs möglicherweise Überwindung, aber man kann sie lernen. Dabei hilft eine ordentliche Portion Motivation, und die findet man mehr als reichlich in der Datenfülle über die positiven Effekte von Sport. Wer regelmäßig Sport treibt, muss sich nicht mehr zum Sport überwinden, denn der Körper passt sich automatisch an das gesteigerte Leistungsniveau an. Vielmehr kostet es Menschen, die regelmäßig Sport treiben, Überwindung, auf ihr gewohntes Maß an Bewegung zu verzichten, wenn es die Gesundheit zeitweise verbietet. Ihnen fehlt die ausgleichende Wirkung des „Runner’s High“, das durch einen Ausstoß an körpereigenen Glückshormonen, den Endorphinen, verursacht wird. Unser Körper will bewegt werden, das verlangt unser uraltes genetisches Erbe. Er ist eine im gesamten Tierreich einzigartige Hochleistungsmaschine, die in unserer modernen Welt verkümmert (Noakes und Spedding 2012). Wenn man Tieren wie Pferden, Wölfen oder Geparden keinen Auslauf gewährt, werden sie krank. Dasselbe gilt dafür, sie mit Schokolade

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oder anderen zucker- oder salzreichen Nahrungsmitteln zu füttern. Obwohl wir Menschen, zumindest was die Nahrung angeht, ein größeres Spektrum vertragen als die meisten Tierarten, ist es erstaunlich, was wir unserem eigenen Körper zumuten, obwohl er den gleichen biologischen Regeln unterliegt. Ein morgendliches Sportritual, das bereits in der Schule oder im Kindergarten eingeführt wird, könnte körperliche Bewegung zu einer täglichen Routine machen, die Kinder in ihr späteres Erwachsenenleben als Ausgleich zu einer anstrengenden, hektischen und schnelllebigen Welt mitnehmen können. Wir bräuchten dafür nicht einmal zusätzliche Lehrkräfte oder teure Fitness-Geräte. In den amerikanischen Schulversuchen durften die Kinder frei wählen, ob sie die morgendliche Sportzeit mit einer Mannschaftssportart oder mit ein paar Laufrunden verbringen wollten. Niemand stoppte die Zeit. Niemand verteilte Noten (Ratey 2008). Es ging um die Freude an der Bewegung. Nicht um den Vergleich von Leistungen. Es war die Art von Sport, die auch Erwachsene wählen, die gerne und regelmäßig Sport machen – nicht Bockspringen nach Noten. Auf den Punkt Eine Stunde Sport vor Schulbeginn könnte eine besonders effektive, einfache und günstige Maßnahme sein, um bereits Kinder an einen gesunden Lebensstil zu gewöhnen. Schulsport entlastet Familien, die ihren Kindern aus finanziellen oder zeitlichen Gründen am Nachmittag keine anderen Sportarten ermöglichen können. Dies schafft soziale Gerechtigkeit und wirkt sich positiv auf den schulischen Erfolg und die Stressbelastbarkeit aus. Zusätzlich wirkt Sport vorbeugend gegen unzählige chronische Erkrankungen.

Inzwischen ist bekannt, dass die empfohlenen Maßnahmen zur Krebsprävention nicht nur vor Krebs schützen, sondern – wie das Beispiel Sport zeigt – auch den gesamten Alterungsprozess und das Auftreten einer Vielzahl von Alterserkrankungen hinauszögern können. Eine kalorienreduzierte Diät hat ähnlich umfangreiche Auswirkungen wie regelmäßiger Sport (Abb. 1) und kostet nichts, außer etwas Disziplin. Krebsprävention bedeutet keineswegs, dass wir ein Leben lang hungern müssen oder unseren Kindern grundsätzlich Eis oder Kekse verbieten sollten, sondern dass wir die Qualität und die Menge unserer Ernährung ein wenig im Auge behalten. Zucker ist nicht giftig, wie man es gelegentlich hört, aber Übergewicht, Diabetes und erhöhte Insulinwerte sind ein Krebsrisiko, und Zucker führt schnell zu Übergewicht, Diabetes und Stoffwechselstörungen. Wir können bestehende Krebserkrankungen durch den Verzicht auf Zucker nicht aushungern, aber Übergewicht und unerkannte Typ-II-Diabetes-Erkrankungen können das Krebswachstum be-

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Abb. 1 Effekte einer kalorienreduzierten Ernährungsweise: Eine Begrenzung der täglichen Kalorienmenge schützt vor neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, senkt das Krebsrisiko, schützt vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Übergewicht, Nierenerkrankungen und entzündlichen Erkrankungen wie Autoimmunerkrankungen. Zahlreiche Veränderungen in der Aktivität von Genen führen zu weitreichenden Veränderungen in der Proteinherstellung, des Stoffwechsels und der Gesamtheit unserer Mikroben (Mikrobiom), wodurch die Ansammlung von Schäden an Molekülen und Zellen reduziert wird. Die Abbildung wurde übersetzt und verwendet mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature Customer Service Centre GmbH: Green et al. (2022)

schleunigen, indem sie systemische Entzündungen verursachen und die Konzentrationen von Wachstumsfaktoren wie Insulin und IGF-1 im Blut erhöhen (Britt et al. 2020; Gallagher und Leroith 2020).

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Durch eine gesunde Ernährung und regelmäßigen Sport leisten wir bereits einen wichtigen Beitrag, um die Krebsentstehung zu verlangsamen. Wenn wir Krebsförderern ihre Grundlage entziehen, sind die Mutationen aus unserer Umwelt nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es wird sich niemals ganz verhindern lassen, dass einzelne Mutationen sich im Laufe eines langen Menschenlebens durchsetzen und die Schutzmechanismen unseres Körpers durchbrechen. Aber wir können zumindest versuchen, die Geschwindigkeit, mit der diese Prozesse ablaufen, so gut wie möglich zu verlangsamen. Abgesehen von Lebensgewohnheiten, die nachweislich mit einer hohen Mutationsrate verbunden sind, wie beispielsweise Rauchen oder intensives Sonnenbaden, entstehen die meisten Mutationen ganz ohne unser Zutun, durch die Aktivität unseres Stoffwechsels. Wir können diese Mutationen nicht verhindern – wie schnell sie sich weiterentwickeln, allerdings schon. Ein Team aus renommierten Krebsforschern, darunter Bert Vogelstein, dem wir die wichtige Erkenntnis verdanken, dass Darmkrebs über viele Jahrzehnte aus gutartigen Polypen hervorgeht und mit Früherkennungsverfahren wie der Endoskopie verhindert werden kann, schätzte die Menge der weltweit jährlich vermeidbaren Krebsfälle sogar auf 70 % (Song et al. 2018). Diese Schätzung basiert nur auf den heute verfügbaren Diagnose- und Präventionsmöglichkeiten. Keine einzige neue Therapie wäre notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn unsere Gesellschaft mehr in die Erforschung von Präventionsmaßnahmen investiert, können wir in Zukunft noch weitere bisher unbekannte Ursachen von Krebserkrankungen entdecken und diese effektiver verhindern.

Es ist nie zu früh oder zu spät für Prävention Es existieren verschiedene Ebenen der Prävention, die man als primäre, sekundäre und tertiäre Prävention bezeichnet. Primäre Prävention beschäftigt sich mit der Frage, welche Substanzen oder Gewohnheiten die Krebsentstehung begünstigen und wie man diese vermeiden kann. Bisher untersuchten Studien allerdings hauptsächlich Faktoren, die das mittlere Lebensalter betreffen (Song et al. 2018). Da die Krebsentstehung jedoch ein Prozess ist, der in den meisten Fällen viele Jahre bis Jahrzehnte in Anspruch nimmt, wäre es interessant, in Zukunft vermehrt auch epidemiologische Studien durchzuführen, die nach Risikofaktoren im Kindes- und Jugendalter suchen. Diese zu identifizieren und abzuwenden wäre besonders wirkungsvoll, da es das Problem sozusagen bei der Wurzel packt. Ohne einen Nährboden aus genetisch vorgeschädigten Zellen und Geweben können keine neuen Krebserkrankungen sprießen.

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Ebenso wie eine personalisierte Medizin jeden Patienten und jede Krebserkrankung individuell und maßgeschneidert behandelt, müssen wir eine Form der „personalisierten Prävention“ schaffen, die für jeden Patienten ein Risikoprofil erstellt und eine präzise Präventionsstrategie entwickelt. Diese sollte neben Vorerkrankungen auch die Einnahme von hormonalen Verhütungsmitteln, Blutzuckerwerte, Blutfettwerte, Hormonlevel, Sportgewohnheiten, Ernährung und den Alkoholkonsum mit einschließen, um den persönlichen Präventionsplan so gut es geht zu optimieren. Das resultierende Risikomarkerprofil bestimmt die Art und Häufigkeit der Vorsorgeuntersuchungen, die im Idealfall von der Krankenkasse übernommen werden. Nach diesem Prinzip baut das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg ein nationales Krebs-Präventionszentrum (NCPC) auf, das als Prototyp für viele weitere deutschlandweite Präventionszentren dienen wird. Indem jeder Mensch nur die Untersuchungen in Anspruch nimmt, die altersunabhängig für sein Risikoprofil sinnvoll sind, werden Kosten und Kapazitäten im Gesundheitssystem gespart. Viele junge Menschen mit Krebserkrankungen könnten gerettet werden, wenn diese rechtzeitig untersucht und behandelt werden würden. Leider fallen insbesondere junge Menschen durch das Raster der Früherkennungsmaßnahmen, obwohl die Heilungschancen auch bei ihnen bei rechtzeitiger Diagnose oftmals sehr gut stehen. Wer ein Risikokandidat für Darmkrebs ist, sollte zur Darmspiegelung geschickt werden, auch wenn er jünger als 45 ist. Wer regelmäßig zu Krebsvorsorgeuntersuchungen geschickt wird, realisiert auch früher, welchem Risiko er sich durch seinen Lebensstil aussetzt. Er wird nicht erst durch eine Krebsdiagnose darüber informiert, wie man Krebserkrankungen rechtzeitig hätte vorbeugen können. Eine Krebserkrankung ist in vielen Fällen noch lange kein Todesurteil – vorausgesetzt, sie wurde rechtzeitig erkannt. Krebserkrankungen entwickeln sich auch dann noch weiter, nachdem sie klinisch bereits in die Kategorie Krebs fallen und als solcher diagnostiziert wurden. Sie häufen immer weitere Mutationen an, mit einer immer höher werdenden Geschwindigkeit. Die Tumore von zwei Krebspatienten können sich in vielen hundert genetischen Veränderungen unterscheiden, auch wenn sie das gleiche Organsystem betreffen. In der Forschung interessiert man sich vor allem für solche Mutationen, die das Überleben und Wachstum von Krebszellen besonders stark fördern und sich daher mit der Zeit bei einem Großteil der Patienten nachweisen lassen. Diese Mutationen, denen wir bereits als „Driver-Mutationen“ begegnet sind, folgen oftmals einem charakteristischen zeitlichen Muster und bieten eine gute Angriffsfläche für frühzeitige medikamentöse Therapien. Viele Menschen haben Krebserkrankungen, die noch sehr gut behandelbar sind, nur leider wissen sie nichts davon. Um diese Menschen zu erreichen und

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ihnen rechtzeitig zu helfen, müssten wir auch Menschen routinemäßig untersuchen, die sich gesund fühlen und deutlich jünger sind als die Altersgruppe, auf die Früherkennungsmaßnahmen im Moment abzielen. Damit dies gelingt, müssen Diagnose- und Früherkennungsmethoden leicht zugänglich, günstig und so wenig invasiv wie möglich sein. Durch die Entdeckung neuer Biomarker, die auf Krebserkrankungen im Körper hinweisen und frühzeitig im Blut erkennbar sind, könnten zukünftig noch deutlich mehr Krebserkrankungen rechtzeitig gestoppt werden. Die frühzeitige Diagnose und Behandlung von bereits entstandenen Krebserkrankungen wird als sekundäre Prävention bezeichnet. Eine Krebserkrankung, die rechtzeitig entdeckt und eingedämmt wurde, verlangt im Anschluss individuelle Maßnahmen, um Rückfälle so früh und gut wie möglich zu erkennen. Diese Maßnahmen werden als tertiäre Prävention bezeichnet, zu der neben regelmäßigen Nachkontrollen auch alle Maßnahmen zählen, die das Leben mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung erleichtern oder verlängern. Es sind vermutlich die Relationen, die in Aufklärungskampagnen über die Krebsentstehung nicht stimmen. Wenn vor Karzinogenen gewarnt wird, klingt das für viele Menschen nach echter Gefahr und solider Wissenschaft. Wenn ihnen jemand zu mehr Sport oder einer gesünderen Ernährung rät, klingt dies bestenfalls nach einem gut gemeinten Rat, im schlimmsten Fall nach einer Kränkung. Dabei verhalten sich die Dinge in der Realität vollkommen anders. Die wissenschaftlichen Daten zu der Frage, in welchem Ausmaß Nahrungsmittelbestandteile, Schwermetalle und andere chemische Substanzen aus unserer Umwelt die Krebsentstehung fördern, sind weitaus weniger klar und eindeutig, als die unzähligen epidemiologischen und experimentellen Daten über die positiven Effekte von Sport und einer kalorienreduzierten Ernährung. Natürlich sollte man sich nicht absichtlich Karzinogenen aussetzen oder diese unterschätzen – sie sind immerhin der Samen, aus dem Krebserkrankungen hervorgehen. Aber Übergewicht, Bewegungsmangel oder entzündliche Erkrankungen zu unterschätzen, die als mächtige Krebsförderer unserer Zeit gelten, ist mindestens genauso gefährlich. Auf den Punkt Prävention wirkt zu jedem Zeitpunkt des Lebens, sogar, wenn schon eine Krebserkrankung eingetreten ist. Die primäre Prävention versucht durch frühe Maßnahmen die Krebsentstehung zu verhindern. Insbesondere bei Risikopatienten könnten zukünftig Medikamente oder Immuntherapien helfen, dieses Ziel zu erreichen. Sekundäre Prävention bezeichnet alle Bemühungen, die das Ziel haben Krebsvorläuferstufen und noch gutartige Krebserkrankungen rechtzeitig

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zu erkennen und zu behandeln. Krebspatienten kann mit Maßnahmen der tertiären Prävention geholfen werden, die darauf abzielen Rückfälle zu verhindern und so früh wie möglich zu erkennen.

Impfungen gegen Krebs Manche Präventionsmaßnahmen sind unangenehm und ihr Nutzen ist für viele Menschen nicht direkt ersichtlich. Zu dieser Kategorie gehören insbesondere Impfungen, denn sie verlangen – anders als die meisten Präventionsstrategien – keine Verhaltensänderung von uns, sondern, dass wir uns aktiv einer Behandlung unterziehen. Sie zählen somit im Prinzip zur Immuntherapie, da sie eine körpereigene und langfristige Immunantwort gegen krebsverursachende Infektionen oder bestimmte Tumorantigene induzieren. Im Idealfall, das bedeutet bei ausreichender Impfbeteiligung, können sie die Erreger von Krebserkrankungen sogar in der Bevölkerung eliminieren. Die meisten Menschen lassen sich spätestens vor großen Reisen gegen Hepatitis-A- und -B-Viren impfen, denn in vielen beliebten Reiseländern Afrikas oder Südostasiens sind Hepatitis-Viren noch immer weit verbreitet und ist Leberkrebs die häufigste Krebserkrankung. Dabei reicht auch eine Reise in benachbarte Mittelmeerländer aus, um sich über unreines Trinkwasser, Meeresfrüchte oder Krustentiere zu infizieren. Wir verfügen seit mehr als 16 Jahren über eine Impfung gegen humane Papillomaviren, den Erreger von Gebärmutterhalskrebs. Trotzdem sind auch heute noch nicht einmal die Hälfte der Mädchen dagegen geimpft. Bei den Jungen sind es sogar nur 5 %. Viele Menschen in Deutschland wissen nicht, dass es diese Impfung überhaupt gibt oder lehnen es kategorisch ab, ihre Kinder dagegen impfen zu lassen. Junge Frauen sind bestürzt, wenn sie erfahren, dass ihre Erkrankung durch die empfohlene Impfung hätte verhindert werden können. Dabei gehört gerade die HPV-Impfung zu einer der Präventionsmaßnahmen, die ihre Wirksamkeit bereits bewiesen hat. In Ländern mit einem niedrigen Entwicklungsstatus (Human Development Index, kurz HDI) gehört Gebärmutterhalskrebs zu den häufigsten Krebserkrankungen (Abb. 2). In vielen Ländern Afrikas und Südamerikas tötet Gebärmutterhalskrebs auch heute noch mehr Menschen als jede andere Krebserkrankung – das gilt sogar, wenn man die Todesfälle beider Geschlechter gemeinsam auswertet. In Bolivien und vielen Ländern Afrikas, darunter Mauretanien, Senegal, Guinea, Liberia, Kongo, Uganda, Kenia, Tansania,

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Abb. 2 Anteil der Neuerkrankungen nach Organsystem für das Jahr 2020. Berücksichtigt wurden beide Geschlechter und alle Altersstufen in Ländern mit einem niedrigen Human Development Index (niedriger HDI, oben) und Ländern mit einem sehr hohen Human Development Index (sehr hoher HDI, unten). Abgebildet und übersetzt mit freundlicher Genehmigung von Ferlay et al. (2020a)

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Mozambique, Angola, Madagaskar, Ruanda und Gambia, sterben mehr Frauen an Gebärmutterhalskrebs als Männer und Frauen an Leberkrebs und Darmkrebs zusammen. Ein Blick auf die weltweite Verteilung dieser vermeidbaren Krebserkrankung zeigt schonungslos, wie sich Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung auf das Krebsrisiko auswirken (Ferlay et al. 2020b). Während es in hochentwickelten und wohlhabenden Ländern hauptsächlich an Aufklärung und Motivation fehlt, mangelt es in ärmeren Ländern dieser Welt schlichtweg an der medizinischen Infrastruktur und am Geld. Gebärmutterhalskrebs gehört zu den häufigsten Krebserkrankungen, aber bei uns ist er selten geworden – trotz einer nur mittelmäßigen Impfbereitschaft (Abb. 2). Ebenso wie Gebärmutterhalskrebs ist auch Leberkrebs in Entwicklungsländern noch weitaus häufiger. Der Grund ist auch hier eine mangelnde Verfügbarkeit von Impfungen, in diesem Fall gegen Hepatitis. Impfungen und regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen mögen unangenehm oder nervig sein, aber sie sind günstiger und weniger schmerzhaft als gesundheitliche Probleme, Unfruchtbarkeit oder Krebsbehandlungen, die notwendig werden, wenn wir die verfügbaren Maßnahmen ignorieren. Die personalisierte Medizin wird in Zukunft versuchen, das Immunsystem von Krebspatienten mittels neuartiger Impfungen (darunter mRNA-Impfungen) gegen die mutierten und krankhaft gebildeten Proteine im Tumorgewebe „abzurichten“ (Saxena et al. 2021). Dadurch greifen sie Krebserkrankungen genau dort an, wo klassische Therapien scheitern: an den zahlreichen und von Patient zu Patient verschiedenen Mutationen. Für einige Krebsarten funktionieren diese Impfungen bereits oder befinden sich in klinischen Studien. In nicht allzu ferner Zukunft werden wir mit ihrer Hilfe zumindest einige Krebserkrankungen erstmals nicht nur besiegen, sondern auch Rückfälle im Keim ersticken können. Geheilte Krebspatienten werden nicht mehr in ewiger Angst leben oder schwere Nebenwirkungen einer Chemotherapie mit fragwürdigem Outcome ertragen müssen. Der Onkologe Prof. Dr. med. Uğur Şahin erhielt bereits 2019 den Deutschen Krebspreis für die langjährige Entwicklung und klinische Erprobung mRNA-basierter Impfstoffe, die speziell auf das Mutationsprofil eines jeden einzelnen Krebspatienten zugeschnitten sind (Spielberg 2019). Die Covid-19-mRNA-Impfung war nur ein Nebenprodukt einer bereits entwickelten Technologie, deren Zielsetzung es war und immer noch ist, Krebspatienten endlich eine personalisierte Therapie zukommen zu lassen.

