Konstitutionalismus in Europa: Entwicklung und Interpretation 9783412216726, 9783412222345

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Konstitutionalismus in Europa: Entwicklung und Interpretation
 9783412216726, 9783412222345

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HISTORISCHE DEMOKRATIEFORSCHUNG Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung Band 7 Herausgegeben von Detlef Lehnert Wissenschaftlicher Beirat: Peter Brandt, Wolfram Pyta, Dian Schefold

Detlef Lehnert (Hg.)

KONSTITUTIONALISMUS IN EUROPA Entwicklung und Interpretation

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Die universelle Republik (Ausschnitt). Lithografie (um 1848) von Frédéric Sorrieu. Unter dem Motto der Brüderlichkeit pilgern die Nationen der Welt friedlich zur Statue der Menschenrechte. Im Vordergrund die zerbrochenen Fürstenkronen und -wappen. © bpk

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22234-5

Inhalt ERSTER TEIL: GRUNDLAGEN UND KONZEPTIONEN Detlef Lehnert Europäischer Konstitutionalismus. Geschichte, Theorie, Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Peter Brandt Von der Konstitutionalisierung der Staaten Europas zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Hans Vorländer Abschied vom methodologischen Etatismus. Vorüberlegungen zu einer Entwicklungsgeschichte des Konstitutionalismus in Europa . . . . . 47 Peter Schiffauer Zehn Thesen für ein pragmatisches Sprachverständnis in den Verfassungswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 ZWEITER TEIL: FACHDISZIPLINEN: RECHTS-, POLITIK- UND GESCHICHTSWISSENSCHAFT Kathrin Groh Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht. Methodenpluralismus und Methodenintegration im Konstitutionalisierungsprozess . . . . . . . . . 71 Dian Schefold Staatsrechtslehre und Verfassungsgeschichte zwischen normativer und sozialwissenschaftlicher Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Detlef Lehnert Polity-Forschung: Politologie als Verfassungswissenschaft. Eine Bestandsaufnahme des „Mainstreams“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Ewald Grothe Strukturen als Ordnungsmodell in der Verfassungsgeschichte . . . . . . . . 137 Hartwig Brandt Verfassungsgeschichte. Standort und Probleme einer historischen Disziplin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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DRITTER TEIL: „VERFASSUNGSKULTUR“ – EINE INTERDISZIPLINÄRE DEBATTE Peter Häberle „Verfassungskultur“ als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Hans Vorländer „Verfassungskultur“ aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft. . 187 Reinhard Blänkner „Verfassungskultur“. Überlegungen aus historischkulturwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Hans Boldt Weimar: Verfassung ohne Verfassungskultur?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 VIERTER TEIL: LÄNDERSTUDIEN: DEUTSCHLAND, GROSSBRITANNIEN, BELGIEN UND ITALIEN Arthur Schlegelmilch Perspektiven und Grenzen des „deutschen Konstitutionalismus“. . . . . . 241 Lothar Machtan Star-Monarch oder Muster-Monarchie? Zum politischen Herrschaftssystem des Großherzogtums Baden im langen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Hans-Christof Kraus Zwischen Parlament und Prärogative – Monarchie und Verfassung in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Stefaan Marteel Der verlorene Geist von 1830. Konstitutionalismus und Politik in Belgien im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Werner Daum Verfassungsgeschichte Italiens im langen 19. Jahrhundert. Schlüsselkonzepte und neue Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

DETLEF LEHNERT

Europäischer Konstitutionalismus Geschichte, Theorie, Perspektiven1

Jener Carl Schmitt, auf den letztlich auch die klassische Böckenförde/HuberKontroverse über deutschen Konstitutionalismus zurückführt, diente sich dem NS-Regime mit ausdrücklicher Verabschiedung einer „hundertjährigen Verwirrung des bürgerlichen Konstitutionalismus“ an.2 Von der polemischen Formulierung und der nicht gerade originellen Charakterisierung als „bürgerliche“ Epoche abgesehen, ist die zeitliche Verortung des realhistorischen Ursprungs sogar plausibel: Die Pariser Julirevolution 1830, die belgische Verfassung 1831, die englische Wahlrechtsreform 1832 und auch oppositionelle Tendenzen wie z.B. die Gründung von Mazzinis „Junges Italien“ (1831) und das Hambacher Fest (1832) kündigten auf jeweils unterschiedliche Weise einen Epochenwechsel an. Auch zuvor hatte es zukunftsweisende Verfassungsbewegungen gegeben, prominent in der nordamerikanischen Gründerzeit nach 1776/87 und der Französischen Revolution seit 1789. Von dieser gingen auch noch in der napoleonischen Ära grenzüberschreitende Impulse für Staatsreformen in zahlreichen Ländern aus.3 Aber die sich anschließende Restaurationsära nach 1815 hat zunächst deren Dynamik gebrochen. Folglich macht es wohl am meisten Sinn – und schlägt sich auch im Epochenschwerpunkt der verfassungsgeschichtlichen Betrachtungen dieses Bandes nieder –, das europäische Zeitalter des Konstitutionalismus mit den 1830er Jahren beginnen zu lassen. Seither intensivierte sich in einem zuvor durch Staatshandeln und Ideentransfer verbundenen Europa auch die ökonomisch-gesellschaftliche Vernetzung, sogar im Wortsinne: mit der allmählichen Errichtung des Eisenbahnnetzes im Zuge einer nunmehr von der britischen Insel auf den 1

Es sei vorab darauf hingewiesen, dass im Ersten Teil neben dieser Einführung auch die Beiträge von Peter Brandt und Hans Vorländer weitere konzeptionelle Überlegungen präsentieren. 2 Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934, S. 49. 3 Vgl. Peter Brandt u.a. (Hg.),
Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006; Werner Daum u.a. (Hg.), a.a.O., Bd. 2: 1815–1847, Bonn 2012.

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Kontinent übergreifenden Industrialisierung. Sie vollzog sich dort zunächst in Belgien, mit dessen konstitutionellem somit auch ein neuer ökonomischer Progressismus korrespondierte. Die Revolution von 1848/49 lässt sich zwar in manchem als Vorgriff auf die weiteren Schritte zu einer späteren Demokratisierung begreifen.4 Doch ähnlich den USA jedenfalls seit der Jacksonian Democracy wurde in Europa zu diesem Zeitpunkt nur die – ebenfalls bundesstaatliche und in sich pluralistische – Schweiz nach damaligem Verständnis bereits eine demokratische Republik, die über den sonst anzutreffenden Konstitutionalismus hinauswies. Nach dem Sturz Napoleons III. in der Kriegsniederlage gegen Bismarcks Preußen-Deutschland trat insoweit Frankreich 1870 mit seiner Dritten Republik hinzu. Diese konnte sich freilich noch zumindest bis zu den BoulangerKrisen der 1880er Jahre, wenn nicht gar der Dreyfus-Affäre der Folgedekade massiven inneren Anfechtungen ausgesetzt sehen. Einen stärker länderübergreifenden Durchbruch zur parlamentarischen Demokratisierung, sei es mit oder auch im Gegensatz zu monarchischer Repräsentation, brachten erst die 1910er Jahre. Dies geschah mit oder auch ohne unmittelbaren Einfluss des Ersten Weltkriegs – und nicht allein in Kriegsverliererstaaten, sondern z.B. auch in den Niederlanden und Schweden. Wenn zum geschichtlichen Auftaktereignis der Pariser Julirevolution 1830 der entsprechend symbolträchtige Beginn der Endphase des so verstandenen konstitutionellen Zeitalters in Europa gesucht wird, dann ist die Entmachtung des britischen Oberhauses im Jahre 1911 – und damit einer letzten Bastion des monarchischen Vetos – solche Entsprechung in einem Großstaat.5 Spätestens im bald darauf folgenden Weltkrieg stand keines auch der vormals jahrzehntelang recht stabilen konstitutionellen Systeme noch in der Blüte seiner Effektivität und Legitimität. Dass zahlreiche Demokratien in den 1920er und 30er Jahren von Diktaturen abgelöst wurden6, erfolgte nicht als Restauration des konstitutionellen Systems aus dem 19. Jahrhundert. Vielmehr bedeutete es den Übergang zu stärker massengestützten Diktaturmodellen neuen Typs, dem verfassungs- und politiktheoretisch auch der Antikonstitutionalismus von Carl Schmitt angehörte.

4 Vgl. Dieter Dowe u.a. (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998. 5 Dazu der Beitrag von Hans-Christof Kraus in diesem Band. 6 Vgl. Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008.

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1. Von Böckenförde zu anderen Konstitutionalismus-Thesen In seinem klassischen Text „Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert“7 hat der Staatsrechtler und spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde der verfassungsgeschichtlichen Gesamtdarstellung von Ernst Rudolf Huber8 eine Leitfrage entnommen: „ob die deutsche konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts, wie sie sich vor allem in der preußischen Verfassung von 1850 ausgeformt habe, eine selbständige politische Form und in sich ruhende Ordnung neben Absolutismus und Parlamentarismus gewesen sei oder nur ein Kompromiß und eine Übergangserscheinung zwischen diesen beiden reinen Modellen politischer Ordnung.“ Bei Huber wird diese Frage letztlich im konstitutionell eigenständigen Sinne eines „,systemgerechten Modells verfassungspolitischer Selbstgestaltung‘“ beantwortet (S. 112). Dabei gerät auch ins Blickfeld, dass häufig „Verfassung nicht als Konstitution, sondern mit Otto Brunner als die politisch-soziale Bauform verstanden“ wird (S. 114), also über staatsrechtliche Gesichtspunkte hinaus ebenso historisch-politische zu berücksichtigen sind. Erwähnt wird aus der Schlussakte des Wiener Kongresses von 1814/15 der Art. 579 und als eine Restaurationsordnung des monarchischen Prinzips interpretiert: „Der König behält die Fülle der Staatsgewalt bei sich ... Volk und Volksvertretung bedürfen für jedes politische Recht, das sie beanspruchen, eines verfassungsrechtlichen Titels“ (S. 115). Im Gefolge dieser als fortgeltend reklamierten und so auch praktizierten ursprünglichen Herrschergewalt sind dann Volks- bzw. Parlamentsrechte „einseitig vom König aus der Fülle seiner Staatsgewalt gewährt bzw. oktroyiert“ (S. 117). Allerdings schließt die Exekutiv- nicht die Legislativgewalt mit ein, wie es u.a. Art. 62 Abs. 2 der bis 1918 gültigen preußischen Verfassung von 1850 besagte: „,Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetz erforderlich‘“ (S. 118). Da eine dieser 7 In: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976, S. 112–145 (daraus Seitenzahlen dieses und der nächsten beiden Absätze). 8 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, Stuttgart 1963, S. 4 ff. (als Bezugstext Böckenfördes). 9 Im Wortlaut: „Da der Deutsche Bund, mit Ausnahme der freien Städte, aus souveränen Fürsten besteht, so muß dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge die gesammte Staats-Gewalt in dem Oberhaupt des Staates vereinigt bleiben, und der Souverain kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden“; zit. nach Böckenförde (wie Fn. 7), S. 135/Anm. 12 (Fn. bezieht sich nachfolgend stets auf Fußnoten dieses Bandes, Anm. verweist zur Unterscheidung auf andere Publikationen).

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Kammern das aristokratisch dominierte Herrenhaus bildete, war schon darin eine monarchische Prädominanz gegenüber dem besitzbürgerlich geprägten Abgeordnetenhaus des Dreiklassenwahlrechts angelegt. Überdies wurde in der Beteiligung an der Legislative „die Volksvertretung auf den Bereich der persönlichen und gesellschaftlichen Interessen der Bürger beschränkt, die staatlichen und politischen Fragen indessen, etwa der Verwaltungsorganisation und Heeresverfassung, dem monarchischen Verordnungsrecht vorbehalten. Die konstitutionelle Verfassung bezog sich, so gesehen, nur auf das Volk in seiner Eigenschaft als bürgerliche Gesellschaft, wie es Otto Hintze formuliert hat“ (S. 119).10 Insgesamt blieb die „königliche Prärogative“ im Kerngehalt „einer Dreiheit von innerer Exekutivgewalt (monarchische Verwaltung), auswärtiger Gewalt und Kommandogewalt als einem monarchischen Reservat“ bestehen: „Was Preußen neben seinem Beamtentum und der Staatsgesinnung seiner Herrscher groß gemacht hatte, das Heer, haben Preußens Könige bis zum Ende der Monarchie nicht aus der Hand gegeben“ (S. 122). Allein die lange Bestandsdauer könne nicht die Eigenständigkeit des Typus hinlänglich begründen, denn „auch ein Übergangs- oder Zwischenzustand kann lange währen“; es sei darüber hinaus vor allem „ein eigenes, einheitsverbürgendes politisches Formprinzip“ und „eine eigene politische Legitimität“ erforderlich (S. 124). Wie insbesondere der preußische Verfassungskonflikt zeigte, war das Budgetrecht „nicht eine Frage des Prinzips, sondern eine Frage der Umstände und politischen Konstellationen“ (S. 129). Ohnehin war inzwischen das Gottesgnadentum „als Legitimitätsbegründung ernstlich nicht mehr vollziehbar“ (S. 131). Zuletzt nähert sich Böckenförde noch Huber mit der Erwägung an, „ob die konstitutionelle Monarchie aber nicht unabhängig von der Frage ‚Monarchie‘ oder ‚Volkssouveränität‘ aus sich eine eigene geschichtliche Legitimität gehabt hat, die ihr eine eigene politische Formkraft verlieh – ähnlich der englischen Verfassung?“, und sieht „Ansätze“ dazu (S. 132). Mangels annähernd solcher (vor allem englischen) Kontinuitätslinie wird zu einem „geschichtlichen Ort“ für die „deutsche konstitutionelle Monarchie“ von Böckenförde hervorgehoben: „daß sie ein verfassungsrechtliches Gehäuse bereitstellte, das einen kontinuierlichen Übergang vom monarchischen in das demokratische Zeitalter ermöglichte, ohne einen revolutionären Bruch und ohne Entartung nach Art der restaurierten oder der Juli-Monarchie in Frankreich“ (S. 133). Ebenso wie die mit unverkennbarem Wohlwollen für die Eigenart der konstitutionellen Monarchie geschriebene Darstellung Hubers vermag aus heuti10 Bezugnehmend auf Otto Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung (1911), in: Ders., Staat und Verfassung, 2. Aufl. Göttingen 1962, S. 377.

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ger Perspektive die Lesart von Böckenförde nicht zu befriedigen. Es kann aus vorrangigem Interesse an Haupttendenzen der tatsächlichen nationalstaatlichen Entwicklung (bis 1918 oder 1933/45) gerechtfertigt sein, außerpreußische Varianten nur beiläufig mit zu behandeln.11 Der befremdende Terminus einer französischen „Entartung“ des Monarchietypus mag durch Einbeziehung belgischer Vergleichsaspekte kompensiert erscheinen. Dabei wird auf die – modernen Konstitutionalismus bezeugende – Einbindung der Krone und des Heeres in die Verfassung hingewiesen (S. 115 u. 121).12 Unverständlich ist aber zum einen der Verzicht auf die typologische Gegenüberstellung der herangezogenen preußischen Verfassung zur ebenfalls bis 1918 geltenden Reichsverfassung von 1871. Deren Zwiespalt war offenkundig: Sie blieb auf die (z.B. Grundrechts-)Ergänzung durch einzelstaatliche Verfassungen angelegt und wurde von Bismarck zwecks eigener Dispositionsräume ohne eindeutige Kompetenzzuschreibungen belassen. Allerdings war die Reichsverfassung von 1871 aus einem gestuften Aushandlungsprozess mit dem (zunächst Norddeutschen) Reichstag hervorgegangen. Als unzureichend vorhanden müssen zum anderen bei Böckenförde die nur punktuellen außerdeutschen Vergleichsaspekte bemängelt werden. Denn ein besonderer „deutscher Typ“ von „konstitutioneller Monarchie“ als Zwischenstufe vor der Parlamentarisierung kann nur historisch-komparatistisch ermittelt werden. Es ist bemerkenswert, dass sogar manche Tageszeitungen in der Revolution von 1848/49 mit der Europäisierung des Vergleichshorizontes schon weiter fortgeschritten waren. Zwar ordnete die liberale (spätere Vossische) „Königlich privilegirte Berlinische Zeitung“ die vorausgehend abgedruckte (oktroyierte) preußische Verfassungsproklamation des 6. Dezember 1848 „als die Vollziehung des Vertrages von Seiten der Krone“ ein. Doch unter der Rubrik „Vereinigtes Deutschland“ wollte man sie ausdrücklich „mit den Verfassungen anderer constitutioneller Staaten vergleichen. Unter den vorhandenen Constitutionen zeichnen sich namentlich die belgische, norwegische, englische, ältere französische und sächsische aus.“ Letztgenannte wurde freilich als „sehr dürftig“ und „in keiner Weise den Ansprüchen der heutigen Zeit“ 11 Vgl. in diesem Band die Fallstudie zu Baden von Lothar Machtan. – Es wird von Böckenförde (wie Fn. 7) immerhin die bayerische Verfassung von 1818 mit Tit. II § 1 zitiert: „Der König ist das Oberhaupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den von ihm gegebenen, in der gegenwärtigen Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus“ (S. 115). Die königlich gewährte, nicht mit einem Parlament vereinbarte Konstitution bleibt insofern auch dort zunächst eine dezidiert monarchische, wenngleich faktisch das Staatsbeamtentum die Regierungsgewalt zwar nicht innehat, jedoch ausübt. 12 Zu Belgien in diesem Band der Beitrag von Stefaan Marteel.

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gemäß ausgesondert. Auch die ältere französische Entwicklung fand keine nähere Betrachtung und war vielleicht nur als Vorgeschichte der belgischen Verfassung erwähnt, während nunmehr die preußische Verfassung „entschieden der belgischen nachgebildet ist“. Die eigene mochte in diesem Vergleich („wenn nicht etwa die noch zu erwartenden Wahlgesetze unverhoffte Beschränkungen bringen“) sogar zunächst „entschieden freisinniger“ anmuten, weil nämlich in Belgien „das Wahlrecht durch einen bedeutenden Census beschränkt“ war. Dies galt auch für Großbritannien, wo jedoch überlebte Regularien durch „eine überaus freisinnige Auslegung“ immer wieder der Zeit angepasst worden seien. Bemerkenswert war die Mitberücksichtigung der norwegischen Verfassung von 1814. Dieser wurde trotz anderer Mängel der – am Ende des Kommentars auch für Preußen eingeforderte – Vorzug in deren § 79 bescheinigt, „daß ein Gesetz, wenn es zum drittenmale vom vereinigten Landtage dem König vergeblich zur Sanktion vorgelegt worden ist, dann auch ohne Königl. Sanktion Gesetzeskraft erhält“. Genau das konnte auch für Großbritannien positiv hervorgehoben werden und durfte somit als Ausgangspunkt für einen sich parlamentarisierenden Konstitutionalismus im Unterschied zum noch akzentuiert monarchischen gelten. Als darüber hinausgreifende Variante erwähnte der betreffende Zeitungsartikel auch, „daß die dessauische Verfassung eine rein republikanische ist, in welcher der Fürst nur als eine historische Reliquie stehen geblieben ist“.13 Schon im Verlauf der Revolution von 1848/49, an die später – im Sinne der hier verwendeten Terminologie – nachkonstitutionelle (demokratische) Verfassungen wie die Weimarer von 1919 wieder anknüpften, galt also: Nunmehr wurden durchaus bereits europäisch vergleichende Kriterien angelegt, wie unterschiedlich abgestufte Formen der Wahlrechtserweiterung und der Parlamentsmacht zu beurteilen waren.14 Zumal eine rein „historistische“ Betrachtung nur aus dem jeweils landesspezifischen Zeitkontext nicht der Gesamtanlage dieses Bandes entsprechen würde, in dem auch öffentlich-rechtliche und politikwissenschaftliche Ansätze vertreten sind: Der synchrone und diachrone (länder- und epochenübergreifende) Vergleich ist selbst eine legitime und fruchtbare geschichtswissenschaftliche Methode. Doch bestätigt der – zunächst auch im Wortsinne nahe liegende, dabei europäische Gewässer überbrückende – Vergleich mit 13 Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 286 v. 7.12.1848, S. 2–4. 14 Dass anders als in späteren Epochen die Schweiz nicht als mögliches Referenzmodell mit erwähnt wurde, liegt einerseits an einer dort 1848 noch offen erscheinenden Situation und andererseits im preußischen (im Unterschied zum süddeutschen) Kontext des Berliner Kommentartextes begründet.

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allen deutschen Nachbarstaaten gerade nicht die Schlussfolgerung Böckenfördes: dass (preußisch-)deutscher Konstitutionalismus zwar keine stabile dritte Verfassungslage ausbildete, jedoch „einen kontinuierlichen Übergang vom monarchischen in das demokratische Zeitalter ermöglichte, ohne einen revolutionären Bruch“. Es mag die Bismarcksche „Revolution von oben“ terminologisch mit Recht anfechtbar bleiben, zumal innerpreußische Legitimitätskrisen gerade umgangen wurden und somit allenfalls ein national-revolutionärer Bruch gegen den Deutschen Bund mit Österreich erfolgte. Aber weder die ruckartige Einführung des allgemeinen Männerstimmrechts (1867/71) auf Reichsebene noch das Ende der – seit 1850 konstitutionell unreformiert gebliebenen – preußischen Monarchie erst in der Revolution von 1918/19 standen realhistorisch für den behaupteten „kontinuierlichen Übergang ... ohne einen revolutionären Bruch“. In der Grundrechtsbasis war auch die preußische Verfassung von 1850 geltungsfortbildend interpretierbar, wie es u.a. der Kommentar von Gerhard Anschütz herausarbeitete.15 Aber in deren Plan of Government blieb das frühkonstitutionelle Gepräge einer Vormacht der Krone mit ihrem Herrenhaus, zusätzlich die soziale Exklusivität des – für sich allein genommen eher kompetenzschwachen – Parlaments mittels des Dreiklassenwahlrechts, weit über den forcierten Gesellschaftswandel der Reichsgründungsdekaden hinaus zementiert. Also trifft wohl beides zu: Insbesondere im Spannungsverhältnis zur Reichsverfassung war gerade die preußische Verfassungslage ein recht beharrungskräftiges Sonderphänomen gegenüber vergleichbaren Entwicklungen in Europa. Aber in solchem inneren Dualismus konnte dies schwerlich ein auch nur halbwegs krisenfester Zustand für viele weitere Generationen sein. Vielleicht steckt im (dann entpolemisierten) Untertitel des erwähnten Schmitt-Textes „Der Sieg des Bürgers über den Soldaten“16 sogar mehr Deutungspotenzial als sonst in der sehr abstrakt gebliebenen Debatte: inwieweit Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert als eigenständige historische Formation oder eher nur als Transitorium zwischen dem Absolutismus des 18. und der Polarität moderner Demokratien und Diktaturen im 20. einzustufen ist. Die „Bürger“ waren im (kontinentaleuropäischen) 19. Jahrhundert eben nicht allein ein Gegenbegriff einerseits zum Adel und andererseits den unterbürgerlichen Volksmassen, sondern auch die Zivilgesellschaftspersonen im Un15 Vgl. Gerhard Anschütz,
Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis. 1. (einziger) Bd., Berlin 1912. 16 Vgl. Fn. 2; zum Hintergrund: Hans-Christof Kraus, Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? – Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Hartung über den preußischdeutschen Konstitutionalismus (1934/35), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 45 (1999), S. 275–310.

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terschied zur Militärstaatssphäre. Der Erste Weltkrieg bedeutete wohl nicht zufällig das Ende der Epoche des europäischen Konstitutionalismus. Zuvor hatten sich auch erst in der länderspezifischen Auseinandersetzung mit der postnapoleonisch „befriedeten“ Restaurationsordnung von 1815 die jeweiligen Konstitutionalisierungsprozesse zu relativ stabilen Verfassungslagen allmählich verdichtet.17 Es bleibt die Tatsache, dass der preußische Militärstaat gerade wegen der Reichseinigungskriege gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) sich kaum in eine zivile Bürgernation integrierte und so Teile des konstitutionellen Dualismus im Kaiserreich und sogar darüber hinaus (Hindenburg!) fortbestehen ließ. Umgekehrt sollte der umfassende Zivilisierungseffekt aus dem späteren Europäisierungsprozess nicht unterschätzt werden.18 Denn vorausgegangen war 1933/39 bis 1945 als dauerhaft kontrastierende Geschichtslehre der Sieg eines Kriegs- und Maßnahmeüber den Bürger- und Rechtsstaat.

2. Konstitutionalisierung und „Verfassungskulturen“ im Vergleich Die Auswahl der Länderstudien in diesem Band wurde nach zeitgenössischen Präferenzen und möglichen systematischen Vergleichsaspekten getroffen. Wenn unterschieden werden soll „zwischen konstitutionellen Systemen mit parlamentarischem und monarchischem Schwerpunkt“19, könnte dem noch eine andere Differenzierung vorausgeschickt werden: zwischen dem enge17 Vgl. neben den oben in Fn. 3 erwähnten Handbüchern auch Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp. Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; ders./Pierangelo Schiera (Hg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999; ders. u.a. (Hg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2012. 18 Es mag für den Epochenwechsel nach 1945 aufschlussreich sein, dass auch ein kritischer Geist wie Adorno am 1963 verstorbenen Bundespräsidenten Heuss würdigte, dass erstmals nunmehr ein deutsches Staatsoberhaupt „Zivilist durch und durch“ war; Theodor W. Adorno, Worte zum Gedenken an Theodor Heuss, in: Max Weber und die Soziologie heute, Tübingen 1965, S. 157–160, hier S. 158. Sogar den Präsidenten-General de Gaulle wird man aus solcher Perspektive zugleich mit der französischen Résistance, den Präsidenten-General Eisenhower zuletzt mit seiner politischen Warnung vor dem militärisch-industriellen Komplex der USA verbinden können. 19 Arthur Schlegelmilch/Peter Brandt, Die Verfassungsentwicklung der europäischen Staaten seit dem 18. Jahrhundert, in: Die Unionsordnung. Handbuch zur Europäischen Verfassung, Hg. Dimitris Th. Tsatsos, Berlin 2010, S. 117–164, hier S. 124.

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ren Begriff des Konstitutionalismus, der sich auf verschiedene Formen der Konstitutionalisierung von Monarchien bezieht, und einem weiteren, der auch Nicht-Monarchien einschließt bzw. dabei sogar konstitutionelle Demokratien mit umfasst. Im vorherrschenden Spektrum der europäischen Monarchien ist der Blick nach Belgien wie erwähnt (aber heute weithin vergessen) schon im preußischen konstitutionellen Liberalismus um das Jahr 1848 üblich gewesen. Dies brachte nach der Jahrhundertwende vereinzelt eine später recht prominente staatsrechtliche Komparatistik hervor.20 Das englische Beispiel war, auch mit charakteristischen Übergängen von Selbstverwaltungs- zu Parlamentsstudien21, damals zu Vergleichszwecken fast allgegenwärtig, und dies keineswegs nur als ein liberales Vorbild. Hingegen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etliche Vergleichsdimensionen mit Frankreich erschwert. Das bonapartistische, zuweilen unpräzise antikisierend „cäsaristisch“ genannte Regime Napoleons III. passte kaum zu bekannten Mustern. Die nachfolgende Dritte Republik war dann auch eine solche von mittlerer Landesgröße in Gegenüberstellung zur kleinstaatlichen der Schweiz und einer großstaatlichen der USA. Für mehr auf die zweite europäische Umbruchsperiode seit 1866/67 zielende Fragestellungen erscheint Italien als eine vernachlässigte Möglichkeit insbesondere verfassungsgeschichtlicher Komparatistik.22 Das gilt trotz des industriell-gesellschaftlichen Entwicklungsunterschieds gemessen an Großbritannien und Belgien bzw. Preußen und Sachsen, was zum Jahrhundertende aber zugleich gegenüber dem außerhalb von Paris ländlicher und kleinstädtischer geprägten Frankreich zutraf. Die Fruchtbarkeit der nicht immer (nord-) westlichen und in zweiter Linie (kontrastierend) östlichen, sondern insoweit auch einmal südlichen Vergleichsblicke nach Italien kann vorzugsweise darin liegen, das andere Lösungsmuster der einheitsstaatlichen Aufhebung dynas20 Vgl. Rudolf Smend, Die Preussische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, Göttingen 1904; auch Robert Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form. Eine vergleichende Studie über die Verfassungen von England, Belgien, Ungarn, Schweden und Frankreich, Tübingen 1918, hat Belgien einbezogen (S. 68–82), mit dem Fazit: „Belgien lebt unter dem parlamentarischen Regime wie Großbritannien“ (S. 81), das Redslob aber noch im Sinne eines parlamentarisierten Konstitutionalismus deutete. 21 Für den Interpretationsstand noch in konstitutioneller Zeit: Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901; ders., Recht und Technik des englischen Parlamentarismus. Die Geschäftsordnung des House of Commons in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1905. 22 Dazu der Text mit Literatursichtung von Werner Daum in diesem Band.

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tischer Vielfalt mit zu studieren. Immerhin war der Bundesrat neben Preußen – und mit diesem verkoppelt – das am meisten ausgeprägte Hindernis für ein Hinüberwachsen vom monarchischen Konstitutionalismus zur forcierten Parlamentarisierung. Wer die preußische Verfassungskontinuität 1850 bis 1914/18 betont, unterschätzt vielleicht die Bedeutung der Reichsverfassung von 1871.23 Aber diese blieb umgekehrt in der Verfassungspraxis stets an die auch über den Bundesrat wirksamen preußischen Verhältnisse fortbildungshemmend rückgebunden. Mit allen Vorbehalten, denen kontrafaktisch-hypothetische Überlegungen begegnen, ließe sich vermuten: Ein separates (insoweit frankreichanaloges) einheitsstaatliches Preußen, ob mit wenigen oder diversen Annexionen, wäre auf längere Sicht eher umfassender zu parlamentarisieren gewesen als eine dermaßen komplexe Staatsorganisation wie das Deutsche Reich. Dies gilt erst recht für den Habsburger Vielvölkerstaat, wo schon bescheidene Ansätze der Teilparlamentarisierung parallel mit den Nationalitätenkonflikten die politischen Zentrifugalkräfte stärkten. Ohnehin wird in diesem Band ein komparatistischer Ansatz nicht allein in Richtung des Einzelstaaten-Vergleichs, sondern auch länderübergreifend verstanden. Dabei ist das Stichwort „Verfassungskultur“ seit längerem als mögliche interdisziplinäre Kategorie im Gespräch, um rechts-, politik- und geschichtswissenschaftliche Zugänge miteinander zu verknüpfen oder wenigstens sinnvolle Ergänzungen wechselseitig zu erörtern. 24 Eine kulturwissenschaftliche Annäherung wird – zumal die Differenz zu natur- und humanwissenschaftlichen Disziplinen evident ist – methodisch von einer traditionellen (historisch-)geistes- bzw. (juristisch-)normwissenschaftlichen Herangehensweise zu unterscheiden sein. Wenig Sinn macht dabei die Abgrenzung zu einem sozialwissenschaftlichen Konzept, wenn dieses nicht einseitig nach Art von empirisch-quantifizierender Soziologie oder Politikwissenschaft verstanden wird – die freilich dann immer noch als operationalisierte Kulturindikatoren-Forschung möglich bleibt. Fast unvermeidlich missdeutungsanfällig ist das Verständnis von Normativität (im Unterschied von „bloßer“ Analytik) im Bereich der Verfassungskultur. Wenn in diesem Band die Auffassung vertreten wird, z.B. der Weimarer 23 Zum deutschen Konstitutionalismus vgl. den Beitrag von Arthur Schlegelmilch. 24 Vgl. die Beiträge von Peter Häberle, Hans Vorländer und Reinhard Blänkner in diesem Band (auch die methodischen Überlegungen von Peter Schiffauer im Ersten Teil lassen sich kulturwissenschaftlich orientiert lesen). Mit deutlichem Schwerpunkt auf der Zeit vor 1848 (bzw. 1871): Rainer Schmidt, Verfassungskultur und Verfassungssoziologie. Politischer und rechtlicher Konstitutionalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2012.