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Krebs verhindern mit Chemoprävention Manche Patientengruppen haben ein besonders hohes Risiko, an einer oder mehreren Krebsarten zu erkranken. Dies betrifft insbesondere „Cancer-Survivors“ – also Menschen, die den Krebs schon mindestens einmal besiegt haben – und solche, die aus gesundheitlichen oder sonstigen Gründen die empfohlenen Maßnahmen zur Krebsprävention nicht umsetzen können (Abb. 3). Mit dem wertvollen Wissen, welche Verhaltensweisen vor Krebserkrankungen schützen, können wir vieles über ihre molekularen Entstehungsmechanismen lernen und Medikamente entwickeln, die künftig vorbeugend gegen diese Er-

Abb. 3 Wissenschaftlich bestätigte Maßnahmen, um das Krebsrisiko zu senken. Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com anhand der Empfehlungen des Europäischen Kodex zur Krebsbekämpfung der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Quelle: WHO (2022b)

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krankungen wirken. Wir haben diese Form der medikamentösen Prävention bereits zu Beginn dieses Buches als Chemoprävention vorgestellt. Um Medikamente zu entwickeln, die sich für die Prävention von Krebserkrankungen eignen, werden in der Krebsforschung verschiedene Ansätze verfolgt. Zum einen versuchen Wissenschaftler herauszufinden, welche natürlichen Signalmoleküle, Stoffwechselprodukte, Hormone oder epigenetischen Veränderungen im Menschen beispielsweise für die positiven Effekte von Sport oder einer kalorienreduzierten Ernährung verantwortlich sind. In Zellkulturexperimenten konnte die Teilungsfähigkeit und das Wachstum von menschlichen Lungenkrebszellen unterdrückt werden, wenn man dem Kulturmedium das Blutserum von Mäusen hinzufügte, die zuvor sportlich aktiv waren (Britt et al. 2020). Dieser Effekt ließ sich nicht beobachten, wenn das Serum von inaktiven Mäusen stammte oder kein Serum zugefügt wurde. Das Blutserum der aktiven Mäuse enthält also scheinbar Substanzen, die das Wachstum von Krebszellen hemmen und zur Therapie oder Prävention von Krebserkrankungen eingesetzt werden könnten. Wenn wir die Faktoren identifizieren, die für die positiven Effekte von Sport oder einer kalorienreduzierten Ernährung verantwortlich sind, können wir sie medikamentös nachahmen und Risikopatienten zukommen lassen.

Selektive Östrogen-Rezeptor-Modulatoren (SERMs) Ein anderer Ansatz untersucht die Krebshäufigkeiten bei Patienten, die zugelassene und erprobte Medikamente dauerhaft gegen eine andere Grunderkrankung einnehmen müssen. Übergewicht erhöht die Aktivität des Enzyms, das für die Produktion von Östrogen verantwortlich ist (Aromatase). Gleichzeitig korreliert ein hoher BMI mit mehr Fettgewebe im gesamten Körper und in der Brust (Umar et al. 2012). Auf diese Weise kann Übergewicht durch Entzündungsreaktionen Brustepithelzellen schädigen und gleichzeitig durch eine vermehrte Östrogenproduktion deren Wachstum anregen. Die beiden Medikamente Tamoxifen und Raloxifen sind zur Behandlung von postmenopausaler Osteoporose zugelassen und zeigten eine schützende Wirkung vor Brustkrebs in Risikopatientinnen. Tamoxifen und Raloxifen gehören zur Gruppe der selektiven EstrogenRezeptor-Modulatoren (SERMs), was bedeutet, dass sie die Funktion des Östrogen-Rezeptors je nach Gewebe unterschiedlich verändern. Im Knochengewebe wirkt Raloxifen aktivierend auf den Östrogen-Rezeptor, wodurch sich die Knochendichte unter dem Einfluss von natürlichem Östrogen wieder erhöht. Im Brust- und Endometriumgewebe hingegen blockiert Raloxifen den

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Östrogen-Rezeptor, wodurch die Anzahl der Östrogen-Rezeptor-positiven Brustkrebserkrankungen in Studien um bis zu 48 % gesenkt werden konnte (Umar et al. 2012). Noch bessere Erfolge zeigte der Einsatz von sogenannten Aromatasehemmern, die genau jene wichtige enzymatische Reaktion blockieren, die für die erhöhte Östrogen-Produktion im Fettgewebe verantwortlich ist. Ein solches Medikament ist beispielsweise Exemestan, das in klinischen Phase-III-Studien die Inzidenz von bösartigen Brusttumoren um 65 % und die von ÖstrogenRezeptor-positivem Brustkrebs um 73 % senken konnte (Goss et al. 2011; Umar et al. 2012).

Metformin gegen Diabetes und Krebs Übergewicht geht in vielen Fällen mit einem Krankheitsbild einher, das als metabolisches Syndrom bezeichnet wird und durch Symptome wie Bluthochdruck, Zuckerkrankheit (Diabetes) und Fettstoffwechselstörungen gekennzeichnet ist. Patienten, die am metabolischen Syndrom leiden, haben erhöhte Insulin- und IGF-1-Level im Blut, die in epidemiologischen Studien mit einem signifikant erhöhten allgemeinen Krebsrisiko und einem schwereren Verlauf von Krebserkrankungen assoziiert wurden. Übergewicht und Diabetes tragen gemeinsam zur Entstehung von 13 unterschiedlichen Krebserkrankungen bei, wobei der stärkste Effekt für Leberkrebs beobachtet wird: Bei Männern verursachen sie 23,3 % aller Leberkrebserkrankungen, bei Frauen sind es sogar 27,3 % (Pearson-Stuttard et al. 2018). Diese Daten sind alarmierend, denn laut WHO ist beinahe die Hälfte aller Erwachsenen weltweit übergewichtig oder stark übergewichtig (Gallagher und LeRoith 2020). Neben Übergewicht gilt eine zucker- und kalorienreiche Ernährung als Hauptrisikofaktor für die Entstehung von Typ-II-Diabetes – ein Krankheitsbild, das durch dauerhaft erhöhte Insulinwerte und eine gestörte Blutzuckerregulation gekennzeichnet ist. Typ-II-Diabetes wird häufig mit Metformin behandelt, einem Medikament, das auf noch nicht gänzlich geklärte Weise die Insulinresistenz rückgängig macht und die Insulinwerte im Blut senkt. Der Körper kann den Zucker aus dem Blut wieder effektiver in Körperzellen aufnehmen. Interessanterweise senkt eine langjährige Metformin-Einnahme aber auch das allgemeine Krebsrisiko der Diabetespatienten um 31 % (Decensi et al. 2010). Diese Beobachtung passt zu den experimentellen Daten, die zeigen, dass Insulin das Wachstum und die Teilungsrate von Krebszellen stimuliert. Insulin dockt an den Insulin-Rezeptor auf der Zelloberfläche von Krebszel-

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len an, der die Signalwirkung des Insulins auf das Zellinnere überträgt. Auf diese Weise kann Insulin, ebenso wie andere Wachstumsfaktoren oder Sexualhormone, das Wachstum von vorgeschädigten Körperzellen und ausgereiften Krebszellen anregen. Insulin könnte sogar die Entstehung von Krebserkrankungen direkt fördern, da eine erhöhte Zellteilungsrate bei geschwächten Schutzmechanismen auch selbst ein Krebsrisiko darstellt. Bei jeder Zellteilung entstehen im Schnitt 3–5 neue Mutationen (Song et al. 2018). In Anwesenheit eines starken Wachstumssignals wie Insulin, das die Vermehrung von Krebszellen anregt, ist es wenig überraschend, dass experimentelle und epidemiologische Daten eindeutig auf ein erhöhtes Krebsrisiko und schwerere Verläufe bei Patienten mit metabolischem Syndrom hinweisen (Gallagher und LeRoith 2020). Präklinische Studien zeigten für Metformin eine Schutzwirkung vor Brustkrebs, Pankreaskrebs, Lungenkrebs, Leberkrebs und Darmkrebs (Umar et al. 2012). Momentan laufen weitere Studien, die klären sollen, ob Metformin bedenkenlos zur Prävention von Krebserkrankungen in gesunden Patienten eingesetzt werden kann.

Aspirin In dem Kapitel über Entzündungshemmer, Vitamine und Antioxidantien sind wir bereits auf die Schutzwirkung von Aspirin vor Darmkrebs und anderen intestinalen Tumorerkrankungen eingegangen. Ähnlich wie Aspirin schützen auch andere entzündungshemmende Medikamente, beispielsweise Cox-2-Inhibitoren, vor Krebs. Jedoch eignen sich diese aufgrund ihrer teilweise schweren Nebenwirkungen für das Herz-Kreislauf-System nicht für einen präventiven Einsatz in gesunden Patienten. Die meisten dieser Medikamente haben mehr oder weniger schwerwiegende Nebenwirkungen, gerade bei dauerhafter Einnahme. Dies ist ein großes Hindernis für präventive Medikamente, die in einer gesunden Bevölkerung zum Einsatz kommen sollen. Um nicht mehr Schaden als Nutzen anzurichten, muss eine detaillierte NutzenRisiko-Abwägung für jeden Patienten erstellt werden. Für Aspirin müsste beispielsweise individuell entschieden werden, ob die gerinnungshemmende und krebshemmende Wirkung die Gefahr von Blutungen und Magengeschwüren überwiegt. Da Aspirin sowohl das Darmkrebsrisiko als auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen reduziert, könnte es nach Abwägung aller Nebenwirkungen bald in Risikogruppen zugelassen werden (d. h. bei Übergewicht, familiärer Vorbelastung, Bewegungsmangel, Rauchen, hohem Alkoholkonsum, ballaststoffarmer und fleischreicher Ernäh-

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rung mit vielen hochverarbeiteten Fleischwaren und Fertigprodukten) (Brenner und Chen 2018). Blutplättchen, auch Thrombozyten genannt, wurden lange von Forschern vernachlässigt. Da sie keinen Zellkern besitzen, erwartete man auch keine Wunder von ihnen. Inzwischen ist bekannt, dass sie jedoch weit mehr können, als nur Blutungen stoppen. Mithilfe von Botenstoffen locken sie Immunzellen an, um vorhandene Schäden zu beseitigen. Bei dauerhafter Aktivierung tragen Blutplättchen zu einer chronischen Entzündungsreaktion bei, die krebsfördernd im betroffenen Gewebe wirkt. Da Aspirin die Aktivierung von Blutplättchen hemmt, liegt es nahe, dass seine krebshemmende Wirkung zum Teil auch auf diesem Effekt beruht. Mehrere Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass Aspirin auch das Leberkrebsrisiko deutlich reduziert (Anstee et al. 2019). Aspirin kann prophylaktisch vor einer Verfettung und Entzündung der Leber schützen und sogar bereits etablierte Entzündungen und entstandene Vernarbungen (Fibrosen) in einer Fettleber rückgängig machen. In Kombination mit einem anderen Plättchenhemmer namens Clopidrogel schützte Aspirin Mäuse, die eine besonders hochkalorische Nahrung erhielten, vor der Entstehung einer entzündlichen Fettlebererkrankung und Leberkrebs (Malehmir et al. 2019). Diese Schutzwirkung wurde auch im Menschen beobachtet. Aufgrund der Nebenwirkungen (erhöhtes Blutungsrisiko und Magengeschwüre) warnt die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) jedoch vor einer prophylaktischen Einnahme von Aspirin in Eigenregie. Eine langfristige Einnahme sollte nur nach Absprache und unter Aufsicht eines Arztes erfolgen. Zudem gilt es zu bedenken, dass Herzpatienten lediglich 100 mg Aspirin am Tag einnehmen, wohingegen gewöhnliche Aspirin-Tabletten oder -Pulver gegen Kopfschmerzen und Grippesymptome 500 mg enthalten. Ein wichtiges Forschungsziel wird sein, ein Medikament zu entwickeln, das gezielt die Entzündungsreaktion der Plättchen hemmt, dafür aber die Gerinnungseigenschaften der Plättchen unberührt lässt.

Was wir von Hundertjährigen lernen können Eine kalorienreduzierte Ernährung könnte die Entstehung von Krebserkrankungen nicht nur durch verhindertes Übergewicht und geringe Insulin- und Entzündungswerte hemmen, sondern möglicherweise auch durch weitere Veränderungen im Hormonhaushalt oder der Darmflora. Nahrungsmittelknappheit geht auch in menschlichen Bevölkerungsgruppen mit einem reduzierten Brust- und Darmkrebsrisiko einher. Es ist allerdings schwierig, Studienteilneh-

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mer für langjährige streng-kontrollierte Diäten zu gewinnen. Wissenschaftlern bleibt oftmals nur die Auswertung epidemiologischer Daten von Menschen, die Kriege oder Hungersnöte in ihrer Jugend durchgestanden haben oder traditionell sehr wenig essen. Ein bekanntes Beispiel für eine Bevölkerungsgruppe mit einer sehr hochwertigen und leichten Ernährung sind die Menschen im japanischen Okinawa, einer Inselgruppe im Süden Japans, die auch als die Inseln der Hundertjährigen bekannt ist. Die Menschen in Okinawa trinken hauptsächlich Tee und essen viel Fisch, Meeresfrüchte, Algen, Reis und frisches Gemüse. Sie leiden kaum an heutigen „Zivilisationskrankheiten“, sind auch im hohen Alter noch mobil und die Frauen haben ein deutlich niedrigeres Brustkrebsrisiko als Frauen in anderen Teilen Japans (Umar et al. 2012). Eine Orientierung an japanischen Ernährungsgewohnheiten und insbesondere den Ernährungsgewohnheiten auf Okinawa könnte die mediterrane Ernährungsweise als Musterbeispiel für eine gesunde Ernährung in Zukunft ablösen und auch in der jungen Bevölkerung hohen Anklang finden. Hier könnte die Politik subventionierend eingreifen, um der Jugend gesundes Essen zugänglicher zu machen als einen schnellen Burger. Ein anderer Ansatz besteht darin, die Ernährung von besonders langlebigen Bevölkerungsgruppen auf mögliche krebshemmende Substanzen zu untersuchen und diese zu Präventionszwecken zu nutzen.