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Republik könnte überhaupt Verfassungskultur gefehlt haben25, so liegt dem ein am Minimalkonsensus orientiertes, auch normativ geprägtes Verständnis dieses Begriffs zugrunde, dem allzu sehr widerstreitende Verfassungsvorstellungen fragmentierter politischer Teilkulturen nicht genügen. Es kann mit Kultur aber sonst zunächst lediglich jene „Ambiance“ gemeint sein, die als „Umgebung des Rechts, sein Milieu, in das es hineingehört und mit dem es sinnvoll wird“26, stets als integraler Bestandteil der Verfassungswirklichkeit anzutreffen ist. Dann wird davon auszugehen sein, dass Verfassungskultur in je spezifischer Weise überall vorhanden ist, wo es geltende Verfassungsnormen gibt – kodifizierte und/oder faktisch handlungsleitende. Der Rückbezug auf habitualisierte und internalisierte soziale Normen erscheint insofern zusätzlich naheliegend. Das macht neben der juristischen Sicht auf positivierte Normen und einem „aufgeladene“ Kulturbegriffe verwendenden wertbezogenen Normativismus einen dritten Sinngehalt von Normativität aus. Solche begriffliche Auffächerung leitet nun zum Beitrag der einzelnen Fachdisziplinen über.

3. Verfassungsfragen in der Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaft Vorab ist terminologisch auf die selten bedachte Differenzierung zwischen Multi-, Inter- und Transdisziplinarität hinzuweisen. Auch wenn Fachdisziplinen z.B. aus begrifflichen, methodischen und praxeologischen Gründen nicht selten aneinander vorbei reden, ist es dennoch von Interesse, was sie jeweils zu einem Thema zu sagen haben. Das ist mit dem insofern auch minimalistisch umsetzbaren Stichwort der Multidisziplinarität gemeint. Eher maximalistisch sind die Anforderungen der Transdisziplinarität; sie erfordern die Einordnung bzw. Neueinbringung des Fachverständnisses in die Analyse und Interpretation eines übergreifenden Fragehorizonts. Dieser kann von einem konkreten Realitätsausschnitt (wie z.B. der EU) oder von kontroversen Vorschlägen der Problemlösung umgrenzt werden (als Beispiel sei der einstweilen gescheiterte Weg zu einem EU-Verfassungsvertrag genannt). Die verbleibenden Kooperationsniveaus mittlerer Reichweite sind in dem – insofern zumeist 25 So die im Text von Hans Boldt erörterte These, die auch bei Häberle und Blänkner anklingt (s.u. S. 178 u. 219). 26 Dietrich Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, Zürich 1932, S. 93; ebenso der Bezug von Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 255, auf die „von Schindler gemeinte ambiance“ in dem Sinne, dass „der einzelne Rechtssatz grundsätzlich erst aus der Totalität der politischen Gesamtverfassung voll begriffen werden“ könne.

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allein verwendeten – Begriff der Interdisziplinarität bezeichnet. Die Einzeldisziplinen beziehen sich dann mehr oder minder aufeinander, ohne jedoch ihre unterschiedlichen Begriffe und Methoden nivellieren zu wollen. Darüber hinausweisende Ergebnisse sind bislang überaus selten und können auch von diesem Band nicht erwartet werden.27 Dennoch erschien der Versuch lohnend: außer historischer Komparatistik und aktuellen Perspektiven zum europäischen Konstitutionalismus sowie einer fächerübergreifenden Betrachtung von „Verfassungskultur“ die besonderen Profile von Einzeldisziplinen unter verfassungswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen zu sondieren. Von allen benachbarten Fachdisziplinen unterscheidet sich die Jurisprudenz durch ihre Orientierung auf verbindliche Urteile, deren Geltungsanspruch zumeist durchsetzungsfähig ist. Auch politische Entscheidungen unterliegen in der verfassungsstaatlichen Umsetzungskette letztlich der Rechtsform: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“, besagt dazu im Sinne eines Stufenbaus der Rechtsordnung das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3). So ist es kein Zufall, dass eine verfassungsgeschichtliche Gesamtbilanz aus heutiger Sicht an prominenter Erwähnung der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht vorbei kommt.28 Ebenso wenig dürfte es zufällig sein, dass 1920 der österreichische Verfassungsgerichtshof als erste selbständige europäische Institution dieser Art in einem Nachfolgestaat der Habsburgermonarchie entstand. Deren Probleme mit der Parlamentarisierbarkeit und der primären Geltung des Mehrheitsprinzips im Vielvölkerreich legten schon im 19. Jahrhundert eine gerichtsförmige Konfliktschlichtung nahe. Der später durch seine „Allgemeine Staatslehre“ (erstmals 1900) zum Klassiker gewordene Georg Jellinek hat 1885 mit dem Plädoyer „Ein Verfas27 Die Texte Blänkner, Boldt, Häberle und Vorländer im Dritten Teil sind aus einer (S. 222 genau bezeichneten) früheren Tagung hervorgegangen; die Beiträge Daum und Machtan wurden für diesen Band eigens verfasst (so wie der ältere Vortrag H. Brandts zur Publikation ergänzt). Die verbleibende Mehrzahl (außer dieser Einführung) geht auf Vorträge einer – mit der Publikation gleichnamigen – Tagung am 30.11./1.12.2012 zurück, die in Kooperation mit dem Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (Hagen) bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin stattfand. 28 Vgl. den Titel und einen wesentlichen Teil des Inhalts bei Kathrin Groh in diesem Band, auch die Hinweise bei Vorländer (S. 54–60). Ferner Michael Wrase/Christian Boulanger (Hg.), Die Politik des Verfassungsrechts. Interdisziplinäre und vergleichende Perspektiven auf die Rolle und Funktion von Verfassungsgerichten, Baden-Baden 2013; Robert Chr. van Ooyen/Martin H.W. Möllers (Hg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2006; engl. bereits Alec Stone Sweet, Governing with Judges. Constitutional Politics in Europe, Oxford 2000.

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sungsgerichtshof für Österreich“ die Kardinalfrage zur „Verfassungsgerichtsbarkeit“ gestellt: „Können die Parlamente verfassungswidrig handeln?“, die er für den Vielvölkerstaat bejahte: „Für Österreich mit seinen im parlamentarischen Leben wechselnden nationalen Majoritäten und Minoritäten liegt es daher im Interesse aller Parteien, Schutz vor jenem Unrecht zu suchen und zu finden, das, so lange es kein Heilmittel gibt, die öffentliche Meinung tiefer, nachhaltiger und mit zersetzenderer Wirkung aufzuregen im Stande ist, als jedes andere – dem parlamentarischen Unrecht.“ Dagegen empfahl er als Minderheitenschutz und zunächst mit aufschiebender Wirkung ein richterliches Prüfungsrecht, ob z.B. eine Gesetzesvorlage verfassungsändernden Charakter hatte und dann nur mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen wäre: „Ein solches Gericht hätte mehr den Charakter eines Schiedsgerichts als den eines staatliches imperium ausübenden Tribunals.“ Dabei baute er auch ohne Erzwingbarkeit auf die geistige Macht des Arguments: „Ein guter Richterspruch jedoch erhält seinen Wert erst durch seine juristische Begründung“. Mit Orientierung an jenem „Verfassungsgerichte, das sich bisher am meisten bewährt hat, mit dem supreme court der Vereinigten Staaten“, wollte Jellinek das Prüfungsrecht dem Reichsgericht übertragen, worin er auch deutsche Verhältnisse kritisierte: „Ein Bundesstaat ohne Verfassungsgericht ist kein Rechtsstaat im vollem Sinne“.29 Die von altösterreichischen Erfahrungen geprägte Parlamentsskepsis wird man in den angeführten Gründen bedenken, aber nicht in die Gegenwart übernehmen wollen. Für eine neueuropäische „Lehre von den Staatenverbindungen“30 ist aber die gerichtsförmige Konfliktschlichtung und die Akzentverschiebung von monologischen Imperativen zu öffentlich-diskursiver Begründungskraft durchaus fortwirkend zu würdigen.

29 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885, S. 2 f., 6, 23, 25, 67 u. 60. 30 Ders., Die Lehre von den Staatenverbindungen, Berlin 1882, wo er eingangs u.a. die Gewohnheit kritisiert, dass „eine jede neue concrete Gestalt als ein Gebilde sui generis aufgefasst“ wird (S. 3) – was auch für die EU gilt, sofern nicht die Bundesstaats-/ Staatenbund-Dichotomie mit dem (erstmals im Maastricht-Urteil von 1993 verwendeten) BVerfG-Terminus „Staatenverbund“ im ersten Absatz des Lissabon-Urteils von 2009 ergänzt wird: „Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“ (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009).

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Wenn das BVerfG gemäß Art. 93 GG über diverse Verfassungsstreitigkeiten „entscheidet“, so klingt das hinreichend verdächtig nach einer verfassungspolitischen Institution31, denn auch Höchstgerichte „urteilen“ sonst vorzugsweise. Dass sich die Normativität der Verfassung nicht in positivierten Normen und der Legitimität deren Hervorbringung erschöpft, sondern auch in sozialer Geltung verankert sein muss, zeigt gerade die Entwicklung der Bundesrepublik seit 1949: Obwohl das Grundgesetz nicht wie die Weimarer Verfassung aus einer Konstituante hervorging und zunächst als Provisorium verstanden wurde, erlangte es doch unter günstigeren internationalen und ökonomisch-gesellschaftlichen Entfaltungsbedingungen schrittweise eine breitere und intensivere Anerkennung.32 Von dieser leitet sich auch die gestärkte Position des BVerfG ab, das allmählich der Politikwissenschaft als Teil des Institutionengefüges in den Blick gerät.33 Im politologischen Mainstream sind allerdings Verfassungsfragen in den zwei Umbruchsdekaden nach 1989/90 gegenüber Politikfeldanalysen und Themenbereichen des Einflussund Willensbildungsprozesses unterbelichtet geblieben.34 Das Stichwort „Verfassungspolitologie“35 findet sich nicht zufällig im österreichischen Kontext. Dort wurde der „Verfassungsvater“ Kelsen auch in seiner politikwissenschaftlichen Bedeutung als moderner Klassiker der Demokratietheorie nicht vergessen.36 31 „Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht“ (Untertitel) liefern Matthias Jestaedt u.a., Das entgrenzte Gericht, Berlin 2011. 32 So im Beitrag von Dian Schefold als Ergebnis auch eines Vergleichs. 33 Vgl. Sascha Kneip, Gegenspieler, Vetospieler oder was? Demokratiefunktionales Agieren des Bundesverfassungsgerichts 1951–2005, in: PVS 52,2 (2011), S. 220–247, mit der Antwort „Mitspieler!“ (S. 241); ders., Verfassungsgerichte als demokratische Akteure. Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Qualität der bundesdeutschen Demokratie, Baden-Baden 2009. 34 So als Ergebnis im Text von Detlef Lehnert, das bei Hans Vorländer ähnlich formuliert ist (S. 190). 35 Tamara Ehs, Verfassungspolitologie? Zur Bedeutung des B-VG aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: Journal für Rechtspolitik 19,1 (2011), S. 3–14, mit dem Befund, dass im Fach „Politics- und Policy-Forschung gestärkt, eine Auseinandersetzung mit der Polity aber stetig vernachlässigt und den Rechtswissenschaften überlassen“ wurde (S. 3 f.). Dazu auch dies. u.a. (Hg.), Politik und Recht. Spannungsfelder der Gesellschaft, Wien 2012. 36 Vgl. dies. (Hg.), Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, Baden-Baden 2009; dies. (Hg.), Hans Kelsen und die Europäische Union. Erörterungen moderner (Nicht-)Staatlichkeit, Baden-Baden 2008. Auch eine deutsche Begriffsverwendung bei Robert Chr. van Ooyen, Rezensierte Verfassungspolitologie 1: Politik – Verfassung – Staat – Verwaltung, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2014, stammt von einem politikwissen-

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Für die Geschichtswissenschaft erscheint die Befassung mit Entwicklungsprozessen der Konstitutionalisierung auf den ersten Blick unproblematischer, weil Verfassungsgeschichte ein stets zugehöriger, wenn auch nicht vorrangig beachteter Teil des Faches ist.37 Allerdings waren vormals die Geistes- und Politik-, nachfolgend die Sozial- und schließlich die Kulturgeschichte die einflussreicheren Paradigmen.38 Im Unterschied zu Recht und Politik hilft für die Geschichte etwaige Verweisung der Theoriedebatten an konkretere Vergleichsgegenstände nicht weiter. Juristische Verfassungswissenschaft kann durchaus sinnvoll an der Verfassungsgerichtsbarkeit, politologische an Verfassungsorganen wie Parlamenten und Regierungen ansetzen und von dort ausgehend dann auch komplexere als nur gewissermaßen positivistisch bzw. empiristisch institutionenkundliche Fragestellungen bearbeiten. Aber bei der Geschichte, jedenfalls wenn sie nicht auf Haupt- und Staatsaktionen und epochale Ideenkreise reduziert wird, ist es weniger die Frage, was sie in die Betrachtung einbeziehen soll, vielmehr was überhaupt aus der Gesamtfülle des Geschehens vernachlässigt werden kann. Nicht eine manifest begrenzte Sicht auf die gewaltenteilige Verfassungsorganisation der Legislative, Regierungsexekutive und (öffentliche Angelegenheiten betreffenden) Judikative wie in Politik und Recht, sondern die latente Entgrenzung zur ganzheitlichen Struktur- in Differenz lediglich noch zur Alltags- und Ereignishistorie ist die primäre Herausforderung für die Verfassungsgeschichte.

4. Vom Neo-Konstitutionalismus zur Neu-Konstitutionalisierung der EU? Die gegenwärtige EU-Verfasstheit als eine besondere Ausprägung von NeoKonstitutionalismus einzuordnen, mag zunächst geradewegs ohne sinnvolle Alternative erscheinen. Denn auf EU-Ebene ist weder ein voll ausgebildetes schaftlichen Kelsen-Interpreten: Ders., Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, Berlin 2003; ders., Hans Kelsen und die offene Gesellschaft, Wiesbaden 2010. 37 Als Überblick zu den wichtigsten Ansätzen: der Beitrag von Ewald Grothe in diesem Band. 38 Wenngleich (auch wissenschafts-)geschichtliche Sachverhalte kaum jemals nur einen Grund haben, ist es vielleicht doch symptomatisch, dass für den Habilitationsvortrag (1976) von Hartwig Brandt zu diesem Ansatz nun erst hier ein geeigneter Publikationsort gefunden wurde. Später erschien der Überblick: Hartwig Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998.

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parlamentarisches System, noch sind vorkonstitutionelle (mehr oder minder autokratische) Verhältnisse anzutreffen. Dieses Zwischenstadium, wenn von einer allmählichen Weiterentwicklung oder zumindest relativer Stabilität und nicht etwa künftiger Rückbildung auszugehen ist, macht den verfassungsgeschichtlichen und -systematischen Vergleich besonders aufschlussreich. Von einer forcierten Parlamentarisierung wird zumindest so lange noch keine Rede sein können, wie das EU-Parlament in Gesetzgebungsfragen kein Initiativ- und in Teilbereichen kein Mitwirkungsrecht hat, sondern von der (Kommissions-)Exekutive abhängig bleibt, und ein Budgetrecht auch für die eigene Handlungsebene nur begrenzt vorhanden ist.39 Daran lässt sich gewissermaßen wieder die Böckenförde/Huber-Alternative erörtern, ob dies ein auf viele Generationen relativ stabiler Zustand sein kann oder offenkundig ein Transitorium ist, das aus innerer Entwicklungstendenz zur weiteren Konstitutionalisierung drängt. Am ehesten als perspektivischer Denkbehelf geeignet bleibt wohl ein Vergleich mit dem präsidialdemokratischen Typus der USA, wenn die internationalen Beziehungen einmal ausgeklammert werden (wo aber die faktischen Möglichkeiten einzelner EU-Staaten nicht überschätzt werden sollten). Die ihrerseits demokratisch legitimierten EU-Regierungen bilden insoweit ein (hier vielköpfiges Europäisches Rats-)Präsidium, unterliegen der EuGH-Judikatur, sind exekutivisch gemeinsam für EU-Angelegenheiten zuständig, ohne dass einzelstaatlich verbleibende Kompetenzen als gering einzustufen sind, und müssen für viele EU-bezogene Angelegenheiten einschließlich der Kommissionsbesetzung die Zustimmung des EU-Parlaments einholen. Umgekehrt darf man auch die verbliebenen Kompetenzen der US-Bundesstaaten nicht unterschätzen, zumal historisch betrachtet erst allmählich der bundesstaatliche gegenüber dem staatenbündischen Charakter an Terrain gewonnen hat. Sogar für die Unionsebene sind die Einzelstaaten dort teilweise konstitutiv geblieben: Das gilt nicht nur für den unterschiedliche Bevölkerungszahlen gänzlich vernachlässigenden US-Senat, vielmehr ebenso für den Modus der Präsidentenwahl. Dabei ist das Verfassungsvolk durch 50 Bundesstaaten mediatisiert, wobei die Vergabe der Wahlmännerstimmen nach dem Majoritätsprinzip erfolgt und so intensiver Wahlkampf auf relativ wenige besonders umkämpfte Swing States konzentriert wird.

39 Dazu einführend: Andreas Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union. Der Beitrag des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, Baden-Baden 2002; ders., Parlamente in der EU, Wien 2012; Stefan Kadelbach (Hg.), Europäische Integration und parlamentarische Demokratie, Baden-Baden 2009.

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Zugespitzt ließe sich zu den Verbindungslinien zwischen den drei großen westlichen Verfassungsstaaten die ironische Perspektive formulieren, dass des Franzosen Montesquieus unzutreffende Vorstellungen über das britische Regierungssystem in den USA Verfassungsrang erhielten. So wurden zuweilen innenpolitische Blockadesituationen zwischen Präsident, Senat und Repräsentantenhaus herbeigeführt. Wenn eine Vermittlungsinstanz benannt werden soll, die im US-Regierungssystem solche Krisenlagen am ehesten aufzulösen vermag, wird man die Einzelstaaten übergreifenden Parteien hervorheben müssen. Zwar waren auch diese in einem großen und vielgestaltigen Land wenig einheitlich; doch garantierten sie immerhin die Wahlvoraussetzungen und ermöglichten gerade wegen der intern unterschiedlichen Strömungen das Überwinden von Handlungslähmungen durch Herausbrechen von Minderheiten aus (potentiellen) Veto-Mehrheiten. Auf die EU übertragen wird man trotz voraussichtlich weiterhin starker Föderativstrukturen den unitarisierenden Effekt aus den staatenübergreifenden Parteienallianzen nicht unterschätzen dürfen. Insofern könnte die Präsentation von Spitzenkandidaturen der fünf grundsätzlich integrationswilligen und für die Mehrheitsbildung primär relevanten Fraktionen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 25. Mai 2014 eine wichtige Voraussetzung für eine weitere Stufe im Prozess einer Neu-Konstitutionalisierung gewesen sein. Auch wenn nur einzelne Personalentscheidungen in der Fraktionskonkurrenz dem (relativen oder absoluten) Mehrheitsprinzip überantwortet werden und sonst zunächst starke Konkordanzelemente der tragenden Parteigruppierungen zu verzeichnen sind, ist das nicht als solches parlamentarismusund demokratieunverträglich. Die erwähnten drei Großstaaten haben zwar historisch – wenn auch nicht bruchlos – Zweiparteiensysteme (GB, USA) oder Zweilagergefüge (Frankreich) und insofern konkurrenzdemokratische Verhältnisse ausgebildet, in denen jeweils eine Opposition die nächste Regierungsmehrheit zu stellen bemüht ist. Letzteres wird man tendenziell auch für die skandinavischen kleinstaatlichen parlamentarischen Demokratien behaupten können. Für den Rest von Europa, soweit überhaupt parlamentarischdemokratische Bedingungen über hinlängliche Betrachtungszeiträume hinweg bestanden, gilt dies aber nicht. Dort sind entweder Koalitionswechsel typisch, so dass Richtungsentscheidungen von parlamentarischen Minoritäten sich mehrheitsbildend auswirken, oder es haben sich Konkordanzmuster etabliert, in denen faktisch weniger die Regierungskombination als deren innere Kräfteverhältnisse zur Wahl stehen. Die Gründe solcher Konkordanzformen können vielfältig sein, als die wichtigsten dürften national-ethnische, regionalistische und konfessionelle Trennungslinien sowie als nicht regierungsfähig betrachtete Daueroppositionen hervortreten. Das sind ebenso die primär

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zu berücksichtigenden Faktoren für einen insofern wohl auch – oder sogar eher – auf konkordanz- als konkurrenzdemokratische Prägung angelegten EU-Parlamentarismus. Auf der Basis solcher Einschätzung wird man, um einen Streitfall herauszugreifen, die Einwände gegen die – gewöhnlich nur aus konkurrenzdemokratischen Funktionserfordernissen legitimierbare – Zulässigkeit einer 5 %-Sperrklausel auf kommunaler und derzeit auch noch auf supranationaler Ebene teilen können. Einerseits kommt hinzu, dass bei Europawahlen hinsichtlich des Ausschlusscharakters dieser Hürde die partielle Abfederung nicht zur Verfügung steht, die bei Bundestagswahlen durch Entfallen der Sperrklausel bei mindestens drei Direktmandaten und faktisch über koalitionstaktischen Einsatz der Zweitstimme existiert. Gerade aus interdisziplinärer Sicht kann aber die Entwicklung der Judikatur als ziemlich unlogisch gelten: Mit vielzitierten Lehren aus Weimar vermochte sich die 5 %-Sperrklausel kaum berechtigterweise zu schmücken, das findet in den historischen Wahldaten keine Stütze.40 Die Regierungsfähigkeit wurde in den Gründungsdekaden der Bundesrepublik faktisch kaum über diese Hürde, vielmehr mittels der Integrationskraft und Koalitionsfähigkeit der größeren Parlamentsparteien unter fördernden Rahmenbedingungen gesichert. Andererseits bewährte sich die Sperrklausel 1969 demokratiepolitisch angesichts des knappen Scheiterns der NPD und so der Vermeidung des von ihrem Bundestagseinzug drohenden internationalen Schadens. Überdies sind auch seither nicht die befürchteten oligopolistischen Ausgrenzungseffekte gegen neue Kräfte zu verzeichnen gewesen. Diese benötigten zumeist nur einen zweiten Anlauf, wenn sich die Zeit für deren Themen reif erwies (und sie nicht nur Gespenster der Vergangenheit wie im Falle der NPD weckten). Ferner waren sämtliche etablierteren kleineren Parteien schon einmal Opfer der 5 %-Hürde (Die Grünen 1990, PDS 2002, FDP 2013), und die beiden erstgenannten kamen bei der nächsten Wahl inhaltlich und personell reorganisiert wieder zurück. Schließlich haben viele EU-Länder solche oder ähnliche Sperrklauseln, wenn es nicht sogar (auf nationaler Ebene) mehr-

40 Das Bundestagswahlrecht auf die Reichstagswahl 1930 übertragen, wären zwar selbstverständlich nicht SPD und Zentrum/BVP, aber ebenso nicht NSDAP, DNVP und KPD, sondern neben Splittergruppen (einschließlich der recht stimmenstarken mittelständischen „Wirtschaftspartei“) auch DVP und „Deutsche Staatspartei“ (vormals DDP) an einer derartigen Sperrklausel gescheitert. Über von dieser möglicherweise ausgehenden Fusionsdruck zu spekulieren ist müßig, weil auch die in den Reichstag einziehenden Parteigruppierungen nicht an der Kooperation gehindert waren. 1932 hatte wesentlich die NSDAP auch ohne Sperrklausel die Klein- und Splitterparteien weitgehend absorbiert.

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heitsbildende Wahlrechts-Varianten gibt, die noch erheblich restriktiver gegen Splitter- und auch Kleinparteien wirken. Dies alles bedenkend, erscheint die Verwerfung einer 5 %-Sperrklausel zum EU-Parlament durch das BVerfG noch insgesamt nachvollziehbar.41 Allerdings hätte die im Urteil von 2011 eingeräumte irritierende Tatsache, „dass das Bundesverfassungsgericht die Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht mit Beschluss vom 22. Mai 1979 (BVerfGE 51, 222) für verfassungsgemäß gehalten hat“ (144), eine geeignetere Begründung erwarten lassen. Denn 1979 galt noch in viel höherem Maße, „die Aufgaben des Europäischen Parlaments“ seien „so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, fehlt“ (96). Tatsächlich haben sich also gerade nicht die Umstände in argumentationsstützender Richtung, vielmehr die Wahlrechts-Auffassungen im BVerfG dazu geändert. Es wird nun geradewegs „für sogenannte Ein-Themen-Parteien“ um Verständnis geworben, sogar gegen Erwägungen „besserer Übersichtlichkeit der Entscheidungsprozesse in den Volksvertretungen“ (126). Dass nur so „der mit der Anordnung des Verhältniswahlrechts auf europäischer Ebene verfolgte Gedanke repräsentativer Demokratie (Art. 10 Abs. 1 EUV) im Europäischen Parlament uneingeschränkt entfaltet werden kann“ (118), ist jedoch ein recht eigentümlich instrumentell begrenztes Verständnis des Repräsentationsprinzips. Die Offenhaltung des politischen Meinungsbildungsprozesses wird, auch dank entsprechender BVerfG-Judikatur, sogar aktiv fördernd z.B. über die Staatsfinanzierung bereits ab 0,5 % Stimmenanteil gewährleistet.42 Dies bringt die insoweit zugunsten der Entwicklungsoffenheit hinnehmbare Folge mit sich, dass auch sehr partikulare Anliegen zwecks öffentlicher Mittelzufuhr gewissermaßen unter falscher Flagge einer politischen Partei segeln können, was als Privileg den nur zivilgesellschaftlich engagierten Gruppen so nicht zuteil wird. Dabei ist einzuräumen, dass ein Sprung von der 0,5 %-Schwelle für Teilhabe an Förderung der gesellschaftlichen Verankerung als Partei auf 5 % für die parlamentarische Berücksichtigung bei der Mandatsverteilung über eine hoch errichtete Hürde führt. Es gibt keine Beispiele, dass ein Hinüberwachsen von dem einen zum anderen Niveau eine realistische Perspektive ist. Nun hat aber das „Europäische Parlament am 22. November 2012 eine Entschließung“ gefasst, den Mitgliedsstaaten zu empfehlen, „geeignete und 41 BVerfG, 2 BvC 4/10 vom 9.11.2011 (Nr. der zitierten Absätze nachfolgend in Klammern). Dazu besonders kritisch Christoph Schönberger, Das Bundesverfassungsgericht und die Fünf-Prozent-Klausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, in: JZ 2012, S. 80–86. 42 Gesetz über die politischen Parteien v. 31.1.1994, § 18 Abs. 3.

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angemessene Mindestschwellen für die Zuteilung der Sitze festzulegen, um dem in den Wahlen zum Ausdruck gekommenen Wählerwillen gebührend Rechnung zu tragen, bei gleichzeitiger Wahrung der Funktionalität des Parlaments“. Daraufhin ist aber sogar eine auf 3 % reduzierte Sperrklausel, die mit überwältigender Mehrheit vom Bundestag für die Wahl zum EU-Parlament vorgesehen war, wiederum vom BVerfG verworfen worden.43 Das könnte allerdings den Bogen in anderer Richtung überspannen, als es mit der schematischen Übertragung einer 5 %-Hürde auf jegliche Ebenen in der einen Richtung geschehen war. Es hätte vom Gesetzgeber klüger gewesen sein können, angesichts des Urteilstenors von 2011 vielleicht besser mit 2 % noch eindeutiger nur gewissermaßen eine Splitterklausel installiert haben zu wollen, um dem BVerfG das Argument des unzulässigen Konkurrenzschutzes weiter zu erschweren.44 Auch musste das Argumentieren des EU-Parlaments explizit lediglich unter Berufung auf „Funktionalität“ im Sinne von mindesterforderlicher Mehrheitsbeschaffung den Einwand provozieren: Solches kann nicht ernstlich durch einige deutsche Splittergruppenvertreter gefährdet sein – womit freilich der BVerfG-Urteilstenor insoweit vom Wahlrecht anderer bzw. der faktischen Parteienkonzentration kleinerer Länderkontingente zehrt. Parlamentarische Repräsentation hat jedoch neben dem legislativen und Wahlakte hervorbringenden instrumentellen Ordnungs- ebenso symbolträchtigen Orientierungscharakter bzw. konkret formuliert: Das bisherige Hauptproblem des EU-Parlaments ist weniger die Arbeitsfähigkeit und viel mehr die Legitimitätsbasis in den Augen der Wählerschaft. Diese wird über größere Offenheit gegenüber diversen neuen Kräften vermutlich sogar gestärkt, durch eine übermäßige Fragmentierung in nunmehr 14 verschiedene Parteien im EUParlament aus Deutschland aber wohl eher nicht gefördert.45 43 BVerfG, 2 BvE 2/13 vom 26.2.2014 (Zitat in Abs.-Nr. 9 u. 10). Zum Thema auch: Heinrich Lang, Wahlrecht und Bundesverfassungsgericht. Eine Skizze aktueller wahlrechtlicher Entscheidungen und Probleme, Baden-Baden 2014. 44 Was in Urteilstexten nie vorkommen darf, aber in Nebengedanken eine Rolle spielen mag: Bei 2 % werden neben „Extremisten und Sektierern“ nicht auch noch in mehreren Länderparlamenten vertretene Kleinparteien ggf. deutlich wahrscheinlicher mit vom EU-Parlament ferngehalten, was tendenziell „parteienkartellistisch“ anmuten könnte. Wie im ökonomischen und kommunikationstechnischen Bereich hat komplette Deregulierung offenbar auch für den politischen Massenmarkt seine Tücken. 45 Immerhin haben sich fünf (von sieben) deutsche Einzelvertreter anerkannten Fraktionsgemeinschaften angeschlossen, so dass sie insoweit mit dem Splittermandat konstruktiv umzugehen bemüht erscheinen: http://de.wikipedia.org/wiki/Fraktion_im_ Europäischen_Parlament (9.7.2014, so auch weitere Webquellen des Bandes, wenn nicht anders vermerkt).

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Für das Thema Konstitutionalismus in Europa haben parteien- und wahlrechtliche Fragen eine gemeinhin unterschätzte Bedeutung. Das europäische Verfassungsvolk als Grundlage für Demokratie wird es auf absehbare Zukunft nur vermittelt über Einzelstaatsvölker geben. Was Bismarck zur Verteidigung der – am Ende seiner Lebensspanne unzeitgemäßen – bündischen Struktur des Kaiserreichs ausführte, dass nur über die Zwischenebene der Einzelstaaten die Loyalität zum deutschen Nationalstaat gesichert sei46, gilt wohl tatsächlich für die gegenwärtige EU als Vielvölker-Staatengebilde. Von den grassierenden populistischen Tendenzen ist der einwanderungs- und transferfeindliche Wohlstandschauvinismus letztlich nur eine Variante.47 Ebenso verankert sind die auf Identitätsfragen zentrierten EU-gegnerischen Nationalismen, sei es in kleineren Ländern wie Ungarn (mit seiner besonderen Stellung im Habsburgerreich), insbesondere aber in den beiden vormaligen Großmächten Frankreich und Großbritannien. Indem deren Front National und UKIP teilweise aber recht unterschiedlich argumentieren, belegen sie gerade die Einbindung in den nationalen Kontext und mangelnde Kooperationschancen untereinander. Es ließe sich wohl staatsorganisationssoziologisch und politisch-kulturell endlos debattieren, ob die EU mit 28 Mitgliedsländern für die günstigsten Möglichkeiten weiterer Integrationsschritte nicht längst schon überdehnt ist und somit die Verbreiterung zu sehr auf Kosten der Vertiefung ging. Aber es ist nun einmal der frühe politische Integrationsweg z.B. auch über eine Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft (EVG) am nationalen Souveränitätsdenken im französischen Parlament gescheitert. So wurde einerseits die (in 46 Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. 1, Leipzig 1898, S. 290 u. 292 f.: „Deutscher Patriotismus bedarf in der Regel, um thätig und wirksam zu werden, der Vermittlung dynastischer Anhänglichkeit ... Die andern europäischen Völker bedürfen einer solchen Vermittlung für ihren Patriotismus und ihr Nationalgefühl nicht. Polen, Ungarn, Italiener, Spanier, Franzosen würden unter einer jeden Dynastie oder ganz ohne eine solche ihren einheitlichen Zusammenhang als Nation bewahren. Die germanischen Stämme des Nordens, die Schweden und Dänen, haben sich von dynastischer Sentimentalität ziemlich frei erwiesen“; sogar England nimmt er nicht von dieser Beurteilung aus – eine der klassischen Belegstellen für preußisch-deutsches Sonderbewusstsein. 47 Das verbindet in sonst verschiedener Weise die AfD und die FPÖ ebenso wie die skandinavischen und niederländischen Rechtspopulisten. In diesem Spektrum haben sich Unterschiede vermindert: Während die Haider-FPÖ anfänglich noch immer deutschnational (aber sozialdemagogisch) auftrat, standen die skandinavischen Rechtspopulisten zunächst in Frontstellung zu den (Kosten der) Wohlfahrtsstaaten. Für die AfD kursiert das Stichwort „Wettbewerbspopulismus“ für den Gründungsimpuls: David Bebnowski/Lisa Julika Förster, Wettbewerbspopulismus. Die Alternative für Deutschland und die Rolle der Ökonomen, Frankfurt a.M. 2014.