Keto-Diät Eine ketogene Ernährung ist arm an Zucker und Kohlenhydraten (gewöhnlich weniger als 50 g pro Tag), dafür aber reich an Fetten und Proteinen (Gallagher und Leroith 2020). Diese Ernährungsweise bewirkt, dass der Körper anstelle von Zucker oder Kohlenhydraten aus der Nahrung sogenannte Ketonkörper produzieren und verstoffwechseln muss. Diese werden bei Nahrungsmittelknappheit oder in Abwesenheit von Kohlenhydratquellen in der Leber aus Fettsäuren hergestellt und in den Kreislauf entlassen. Obwohl man auch ohne eine ketogene Ernährung ein gesundes Körpergewicht erreichen oder halten kann, haben unzählige wissenschaftliche Studien in den letzten Jahren gezeigt, dass eine ketogene Ernährung das Abnehmen erleichtert und insbesondere zur Behandlung von Typ-2-Diabetes eingesetzt werden kann (Yuan et al. 2020; Kumar et al. 2021). Da eine ketogene Ernährung kaum Kohlenhydrate enthält, sinken die Blutzuckerwerte und in Folge auch die Insulinwerte. Da Insulin das Wachstum von gesunden und kranken Zellen stimuliert, könnte eine ketogene Ernährung, ähnlich wie eine

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strikt kalorienreduzierte Ernährungsweise, zu einem reduzierten allgemeinen Krebsrisiko und einem verlangsamten Verlauf von Krebserkrankungen beitragen. Keto-Diäten unterdrücken den Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktor IGF-1, der ebenfalls mit einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert wurde, sowie dessen nachgeschalteten intrazellulären Signalweg, den PI3K-AKT-mTORSignalweg. Interessanterweise findet man bei extrem langlebigen Menschen gehäuft genetische Veränderungen, die genau diesen Signalweg beeinträchtigen, der neben Insulin und IGF-1 auch durch andere Wachstumsfaktoren im Blut stimuliert wird (Kenyon 2010; Gallagher und Leroith 2020; Green et al. 2022). Das Medikament Rapamycin, das an das Protein mTOR bindet, zeigte in Tierexperimenten wiederholt eine lebensverlängernde Wirkung (Melzer et al. 2020). In klinischen Studien an Menschen war eine niedrige Dosis von Rapamycin ausreichend, um die Immunfunktion zu verbessern und ältere Menschen vor Infektionen zu schützen (Mannick et al. 2018). Finale Daten, ob Rapamycin auch im Menschen eine lebensverlängernde Wirkung zeigt, stehen jedoch aufgrund der Dauer solcher Studien noch aus. Experimentelle Daten weisen darauf hin, dass die im Tiermodell beobachtete lebensverlängernde Wirkung durch eine gesteigerte Autophagie-Rate verursacht wird (Dowling et al. 2010). Ob eine kohlenhydratarme ketogene Ernährung zur Behandlung von Typ2-Diabetes und präventiv gegen die Entstehung von Fettleber- und Leberkrebserkrankungen in Risikopatienten mit Diabetes oder Adipositas eingesetzt werden kann, untersuchen aktuell unzählige klinische Studien. Da eine ketogene Ernährung im Vergleich zu anderen Diäten länger sättigt, zeigen Patienten schnelle und langfristige Abnehmerfolge. Jedoch sollte auch bei einer ketogenen Ernährung weiterhin auf frische und ballaststoffreiche Lebensmittel geachtet werden. Eine ausgewogene Ernährung mit Nüssen, Eiern, Fisch und Gemüse ist weiterhin einer fleischreichen Ernährung aus Bratwürsten, Schweinebraten oder Speck vorzuziehen (siehe Kapitel „Ernährung und Darmkrebs“). Eine ketogene Ernährung sollte kein Freifahrschein für hochverarbeitete Fleischwaren und eine einseitige Ernährung sein. Neben den Auswirkungen auf den Zucker- und Fettstoffwechsel existieren weitere nachgewiesene positive Effekte auf die Gesundheit: Eine ketogene Ernährung senkt den Blutdruck, hilft einer Fettleber vorzubeugen, schützt vor Muskelschwund im Alter und Nierenerkrankungen. In Zukunft könnte daher die Keto-Diät in Kombination mit einer gesunden Lebensweise und ausreichend Sport für Patienten mit Typ-2-Diabetes und möglicherweise auch Krebspatienten empfohlen werden, beispielsweise bei Leberkrebs.

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Auf den Punkt Eine ketogene Ernährung zeigte wiederholt Erfolge bei der Behandlung von Übergewicht und Typ-2-Diabetes, dessen Leitsymptomatik eine Insulinresistenz in Kombination mit erhöhten Blutzuckerwerten ist. Bei einem Typ-2-Diabetes gelingt es dem Insulin nicht mehr ausreichend, die Aufnahme von Zucker aus dem Blut in Körperzellen zu veranlassen, woraufhin der überschüssige Zucker in Form von Fett in die Leber eingelagert wird und der Körper mit einer vermehrten Insulinproduktion reagiert. Insulin hat jedoch eine fatale wachstumsstimulierende Wirkung auf Krebszellen und Insulin-verwandte Signalwege (IGF-1) wurden in wissenschaftlichen Studien wiederholt mit einem erhöhten Krebsrisiko und schweren Verläufen assoziiert. Wir empfehlen, im Rahmen der Krebsprävention ein besonderes Augenmerk auf die Insulinwerte zu werfen. Besonders Patienten mit Übergewicht und Diabetes mellitus Typ 2 könnten von einer ketogenen Ernährungsweise profitieren. Ob auch normalgewichtige oder sportliche Menschen in demselben Maß von einer ketogenen Ernährung profitieren, ist noch ungeklärt.

Langlebige krebsresistente Tiere In der Krebsforschung wird hauptsächlich an Mäusen geforscht und besonders vielversprechende Ergebnisse werden anschließend im Menschen getestet. Dabei könnten wir von langlebigen und krebsresistenten Tierarten deutlich mehr darüber lernen, welche Mechanismen uns vor Krebserkrankungen schützen. Mäuse werden selten älter als zwei Jahre und sterben in 50–90 % der Fälle an Krebs. Bei uns Menschen sind es in etwa 23 %, obwohl wir wesentlich größer sind und deutlich länger leben (Seluanov et al. 2018). Neben Walen existieren noch weitere Tierarten mit einem extrem niedrigen Krebsrisiko, deren molekulare Ursachen wir bisher nicht kennen (Abb. 4). Einige Eichhörnchen- und Fledermausarten leben erstaunlich lange, obwohl ihre Stoffwechselraten mit denen anderer kleiner Säuger vergleichbar sind. Blindmulle und Nacktmulle werden seit Jahrzehnten untersucht und dabei wurden so gut wie keine Krebserkrankungen dokumentiert, obwohl diese kleinen Nager in Zoos 20–30 Jahre alt werden können. In großen und langlebigen Säugetieren sind die Schutzmechanismen vor Krebserkrankungen grundsätzlich ausgefeilter und vielschichtiger als in kurzlebigen und kleinen Säugetieren. Einige dieser Schutzmechanismen entwickeln sich nur in einer ganz bestimmten Tierart, während andere über die Artgrenze hinweg beobachtet werden. Beispielsweise schränken alle Säugetiere ab einer Körpergröße von 10–15 kg ihre Telomerase-Aktivität ein. Wenn die Telomere an den Enden der Chromosomen nach einer festgelegten An-

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Abb. 4 Die Entwicklung neuer Krebsmedikamente nach dem Vorbild natürlicher Resistenzmechanismen: Krebsresistenzen haben sich mehrfach bei Säugetieren entwickelt. Arten mit einer besonders hohen Krebsresistenz sind die größten Säugetiere (Elefanten und Wale), unterirdisch lebende Tiere wie Nacktmulle und Blindmulle sowie einige langlebige Eichhörnchen- und Fledermausarten (z. B. Grauhörnchen und die gemeine Vampirfledermaus). Die Mechanismen, die für die hohe Krebsresistenz verantwortlich sind, werden momentan intensiv erforscht. In Elefanten hat sich das p53-Gen mehrfach im Laufe der Evolution verdoppelt, Nacktmulle produzieren hochmolekulares Hyaluron (HMM-HA), Körperzellen von Nacktmullen reagieren schneller mit Interferon-vermitteltem Zelltod (IFN“ und CCD) und in Fledermäusen wird neben microRNA(miRNA)-Veränderungen auch eine reduzierte Signalübertragung im IGF-1-Signalweg beobachtet. Die Mechanismen aus dem Tierrreich können an Mäusen getestet werden und im Falle einer verbesserten Krebsresistenz zur Entwicklung neuer Medikamente dienen, die auch im Menschen die Krebsentstehung verhindern. Die Abbildung wurde übernommen und übersetzt mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature Customer Service Centre GmbH: Seluanov et al. (2018)

zahl an Zellteilungen aufgebraucht sind, gehen die Zellen in den Ruhestand – einen Zustand, den wir im ersten Kapitel als Seneszenz vorgestellt haben. Dies schützt einzelne Körperzellen davor, im Laufe des Lebens eine zu hohe Anzahl an gefährlichen Mutationen anzusammeln.

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Eine Körperzelle mit erschöpften Telomeren wird durch eine neue Zelle mit intakten Telomeren ersetzt, die aus einer Stammzellteilung hervorgegangen ist. Stammzellen befinden sich, anders als normale Körperzellen, ein Leben lang in abgeschirmten Nischen und teilen sich nur dann, wenn ausrangierte Körperzellen ersetzt werden müssen. Eine gezielte Eliminierung seneszenter Zellen mithilfe von senolytischen Medikamenten und Immuntherapien verlängert das Leben von Mäusen und schützt sie gleichzeitig vor Krebs und anderen Alterserkrankungen. Die Wirksamkeit und Sicherheit solcher Medikamente für den präventiven Einsatz im Menschen wird momentan in zahlreichen präklinischen und klinischen Studien erforscht. Die größte Herausforderung wird jedoch darin bestehen, nur seneszente Zellen therapeutisch anzugreifen und dabei gesunde Zellen vollkommen unberührt zu lassen. Der Blindmull ist ein kleines Nagetier, das unter der Erde lebt und im Laufe der Evolution seine äußeren Augenstrukturen gänzlich verloren hat. Er kann bis zu 21 Jahre alt werden und ist extrem krebsresistent. In den vielen Jahrzehnten, in denen diese Tiere weltweit in Zoos und Laboren untersucht wurden, gab es keinen einzigen dokumentierten spontanen Krebsfall (Seluanov et al. 2018). Wenn man die Haut dieser Tiere mit Karzinogenen behandelt, entwickeln sich keine Tumoren. Die genetisch geschädigten Hautzellen sterben einfach im Rahmen einer starken nekrotischen Reaktion ab. Allerdings ist es schwierig, die Zellen von Blindmullen im Labor zu erforschen, da ihre Zellen bereits nach wenigen Passagen in der Zellkultur sterben. Dieser koordiniert verlaufende Zelltod (Concerted Cell Death, CCD) wird vermutlich durch das Signalmolekül IFN“ ausgelöst, dessen Gen bei Blindmullen im Laufe der Evolution mehrfach dupliziert wurde. Erhöhte IFN“-Level könnten in Blindmullen für die frühzeitige Eliminierung von geschädigten Zellen und somit für die Krebsresistenz verantwortlich sein. Nacktmulle sind ebenfalls kleine Nagetiere, werden bis zu 30 Jahre alt und besitzen kein Fell. Auch ihre Zellen lassen sich nur sehr schwer im Labor kultivieren, denn sie wachsen langsam und stellen ihr Wachstum ein, noch bevor sie einen geschlossenen Zellrasen gebildet haben. In Krebszellen ist genau dieser regulatorische Mechanismus defekt – sie wachsen unkontrolliert und nicht an den Bedarf des Gewebes angepasst. In Kultur wachsen sie übereinander weiter, wenn alle Lücken im Rasen gefüllt sind. Eine besondere Form von Hyaluronan könnte in Nacktmullen für diesen frühzeitigen Wachstumsarrest (Kontaktinhibiton) verantwortlich sein. Die Zellen der Nacktmulle sekretieren eine besonders hochmolekulare und langkettige Form von Hyaluronan (HMM-HA), die das Zellwachstum, Entzündungen und die Metastasierung hemmt. Auch Menschen und Mäuse besitzen Hyaluronan als Bestandteil ihres Bindegewebes, nur ist das Hyaluronan von Menschen und Mäusen 6- bis

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10-mal kürzer. Falls genetisch veränderte Mäuse, die das Enzym zur Herstellung des Nacktmull-Hyaluronans produzieren, eine vergleichbare Resistenz vor Krebserkrankungen aufweisen, ließen sich daraus möglicherweise interessante Krebstherapien oder Präventionsmedikamente entwickeln. Fledermäuse haben für ihre Körpergröße eine extrem hohe Lebenserwartung von 7–42 Jahren und sie sind extrem krebsresistent. Diese Krebsresistenz wird vermutlich durch genetische Veränderungen verursacht, die im Laufe der Evolution den IGF-1-Signalweg abschwächten. Diese Beobachtungen sind ein weiteres Indiz für die starke krebsfördernde Wirkung des Wachstumsfaktors IGF-1, die man auch im Menschen beobachtet. Wale sind die größten Säugetiere und werden mit bis zu 200 Jahren mehr als doppelt so alt wie Menschen. Dennoch erkranken sie nicht häufiger an Krebs. Wir haben Peto’s Paradoxon bereits in dem Kapitel über Alter und Krebs angesprochen. Die niedrigere Krebsrate von Walen lässt sich durch einen deutlich langsameren Stoffwechsel erklären, infolge dessen weniger oxidative Stoffwechselprodukte gebildet werden, die zelluläre Schäden und Mutationen verursachen können. Aber auch im Wal wurden noch weitere genetische Veränderungen entdeckt, die den Insulin-Signalweg und die DNAReparatur betreffen. Elefanten sind ebenfalls sehr groß, jedoch wird ihre Krebsresistenz anders als bei Walen nicht hauptsächlich durch eine niedrigere Stoffwechselrate verursacht, sondern durch einen anderen spannenden Mechanismus. Elefanten besitzen 19 zusätzliche Kopien des p53-Gens, das aufgrund seiner besonderen Schutzwirkung vor Krebserkrankungen auch als „der Wächter des Genoms“ bezeichnet wird. Bei schwerwiegenden DNA-Schäden aktiviert p53 ein zellinternes Selbstmordprogramm, die Apoptose. In 50–60 % aller menschlichen Tumoren sind beide p53-Gene mutiert, wodurch das Absterben der Krebszellen verhindert wird (Baugh et al. 2018). Erhöhte p53-Level könnten auch in menschlichen Zellen eine starke Schutzwirkung zeigen und in Zukunft für Therapiezwecke genutzt werden. Genetisch veränderte Mäuse, die mehrere Kopien des p53-Gens tragen, sind ebenfalls vor Krebserkrankungen geschützt (Seluanov et al. 2018). Auf den Punkt Da Mäuse anfälliger für Krebserkrankungen sind als wir Menschen, eignen sie sich nicht sonderlich, um neuartige Mechanismen zu entdecken, die uns vor Krebserkrankungen schützen könnten. Sie besitzen keine eingeschränkte Telomerase-Funktion und benötigen weniger genetische Veränderungen, damit Krebserkrankungen entstehen. Eine Erforschung der Mechanismen, die beson-

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ders krebsresistente und langlebige Tieren nutzen, könnte zu völlig neuartigen Durchbrüchen in der Behandlung und Prävention von Krebserkrankungen führen.

iPrevent-Apps Wenn die Politik junge Menschen für das Thema Krebsprävention sensibilisieren möchte, wird es möglicherweise nicht ausreichen, Informationsbroschüren in Arztpraxen auszulegen. Für die „Generation Smartphone“ muss die „Convenience“ der Krebsprävention mit anderen Technologien mithalten können, mit anderen Worten: Wir benötigen Apps. Diese Apps können von Patienten zu Hause verwendet werden, um in aller Ruhe ein persönliches Risikoprofil mit möglichst detaillierten Informationen über Begleit- und Vorerkrankungen, verschriebene Medikamente, das Körpergewicht, ein familiäres Risiko und ihre Lebensgewohnheiten zu erstellen. Das persönliche Risikoprofil kann anschließend ausgedruckt und mit zum Arzt oder in ein Präventionszentrum genommen werden, um geeignete Maßnahmen zu besprechen. Solche Apps könnten auch zur Krebsprävention motivieren, indem sie neben der Berechnung des persönlichen Krebsrisikos angeben, um wie viel Prozent die gewählten Maßnahmen das Krebsrisiko senken. Für Brustkrebs wurde eine solche App namens iPrevent bereits entwickelt und erfolgreich getestet (Britt et al. 2020). Die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten von Apps können dabei helfen, eine exakt auf den jeweiligen Patienten zugeschnittene Präzisionsprävention endlich Realität werden zu lassen. Sie sind leicht zugänglich und im Vergleich zu anderen Datenerhebungsverfahren kostengünstig, wodurch endlich Erfolge bei der rechtzeitigen Vermeidung und Erkennung von Krebserkrankungen erzielt werden könnten. Viele Menschen leben, als hätten sie mehrere Leben. Dieses Verhalten geht paradoxerweise oft mit der Begründung einher, dass man nur einmal lebt. Wenn man sich wirklich bewusst macht, dass wir nur ein einziges Mal in diesem Universum leben: Sollten wir dann dieses eine Leben nicht besonders sorgsam behandeln, statt es leichtsinnig zu verspielen? Ein Leben in einem gesunden und leistungsfähigen Körper kann uns Genüsse verschaffen, die von mindestens so hoher Qualität und Intensität sein können wie exzessiver Alkohol- oder Zuckerkonsum.