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Frankreich aber gerade nicht gewollte) Überlagerung mit diversen NATO-Erweiterungen und andererseits der sich zunächst primär entwickelnde Charakter einer Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) richtungsgebend. Die Bedeutung der „Parteienfamilien“ als wesentlicher politischer Integrationsfaktor ist jüngst am Streit um die Nominierung für die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission ersichtlich geworden. Zur parlamentarischen Demokratie gehört konstitutiv der Wettbewerb um Mehrheiten, der erst bei einer klaren Gruppenbildung für das Publikum übersichtlicher wird.48 Ohnehin sind die einzelstaatlichen Regierungen stets aus Parteienvertretern besetzt und entscheiden auch nach solchen Loyalitäten. So dient es schlicht der Transparenz, wenn die Fraktionen des Europäischen Parlaments mit Spitzenkandidaturen ihren Personalvorschlag schon vor der zigmillionenfachen Stimmabgabe offenlegen. Auch die Widerstände dagegen haben zwar durchaus Hintergründe in länderspezifischen politischen Kulturen49, sind im Ergebnis aber wesentlich aus jeweiligen parteipolitischen Motivlagen erklärbar.50 Wer dagegen prinzipiell und nicht nur punktuell argumentiert, sollte 48 Es gehört übrigens zu den Anti-EU-Klischees, dass die Mandatsverteilung im EU-Parlament insgesamt stark von den Bevölkerungszahlen abweiche. Zwar gilt dies (relativ, absolut freilich ohne Bedeutung) für Kleinstaaten, aber Deutschland als kopfzahlgrößtes Land hat mit 16 % der Bevölkerung 13 % der Mandate. In Verbindung mit einem (auch Großbritannien zur EU-Wahl) vorgeschriebenen Proportionalwahlrecht bringt dies geringere Abweichungen von einer Abbildrepräsentation als etliche nationale Wahlrechtskonstellationen in Geschichte und Gegenwart. 49 Wenn dieser Band nicht den Konstitutionalismus, sondern Parlamentarismus- und Demokratiekulturen im diachronen und synchronen Vergleich zum Gegenstand hätte, würde ein besonderes schwieriges Thema lauten: Warum sind neben dem historischen Sonderfall der Schweiz die stärksten Anti-EU-Tendenzen außer bei einzelnen Neumitgliedern wie z.B. Ungarn, die zumindest temporär auf einen älteren Nationalismus zurückgefallen sind, ausgerechnet in klassischen parlamentarischen Demokratien zu verzeichnen? Das gilt nicht allein für lange konsolidierte Großstaaten wie England und Frankreich, sondern auch für Kleinstaaten wie z.B. Dänemark. Vielleicht hilft die umgekehrte Perspektive: Besondere EU-Aufgeschlossenheit fand sich gerade in Staaten wie der (alten) Bundesrepublik Deutschland und (damals) in Italien, die so auch nationalgeschichtliche Defizite bewältigen konnten. Hinzu kam (seinerzeit) das französische Motiv der Einbindung deutscher Nachbarn und der gleichermaßen demokratiepolitische und wirtschaftliche Impuls für Neumitglieder wie Spanien, Portugal und Griechenland. Der Entfall solcher früheren Bindekräfte würde ohne neue gestaltende Impulse keine günstige Prognose erlauben. 50 Um nicht systematische Überlegungen mit in einigen Jahren vielleicht zweitrangig erscheinenden aktuellen Geschehnissen zu befrachten, nur als Fußnote: Wenn britische Konservative sich 2009 aus der christdemokratisch geprägten EVP-Fraktion des EUParlaments verabschiedet haben und nun auch noch die AfD in die eigene, deutlicher

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einmal gründlich über die verfassungspolitische Logik der parlamentarischen Demokratie nachdenken, die ohne Parteienwettbewerb nicht funktionieren kann. Ein historischer und teilweise schon wieder modischer Anti-Parteien-Affekt wird zuletzt immer auch die parlamentarischen und wohlverstanden demokratischen Einrichtungen schwächen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass neue Impulse für die (Re-)Vitalisierung von parlamentarischen und demokratischen Institutionen auf sämtlichen politischen Handlungsebenen von den Gemeinden bis zur EU nicht ebenso wichtig zu deren Weiterentwicklung sind.

rechtsgerichtete Fraktion aufnehmen, ist die Isolation (nur in Gemeinschaft mit der rechts stehenden ungarischen Regierung) innerhalb der EU-Regierungschefs bei der mit 26:2 Stimmen erfolgten Nominierung von Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten auch parteipolitisch selbstproduziert.

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Von der Konstitutionalisierung der Staaten Europas zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union Wenn von den „Verfassungswissenschaften“ die Rede ist, also von denjenigen Disziplinen und wissenschaftlichen Ansätzen, die sich Phänomenen der Verfassungsstaatlichkeit, des Konstitutionalismus im weiteren Sinn, widmen, dann kommen in erster Linie die Rechtswissenschaft, die Politikwissenschaft und die Geschichtswissenschaft in Betracht. Angesichts der großenteils andersartigen Erkenntnisinteressen, der spezifischen Themenfelder, der jeweiligen Untersuchungsmethoden und nicht zuletzt der überwiegend binnenorientierten Fachkulturen wäre es unrealistisch, vielleicht auch nicht wünschenswert, die unterschiedlichen Verfassungswissenschaften in einer einzigen, neuartigen Verfassungswissenschaft zu verschmelzen. Anzustreben und mit Gewinn machbar ist indessen ihre Annäherung in der Weise, dass sie sich stärker aufeinander beziehen und voneinander lernen. Im Folgenden soll versucht werden – gewissermaßen als Zwischenbilanz –, den Zugang der genannten Disziplinen zur Thematik zu umreißen. Dabei fließen Diskussionen und Ergebnisse ein, die in der Kooperation von Juristen, Politologen und Historikern im Rahmen des inzwischen über ein Jahrzehnt bestehenden Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften zustande gekommen sind.1

1. Rechtswissenschaftliche Ansätze Die Rechtswissenschaft nähert sich, neben der dort betriebenen rechts- bzw. verfassungshistorischen Forschung (von der weiter unten gehandelt werden wird) im Wesentlichen auf viererlei Zugängen der Gesamtthematik: Erstens werden bei der klassisch juristischen Herangehensweise über das „Staats- und Verfassungsrecht“ die Normen des geltenden Verfassungs- und Staatsrechts nach der rechtswissenschaftlichen Methode ausgelegt und problemorientiert diskutiert.2 Bei der Annäherung über die sogenannte „Allge1 Vgl. http://www.fernuni-hagen.de/dtiev [15.07.2014, wie andere Weblinks dieses Beitrags]. 2 Vgl. Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13 Bde., 3. Aufl. Heidelberg 2003 ff.; sowie eine Vielzahl von

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meine Staatslehre“3 wird zweitens das Phänomen „Staat und Verfassung“ ideengeschichtlich aufgearbeitet. Es wird also, teilweise auch rechtsphilosophisch, untersucht, wie sich das heutige Erscheinungsbild des Staates mit seinen konstitutiven Verfassungselementen ideengeschichtlich entwickelt hat. Hier werden etwa die Fragen beantwortet, was der Sinn der Gewaltenteilung ist, unter welchen Bedingungen diese Idee entstanden ist und wie sie Eingang in das Verfassungsrecht gefunden hat. Entsprechendes gilt für alle grundlegenden Elemente heutiger Staatlichkeit (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bundesstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Grundrechtsbindung etc.). Eine weitere Annäherung an die Phänomene Staat und Verfassung ist drittens möglich über einen völkerrechtlichen Ansatz.4 Hier wird der Staat mit seiner Verfassung gleichsam aus der Vogelperspektive des Völkerrechts betrachtet. Es geht darum, nach welchen Regeln Staaten untereinander in Beziehung treten, etwa im Rahmen von internationalen Organisationen, aber auch sonst (Kooperation, politische und kriegerische Auseinandersetzungen, Haftungsfragen etc.): der Staat als Rechtssubjekt und Akteur auf internationaler Ebene. Als Unterfall dieser Sicht konnte ursprünglich auch die europarechtliche Perspektive aufgefasst werden, die allerdings mittlerweile weit darüber hinausgeht, da das Europarecht Gegenstand einer staats- und verfassungsrechtlichen Betrachtung geworden ist und tief in das nationale Verfassungsrecht hineinwirkt.5 Schließlich gibt es viertens die Rechts- bzw. Verfassungsgeschichte als Teildisziplin der Rechtswissenschaft.6 Der Terminus „Unionsgrundordnung“

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Lehrbüchern zum Staatsrecht: statt vieler vgl. etwa Christoph Degenhart, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 29. Aufl. Heidelberg 2013; Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. München 2010; Peter Badura, Staatsrecht, 5. Aufl. München 2012. Vgl. etwa Karl Doehring, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Heidelberg 2004; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16.  Aufl. München 2010; Burkhardt Schöbener/ Matthias Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. München 2013; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. Stuttgart 2003; Thomas Fleiner/Lidija R. Basta Fleiner, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Berlin 2004. Vgl. Matthias Herdegen, Völkerrecht, 13. Aufl. München 2014; Knut Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. München 2014; Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hg.), Völkerrecht, 6. Aufl. Berlin 2013; Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 9. Aufl. Tübingen 2008; Torsten Stein/Christian von Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl. München 2012; Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 6. Aufl. München 2013. Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. Berlin 2009; Andreas Haratsch u.a., Europarecht, 9. Aufl. Tübingen 2014; Albrecht Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, München 2010; Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, Berlin 1998. Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde., Stuttgart 1957 ff.; Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 12. Aufl. München

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stammt von Dimitris Tsatsos, der ihn schon Mitte der 90er Jahre vorschlug, um der aus seiner Sicht unergiebigen Diskussion über die „Staatlichkeit“ der Europäischen Union einen Ausweg zu weisen.7 Die Frage nach der Staatlichkeit Europas ist mit dem Blick auf den im ersten Anlauf gescheiterten, dann im Vertrag von Lissabon in seiner Substanz geretteten Europäischen Verfassungsvertrag naturgemäß schärfer gestellt. Es gilt, die Verfasstheit EU-Europas als eine Ordnung sui generis zu erkennen, eine Ordnung, in der die von Anbeginn, also seit den frühen 50er Jahren, gleichermaßen vorhandenen beiden Strukturprinzipien der Supranationalität und der Intergouvernementalität in einem komplizierten und dynamischen Verhältnis von Mit- und Gegeneinander wirksam geworden sind.8

2. Besonderheiten in der Verfasstheit der Europäischen Union Die Herausforderung für die Verfassungswissenschaften, namentlich die juristische, besteht ja gerade darin, dass die Einigung und Konstitutionalisierung Europas mit den klassischen Kriterien der Definition von Staatlichkeit und somit auch Verfassungsstaatlichkeit weder positiv noch negativ eindeutig zu erfassen sind. Nun kennen die Historiker durchaus Phänomene zusammengesetzter Staaten, sich überlappender Kompetenzen und geteilter Souveränitäten – es sei nur an das Alte Reich vor 1806 erinnert.9 Doch handelte es sich dabei eher um Erscheinungen der Vormoderne, die seit dem 18. Jahrhundert zunehmend überwunden wurden. Und die nationale wie konstitutionelle Sammlung ethnisch-kulturell verwandter Einzelstaaten, so in Italien um 1860, in Deutschland um 1870 und in Jugoslawien 1918/19, erfolgte unter der Hegemonie 2013; Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, Heidelberg 2008; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. München 2013. 7 Dimitris Th. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung. Grundsatzfragen und fünf Anregungen zum Umdenken anlässlich der Regierungskonferenz 1996, in: Europäische Grundrechtezeitschrift 1995, S. 287 ff.; ders., Die Europäische Unionsgrundordnung, Baden-Baden 2002. 8 Vgl. Gerhard Brunn, Die europäische Einigung von 1945 bis heute, 2. Aufl. Stuttgart 2009; Peter Krüger, Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart 2006; Wolfram Kaiser/Antonio Varsori (Hg.), European Union History. Themes and Debates, Basingstoke 2010. 9 Vgl. u.a. Klaus Herbers/Helmut Neuhaus, Das Heilige Römische Reich – Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843–1806), Köln 2005; Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, 4 Bde. Stuttgart 1993–2000; Edgar Liebmann, Das Alte Reich und der napoleonische Rheinbund, in: Brandt u.a. (Hg.), Handbuch, Bd. 1 (wie Fn. 27), S. 640–683.

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einer Führungsmacht, die sich dabei auch kriegerischer Mittel bediente. Der Integrationsprozess (zunächst West-)Europas in den vergangenen sechseinhalb Jahrzehnten, ohne einen eindeutigen Hegemon, friedlich und betrieben von Nationalstaaten mit einer repräsentativ-demokratischen Verfassung, ist ein historisches Novum – unabhängig davon, wo die Triebkräfte dieses Prozesses liegen und wie er weitergehen wird. Insbesondere gilt das seit der von Peter Schiffauer so bezeichneten „konstitutionellen Wende“10 der europäischen Integration mit dem Verfassungskonvent. Die europäische Integration ist auf ein Verfassungsverständnis angewiesen, das ihre politischen und institutionellen Besonderheiten berücksichtigt. Zugleich kann aber auch die Funktion der nationalen Verfassungen der EUMitgliedstaaten nicht mehr angemessen verstanden werden ohne Bezugnahme auf den europäischen Integrationsprozess. Die übernationale Verflechtung – Peter Häberle spricht vom „gemeineuropäischen Verfassungsrecht“11, wobei er auch Organisationen wie den Europarat sowie die OSZE und deren Normsetzungen einbezieht – stellt neue Anforderungen an das einzelstaatliche Verfassungsrecht und prägt ebenso das europäische Verfassungsrecht, sofern davon schon gesprochen werden kann. In der heutigen komplexen gesamteuropäischen Ordnung ist nicht nur die „Europäische Verfassung“ bzw. die Unionsgrundordnung, sondern sind auch die nationalstaatlichen Verfassungen funktional auf Europas Einigungsprozess bezogen. Die einzelstaatlichen Verfassungen sollen einen innerstaatlichen Kompetenzbereich bezeichnen, der in seiner Qualität und Quantität einen unantastbaren Kern nationaler Identität sichert. Die nationalen Verfassungen fungieren nach inzwischen vorherrschendem Verständnis jedoch andererseits als legitimierte Träger der die herkömmliche nationalstaatliche Souveränität überwindenden europäischen Integration. Umgekehrt dient die als Fragment faktisch existierende „Europäische Verfassung“, soweit dem Unionsvertrag zumindest in Teilen ein solcher Charakter eignet, gleichermaßen der Funktions- sowie Aktionsfähigkeit der Union, dem Schutz der entsprechenden Kernkompetenzen und der Identität der EU-Mitgliedstaaten. Wir haben es insofern mit einer auf Europa bezogenen und durch Europa beding-

10 Peter Schiffauer, Von den Anfängen bis zum Vertrag von Nizza, in: Dimitris Th. Tsatsos (Hg.), Die Unionsgrundordnung. Handbuch zur Europäischen Verfassung, Berlin 2010, S. 27–42, Zitat S. 34. 11 Peter Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: Tsatsos (Hg.), Die Unionsgrundordnung, S. 181–219; vgl. auch ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. Baden-Baden 2011; Armin von Bogdandy (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, Berlin 2003 (auch für das Folgende).

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ten Verfassungsfunktion zu tun, die sich auf das nationale ebenso wie auf das gesamteuropäische Verfassungsrecht bezieht. Durch die einzelstaatlichen Verfassungsartikel – so für die Bundesrepublik in dem nach der deutschen Einigung ganz neu konzipierten Artikel 23 des Grundgesetzes – werden die Nationalstaaten EU-Europas konstitutionell miteinander verknüpft, wird zugleich das konstitutionelle Europarecht verstärkt. In die gleiche Richtung wirken inhaltlich parallele Reformvorhaben der Nationalstaaten. Erwähnt sei nur die ständige Verfeinerung der Grundrechte und des Grundrechte-, insbesondere des Minderheitenschutzes. Tsatsos hat immer wieder die doppelte – oder duale – Legitimation der Union betont, die „nur aus der geschichtlichen Verwurzelung in der Geschichtlichkeit des Europäischen Raums“ verständlich sei.12 Laut der Formulierung des Europäischen Parlaments leitet sich diese Legitimation „von ihren Staaten und Bürgern“ ab. Früher war von den „Staaten und Völkern“ die Rede. Lässt man die für die absehbare Zeit schwer realisierbare Hypothese einer Umwandlung der Europäischen Union in einen Bundesstaat13 außer Acht, kann die Unionszuständigkeit durchaus noch weiter expandieren – allumfassend kann sie nicht werden. Somit betrifft die duale Legitimation speziell diejenigen Bereiche, die allerdings inzwischen bekanntlich einen beträchtlichen Raum einnehmen, welche von der EU erfasst werden.

3. Politikwissenschaftliche Ansätze Die politische Dimension des Rechts tritt bei der Verfassung in besonderem Maß hervor, namentlich bei der Entstehung von Verfassungen, vor allem solchen, die aus einem demokratischen Prozess hervorgehen. Wenn man die Verfassung mit Konrad Hesse allgemein als „rechtliche Grundordnung des

12 Dimitris Th. Tsatsos, Zur Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung – Drei Vorgegebenheiten zum Verständnis des vom Konvent ausgearbeiteten Entwurfes einer Verfassung für Europa, in: Ders., Zur Verfassungsentwicklung Europas. Beiträge aus den Jahren 1997 bis 2008, Berlin 2008, S. 107–136, hier S. 126. 13 In diese Richtung gehen jüngst: Robert Menasse, Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss, Wien 2012. Am 12. Mai 2000 erregte Aufmerksamkeit die Rede von Außenminister Joschka Fischer vor dem Jean Monnet Center der Humboldt-Universität in Berlin: „Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“. Vgl. auch Peter Brandt/Günter Minnerup, Jenseits von Maastricht, in: Willy-Brandt-Kreis (Hg.), Zur Lage der Nation. Leitgedanken für eine Politik der Berliner Republik, Berlin 2001, S. 181–193.

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Gemeinwesens“ definiert14, wird die Frage, ob die Verfassung im rechtlichen oder im politischen Sinn zu verstehen sei, obsolet. Es geht gerade nun um die Beziehung von Recht und Politik, Staat und Gesellschaft, um die Regelung sowohl des Zusammenwirkens als auch des Konfliktzustands zwischen diesen Sphären. Die Politikwissenschaft bestimmt Verfassung nach folgenden drei Aspekten: als formale Rechtsordnung mit Vorrang vor einfachem Recht, als eine durch Volkswillen legitimierte politische Ordnung sowie als ein Ensemble grundlegender Normen, die in der Praxis anerkannt sind. Politikwissenschaftler analysieren die Inhalte einer europäischen Verfassungsordnung, insbesondere die Frage der Demokratie in Europa, die Kompetenzverteilung und den föderalen Charakter der EU. Dabei gilt die (reale) Verfassung grundsätzlich als eine Mehrebenenstruktur, ein „lose verbundenes Mehrebenensystem“ (A. Benz). In der Begriffsdiskussion wie in der Diskussion über Verfassungsinhalte wird erkennbar, dass auch die Politikwissenschaft explizit oder implizit von einem Verfassungsverbund ausgeht, der nationale und europäische Regeln und Normen einschließt.15 Politikwissenschaftler haben sich insbesondere mit der Reform und dem Wandel der Verfassung beschäftigt. Nach der überwiegenden Auffassung ändern sich Verfassungen demnach inkrementell, sei es durch kleine, schrittweise Vertragsänderungen und informale Verfassungspraxis. Verfassungsevolution dominiert über Verfassungsreform. Überwiegend anerkannt ist in diesem Zusammenhang die Darstellung des Integrationsprozesses, die Andrew Moravcsik vorgelegt hat. Demnach verändert sich die Europäische Verfassungsordnung durch eine Sequenz von „Grand Bargains“ (weitreichenden Übereinkünften) und Anpassung der in den Vertragsänderungen beschlossenen Regeln, etwa auch durch interinstitutionelle Vereinbarungen.16 Intensiv untersucht wurde der Konvent, der als ein besonderes Beispiel für eine Verfassungspolitik auf der Basis von Deliberation betrachtet wurde. In Studien zu Vertragsänderungen wird darauf hingewiesen, dass die Interessen der Mitgliedstaaten bzw. ihrer Regierungen zwar Entscheidungen stark prägen, dass aber auch Verfassungsideen aus den 14 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. Heidelberg 1995, Rn. 17. 15 Vgl. zusammenfassend Arthur Benz/Christina Zimmer, The EU’s competences: The „vertical“ perspective on the multilevel system, in: Living Reviews in European Governance 5, Vgl. http://europeangovernance.livingreviews.org/Articles/lreg-2010-1; John Erik Fossum/Augustino Menendez, The Constitution’s Gift: A Constitutional Theory for a Democratic European Union, Lanham 2010. 16 Vgl. Andrew Moravcsik, The Choice for Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, London 1998; Adrienne Héritier, Explaining Institutional Change in Europe, Oxford 2007.

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Mitgliedstaaten sowie Meinungen des Europa-Parlaments und nationaler Parlamente die Inhalte von Reformen beeinflussen.17 Im Übrigen wird – wie auch seitens der Juristen – die Rolle des Europäischen Gerichtshofs betont. Es gibt eine einflussreiche Theorie der „Integration durch Rechtsprechung“.18 Der Mehrebenen-Governance-Ansatz erlangte breite Akzeptanz durch die empirischen Untersuchungen von Liesbet Hooghe und Gary Marks über die EU-Politik gegenüber den Regionen und die Mobilisierung sub-nationaler Akteure im policy-making der Union.19 Diese Forschungen weisen nach, dass die vermehrte Übertragung von Kompetenzen auf die europäische Ebene begleitet wird vom Kompetenzverlust der Nationalstaaten nach unten, gegenüber der regionalen Ebene. Das Zusammenwirken dieser beiden Teilprozesse impliziert, dass die europäische Integration weder ein kontinuierlich-geradliniger, quasi selbstläufiger Prozess mit eindeutiger Richtung ist, noch bereits eine feste politische Struktur erlangt hat, sondern sie bleibt ein ständig weiterhin umkämpftes Feld der Auseinandersetzung. Was man beobachten kann, ist nicht einfach die Etablierung einer zusätzlichen Ebene politischen Handelns, sondern vielmehr die Entstehung eines Systems laufenden Verhandelns der auf mehreren territorialen Stufen jeweils amtierenden Regierungen. Statt des Agierens von Regierungen im Rahmen einer klar begrenzten Gebietshoheit bilden variable Kombinationen von Leitungsgremien unterschiedlicher Autoritätsschichten – europäischer, nationaler, regionaler – politische Netzwerke zwecks Zusammenarbeit auf der Grundlage gegenseitiger Abhängigkeit voneinander bzw. von den Stärken der jeweils anderen. Statt allein das Zusammenspiel zwischen den nationalen Regierungen und der Europäischen Union ins Zentrum zu rücken, wird die Aufmerksamkeit auf diverse Akteure gerichtet (einschließlich der regionalen Exekutiven bzw. Verwaltungen, der nationalen Regierungen und Parlamente, der Europäischen Kommission sowie des Europäischen Parlaments, und natürlich ihrer Interaktionsmuster). Allerdings kann dieses, die Dynamik und die Flexibilität der sich wandelnden Strukturen unterstreichende Konzept der Mehrebenen-Governance nicht 17 Vgl. Daniel Göler, Deliberation – Ein Zukunftsmodell europäischer Entscheidungsfindung? Analyse der Beratungen des Verfassungskonvents 2002–2003, Baden-Baden 2006; Sonja Puntscher-Riekmann/Wolfgang Wessels (Hg.), The Making of a European Constitution. Dynamics and Limits of the Convention Experience, Wiesbaden 2005. 18 Vgl. Alec Stone Sweet, The Judicial Construction of Europa, Oxford 2004; Joseph H. Weiler, The European Court of Justice: The Politics of Judicial Integration, Basingstoke 1998. 19 Vgl. Liesbet Hooghe/Gary Marks, Multi-Level Governance and European Integration, Lanham 2001; dies./Arjan H. Schakel, The Rise of Regional Authority: a Comparative Study of 42 Democracies (1950–2006), London 2010.

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erklären, warum und wie ein dermaßen kompliziertes System funktionieren kann. So wird dann vorgeschlagen, die Aspekte multilateralen intergouvernementalen Aushandelns durch den Gesichtspunkt asymmetrischer Interaktion zu ergänzen.20 Dabei haben die auf europäischer Ebene verhandelnden Regierungen die Entscheidungsfindung in den heimischen Parlamenten zu berücksichtigen und ebenso die der einflussreichen gesellschaftlichen Interessengruppen – bekanntlich ein wesentliches Hindernis für jede redistributive Politik der Union.

4. Geschichtswissenschaftliche Ansätze Nun zur eigentlichen Verfassungsgeschichte unter Berücksichtigung des Beitrags der Historiker: Wie die Europäische Union ist schon der Nationalstaat in der Form des Verfassungsstaats, insbesondere des demokratischen Verfassungsstaats, eine Eigentümlichkeit dieses Kontinents Europa (samt der „weißen Siedlerkolonien“, vor allem in Nordamerika). Der nationale Verfassungsstaat schuf – ungeachtet der gegenläufigen Entwicklungen in Gestalt von Weltkriegen und Diktaturen – die politisch-sozialen Voraussetzungen für die spätere europäische Einigung, indem er die gesellschaftliche und staatliche Integration mit der Partizipation der Bevölkerung verband und dafür das Empfinden kultureller und historischer Gemeinsamkeiten aktivierte, die mehr oder weniger real, mehr oder weniger imaginiert waren.21 Das spezifisch europäische Erbe des Konstitutionalismus ist seinerseits gebunden an weit zurückreichende historische Voraussetzungen, die unter anderem Wolfgang Reinhard plastisch herausgearbeitet hat22 und die ich, von der Geographie abgesehen, mit wenigen Stichworten nur andeuten will: der Quasi-Pluralismus und die territoriale Dezentralisierung Alteuropas (einschließlich früher städtischer und dörflich-genossenschaftlicher Autonomie); der Dualismus politischer und 20 Vgl. u.a. Fritz W. Scharpf, European Governance: Common Concerns vs. The Challenge of Diversity, in: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Working Paper 01/6, September 2001. 21 Vgl. für vieles Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994; ders., Phoenix Europa. Die Moderne. Von 1740 bis heute, München 1998; Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2001. 22 Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl. München 2002; ders., Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, 2. Aufl. München 2006; vgl. auch Wulf Köpke/Bernd Schmidt (Hg.), Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte, München 1999.

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geistlicher Herrschaft mit der Verselbstständigung der Römischen Kirche, die antikes Erbe weitertransportierte; die frühe Herausbildung einer elaborierten Rechtswissenschaft sowie eines Rechtswesens und eines zunächst von der Theologie ausgehenden, reflexiven Denkens; die Tradition ständischer Vertretung; die Vorstellung eines antidespotischen Widerstandsrechts und der daran geknüpfte Diskurs, auf den sich letztlich die modernen Menschenrechtsdeklarationen gründen. Historiker, unter ihnen namentlich deutsche, haben sich seit jeher mit den Bauformen des Gemeinwesens, nicht immer unter der Bezeichnung „Verfassungsgeschichte“, beschäftigt. Gemeinsam ist ihnen dabei gewesen, dass sie meist von einem empirischen, keinem normativen Verfassungsbegriff ausgegangen sind – im Sinne der „Verfasstheit“ einer politisch-sozialen Einheit, die ja immer gegeben ist, auch bei nicht- oder vorkonstitutionellen Ordnungen. Das muss nicht bedeuten, den Bruch um 1800, die Wende zum Verfassungsstaat, die Teil der ökonomisch-politischen „Doppelrevolution“ Europas (E. Hobsbawm) war, in ihrer Bedeutung zu unterschätzen. Methodisch-begrifflich innovativ war des Mediävisten Otto Brunners „Land und Herrschaft“.23 Sein ganzheitlicher Ansatz hebt die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft weitgehend auf, was für die Vormoderne einen gewissen Sinn macht (sofern man dort überhaupt von einem Staat sprechen kann; die Mediävisten ziehen es inzwischen meist vor, „Personenverbände“ zu identifizieren). Für die Neuzeit-Historiker ist noch relevanter als Brunner Otto Hintze, der um die Verbindung von Verfassungs-, Rechts-, Verwaltungs- und Sozialgeschichte bemüht war und mit weitem Horizont international vergleichend arbeitete.24 Charakteristisch für die von Historikern betriebene Verfassungsgeschichte, jedenfalls im größeren Teil des 20. Jahrhunderts, war eine ge23 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien 1965 (zuerst Baden b. Wien 1939); ders., Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956; ders., Sozialgeschichte Europas im Mittelalter, Göttingen 1978. Zusammen mit Werner Conze und Reinhart Koselleck gab Otto Brunner bis zu seinem Tod auch heraus: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997. Zu Brunner vgl. Willi Oberkrone, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Reinhard Blänkner, Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer europäischen Sozialgeschichte, in: Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2008; sowie Lutz Raphael (Hg.), Von der Volksgeschichte zur Strukturgeschichte. Die Anfänge der westdeutschen Sozialgeschichte 1945–1968, Leipzig 2002. 24 Vgl. Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen in 3 Bänden, Hg. Gerhard Oestreich, Göttingen 1962–1967. Zu Hintze vgl. Jürgen Kocka, Otto Hintze, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 3, Göttingen 1972, S. 275–298; Manfred Res-

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wissermaßen etatistische Orientierung, die hauptsächlich auf die Entstehung und den Ausbau von Regierungs- und Verwaltungsinstitutionen abhob.25 Im späteren 20. Jahrhundert gewann dann ein stark politologisch akzentuierter Verfassungsbegriff einigen Einfluss, wie ihn cum grano salis Hans Boldt formuliert hat.26 Die Anfänge des modernen Verfassungsbegriffs reichen in Großbritannien ins frühe 17. Jahrhundert zurück und nahmen im Verlauf des 18. Jahrhunderts in den Debatten der aufgeklärten Geisteselite auch auf dem Kontinent, mehr und mehr normativ aufgeladen und politisiert, Konturen an: Freiheit der Person, Gleichheit vor dem Gesetz, Gewaltenteilung, Pressefreiheit, politische Repräsentation. Seit dem späten 18. Jahrhundert lassen sich große europaweite Verbindungslinien ausmachen, bestimmte Konstitutionalisierungsschübe oder Verfassungswellen und Verfassungsregionen, die das vorherrschende Bild dieses Zeitraums als einer Großepoche nationaler Fragmentierung erheblich relativieren.27 Der im Hinblick auf das Wahlrecht (genauer: das Männerwahlrecht, das damals als Maßstab galt) wie bezüglich des Einflusses des Parlaments auf die Regierungsbildung überwiegend noch vordemokratische Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts zeichnete sich durch eine dualistische Grundlage aus. Deren Hauptzweck bestand darin, zwar die Kontrolle und Mitwirkung repräsentativer Organe an den Staatsgeschäften zu gewährleisten, andererseits aber die monarchisch geleitete Regierungsgewalt gegenüber direkter parlamentarischer Einwirkung abzuschirmen. sing, Zur Methodologie und Geschichtsschreibung des preußischen Historikers Otto Hintze, Frankfurt a.M. 1996. 25 Charakteristisch dafür die Arbeiten von Fritz Hartung, insbes. ders., Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. Aufl. Stuttgart 1969; grundlegend – nicht nur für Hartung – Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005. 26 Vgl. Hans Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, 2 Bde., München 1990. – Vgl. als neueren Gesamtüberblick der modernen Geschichte aus fachhistorischer Perspektive (Boldt ist, streng genommen, ein in hohem Maß historisch arbeitender Politikwissenschaftler und Jurist): Hartwig Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998. 27 Vgl. neben der Monographie von Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp. Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999, das vom Verfasser sowie von Werner Daum, Martin Kirsch und Arthur Schlegelmilch herausgegebene Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bonn, Bd. 1: 2006, Band 2: 2012, Band 3: 2015, jeweils mit ausführlicher, synthetisierender Einleitung und mit CD-Rom-Quellen-Edition. Zum Projekt vgl. http://www.fernuni-hagen.de/dtiev/handbuch_verfassungsgeschichte.