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Die Therapie der Zukunft

Zusammenfassung Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie die Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen deutlich verbessert werden könnte. Die Therapie der Zukunft liegt in der personalisierten Medizin, die zuvor aber noch einige wissenschaftliche und logistische Probleme überwinden muss. In naher Zukunft werden wir wahrscheinlich einfache, nicht-invasive Bluttests zur Verfügung haben, die es uns erlauben, Krebserkrankungen frühzeitiger zu erkennen, die geeignetsten Medikamente auszuwählen und den Behandlungserfolg direkt mitzuverfolgen. In den Medien wird häufig die Frage aufgeworfen, wann Krebs endlich heilbar ist. Diese Frage ist so nicht zu beantworten, denn Krebs ist keine einheitliche Erkrankung, sondern umfasst eine ganze Gruppe von extrem unterschiedlichen Erkrankungen. Zudem sind einige Krebserkrankungen schon heute gut behandelbar oder sogar heilbar. In Wahrheit trifft dies sogar auf die allermeisten früh entdeckten Krebserkrankungen zu. Spät diagnostizierte Erkrankungen, die bereits gestreut oder Metastasen gebildet haben, werden wir vielleicht auch in 50 Jahren noch immer nicht heilen können. Ebenso gut könnten neuartige Immuntherapien gegen Tumorantigene schon in den nächsten Jahren den lange ersehnten Durchbruch bringen. Das Leben vieler Menschen könnte allerdings schon heute gerettet werden, wenn zielgerichtete Maßnahmen der Politik die Behandlung, Diagnose und Prävention von Krebserkrankungen verbessern würden. In dem Kapitel über Krebsprävention gingen wir bereits auf die Frage ein, welche Präventionsmaßnahmen besonders zielführend und einfach umzusetzen wären. Momentan © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_14

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laufen unzählige klinische Studien für vielversprechende neue Krebstherapien. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle all diese Therapien im Detail zu besprechen. Patienten, die auf der Suche nach einer geeigneten klinischen Studie für ihre Erkrankung sind, werden mithilfe der Suchmaschine auf der Website ClinicalTrials.gov der U.S. National Library of Medicine fündig, die weltweit alle aktuell laufenden klinischen Studien und ihre Zulassungskriterien berücksichtigt (ClinicalTrials.gov 2019). Wer Hilfe bei der Behandlungswahl benötigt oder Fragen zum Thema Krebs hat, findet eine kompetente und empathische Beratung beim Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ 2022). Wir möchten uns an dieser Stelle stattdessen mit der wichtigen Frage beschäftigen, wie man bereits heute oder in unmittelbarer Zukunft die Überlebenschancen vieler Krebspatienten verbessern und gleichzeitig Nebenwirkungen und Leid reduzieren könnte. Von Autopsien ist bekannt, dass nahezu jeder Mensch zum Zeitpunkt seines Todes einen oder sogar mehrere, zu Lebzeiten unentdeckte Tumore aufweist. Wie lange diese Tumore unerkannt überdauert haben, ohne sich bemerkbar zu machen oder eine Bedrohung darzustellen, ist in diesen Fällen nicht mehr nachvollziehbar. Wir wissen bis heute nur sehr wenig darüber, aus wie vielen der kleinen und häufig gutartigen Vorläufer sich im Laufe eines Lebens überhaupt ein bösartiger Tumor entwickelt (Weinberg 2014). In den letzten Jahrzehnten haben sich die Diagnose- und Früherkennungsmöglichkeiten für Krebserkrankungen stark verbessert. Dieser Fortschritt trug dazu bei, dass viele mögliche Krebsvorstufen rechtzeitig erkannt und behandelt oder entfernt werden konnten. Wir haben jedoch schlichtweg keine Daten zur Beantwortung der Frage, was ohne eine Behandlung aus diesen Krebsvorläufern geworden wäre. Wie viele wären vielleicht auch über Jahrzehnte harmlos geblieben? Wurden manche dieser Krebsvorläufer vielleicht erst durch die Therapie oder Operation gereizt und aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen? Wissenschaftler und Mediziner sollten sich diese durchaus berechtigten Fragen stellen – denn nicht immer ist ein Maximum an Therapie auch die ideale Lösung für jeden Patienten. Viele heutige Therapien zur Behandlung von Krebserkrankungen wirken bekanntermaßen nur bei einem bestimmten Prozentsatz der Patienten. Da für diejenigen Patienten, bei denen die Therapie nicht wirkt, häufig keine anderen Behandlungsmöglichkeiten existieren, erhalten oft alle Patienten die gleiche Standard-Therapie. Dieser Ansatz scheint plausibel, wenn man vorab nicht vorhersagen kann, welche Patienten von der Behandlung profitieren werden und welche nicht. Insbesondere bei schlechten Heilungschancen darf aber die Lebensqualität und die Menschenwürde nicht in Vergessenheit geraten. Es sollte von glei-

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chermaßen hohem wissenschaftlichen und medizinischen Interesse sein, auch die Patienten zu identifizieren, die von einer bestimmten Therapie nicht profitieren. Auf diese Weise könnte viel Leid vermieden und die Lebensqualität von Krebspatienten in den letzten Wochen, Monaten oder Jahren enorm verbessert werden. Auf den Punkt Manche gutartigen Tumore können über Jahrzehnte in unserem Körper überdauern, ohne Beschwerden zu verursachen oder sich zu bösartigen Tumoren weiterzuentwickeln. Da wir nur sehr wenig darüber wissen, woran wir diese dauerhaft gutartigen Tumore erkennen können, werden auch diese meist routinemäßig entfernt. Eine operative Entfernung kann gutartige Tumorerkrankungen jedoch unnötig reizen und sogar zu einer Streuung von Krebszellen beitragen. Daher ist es von sehr hohem wissenschaftlichen, medizinischen und menschlichen Interesse, in den Ausbau einer personalisierten Krebsmedizin zu investieren. Auf diese Weise könnte in naher Zukunft jeder Patient eine für seine persönliche Erkrankung optimal geeignete Therapie erhalten.

Im Verlauf dieses Buches wurde deutlich, wie unglaublich vielfältig Krebserkrankungen und ihre Entstehungsmechanismen sind. Während manche Menschen die genetische Veranlagung für eine bestimmte Krebserkrankung bereits seit Geburt in sich tragen, spielt bei nahezu allen Menschen der Lebensstil und der Zufall – in Form von Mutationen und Reparaturfehlern – die entscheidende Rolle bei der Krebsentstehung. Je nachdem, wodurch eine Krebserkrankung entstanden ist und welche genetischen Veränderungen die Krebszellen tragen, bedarf es einer auf die Person und ihre Erkrankung abgestimmten Therapie. Der Schlüssel zu einer verbesserten Krebstherapie liegt also in der maßgeschneiderten oder sogenannten personalisierten Medizin (auch „Präzisionsmedizin“ genannt) (Biankin et al. 2015). In einer personalisierten Medizin werden Patienten nicht mehr einfach nur nach Art der Krebserkrankung in bestimmte Behandlungsmuster aufgeteilt, sondern die persönliche Erkrankung wird ganz genau unter die Lupe genommen. Dafür wird im Blut oder im Biopsie-Gewebe eines Patienten nach auffälligen Gendefekten oder -varianten gefahndet. Identifizierte Gendefekte und Therapieergebnisse werden im Rahmen von klinischen Studien erfasst, um zukünftig bessere Vorhersagen über den Behandlungserfolg von Patienten mit den gleichen genetischen Veränderungen treffen zu können. Würde diese Form der Datenerhebung an allen Kliniken regelmäßig stattfinden, wäre es schon bald möglich, den Behandlungserfolg einer Krebstherapie bereits anhand der genetischen Veränderungen vorherzusagen, die im Tumorgewebe identifiziert wurden.

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Weltweit laufen an vielen Kliniken und Forschungszentren bereits genau solche Studien. Leider besteht aktuell ein großes Problem im Datenaustausch zwischen verschiedenen Ländern und Institutionen. Es genügt nicht, wenn einzelne Universitäten diese Daten sammeln – die Daten müssen auch international vergleichbar und zugänglich sein. Da in Krebszellen sehr viele verschiedene Gene mutiert oder epigenetisch verändert sein können, ist es sehr unwahrscheinlich, dass einzelne Kliniken oder Universitäten in kurzer Zeit aussagekräftige Daten sammeln werden (Kleeff et al. 2016). Eine personalisierte Medizin stellt also keine rein wissenschaftliche Herausforderung dar, sondern auch eine technologische, logistische und finanzielle (Hyman et al. 2017). Dennoch ist ihr Prinzip einleuchtend und erfolgsversprechend. Ein Arzt, der bei seinem Patienten eine Krebserkrankung feststellt, wäre zukünftig in der Lage, die optimale Therapie für genau diesen Patienten auszuwählen. Neben der Wahl der geeignetsten Behandlungsmethode sollte auch die Einteilung in klinische Studien oder ein Verzicht auf Therapie in Betracht gezogen und vorgeschlagen werden, sollte sich seine Variante der Krebserkrankung in allen Studien als besonders behandlungsresistent erwiesen haben. Dafür muss der Zutritt zu sogenannten Extended-Access-Studien erleichtert werden, die es Patienten erlauben, an klinischen Studien für neue Medikamente teilzunehmen, selbst wenn Patienten nicht alle Aufnahme-Kriterien einer klinischen Studie erfüllen. Indem wir versuchen, Krebserkrankungen gezielter zu behandeln, werden wir auch mehr über deren Verhalten und Wachstum lernen. Die Identifizierung aller an der Krebsentstehung beteiligten genetischen Veränderungen wird auch die Entwicklung von maßgeschneiderten neuen Krebsmedikamenten und Therapien ermöglichen, die anschließend institutions- und länderübergreifend in klinischen Studien getestet werden können. Auf den Punkt Eine personalisierte Krebstherapie bedeutet, dass jeder Patient eine Therapie erhält, die auf seine Krebserkrankung abgestimmt ist. Je nachdem, welche genetischen Veränderungen im Tumor eines Patienten vorhanden sind, wird ein passendes Medikament oder eine optimale Kombination aus Medikamenten gewählt. Die Ergebnisse der genetischen Untersuchungen und Behandlungserfolge sollten institutions- und länderübergreifend geteilt werden, um möglichst schnell allen Krebspatienten zugute zu kommen.

Eine personalisierte Krebsmedizin könnte auch die Antwort auf die Frage liefern, welche Tumore ein besonders bösartiges Potenzial besitzen, welche

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harmlos sind und welche besser nicht unnötig „gereizt“ werden sollten. Auf diese Weise könnte verhindert werden, dass operative Eingriffe das Tumorwachstum durch eine OP-bedingte Wundheilungsreaktion fördern oder die Metastasierung der Krebszellen erleichtern (Ramolu et al. 2014; Wang et al. 2015; Lee et al. 2018). Auch wirkungslose medikamentöse Therapien sollten unbedingt verhindert werden, denn sie sind häufig mit schweren Nebenwirkungen behaftet und bergen das Risiko für weitere gefährliche Resistenzen. Jede erfolglose Therapie kann den Tumor noch aggressiver machen und die Lebenszeit des Patienten dadurch sogar verkürzen. Für dieses schwerwiegende Problem existieren bereits interessante Lösungsansätze, die zukünftig den Erfolg von Therapien deutlich erhöhen könnten. Weltweit arbeiten viele Forschungsgruppen daran, frisches Tumorgewebe von Krebspatienten direkt nach der Operation oder Biopsie-Entnahme im Labor für einige Tage am Leben zu erhalten und die Wirkung von Medikamenten an diesen kleinen Gewebeproben zu testen (Klinghammer et al. 2017). Mithilfe dieser Methode wäre es unverzüglich möglich, den Behandlungserfolg einer Krebstherapie bei nahezu jedem Patienten besser vorhersagen zu können, wertvolle Zeit zu sparen und die Entwicklung von Resistenzen zu verhindern. Heute erfährt ein Krebspatient oftmals erst nach Monaten der Ungewissheit in einer Nachuntersuchung, ob die Therapie gewirkt hat oder nicht. Hier herrscht enormer Spielraum für Verbesserungen. Seit einiger Zeit ist bekannt, dass die DNA von Krebszellen – und sogar die Krebszellen selbst – im Blut von Krebspatienten nachgewiesen werden können (Neumann et al. 2018). Obwohl die Anzahl der zirkulierenden Tumorzellen im Blut extrem gering und ihre Isolierung bisher sehr aufwändig ist, sind sie für die Erforschung von Krebserkrankungen und für die Entwicklung von zukünftigen Krebstherapien von herausragender Bedeutung. In absehbarer Zukunft werden uns vermutlich Diagnosetests zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe wir durch eine einzige Blutentnahme aus der Armvene Krebszellen oder die mutierte DNA von Krebszellen aufspüren können. Unser Blut enthält normalerweise nur Blutzellen, die bekannt und gut charakterisiert sind – daher ist jede andere Zelle, die sich aufgrund ihrer Größe, Oberflächenmoleküle oder chemisch/physikalischen Eigenschaften von normalen Blutzellen unterscheidet, verdächtig und könnte isoliert und untersucht werden. Dieses Diagnoseverfahren nennt man „Flüssigbiopsie“ oder englisch „Liquid biopsy“. Da nahezu alle Krebserkrankungen aus Vorläuferstufen entstehen, die anfangs sehr gute Heilungschancen haben, gehört eine hochsensitive und regelmäßig durchgeführte Flüssigbiospie zu den vielversprechendsten Methoden, um Krebserkrankungen in Zukunft frühzeitig erkennen und heilen zu können (Abb. 1). Leider würden selbst bei jährlich durchgeführten

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Abb. 1 Diagnose- und Therapieansätze, die zukünftig die Erkennung und Behandlung von Krebserkrankungen erleichtern und verbessern werden. Die Abbildung wurde erstellt mit BioRender.com

Flüssigbiopsien noch immer Menschen an unheilbaren Krebserkrankungen sterben, denn sehr aggressive Krebsarten können sich innerhalb kürzester Zeit entwickeln. Die meisten Krebszellen wandern zudem erst ab einem gewissen Entwicklungsstadium des Tumors in Blutgefäße ein und können somit auch erst dann im Blut nachgewiesen werden. Trotz dieser Grenzen birgt die Flüssigbiopsie enormes Potenzial für die rechtzeitige Diagnose von Krebserkrankungen, die keinerlei Symptome verursachen und ansonsten möglicherweise erst viel zu spät entdeckt werden würden. Im Vergleich zu anderen Diagnoseverfahren, wie beispielsweise Computertomographien (CT), ist die Flüssigbiopsie gesundheitlich vollkommen unschädlich und viel günstiger. Mit ihrer Hilfe wird es in Zukunft vermutlich sogar möglich sein, den Erfolg von Krebstherapien direkt im Blut der Patienten nachzuverfolgen. Erfolglose Therapien könnten ohne Zeitverzug abgebrochen werden und der Behandlungsplan könnte entsprechend angepasst werden. Zeit ist immer kostbar, aber für Krebspatienten entscheidet sie mit erbarmungsloser Härte über Leben oder Tod.

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Auf den Punkt Mithilfe der Flüssigbiopsie könnten zukünftig viele Krebserkrankungen durch eine einzige Blutentnahme diagnostiziert werden. Anhand der Krebszellen und DNA-Stückchen, die in dieser Blutprobe enthalten sind, könnten genetische Veränderungen der Krebszellen identifiziert werden, was die Wahl einer maßgeschneiderten Therapie für jeden Patienten erlaubt. Sowohl der Behandlungserfolg als auch Rückfälle könnten direkt über die Anzahl der im Blut vorhandenen Krebszellen mitverfolgt werden.

Auch die personalisierte Krebsmedizin leidet bisher noch unter einigen ungelösten Problemen. Krebszellen weisen nicht nur mehrere Mutationen auf, die von Patient zu Patient unterschiedlich sind. Die Krebszellen eines Tumors unterscheiden sich sogar innerhalb desselben Patienten sehr stark in Bezug auf ihre genetischen Veränderungen. Diese Beobachtung wird als „TumorHeterogenität“ (Heterogenität bedeutet in etwa Verschiedenartigkeit) bezeichnet und ist der Hauptgrund dafür, warum Patienten häufig nach einer scheinbar erfolgreichen Chemotherapie schwere Rückfälle erleiden (Heitzer et al. 2018). Selbst wenn die meisten Krebszellen durch die Chemotherapie getötet werden konnten, überleben fast immer einige Krebszellen, die der Chemotherapie durch ihre genetische Andersartigkeit entkommen sind. Eine extrem kleine Anzahl dieser Ausreißer-Zellen kann nach einer unbestimmten und oftmals langen Zeit einen gefährlichen Rückfall verursachen. In diesem Fall wurde ein genetisch veränderter Tumor erzeugt und kostbare Zeit verloren. Auch der neugebildete Tumor wird wieder aus genetisch unterschiedlichen Krebszellen bestehen und manche dieser Krebszellen könnten der nächsten verfügbaren Chemotherapie ebenso entkommen wie der ersten. Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden? Eine Heilung von Krebs durch Medikamente kann nur gelingen, wenn Krebszellen aus unterschiedlichen Bereichen eines Tumors untersucht werden. Die Medikamente müssen so auswählt werden, dass keine Zelle eines Tumors der Therapie entkommen kann. Das bedeutet einen Rundumschlag auf alle Krebszellen eines Tumors und im Idealfall sogar Metastasen, die sich durch Abspaltung vom ursprünglichen Tumor in einer neuen Umgebung auf ganz eigene Weise entwickeln und besonders schwer zu behandeln sind. Die Kehrseite dieses Behandlungsansatzes bedeutet möglicherweise starke Nebenwirkungen durch den gleichzeitigen Einsatz verschiedener Chemotherapeutika und damit eine schlechtere Verträglichkeit und höhere Abbruchquoten bei der Therapie. Viele neue Therapieansätze, wie die Gentherapie oder Immuntherapie, haben in den letzten Jahren deutlich ihre Grenzen gezeigt oder wirkten nur bei

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Abb. 2 Herstellung von autologen CAR-Zellen. Aus einer Patientenblutspende werden T- und NK-Zellen isoliert und ex vivo kultiviert. Mithilfe viraler Vektoren wird ein für den T-Zell-Rezeptor kodierendes Gen ins Erbmaterial der Immunzellen integriert. So generierte CAR-Zellen werden dann weiter vermehrt, bevor sie, folgend auf eine lymphodepletierende Vorbehandlung, in den Patienten reinfundiert werden. Falls Krebspatienten nicht mehr über ausreichend Immunzellen für diese Therapie verfügen, können auch die T- oder NK-Zellen aus Fremdblutspenden für die Herstellung eines „allogenen“ CAR-Zellproduktes verwendet werden. Quelle: Michels et al. (2020)

einigen bestimmten Krebserkrankungen. Wie die klassische Chemotherapie bergen auch diese Therapieansätze teils unkalkulierbare Risiken. Eine Immuntherapie kann beispielsweise nur gelingen, wenn es den Immunzellen gelingt, ein eindeutiges Ziel auf Krebszellen zu erkennen und anzugreifen. In dem Kapitel über das Immunsystem und Krebs haben wir beschrieben, dass aber gerade die klinisch sichtbaren und bösartigen Tumore durch verschiedenste Mutationen und Tricks längst der Überwachung des Immunsystems entkommen sind. Viele immunologische Therapieansätze versuchen, Immunzellen auf die veränderten Proteine eines Tumors „abzurichten“, um eine langfristige Heilung und die Eliminierung von metastatischen Tumorzellansammlungen zu erreichen. Bekannte Beispiele sind Krebs-Impfungen oder die CAR-TZell-Therapie, bei der T-Zellen aus dem Patienten isoliert und im Labor gentechnisch so bearbeitet werden, dass sie bei Wiedereinführung in den Patienten quasi als Auftragskiller auf den Tumor losgehen (Abb. 2).