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Dabei ist zu unterscheiden zwischen noch nicht parlamentarisierten Verfassungen mit der Tendenz der Entwicklung zum Parlamentarismus und solchen mit monarchischem Schwerpunkt. Abgesehen vom britischen Sonderfall, der bereits mit der „Glorreichen Revolution“ (1688/89) zugunsten einer aristokratisch dominierten Mischverfassung entschieden worden war und sich seitdem autochthon weiterentwickelte, orientierten sich die konstitutionellen Verfassungen Europas mit dem Schwerpunkt im Parlament an der Verfassung des Königreichs Frankreich vom 3. September 1791 und in der Folge an der spanischen Verfassung von Cádiz (1812) sowie an der belgischen von 1831. Auch die nicht verwirklichte Paulskirchen-Verfassung von 1849 gehört in diese Kategorie. Für den im engeren Sinn monarchischen Konstitutionalismus ist hingegen von zwei Hauptsträngen auszugehen: dem auf Frankreichs Verfassung vom 4. Juni 1814 zurückzuführenden „Charte-Konstitutionalismus“, die Charte erlassen durch königlichen Oktroi nach dem Sturz Napoleons, sowie dem „deutschen Konstitutionalismus“, wie er namentlich im Norddeutschen Bund und dem westlichen Teil des Habsburgerreichs seit 1867 bzw. im Deutschen Kaiserreich seit 1871 seinen Niederschlag fand.28 Hinzu kommen direktorale sowie föderale Varianten als Sonderformen mit länderübergreifenden Wirkungen. Auch der Konstitutionalismus mit monarchischem Schwerpunkt ist ein maßgeblicher und für den europäischen Gesamtvorgang der Konstitutionalisierung wichtiger, teils befördernder, teils hemmender, historischer Faktor, weil er den etablierten Herrschaftsträgern gerade in neu zusammengesetzten Territorien zwecks Integration der Bevölkerung einen pragmatischen Zugang zur Verfassungsstaatlichkeit qua Selbstbindung verschaffte. Mit Charakterisierungen wie „Halbabsolutismus“ oder „Scheinkonstitutionalismus“29, übernommen aus der zeitgenössischen Polemik, ist diesem Phänomen analytisch nicht beizukommen. Für den empirisch-historischen Ver28 Ob der „deutsche Konstitutionalismus“ als eigener Verfassungstyp oder lediglich als Übergangsordnung anzusehen sei, war in den 1960er und 70er Jahren Gegenstand der sog. Huber-Böckenförde-Kontroverse. Zwischen zwei Staatsrechtlern ausgetragen, handelte es sich um eine der wichtigsten historischen Debatten der Nachkriegszeit. Vgl. dazu Ernst Rudolf Hubers unentbehrliches opus magnum „Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789“, hier insb. Bde. 3 u. 4, und Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961; ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, Köln 1972. – Als neuere Gesamtinterpretation vgl. Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009. 29 So z.B. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973 u.ö.; Wehler hat seine Sicht auf das Kaiserreich im Bd. 3 der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, München 1995, erheblich differenziert und teilweise auch revidiert.

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gleich ist ein Verfassungsbegriff vonnöten, der sowohl die formelle und materielle als auch die faktische Ausstattung der Staatsorgane, zudem das working of institutions, ferner die explizite und implizite Regelung und Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft sowie deren Vermittlung und wechselseitige Perzeption einschließt, naturgemäß aus der Perspektive von Staat und Verfassung, genauer: im Hinblick auf ihren Verfassungsbezug.30 War das 19. Jahrhundert eines der Konstitutionalisierung, teilweise schon verbunden mit der Parlamentarisierung der Regierungsweise, zuerst in Großbritannien während der 1830er und 40er Jahre, und tendenziell mit der Ausweitung der Wahlkörper, so war das 20. Jahrhundert eines der Weiterentwicklung des Verfassungsstaats durch volle Demokratisierung des Stimmrechts und Durchsetzung des parlamentarischen Regierungssystems. Teilweise war dies verbunden mit sozialemanzipatorischen Bestrebungen und der schrittweisen Verwirklichung des Wohlfahrtsstaats, Letzteres vor allem im dritten Jahrhundertviertel. Der Erste Weltkrieg wirkte als Katalysator einer teils in reformerischen, teils in revolutionären Formen sich ausdrückenden Staatsgründungs-, Konstitutionalisierungs- und Demokratisierungswelle. Diese begann sich aber schon seit den frühen 1920er Jahren an den aufkommenden faschistischen und rechtsautoritären Regimes – zunächst in Süd-, Südost- und Ostmitteleuropa – zu brechen. Außerdem wurde das Europa der Zwischenkriegszeit31 in Gestalt der Sowjetunion mit dem neuen System der kommunistischen Partei- und Weltanschauungsdiktatur konfrontiert. Das „Europa der Diktaturen“32 darf nicht als „eigentlich“ jenseits der europäischen Verfassungsgeschichte im normativen Sinn aus der Betrachtung ausgeblendet werden; die konstitutionellen Neuanfänge in den Nationalstaaten nach 1944/45, Mitte und Ende der 70er Jahre (in Griechenland, Portugal und Spanien) sowie ab 1989, ebenso die unentwegten Initiativen zur Einigung Europas versuchten nicht zuletzt, die vorangegangenen Diktaturerfahrungen zu verarbeiten.

5. Schlussbemerkungen Die Debatte über die Zukunft Europas kann ohne Berücksichtigung der historischen Tiefendimension, also der überwiegend einzelstaatlichen, aber eben 30 Vgl. dazu die Ausführungen in der Einleitung von Brandt u.a. (Hg.), Handbuch, Bd. 1, S. 7–23. 31 Vgl. beispielhaft Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008. 32 Vgl. Gerhard Besier/Mitarb. Katarzyna Stokłosa, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006.

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nicht isoliert voneinander gestalteten Verfassungsgeschichte, nicht angemessen geführt werden. Der Hinweis auf das Demokratiedefizit der EU ist nach wie vor berechtigt, doch hat das Europäische Parlament in den letzten Jahrzehnten schon einen erheblichen Kompetenzzuwachs erzielt. Möglicherweise wird die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament im Jahr 2014 einmal als eine Durchbruchstelle der faktischen Parlamentarisierung der Union in den Geschichtsbüchern vermerkt werden. Auch in den Nationalstaaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zumal wenn sie eine monarchische Spitze hatten, vollzog sich der Übergang zum parlamentarischen System, jedenfalls zunächst, meist gewohnheitsrechtlich, ohne verfassungsrechtliche Festschreibung. Reale Demokratie beinhaltet aber mehr als Regierungsbildung aufgrund parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse und indirekt aufgrund von allgemeinen Wahlen. Ein europäischer Demos als Ensemble der Völker ist bislang allenfalls keimhaft vorhanden. Er kann – auch das lehrt der Blick in die Geschichte des Verfassungsstaats in Europa – nur in Verbindung mit einer breiten demokratischen Öffentlichkeit entstehen, und eine solche bildet sich nicht allein in intellektuellen Debatten, sondern auch und vor allem in konkreten gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen. Welches Europa wollen wir: eines, das die Behauptung des Kontinents im 21. Jahrhundert vor allem in einer möglichst geschmeidigen Anpassung an „die Märkte“, sprich: an den weitgehend unregulierten globalen, namentlich Finanzmarkt-Kapitalismus sucht; oder eines, das die noch intakten Elemente des europäischen Zivilisations-, Demokratie- und – untrennbar damit verbunden – Sozialstaatsmodells verteidigt, zeitgemäß ausbaut und weiterentwickelt; also ein Europa, in dem die Politik nicht vor den vermeintlich alternativlosen Sachzwängen des Wirtschaftslebens kapituliert, sondern vielmehr ihren Primat durchsetzt, zum Nutzen des gesamten Kontinents und letztlich der ganzen Welt?

HANS VORLÄNDER

Abschied vom methodologischen Etatismus Vorüberlegungen zu einer Entwicklungsgeschichte des Konstitutionalismus in Europa

Einerseits ist der Prozess der Konstitutionalisierung in Europa nicht ohne die Traditionen des nationalen Verfassungsstaates zu verstehen, andererseits hat er diese hinter sich gelassen und ein eigenes Momentum entwickelt, das mit den herkömmlichen Kategorien moderner Verfassungsstaatlichkeit zu verstehen kaum noch möglich erscheint. Mit diesem Dilemma sieht sich die gegenwärtige Verfassungswissenschaft konfrontiert, die ihre Begriffe neu zu justieren gezwungen ist. Dabei haben Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaften von jeher unterschiedliche Zugänge zum Gegenstand konstitutioneller Ordnungen gefunden, auch innerhalb ihrer jeweiligen Disziplin unterschiedliche Konzepte verfolgt. Doch hat es an dem für konstitutiv gehaltenen Zusammenhang von moderner Verfassung und moderner Staatlichkeit disziplinenübergreifend keinen Zweifel gegeben. Zu offensichtlich gingen die moderne Verfassung und der demokratische Nationalstaat eine enge, symbiotisch zu nennende Beziehung ein. Was für die Genese beider seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zunächst in Nordamerika, sodann – heftig um- und erkämpft – in Kontinentaleuropa, zutraf, sollte auch für ihre wechselseitige normative Geltung in Anspruch genommen werden: Ein Staat, der keine – geschriebene, gewaltenteilige, Grundrechte beinhaltende – Verfassung besaß, konnte nicht als legitim, zumindest seit der französischen Revolution nicht als fortschrittlich und modern gelten. Dieser scheinbar unauflösliche Zusammenhang von Demokratie, Verfassung und Nationalstaat aber wird nun zunehmend fragwürdig, weniger in normativer denn in analytischer Hinsicht. Zum einen zeigt die Europäische Union immer deutlicher Züge einer konstitutionellen, also durch grundlegende Normen, Institutionen und Verfahren verfassten Ordnung, ohne dabei aber einen den Nationalstaaten analogen Charakter geschlossener Staatlichkeit aufzuweisen. Zum anderen geben sich globale oder transnationale Arrangements und Regelwerke jenseits des Staates zu erkennen, die quasi-konstitutionelle, mithin also regulative und bisweilen auch konstitutive Funktionen einnehmen. In beiden Hinsichten scheint ein historisches Konzept leer zu laufen, welches den Konstitutionalismus an die Herausbildung und rechtliche Ordnung des mo-

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dernen demokratischen Verfassungsstaates gebunden hat. Damit könnte auch eine Verfassungsgeschichte fragwürdig geworden sein, die ihren Gegenstand als Geschichte des Verfassungsstaates identifiziert. Der vorliegende Essay will eine Perspektive eröffnen, den methodologischen Etatismus zu relativieren, indem ein anderer, auf die unterschiedlichen Praxen und die in ihnen zum Ausdruck kommenden normativen Vorstellungen konstitutioneller Ordnung abstellender Begriff der Verfassung eingeführt wird, der als epochenübergreifende analytische Kategorie seine Brauchbarkeit erweisen und die historischen Varietäten europäischer Konstitutionalismen idealtypisch erfassen kann. Damit wird auch ein Weg eröffnet, die gegenwärtigen europäischen Konstitutionalisierungsprozesse außerhalb des Paradigmas tradierter Verfassungsstaatlichkeit als evolutionäre konstitutionelle Ordnung zu deuten.

1. Das Paradigma demokratischer Verfassungsstaatlichkeit Die Epoche des modernen Konstitutionalismus setzt gemeinhin mit Emer de Vattels programmatischer Bestimmung von 1758 ein, wonach die Verfassung „le règlement fondamental qui détermine la manière dont l’Autorité Publique doit être exercée est ce qui forme la Constitution de l’Etat“ ist1. Die Verfassung im Singular wurde zum schriftlichen Dokument des fundamentalen Regelwerks öffentlicher Ordnung. Damit war die Zeit der vielfältigen Herrschaftsverträge und leges fundamentales, auch der unterschiedlichen Erklärungen von Rechten, verstanden als Ordnungen privilegierter Stände, zu Ende. Die moderne Idee der Verfassung wurde dann 1776 in Nordamerika praktische Realität, entfaltete revolutionäre Wirkung und prägte in der Folge nachhaltig die Selbstbeschreibung des modernen Konstitutionalismus. Das lag vor allem an dem universellen Geltungsanspruch, der sich aus der demokratischen Konstituierung einer bürgerlichen Selbstregierung ableitete und die Gleichheit der Bürger sowie ihrer zivilen und politischen Rechte stipulierte. Der Geltungsanspruch wurde im Medium der Schriftlichkeit fixiert und in Form des Rechts zu gewährleisten versucht. Im Recht kam auch der Anspruch des doppelten Vorrangs zum Ausdruck, zum einen gegenüber der Politik, zum anderen gegenüber dem ‚einfachen‘ Gesetzesrecht. Den Zeit1 Le Droit des gens I, 3, § 27 (1758), zit. n. Olivier Beaud, L’histoire du concept de constitution en France. De la constitution politique à la constitution comme statut juridique de l’Etat, http://www.juspoliticum.com/L-histoire-du-concept-de.html?artpage=5-6 (Zugriff: 7.3.2014).

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läuften enthoben werden sollten diese Grundregeln durch Verfahren ihrer erschwerten Änderbarkeit. Dieser so gefasste moderne Verfassungsbegriff scheint denn auch eine klare Zäsur zu antiken und mittelalterlichen Konstitutionalismen zu markieren. Die Unterschiede bestehen danach darin, dass weder die Antike noch das Mittelalter eine zentrale Konzeptualisierung der Verfassung als normative Ordnung kannten, Verfassungen eher empirisch-deskriptiv als Formen der Verfasstheit zu verstehen waren, die auf Praxen, Gewohnheiten und Traditionen beruhen, während die Moderne die Verfassung als normatives und verschriftlichtes Ordnungsmodell begreift, das zumeist den Charakter eines einheitlichen Dokumentes hat. Entscheidendes Datum für dieses Evolutionsnarrativ des modernen Konstitutionalismus ist die Entfaltung moderner Staatlichkeit, unter deren Voraussetzung – Vereinheitlichung des Herrschaftsgebietes, zentrale Steuerung, einheitlicher Rechtsraum – die Verfassung ihren Geltungsanspruch erst vollständig materialisieren kann. Ein solcher Begriff moderner Verfassung, der zur Grundlage einer Theorie und Geschichte des Konstitutionalismus werden konnte, weist zwar klare, auch normativ einzufordernde Konturen auf, könnte aber als epochenspezifischer Ausdruck wünschenswerter und faktischer Verfasstheiten in dem Moment – vor allem als analytisches Konzept – defizient werden, wo sich der starke, wechselseitige Bezug von Konstitution und Staatlichkeit aufzulösen beginnt. Das kann für die gegenwärtigen Entwicklungen, die in den Begriffen transnationaler, globaler oder sozietärer Konstitutionalismen eingefangen werden, nahegelegt werden.2 Gerade der eingangs angezogene Fall der Europäischen Union gibt Anlass, eine Lockerung, wenn nicht gar eine Auf2 Vgl. hierzu jetzt ausführlich Hans Vorländer, Die Verfassung vor, nach, über und unter dem Staat. Die Konstitutionalismusdebatte in der Suche nach einem anderen Verfassungsbegriff, in: Helena Lindemann u.a. (Hg.), Erzählungen vom Konstitutionalismus, Baden-Baden 2012, S. 23–42. Zu den unterschiedlichen Ansätzen, diese neuen Entwicklungen auf den Begriff zu bringen, vgl. etwa David Sciulli, Theory of Societal Constitutionalism. Foundations of a Non-Marxist Critical Theory, Cambridge 1992; Neil Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, Modern Law Review 65 (2002), S. 317; Nico Krisch, Beyond Constitutionalism: The Pluralist Structure of Postnational Law, Oxford 2010; Matthias Kumm, The Cosmopolitan Turn in Constitutionalism: On the Relationship Between Constitutionalism in and Beyond the State, in: Jeffrey L. Dunoff/Joel P. Trachtman (Hg.), Ruling the World? International Law, Global Governance, Constitutionalism, Cambridge 2009, S. 258; Anne Peters, The Merits of Global Constitutionalism, Indiana Journal of Global Legal Studies 16 (2009), S. 397; Christine E. J. Schwöbel, Global Constitutionalism in International Legal Perspective, Leiden 2011; Gunther Teubner, Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin 2012; Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung II. Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, Berlin 2012.

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lösung der exklusiven Verknüpfung von Konstitutionalität und Staatlichkeit zu diagnostizieren. Damit muss nicht – vorschnell – ein Ende des modernen Konstitutionalismus, wie wir ihn zu kennen glauben, prognostiziert werden, es könnte aber in konzeptionell-analytischer Hinsicht eine Perspektive nützlich sein, andere historische Erscheinungsformen in das Blickfeld zu rücken, die sich vom bislang diskutierten Normalmodell demokratischer Verfassungsstaatlichkeit unterscheiden.

2. Varietäten konstitutioneller Ordnung Eine Relativierung des Zusammenhangs von Verfassung und Staatlichkeit ergibt sich aus historischer Perspektive. Denn hier lassen sich konstitutionelle Regelwerke bereits zu einem Zeitpunkt identifizieren, wo die Kennzeichen moderner Staatlichkeit nicht, auch nicht einmal in rudimentären Formen, erkennbar sind. Schon die Antike kannte Verfassungen, sie und ihre philosophisch-politischen Formenlehren zielten auf die Ordnungen von Gemeinschaften: „hinsichtlich der verschiedenen Ämter, auf welche Weise sie zugeteilt sind, was die Entscheidungsinstanz über die Verfassung ausmacht und was das Ziel einer jeden Gemeinschaft ist“.3 Auch Ordensstatute, Stadtverfassungen und Universitätsordnungen des 12. und 13. Jahrhunderts können als konstitutionelle Regelwerke bezeichnet werden: sie gaben einer Gemeinschaft der Mönche, der Bürger sowie der Lehrenden und Lernenden eine Ordnung, und zugleich waren sie Ausdruck der vita religiosa, der kommunal-autonomen Republik und der universitas litterarum. Diese Ordnungen waren mithin, ganz so wie moderne Verfassungen, bereits Regelwerke, die positiv gegeben wurden. Indes galten sie, anders als moderne Konstitutionen, nicht universal für einen territorialstaatlich verfassten Raum, sondern für segmentäre, partikulare Gemeinschaften. Von ihrer inneren Struktur jedoch besaßen sie fast alle auch die konstitutiven Elemente, von Verfahren der Gesetzgebung, der Aufteilung der Ämter bis hin zu Revisionen der Statuten, die moderne Verfassungen auszeichnen. In einer komparativen Perspektive wird auch eine Varietät des kontinentaleuropäischen Normalmodells deutlich, wenn jene Verfassungstraditionen der Neuzeit einbezogen werden, die ohne geschriebene Verfassungen auskommen, denen aber zugleich der konstitutionelle Charakter nicht bestritten werden kann. So können Ordnungsvorstellungen, die mit Verfassungen verbunden werden, auch, wie die Verfassungstradition Großbritanniens zeigt, im 3 Aristoteles, Politik. Übers. u. hrsgg. von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989, S. 203.

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kollektiven Gedächtnis und als consuetudines, also in den politischen Praktiken – constitutional conventions – und Vorstellungshorizonten einer politischen Kultur, gespeichert und normativ ausgezeichnet werden und gleichwohl die von einer geschriebenen Verfassung erwarteten Ordnungsleistungen erbringen. Damit verschiebt sich auch der analytische Fokus der Geltung einer Verfassung: Nicht auf die Genese uno actu kommt es hier vornehmlich an, sondern auf die konkrete Geltung hic et nunc. Im Übrigen gilt das auch für moderne Verfassungen, die aus Revolutionen, Umbrüchen oder Totalrevisionen hervorgegangen sind und die neu geschaffen wurden, also dem vermeintlichen Normalmodell moderner Verfassunggebung entsprechen. Zwar ist der demokratische Konstitutionsakt für die Legitimität der in Kraft gesetzten Verfassung zunächst wesentlich. Auch vermag ein auf den Text des Dokumentes und seine Entstehung gerichteter verfassungshistorischer Blick den auf den Gründungsakt bezogenen Prozess der Genese, die Willens- und Entscheidungsbildung des Verfassungsgesetzgebers zu rekonstruieren. Doch werden bei einer solchen Fokussierung zwei entscheidende Gesichtspunkte ausgeblendet: Zum einen verharrt die Verfassung ja nicht in ihrem Charakter als Textdokument der Gründungszeit; sie tritt vielmehr an, ihre Geltung für eine unbestimmte Zukunft zu verstetigen. Die Genese allein vermag deshalb keine zureichende Prognose ihrer fortwirkenden Geltung zu geben. Zum anderen erklärt sich die jeweilige Verfassungsgeltung nicht allein aus dem konstitutionellen Gründungsakt, weil sich eine konstitutionelle Ordnung jenseits ihrer schriftlichen Fixierung weiterentwickelt, und zwar in Formen expliziten oder impliziten Verfassungswandels, und dabei die normativen Sinngehalte des Ursprungstextes im Lichte gewandelter Realitäten verändert, aktualisiert oder im Wege interpretierender Tätigkeit von (Verfassungs-)Richtern fortgeschrieben werden. Was folgt daraus? Konstitutionelle Ordnungen sind zum einen keineswegs Erfindungen moderner Staatlichkeit, auch vormoderne, sektorale, partikulare und kleinräumige Assoziationen kannten die Ordnungsfunktion und Leistungen von Statuten und Verfassungen. Unbestritten hat die flächenstaatliche Hochmoderne mit dem sich gleichermaßen auf Territorium und Bevölkerung erstreckenden umfassenden Herrschaftsanspruch auch den normativen Geltungsanspruch von Verfassungen erheblich ausgedehnt. Aber die historische wie sozialwissenschaftliche Analyse zeigt zum anderen auch, dass dieser Normativitätsanspruch erst in einem Prozess von Anerkennung und Akzeptanz politisch-gesellschaftlicher Kräfte eingelöst werden kann. Nicht-schriftliche Verfassungskulturen vertrauen auf orale Überlieferungen, eingeübte Praxen, auf canones des Selbstverständlichen. Und verschriftete, urkundlich ‚besiegelte‘ Verfassungstraditionen schreiben sich performativ, durch Inszenierun-

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gen ihrer selbst, ihrer Gründungsmomente wie ihrer tragenden Institutionen, auch durch einen stream of interpretations and narratives fort.4 Erst recht gilt dies für solche scheinbar ungefestigten Ordnungen wie das Alte Reich, die von den einen als „Monstrum“ (Pufendorf), von den anderen als „nicht mehr zu begreifen“ (Hegel) bezeichnet wurden, und die letztlich nur durch ihre Symbolsprache zu verstehen, aber dennoch durchaus als Verfassungen anzusehen sind.5 Für eine epochenübergreifende und komparative analytische Perspektive können konstitutionelle Ordnungen mithin als Ordnungen definiert werden, in denen spezifischen Regeln und Leitideen eine herausgehobene, grundlegende Bedeutung zugeschrieben sind und von denen stabilisierende, orientierende und regulative Funktionen erwartet werden. Ihre Geltung kann als Produkt erfolgreicher Praxis über längere Zeit beschrieben werden. Mit diesem, aus historischer wie komparativer Analyse gewonnenen Begriff konstitutioneller Ordnung als einer emergenten Ordnung lassen sich dann auch sowohl transnationale, regionale und globale Konstitutionalisierungsprozesse beobachten wie die historischen Varietäten europäischer Konstitutionalismen beschreiben – und daraufhin befragen, ob und wie in ihnen eine Zuschreibung als normative, konstitutionelle Ordnung mit umfassendem regulativem Geltungsanspruch erfolgt.6

3. Typen und Entwicklungswege des europäischen Konstitutionalismus Die analytische Perspektive verschiebt sich damit auch vom Verfassungsstaat auf die Verfassungskultur. Es sind die kulturellen und historischen Kontexte, in denen sich konstitutionelle Ordnungen herausbilden und aus denen sich Rang, Stellung und Geltung von Verfassungen ergeben. Unter Verfassungskulturen 4 Vgl. Hans Vorländer, Verfassungen und Rituale in Vormoderne und Moderne, in: Margo Kitts u.a. (Hg.), State, Power, and Violence, Vol. III, Wiesbaden 2010, S. 135. Verfassungen als komplexe Narrative zu analysieren und zu vergleichen schlägt ebenfalls Günter Frankenberg, Comparing constitutions: Ideas, ideals, and ideology – toward a layered narrative, in: Int’l J Con Law, Vol. 4, No. 3 (2006), S. 439 vor. 5 Vgl. beispielsweise die Analyse von Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008. 6 Die Umstellung des Verfassungsbegriffs ist näher ausgeführt und begründet worden in Hans Vorländer, Die Verfassung als symbolische Ordnung. Perspektiven einer kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie, in: Michael Becker/Ruth Zimmerling (Hg.), Politik und Recht. PVS-Sonderheft 36, Wiesbaden 2006, S. 229– 249.

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können folglich jene verfestigten, über lange Zeit bestehenden kollektiven Vorstellungen und Praxen verstanden werden, die die Sinngehalte, die tragenden Prinzipien und Leitideen einer politischen Ordnung normativ auszeichnen.7 Für Europa ließe sich diesbezüglich von distinkten Verfassungskulturen sprechen, in denen sich drei Entwicklungswege und Idealtypen europäischer Konstitutionalismen in historisch verdichteter Weise zum Ausdruck bringen.8 Da ist erstens das historisch-evolutionäre Konzept: Konstitutionelle Ordnungen bilden sich in einem langen geschichtlichen Prozess heraus. Ihre Regelungen beruhen auf Gewohnheit und Konvention. Was vernünftig ist, bewährt sich und übersteht die historische Veränderung. Dieses Ordnungsverständnis ist gleichermaßen historisch wie politisch. Es ist weniger rechtlich und normativ, die Verfassung ist keine Satzung, sie ist nicht konstitutiv für ein politisches Gemeinwesen. Die Verfassung ist hingegen Ausdruck einer konkreten historisch-politischen Verfasstheit eines Gemeinwesens und insofern Ausdruck existierender und historisch bewährter Gesetze, Sitten, Bräuche und Gewohnheiten. Es handelt sich also um einen deskriptiven Verfassungsbegriff, ihre normative Kraft bezieht die Verfassung aus der Normativierung des Faktischen. Eine Verfassung des historisch-evolutionären Typus kodifiziert demnach allenfalls das, was bereits vorhanden ist. Das historisch-evolutionäre Ordnungskonzept ist vor allem der englischen Verfassungstradition eingeschrieben. England kennt keine kodifizierte Verfassung, ist gleichwohl immer davon ausgegangen, dass es eine constitution besitze. Die rechtliche Normativität dieser constitution ist gering, ein Vorrang des Verfassungsrechts gegenüber der Politik besteht so gut wie nicht. Die politische Souveränität kommt dem Parlament zu, die Legitimität der politischen Ordnung ergibt sich zum einen aus den anerkannten und bewährten, althergebrachten Regeln und Konventionen, zum anderen aus dem auf strikter 7 Vgl. dazu Hans Vorländer, What is „Constitutional Culture“?, in: Silke Hensel u.a. (Hg.), Constitutional Cultures: On the Concept and Representation of Constitutions in the Atlantic World, Newcastle upon Tyne 2012, S. 21–42. 8 Vgl. auch Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 3. Aufl. München 2009, S. 7 ff. u. 34 ff.; ähnliche Unterscheidungen treffen auch Ulrich K. Preuß, Einleitung: Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, in: Ders. (Hg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, und Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: Politische Vierteljahresschrift 36,1 (1995), S. 49–66. Vgl. auch Miroslaw Wyrzykowski (Hg.), Constitutional Cultures, Warschau 2001, mit Beiträgen zum Begriff der Verfassungskultur und zu spezifischen Ausprägungen von – nicht nur – europäischen Verfassungskulturen. – Im Folgenden lehne ich mich stark an frühere Darstellungen an, vgl. zuletzt Hans Vorländer, Europas multiple Konstitutionalismen, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 5,2 (2007), S. 160–180.

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Mehrheitsherrschaft beruhenden parlamentarischen System. Politische Identität wächst historisch. Vom historisch-evolutionären Konzept ist, zweitens, das rational-voluntaristische Ordnungskonzept zu unterscheiden. Die konstitutionelle Ordnung geht auf einen Willensakt der verfassunggebenden Gewalt zurück. Die Verfassung ist hier, anders als in der historisch-evolutionären Tradition, nicht natürlich gewachsen, sondern bewusst entworfen und in Kraft gesetzt worden. Insofern kommt der Verfassung dieses Typus auch eine konstitutive Bedeutung für die institutionelle und prozedurale Ordnung zu. Die Verfassung gibt auch der Einheit des politischen Gemeinwesens Ausdruck, aber es ist nicht die Verfassung, die die politische Einheit stiftet. Hierin liegt wiederum eine gewisse Gemeinsamkeit mit dem historisch-evolutionären Verfassungskonzept. Es sind die Ideen von Staat, Nation oder Republik und der mit ihnen verbundenen Ordnungsvorstellungen, die die Legitimationsressourcen für das politische System bereitstellen. Der Verfassung kommt in diesem Zusammenhang dann eine instrumentelle Funktion zu, sie ist Regelwerk der Prozeduren und Institutionen, und nur in diesem Rahmen gewinnt sie ihre normative, regulative Rechtskraft. Die französische Entwicklung steht paradigmatisch für diese Verfassungskonzeption. Rechtliche Verfassungen waren stets von relativ kurzer Dauer, sie waren selten mehr als pure instruments of government. Die zentralen Ordnungsideen wurden mit Nation und Republik, aber nicht mit der Verfassung verbunden. Legitimation und Identität von République und Nation ergaben sich aus ihrer revolutionären, auf die Ideen von 1789 zurückgehenden Tradition. Die Souveränität drückte sich im Willen des Volkes und des von ihm gegebenen Gesetzes aus und blieb immer an den einheits- und identitätsstiftenden Rahmen der französischen Nation zurück gebunden. Die Verfassung erhält einen ganz anderen, herausgehobenen Stellenwert in der rational-juridischen Tradition. Hier begründet die rechtliche Verfassung die Einheit eines politischen Gemeinwesens, sie konstituiert eine neue Ordnung. Auch hier werden Verfassungen bewusst, zumeist uno actu, gegeben. Sie sind ebenfalls Ausdruck eines verfassunggebenden Willens. Der Unterschied zur rational-voluntaristischen Tradition aber liegt in ihrer herausgehobenen Rechtsförmigkeit. Verfassungen stellen hier die Rechtsform der politischen Einheit dar, sie haben eine hohe normative Rechtsqualität. In der Regel besitzen diese Verfassungen auch einen rechtsförmigen Vorrang gegenüber dem politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, was sich nicht zuletzt in der Einrichtung von Verfassungsgerichten mit der Befugnis, Gesetze des demokratischen Gesetzgebers auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren, zum Ausdruck kommt. Verfassungen werden hier zumeist nach historischen Umbrüchen, Revolutionen oder grundlegenden Revisionen gege-

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ben. Sie stehen für einen neuen Anfang. Das durch die Gründung entstandene politische Gemeinwesen legitimiert sich im Rückgriff auf den Akt der Verfassunggebung und nimmt, auch nach der Gründung, auf die Verfassung als dem zentralen Ordnungskonzept Bezug.9 Die durch die Verfassung bezeichnete und rechtlich verbindlich gemachte Grundordnung ist zugleich der einheitsverbürgende Handlungsraum des Politischen. Anders als die beiden zuvor charakterisierten Ordnungskonzeptionen kommt der Verfassung ein Souveränitätsvorsprung zu, weil sich auch Volkssouveränität und Parlamentssouveränität dem Vorrang der Verfassung beugen müssen. Der konstitutionelle Ordnungsrahmen verleiht dem politischen Handeln und dem Willensbildungsund Entscheidungsprozess Legitimität. Und dort, wo die Verfassung in das Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurse einrückt, haben Verfassungen auch identitätsstiftende Funktion. Neben ihrer instrumentellen besitzen die Verfassungen deshalb hier auch eine große symbolische Bedeutung für das konstituierte politische Gemeinwesen. Für das rational-juridische Ordnungskonzept stehen paradigmatisch die US-amerikanische und die bundesdeutsche Tradition. Verfassungen begründeten die unabhängige Staatswerdung in den ehemaligen Kolonien Nordamerikas und konstituierten die westdeutsche Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach Revolution und geschichtlichem Umbruch wurde durch die Verfassunggebung jeweils ein neues politisches System institutionalisiert. Die gleichen Erfahrungen haben die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten nach den Revolutionen des Jahres 1989/90 durchlaufen. Auch hier sind die Verfassungen Ausdruck und Ergebnis eines umfassenden Transformationsprozesses. Der Verfassung wird hier nicht nur eine herausragende konstitutive, sondern auch eine große normativ-rechtliche Gestaltungskraft zugeschrieben. Vor allem die – juridische – Rechtsförmigkeit mit ihrem verbindlichen, regulativen Geltungsanspruch zeichnet diese, weitestgehend auch durch Institutionen der Verfassungsgerichtsbarkeit untersetzten Verfassungskonzeptionen aus.