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Ein großer Durchbruch in der Immuntherapie gelang durch die Entwicklung sogenannter Checkpoint-Inhibitoren, für die James Allison und Tasuku Honjo 2018 den Medizin-Nobelpreis erhielten. Diese Medikamente sollen Immunzellen angriffslustiger gegenüber Krebszellen machen und dabei helfen, die Tricks der Krebszellen zu umgehen. Großen Erfolg zeigen diese neuen Medikamente beispielsweise beim metastasierten schwarzen Hautkrebs (Melanom). Allerdings wurden auch schwere Nebenwirkungen dieser Medikamente beobachtet, darunter lebensgefährliche Überreaktionen des Immunsystems. Bei einigen Krebsarten zeigen die Checkpoint-Inhibitoren zudem kaum eine Wirkung. Auch diese Medikamente werden also vermutlich nicht die sehnlich erhoffte Wunderwaffe gegen Krebs bilden. Es scheint zudem generell vernünftiger, das Immunsystem gezielt gegen spezifische Ziele auf Krebszellen abzurichten, als ganz allgemein die (durchaus sinnvollen) Bremsen des Immunsystems zu lockern und zu hoffen, dass es dabei auch die Krebszellen erwischt. Die Gentherapie plagt sich seit Abklingen der anfänglichen Euphorie mit ähnlichen Problemen. Zwar ist es heute durchaus möglich, mit Hilfe von artfremden Viren gesunde DNA zur Reparatur von Mutationen in Körperzellen einzuschleusen – allerdings stellt hier wiederum die Tumor-Heterogenität ein gewaltiges Problem dar. Über kurz oder lang wird das Immunsystem auch gegen artfremde Viren eine Immunität entwickeln, sodass der Medizin irgendwann die geeigneten „Transportmittel“ ausgehen. Leider wurden auch bei der Gentherapie in klinischen Studien gefährliche Überreaktionen des Immunsystems beobachtet. Auf den Punkt Eines der größten Probleme aller bisherigen Krebstherapien stellt die TumorHeterogenität dar. Der Begriff „Tumor-Heterogenität“ beschreibt die wichtige medizinische Tatsache, dass nahezu alle Tumoren aus Krebszellen bestehen, die sich voneinander in der Art und Anzahl ihrer genetischen Veränderungen unterscheiden. Die Tumor-Heterogenität erschwert es Medikamenten, alle Krebszellen eines Tumors zu vernichten und ist maßgeblich für Rückfälle nach einer Krebstherapie verantwortlich.

Die Frage nach der Heilbarkeit von Krebs ist und bleibt sehr vage formuliert. Wenn man in den Begriff „Krebs“ tatsächlich alle Stufen der Krebserkrankung einbezieht – und dazu gehören insbesondere bösartige und metastasierende Krebsformen –, wird es noch schwieriger. Auch eine optimale Krebstherapie wird ab einem gewissen Stadium der Krebserkrankung immer

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an ihre Grenzen stoßen. Es wird vorerst und wohl auch in Zukunft einfacher bleiben, Krebserkrankungen möglichst effizient zu vermeiden als bereits fortgeschrittene Krebserkrankungen zu besiegen.

Literatur Biankin AV, Piantadosi S, Hollingsworth SJ (2015) Patient-centric trials for therapeutic development in precision oncology. Nature 526:361–370 ClinicalTrials.gov (2019) Weltweite Datenbank für privat und öffentlich geförderte klinische Studien. https://www.clinicaltrials.gov. Zugegriffen: 5. Mrz. 2023 DKFZ (2022) Krebsinformationsdienst des DKFZ. https://www.krebsinformations dienst.de. Zugegriffen: 7. Mrz. 2023 Heitzer E, Haque IS, Roberts CES, Speicher MR (2018) Current and future perspectives of liquid biopsies in genomics-driven oncology. Nat Rev Genet 20:1 Hyman DM, Barry ST, Baselga J (2017) Implementing genome-driven oncology. Cell 168:584–599 Kleeff J et al (2016) Pancreatic cancer. Nat Rev Dis Primers 2:nrdp201622 Klinghammer K, Walther W, Hoffmann J (2017) Choosing wisely – Preclinical test models in the era of precision medicine. Cancer Treat Rev 55:36–45 Lee Y, Kollara A, Taymaa M, Brown TJ (2018) Wounding promotes ovarian cancer progression and decreases efficacy of cisplatin in a syngeneic mouse model. J Ovarian Res 11:56 Michels A, Hartmann J, Buchholz CJ (2020) Chimäre Antigenrezeptoren (CARs) in der Onkologie: eine Übersicht zu klinischer Anwendung und neuen Entwicklungen. Bundesgesundheitsbl 63:1331–1340. https://doi.org/10.1007/s00103-02003222-8 Neumann M, Bender S, Krahn T, Schlange T (2018) ctDNA and CTcs in liquid biopsy – current status and where we need to progress. Comput Struct Biotechnol J 16:190–195 Ramolu L, Christ D, Abecassis J, Rodier J-F (2014) Stimulation of breast cancer cell lines by post-surgical drainage fluids. Anticancer Res 34:3489–3492 Wang D et al (2015) High throughput screening of cytokines, chemokines and matrix metalloproteinases in wound fluid induced by mammary surgery. Oncotarget 6:29296–29310 Weinberg RA (2014) The biology of cancer, 2. Aufl. Garland Science (Taylor & Francis Group), New York. ISBN 978-0-8153-4220-5.

Personalisierte Medizin: die richtige Therapie für den richtigen Patienten zur richtigen Zeit Beitrag von Prof. Dr. Nisar Malek und Dr. Yvonne Möller, Zentrum für personalisierte Medizin, Universität Tübingen

Zusammenfassung Dieses Kapitel stellt die wichtigsten Herausforderungen und Ziele der personalisierten Krebsmedizin vor. Eine maßgeschneiderte Medizin benötigt neue Strukturen und Zentren sowie Unterstützung vonseiten der Politik und Krankenkassen, um Krebspatienten in Deutschland und auf der ganzen Welt endlich eine zeitgemäße und zielgerichtete Therapie zukommen zu lassen. Dabei fokussiert sich die personalisierte Medizin nicht nur auf maximale Therapieerfolge, sondern auch auf die Vermeidung von Rückfällen und den Erhalt einer möglichst hohen Lebensqualität für alle Patienten. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Wissenschaftlern wird in Zukunft experimentelle und klinische Studien ermöglichen, deren Ergebnisse möglichst schnell in Form von neuen Medikamenten und Therapien bei den geeigneten Patientengruppen ankommen werden. Jeder Patient, jede Patientin ist einzigartig. Aber auch jede Erkrankung und der Krankheitsverlauf unterscheiden sich von Mensch zu Mensch, weshalb die Therapie ganz genau auf jeden Patienten abgestimmt werden sollte. Hier spielen Vorerkrankungen, Lebensgewohnheiten, Ernährung und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle, aber auch die molekularen Eigenschaften der Erkrankung eines Patienten. Im Fall von Krebserkrankungen spielen die Anzahl und die Art der genetischen Veränderungen für den Behandlungserfolg alles entscheidende Rollen. Der behandelnde Arzt versucht, all diese individuellen Merkmale des einzelnen Patienten und seiner Erkrankung stets im Blick zu behalten und in die Beratung und Behandlung einfließen zu lassen. Somit ist Medizin eigentlich © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_15

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immer personalisiert. Wie stark man die Therapie aber anpassen kann, hängt in erster Linie natürlich damit zusammen, welche Medikamente und Therapieansätze überhaupt zur Verfügung stehen. Die einfachste Variante der individuellen Therapie stellen Anpassungen in der Dosierung eines Medikaments dar. Aber wenn es darum geht, für jeden Patienten und jede Krebserkrankung ein optimal wirksames Medikament zu finden, sind Wirkstoffe und Immuntherapien, die gezielt auf die individuellen genetischen Veränderungen eines Patienten abzielen, das Mittel der Wahl (Abb. 1). Sie bilden die Grundlage der personalisierten Medizin, um die es hier gehen soll. Für viele Krebserkrankungen stehen mittlerweile solche Medikamente zur Verfügung, deren Wirkweise sehr spezifisch auf die molekularen Merkmale des Tumors zugeschnitten sind und somit eine Personalisierung erlauben. Aber welche Merkmale sind das, die zu neuen Behandlungsstrategien führen? Für die meisten der oben benannten individuellen Charakteristika ist noch nicht abschließend geklärt, wie sie sich beispielsweise auf das Ansprechen gegenüber einer spezifischen Therapie auswirken. Komplexe Merkmale wie Lifestyle, Ernährung und Umwelteinflüsse spielen eine zentrale Rolle bei der Krebsentstehung und können präventiv genutzt werden. Bei der Planung einer individuellen Therapie sind aber vor allem genetische Informationen und deren Auswirkungen auf das Wachstumsverhalten und den Stoffwechsel von Krebszellen, sowie die Entwicklung von Therapieresistenzen von medizinischem Interesse. Hier sprechen wir konkret von einzelnen Veränderungen in unseren Genen oder vielmehr in den Genen des erkrankten Gewebes, dem Tumor. Der Grund dafür, dass in den letzten Jahren eine neue Ära in der Behandlung von Patienten begonnen hat, ist, dass der Medizin heute neue Technologien zur Verfügung stehen – allen voran die Gensequenzierung, aber auch Proteomanalysen und funktionelle Analysen. Diese Untersuchungsmethoden erlauben es, nicht nur genetische Unterschiede, sondern auch Unterschiede in der Aktivität von Zellen und sogar Abweichungen auf Ebene der Proteine zu erkennen. All diese Informationen können heute sehr effizient genutzt werden, um passgenaue Therapien auszuwählen (Tsimberidou et al. 2020). Technologien, wie beispielsweise die Genanalyse oder die Abbildung von Stoffwechselprozessen mithilfe von funktionellen Bildgebungsverfahren, aber auch die großen Fortschritte in der molekularen Pathologie erlauben es uns heute, die patientenindividuellen Merkmale zu nutzen. Aber nicht nur die Verfügbarkeit dieser neuen Untersuchungsmethoden hat in den letzten Jahren zu einer stärkeren personalisierten Medizin geführt. Während die ersten Untersuchungen des Genoms im Jahr 2000 Milliardensummen kosteten und viele Jahre dauerten, ist es heute möglich, ein Genom – also alle Gene eines

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Abb. 1 Im Gegensatz zur konventionellen Therapie behandelt die personalisierte Medizin nicht alle Patienten, die an der gleichen Krebserkrankung leiden, nach einem standardisierten Muster. Die konventionelle Therapie nimmt in Kauf, dass ein gewisser Prozentsatz an Patienten nicht auf die Standard-Therapie anspricht, jedoch auch die Nebenwirkungen der Therapie erleiden muss. Die personalisierte Medizin hingegen wählt Therapien, Medikamente oder bestimmte Medikamenten-Kombinationen aus, die exakt auf die genetischen Veränderungen eines jeden Patienten zugeschnitten sind. Die Abbildung wurde übernommen und übersetzt von „Precision Cancer Therapy“, mit Genehmigung von BioRender.com (2023). Abgerufen von https://app. biorender.com/biorender-templates

Menschen – in wenigen Stunden zu sequenzieren, und das zu einem Preis, der auch den regelhaften Einsatz dieser Technologie in der Versorgung ermöglicht. Die Verfügbarkeit neuer Analysemethoden allein verbessert die Behandlung für den einzelnen Patienten allerdings noch nicht. Die Anwendung dieser Informationen ist entscheidend. Um optimale Entscheidungen für ihre Patienten treffen zu können, müssen sich die Mediziner von heute neue Fachgebiete aneignen, etwa die molekulare Medizin und die Humangenetik. Bei der Interpretation der molekularen Daten hilft eine enge Zusammenarbeit mit anderen Bereichen der biomedizinischen und biologischen Forschung.

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In Zukunft werden viele dieser Entscheidungen auch durch „Machine learning“ (Computer-basierte Lernprozesse) und artifizielle Intelligenz unterstützt werden: Denn es wird darum gehen, die Daten jedes einzelnen Patienten (personifizierte Charakterisierung des Patienten, molekulare Veränderungen und das Ansprechen auf Medikamente) mit einem schon existierenden Pool von Patientendaten zu vergleichen. Wenn die speziellen Daten eines Patienten A irgendwo in Deutschland oder auf der Welt schon einmal vorgekommen sind – beispielsweise bei einem Patienten B –, existieren vielleicht schon Ergebnisse, auf welche Therapie Patient B anspricht oder nicht anspricht. Das wird helfen, Vorhersagen über die bestmögliche Therapie für Patient A zu treffen, basierend auf seinem ganz persönlichen Profil an Mutationen und anderen molekularen Veränderungen. Identifizierte Genmutationen oder Kombinationen von genetischen Veränderungen, die im Patienten gefunden werden, können in präklinischen Modellen in der Krebsforschung „nachgespielt“ und in Frage kommende Therapien an diesen Modellen getestet werden. Diese enge Form der Zusammenarbeit zwischen biomedizinscher Forschung und behandelnden Ärzten wird „Translation“ genannt, da Forschungsergebnisse quasi direkt in die Klinik „übersetzt“ werden. Ziel dieses translationalen Ansatzes ist es, Forschungsergebnisse so schnell wie möglich dorthin zu bringen, wo sie benötigt werden – zu den Patienten. Ein Beispiel für die Translation von molekularen Informationen hin zu einer Therapie ist die Anwendung von Antikörpertherapien in der Onkologie, die mittlerweile zu den Standards in der modernen Krebstherapie gehören. Das Medikament „Cetuximab“ erkennt und bindet spezifisch ein Oberflächenmolekül, das das Zellwachstum reguliert. Wurde bei einem Patienten mit fortgeschrittenem Darmkrebs in der genetischen Analyse eine onkogene Veränderung dieses Oberflächenmoleküls, dem sogenannten EGF-Rezeptor, festgestellt, bewirkt diese Veränderung eine dauerhafte Aktivierung und damit ein krankhaftes Wachstum der betroffenen Zellen. Somit liegt hier nicht nur ein verändertes Gen, sondern auch die Grundlage der Erkrankung vor. Bindet der Antikörper Cetuximab an dieses Molekül, wirkt er der krankhaften Überaktivität entgegen und kann den Tumor in seinem Wachstum hemmen. Auf diese Weise wirken die Cetuximab-Antikörper gezielt der genetischen Veränderung des Patienten entgegen. Dieser Zusammenhang ist lange bekannt, beruht aber auf dem Verständnis der genetischen Veränderung und ihrer funktionellen Auswirkung. Fortgeschrittene Krebserkrankungen weisen meist mehrere genetische Veränderungen auf. Einige dieser Gendefekte können es Krebszellen ermöglichen, der wachstumshemmenden Wirkung von Cetuximab zu entkommen. Dieser Mechanismus ist als Resistenzmarker gegenüber der Anti-EGF-Therapie be-

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kannt und oftmals die Ursache, weshalb eine Therapie mit Cetuximab nicht wirkt. Sind diese genetischen Veränderungen oder die molekularen Zusammenhänge dem behandelnden Arzt unbekannt, hat dies zur Folge, dass sich das Tumorwachstum nicht verlangsamt und der Patient unnötigerweise von den Nebenwirkungen des Medikamentes getroffen wird. Nur durch das genaue Verständnis der Auswirkungen der molekularen Merkmale und der Wirkweise der biologischen Therapeutika kann eine wirksame Therapie gefunden werden. Hier greifen Grundlagenforschung, pharmazeutische Entwicklung und translationale Medizin ineinander und bewirken langfristig eine verbesserte Therapie.

Eine neue Ära in der Medizin benötigt auch neu gedachte Versorgungsstrukturen Ähnliches hat es in der Geschichte der Medizin bereits vielfach gegeben. Die Entdeckung der Röntgenstrahlen war ein Durchbruch in der bildgebenden Medizin. Aber erst die Entwicklung neuer medizinischer Fachgebiete, wie der Radiologie oder der Nuklearmedizin bzw. der Strahlentherapie, haben zu einer patientenorientierten Anwendung geführt. Hier waren neue Ausbildungswege, Fachgesellschaften und viele wissenschaftliche Publikationen nötig, um die neuen diagnostischen Möglichkeiten in die Versorgung von Patienten zu integrieren. Gleiches gilt auch für die personalisierte Medizin. Neue Studiengänge, wie molekulare Medizin, und ergänzende Module in der medizinischen Aus- und Weiterbildung werden aktuell eingeführt. Diese neue Generation an medizinisch ausgebildeten Wissenschaftlern und molekular geschulten Ärzten ist eine wesentliche Grundlage für eine patientenzentrierte Anwendung der personalisierten Medizin. Erst so kann die Idee der Personalisierung durch molekulare Daten – langfristig und für alle Betroffenen – in der konkreten Behandlung ankommen. Aber auch die Strukturen in Krankenhäusern müssen den neuen interdisziplinären Ansätzen gewachsen sein. Eine Einteilung nach Erkrankungsart bzw. nach den betroffenen Organen ist in der personalisierten Medizin nicht mehr zeitgemäß. Um die bestmöglichen noch anwendbaren Therapieansätze für eine fortgeschrittene Krebserkrankungen zu finden, werden sogenannte organspezifische Tumorkonferenzen an spezialisierten Krebszentren durchgeführt. In einem Darmkrebszentrum werden so zum Beispiel Patienten mit Darmkrebs genau betrachtet, bei denen der initial behandelnde Onkologe eine Zweitmeinung bzw. eine unterstützende Empfehlung für die weitere Be-

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handlungsstrategie erhält. Bei einer solchen Tumorkonferenz nehmen sowohl Ärzte der gastroenterologischen Onkologie als auch Radiologen, Pathologen und Chirurgen teil, um interdisziplinär mit allen wichtigen Fachgebieten die bestmögliche Therapieoption aus dem Spektrum der zugelassenen Behandlungsmöglichkeiten zu empfehlen. Dieses Vorgehen ist inzwischen Standard in Deutschland und die Krebszentren bilden eine etablierte Struktur in der Onkologie. Eine weiterführende Versorgungsstruktur für Krebspatienten, für die organspezifische Tumorkonferenzen keine Behandlungsmöglichkeiten mehr ermitteln konnten, gab es bislang nicht. Erweiterte molekulare Diagnostik wurde in Einzelfällen durch die behandelnden Ärzte beauftragt und bewertet. Gerade in diesen Fällen ist aber eine interdisziplinäre Interpretation besonders wichtig, da die Daten in ihrer Gesamtheit schwierig zu erfassen und die daraus folgenden Konsequenzen für eine Therapie immer komplex sind (Leichsenring et al. 2019). Das Land Baden-Württemberg hat sich 2015 deshalb dieser Aufgabe gestellt und im Rahmen einer Analyse die Situation der personalisierten Medizin in Baden-Württemberg untersucht. Als Ergebnis empfahlen die beteiligten Ärzte und Wissenschaftler der Landesregierung, spezielle Zentren an den Universitätskliniken in Ulm, Freiburg, Tübingen und Heidelberg einzurichten, die den Namen Zentren für Personalisierte Medizin (ZPM) tragen sollten (MSGI Baden-Württemberg 2023b). Diese Versorgungszentren sollen interdisziplinär und krankheitsübergreifend aufgestellt sein und die notwendigen Analysemethoden in der notwendigen Qualität zur Verfügung stellen, um vergleichbare und wissenschaftlich begründete Therapieempfehlungen geben zu können. Der wichtigste Aspekt ist aber, dass transparente Zugangswege zu den Angeboten der ZPM geschaffen wurden, die auch Betroffenen helfen, die nicht ohnehin schon an einem universitären Zentrum behandelt werden.