4. Konstitutionalisierung Europas Entwicklungspfade begründen einerseits Abhängigkeiten für die weitere Entwicklung, indem sie den Rahmen möglicher Veränderungen begrenzen. Andererseits ist es nicht so, dass eine Pfadabhängigkeit den Wandel einer 9 Vgl. Hans Vorländer, Gründung und Geltung. Die Konstitution der Ordnung und die Legitimität der Konstitution, in: Gert Melville/ders. (Hg.), Geltungsgeschichten, Köln 2002, S. 243–263.

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konstitutionellen Ordnung und der sie tragenden Vorstellungen und Leitideen unmöglich machte und Annäherungen zwischen distinkten Verfassungskulturen ausschlösse. Zum einen haben sich die unterschiedlichen Verfassungskulturen verändert und auch Einflüssen von außen geöffnet, zum anderen haben sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ansätze einer europäischen Rechtskultur, auch eines Fundus gemeineuropäischer Ordnungsvorstellungen herausgebildet, die wiederum auf die nationalstaatlich verfestigten Verfassungstraditionen zurückwirken. Diese Zusammenhänge werden bei den seit einigen Jahrzehnten beobachtbaren Entwicklungen in Großbritannien ebenso deutlich wie in der Verfassungskultur Frankreichs. Konvergenzen durch wechselseitige Einwirkungen nationalstaatlicher oder Überlagerung gemeineuropäischer Ordnungsvorstellungen haben sowohl zur Hybridisierung nationalstaatlicher Konstitutionalismen wie auch zur Konstitutionalisierung eines transnationalen, mehrstufigen politischen Raumes geführt. Die wechselseitigen Einflüsse und Interdependenzen können aber auch, wie nicht zuletzt das Scheitern des Verfassungsentwurfes der Europäischen Union im Jahre 2006 zeigt, Resistenzen nationalstaatlich verfasster konstitutioneller Ordnungen erzeugen und den Prozess fortschreitender europäischer Konstitutionalisierung infrage stellen. In Großbritannien wurde seit den 1980er Jahren eine Diskussion über die British Constitution geführt, die die tradierten Grundsätze der britischen Verfassungsordnung kritisch unter die Lupe nahm10: die ungeschriebene Verfassung, die überlieferte Institutionenordnung, das Westminstermodell, die starke Stellung von Parlament und des Premierministers und seines Kabinetts, der undemokratische Charakter des Oberhauses und der Zentralismus des Vereinigten Königreichs. Der Ruf nach einer umfassenden Verfassungsrevision wurde laut und mit ihm auch die Forderung nach einem einheitlichen schriftlichen Verfassungsdokument. Die überlieferte Verfassungskultur Großbritanniens wurde damit infrage gestellt. In die gleiche Richtung wies dann ein förmlicher Verfassungswandel, der mit dem Begriff der Devolution belegt wurde und der auf eine föderale Öffnung des britischen Einheitsstaates zielte.11 Faktisch bildete sich damit ein für 10 Vgl. Hans Kastendiek, Traditionelles und neues Verfassungsdenken in Großbritannien, in: Gert-Joachim Glaeßner u.a. (Hg.), Verfassungspolitik und Verfassungswandel, Wiesbaden 2001, S. 29–49, und Michael Foley, The Politics of the British Constitution, Manchester 1999. – Ich folge hier und in den folgenden Absätzen meinen Ausführungen in: Vorländer, Europas multiple Konstitutionalismen, S. 171 ff. 11 Vgl. Charles Jeffery/Rosanne Palmer, Das Vereinigte Königreich – Devolution und Verfassungsreform, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.), Jahrbuch des Föderalismus 2000, Baden-Baden 2000, S. 321–339.

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die britische Tradition bemerkenswerter Quasi-Föderalismus heraus, der nun auch das Prinzip der Parlamentssouveränität Westminsters, den Anspruch des britischen Parlaments, alleine und uneingeschränkt die Geschicke des Vereinigten Königreiches bestimmen zu können, relativierte. Das britische System der Mehrheitsdemokratie musste sich – beispielsweise durch das unterhalb der zentralstaatlichen Ebenen eingeführte neue Wahlsystem – erste Einschränkungen gefallen lassen. Diese Veränderungen ließen sich zwar immer noch im traditionellen Muster eines inkrementalistischen Konstitutionalismus, des „muddling along with the great unwritten constitution“12, deuten, doch hatte sich der Umfang der formal geschriebenen Verfassung nun schon erheblich erweitert. Die Integration der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht war dann ein weiterer bedeutsamer Schritt des schleichenden Verfassungswandels auf der Insel. Die Inkraftsetzung des Human Rights Act bedeutete weit mehr als eine bloße Fortschreibung der englischen Verfassungstradition, denn nun war zum ersten Mal ein einheitlicher, zusammenhängender, schriftlicher und justiziabler Grundrechtskatalog in die englische Verfassungstradition eingefügt worden.13 Die britische Verfassungsordnung öffnete sich damit supranationalen Rechtsgrundsätzen und nahm gleichzeitig das ausschließliche Gestaltungsprivileg Westminsters ein Stück weit zurück. Daneben ist es auch das europäische Gemeinschaftsrecht, das über die englischen Gerichte und die Rechtsprechung Eingang in die konstitutionelle Ordnung Großbritanniens findet. Nicht nur ist damit die Wirtschaftsverfassung durch Entscheidungen der englischen Gerichtsbarkeit grundlegend europäisiert worden, auch Grundrechte, wie beispielsweise das Recht der Meinungsfreiheit, werden nach Maßgabe des Rechts der Europäischen Union gedeutet und für die britische Rechtsordnung verbindlich gemacht.14 Schließlich waren 12 Frank Vibert, British Constitutional Reform and the Relationship with Europe, in: Robert Hazell (Hg.), Constitutional Futures, Oxford 1999, S. 62. 13 Vgl. zum Human Rights Act und seinen Folgen Robert Hazell/David Sinclair, The British Constitution in 1997–98: Labour’s Constitutional Revolution, in: Parliamentary Affairs 52,2 (1999), S. 161–178; Ian Loveland, Incorporating the European Convention on Human Rights into UK Law, in: Parliamentary Affairs 52,1 (1999), S. 113–127; Stefan Schieren, Die stille Revolution, Darmstadt 2001, S. 273 ff. 14 Vgl. die Entscheidungen des House of Lords R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Brind and others [1991] 2 WLR 588 (H. of L.); R. v. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame Ltd. [1990] 2 AC 85 und (No. 2) [1991] 1 AC 603; Derbyshire County Council v. Times Newspapers Ltd. [1993] AC 534. Zur Stärkung der Judikative durch EMRK und Europäische Integration vgl. ausführlich Claudia Creutzburg, Deutungsmacht und ungeschriebene Verfassung: England, in: Hans Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006, S. 339–362, hier S. 350.

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auch die im März 2005 mit dem Constitutional Reform Act im Parlament verabschiedeten Verfassungsänderungen der Regierung Blair ein Indiz für den Wandel in Verfassung und Verfassungsdenken.15 Einmal wurde damit das Amt des Lord Chancellor grundlegend reformiert. Noch grundlegender aber dürfte darüber hinaus die althergebrachte Verfassungsordnung dadurch verändert sein, dass auch die Einrichtung der Law Lords in eine neue Institution, in einen Supreme Court, transformiert wurde. Damit ist zwar noch nicht ein Oberster Gerichtshof nach amerikanischem Vorbild oder ein Verfassungsgericht mit einem so umfassenden Kompetenzkatalog wie in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen worden, aber die Unabhängigkeit der Justiz ist durch die Schaffung eines neuen, unabhängigen Verfassungsorgans wesentlich erhöht und damit die Souveränität des Westminster Government durch rechtsstaatliche Einhegung weiter relativiert worden. So scheint einerseits die Tradition der langsamen, evolutionären Anpassung der British Constitution an veränderte Zeitläufte durch die in der Summe doch erheblichen Verfassungsänderungen der letzten Jahrzehnte zur Disposition gestellt worden zu sein: An die Stelle von Tradierung und Konvention tritt bewusste Veränderung und Verschriftlichung. Der Vorrang von geschichtlicher Bewährung und politischer Gestaltung wird begrenzt durch rational-voluntaristische Verfassungsakte und Ausbau der grundrechtlichen Schutzmechanismen. Parlament und gewählte Exekutive werden zunehmend justizstaatlich gefesselt, wie auch die zentralstaatlichen Gewalten durch die Föderalisierung des Einheitsstaates in ihrer Souveränität zunehmend beschränkt werden. So könnte am Horizont des britischen Verfassungswandels das Paradigma der konstitutionellen Demokratie aufscheinen, das im kontinentalen Europa seinen Siegeszug schon seit längerem angetreten hat16 – wenn die Beharrungskräfte des überlieferten konstitutionellen Denkens nicht so groß wären und die politischen Resistenzen gegenüber dem europäischen Integrationsprozess nicht in großer Regelmäßigkeit wiederkehrten. Auch in Frankreich hat sich in der Fünften Republik ein Verfassungswandel vollzogen, der in der Summe eine Annäherung an das rational-juridische Verfassungskonzept des nordamerikanischen und bundesrepublikanischen Ty-

15 Vgl. Robert Carnwarth, Do We Need a Supreme Court?, in: The Political Quarterly 75,3 (2004), 249–256; Lucinda Maer u.a., The Constitution: Dragging the Constitution out of the Shadows?, in: Parliamentary Affairs 57,2 (2004), S. 253–268; Sue Prince, The Law and Politics, in: Ebd., S. 288–300. 16 Hans Vorländer u.a., The Triumph of Constitutionalism in 20th Century, in: Brigitte Georgi-Findlay/Hans-Ulrich Mohr (Hg.), Millenial Perspectives, Heidelberg 2003, S. 227–247.

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pus erkennen lässt.17 Vor allem der in der Verfassung der Fünften Republik installierte Conseil Constitutionnel hat in den letzten Jahrzehnten ein Rollenverständnis entwickelt, das dem einer eigenständigen Verfassungskontrollinstanz sehr nahe kommt. Nach der Verfassungsrechtslage kontrolliert er die Gesetze auf die Verfassungsmäßigkeit im Rahmen des normalen Gesetzgebungsverfahrens, also vor Verkündung eines Gesetzes. Aber von der Funktionalität her gesehen – und nicht zuletzt nach Verfassungsänderungen von 1974, in denen die Antragsrechte erweitert wurden – ist der Verfassungsrat langsam in die Rolle einer Verfassungsgerichtsbarkeit mit dem Anspruch eines Hüters der Verfassung auch gegenüber demokratischen Mehrheiten hineingewachsen. Erstmals waren in den 1970er Jahren die Artikel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 in die Verfassungsrechtsprechung des Conseil Constitutionnel einbezogen worden. Diese grundrechtsaktivierende Auslegung war möglich geworden, weil sich die Präambel der Verfassung von 1958 ausdrücklich auf die Erklärung von 1789 beruft. Zum anderen hat der Conseil Constitutionnel mittlerweile mehrfach Gesetze der Nationalversammlung an den Normen der Verfassung überprüft und, wenn notwendig, auch verworfen. So beschränkt der Verfassungsrat zunehmend die Souveränität des Gesetzgebers und die Vorstellung, dass sich die Souveränität im Gesetz zum Ausdruck bringt: „La loi n’exprime la volonté générale que dans le respect de la constitution.“18 Verfassung und Verfassungsrat reklamieren damit den Vorrang gegenüber politischen Mehrheitsentscheidungen, was nichts weniger als eine Abkehr vom traditionellen Verfassungskonzept mit seiner stark politisch-instrumentellen Emphase bedeutet. Mit dem Begriff vom „bloc de constitutionnalité“ wird zudem eine Entwicklung eingefangen, die von der Wiederentdeckung eines genuin juristischen Verfassungsbegriffs über eine Autonomisierung des Verfassungsrechts – und ihrer disziplinären Ausdifferenzierung an Universitäten – bis zum Entwurf eines rational-juridischen Verfassungskonzepts führt, in dem der klare Vorrang der rechtsförmigen Verfassung und damit die Perspektive eines neuen konstitutionellen Paradigmas beschlossen liegt.19 17 Vgl. zum folgenden Wolfram Vogel, Demokratie und Verfassung in der V. Republik, Opladen 2001; Daniel Schulz, Verfassung und Nation. Formen politischer Institutionalisierung in Deutschland und Frankreich, Wiesbaden 2004. 18 Décision n° 85-197 DC, 23 août 1985 Loi sur l'évolution de la Nouvelle-Calédonie, Recueil, p. 70; RJC, p. I-238 – Journal officiel du 24 août 1985, p. 9814. Der Satz geht ursprünglich auf Georges Vedel zurück, vgl. Dominique Rousseau, Sur le Conseil constitutionnel, Paris 1997, 38 f. und Wolfram Vogel, Demokratie, S. 206. 19 Jean-Claude Colliard/Yves Jégouzo (Hg.), Le nouveau constitutionnalisme, Paris 2001; Charlotte Denizeau, Existe-t-il un bloc de constitutionnalité?, Paris 1997; Louis Favoreu, Le droit constitutionnel, droit de la Constitution et constitution du droit, in:

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Konvergenzen zwischen den drei Entwicklungswegen lassen sich also durchaus erkennen. Dabei sind die Veränderungen in der Gesamttendenz gleichgerichtet: Verschriftlichung der Verfassung und der sie verändernden Verfassunggebungsakte, Vorrang der Verfassung gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht, Prävalenz der Grund- und Menschenrechte, Brechung und Limitierung politischer Gewalt durch justizstaatliche Mechanismen und last but not least die Einrichtung einer autoritativen und letztverbindlichen Instanz zur Interpretation der Verfassung im Konfliktfall, also einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Bei diesen Entwicklungen handelt es sich indes nur um Tendenzen, aber es kann scheinen, als sollte sich das Modell der Verfassungs- und Grundrechtedemokratie, einer durch vorrangige und rechtsförmige Beachtung der Grundrechte ausgezeichneten und beschränkten Demokratie als das Paradigma eines hybriden europäischen Konstitutionalismus herausbilden. Die Entwicklung zur Verfassungsdemokratie des rational-juridischen Zuschnitts vollzieht sich zunächst einmal innerhalb der nationalen und souveränen Verfassungsstaaten. Und deshalb ist diese Konvergenzentwicklung auch prinzipiell vereinbar mit der Beibehaltung traditioneller nationalstaatlicher Souveränitätsansprüche, zumal das demokratische Prinzip traditionell selbst zunächst einmal auf klar definierte und umgrenzte politische Räume angewiesen ist. Von daher führt die Hybridisierung nationalstaatlicher Konstitutionalismen keineswegs direkt zur Konstitutionalisierung eines transnationalen politischen Raumes. Die Kompatibilität historisch distinkter, durch ihre Entwicklung aber konvergierender Konstitutionalismen bedeutet noch nicht den qualitativen Sprung in einen genuin Europäischen Konstitutionalismus. Wenn von der Europäischen Union als einer Organisationsform sui generis, also weder von einem Bundesstaat noch einem Staatenbund, indes neuerdings – in Deutschland nach Diktion des Bundesverfassungsgerichtes20 – von einem „Staatenverbund“ gesprochen wird, so zeigt das nur eine Verlegenheit an: dem komplexen mehrstufigen politischen und wirtschaftlichen Gebilde, welches sowohl intergouvernementale Verfahren wie supranational-gemeinschaftliche Institutionen und Politiken kennt, eine Bezeichnung zu geben, Revue française de droit constitutionnel 1 (1990), S. 71–89; Dominique Rousseau, Une résurrection: La notion de constitution, in: Revue du droit public et de la science politique en France et à l'étranger 1 (1990), S. 5–22; ders., La Constitution ou la politique autrement, in: Le débat 64 (1999), S. 182–186; ders., La jurisprudence constitutionelle: ,quelle nécessité démocratique‘?, in: Guillaume Drago u.a. (Hg.), La légitimité de la jurisprudence du Conseil constitutionnel, Paris 1999, S. 363–376. Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Debatte zu einem neuen Konstitutionalismus in Frankreich, die in Le débat 64 (1999) ausgetragen wurde. 20 Vgl. jetzt Robert Chr. van Ooyen, Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichts und Europa, 5. Aufl. Baden-Baden 2013.

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die den herkömmlichen Paradigmen der Staatlichkeit entspricht. So verhält es sich auch mit der Charakterisierung der Rechtsordnung. Dass diese konstitutionelle Spuren aufweist, wenngleich es sich nicht um eine Konstitution im kontinentaleuropäischen Sinne handelt, ist dabei noch relativ unbestritten. Doch hinsichtlich des Grades und der Qualität der Konstitutionalisierung schwanken die – mitunter politisch überlagerten – Einschätzungen doch erheblich. Während die einen den Verfassungscharakter analytisch verneinen und normativ bestreiten, sehen andere entweder ein sich pragmatisch herausgebildet habendes working constitutional settlement21 oder verfassungsanaloge oder verfassungsgleiche Strukturen. Die Positionen werden markiert durch ihren je unterschiedlichen Bezug auf das Paradigma moderner Verfassungsstaatlichkeit. Ein methodologischer Perspektivenwechsel, der sich von der Vorstellung verabschiedet, konstitutionelle Ordnungen seien nur unter der konstitutiven Voraussetzung geschlossener Staatlichkeit (denk-)möglich, wird die Prozesse europäischer Konstitutionalisierung auch anders deuten können. Im Grunde entspricht das Modell der Konstitutionalisierung Europas dem englischen Muster emergenter konstitutioneller Ordnungen.22 Auf gradualistisch-inkrementalistische Weise entstand eine Rechtsordnung, die zunächst auf zwischenstaatlichen Verträgen aufruhte, dann aber auch allgemeine Rechtsgrundsätze einbezog, von denen, vor allem durch den Europäischen Gerichtshof, angenommen wurde, dass sie von den Mitgliedsstaaten geteilt werden. Entscheidend dabei war, dass diese Rechtsordnung über ihre kontraktuelle Genese eine ständige Fortbildung und Interpretation erfuhr, die nicht allein durch die im engeren Sinne politischen Organe, durch Rat und Kommission vorgenommen wurden, sondern auch, und sehr entscheidend, durch den Europäischen Gerichtshof. So hatte sich faktisch eine konstitutionelle Ordnung der Europäischen Union herausgebildet, die die ursprüngliche Grundlage der Verträge hinter sich gelassen und in ihrer Dynamik durchaus die transformative Qualität eines genuin europäischen Konstitutionalismus erreicht hatte.23 Diese Form einer evolutionären Verfassungsordnung stieß indes offensichtlich in dem Moment an ihre legitimatorischen Grenzen, als – nicht zuletzt 21 Andrew Moravcsik, What Can We Learn from the Collapse of the European Constitutional Project?, in: PVS 47,2 (2006), S. 220. 22 Zum Folgenden vgl. Hans Vorländer, Europas multiple Konstitutionalismen, S. 178 ff., und zuvor schon ders., Die drei Entwicklungswege des Konstitutionalismus in Europa. Eine typologische Skizze, in: Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (Hg.), Die Europäische Union als Verfassungsordnung, 2004, S. 21. 23 Vgl. Joseph H.H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403.

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aufgrund der Erweiterung der Gemeinschaft auf heute 28 Mitglieder – die gradualistische Methode der schrittweisen Integrationsverdichtung politische Folgeprobleme erzeugte, die nach einer umfassenden institutionellen, ja einer neuen konstitutionellen Grundlegung uno actu verlangten. Das Projekt einer Europäischen Verfassung musste deshalb auch als der Versuch gewertet werden, die eng begrenzte, segmentäre Gemeinschaft von Juristen, Richtern und ‚Brüssel-Europäern‘ durch den Akt einer genuin europäischen Verfassunggebung zu erweitern. Aus der Konstitutionalisierung Europas sollte die europäische Konstitution werden. Wenn der Entwurf einer Europäischen Verfassung auch im Wesentlichen ‚nur‘ darin bestand, die bisherigen Verträge zusammenzuführen und eine institutionelle Reform zu ermöglichen, so änderte sich doch entscheidend die Semantik und damit auch der symbolische Verweisungszusammenhang. Von einer Verfassung war die Rede, Grundrechteerklärung, Zielbestimmung und europäische Zeichen (Flagge, Hymne) schienen Europa das zu geben, was bislang dem kontinentaleuropäischen Nationalstaat vorbehalten geblieben war: eine ‚vollgültige‘ Verfassung, wie sie bislang nur in der Symbiose mit moderner Staatlichkeit vorstellbar erschien. Das aber erzeugte Widerstände. Der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages diente, gerade weil er die Europäische Union als ‚konstitutionalisierten‘ transnationalen Raum sichtbar machte, als ideale Projektionsfläche nationalstaatlicher Abwehrreflexe. Der symbolische Bedeutungsüberschuss, der sich aus dem Verfassungsprojekt ergab, wurde dem Europäischen Verfassungsvertrag zum Verhängnis. Die Bürger in Frankreich und in den Niederlanden lehnten, aus welchen konkreten Gründen auch immer, die mit der Verfassung symbolisch verbundenen Integrations- und Orientierungsvorstellungen eines supra- und transnationalen politischen Raumes ab. Der Lissabon-Vertrag verfolgte dann die die Europäische Union charakterisierende supranationale und intergouvernementale Doppelstruktur und befestigte damit ein konstitutionelles Ordnungsarrangement – und das nicht nur in einem rein empirisch-deskriptiven Sinne europäischer Verfasstheit, sondern auch im anspruchsvollen Verständnis einer die Nationalstaaten zumindest partiell transzendierenden normativen Ordnung, die die regulativen Funktionen und Wirkungen zu erzeugen in der Lage ist, welche herkömmlich allein staatlichen Verfassungen zugeschrieben worden sind.

PETER SCHIFFAUER

Zehn Thesen für ein pragmatisches Sprachverständnis in den Verfassungswissenschaften1 Daher muss man dem Gemeinsamen folgen. Obgleich aber der Logos allem gemeinsam ist, Leben doch die vielen, Als ob sie eigene Denkkraft hätten.2

Ich möchte zu den theoretischen Grundlagen der Thematik dieses Tagungsbandes einen Gedanken beisteuern, den ich vor 30 Jahren als einen Stein in das Wasser der juristischen Methodendiskussion werfen konnte.3 Dieser Gedanke erscheint mir geeignet, die Bedeutung der historischen Dimension für die Verfassungswissenschaften zu illustrieren. Ich will ihn in 10 Thesen erläutern. 1. Die Gegenstände der Verfassungswissenschaften sind Konstrukte humaner Kultur. Verfassungswissenschaften beschäftigen sich mit den Grundordnungen politischer Gemeinwesen in historischer, juristischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive. Die Aussagen der Verfassungswissenschaften haben die Form von Texten. Diese erarbeiten einen sprachlichen Ausdruck entweder von sozio-kulturellen Konstrukten (nämlich der „Verfassungswirklichkeit“ von gegenwärtigen oder vergangenen Grundordnungen politischer Gemeinwesen) oder einen sprachlichen Ausdruck der diese Kon-

1 Die nachstehenden Ausführungen geben Auffassungen des Verfassers als ehrenamtliches Mitglied der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Fernuniversität Hagen wieder und können nicht dem Europäischen Parlament zugerechnet werden, dessen Beamter er im Hauptberuf ist (als Leiter des Sekretariats des Ausschusses für konstitutionelle Fragen). Die nachfolgenden 10 Thesen versuchen, die Ergebnisse meiner 1979 veröffentlichten Schrift „Wortbedeutung und Rechtserkenntnis“ mit neuen Formulierungen für die Verfassungswissenschaft fruchtbar zu machen. Dabei greife ich mit Dankbarkeit auf ein Thesenpapier „Juristen – gute Sprachrealisten“ zurück, das Wilfried Neumann am 17. Februar 2012 im Juristisch-linguistischen Arbeitskreis an der Universität Heidelberg erläutert hat und das insbesondere die Formulierung von These 6 inspirierte, während These 9 auf meinem eigenen Diskussionsbeitrag zu jenem Papier beruht. 2 Heraklit, fragmentum 2 (in dt. Übersetzung). 3 Auch meine Untersuchung von 1979 (vgl. Anm. 1) stand unter dem Motto dieses Fragments des Vorsokratikers Heraklit.

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strukte bestimmenden Deontik (also der „Verfassungs“-Normen dieser Grundordnungen). 2. Sprache ist das Medium der Verfassungswissenschaften. Die Methoden ihrer Einzelwissenschaften sind unterschiedlich. Weil diese alle durch Sprache vermittelt sind, ist ihre Methodenlehre durch ein gemeinsames Problem verknüpft: Das Verständnis der Funktionsweise menschlicher Sprache ist Dreh- und Angelpunkt der Methodik jeder sprachvermittelten Wissenschaft – so auch der Verfassungswissenschaften. 3. Wissenschaftliche Texte beanspruchen Richtigkeit. Richtigkeit eines verfassungswissenschaftlichen Textes bedeutet, dass er Aussagen über eine gegenwärtige oder vergangene Verfassungswirklichkeit oder über die Bedeutung einer geltenden oder in der Vergangenheit in Geltung gewesenen Verfassungsnorm zutreffend formuliert. Jedes Mal kann darüber Streit bestehen, was im konkreten Fall zutreffend ist. Die Quellenlage und die anerkannten Regeln zur Bearbeitung von Quellen, die geltenden Verfassungstexte und die anerkannten Regeln der Verfassungsexegese erlauben es, manche Aussagen mit Gewissheit als unzutreffend auszuschließen. In vielen anderen Fällen liefern die anerkannten Methoden-Kanones jedoch kein objektives Kriterium, das eine Entscheidung über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der betreffenden Aussage ermöglichte. 4. Die Frage nach der Richtigkeit einer deskriptiven oder normativen Aussage verweist auf das Verhältnis des Mediums zum Gegenstand der Aussage, das heißt auf das Verhältnis der Sprache zu den körperlichen und geistigen Objekten der Welt. 5. Ein auf der platonischen Ideenlehre beruhendes Verständnis von Sprache begreift Richtigkeit als die Adäquanz der sprachlichen Aussage für einen geistigen Gegenstand (die Idee), deren Manifestation der sprachliche Ausdruck ist. Für oder gegen die Richtigkeit einer Aussage kann argumentiert werden. Eine Aussage kann gegebenenfalls falsifiziert werden, wenn sie in Widerspruch zu anerkannten, aus der gleichen Begriffswelt gebildeten Aussagen steht. Weil ein unmittelbarer Zugriff auf die Welt der Ideen ausgeschlossen ist, kann es für die Verifizierung der Adäquanz einer Aussage zur beanspruchten Objektivität aber prinzipiell kein belastbares Kriterium geben. 6. Nach einem von Ludwig Wittgenstein begründeten pragmatischen Verständnis der Sprache ist die Bedeutung von Wörtern und Sätzen nur gesellschaftlich und nicht ideal verortet. Sie ergibt sich ausschließlich aus ihrem Gebrauch in einer Sprachgemeinschaft. Wenn ein individueller Sprecher von den in einer Sprachgemeinschaft anerkannten Regeln abweicht, ist er wegen dieses Fehlers Sanktionen ausgesetzt (Ablehnung, Unverständlichkeit, Lächerlichkeit). Die impliziten Annahmen über die Struktur der Welt, die in den

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anerkannten Regeln und Wendungen einer Sprachgemeinschaft gespeichert sind, können durch neue Erkenntnisse falsifiziert und dann durch neue Regeln oder Wendungen ersetzt werden. Geringfügige Abweichungen vom gemeinschaftlich akzeptierten Gebrauch können von der Sprachgemeinschaft toleriert und längerfristig integriert werden, wenn sie bei der Orientierung in oder bei der Auseinandersetzung mit der Welt von Nutzen sind. Historiker sind vertraut mit der Tatsache, dass derselbe sprachliche Ausdruck zu unterschiedlichen Zeiten durchaus verschiedene Verwendung gefunden haben kann. 7. Die für das Verständnis der normalen Sprache entwickelte Gegenüberstellung von idealistischem Begriffsrealismus und pragmatischem Begriffsrelativismus ist auch für Wissenschaftssprachen relevant, da sich diese nur begrenzt formalisieren lassen. In allen Einzeldisziplinen der Verfassungswissenschaften ist der Formalisierungsgrad eher gering, da bei der Bearbeitung ihrer Themen der normalsprachliche Bezug zur „objektiven Welt“ immer wieder neu hergestellt werden muss. Die über eine Wissenschaftssprache kommunizierende akademische Welt bildet eine Sprachgemeinschaft mit mehr oder weniger besonderen eigenen Regeln und Verwendungsweisen. 8. Die Entscheidung für einen idealistischen Begriffsrealismus impliziert einen Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität, der methodisch nicht eingelöst werden kann. Er verführt zu akademischem Dogmatismus. In der Rechtswissenschaft erzeugt er eine Tendenz, ungesicherte Meinungen durch professionelles Pathos zu untermauern, statt sie durch hinreichende Offenlegung der eigenen Entscheidungshintergründe nachvollziehbar zu machen. Solche Meinungen sind deshalb dem Verdacht der Willkür ausgesetzt. Der semantischen Macht letztinstanzlicher Entscheidungsorgane haben sie wenig entgegenzusetzen. Denn prinzipiell könnte die legitime letzte Instanz auch objektiv „Recht“ haben. In der Lebenswelt setzt sich ihre Auffassung dann auch häufig durch. Die Fragwürdigkeit solcher Objektivität dürfte für die Geschichtswissenschaft relevant sein, denn auch sie kann kein nachprüfbares objektives Kriterium dafür entwickeln, „wie es denn damals wirklich gewesen ist“. 9. Die Entscheidung eines Wissenschaftlers für einen pragmatischen Sprachrelativismus führt aber nicht zu einem beliebigen „anything goes“. Unter der Drohung von Sanktionen ist jeder Teilnehmer eines wissenschaftlichen Sprachspiels gehalten, dessen besondere Verwendungsregeln einzuhalten. Das Bewusstsein, dass objektive Richtigkeit von niemandem beansprucht werden kann, motiviert die Fähigkeit aller Teilnehmer zu kritischem Infragestellen und anerkannte Autoritäten zu sorgfältigen Begründungen. Da unter dieser Prämisse Begründungen prinzipiell nicht allein exegetisch aus dem Text gewonnen werden können, öffnet sich die Perspektive des Interpreten auf die

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eigene Entscheidungsverantwortung und den Bezug seiner Entscheidung auf die Welt. Absolute Gewissheit der Erkenntnis ist ausgeschlossen, doch können sich innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft Verwendungsweisen und von ihnen implizierte Weltansichten so weit konsolidieren, dass sich Inseln von Gewissheit bilden. Man kann das durch die folgende Metapher veranschaulichen: Innerhalb seiner Gemeinschaft bewegt sich der erkennende Wissenschaftler wie ein arktischer Eisbär: die anerkannten Sätze seiner Wissenschaft formen ein Packeis, dort hat er sicheren Stand; wenn aufkommende Zweifel dazu führen, dass ein Eisberg vom Packeis abbricht, reduziert sich die Gewissheit auf eine Insel; wenn der Berg abschmilzt, hilft nur noch schwimmen bis zur nächsten Scholle, oder bis neu erarbeitete Gewissheit – in der Metapher ein neuer Kälteeinbruch die treibenden Schollen erneut zu einer soliden Eisdecke zusammenschweißt.