Molekulare Tumorboards an den ZPM – Anwendung der personalisierten Medizin Ein Kernstück dieser neuen Zentren sind sogenannte molekulare Tumorboards (Missios et al. 2021). Dies sind ebenfalls interdisziplinär aufgestellte Tumorkonferenzen, die aber nicht nach onkologischen Fachbereichen getrennt Krankheitsfälle diskutieren, sondern gemeinsam. Unabhängig vom befallenen Organ bewerten also Ärzte aus der gynäkologischen und urologischen Onkologie, der Neuroonkologie, der Kinderonkologie, der Hämatologie und anderen Fachbereichen zusammen mit Vertretern der Bioinformatik,

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Humangenetik, Molekularbiologie und Pathologie, welche Medikamente helfen könnten. Die Grundlage sind hierbei immer klinische Studien und wissenschaftliche Publikationen, also evidenzbasiertes Wissen. Dabei wird als Grundlage in erster Linie die molekulare Signatur genutzt, also alle genetischen und molekularen Veränderungen des Tumors und des Patienten, da diese auch die Zielstrukturen für Medikamente darstellen. Alle Fachbereiche bringen ihr Expertenwissen ein. So kann zum Beispiel ein Medikament, das eigentlich bei Darmkrebs eingesetzt wird, eine vielversprechende Option für eine Patientin mit Brustkrebs sein, wenn ganz bestimmte Merkmale bei dieser Patientin nachgewiesen wurden, auf die das Darmkrebsmedikament einwirkt. Solche Therapieansätze werden als „Off-lable“-Therapien bezeichnet, da sie außerhalb der eigentlichen Medikamentenzulassung (Zulassung bei Darmkrebs) angewendet werden. Das heißt aber auch, dass für eine solche Off-label-Behandlung nur wenige oder sogar keine klinischen Studien im Zusammenhang mit der passenden Erkrankung (hier Brustkrebs) vorliegen und die Wirksamkeit des Medikamentes nicht abschließend bestätigt ist. Deshalb ist eine Therapie außerhalb der Zulassung auch an strenge Voraussetzungen geknüpft und kann nicht die Standard-Therapien ersetzen, deren Wirksamkeit in großen klinischen Studien belegt wurden. Neben Off-lable-Anwendungen wird in den molekularen Tumorboards insbesondere auch die Möglichkeit zur Teilnahme an molekular definierten klinischen Studien geprüft. Auf diese Weise wird die klinische Forschung unterstützt und betroffenen Patienten der Zugang zu neuen Medikamenten in Studien erleichtert. Seit dem Jahr 2020 ist das ZPM-System auf heute 27 Universitätskliniken in ganz Deutschland ausgeweitet worden und hat sich zum Deutschen Netzwerk für Personalisierte Medizin (DNPM) zusammengeschlossen (DNPM 2023). An allen Standorten werden die Zugangswege zur personalisierten Medizin und die notwendigen interdisziplinären Strukturen für die genetische Diagnostik und die Entscheidungsfindung in molekularen Tumorboards aufgebaut. Das Ziel ist es, ein ähnlich gut ausgebautes Angebot in der personalisierten Medizin zu errichten, wie es durch Krebszentren bereits in der onkologischen Versorgung besteht. Hierbei spielen auch die Anforderungen und Notwendigkeiten unseres Gesundheitssystems in Deutschland eine Rolle (Stenzinger et al. 2022). Die Finanzierung der molekularen Tumorboards, aber auch die Umsetzung von Therapien im Off-lable-Bereich sind nicht oder nur unzureichend abgebildet und bedingen neben einem erheblichen administrativen Aufwand eine Verzögerung in der Umsetzung. Letztlich werden nur jene Maßnahmen den Patienten erreichen, die von gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland finan-

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ziert werden. Innovation ist daher auch immer an den Aufbau von entsprechenden Finanzierungs- und Qualitätssicherungsstrukturen gekoppelt, was in Kooperation mit den Krankenkassen und zuständigen Ministerien geschieht.

Wissensgenerierende Versorgung als Kernelement der personalisierten Medizin Die Sammlung von neuem Wissen über die Wirksamkeit von individuellen Ansätzen ist ein wichtiger Baustein zur erfolgreichen Anwendung der personalisierten Medizin. Die Datenerhebung ist primär Teil der normalen Behandlungsdokumentation. Richtig genutzt, sind die Daten über den Therapieverlauf für die Verbesserung zukünftiger Behandlungsstrategien unersetzlich. Die detaillierte Dokumentation der klinischen und molekularen Daten der Patienten, ihr Ansprechen auf die individualisierte Therapie bis hin zu auftretenden Nebenwirkungen und den Einfluss der Therapie auf die Lebensqualität sind deshalb Bestandteile des ZPM-Konzeptes. So kann man die Wirksamkeit von Medikamenten und gezielten Wirkstoffkombinationen bei spezifischen genetischen Konstellationen miteinander vergleichen. Finden sich auf diese Weise neue vielversprechende Ansätz, werden sie in weiterführenden klinischen Studien überprüft und beschleunigen Zulassungsprozesse. Auf der anderen Seite können Patienten, sofern sie zugestimmt haben, auch zu spezifisch passenden klinischen Therapiestudien eingeladen werden, die ihnen neue Optionen eröffnen. Merkmale wie Genetik, Vorerkrankungen, bisherige Therapien, Alter oder Geschlecht zweier Patienten gleichen sich nie vollkommen. Die personalisierte, individuelle Betrachtung jeder Erkrankung und jedes Patienten bedeutet also auch, dass zwei Patienten und zwei Erkrankungen nie ganz gleich sind und eine Eins-zu-eins-Übertragbarkeit von Behandlungsergebnissen nie gegeben ist. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Informationen aller personalisiert behandelter Patienten zusammenzuführen und in mathematische Analysen und Modelle zur Identifikation ähnlicher Fälle einfließen zu lassen. Durch die vorhandenen Verlaufsdaten ähnlicher Fälle können Patienten gefunden werden, die bei ähnlicher genetischer Voraussetzung erfolgreich behandelt wurden. Die Prüfung kann aber auch ergeben, dass ein alternativer Ansatz erfolgversprechender ist (Tsimberidou et al. 2020).

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Digitale Vernetzung für die Nutzbarmachung der Daten aus den ZPM Die Zusammenführung klinischer und genetischer Daten ist für die Versorgungsstrukturen in Deutschland eine große technische Herausforderung. Daneben gilt es, die vielfältigen datenschutzrechtlichen Aspekte der Länder und der EU nicht außer Acht zu lassen, denn genetische Daten sind besonders sensible Daten. Da sie nicht nur etwas über den Charakter der Krebserkrankung, sondern auch über unsere Risikofaktoren für andere Erkrankungen und sogar über unsere Angehörigen verraten können, ist die Information der Betroffenen und deren Einwilligung bezüglich der Nutzung eine Grundvoraussetzung. Initial wurde für die personalisierte Medizin ein IT-System pilothaft innerhalb Baden-Württembergs aufgebaut, die sogenannten bwHealthCloud (MSGI Baden-Württemberg 2023a). Hier wird bereits zwischen den vier Universitätskliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm ein digitales Netzwerk der personalisierten Medizin betrieben (DNPM). Durch einen dezentralen Aufbau, in dem die klinischen und genetischen Daten die sichere Krankenhausumgebung nicht verlassen, werden nur Ergebnisse zu den spezifischen Fragen der Behandler angezeigt. Die Daten werden hierzu immer pseudonym verwendet, also ohne Angabe von identifizierenden Informationen, wie Name oder Geburtsdatum. Im nächsten Schritt können nun auch die weiteren Zentren des DNPM an eine deutschlandweite Struktur nach Vorbild der bwHealthCloud angeschlossen werden, die digitale Plattform des DNPM (kurz dnpm:DIP). So entsteht in den nächsten Jahren eine kontinuierlich wachsende Sammlung von Patientendaten, die neues und wertvolles Wissen generieren wird. Diese Vernetzung verbessert nicht nur die Therapie jedes einzelnen Patienten durch das Auffinden vergleichbarer Fälle, sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten zur Durchführung von wissenschaftlicher Forschung und klinischen Studien. Hierdurch wird das DNPM zu einer wichtigen Plattform für die Translation von Forschungsergebnissen und erleichtert zukünftig die rasche Einführung in klinische Versorgungsstrukturen. Aber nicht nur in der Onkologie, sondern auch in vielen anderen klinischen Bereichen sind personalisierte Ansätze denkbar. Dabei sind genetische Marker nicht überall ausschlaggebend für eine passgenaue Therapie. In den vier baden-württembergischen ZPM wird gerade eine vergleichbare Strategie im Bereich entzündlicher Erkrankungen aufgebaut. In sogenannten molekularen Entzündungsboards (MEB) werden entzündliche Erkrankungen der Haut (Schuppenflechte), des Darms (beispielsweise Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa) und der Gelenke (Spondylarthritis) besprochen. Obwohl diese Krank-

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heitsbilder überschneidende Merkmale und molekulare Grundlagen haben, werden sie aufgrund der unterschiedlichen betroffenen Organsysteme aber selten gemeinsam betrachtet. Für Erkrankungen stehen oftmals eine Vielzahl an Medikamenten zur Verfügung. Die Wahl der richtigen Medikamente ist daher schwierig. Analysen, die Therapieentscheidungen unterstützen, sind bisher aufwändig und kostspielig. Die molekularen Entzündungsboards stehen hier noch am Anfang der Umsetzung in eine regelhafte Versorgung. Da entzündliche Prozesse oftmals auch Vorboten von Krebserkrankungen sind, bietet sich hier die Chance, Wechselwirkungen zwischen Entzündungsmedizin und Onkologie zu erforschen. Die Nutzung der digitalen Plattform des DNPM für alle Fachbereiche der personalisierten Medizin erlaubt es, Interaktionen zwischen den Erkrankungen festzustellen und frühzeitig präventive Maßnahmen zu ergreifen. Personalisierte Prävention, das Verständnis komplexerer Biomarker und deren Nutzbarmachung sind die Zukunftsthemen in der personalisierten Medizin, die viele der in diesem Buch angesprochenen Aspekte in die onkologische Versorgung von morgen übertragen wird.

Literatur BioRender.com (2023) Precision cancer therapy. https://app.biorender.com/biorendertemplates/figures/all/t-5fa9c5de0f918900ae9f7d7e-precision-cancer-therapy. Zugegriffen: 16. Jan. 2023 DNPM (2023) https://innovationsfonds.g-ba.de/projekte/neue-versorgungsformen/ dnpm-deutsches-netzwerk-fuer-personalisierte-medizin.419. Zugegriffen: 16. Jan. 2023 Leichsenring J, Horak P, Kreutzfeldt S, Heining C, Christopoulos P, Volckmar AL, Stenzinger A (2019) Variant classification in precision oncology. Int J Cancer 145(11):2996–3010 Missios P, Beha J, Bitzer M, Malek NP (2021) Das molekulare Tumorboard [The molecular tumor board]. Chirurg 92(11):1011–1015. https://doi.org/10.1007/ s00104-021-01487-6 (German) MSGI Baden-Württemberg (2023a) bwHealthCloud (1+2). https://gesundheit-wirddigital.de/projekt/bwhealthcloud-12/. Zugegriffen: 16. Jan. 2023 MSGI Baden-Württemberg (2023b) Fachkonzeption für „Zentren für Personalisierte Medizin (ZPM)“ in Baden-Württemberg. https://sozialministerium.badenwuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Downloads_ Krankenhäuser/Fachplanung_ZPM_28-03-2019.pdf. Zugegriffen: 16. Jan. 2023 Stenzinger A, Edsjö A, Ploeger C, Friedman M, Fröhling S, Wirta V, Seufferlein T, Botling J, Duyster J, Akhras M, Thimme R, Fioretos T, Bitzer M, Cavelier L,

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Schirmacher P, Malek N, Rosenquist R, GMS working group and ZPM working group (2022) Railblazing precision medicine in Europe: a joint view by genomic medicine Sweden and the centers for personalized medicine, ZPM, in Germany. Semin Cancer Biol 84:242–254. https://doi.org/10.1016/j.semcancer.2021.05.026 Tsimberidou AM, Fountzilas E, Nikanjam M, Kurzrock R (2020) Review of precision cancer medicine: Evolution of the treatment paradigm. Cancer Treat Rev 86:102019

Ein Denkmal für die Maus

Zusammenfassung In diesem Buch berichten wir wiederholt von Versuchen an Mäusen in der Krebs- und Grundlagenforschung. Wir wissen, dass dies ein hochkontroverses Thema ist. Daher möchten wir in diesem Kapitel ein wenig über den Nutzen und die Grenzen dieser Forschungsmethode informieren. Die Forschung an Mäusen ist in vielen Fällen notwendig, beispielsweise um Patienten nicht mit einem unerprobten neuen Medikament zu gefährden. In der Krebsforschung wäre es jedoch hilfreich, Forschungsergebnisse parallel auch an menschlichen Gewebeproben zu testen, da Mäuse deutlich kürzer leben und schneller an Krebs erkranken. Dieses Dilemma soll durch eine translationale Forschung überwunden werden, die versucht, Ergebnisse aus der Grundlagenforschung wesentlich früher an menschlichen Patienten zu testen. Dies reduziert den Einsatz von Tieren in der Forschung und beschleunigt den wissenschaftlichen Fortschritt gleichermaßen. Viele Tierschützer wünschen ein Verbot von Tierversuchen für die Forschung. Die Begründung ist häufig, dass es mittlerweile alternative Methoden für die Forschung gibt, die ohne das Leid von Tieren auskommen. Leider ist diese Aussage bisher für die meisten Zweige der biomedizinischen Forschung unzutreffend. Gerade in der Krebsforschung sind Experimente an Mäusen bis heute der wissenschaftliche Goldstandard, bevor ein neues Medikament oder eine Therapie in klinischen Studien im Menschen getestet werden darf (de Ruiter et al. 2018). Im Folgenden möchten wir kurz auf die wichtigsten Gründe hierfür eingehen und dabei auch auf die Grenzen von Tierversuchen hinweisen. Die Maus hat in der Geschichte der Medizin einen unschätzbaren © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_16

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Abb. 1 Statue einer Maus vor dem Institut für Zytologie und Genetik der Russischen Akademie der Wissenschaften in Nowosibirsk, Sibirien. Die Statue symbolisiert die tiefe Dankbarkeit der Menschheit gegenüber Labormäusen, die es uns ermöglichen, Gene, Krankheitsmechanismen und neue Medikamente zu erforschen. Mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Zytologie und Genetik der Russischen Akademie der Wissenschaften. (Fotograf: Vasiliy Koval)

Beitrag geleistet (Abb. 1). Nahezu alle Erkrankungen, die wir heute verstehen und behandeln können, wurden mit ihrer Hilfe erforscht. Sie halfen uns, die Funktionsweise unseres Immunsystems und Gehirns zu verstehen und den genetischen Code zu lesen und zu bearbeiten. Mäuse haben ihren Beitrag zu unzähligen Medizinnobelpreisen und patentierten Medikamenten geleistet. Wir schulden es ihnen, dass wir unsere modernen Möglichkeiten nutzen, um ihr Leid so gering wie möglich zu halten.