Das Bewusstsein der Prekarietät wissenschaftlicher Erkenntnis ist ein Ansporn, nichts für endgültig gesichert anzusehen, immer neu um ihre Gegenstände zu ringen, in Bescheidenheit und im Bewusstsein, dass Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis nur gelungenen Kommunikationsakten zu verdanken ist.4 Normative Ordnungen von der Allgemeinheit von Verfassungen und die sie erfassenden Texte eröffnen erhebliche Spielräume der Interpretation. Wissenschaftliche Aussagen über sie sind deshalb mit großen Unsicherheiten behaftet. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die historische Perspektive in das Verständnis von Verfassungsordnungen und Verfassungsnormen einzubeziehen. Denn sie ermöglicht es, Konvergenzlinien zu erfassen, die sich im normativen Denken und in den jeweils anerkannten Vorstellungen von der Ordnung öffentlicher Angelegenheiten im Wandel der Zeiten entfaltet und stabilisiert haben. Solche Konvergenzlinien können zwar keine objektive Gewissheit über normative Aussagen vermitteln. Für das Verständnis und die Gestaltung von Verfassungsordnungen im Hier und Jetzt können sie aber ausgedehnte tragfähige Eisschollen liefern. 10. Ähnlich wie biologische Evolutionen vollziehen sich nachhaltige Änderungen der impliziten Annahmen über die Struktur der Welt, die in den anerkannten Regeln und Wendungen einer (wissenschaftlichen) Sprach4 Hierzu sei angemerkt, dass jenseits des Bereichs der Wissenschaft, zum Beispiel bei der Gewinnung der individuellen Weltorientierung, auch misslungene Kommunikationsakte zu Erkenntnisfortschritten führen können. In der Wissenschaft kann diese Möglichkeit ausgeschlossen werden, weil jeder Innovationsschritt im Verhältnis zum bisherigen Wissensstand verortet werden muss, was gelungene Kommunikation voraussetzt.

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gemeinschaft gespeichert sind, überwiegend in kleinen, überlebensfähigen Schritten. Die gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkungen solcher geistiger Evolutionsprozesse sind wenig erforscht, aber nachhaltig spürbar in den Zeugnissen, die sie hinterlassen. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Verfassungsgebung, und vielleicht sogar bei der Ausübung ihrer Gestaltungsaufgabe kommt es nicht in erster Linie darauf an, die Welt zu verändern, sondern zunächst einmal darauf, sie in ihrer Gewordenheit zutreffend zu interpretieren und verstehen. Pragmatisch verantworteter Verfassungsgeschichte kommt hierbei eine hervorragende Rolle zu.

KATHRIN GROH

Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht Methodenpluralismus und Methodenintegration im Konstitutionalisierungsprozess

Verspricht eine Geschichte der Methoden der Verfassungsauslegung außer einem wissenschaftsgeschichtlichen auch einen verfassungsgeschichtlichen oder vielleicht sogar einen verfassungstheoretischen Ertrag? Die rechtswissenschaftliche Methodengeschichte ist ein Teilbereich der Verfassungsgeschichte.1 Zu den Aufgaben der Methoden der Verfassungsinterpretation zählt es, den in den Verfassungsnormen eingelagerten Sinn routiniert zu reproduzieren, um verlässliche Aussagen über verfassungsgemäßes oder verfassungswidriges Verhalten von Staatsorganen zu ermöglichen. In der Wahl der Auslegungsmethoden für einen Verfassungstext liegt eine (Vor-)Entscheidung über den Inhalt einer Verfassung, ihre Reichweite und den Umfang ihrer Verbindlichkeit. Da Methoden rechtsgestaltend wirken, sind Methodenfragen zum einen Machtfragen:2 Wer hat die Deutungs- und Konkretisierungsmacht von Gesetzen und wo hören beide und damit das gesetzte Recht auf?3 Methodenfragen stehen gleichzeitig aber auch in einer Wechselwirkung mit der Verfassungstheorie: Während die „richtige“ Auslegung einer Verfassung die „eine“ verbindliche Verfassungstheorie voraussetzt, lässt sich umgekehrt in der Geschichte der Methoden der Verfassungsauslegung das Verfassungsverständnis der jeweiligen Epochen abbilden:4 Die in der deutschen Geschichte 1 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. München 2013, S. 2 ff.; Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, Berlin 1983, S. 7–26, hier S. 11: Verfassungsgeschichte erforscht Bereiche, „die sich durch Wiederholbarkeit kraft Rechtsregeln auszeichnen“. 2 Dieter Grimm, Methode als Machtfaktor, in: Norbert Horn (Hg.), FS für Helmut Coing, Bd. 1, München 1982, S. 469–491, hier S. 469 ff. 3 Joachim Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover 1988, S. 36: Es muss stets gefragt werden, mit wem das juristische Orakel sich verbrüdert. 4 Der wechselseitige Zusammenhang zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungsbegriff kennzeichnet in der Erkenntnistheorie die wechselseitige Abhängigkeit von Methode und Gegenstand, vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, in: NJW 1976, S. 2089– 2099, hier S. 2098.

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beobachtbare Verfassungsverrechtlichung oder auch Konstitutionalisierung5 von Staat und Gesellschaft ist sowohl mit der Pluralisierung als auch mit der Integration der rechtswissenschaftlichen Methodenlehren verwoben. Zwei Entwicklungslinien laufen ineinander. Zum einen diejenige der expandierenden richterlichen Deutungshoheit über Gesetze und Verfassungsrecht, zum anderen diejenige eines in den Methodenlehren gespiegelten Funktionszuwachses des Verfassungsrechts. Beide haben im Zivilrecht, der älteren Schwester des öffentlichen Rechts, ihren Ausgang genommen, und mussten auf Verfassungsebene hochgezont werden. Sie treffen sich im deutschen Jurisdiktionsstaat. An seiner Spitze steht ein Verfassungsgericht, das nach Art. 93 GG „entscheidet“ und die Verfassung umfassend authentisch auslegt, um ihr in der Praxis, gestützt auf einen am Ergebnis orientierten, flexiblen Methodensynkretismus6 eine kodifikationsähnliche Geltung zu verschaffen.7

1. Rechtsetzungs- und Rechtsfindungsmonopole Zwar wird das Bundesverfassungsgericht heute als Krönung des Rechtsstaats bezeichnet.8 Doch war der Weg in den Richterstaat wechselvoll. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hielten sich die Volksgeistlehre und der Gesetzgebungsquietismus der Historischen Schule, nach deren Rechtsquellenlehre das Recht nicht durch Setzung des Gesetzgebers ad hoc entstand, sondern von Sitte und Volksglaube organisch entwickelt wurde.9 Die rechtsbildende Systematisierung dieses Volksgeistes trugen Savigny und Puchta dem Juristenstand an: Die Rechtswissenschaft und die Gerichtspraxis wurden zu Trägerinnen 5 Christian Bumke/Gunnar Folke Schuppert, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, Baden-Baden 2000; Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus. Die Ohnmacht des Verfassungsgesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, in: Otto Depenheuer (Hg.), Hommage an Josef Isensee, Berlin 2002, S. 183–228, hier S. 183 f. 6 Nach Bernd Rüthers u.a., Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Aufl. München 2013, Rn. 704 sind die Entscheidungen des BVerfG durch ihre methodische Grundsatzlosigkeit gekennzeichnet. 7 Christoph Schönberger, Der Aufstieg der Verfassung: Zweifel an einer geläufigen Triumphgeschichte, in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen 2011, S. 7–22, hier S. 18 ff.: Nicht nur „alle Grundsatzfragen sind Verfassungsfragen“. 8 Horst Säcker, Das Bundesverfassungsgericht. Oberster Hüter der Verfassung, München 1981, S. 15. 9 Gunnar Rexius, Studien zur Staatslehre der Historischen Schule, in: Historische Zeitschrift 107 (1911), S. 496–539, hier S. 527 f.: Diejenige staatliche Ordnung ist die beste, die allmählich sich entwickelt.

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der Rechtsbildung.10 Gleiches galt für die ähnlich alte Begriffsjurisprudenz, bei der es sich um eine „untergründige Weiterbildung des vernunftrechtlichen Systemdenkens more geometrico“ handelte:11 Aus richtigen Begriffsbildungen deduzierte die Rechtswissenschaft richtiges Recht und wurde damit zur Rechtsquelle neben oder anstelle des Gesetzgebers. Das Kodifikationszeitalter im 18. Jahrhundert dagegen erhob das gewillkürte Gesetz zur herrschenden Rechtsquelle und mit ihm den Gesetzgeber zu seinem führenden Interpreten. Das ALR Einleitung § 47 bestimmte: „Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muß er … seine Zweifel der Gesetzcommißion anzeigen, und auf deren Beurtheilung antragen“. Der Richter war zum Subsumtionsautomaten degradiert, und auch die Rechtswissenschaft durfte die Gesetze des absoluten Herrschers nur noch nachvollziehen12, weil die Lösung von Zweifelsfragen als Gesetzgebung eingestuft wurde. In den konstitutionellen Verfassungen des 19. Jahrhunderts gab es dann auch andere Ansätze. So kannte die Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen von 1831 bereits die für Zweifelsfälle authentische Interpretation der Verfassung durch einen Staatsgerichtshof, die – ähnlich dem heutigen § 31 BVerfGG – für die streitenden Parteien verbindlich war.13 Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert füllten naturrechtliche Vorstellungen die im Zivilrecht schnell löchrig gewordene Kodifikationsidee 10 Georg Friedrich Puchta, Pandekten, 8. Aufl. Leipzig 1856, § 16, S. 28 ff.; Jan Schröder, Zur Vorgeschichte der Volksgeistlehre, in: Thomas Finkenhauer u.a. (Hg.), Rechtswissenschaft in der Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, Tübingen 2010, S. 221–258, hier S. 225 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: Ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a.M. 1991, S. 9–26, hier S. 9 ff.; Rüthers u.a. (wie Fn. 6), Rn. 452 ff. u. 461; Rainer Schröder, Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 323–367, hier S. 324. 11 Gerhard Dilcher, Der rechtswissenschaftliche Positivismus, in: ARSP 61 (1975), S. 497–528, hier S. 509 f. 12 Gunter Wesener, Kodifikationen und Kompilationen, in: ZRG GA 127 (2010), S. 202– 244, hier S. 232 ff. 13 § 153 VU Sachsen 1831: „Wenn über die Auslegung einzelner Punkte der Verfassungsurkunde Zweifel entsteht, und derselbe nicht durch Uebereinkunft zwischen der Regierung und den Ständen beseitigt werden kann, so sollen die für und wider streitenden Gründe sowohl von Seiten der Regierung, als der Stände, dem Staatsgerichtshofe zur Entscheidung vorgelegt werden. Zu diesem Behufe ist von jedem Theile eine Deduction dem Gerichtshofe zu übergeben, solche gegenseitig mitzutheilen, und in einer zweiten Schrift zu beantworten, so daß jedem Theile zwei Schriften freistehen. Bei der Entscheidung giebt im Falle der Stimmengleichheit die Stimme des Präsidenten den Ausschlag. Der hierauf ertheilte Ausspruch soll als authentische Interpretation angesehen und befolgt werden.“

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und deckten insgesamt den Anspruch der Richterschaft auf mehr Interpretationsmacht. Überpositives und ungeschriebenes Recht waren die Formeln, mit denen sich die richterliche Rechtsfortbildung als Gesetzesanwendung tarnen ließ:14 Da der Gesetzgeber nicht alle Rechtsprinzipien einzelfallgerecht in Gesetzesform gießen könne, sei es „Sache der Jurisprudenz und vor allem Pflicht der … Judikatur, die Grundprinzipien des Gesetzes zutage zu fördern und auf die … im Gesetz nicht besonders hervorgehobenen unter das betreffende Prinzip fallenden Fälle anzuwenden“.15 Das Dogma der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung und die althergebrachte Vorstellung vom Recht als eines induktiv gefundenen und deduktiv genutzten Systems16 legitimierten die Richterschaft im Privatrecht – und wegen der fehlenden Staatsgerichtsbarkeit auch die Staatsrechtslehre im Verfassungsrecht – dort eigenhändig juristische Konstruktionen zu finden, wo keine geschrieben standen. Vordergründig wurden diese Operationen nicht als Rechtsschöpfung, sondern als Rechtsanwendung verkauft, da das nur scheinbar Fehlende aus dem System oder dem Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung entwickelt und ergänzt wurde, denn, so z.B. Paul Laband, „die Schaffung eines neuen Rechtsinstitutes, welches einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht untergeordnet werden kann, (ist) gerade so unmöglich wie die Erfindung einer neuen logischen Kategorie oder die Entstehung einer neuen Naturkraft“.17 Eine Lücke in der Staatsverfassung war ein undenkbarer Begriff, da, so wiederum Laband, „die Rechtsordnung … ebenso wenig eine Lücke haben (kann) wie die Ordnung der Natur“.18 Hier wurden vermeintlich rechtsimmanente Denkfiguren zur Lückenfüllung auch im Verfassungsrecht aktiviert, wie z.B. die Analogie, der Induktionsschluss, das Institut, der Begriff, das Wesen, die Natur der Sache oder auch der Geist der Rechtsordnung19, um den Rückgriff auf die hinter ihm stehenden überpositiven Maßstäbe zu verschleiern.20 Die Rechtswissenschaft 14 Josef Lukas, Zur Lehre vom Willen des Gesetzgebers, in: Fritz Calker u.a. (Hg.), Festgabe Paul Laband, Tübingen 1908, S. 399–427, hier S. 422 f.; Helmut Coing, Rechtspolitik und Rechtsauslegung in hundert Jahren deutscher Rechtsentwicklung, in: 43. DJT, Tübingen 1960, S. B 1–18, hier S. 2 ff. 15 RGZ 24, 49. 16 Grimm (wie Fn. 2), S. 471 ff. 17 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, 5. Aufl. Tübingen 1911, S. VI. 18 Ders., Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preußischen Verfassungsurkunde, Berlin 1871, S. 75 f. 19 Rückert (wie Fn. 3), S. 40 zu §§ 22, 23 sächsisches BGB. 20 Rüthers u.a. (wie Fn. 6), Rn. 573: Solche Begriffe sind Zauberformeln für die scheinbare wissenschaftliche Legitimation beliebiger Auslegungsergebnisse; Jan Schröder, Gab es im deutschen Kaiserreich einen Gesetzespositivismus?, in: Thomas Finken-

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hatte das Potential, zur Schöpferin des Verfassungsrechts neben dem Verfassunggeber und an seiner Stelle zu werden. Auch wenn stets und konsequent angeführt wird, dass weder die Staatsrechtslehre des Kaiserreichs noch die der Weimarer Republik eine verbindliche Schlichtungsfunktion gegenüber den politischen Faktoren und damit auch für das geltende Verfassungsrecht keinerlei praktische Relevanz gehabt hätten, schlummerte in ihren Auslegungsmethoden eine Deutungsmacht, die, vor allem was den staatsrechtlichen Positivismus betrifft, zwiespältig beurteilt wird. Während auf der einen Seite die den jeweiligen status quo konservierende Tendenz des Rechtspositivismus betont wird21, wurde auf der anderen Seite z.B. behauptet, der Staatsrechtslehre des Konstitutionalismus sei es mit Hilfe ihrer Auslegungsmethoden gelungen, die Niederlage von 1848 in einen Triumph des konstitutionellen Staatsrechts zu verwandeln und die dualistisch ausgelegte Reichsverfassung in Richtung einer parlamentarischen Verfassung zu verschieben.22 Fest steht aber, die Methodendiskussionen in Kaiserreich und Weimarer Republik fanden im Wesentlichen ohne Ernstfalltest an der Praxis statt. Mit der Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts wurde die Staatsrechtslehre entthront.23 Der Streit um das richterliche Prüfungsrecht in Weimar24, um die Staatsgerichtsbarkeit und um die Frage, wer Hüter der Verfassung sein sollte, ein politisches oder ein juridisches Organ25, wurde in der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Justiz entschieden. Im Bundesverfassungsgericht treffen heute die Gewissheitsverluste der verfassungsrechtlichen Methodenlehren auf die gerichtliche Deutungsmacht über die Verfassung. Das ist nicht nur im Hinblick auf den demokratischen Gesetzgeber prekär, für den das Bundesverfassungsgericht zumindest ein Erstinterpretationsrecht anerkennt26, sondern vor allem auch gegenüber dem Verfassunggeber, dem Schöpfer des

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hauer u.a. (Hg.), Rechtswissenschaft in der Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, Tübingen 2010, S. 505–521, hier S. 510 ff. Peter von Oertzen, Die Bedeutung C.F. von Gerbers für die deutsche Staatsrechtslehre, in: Konrad Hesse u.a. (Hg.), FS Rudolf Smend, Tübingen 1962, S. 183–207, hier S. 183 ff.; Grimm (wie Fn. 2), S. 487 ff.: Labands Methode schirmte den Verfassungszustand ab. Dazu Walter Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, Tübingen 1993, S. 34 ff. Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch das Bundesverfassungsgericht, in: Der Staat 28 (1989), S. 161–172. Christoph Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, Berlin 1985. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931; Hans Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, Berlin 1931. BVerfG, EuGRZ 1999, S. 617 ff.

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Verfassungsrechts selbst, wird aber in der Staatsrechtslehre als Problem eher ignoriert.27 Das Bundesverfassungsgericht ist nicht nur zum Ersatzgesetzgeber, sondern auch zum Ersatzverfassungsgesetzgeber geworden.

2. Verfassungsauslegung und Verfassungstheorie Die Verfassung hat im Laufe ihrer Ideen- und Wirkungsgeschichte an Bedeutung und an Funktionen hinzugewonnen. Einige dieser Funktionszuwächse, die durch Spezifizierung und Pluralisierung von Methoden reflektiert werden28, sind die Folgenden: der Bedeutungswandel des Begriffs der Verfassung von einer Zustandsbeschreibung über ein profanes Gesetz bis hin zur steuernden Vorrangnorm, die Flexibilisierung der Verfassungsnormen durch ihren Wirklichkeitsbezug, die Ergänzung des formell limitierenden Programms der Verfassung des Liberalismus durch die materiellen Zielverpflichtungen des Sozialstaats und damit letztlich der Ausgriff der Verfassung von einer Teilordnung des politischen Prozesses, über seine Rahmenordnung bis hin zur allbezüglichen Grundordnung des Gemeinwesens.29

2.1 Konstitutionalismus, staatsrechtlicher Positivismus und juristische Hermeneutik: Verfassung als Gesetz Mit dem Konstitutionalismus reifte der staatsrechtliche Positivismus und mit diesem wiederum die „juristische Methode“ im Verfassungsrecht. Paul Laband, ihr Hauptvertreter, machte für die Auslegung des Verfassungsrechts Anleihen bei der im Zivilrecht entwickelten hermeneutischen Gesetzesausle27 Der Parlamentarische Rat war überzeugt, dass das BVerfG über die Rechtmäßigkeitskontrolle nur die Vorentscheidungen des Verfassunggebers zur Geltung bringe, vgl. Dieter Grimm, Zum Verhältnis von Interpretationslehre, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip bei Kelsen, in: Werner Krawietz u.a. (Hg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Berlin 1982, S. 149–165, hier S. 149 f. 28 A.A. Peter Badura, Die Dogmatik des Staatsrechts im Wandel vom Bismarckreich über die Weimarer Republik zur Bundesrepublik, in: Reinhard Mußgnug (Hg.), Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens, Berlin 1996, S. 132–155, hier S. 132 ff.: Der Wandel der Verfassungen ändert nicht die methodischen Anforderungen an die Staatsrechtswissenschaft. 29 Instruktiv Uwe Volkmann, Der Aufstieg der Verfassung. Beobachtungen zum grundlegenden Wandel des Verfassungsbegriffs, in: Vesting/Korioth Hg. (wie Fn. 7), S. 23–41, hier S. 25 ff.; Martin Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, Berlin 1988, S. 106 ff. u. 113; Christian Winterhoff, Verfassung, Verfassunggebung, Verfassungsänderung, Tübingen 2007, S. 118.

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gung und brach mit seinem methodischen Ansatz dem Fachgebiet des öffentlichen Rechts die Bahn der Wissenschaftlichkeit.30 Trotz des exklusiven Labels, das Laband für sich und seine Art des Arbeitens am Verfassungsrecht reklamierte, verbarg sich hinter dem Begriff der „juristischen Methode“ allerdings keine eigentliche Methodenlehre.31 Laband wandte vielmehr das in wenigen Zeilen in der Einleitung seines „Staatsrechts“ umrissene Programm zur Auslegung des öffentlichen Rechts einfach an.32 Er suchte hinter dem geschriebenen Recht die einheitlichen Grundsätze und Prinzipien des Staatsrechts, um aus ihnen durch ausschließlich logische Operationen (neue) rechtliche Folgerungen zu entwickeln. Es ging ihm darum, die einzelnen geschriebenen Rechtssätze auf allgemeine Begriffe zurückzuführen und aus diesen Begriffen dann (neue) normative Folgerungen abzuleiten.33 In seinem Hauptwerk schrieb Laband: „Die Verfassung ist keine mythische Gestalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich“.34 Trotz aller Angriffe, denen Laband mit seiner neuen Methode ausgesetzt war, hielt ihm sein Kontrahent, Otto Gierke, deshalb zu Recht zugute, dass seine Methode den Rechtscharakter des Staatsrechts schärfer, als dies bislang geschehen war, zur Geltung gebracht habe.35 Dieser positivistische Ansatz gab der konstitutionellen Verfassung ihr Gepräge und zeigte gleichzeitig ihre Funktionsgrenze auf. „Die Verfassung“, so Gerhard Anschütz in Nachfolge zu Laband, „ist für die gesetzesanwendenden Instanzen, auch für die Gerichte, nicht mehr und nichts anderes als ein einfaches formelles Gesetz“.36 Von der Höherrangigkeit oder gar dem Vorrang der Verfassung war hier noch keine Rede, denn die dogmatische Figur des Vorrangs passte nicht zur dualistischen Verfassung des Konstitutionalismus. Die konstitutionelle Staatsrechtslehre hatte den grundsätzlichen Anspruch des Verfassungsgesetzes auf Normativität und 30 Manfred Friedrich, Paul Laband und die Staatsrechtswissenschaft seiner Zeit, in: AöR 111 (1986), S. 197–222, hier S. 197. 31 Hans-Joachim Koch, Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, Frankfurt a.M. 1977, S. 61 f. 32 Gerhard Robbers, Die Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, in: Reinhard Mußgnug (Hg.), Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens, Berlin 1996, S. 103– 131, hier S. 115 u. 125. 33 Paul Laband (wie Fn. 17), S. VII u. IX. 34 Ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 5. Aufl. Tübingen 1911, S. 39. 35 Otto Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, Darmstadt 1961 (Nachdr.), S. 4 ff.; Erich Schwinge, Der Methodenstreit in der heutigen Rechtswissenschaft, Bonn 1930, S. 7. 36 Georg Meyer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. Berlin 1919, S. 743.

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Steuerung des Politischen deshalb mit der Rechtsfigur der normativen Kraft des Faktischen beiseitegeschoben oder ihn zumindest nicht problematisiert. Mangels justizförmiger Kontrolle des Staatshandelns bestand hierzu auch kaum Anlass.37 Veränderungen im Regierungssystem, die zu einer Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit führten, legitimierte die herrschende Staatsrechtslehre als Verfassungswandlungen oder Fortbildungen des Verfassungszustands.38 Die normative Kraft der Verfassung war zwar methodisch vorbereitet, blieb in der Theorie aber beschränkt.

2.2 Methodendifferenzierung und Methodenpluralisierung: Die Eigenart des Verfassungsrechts Laband hatte für das Staatsrecht als einziges Rechtsfindungsmittel die Logik bzw. den logischen Syllogismus zugelassen und alle anderen Perspektiven auf das Recht, die in den einstigen Staatswissenschaften gepflegt worden waren, wie z.B. die historischen, politischen oder philosophischen Betrachtungen aus der staatsrechtlichen Methode als unjuristisch verbannt. Nach und nach kamen sie dorthin zurück.39 In direkter Reaktion auf Laband wurde trotz der grundsätzlichen Anerkennung der neuen Methode als Ergänzung und Anbindung des Staatsrechts an Wirklichkeit und politische Kultur zunächst die Rückkehr der entstehungsgeschichtlichen und der historischen Auslegung ins Öffentliche Recht gefordert.40 Ebenso wurde gefordert, die philosophische 37 So sprach z.B. die Vermutung für das verfassungsgemäße Handeln des Staates. Solange niemand einen Akt der Regierung für unwirksam erklärte, musste er als verfassungsgemäß betrachtet werden, auch wenn eine buchstäbliche Interpretation einer einschlägigen Verfassungsbestimmung zu einem anderen Resultat führte. Vgl. Koch (wie Fn. 31), S. 64. Der Vorrang der Verfassung als dogmatisches Konzept wird erst im Zusammenhang mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit juristisch interessant, vgl. Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485–503, hier S. 485 f. 38 Z.B. Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Berlin 1906; Paul Laband, Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichsgründung, in: JöR 1 (1907), S. 1–46, hier S. 1 ff.: Aus der Reichsverfassung ist der tatsächliche Rechtszustand des Reichs nur in äußeren Umrissen noch zu erkennen. 39 Michael Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre – Ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, Stuttgart 2001, S. 4 ff.; Böckenförde (wie Fn. 4), S. 2090 f. 40 Gierke (wie Fn. 35), S. 14 ff.; Felix Stoerk, Zur Methodik des Öffentlichen Rechts, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 12 (1885), S. 80–204, hier S. 91 u. 146 ff.; Karl Rieker, Über Begriff und Methode des allgemeinen Staatsrechts, in: Vierteljahresschrift für Staats- und Volkswirtschaft, für Literatur und Geschichte der Staatswissenschaften aller Länder 4 (1895), S. 250–276, hier S. 255.

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Grundlegung des Rechts neu zu beleben.41 Mit der Interessenjurisprudenz zog dann insbesondere die teleologische Auslegungsmethode ins Öffentliche Recht ein.42 Soziologie, Ökonomie43 Ideengeschichte44 und Politik45 kamen ebenfalls in die Rechtsdiskurse zurück, denn, so stellvertretend Richard Thoma in Weimar, eine juristische Untersuchung erhebt sich „erst dann zu voller Wissenschaftlichkeit, wenn sie mit der Ordnung und Auslegung der Rechtssätze die Darlegung ihrer ‚vis ac potestas‘ verbindet, ihre Geschichte aufdeckt, ihren politischen Zweck, ihre soziale Bedeutung ergründet und sie von einem anzugebenden Bewertungsmaßstab aus kritisch beleuchtet“.46 Der Rückgriff auf allgemeine (ethische) Rechtsgrundsätze47 und leitende Rechtsideen hinter dem geschriebenen Recht blieb ebenfalls erlaubt. Die Vielstimmigkeit oder der Pluralismus methodischer Forderungen48 vereinte sich am Ende der Weimarer Republik in dem Ruf nach einem Methodensynkretismus, mit dem vor allem Hermann Heller gegen Hans Kelsens Reine Rechtslehre und das „logistische“ Erbe Labands opponierte: Das Recht sei niemals rein und auch niemals mit nur einer einzigen Methode zu erschließen, deshalb müsse sich der „Imperialismus einer einzigen Methode“ als unfruchtbar erweisen und eine zu weit getriebene Methodologie die wissenschaftliche Produktivität lähmen.49 41 Näher Stefan Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, in: AöR 117 (1992), S. 212–238. 42 Stoerk (wie Fn. 40), S. 166 ff.; prominent Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik, Berlin 1927, S. 12 ff. 43 Z.B. Hugo Preuß, Zur Methode juristischer Begriffskonstruktion (1900), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hg. Dian Schefold, Tübingen 2009, S. 121–131, hier S. 122. 44 Günther Holstein, Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, in: AöR 50 (1926), S. 1–40, hier S. 31. 45 Rudolf Laun, Der Staatsrechtslehrer und die Politik, in: AöR 43 (1922), S. 145–199. 46 Richard Thoma, Gegenstand – Methode – Literatur, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 1, Tübingen 1930, § 1, S. 2 u. 6. 47 Z.B. Hermann Heller, Staatslehre (1934), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Hg. Christoph Müller u.a., Leiden 1971, S. 79–383, hier S. 369 ff. u. 377; dazu Axel-Johannes Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie, Tübingen 2010, S. 243 f. 48 Nach Franz W. Jerusalem, Das Problem der Methode in der Staatslehre, in: AöR 54 (1928), S. 161–196, hier S. 164 vereinte die „geisteswissenschaftliche Methode in Wirklichkeit die Gesamtheit der methodischen Prinzipien, die die Historische Schule aufgestellt hatte“, die dann aber verdrängt worden waren. 49 Hermann Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart (1929), in: Ders., Schriften (wie Fn. 47), Bd. 2, S. 251–278, hier S. 277 f.; ders., Bd. 3 (wie Fn. 47), S. 354; ders., Die Krisis der Staatslehre (1926), in: Ebd.,

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Die „Positivisten“ Weimars gaben deshalb aber den Glauben an die Verfassung als „funktionalistisches Legalitätssystem“50 mit Gesetzescharakter nicht auf. Die klassisch konstitutionelle Funktion der Verfassung war die einer Teilordnung der Staatsorganisation und die der liberalen Abgrenzung von Staat und Gesellschaft gewesen. Nun war aber mit den Grundrechten auf Reichsebene ein weiteres Normprogramm in den Verfassungstext aufgenommen worden, mit dem die Weimarer Reichsverfassung ihre Funktionen erweitert hatte. Auch die positivistischen Auslegungslehren entwickelten deshalb Ansätze, um die Verfassung nicht mehr bloß als liberale Teil- und Rahmenordnung zu begreifen, die gesellschaftliche Freiräume gegen den Zugriff des Staates abschirmte. Vielmehr begannen sie, den programmierenden Charakter der Verfassung aus ihrem Text heraus zu interpretieren: Die Grundrechte galten z.B. als rechtsverbindliche Direktiven für die Gesellschaftsgestaltung durch den Gesetzgeber und damit als „Rahmengesetze“51, ihre Ausstrahlungswirkung auf das einfache Recht wurde vorgedacht. Die Jurisprudenz habe, so Thoma, „von mehreren, mit Wortlaut, Dogmengeschichte und Entstehungsgeschichte vereinbaren Auslegungen einer Grundrechtsnorm allemal derjenigen den Vorzug zu geben ..., die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet“.52 Die am Text orientierte positivistische Auslegung der Verfassung stieß aber grundsätzlich im Wortlaut des Verfassungsrechts an ihre Grenzen.53 Zwar wurde die Wortlautauslegung in Weimar nicht sprachwissenschaftlich abgesichert, aber allen war klar: Der Wortlaut vor allem der Verfassung, so er den zu entscheidenden Fall überhaupt erfasste, setzte grundsätzlich nur einen Rahmen, innerhalb dessen es mehrere gleich richtige oder falsche Auslegungsmöglichkeiten geben konnte. Erfasste der Wortlaut den Fall nicht,

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Bd. 2, S. 5–30, hier S. 14; dagegen z.B. Hans Kelsen, Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, Tübingen 1911, S. 3: „… dieser Synkretismus der Methoden (kann) zu wissenschaftlich haltbaren Resultaten nicht führen“. So abwertend Ernst Rudolf Huber, Verfassungswirklichkeit und Verfassungswert im Staatsdenken der Weimarer Zeit, in: Hans-Wolf Thümmel (Hg.), FS Klemens Schmelzeisen, Stuttgart 1980, S. 126–135, hier S. 131. Hermann Heller, Grundrechte und Grundpflichten, in: Ders., Schriften (wie Fn. 47), Bd. 2, S. 281–317, hier S. 312 zur Wirtschaftsverfassung. „So ist die Verheißung einer bestimmten Gesetzgebung ... zugleich eine zum Verfassungsrechtssatz erhobene politische Entscheidung und Bewertung“, die „unter Umständen“ auch einen „Umsetzungsauftrag an den Gesetzgeber“ enthält, vgl. Richard Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, Berlin 1929, S. 1–29, hier S. 14. Z.B. Walter Pauly, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Deutschland, in: Armin von Bogdandy u.a. (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2, Heidelberg 2008, § 27 Rn. 9.