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Warum kann man Krebszellen nicht einfach im Labor untersuchen? Könnte man Krebszellen nicht einfach im Labor in einer Zellkultur untersuchen? Wenn man nur erforschen möchte, was im Inneren einer Krebszelle geschieht – dann ja. Möchte man jedoch komplexe Zusammenhänge wie die Entstehung, das Wachstum und die Behandlung von Krebserkrankungen erforschen, stößt man in der Zellkultur schnell an seine Grenzen. Insbesondere die Krebsforschung ist in hohem Maße auf sogenannte Mausmodelle für die Ursachenforschung und für die Entwicklung von neuen Therapien angewiesen. Die Zellen innerhalb eines Tumors tragen viele verschiedene genetische Veränderungen, was in der Forschung als Tumor-Heterogenität bezeichnet wird und die Hauptursache für Rückfälle nach der Chemotherapie ist. Der Begriff der Tumor-Heterogenität wird jedoch auch verwendet, um zu beschreiben, dass Tumore in Wirklichkeit aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher Zelltypen bestehen. Fast alle Tumoren enthalten neben Krebszellen beispielsweise Immunzellen, Bindegewebszellen und Fettzellen. Die Krebszellen können mit diesen Zellen in ihrer Nachbarschaft und dem Bindegewebe interagieren und kommunizieren. Beispielsweise können viele Krebszellen Immunzellen dazu bringen, sogenannte Proteasen in das Gewebe auszuschütten, die wie kleine Scheren Proteine in ihrer Umgebung zerschneiden. Dadurch erhalten die Krebszellen genügend Platz für ihr Wachstum und können leichter metastasieren (Conlon und Murray 2019). In den vorherigen Kapiteln haben wir beschrieben, dass viele Tumorerkrankungen von krebsfördernden Entzündungsreaktionen verursacht oder zum Wachstum anregt werden. Zu diesem Zweck können Krebszellen sogar Substanzen produzieren, die Immunzellen aktivieren. Eine solche Substanz ist beispielsweise Versican, die in erhöhten Mengen von Krebszellen in Tumoren der Brust, des Gehirns, der Eierstöcke, des Magen-Darm-Trakts, der Prostata und in Melanomen (schwarzer Hautkrebs) produziert wird. Versican bindet und aktiviert Zellen des angeborenen Immunsystems und bringt sie dazu, einen für das Tumorwachstum und die Metastasierung hilfreichen Faktor namens TNF-a zu produzieren (Kim et al. 2009). Anhand dieser Daten bekommt man leicht eine Vorstellung von dem Ausmaß der Komplexität einer Tumorerkrankung und den Grenzen der „mausfreien“ Alternativen. Die Haupttodesursache bei Krebserkrankungen sind in 90 % der Fälle Metastasen, und genau hier steht die Entwicklung alternativer Forschungsmethoden vor einem fast unlösbaren Problem. Wenn man nun noch bedenkt, dass bei fast allen Krebserkrankungen auch Hormone, die Er-

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nährung, Begleiterkrankungen und Umweltfaktoren wichtige Rollen spielen, geraten auch die Mausmodelle an ihre Grenzen. Natürlich wäre es ideal, wenn wir die Krebsentstehung direkt im Menschen erforschen könnten. Um die körperliche Sicherheit menschlicher Patienten zu gewährleisten, müssen neue Therapien und Medikamente jedoch zuvor in Mäusen entwickelt und getestet werden. Mögliche Nebenwirkungen sind aufgrund des komplexen Zusammenspiels von Krebszellen, Immunzellen, Bindegewebszellen, Hormonen und der Umwelt nicht vorhersehbar.

Off-target-Effekte Bevor ein neues Medikament in klinischen Studien an Menschen auf seine Verträglichkeit getestet werden kann, müssen sogenannte Off-target-Effekte ausgeschlossen werden. „Off-target“ bedeutet „abseits vom Ziel“ und ist im Grunde eine unerwünschte Arzneimittelwirkung. Man kann ein Medikament im Labor entwickeln und in der Zellkultur in Bezug auf die gewünschten Funktionen testen. Um aber 100-prozentig ausschließen zu können, dass es auch wirklich nur das tut, was es soll, sind Studien an Tieren unverzichtbar. Wohl eines der berühmtesten Beispiele für einen zu spät erkannten Offtarget-Effekt ist Thalidomid. Der Wirkstoff Thalidomid wurde unter dem Namen Contergan ursprünglich als rezeptfreies Schlaf- und Beruhigungsmittel für Schwangere zugelassen und sollte auch gegen die typische Schwangerschaftsübelkeit helfen. In der kurzen Zulassungszeit (1957–1961) kamen dadurch weltweit über 12.000 Babys mit schweren Fehlbildungen und fehlenden Gliedmaßen oder Organen zur Welt (Mujagić et al. 2002). Wie hoch die Zahl der durch zusätzlich durch Contergan verursachten Fehlgeburten ist, ist unbekannt. Grund für diese Katastrophe war die zusätzliche unbekannte Eigenschaft von Contergan, die Neubildung von Blutgefäßen zu unterdrücken. Nahm eine Frau zu Beginn der Schwangerschaft Contergan ein, so konnten sich als Folge der fehlenden Gefäßausbildung insbesondere die längeren Gliedmaßen des Fetus nicht richtig entwickeln. Inzwischen wurden noch viele weitere Wirkmechanismen von Contergan, wie beispielsweise eine entzündungshemmende Wirkung, entdeckt (Eichner et al. 2016). Mittlerweile wird der Wirkstoff Thalidomid sogar unter neuem Namen erfolgreich zur Behandlung von diversen Erkrankungen eingesetzt. Als Krebsmedikament wird Thalidomid beispielsweise bei einer Form von Blutkrebs, dem multiplen Myelom, verwendet. In

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klinischen Studien konnte Thalidomid auch bei anderen Krebsarten positive Ergebnisse zeigen (Kumar et al. 2004). Übrigens hätte der Contergan-Skandal auch durch Studien an Mäusen nicht verhindert werden können. Nachträgliche Untersuchungen zeigten, dass Mäuse, anders als Primaten, selbst bei extrem hohen Wirkstoffkonzentrationen keine Fehlbildungen oder erhöhte Fehlgeburtsraten zeigten. Heute machen die strengen Regeln bei der Testung und Zulassung von neuen Arzneimitteln ein Geschehnis wie den Contergan-Skandal unwahrscheinlich. Insbesondere Medikamente für Schwangere werden heutzutage vor der Zulassung auf mögliche Geburtsergebnisse (beispielsweise Frühgeburten, Fehlgeburten oder Missbildungen) an Primaten in Rahmen von präklinischen Studien auf ihre Unbedenklichkeit getestet (Public Health EU 2019). Dies geschieht zum Schutz der menschlichen Patienten und ist, wie der ConterganFall gezeigt hat, bisher unverzichtbar. Bei Unsicherheiten zum Einsatz von Arzneimitteln in der Schwangerschaft und Stillzeit empfehlen wir Ihnen, Ihren Arzt oder die Seite Embryotox.de zu kontaktieren, auf welcher sämtliche Erfahrungen mit dem Einsatz von Medikamenten in der Schwangerschaft gesammelt und bewertet werden (Embryotox 2019).

Warum Mäuse? Nicht-menschliche Primaten, also Affen, sind im Tierreich unsere nächsten Verwandten und ähneln uns anatomisch, physiologisch und kognitiv am meisten. Gerade darin liegt aber auch das besondere ethische Problem, wenn es um Tierversuche mit ihnen geht. Aufgrund ihrer Intelligenz und komplexen Emotionen sollten Versuche an ihnen unterlassen werden, wenn es keinen zwingenden Nutzen gibt bzw. wenn der mögliche Nutzen für die Menschheit die Risiken für die Tiere nicht eindeutig überwiegt. Neben diesen ethischen Bedenken gibt es aber auch noch eine ganze Reihe weiterer Gründe, weshalb man in der Forschung bevorzugt Mäuse verwendet, obwohl sie uns auf den ersten Blick nicht sonderlich ähnlich scheinen. Zum Beispiel kennen wir ihr gesamtes Genom und können sie genetisch verändern. Die beste Möglichkeit, um herauszufinden, wofür ein Gen da ist, ist, es auszuschalten und zu beobachten, was mit der Maus passiert (Smithies 2005). Für diese „Knock-out“-Mäuse erhielten die drei Wissenschaftler Mario Capecchi, Oliver Smithies und Martin J. Evans im Jahre 2007 den Nobelpreis für Medizin. Ein Indiz für den immensen Nutzen dieser Methode für die medizinische Forschung.

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Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Mäuse zwar ebenfalls Säugetiere, dafür aber sehr klein sind und sich sehr schnell vermehren. Es ist wesentlich einfacher, einen sozialen Verband von sechs Mäusen in einem Käfig mit Häuschen, Buddeltunnel und Nestwatte zu halten als das mit einem größeren Tier möglich wäre. Dazu kommt die relativ kurze Generationszeit der Tiere, also die Zeit, die es dauert, bis eine Maus ihre Jungen bekommt und diese selbst fruchtbar werden. Wissenschaftler müssen also nicht mehrere Monate oder Jahre warten, um ein nächstes Experiment beginnen zu können. Seit Jahrzehnten existieren gezüchtete Mausstämme in Forschungslaboren auf der ganzen Welt, die über einheitlich katalogisierte Merkmale und Eigenschaften verfügen. Dies ist ein wichtiger Punkt für wissenschaftliche Studien, da diese Mäuse sich genetisch ähnlicher sind als beispielsweise eine beliebige Menschengruppe. Auf diese Weise werden die Studien international vergleichbar und die genetische Ähnlichkeit der Tiere erlaubt es Wissenschaftlern, weniger Versuchstiere zu verwenden, um statistisch signifikante Aussagen treffen zu können. Ein häufiger Kritikpunkt an Mausexperimenten ist, dass sich an der Maus erarbeitete Forschungsergebnisse nicht auf den Menschen übertragen lassen. Dies trifft natürlich auf einige Aspekte zu, beispielsweise auf die unterschiedliche Reaktion von Mäusen und Menschen auf bestimmte Krankheitserreger, Medikamente und auf die Tatsache, dass Mäuse weniger genetische „Hits“ für die Krebsentstehung benötigen. Auf anatomischer und zellbiologischer Ebene sind sich Mensch und Maus, abgesehen von ihrem Körperbau, in vielerlei Hinsicht jedoch sehr ähnlich. Da die Genome von Maus und Mensch mittlerweile vollständig entschlüsselt sind, wissen wir, dass es eine genetische Übereinstimmung von sagenhaften 99 % gibt. Zwar ist das Genom der Maus insgesamt 14 % kleiner als unseres, dies betrifft aber nur Abschnitte, die keine Gene bilden. Unsere etwa 20.000 Gene teilen wir vollständig mit den kleinen Nagern. Um ganz genau zu sein, haben Mäuse sogar ca. 1000 Gene mehr als wir Menschen (Mensch: 19.042 Gene und Maus: 20.210 Gene). Dies liegt aber hauptsächlich daran, dass in Mäusen einige Gene doppelt vorliegen. Wir Menschen tragen sogar noch die Gene, die das Wachstum des Schwanzes der kleinen Nager programmieren, nur werden diese Gene bei uns nicht mehr aktiviert (Gregory et al. 2002; Church et al. 2009).

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Welche Anforderungen müssen Tierversuche erfüllen? Wir verfügen in Deutschland über ein sehr gut ausgearbeitet und strenges Tierschutzgesetz, besonders für den Umgang mit Versuchstieren. Wissenschaftler, die einen Tierversuch planen, müssen zuerst einmal ausführlich begründen oder anhand von Literatur belegen, warum keine tierfreien Alternativen zu Verfügung stehen (DRZE 2019). In einer Rubrik des Tierversuchsantrags werden sie explizit aufgefordert, sich in die Tiere zu versetzen und detailliert zu schildern, welche Auswirkungen und Leiden zu erwarten sind. Dieses Vorgehen soll sicherstellen, dass Beschwerden bei den Tieren so früh wie möglich erkannt und gelindert werden können. Mäuse als Versuchstiere dürfen nicht alleine, sondern nur in sozial verträglichen Gruppen gehalten werden und müssen ausreichend Baumaterial und Versteckmöglichkeiten in ihren Käfigen zur Verfügung haben. Sie werden täglich von speziell ausgebildeten Tierpflegern untersucht und versorgt. Regelmäßige spontane Besuche durch einen Amtstierarzt stellen sicher, dass alle Vorschriften eingehalten werden und der Gesundheitszustand der Tiere den Anforderungen entspricht. In enger Zusammenarbeit mit erfahrenen und empathischen Tierärzten werden die Tierversuchsanträge in einem monatelangen Verfahren ausgearbeitet und von einer unabhängigen Ethikkommission geprüft. Der Ethikkommission gehört auch eine Gruppe von Vertretern der Tierschutzorganisationen an, die ihre ethische Beurteilung in den Entscheidungsprozess mit einbringt. Es wäre wünschenswert, dass ähnlich hohe Maßstäbe auch in der industriellen Tierhaltung für die Nahrungsindustrie eingehalten würden.

Gibt es Hoffnung auf eine tierfreie Krebsforschung? Es ist unwahrscheinlich, dass das schwerwiegende ethische Problem, das die Verwendung von Tieren zur Erforschung und Heilung menschlicher Krankheiten aufwirft, in naher Zukunft gelöst werden kann. Ein weiteres Problem liegt nämlich in der enormen Datenmenge, die von der biomedizinischen Forschung inzwischen weltweit produziert wird. Gibt man heute den Namen eines einzigen Proteins in die Suchmaschine Pubmed ein, die wir zu Beginn des Buches vorgestellt haben, erhält man meistens viele tausend Einträge (NCBI 2019). Wenn man bedenkt, dass wir ca. 20.000 Proteine besitzen und diese miteinander interagieren und kommunizieren, wird schnell klar, worin das Problem liegt. Die in der biomedizinischen Forschung erarbeitete

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Datenmenge hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, die es Wissenschaftlern unmöglich macht, die Konsequenzen einer medikamentösen Intervention sicher vorherzusagen. Kein Mensch kann die Gewichtungen der unterschiedlichen Interaktionen von Proteinen in einem lebenden Organismus vorhersagen. Leider verfügen wir im Moment über kein anderes ausreichendes System, als Krebserkrankungen und Therapien im Gesamtkontext eines lebendigen Körpers zu erforschen. Nur in einem vollständigen Organismus können wir untersuchen, welche Stoffe im Zusammenspiel mit unseren Molekülen, Zellen und Organsystemen möglicherweise Krebs verursachen oder ob ein neues Medikament wirklich nur Krebszellen angreift. Die Bemühungen, das Mausmodell zu ersetzen, sind jedoch groß. Die Haltung von Mäusen ist nicht nur enorm zeitaufwändig und teuer, sondern die Mäuse sind für die Erforschung vieler menschlicher Krankheiten, die ein komplexes Zusammenspiel aus Umwelt, Genen, Darmflora und Nahrung erfordern, nicht optimal geeignet. Bis wir intelligente Systeme entwickeln, die den kompletten Organismus einer Maus in Zukunft vielleicht ersetzen können, wird der Fortschritt in der biomedizinischen Forschung auch in Zukunft auf sie angewiesen bleiben. Eine neue vielversprechende Forschungsmethode ist das Arbeiten mit sogenannten Organoiden. Organoide sind 3D-Zellkulturen, die versuchen, Tumoren in der Zellkultur möglichst realistisch nachzuahmen. Auf diese Weise können 3D-Gewebe generiert werden, die neuartige Untersuchungen ermöglichen und sogar aus unterschiedlichen Zelltypen bestehen. Ein anderer Forschungsansatz besteht darin, Biopsie-Gewebe aus menschlichen Tumoren direkt über längere Zeit in der Zellkultur am Leben zu erhalten und daran zu forschen oder Therapien zu erproben. Neuartige 3D-Zellkulturen könnten viele Untersuchungen schneller und vielseitiger machen. Patientenproben könnten parallel zu klinischen Behandlungen im Labor auf die Wirksamkeit von verschiedenen Medikamenten getestet werden. Aber auch mit diesen Organoiden wird es in Zukunft nicht gelingen, die komplexen Interaktionen nachzuahmen, die in einem gesamten Organismus beispielsweise für die Metastasierung wichtig sind.

Literatur Church DM et al (2009) Lineage-specific biology revealed by a finished genome assembly of the mouse. PLoS Biol 7:e1000112 Conlon GA, Murray GI (2019) Recent advances in understanding the roles of matrix metalloproteinases in tumour invasion and metastasis. J Pathol 247:629–640

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DRZE (2019) EU-Richtlinien zum Schutz von Versuchstieren. https://www.drze.de/ im-blickpunkt/tierversuche-in-der-forschung. Zugegriffen: 5. Dez. 2022 (https: //eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=LEGISSUM:sa0027& from=DE) Eichner R et al (2016) Immunomodulatory drugs disrupt the cereblon-CD147MCT1 axis to exert antitumor activity and teratogenicity. Nat Med 22:735–743 Embryotox (2019) Arzneimittelsicherheit in Schwangerschaft und Stillzeit: Arzneimittel. https://www.embryotox.de/arzneimittel/. Zugegriffen: 5. Dez. 2022 Gregory SG et al (2002) A physical map of the mouse genome. Nature 418:743 Kim S et al (2009) Carcinoma-produced factors activate myeloid cells through TLR2 to stimulate metastasis. Nature 457:102 Kumar S, Witzig TE, Rajkumar VS (2004) Thalidomid: current role in the treatment of non-plasma cell malignancies. J Clin Oncol 22:2477–2488 Mujagić H, Chabner BA, Mujagić Z (2002) Mechanisms of action and potential therapeutic uses of thalidomide. Croat Med J 43:274–285 NCBI (2019) Home. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov. Zugegriffen: 5. Dez. 2022 Public Health EU (2019) Nichtmenschliche Primaten in Forschung und Unbedenklichkeitsprüfungen. http://ec.europa.eu/health/scientific_committees/opinions_ layman/de/nichtmenschliche-primaten/index.htm. Zugegriffen: 5. Dez. 2022 de Ruiter JR, Wessels LFA, Jonkers J (2018) Mouse models in the era of large human tumour sequencing studies. R Soc Open Biol 8:180080 Smithies O (2005) Many little things: one geneticist’s view of complex diseases. Nat Rev Genet 6:419

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Zusammenfassung Dieses kurze Kapitel fasst die wichtigsten Aussagen des Buches zusammen und gibt Auskunft darüber, wo man bei Fragen rund um das Thema „Krebs“ Hilfe und Informationen finden kann. Viele Krebsmythen sind fest im Bewusstsein der Bevölkerung verankert und verhindern, dass neue Erkenntnisse aus der Krebsforschung Gehör finden und umgesetzt werden. Das neue Prinzip der Krebsentstehung, das sowohl Mutationen als auch Krebsförderer gleichermaßen berücksichtigt, ist immer noch viel zu wenigen Menschen bekannt. Eine weitreichende Aufklärungskampagne ist dringend notwendig, um einen weiteren Anstieg vermeidbarer Krebserkrankungen endlich abzubremsen und unbegründeten Ängsten vorzubeugen. Wir haben uns in diesem Buch auf die häufigsten Lebensumstände und Umweltfaktoren konzentriert, die mit einem erhöhten Krebsrisiko assoziiert wurden und deren Bedeutung auch in Zukunft noch weiter zunehmen wird. Es war uns an dieser Stelle nicht möglich, alle vermeintlich krebsverursachenden oder kontrovers diskutierten Inhaltsstoffe zu besprechen. Für viele der regelmäßig in den Medien erwähnten Gefahrenstoffe, wie beispielsweise das Aluminium in Deodorants oder Lebensmittelverpackungen, gibt es kaum wissenschaftliche Hinweise, dass diese tatsächlich zu einem erhöhten Krebsrisiko beitragen. Im Fall von Aluminium weisen die Forschungsergebnisse stattdessen auf negative Auswirkungen auf das Nervensystem und die Knochenentwicklung hin (DKFZ 2019a). Der Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) empfiehlt daher, sicherheitshalber keine salzigen oder sauren Lebensmittel mit Aluminium zu verpacken oder zu erhit© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3_17