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konnte eine rechtliche Lösung nicht gefunden werden. Dies war kein Spezifikum der dualistischen Verfassungen des deutschen Konstitutionalismus gewesen. Allerdings war im preußischen Verfassungskonflikt die politischgestalterische Tendenz der staatsrechtlichen Rechtsfindungsmöglichkeiten besonders deutlich geworden:54 Die meisten der durch unterschiedliche politische Richtungen motivierten Staatsrechtler hatten dort nach (ungeschriebenen) verfassungsrechtlich vorgegebenen Lösungen für den Budgetkonflikt gesucht, für den die Verfassung keine ausdrückliche Regelung vorgesehen hatte. Die monarchisch gesinnten Staatsrechtler hatten das monarchische Prinzip in Stellung gebracht und sich auf die bloß begrenzende Funktion der Verfassung berufen, hatten ein übergesetzliches Notrecht des Staates aktiviert55 oder das Handlungsrecht der Regierung aus dem Rechtsbegriff des Etats abgeleitet.56 Die parlamentarisch gesinnten Staatsrechtler dagegen hatten aus einer Zusammenschau aller einschlägigen Verfassungsnormen ein Prinzip erstellt und aus diesem die so genannte Appellationstheorie deduziert.57 Alle diese rechtlichen Lösungsversuche waren sowohl wegen des damaligen Verfassungsbegriffs als auch wegen der von der Verfassung intendierten Balance zwischen der Begrenzung der monarchischen Macht und der Konstituierung der parlamentarischen gleichwenig plausibel gewesen. Anschütz hatte deshalb den Konflikt aus dem Verfassungsrecht herausgeholt: „Nicht der Staat hört auf, wohl aber das Staatsrecht. Wo das Recht aufhört, da endet auch der Beruf des Juristen: die Kunst Recht zu finden“. Er neigte der rechtlichen Neutralisierung des politischen Konflikts zu und verneinte damit nicht nur bescheiden einen Anspruch der Staatsrechtslehre, Steuerungswissenschaft zu sein, sondern zugleich auch die Allbezüglichkeit der Verfassung: „Die Frage wie bei einem nicht vorhandenen Gesetz zu verfahren ist, ist keine Rechtsfrage“.58 54 Rainer Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. Königstein 1981, S. 171–194, hier S. 184. 55 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 2. Aufl. Stuttgart 1978, S. 307 ff. 56 So Laband (wie Fn. 18), S. 75 ff. 57 Dazu Hans Boldt, Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, Berlin 1975, S. 75–102, hier S. 75 ff. 58 Gerhard Anschütz, Lücken in Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, in: VerwArch 14 (1908), S. 313–340, hier S. 336 u. 338 ff.; zustimmend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. Königstein 1981, S. 146–170, hier S. 156 ff.; ungenau hier Gerhard Dilcher, Zum Verhältnis von Verfas-

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Gleiches galt noch unter der Weimarer Reichsverfassung und lässt sich an der Stellungnahme Thomas im Streit um das richterliche Prüfungsrecht demonstrieren. Thoma war überzeugt, dass das Rechtsstaatsprinzip ein Verfassungsprinzip sei, das grundsätzlich einen vollkommenen Rechtsschutz einforderte.59 Gleichwohl fand er in der Weimarer Verfassung keine rechtlich und logisch zwingenden Argumente für oder wider das richterliche Prüfungsrecht, denn der Verfassungstext schwieg zu dieser Frage. Thoma beschied seine Kollegen, dass die Einrichtung der richterlichen Normenkontrolle letztlich eine politische Entscheidung des Verfassunggebers bleibe.60 Nur selten liest man deshalb bei den „Positivisten“ Weimars, dass der Wortlaut dem Sinn einer Verfassungsnorm zu weichen habe.61 Ihr Verfassungsbegriff war damit insgesamt nahe am Charakter der Verfassung als Gesetz und nahe am Willen des Verfassunggebers. Er formte einen offenen Rahmen für politische Entscheidungen, da die Verfassung eben nicht auf jedes Problem eine rechtliche Antwort bereithielt. Heute ist sprachtheoretisch festgestellt, dass der Wortlaut der Verfassung nicht gegen ihre „unbegrenzte Auslegung“ in Stellung gebracht werden kann.62 Aber auch ohne diese modernere Erkenntnis gingen „geisteswissenschaftlich“ arbeitende Interpreten bereits in Weimar über den Verfassungswortlaut hinaus und bildeten das gesetzte Verfassungsrecht fließend oder situativ auch contra constitutionem scriptam fort.63 Für die geisteswissenschaftlichen Richtungen galt nicht zwangsläufig der geschriebene Text der Verfassung, sondern die Leitidee oder die tragenden Prinzipien hinter dem Verfassungstext, die neben ihrem lückenfüllenden auch ein verfassungsderogierendes Potential besaßen. Rudolf Smend z.B. forcierte mit Nachdruck,

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sung und Verfassungstheorie im frühen Konstitutionalismus, in: Gerd Kleinheyer u.a. (Hg.), Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, Paderborn 1979, S. 65–84, hier S. 68 f.: Der Gesetzespositivismus habe nach dem preußischen Verfassungskonflikt die Machtentscheidung als Recht akzeptiert. Richard Thoma, Liegt ein Bedürfnis eines deutschen Reichs-Verwaltungsgerichts vor?, in: 30. DJT 1910, S. 51–111, hier S. 52 u. 82. Richard Thoma, Das richterliche Prüfungsrecht, in: AöR 43 (1922), S. 267–286, hier S. 268 ff.; dazu Schwinge (wie Fn. 35), S. 15 f.: Bemerkenswert sei, wie Thoma sich über das Dogma der logischen Geschlossenheit der Rechtsordnung, ein Kernstück der positivistischen Rechtslehre, hinwegsetze. Gerhard Anschütz, in: VerwArch 30 (1925), S. 342–346, hier S. 342 u. 345. Hans Kudlich, Wortlautgrenze: Spekulativ oder pragmatisch, in: ARSP 93 (2007), S. 128–142; dagegen Matthias Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, Baden-Baden 2004; BVerfGE 8, 210 (221); 35, 263 (279). Ingeborg Maus, Plädoyer für eine rechtsgebietsspezifische Methodologie, oder: wider den Imperialismus der juristischen Methodendiskussion, in: KritV 74 (1991), S. 107– 123, hier S. 115.

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dass die Auslegung des Verfassungsrechts wegen seiner veränderten Funktionen, und weil es besondere Ziele verfolge und besonderen Wirkungsbedingungen unterliege, anderen Regeln zu folgen habe, als denen des einfachen Rechts.64 Da das Verfassungsrecht in Smends Integrationslehre ein wandelbares System integrieren sollte, musste es sich folglich mit diesem System wandeln, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Aber auch für die anderen Mitstreiter der geistes- und kulturwissenschaftlichen Richtungen ging es darum, Sinngehalte und Wertvorstellungen der Verfassung hinter dem Verfassungsrecht aufzudecken und zu verwirklichen.65 Hermann Hellers „wirklichkeitswissenschaftliche“ Methode z.B. legte wie die von Smend ein offenes und dynamisches Verständnis der Verfassung als „offener Struktur“ nahe, als „geprägter Form, die lebend sich entwickelt“.66 Die neuen Richtungen reklamierten nämlich für sich, den methodischen Schlüssel zur Verbindung von (Verfassungs-)Recht und wirklicher Welt zu besitzen, dessen Fehlen sie dem lebensfremden Positivismus vorwarfen.67 Sie bedienten sich dabei jedoch eher undurchsichtiger philosophischer oder sozialwissenschaftlicher Rechtserkenntnisverfahren68 wie der Ontologie69, der phänomenologischen Wesensschau von Rechtsbegriffen oder „Wesenstotalitäten“70, dem instituti64 Dass das Öffentliche Recht einer anderen Methode bedürfe als das Zivilrecht, hatte bereits Stoerk (wie Fn. 40), S. 86 ff. gefordert. 65 Nach Manfred Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AöR 102 (1977), S. 161–193, hier S. 172 sollen die Positivisten es abgelehnt haben, die besonderen Form- und Inhaltsqualitäten des Verfassungsrechts als ein methodisches Problem zu akzeptieren. 66 Heller (wie Fn. 47), S. 371; Thomas Vesting, Aporien des rechtswissenschaftlichen Formalismus: Hermann Hellers Kritik an der Reinen Rechtslehre, in: ARSP 77 (1991), S. 348–367, hier S. 349. 67 Kritisch Oliver Lepsius, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisverfahren in den Geisteswissenschaften der Weimarer Republik, in: Ius Commune 22 (1995), S. 283–310, hier S. 291 ff. 68 A.A. Manfred Friedrich, Die Grundlagendiskussion in der Weimarer Staatsrechtslehre, in: PVS 13 (1972), S. 582–624, hier S. 596 f.: „methodisch saubere, nachkontrollierbare Erarbeitung der für das Verfassungsrecht wesentlichen Sinnzusammenhänge“. 69 Erich Kaufmann, Vorwort, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Göttingen 1960, S. XXVII. 70 Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert (1929), 3. Aufl. Berlin 1966, S. 26 ff.; ders., Zur Begriffsbildung im öffentlichen Recht, in: Manfred Friedrich (Hg.), Verfassung, Darmstadt 1978, S. 13–33, hier S. 26; Holstein (wie Fn. 44), S. 40; Ernst von Hippel, Zur Kritik einiger Grundbegriffe in der „reinen Rechtslehre“ Kelsens, in: AöR 44 (1923), S. 327–346, hier S. 346: „Hier kann nur erfaßt, erschaut, nicht bewiesen werden“. Kritisch Heinrich Wohlgemuth, Das Wesen des Politischen in der heutigen deutschen neoromantischen Staatslehre, Erlangen 1933, S. 28: „Was man nicht definieren kann, das sieht man für ein ‚Wesen‘ an“.

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onellen Rechtsdenken, der Metaphysik, der Lebensphilosophie, der funktionalen Interpretation des Verfassungsrechts oder dem existenziellen Denken und der normativen Kraft des Faktischen, um die „lebende Verfassung“71 an deren Maßstäben zu messen.72 Der damit verursachte Verlust von Wortlautgrenze und Normativität von Verfassungsrecht wird am deutlichsten in der Integrationslehre von Smend. In seiner Weimarer Abhandlung „Verfassung und Verfassungsrecht“, die vor allem eine Anleitung zur Auslegung des Verfassungsrechts sein wollte, schrieb Smend dem gesetzten Verfassungsrecht eine funktionale Bedeutung ausschließlich für den Prozess der Integration der Lebenstotalität des Staates zu.73 Über die Behauptung seiner Integrationsaufgabe konnte dem Verfassungsrecht nicht nur ein beliebiger Inhalt untergeschoben werden 74, vielmehr konnte selbst ein verfassungswidriges Staatsleben dem (integrativen) Sinn der Verfassung besser entsprechen als ein paragrafentreues und deshalb verfassungsgemäß sein.75 Verfassungswandlung als Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit schaffte auch hier neues, ungeschriebenes Verfassungsrecht.76 In dem Augenblick also, als die Spezifizität der Auslegung von Verfassungsrecht postuliert wurde, führten die neuen, materialen Funktionszuschreibungen an die Verfassung zu einem Funktionsverlust des Verfassungsrechts. Seine Normativität wurde prekär, seine Steuerungsfunktion wiederum marginalisiert.

2.3 Die normative Überhöhung des Grundgesetzes Aus der positivistischen Perspektive betrachtet, wandten sich die geisteswissenschaftlichen Richtungen gegen den stabilisierenden und ordnenden Charakter des in seinem Anspruch auch kontrafaktisch wirksamen Verfassungs71 Friedrich (wie Fn. 68), S. 592 f. 72 Schwinge (wie Fn. 35), S. 8 ff.; kritisch Wilhelm Scheuerle, Juristische Evidenzen, in: ZZP 84 (1971), S. 241–297, hier S. 242 ff.; ders., Das Wesen des Wesens, in: AcP 163 (1964), S. 429–471, hier S. 430 u. 461 ff. 73 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 4. Aufl. Berlin 2010, S. 119–276, hier S. 139: Das Staatsrecht ist nur eine Positivierung der Integration und nur aus dieser zu verstehen. 74 Volker Hartmann, Zur Staatsrechtslehre der Weimarer Verfassung, in: JöR 29 (1980), S. 43–61, hier S. 55 f. 75 Hans Kelsen, Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung, Wien 1930, S. 90. 76 Hsü Dau Lin, Die Verfassungswandlung, Berlin 1932, S. 164.

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rechts. Trotzdem ist der Einfluss vor allem der Smend-Schule und anderer geisteswissenschaftlicher Richtungen auf die bundesdeutsche Verfassungsauslegung unverkennbar77, hat sich aber mit einem starken Vorrangdenken zugunsten der Verfassung verbunden. Das Verfassungsrecht, seit der LüthEntscheidung vor allem die Grundrechtsjudikatur78, richtet bis heute eine Wertordnung auf, die den Grad der Verrechtlichung des politischen Lebens bestimmt.79 Mit der Wertordnung des Grundgesetzes wird ein umfassender Steuerungsanspruch der Verfassung als ideologisch erhöhter, materieller Grundordnung von Staat und Gesellschaft verbunden: Es gibt kaum noch eine alltägliche oder politische Frage, die nicht durch Verfassungsrecht determiniert scheint und vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden könnte. Das kritische Auge sieht die Politik deshalb auf eine Frage des Treffens der richtigen Verfassungsauslegung in allen erdenklichen Sachfragen reduziert. Politik scheint sich in Verwaltung bzw. im Vollzug weniger des Verfassungstextes, als vielmehr der verfassungsgerichtlichen Vorgaben aufzulösen80, und das zu einem Zeitpunkt, in dem klar geworden ist, dass es mangels der einen richtigen Auslegungsmethode auch kein richtiges Verfassungsrecht, sondern nur noch nachvollziehbar begründete Verfassungsgerichtsentscheidungen gibt.81 Die offenbare Unterordnung der politischen Organe unter das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in den 1970er Jahren nach einer Gegenbewegung geschrien. Der allbezügliche Verfassungsbegriff des Grundgesetzes sollte wieder auf den einer formellen Rahmenordnung reduziert werden; einer Rahmenordnung, die im Wesentlichen ausgrenzt und abgrenzt,

77 Frieder Günther, Denken vom Staat her, München 2009; Christoph Möllers, Der Methodenstreit als politischer Generationenkonflikt, in: Der Staat 43 (2004), S. 399–423, hier S. 422 f. 78 Dazu die Beiträge in Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005. 79 Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, Berlin 2006, S. 33: Das ist ein eigener Entwicklungspfad des deutschen Rechts. 80 Uwe Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: VVDStRL 67 (2008), S. 57–89, hier S. 78: Eine vollständige Rückverweisung einer Frage an die Politik kommt praktisch nicht mehr vor. 81 Bernhard Schlink, Abschied von der Dogmatik, in: JZ 2007, S. 157–162, hier S. 162; Ulfried Neumann, Juristische Methodenlehre und Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 239–255, hier S. 241 ff.

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und damit eben nicht als Grundlegung der gesamten Rechtsordnung fungiert. Die Methoden der Verfassungsauslegung sollten an diese Funktion gebunden werden.82 Für die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung sind diese Beiträge folgenlos geblieben.83 Lässt sich als Outcome des Grundlagenstreits der Weimarer Staatsrechtslehre festhalten, dass sich in diesem Streit vor allem der Verlust eines gleichgesinnten Grundverständnisses von Verfassung, Verfassungsrecht und seiner Methodik manifestierte84, dann setzen sich diese „Gewissheitsverluste“ in Methodenlehren und Verfassungstheorien unter dem Grundgesetz fort. Die Verfassungstheorie des Grundgesetzes ist in dem Grundlagenfach der Verfassungslehre bislang noch nicht gefunden worden.85 In der Auslegungspraxis dagegen sticht sie deutlich hervor. Die Verfassung ist zur multifunktionalen Kodifikation geworden. Der Methodensynkretismus konstituiert seinen Gegenstand.86

82 Böckenförde (wie Fn. 4), S. 2097 u. 2099; ders., Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: Ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 11–27, hier S. 15 ff.: Die Verfassung enthält v.a. Normen, die Richtpunkte enthalten, aber keine aus sich selbst heraus anwendbaren Rechtsaussagen. Ernst Forsthoff, Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre, in: Friedrich (Hg.), Verfassung (wie Fn. 70), S. 268–306, hier S. 280; Christian Starck, Die Verfassungsauslegung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, Heidelberg 1992, § 164 Rn. 5. 83 Ulrich Karpen, Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes, Berlin 1987, S. 50 f.; Horst Sendler, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Rationalisierung der Entscheidungsfindung oder Camouflage der Dezision, in: Burkhardt Ziemske (Hg.), FS für Martin Kriele, München 1997, S. 457–484, hier S. 462. 84 Hsü Dau Lin, Formalistischer und antiformalistischer Verfassungsbegriff, in: Friedrich (Hg.), Verfassung, (wie Fn. 70), S. 34–54. 85 Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung. Eine Standortbestimmung der Verfassungstheorie, Paderborn 2009, S. 11 ff. 86 Peter Häberle, Die Entwicklungsstufe des heutigen Verfassungsstaates, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 431–457, hier S. 433 f.; ders., Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des gemischten Verfassungsverständnisses, in: Walter Haller (Hg.), FS für Dietrich Schindler, Basel 1989, S. 701–740, hier S. 701 f. votiert für ein „gemischtes Verfassungsverständnis“, das den verschiedenen Normgruppen der Verfassung je unterschiedliche Verfassungsverständnisse zuweist. Pauly (wie Fn. 53), § 27 Rn. 15: Wissenschaftstheoretisch muss ein Raum für die Offenheit der verschiedenen Systemansätze konstatiert und der anarchisch anmutende Methodenpluralismus gerechtfertigt werden.

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2.4 Verfassungstext plus Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts gleich Kodifikation Verfassungsinterpretation wird definiert als Ermittlung und gegebenenfalls Vervollständigung von verfassungsgesetzlichen Vorgaben.87 Diese Definition umfasst nicht die „interpretative“ Veränderung oder Neuschöpfung von Verfassungsrecht.88 Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre sind in der offiziellen juristischen Terminologie weder Rechtsschöpfer noch Rechtsquellen. Zu guter Letzt hat aber auch die Wortklauberei Tradition, unter der im gewaltenteilenden Rechtsstaat die Rechtsetzungsfunktion des Juristenstandes, vor allem die des Bundesverfassungsgerichts versteckt wird. Heute wird gesprochen von der Verfassungskonkretisierung89, davon, dass sich der Inhalt der zu interpretierenden Normen erst in der Auslegung vollende90, von der „wertenden Explizierung“ und Entfaltung der Verfassung91, vom expansiven Rahmen der Verfassung, von Verfassungsausweitung92, der Fortentwicklung93, der Fortbildung94 oder von der Lernfähigkeit des Verfassungsrechts.95 Bereits in den geistes- und wirklichkeitswissenschaftlichen Methodenlehren Weimars war die rechtserzeugende Funktion des Juristenstandes allgemein akzeptiert. Heller z.B. schrieb, dass „geisteswissenschaftliches Denken“ nicht objektiv sei, sondern immer eine „schöpferische Setzung und subjektive Entscheidung“ enthalte.96 Und auch streng normativistische Methodenlehren 87 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: Ders., Staat, Nation, Europa, Frankfurt a.M. 1999, S. 141–156, hier S. 155. 88 Kritisch auch Alexander Roßnagel, Verfassungsänderung und Verfassungswandel in der Verfassungspraxis, in: Der Staat 22 (1983), S. 551–577, hier S. 558. 89 Hans Huber, Der Formenreichtum der Verfassung und seine Bedeutung für ihre Auslegung, in: Friedrich (Hg.), Verfassung (wie Fn. 70), S. 305–355, hier S. 319 ff. 90 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. Heidelberg 1999, Rn. 60. 91 Beide Termini bei Franz Reimer, Verfassungsprinzipien. Ein Normtyp im Grundgesetz, Berlin 2001, S. 116 f. u. 126. 92 Beide Termini bei Norbert Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung, Berlin 2000, S. 21 ff. 93 Konrad Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, in: JZ 1995, S. 265–273, hier S. 266 f. 94 BVerfGE 6, 222 (240); Bernd Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, in: JZ 2006, S. 53–61, hier S. 57. 95 Gunnar Folke Schuppert, Verfassungsverwirklichung, Verfassungsvoraussetzungen, Verfassungsverständnisse – Über einige Ambivalenzen und Paradoxien des Verfassungsstaates, in: Joachim Jens Hesse u.a. (Hg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, Baden-Baden 1999, S. 297–319, hier S. 297 f. 96 Heller (wie Fn. 49), S. 251 f.; dazu Ingeborg Maus, Hermann Heller und die Auseinandersetzung um die Interpretation des Grundgesetzes, in: Winfried Brugger (Hg.),

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wie Kelsens „Reine Rechtslehre“ mussten in dem Augenblick, als der Stufenbau der Rechtsordnung entdeckt war, eingestehen, dass Verfassungsauslegung immer auch ein schöpferisches Element enthält, weil das offen formulierte Verfassungsrecht die Rechtserkenntnis auf den nachgeordneten Stufen zwar grundsätzlich, aber nicht vollständig determinieren kann.97 Kelsen trennte daher die Gesetzesinterpretation als Wissenschaft von der Gesetzesanwendung als Praxis. Wollte man die Wissenschaft vom Recht nicht wie dazumal Kelsen98 und neuerdings Christian Hillgruber99 auf eine reine Beschreibung möglicher Norminhalte reduzieren, sondern als anwendungsorientierte Entscheidungswissenschaft beibehalten100, bestand der Königsweg deshalb darin, die subjektiven Wertungen von Rechtsauslegern und Rechtsanwendern mit dem objektiven Recht gleichwohl wieder zu verkoppeln. Da die Warnung Kelsens, eine Rechtsverfassung müsse sich jeder Phraseologie enthalten101, bereits in Weimar frommes Wunschdenken war, führte die Suche nach objektiv-rechtlichen Fixpunkten für die schöpferische Rechtsauslegung in Weimar schon zu wenig verständlichen Aussagen, die sich im Wesentlichen auf das Recht hinter den Gesetzen berufen mussten. Hier sei z.B. Ernst von Hippel zitiert, der schrieb, die Tätigkeit der Rechtsauslegung führe von der Sinndeutung zur Sinngebung und sei „insoweit freie, normentbundene Gestaltung der politischen Welt …, wenn auch nur innerhalb der Grenzen des eindeutigen Rechtssinnes“.102 Nur wenige benannten und benennen den Täuschungsversuch103, durch den das Rechtsverweigerungsverbot auf Seiten der Judikative mit der Gewaltenteilung in Einklang gebracht wird, so deutlich wie Gustav Radbruch. Weil der Richter einerseits nicht schweigen darf, 97 98 99 100 101 102 103

Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden 1984, S. 133–161, hier S. 146 u. 156 ff. Hans Kelsen, Die Idee des Naturrechts, in: ZÖR 7 (1928), S. 221–250, hier S. 232 ff. Ders., Zur Theorie der Interpretation (1934), in: Hans R. Klecatsky u.a. (Hg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Wien 2010, S. 1113–1121, hier S. 1113 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 95 ff. u. 349. Christian Hillgruber, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: VVDStRL 67 (2008), S. 7–55, hier S. 18 f. u. 49. Martin Morlok, Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Helmuth Schulze-Fielitz (Hg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Berlin 2007, S. 49–77, hier S. 70 f. u. 74. Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30–74, hier S. 68 f. Ernst von Hippel, Über Objektivität im öffentlichen Recht, in: AöR 12 (1927), S. 393–421, hier S. 407. Matthias Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein… Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis, Tübingen 2006, S. 60: Verdacht, dass die Methodiker und Anwender nicht das tun, was sie sagen, und nicht sagen, was sie tun.

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ihm andererseits die Rechtsschöpfung aber verboten ist, da diese Aufgabe der Legislative vorbehalten ist, wird die Vollkommenheit des einfachen Gesetzes behauptet und die Lückenlosigkeit der Rechtsordnung postuliert, aus der sich Analogien, Prinzipien und Leitgedanken für den dann gesetzesimmanenten Lückenschluss gewinnen lassen.104 Diesen Pfad sind bundesdeutsche Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht im Verfassungsrecht weiter gegangen:105 Bereits in Labands Methodenprogramm war der Rückgriff auf Rechtsprinzipien zur Systematisierung des Rechtsstoffs und zur Füllung von unechten Lücken im (Verfassungs-)Gesetz gestattet.106 Gierke hatte Laband gegenüber deshalb moniert, dass dieser von seiner juristischen Methode selbst abweiche, politische Motive hinter Rechtsargumenten verstecke und für gesetztes Recht ausgebe, was nicht Gesetz sei.107 In Weimar musste sich z.B. in Hellers Rechtstheorie geschriebenes Recht und dessen Auslegung an den durch die jeweilige Kultur einer Nation vorgegebenen Rechtsgrundsätzen orientieren. In den Fragmenten seiner Verfassungstheorie kam Heller deshalb zu dem Schluss, dass das notwendigerweise lückenhafte Verfassungsrecht nicht normimmanent, sondern allein durch Rückgriff auf diese Kultur, also metajuristisch zu schließen sei.108 Andere geisteswissenschaftliche Ansätze wurden noch deutlicher in der Unterscheidung von Recht und Gesetz: Wenn der Geist des Rechts in diesem enthalten war, dann mussten die Verfassungsvorschriften die leitenden Ideen des ganzen Rechtskreises in sich bergen. Diese bildeten den Fluchtpunkt, auf den die Normen der Verfassung verwiesen. Da der Rechtstheoretiker diese Prinzipien der Verfassungsurkunde aber nicht unmittelbar zu entnehmen können brauchte, lag in der Auslegung das „schöpferische Ethos der Rechtswissenschaft und ihr metaphysischer Charakter“.109 Und Carl Schmitt zog dann die antinormativistische Konsequenz für das Verfassungsrecht: Schmitt nahm 104 Gustav Radbruch, Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, in: ASWSP 22 (1906), S. 335–370, hier S. 365. 105 Matthias Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: Christoph Engel u.a. (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, Tübingen 2007, S. 241–281, hier S. 262; Bernhard Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 19 (1980), S. 73–96, hier S. 73 f.: Die älteren Theorieschichten haben nur noch beschränkte Bedeutung. 106 Laband (wie Fn. 18), S. 76: „Die Lückenhaftigkeit der Verfassungsurkunde nötigt nur dazu, die Entscheidung der streitigen Frage aus allgemeineren Rechtsprinzipien abzuleiten“. 107 Gierke (wie Fn. 35), S. 4 ff. 108 Heller (wie Fn. 47), S. 267 u. 378. 109 Ernst von Hippel, Über die Notwendigkeit einer metaphysischen Grundlegung der Rechtstheorie, in: Die Tatwelt II (1926), S. 1–49, hier S. 45 f.

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die bereits im staatsrechtlichen Positivismus behauptete Trennung von Verfassungsurkunde und Staatsverfassung beim Wort.110 Seine „Verfassungslehre“ konstruierte die Verfassung nicht als System von Normen, sondern als die existenzielle Gesamtentscheidung des Souveräns über die fundamentalen Prinzipien und Ideen für das Sosein des Staates, die dem Verfassungsgesetz vorgeordnet waren und zur Not gegen den Verfassungstext zur Geltung gebracht werden mussten.111 Fast scheint es, als werde in Rechtsprechung und Lehre heute Schmitts antinormativistische Entgegensetzung eines formalen und eines materialexistenziellen Verfassungsbegriffs übernommen und dem Rechtsstaatsdenken angepasst, um an alle hinter der Verfassung stehenden Verfassungsprinzipien zu gelangen. Diese müssen dann nicht einmal unbedingt im Verfassungstext benannt sein112, sollen gleichwohl aber durch den Text vermittelt werden.113 Die Verfassung wird durch den Rückgriff des Bundesverfassungsgerichts auf ein vorverfassungsmäßiges Gesamtbild114 von ihrem Wortlaut abgelöst, damit durch die Aktivierung überpositiven Rechts die Konstitutionalisierung von Staat und Gesellschaft voranschreiten kann. Methodisch erkaufen sich Staatsrechtslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit die Verfassungsverrechtlichung von Staat und Gesellschaft durch einen Positivismustrick. Versteht man unter Positivismus eine Methode, die normativ vorgegebene Gesetzesinhalte unverfälscht zur Geltung bringt, weil jedes erdenkliche Auslegungsproblem in einer Kodifikation bereits vorgedacht ist, dann vereinen sich heute positivistische und geisteswissenschaftliche Richtungen in den „impliziten Aussagen“ des Verfassungsrechts und der „Schwammstruktur“ der Verfassung115: Außerrechtliche Diskurse werden 110 Laband (wie Fn. 18), S. 75. 111 Carl Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, S. 20 ff., 75 ff. u. 102 ff. Schmitt fragte allerdings hinter den positiven Verfassungstext zurück, um den Geltungsanspruch der Verfassung zu relativieren, vgl. Reinhard Mehring, Macht im Recht. Carl Schmitts Rechtsbegriff in seiner Entwicklung, in: Der Staat 43 (2004), S. 1–32, hier S. 11 f. 112 Umfassend Reimer (wie Fn. 91), S. 20 f., 31 f. u. 51 ff. 113 Volkmann (wie Fn. 80), S. 73 f.: Von Ferne mag man ein Stück Schmitt erkennen. „Nur dass das, was Schmitt als grundlegende Entscheidung eines virtuellen Souveräns vom Verfassungsgesetz abgelöst hat, nun gerade sich in diesem und durch dieses hindurch in die Wirklichkeit vermittelt“. Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: Gregor Kirchhof (Hg.), Was weiß Dogmatik?, Tübingen 2012, S. 39–61, hier S. 59: Für die Wissenschaft ist Arbeiten mit Prinzipien aus dem Gedanken der Selbstermächtigung zur Normgebung besonders attraktiv, weil sie hier den Vorrang des positiven Rechts nicht fürchten muss. 114 BVerfGE 2, 380 (380 LS 2, 403). 115 Zu beiden Begriffen Reimer (wie Fn. 91), S. 109.