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zen. Brezeln und Laugengebäck können allerdings höhere Aluminiumkonzentrationen aufweisen, da das Hagelsalz Aluminiumbleche angreift. Eine Zusammenfassung der häufigsten widerlegten Krebsmythen und viele andere wichtige Informationen rund um das Thema „Krebs“ sind im Internet auf der Seite des Krebsinformationsdienstes des Deutschen Krebsforschungszentrum zusammengestellt (DKFZ 2019b). Einige Substanzen aus unserer Umwelt, wie beispielsweise die chemischen Verbindungen in angebrannten Speisen oder inhalierte Schadstoffe, sind in der Lage, unsere DNA direkt zu schädigen. Dennoch ist die alleinige Wirkung dieser potenziell krebserregenden Stoffe deutlich geringer als wir intuitiv vermuten. Dies liegt an den extrem zuverlässigen und mehrschichtigen Schutzmechanismen unseres Körpers, die wir in diesem Buch vorgestellt haben. In unserem Körper entstehen jeden Tag Millionen Schäden an Genen und Proteinen, die meist direkt nach ihrer Entstehung erkannt und repariert oder unschädlich gemacht werden. Selbst wenn dies einmal misslingt, bleibt der Zelle noch immer die Option, in den programmierten Zelltod zu steuern. Und auch Zellen, bei denen dieser Schutzmechanismus ebenfalls versagt, müssen danach erst noch den extrem wachsamen Immunzellen entkommen, um tatsächlich zur Krebszelle zu werden. Vereinzelte DNA-Schäden können das Krebsrisiko erhöhen, indem sie gewissermaßen als Nährboden für mögliche Tumorerkrankungen dienen. Das größte Krebsrisiko kann sich allerdings erst dann vollends entfalten, wenn wir unsere wichtigsten Schutzmechanismen dauerhaft schädigen oder Krebszellen durch Krebsförderer zum Wachstum anregen. Erst dann kann von irreparablen genetischen Schädigungen eine direkte Gefahr ausgehen. Es ist daher sinnvoll, krebserregende Substanzen und Umwelteinflüsse zu meiden. Den langfristig bedeutenderen Beitrag zu einem krebsfreien Leben können wir aber vor allem dadurch erzielen, dass wir unser Immunsystem und unseren Stoffwechsel gesund halten und besonders gefährliche chronische Entzündungen besiegen. Der Einfluss von klassischen Karzinogenen auf die Krebsentstehung könnte angesichts der schätzungsweise 10.000 genetischen Veränderungen, die sich täglich allein durch die Aktivität unseres Stoffwechsels in jeder einzelnen Zelle ereignen, schwindend gering sein. Die durch Stoffwechselvorgänge und Entzündungsreaktionen in unserem Körper produzierten reaktiven Substanzen übertreffen in ihrer Menge die aus der Umwelt aufgenommen Karzinogene bei weitem. Bisher ist es deshalb nur bei sehr wenigen Krebsarten gelungen, diese mit bestimmten krebserregenden Stoffen in Verbindung zu bringen. Zigarettenrauch und die chemischen Verbindungen, die bei starkem Erhitzen von Lebensmitteln entstehen, scheinen sogar eine besondere Ausnah-

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me darzustellen. Die meisten anderen genetischen Veränderungen entstehen durch Prozesse in unserem Körper, die wir zwar nicht verhindern, aber zumindest teilweise durch unseren Lebensstil beschleunigen oder verlangsamen können. Wir werden uns also niemals vollständig vor Mutationen schützen können. Dieses Wissen macht insbesondere Präventionsmaßnahmen wichtig, die darauf abzielen, Krebsförderer zu eliminieren und das Immunsystem zu stärken. Zudem befreit dieses Wissen Krebspatienten von Schuldfragen, denn niemand wird jemals verhindern können, dass Stoffwechselprodukte, die zwangsweise in einem metabolisch aktiven Körper entstehen, Schäden verursachen. Und niemand kann verhindern, dass Reparaturprozesse – wie jeder andere biologische Prozess in der Natur – einer gewissen statistischen Fehlerrate unterliegen. Diese Erkenntnisse haben in den letzten Jahrzehnten unsere Sicht auf die Krankheit Krebs entscheidend verändert. Die Vorstellung von Krebs als Krankheit, die ausschließlich durch Genmutationen in einer einzelnen Körperzelle entsteht, ist längst überholt. Selbst Mäuse, die genetisch so verändert wurden, dass sie eine oder sogar mehrere krebsverursachende „Driver-Mutationen“ in jeder einzelnen Zelle ihres Körpers tragen, entwickeln nur sehr wenige Tumore, und dies meist auf einzelne Organsysteme beschränkt. Den allermeisten Zellen gelingt es also noch nicht einmal, sich zu Krebszellen zu entwickeln, wenn sie mehrere hochgefährliche genetische Veränderungen tragen. Dies geschieht in der Regel erst dann, wenn krebsfördernde Einflüsse hinzukommen, die das Wachstum von vorgeschädigten Zellen fördern und dadurch interne Schutzmechanismen der Zellen außer Kraft setzen. Erst auf diese Weise können aus genetischen Veränderungen mit einer verlässlichen Wahrscheinlichkeit Krebserkrankungen entstehen. Diese Erkenntnis ist extrem wichtig, um so viele Krebserkrankungen wie möglich zu vermeiden und Krebsvorläuferstufen möglichst effektiv auszubremsen. Dieser neue Wissensstand erklärt aber auch, warum es schwierig ist, einzelne Substanzen mit der Entstehung von Krebskrankheiten in Verbindung zu bringen, selbst wenn sie die Fähigkeit besitzen, DNA-Mutationen zu verursachen. Da die gefährlichsten und einflussreichsten Krebsförderer unserer Zeit keine klassischen Karzinogene sind, entgehen sie den üblichen Untersuchungsmethoden (Weinberg 2014). Wir müssen Krebsförderer also überall dort suchen, wo Krebserkrankungen gehäuft mit bestimmten Lebensgewohnheiten oder Umweltfaktoren auftreten.

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Krebsförderer können auf vielfältige Art und Weise in Erscheinung treten, beispielsweise in Form von chronischen Entzündungen, Nahrungsmitteln oder körpereigenen Hormonen. Vor allem chronische Entzündungen besitzen die Fähigkeit, DNA-Mutationen direkt zu verursachen und sind in der Lage, das gesamte Spektrum der Krebsentstehung abzudecken. Es ist daher ein besonders wichtiger Aspekt der Krebsprävention, gefährliche Entzündungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Wenn wir die Mechanismen verstehen, die zur Entstehung von Krebserkrankungen beitragen, können wir ihnen so frühzeitig wie möglich entgegenwirken. Das Wissen um die Komplexität und Individualität von Krebserkrankungen erklärt auch die vielen Schwierigkeiten und Herausforderungen der modernen Krebsforschung. Es liegt ein enormes Stück Arbeit vor allen Krebsforschern und Ärzten dieser Welt, für jede Krebserkrankung und jeden Patienten die bestmögliche Therapie zu finden. In einigen Ländern der entwickelten Welt existieren bereits Zentren für personalisierte Medizin oder befinden sich im Aufbau. Eine beispielhafte personalisierte Behandlung von Krebspatienten findet man momentan beispielsweise am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York. In Deutschland entstehen ebenfalls immer mehr Zentren für personalisierte Medizin, wie das ZPM in Tübingen, Freiburg, Heidelberg und Ulm, die in Zukunft über ganz Deutschland verteilt sein werden (ZPM Zentren für personalisierte Medizin 2022). Große interdisziplinäre Krebszentren, wie die Nationalen Zentren für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg, Tübingen, Ulm, Freiburg und Berlin, testen in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) neueste Therapieansätze in klinischen Studien und wählen die bestmöglichen Behandlungsmethoden aus (NCT Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg 2019). Das deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat in Zusammenarbeit mit der Deutschen Krebshilfe ein Nationales Krebspräventionszentrum gegründet (NCPC), das Patienten in Zukunft über ihr persönliches Krebsrisiko aufklären und gleichzeitig individuelle Präventionsstrategien erarbeiten soll (DKFZ 2022). Wir hoffen, dass ein wachsendes Verständnis für Krebserkrankungen in der Bevölkerung, gemeinsam mit dem Aufkommen der personalisierten Medizin und Präventionszentren, die düsteren Prognosen der WHO keine Realität werden lässt. Fast alle Menschen haben ein großes Interesse an ihrer Gesundheit und würden an Präventionsmaßnahmen teilnehmen. Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass Präventionsmaßnahmen und Forschungsergebnisse auch in der Bevölkerung ankommen.

Schlusswort

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Literatur DKFZ (2019a) Krebsmythen: Keine Angst vor Gerüchten. https://www.krebs informationsdienst.de/vorbeugung/risiken/mythen.php#inhalt20. Zugegriffen: 7. Mrz. 2023 DKFZ (2019b) Krebsrisikofaktoren: Karzinogene erkennen und vermeiden. https:// www.krebsinformationsdienst.de/vorbeugung/risiken/index.php. Zugegriffen: 7. Mrz. 2023 DKFZ (2022) Nationales Krebspräventionszentrum. https://www.dkfz.de/de/ nationales-krebspraeventionszentrum/nationales-krebspraeventionszentrum.php. Zugegriffen: 7. Mrz. 2023 NCT Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg (2019) https://www. nct-heidelberg.de/. Zugegriffen: 7. Mrz. 2023 Weinberg RA (2014) The biology of cancer, 2. Aufl. Garland Science (Taylor & Francis Group), New York. ISBN 978-0-8153-4220-5. ZPM Zentren für personalisierte Medizin (2022) https://zpm-verbund.de. Zugegriffen: 7. Mrz. 2023

Stichwortverzeichnis

A

Abstoßungsreaktionen, 34 Achtsamkeit, 174 Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, 174 Adipokine, 103 Adipositas, 96 Adrenalin, 124, 164 AIDS, 51 Alkohol, 62, 66 Alkoholkonsum, 86 Allergieauslöser, 43 Allergien, 43 Altern, 114 Angiogenesehemmer, 124 Angst, 164 Antibiotika, 68 Antioxidationsmittel, 184 Aspirin, 57, 178, 180, 181 Atemwegsinfektionen, 153 Autoimmunerkrankungen, 22 Autophagie, 113, 114

Bauchspeicheldrüsenentzündung, 69 Bauchspeicheldrüsenkrebs, 99, 111, 114, 120, 173, 178, 180 Befruchtung, 105 Beta-Blocker, 168 Bewegungsmangel, 120 Bindemittel, 102 Bisphenol A, 65 Blasenkrebs, 47, 55, 178 Blutgefäßbildung, 124 Bluttransfusionen, 85 BMMFs (Bovine Meat and Milk Factors), 156 Body Mass Index, 97 braunes Fettgewebe, 108 BRCA1/2, 65, 80, 82 Brustkrebs, 10, 22, 47, 64, 97, 114, 120, 122, 124, 125, 150–152, 154, 155, 158, 166, 167, 178, 187 Burkitt-Lymphom, 48

C B

Ballaststoffe, 145 Basalzellkarzinom, 56

Carboxymethylcellulose, 102 Checkpoint-Inhibitoren, 227 Chlamydien, 48

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Natur 2023 H. Heikenwälder, M. Heikenwälder, Der moderne Krebs – Lifestyle und Umweltfaktoren als Risiko, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66576-3

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chronisch lymphatische Leukämie, 48 chronische Entzündungen, 45 Cortisol, 164 Cyclooxygenase-2, 179

Stichwortverzeichnis

Gebärmutterhalskrebs, 21, 52 Gebärmutterkrebs, 114, 120 Geburt, 68 Gehirntumore, 81, 82 genetische Instabilität, 123 Gentherapie, 225

D

Darmflora, 170 Darmkrebs, 22, 47, 55, 57, 111, 120, 126, 145, 146, 150–152, 154, 158, 167, 178 Darmspiegelung, 146 Depressionen, 163, 170, 172 Dexamethason, 56 Diabetes Typ 2, 109 Dopamin, 124 Driver-Mutationen, 78

H

Hautkrebs, 47, 125 Helicobacter pylori, 48, 53 Hepatitis, 66 Hepatitis B Virus, 66 HIV, 51 Hodgkin-Lymphom, 48, 52 Hormone, 122 humane Herpes-Viren, 54 humane Papilloma Viren, 149 Humane-Leukozyten-Antigene, 34

E

Eierstockkrebs, 10, 47, 120, 169, 178 Eizellen, 93 Emotionen, 174 Endometriumkarzinom, 169 Entwicklungsphase, 81 entzündliche Darmerkrankungen, 45 Entzündung, 37, 40, 44, 65, 125 Epigenetik, 106 Epstein-Barr-Virus, 48, 54, 158 Erhitzen, 151 Extended-Access-Studien, 222

I

Immunsuppressiva, 53 Immunsystem, 125 Immuntherapie, 225 Impfung, 149 inneres Bauchfett, 109 Insulin, 109, 114, 122 Insulin-Resistenz, 109 In-Vitro-Fertilisation, 106

K F

Fette, 112 Fettleber, 66, 109 Field Cancerization, 75 Flüssigbiopsie, 223

G

Gallenblasenkarzinom, 71 Gallensteine, 71

Kaiserschnitt, 68 Kaposi-Sarkom, 52, 54 Karzinogene, 59, 61 Katecholamine, 124 Knock-out Mäuse, 245 Körpergröße, 89 Kortison, 56, 164 Krebsvorläufer, 220 Krebswachstum, 121 Kuhmilch, 150

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Stichwortverzeichnis L

N

Langlebigkeit, 92 Langzeitstillen, 153 Lebenserwartung, 89 Lebensspanne, 113 Leberentzündung, 66 Leberkrebs, 19, 21, 52, 99, 109, 110, 114, 167 Leberzirrhose, 66 Leptin, 103 Leukämie, 173 Liquid biopsy, 223 Lungenkrebs, 44, 78, 111, 120, 150, 169, 178, 180 Lungenkrebsrisiko, 44 Lymphom, 53

nächtliche Licht-Exposition, 168 Nahrungsergänzungsmittel, 187 Nahrungsknappheit, 92 Nestschutz, 153 neurodegenerative Erkrankungen, 158 nicht-steroidale Entzündungshemmer, 179 Nierenkrebs, 55, 99 Non-Hodgkin-Lymphom, 52, 56

M

Magengeschwür, 53 Magenkrebs, 21, 111, 120 Magnesiummangel, 187 malignes fibröses Histiozytom, 71 MALT Lymphom, 48 Mausmodelle, 243 Melanom, 47, 55, 56, 167, 169, 227 Melatonin, 167 Menopause, 97 Menstruationszyklen, 155 Mesotheliom, 173 metabolisches Syndrom, 102 Metastasierung, 44 Mikrometastasen, 72 Mikroplastik, 71 Morbus Crohn, 22, 45, 102 Multiple Sklerose, 153, 155 multiples Myelom, 48 Mund- und Rachenkrebs, 52, 54, 62 Muttermilch, 153

O

Off-target-Effekte, 244 Omega-3 Fettsäuren, 112 Onkogene, 80 OP-bedingte Wundheilungsreaktion, 223 opportunistische Krebserkrankungen, 52 Organtransplantationen, 34 Östrogen, 63, 97, 122

P

p53, 81 Pankreaskrebs, 22 Pankreatitis, 69 Passenger-Mutationen, 78 personalisierte Medizin, 221 Plasmide, 156 Plastik, 71 Plattenepithelkarzinom, 55, 56 Polysorbat-80, 102 Präzisionsmedizin, 221 Prednisol, 56 Prostatakrebs, 19, 22, 47, 114, 120, 124, 126, 150, 166, 167, 169, 173, 178 Proteasen, 243 pulmonares Fibrosarkom, 124

260 R

Radikale, 184 Rauchen, 86, 167 Resilienz, 166 Rindfleisch, 151 rotes Fleisch, 150 Rückfall, 225

Stichwortverzeichnis

Thermopapiere, 65 Tierversuche, 241 Trinkflaschen, 65 Tumor Heterogenität, 225 Tumormicroenvironment, 121 Tumorsuppressor-Gene, 80

U S

Sauerstoffverbindungen, 46 Säuglingsnahrung, 152 Schichtdienst, 167 Schicksalsschläge, 166 Schlafmangel, 167 Schlafstörungen, 167 Schwangerschaft, 105 schwarzer Hautkrebs, 55, 78, 167, 169, 227 sozialer Stress, 165 Speiseröhrenkrebs, 111, 173 Spontanheilung, 55 Standard-Therapie, 220 Sterblichkeit, 19 Stillen, 159 Stillzeit, 154, 155 Stoffwechselrate, 90 Stressabbau, 174 Stresshormone, 164, 174

Übergewicht, 86 Ulcerative Kolitis, 22, 45 UV-Strahlung, 61, 78

V

Vitamin C, 184 Vitamin D, 158 Vitamine, 187

W

Wachstumsfaktoren, 122 Warburg-Effekt, 110 Wechseljahre, 93, 155 Wunderheilung, 55 Wundheilungsreaktion, 44, 72

Z T

Telomerase, 86 Telomere, 85

Zigarettenrauch, 60, 62, 78 zirkulierende Tumorzellen, 223 Zucker, 109–111, 122 Zufriedenheit, 174