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durch ein ganzes Arsenal an dogmatischen Rechtsfiguren zu rechtlichen Diskursen gemacht. Über „Schleusenbegriffe“ und Schlüsselbegriffe holen Staatsrechtslehre und Gericht mit der Empirie, der Kultur, der Ethik, der politischen Philosophie oder Ideologie sich wandelnde außerrechtliche Maßstäbe in das Verfassungsrecht hinein, reichern es an und dehnen es aus.116 Das Bundesverfassungsgericht vertritt ein rechtstheoretisches Prinzipienmodell, das juristisches Denken in Rechtsregeln durch Optimierungsgebote ablöst.117 Es praktiziert zusätzlich eine an Leitbildern orientierte Verfassungsauslegung118, die einerseits an die Begriffsjurisprudenz erinnert, andererseits der intuitiven Wesensschau von Verfassungsinstituten ähnelt, einen an Günther Holsteins „Rechtsidealismus“ gemahnenden ideengeschichtlichen Ansatz hat, philosophische Gerechtigkeitsmodelle umgreift und in jedem Fall den Blick dafür freigibt, dass der Verfassung nicht nur Rechtssätze entnommen werden, die so nicht in ihr stehen, jedoch als ihr Inhalt ausgegeben werden, sondern dass die Verfassung vielmehr material aufgeladen wird.119 Verfassungswandlung wird durch Verfassungsinterpretation eskamotiert. Die Normativität der Verfassung ist flexibilisiert aber nicht relativiert, denn die Auslegungsmethoden zielen nicht bloß auf Anpassung des Verfassungsrechts an die Wirklichkeit, sondern auf seine Verwirklichung.120 Der Steuerungsanspruch der Verfassung durch Verfassungsinterpretation ist omnipräsent. In der heutigen „Einheit der Verfassung“121 wird ferner der Systemcharakter des Verfassungsrechts beschworen. Die Beliebigkeit bzw. der lösungsorientierte Einsatz aller angebotenen Methoden122 tut sein Übriges: Die Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts 116 Böckenförde (wie Fn. 87), S. 149 f.; Susanne Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Eberhard Schmidt-Aßmann u.a. (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, BadenBaden 2004, S. 223–251, hier S. 229 ff. 117 Pauly (wie Fn. 53), § 27 Rn. 15. 118 Umfassend Uwe Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, in: AöR 134 (2009), S. 157–195, hier S. 157 ff.; ders., Rechtsgewinnung aus Bildern, in: Julian Krüper u.a. (Hg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, Tübingen 2010, S. 77–90, hier S. 79 ff.; Ulrich Jan Schröder, Vom Topos der Verfassungsauslegung bis zur Utopie der Objektivität, in: Rechtstheorie 42 (2011), S. 124–138, hier S. 130 f. 119 Ähnl. Ulrich Jan Schröder, Interdisziplinarität in der Weimarer Staats- und Verwaltungsrechtslehre, in: Ders./Antje von Ungern Sternberg (Hg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, Tübingen 2011, S. 261–305, hier S. 304. 120 Schuppert (wie Fn. 95), S. 299 ff. 121 BVerfGE 1, 14 (32); 19, 206 (220); Gerd Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: Christian Starck (Hg.), Festgabe Bundesverfassungsgericht, Band II, Tübingen 1976, S. 22–55, hier S. 30 ff. 122 Dazu Jestaedt (wie Fn. 103), S. 10.

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verdichtet den offenen Rahmen der Verfassung zur lückenlosen123 Kodifikation124 eines längst schon abgehängten Verfassunggebers.125

3. Verfassungsrecht als konsentierte „Lebenstotalität“ Erkenntnis- und Rechtstheorie haben zwar nachgewiesen, dass die eine, richtige Erkenntnis des Rechts ein Irrglauben ist, der nicht einmal als regulative Idee taugt.126 Diejenigen unter den Staatsrechtslehrern, die nicht vor der Behauptung der Beliebigkeit von Auslegungsergebnissen das Handtuch werfen wollen, sondern an die Möglichkeit zumindest vorläufig richtiger Rechtserkenntnisse glauben127, suchen jedoch nach fixen Haltepunkten außerhalb von Verfassung und Methodenlehre, um die Herstellung ihrer Antworten auf die Frage was rechtens sei, irgendwo zu verankern. Das ist auch das Dilemma der geisteswissenschaftlichen Richtungen in Weimar gewesen: Es mussten Werturteile ermittelt und als objektive (oder zumindest intersubjektive) Wahrheiten vermittelt werden.128 Geht es darum, vermeintlich objektive Prinzipien, den „objektiven Sinn der Gegenwart“129 und die Rechtsidee in der Rechtsordnung aufzudecken, die das positive Recht 123 Z.B. BVerfGE 34, 316 (332): lückenlose Regelung des Bundesstaats u.a. durch das ungeschriebene Verfassungsrecht in Form der Bundestreue. 124 In der Verfassungstheorie dagegen ist anerkannt, dass eine Verfassung weder den Anspruch auf Lückenlosigkeit noch systematische Geschlossenheit erhebt, vgl. Hesse (wie Fn. 90), Rn. 21; Wolfgang Knies, Das Grundgesetz – kein Kodex des Staatsrechts, in: Detlef Merten/Waldemar Schreckenberger (Hg.), Kodifikation gestern und heute, Berlin 1995, S. 221–247, hier S. 221 f.: Die Verfassungsurkunde ist kein taugliches Feld für die Kodifikationsidee. 125 Oliver Lembcke, Zur Interpretationsmacht des Bundesverfassungsgerichts, in: KJ 33 (2000), S. 102–129, hier S. 102 f.; Jestaedt (wie Fn. 5), S. 185 ff.; Thomas Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: Joachim Bohnert u.a. (Hg.), FS für Alexander Hollerbach, Berlin 2001, S. 223–241, hier S. 224: Das materiale Verfassungsrecht steht weniger im Text als in der Entscheidungssammlung des Gerichts. 126 Rüthers u.a. (wie Fn. 6), Rn. 520; Hans Martin Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, Heidelberg 1986, S. 66; a.A. Ulfried Neumann, Juristische Methodenlehre und Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie 32 (2001), S. 239–255, hier S. 247. 127 Z.B. Joachim Lege, Das Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: DVBl. 2007, S. 1053–1063, hier S. 1062 f.; Josef Franz Lindner, „Gewissheit“ als Paradigma der Wissenschaft vom öffentlichen Recht, in: JöR 57 (2009), S. 173–192, hier S. 176 ff. 128 Ähnl. Schröder (wie Fn. 119), S. 279 f. u. 285 ff. 129 Hippel (wie Fn. 109), S. 44.

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verwirklichen soll, konnte man wie Heinrich Triepel auf das Rechtsempfinden der Jurisprudenz als Teil eines überindividuellen Geistes zurückgreifen. Ist die dem positiven Recht vorgeordnete Rechts- und Prinzipienordnung oder sind Rechtsbegriffe als Wesensbegriffe und Institute Gegenstand der intuitiven oder gewissenhaften Erkenntnis, dann muss, wie Kaufmann in Weimar demonstrierte, Zuflucht in der Person des Rechtsauslegers und seinem Wissen um die höhere Ordnung gesucht werden. Der Richter muss ein „reines Gefäß“ mit „reinem Herzen“ sein, dem sich das Recht offenbart.130 Heute wird moderner von richterlichem Ethos, von Judiz und angelernten Entscheidungstraditionen gesprochen.131 Methodenlehren, die dem Rechtsanwender eine voluntaristische Dezision außer- oder innerhalb des gesetzlich normierten Rahmens zugestehen, lösen die Richtigkeit von Rechtsentscheidungen in mal enger oder mal weiter gefassten Konsensen und der Vernunft- und Wahrheitstendenz des topischen Diskurses als funktionalen Äquivalenten für die verloren gegangenen objektiven Methodengewissheiten auf. Stellvertretend für das Öffentliche Recht in Weimar steht hier z.B. Carl Schmitt mit einer seiner wenigen explizit methodischen Schriften. Schmitt fand das Richtigkeitskriterium der richterlichen Entscheidung in der Annahme, dass ein anderer Richter ebenso entschieden hätte, und er sprach dem Richter die Befugnis zur Rechtsgestaltung außerhalb der gesetzlichen Normierung zu, wenn dieser sich seiner Entscheidung im Konsens der übrigen Richterschaft versicherte.132 Gar nicht unähnlich verlegte Horst Ehmke in der Bundesrepublik das Richtigkeitskriterium der Verfassungsauslegung in den Konsens aller vernünftig und gerecht Denkenden133, bis schließlich nach Peter Häberle in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten der Konsens aller auf die Verfassung einwirkenden Kräfte über deren richtige Auslegung bestimmt. Damit ist methodisch der Schritt zur Verfassung als Grund- oder Vollordnung von Staat und Gesellschaft vollzogen. Verfassungsrecht wird zur Smendschen „Lebenstotalität“.134 Und da130 Erich Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 2–24; Holstein (wie Fn. 44), S. 6 f. 131 Z.B. Ernst Gottfried Mahrenholz, Verfassungsinterpretation aus praktischer Sicht, in: Hans-Peter Schneider u.a. (Hg.), FS für Konrad Hesse, Heidelberg 1990, S. 33–62, hier S. 33 f.; Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, in: Ders. (Hg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Berlin 2007, S. 11–47, hier S. 26. 132 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, Berlin 1912, S. 71 ff. 133 Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 53–74, hier S. 71. 134 Volkmann (wie Fn. 29), S. 24: Verfassung als „Totalitätsbegriff“.

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mit ist auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts zugeschrieben: Das als richterliches Kollegialorgan besetzte Gericht wacht über das Ausgreifen der Verfassung in alle Bereiche des alltäglichen und politischen Lebens.135 Es organisiert den steten Verfassungswandel und die Konstitutionalisierung von Staat und Gesellschaft.136

4. Schluss Der realistischen Verfassungstheorie und einem kulturwissenschaftlich arbeitenden Verfassungsverständnis bleibt zuzugeben, dass die Normativität der Verfassung heute hinter dem Verfassungstext in den Verfassungsvoraussetzungen liegt und sie ihre Bedingungen und Grenzen in den konsentierten (?) Ordnungsvorstellungen der Bürger findet. Verfassung ist nicht bloß rechtliche Ordnung für die Juristen, sondern kulturelle Selbstdarstellung des verfassten Volkes.137 Damit schließt sich auch methodisch der Kreis. Verfassungsauslegung wird den Methoden der Historischen Schule wieder angenähert: Aufgabe der Auslegungspraxis ist „ein Hineinhorchen in die Stimmungen der Zeit, das weit mehr intuitiv als irgendwie rationalisiert und methodengeleitet und damit eher geisteswissenschaftlich als juristisch ist“.138 Nur dass heute nach 100 Jahren eine „neue Freirechtsschule ungebundener und von der Verfassung unabhängiger Richterkönige ausgerufen“ wird.139

135 BVerfGE 96, 375 (394). 136 Ähnl. Christian Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung? Zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Prozeß des Verfassungswandels, in: AöR 125 (2000), S. 517– 550, hier S. 529 ff. 137 Häberle (wie Fn. 86), S. 438 f. 138 Volkmann (wie Fn. 80), S. 86. 139 Rüthers u.a. (wie Fn. 6), Rn. 707.

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Staatsrechtslehre und Verfassungsgeschichte zwischen normativer und sozialwissenschaftlicher Orientierung

1. Zum Begriff und Gegenstand der Verfassungsgeschichte a) Was ist Verfassungsgeschichte? Es gibt Werke, die den Begriff überhaupt nicht problematisieren, sondern Verfassungsgeschichte als Teil der allgemeinen Geschichtsschreibung betrachten, wobei vielleicht rechtliche Gesichtspunkte in den Vordergrund treten. In diesem Sinn kann von antiker Verfassungsgeschichte, von Verfassungsgeschichte des Mittelalters gesprochen und die neuere Geschichte dargestellt werden. Um ein Beispiel herauszugreifen: Andreas Heuslers Deutsche Verfassungsgeschichte, „eine prächtige Zusammenfassung seiner Kenntnisse und Vermutungen über die Entwicklung des öffentlichen Rechts des deutschen Reiches von seinen Anfängen bis zum Ende des Absolutismus“1, behandelt zwar die germanische oder deutsche Rechtsgeschichte, aber in all diesen Ordnungen ist von Verfassungen keine Rede. Der Begriff wird nicht erörtert. Im Sachregister taucht er nicht auf. Das ist nicht mangelhafte Präzision, sondern beruht auf einem spezifischen Verfassungsbegriff, der sich bis auf Aristoteles zurückführen lässt. Seine Sammlung der Staatsverfassungen, von denen der „Staat der Athener“ erhalten ist, stellt die konkret geltenden Herrschaftsordnungen dar und beschreibt sie, als Material zur Darstellung der Politik. Dazu gehört zwar auch die Rechtstheorie des Aristoteles, aber sie bleibt von der Darstellung der Verfassungen säuberlich getrennt. Spezifisch normative Probleme sind nicht Gegenstand dieser Beschreibungen. Sie sind daher nützlich, aber nicht Gegenstand eines juristischen Interesses. b) Allerdings hat auch die Staatsrechtslehre zu einer Ausweitung des Verfassungsbegriffs beigetragen. Neben der rein rechtshistorischen Betrachtungsweise gibt es eine Diskussion des Verfassungsbegriffs, die, auf einer Analyse der faktischen Machtstrukturen fußend2, den Verfassungsbegriff faktisch zu 1 Andreas Heusler, Deutsche Verfassungsgeschichte, Leipzig 1905; über ihn Eduard His, Basler Gelehrte des 19. Jahrhunderts, Basel 1941, S. 263 ff. (das Zitat im Text S. 271). 2 Klassischer Quellentext dazu Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen, Berlin 1862 (Neudr. Darmstadt 1958).

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aktualisieren sucht. Wichtigster Vertreter eines solchen Verfassungsbegriffs ist Carl Schmitt, der in eigenwilliger Deutung der Verfassungslehre und Verfassungsgeschichte Verfassung als „Totalentscheidung über Existenz und Form der politischen Einheit“ verstehen und insofern vom „Verfassungsgesetz“ unterscheiden will.3 Solche Verfassung ist existentiell, nicht normativ, und soll vor aller rechtlichen Regelung diese konditionieren. Idealtypische Begriffe – um einige aus Carl Schmitts Terminologie aufzunehmen: Freund und Feind, Rechtsstaat gegen Demokratie, Identität gegen Repräsentation – sollen als Grundentscheidungen Gegenstand der Verfassung sein; Verfassungsrecht resultiert daraus nur als technische Folgeerscheinung. Das erschien als fruchtbar vor allem in der Krisenphase der Weimarer Republik, diskreditierte aber deren von der Nationalversammlung beschlossene Verfassung als „dilatorischen Formelkompromiss“ und ermöglichte die Entscheidung zum – von einem bedeutenden Schüler Schmitts verantworteten – „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“4. Eine solche von der Verfassung als Norm abgelöste Betrachtungsweise bestimmte auch den akademischen Unterricht der NS-Zeit und die dafür entstehende Literatur. In Straffung bisheriger Lehrinhalte sah die maßgeblich von dem – bei unbestrittener fachlicher Qualifikation – stramm nationalsozialistischen Rechtshistoriker Karl August Eckhardt bestimmte Studienordnung von 1935 neben „Verfassung“ (statt Staatsrecht, und geschweige denn Verfassungsrecht)5 eine Veranstaltung über „Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ vor. Diese sollte ihr Thema, einen entsprechenden Verfassungsbegriff zugrunde legend, von der Herausbildung des modernen, souveränen, Autorität verkörpernden Staates her behandeln.6 „Neuzeit“ ist insofern ein weder zufällig, noch aus pragmatischen Eingrenzungsgesichtspunkten gewählter Zeitraum, sondern der des absoluten Staates. Das war zwar ein 1935 nicht völlig neuer, aber zuvor, namentlich von Fritz Hartung7, wohl kaum mit ideologischer Zielsetzung gewählter Ausschnitt. Dagegen wird, abgese3 Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 3 ff. 4 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 1939; dazu Martin Jürgens, Staat und Reich bei Ernst Rudolf Huber, Frankfurt a.M. 2005; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, München 1999, S. 317 u. 347 ff. 5 Dazu Stolleis, Geschichte Bd. 3, S. 342. 6 Vgl. zum Konzept und zur Person Eckhardts sowie seinem Einfluss auf den Studienplan vom 18.1.1935 Hermann Nehlsen, Karl August Eckhardt +, ZRG GA 104, 1987, S. 497–536, hier S. 504 f. 7 Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jh. bis zur Gegenwart, erstmals Leipzig 1914, 9. Aufl. Stuttgart 1969. An diese Tradition anknüpfend namentlich Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte (1989), 7. Aufl. München 2013.

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hen von primitiv nationalsozialistischen Machwerken wie Hans Erich Feines Deutscher Verfassungsgeschichte der Neuzeit, vor allem aus der Anlage des bis heute verbreiteten, gleich betitelten Werks von Ernst Forsthoff die Apologie des deutschen Absolutismus deutlich.8 Verfassung ist hier nicht rechtliche Grundordnung, sondern Struktur autoritärer Macht. c) Dagegen erscheint es aus juristischer Sicht angebracht und, meine ich, im Interesse einer präziseren Begriffsbestimmung auch für Historiker näherliegend, den Verfassungsbegriff nicht beliebig auszudehnen, sondern ihn in den Zusammenhang der Bewegungen zu stellen, die ihn zum Schlüsselbegriff für die im späten 18. Jahrhundert eingeleitete Epoche gemacht haben. Hier wird die Verfassung, gemäß dem Postulat des Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, zur Norm und als solche zur Grundlage der gesamten staatlichen Ordnung. „Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates“9 wird Richtschnur und Maßstab für das weitere Staatshandeln. Dieser Anspruch impliziert, man kann sagen notwendigerweise, einen Konflikt mit den Problemen der Effektivität und Geltung. Es sind diese Probleme, die die Geschichte seit 1787/89 weitgehend bestimmen und deshalb Gegenstand eines Konzepts der Verfassungsgeschichte sein können. Daher stimme ich mit dem programmatischen Einleitungskapitel des Handbuchs der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert überein.10 Verfassungsgeschichte des Verfassungsstaats mag möglicherweise nicht die einzige Perspektive von Verfassungsgeschichte sein, aber sie unterscheidet sich qualitativ von andern Gegenständen sowie Betrachtungsweisen und verdient deshalb besondere Behandlung. Darauf soll hier näher eingegangen werden.

2. Verfassung zwischen Normativität und sozialer Geltung a) So präzisiert, muss sich der Gegenstand der Verfassungsgeschichte allerdings mit einem für Juristen sonst eher marginalen, aber für die Verfassung grundlegenden und unvermeidlichen Problem auseinandersetzen. Rechtliche 8 Vgl. nächst Hans Erich Feine, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Tübingen 1937, insb. Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Berlin 1940, 4. Aufl. Stuttgart 1972. Zu Feine die Hinweise bei Stolleis, Geschichte Bd. 3, S. 292. 9 So der Titel der 1941 in Zürich eingereichten, aber erst 1945 gedruckten und dann überaus einflussreichen Habilitationsschrift von Werner Kägi (Neudr. 1971) 10 Arthur Schlegelmilch, Verfassungsbegriff und Verfassungsvergleich, in: Peter Brandt u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Bonn 2006, S. 7 ff. Die Überlegungen decken sich weitgehend mit denen von Willoweit (Fn. 7), S. 1 ff.

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Ordnung gilt normalerweise unhinterfragt. Sie stellt Regeln für ihre Geltung, etwa Form und Verfahren des Erlasses von Normen, oder die Behandlung von Normwidersprüchen selbst auf. Dabei rekurriert sie oft und in zentralen Fragen auf die Verfassung, die dazu Aussagen enthält oder impliziert. Eben deshalb kann sich die Verfassung für ihre eigene Geltung nicht auf solche Aussagen berufen. Als Norm kann ihre Existenz festgestellt werden, aber ob diese Norm gilt, ist damit nicht gesichert. Deshalb hängt die Geltung der Verfassung als Normordnung, wie Hans Kelsen, der schärfste Vertreter einer solchen, der „reinen“ Rechtslehre selbst erkannt und dargelegt hat, von einer Hypothese ab, der hypothetischen Grundnorm: nur weil und wenn auf einem Gebiet eine Gewalt vorhanden ist, die das Recht setzen kann, gilt dieses Recht. Diese Abhängigkeit der Normativität von faktischer Geltung und damit faktischen Machtverhältnissen ist gerade für den Vertreter einer Reinen Rechtslehre unabweisbar, und die Kelsen-Interpretation kommt bis heute nicht umhin, dieser Bedingung und Hypothese Rechnung zu tragen.11 b) Positiv gewendet, bedeutet dieser Befund die Abhängigkeit der Verfassung von sozialer Geltung. Ob eine Verfassung gilt, ergibt sich, auch wenn sie formell einen Geltungsanspruch erhebt – wie das Grundgesetz nach seiner Präambel und dem Schluss-Artikel 146 – nicht aus ihr allein, sondern aus den sozialen Rahmenbedingungen der Entstehung, der Aktualisierung und der tatsächlichen Befolgung. Deshalb ist der Verfassungsjurist, und ganz besonders der Verfassungshistoriker, von vornherein darauf angewiesen, auch diese Geltungsbedingungen in seine Untersuchung und Darstellung einzubeziehen. Verfassungsgeschichte ist notwendigerweise auch Sozialgeschichte. Dazu gehört die Geltung der Verfassung als Normordnung: diese entwickelt ein Eigenleben und verschafft sich dadurch, dass sie beachtet wird, faktische Geltung und Wirksamkeit in der Gesellschaft. „Faktizität und Geltung“12, von Jürgen Habermas als Grundproblem von Recht und Rechtsstaat herausgearbeitet, ist zunächst und vor allem ein Problem der Verfassung.

3. Verfassunggebende Gewalt als Ausgangspunkt und als Prozess a) Terminologischer und politischer Ausdruck für diese Rückführung der Verfassung auf politische Kräfte ist der Begriff des pouvoir constituant, der verfassunggebenden Gewalt. Sieyès, der – mit dem Erfahrungsschatz erster 11 Dazu neuestens Stanley L. Paulson, Hans Kelsen. Das Ende der Reinen Rechtslehre?, in: Kölner Juristen im 20. Jahrhundert, Tübingen 2013, S. 53 ff., hier S. 63 ff. 12 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1992.

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Verfassunggebungen in Nordamerika gerüstet, aber vor allem in Bewertung der Frankreich 1789 bestimmenden politischen Kräfte – den Begriff in Parteinahme für die Ansprüche des Dritten Standes entwickelte, gründete darauf die Legitimation des Verfassungswerks von 1789 bis 1791. Damit stellte er die Weichen für die seitherige Argumentation. Ihr ist freilich entgegenzuhalten, dass gerade die Verfassung von 1791 in ihrer gesellschaftlichen Verankerung so schwach war, dass sie als dauerhafte Ordnung des revolutionären Frankreich sehr rasch überrollt wurde. Aber gerade diese Schwäche mochte als Ansatzpunkt dafür dienen, das Problem der gesellschaftlichen Verankerung des pouvoir constituant ernst zu nehmen und Verfassungen danach zu klassifizieren, inwiefern sie ihren normativen Gestaltungsanspruch erfüllen. Das setzt eine Analyse der die Verfassung prägenden Kräfte voraus, die einen normativen und einen sozialwissenschaftlichen Ansatz verbindet. b) Insofern stellten sich allerdings bald Zweifel an der entscheidenden Funktion der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ein. Das galt zunächst für den in Deutschland vorherrschenden Fall der konstitutionellen Monarchie, auch wenn die Verfassung nicht vom Monarchen oktroyiert, sondern – wie in Württemberg 1818 – unter Anerkennung einer verfassunggebenden Mitbeteiligung der Volksvertretung vereinbart wurde.13 Dies geschah der Form nach auch in Preußen mit Verfassungsverkündung am 31.1.1850, nachdem am 5.12.1848 eine (den süddeutschen Mustern ähnliche) Verfassung königlich oktroyiert, allerdings ein Dreiklassenwahlrecht durch Verordnung vom 30.5.1849 hinzugefügt und so nach Ende der Revolution eine auf dieser restriktiveren Grundlage neu gewählte Kammer zustimmungswillig worden war. Aber auch sonst konkretisierten sich die Zweifel an der Wirksamkeit der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Lehrreich dafür ist der Vergleich zwischen der beispielgebenden belgischen Verfassung von 1831 mit ihren Nachahmungen in Preußen und auch auf Reichsebene. Anders als in Belgien, wo die königliche Gewalt auf die Verfassung zurückgeführt und daher die verfassunggebende Gewalt des Volkes mit Disposition auch über die Staatsform betont wurde, erwies sich in Preußen der Einfluss der Krone als maßgeblich, jedenfalls als vorherrschend. Dies bewirkte auf Reichsebene die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. und vereitelte die Aktualisierung der feierlich beschlossenen Verfassung. Nicht die – noch so emphatisch gefeierte – parlamentarische Annahme, sondern die Implementation der Verfassung erwies sich als entscheidend. Verfassunggebung war daher weniger 13 Vgl. Christoph Gusy, in: Verfassungsänderungen, Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte 2010, Berlin 2012, S. 188, nach dem Carl Schmitt mit seiner Berufung auf Sieyès „der erste ist, der in der Rechtswissenschaft diese Unterscheidung fruchtbar macht.“

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der Akt einer sich einmal betätigenden Gewalt, als dauerhafte Verankerung von deren Werk in der gesellschaftlichen Realität. Schärfster Ausdruck dieser Einsicht war das Rechtsverständnis von Hugo Preuß, der gesellschaftliche Grundlage und rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsordnung parallel setzte: Ubi societas, ibi jus14 – diese Zurückführung des Rechts (und damit auch der Verfassung) auf die gesellschaftliche Realität sticht umso mehr ins Auge, als gerade Preuß später die verfassunggebende Gewalt der Weimarer Nationalversammlung zu verteidigen hatte. Das führte zu einem unausweichlichen Spannungsverhältnis in seinem Verfassungs- und Rechtsverständnis. c) Vor diesem Hintergrund und angesichts der 1933 eingetretenen Situation ist die große Skepsis verständlich, mit der Hermann Heller Verfassung und verfassunggebende Gewalt behandelte, im letzten von ihm verfassten Abschnitt der „Staatslehre“15. Heller legt in seiner Betrachtung – ähnlich dem hier eingangs Ausgeführten – einen soziologischen Verfassungsbegriff als Beschreibung der tatsächlichen Verfassung unter Einbeziehung aller Natur- und Kulturbedingungen zugrunde und entwickelt auf dieser Grundlage einen juristischen Verfassungsbegriff, der indessen von den sozialen Grundlagen nicht abgelöst werden kann. Diese bestimmen daher auch die verfassunggebende Gewalt. Sie entscheidet – entgegen Carl Schmitt – nicht souverän, sondern in ihrer Bedingtheit durch die natürlichen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten und im Rahmen der vorbestehenden Rechtsordnung. Diese schließt die in ihr verankerten sittlichen Grundsätze ein, trägt freilich auch den tatsächlichen Machtstrukturen Rechnung. Mit Hellers zusammenfassendem, den Schluss seines Werks bildenden Satz formuliert: „Eine verfassunggebende Macht, welche mit den für die Machtstruktur ausschlaggebenden Schichten nicht durch gemeinsame Rechtsgrundsätze verbunden ist, hat weder Macht noch Autorität, also auch keine Existenz.“16 Verlängert man diese Vorgeschichte in die Zeit nach 1945, so erklärt sich einerseits der Verzicht auf die Fundierung des Grundgesetzes auf eine eigentliche verfassunggebende Gewalt und das reduktionistische Modell des Parlamentarischen Rates. Andererseits beeinflusst dies die Stellungnahmen zu 14 Gebrauch dieser wohl Grotius entnommenen Formel erstmals in Das Völkerrecht im Dienste des Wirtschaftslebens (1891), jetzt in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 2009, S. 426 (437, 439, 442 u. 446) und später öfter; vgl. die Kommentar-Bemerkung (von Christoph Müller), ebd., S. 828. 15 Hermann Heller, Staatslehre (1934), auch in Hermann Heller, Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 79–395, hier S. 361 ff.; dazu Dian Schefold, Hellers Ringen um den Verfassungsbegriff, in: Christoph Müller/Ilse Staff (Hg.), Der soziale Rechtsstaat, Baden-Baden 1984, S. 555 ff. (auch in: Dian Schefold, Bewahrung der Demokratie, Berlin 2012, S. 206 ff.). 16 Heller, Staatslehre, S. 395.

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Begriff und Wesen der verfassunggebenden Gewalt in der neueren Staatsrechtslehre und Verfassungsgeschichtsschreibung. Sucht man zunächst für die Entstehungszeit des Grundgesetzes nach dem Träger einer verfassunggebenden Gewalt, so ernüchtert der Befund. „In Anbetracht der Niederlage Deutschlands“17 kamen nur die Siegermächte in Frage. Noch das Grundgesetz wurde von den westalliierten Militärgouverneuren genehmigt und zunächst durch ein Besatzungsstatut überlagert. In diesem Rahmen wirkt verständlicher – auch wenn es zusätzlich durch eigenes Verwaltungsinteresse bestimmt war –, dass die westdeutschen Ministerpräsidenten die von den Alliierten zunächst geforderte Bildung einer verfassunggebenden Versammlung und ein Referendum über die neue westdeutsche Verfassung ablehnten. Nachdem wesentliche Vorentscheidungen im von den Landesregierungen beschickten Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee strukturiert worden waren, wurde das Grundgesetz durch einen indirekt (von den Landtagen) gewählten Parlamentarischen Rat ausgearbeitet und anschließend von den Landtagen – durch mindestens zwei Drittel der Länder – genehmigt.18 Die Aussage der Präambel über die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes entspricht daher nicht den historischen Tatsachen. Die Prätention einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes war seit 1949 als wenig präziser Wiedervereinigungsvorbehalt intendiert und im Schlussartikel (Art. 146) des Grundgesetzes formuliert. Als 1990 die Wiedervereinigung nicht in dem dadurch aufgezeigten Weg, sondern durch den Beitritt der wieder gebildeten ostdeutschen Länder nach Art. 23 GG (damaliger Fassung) erfolgte, wurde die Bestimmung als Vorbehalt einer „von dem deutschen Volk in freier Entscheidung“ beschlossenen Verfassung umformuliert. Aber dadurch wurde ihr Bedeutungsgehalt nicht geklärt, vor allem im Verhältnis zur im Grundgesetz ja eindeutig – auch mit ihren Grenzen – geregelten Verfassungsänderung. Ob und wie diese durch eine „freie Entscheidung“ des deutschen Volkes ersetzt und damit unterlaufen werden kann, bleibt ebenso schleierhaft wie das – nach geschichtlichen Vorbildern ja wenig beruhigende – Verfahren einer „freien Entscheidung“. Hier wird zwar eine verfassunggebende Gewalt anerkannt, aber sie bleibt ebenso vage wie die Berufung darauf 1949. Die auch nach meiner Ansicht zu wünschende Verankerung von Verfassungsänderungen im Volksentscheid sollte nicht mit 17 So die Berliner Erklärung vom 5.6.1945, Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt 1, S. 7. 18 Vgl. die Verkündungsformel und Art. 144 u. 145 GG; zur Entstehungsgeschichte mit Nachweisen die Darstellung durch Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des GG, in: Handbuch des Staatsrechts Bd. 1, 3. Aufl. Heidelberg 2003, § 8 Rdnr. 86 f., S. 345 f.; mit Problematisierung Rdnr. 96 ff., S. 349 ff.

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der Diskussion um Art. 146 GG, etwa zur Legitimierung einer europäischen Einigung19, vermengt werden. Die dargestellte Entwicklung hat einschneidende Folgen für das Verständnis der verfassunggebenden Gewalt im Deutschland der Gegenwart. Zwar geistert der von der Schmitt-Schule portierte Entscheidungsbegriff auch durch das heutige Schrifttum; aber die Grunderfahrung der vergangenen sechzig Jahre – länger als die Geltungsdauer der Reichsverfassung von 1871 – ist doch, dass das in der erwähnten Weise entstandene Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland nachhaltig geprägt und verfasst hat. Verfassunggebende Gewalt ist daher im heutigen Deutschland weder die von der Präambel 1949 und 1990 noch die im Art. 146 alter und neuer Fassung erwähnte Fiktion, noch das Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure von 1949, sondern der Prozess der Verankerung des Grundgesetzes im deutschen Staatsdenken und Nationalgefühl: die Entstehung eines Verfassungspatriotismus als sozialer Prozess, der zwar das Grundgesetz als Normtext zur Grundlage nimmt, ihn aber erst im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. Daher umschreibt der Begriff der verfassunggebenden Gewalt heute vollends nicht einen einmaligen Akt der Verfassunggebung, sondern deren allmähliche Verwurzelung im Volk als gesellschaftlichen Prozess. Es liegt nahe, die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 EUV) ähnlich zu verstehen.

4. Typologie und Bindungswirkung der Verfassungen Von den bisher entwickelten Befunden aus lassen sich die großen Gruppen bilden, die den unterschiedlichen Bindungsgrad der Verfassungen kennzeichnen. a) Zunächst ist festzuhalten, dass Verfassunggebung die Bindungskraft einer verfassunggebenden Gewalt voraussetzt, so dass die Bindungswirkung einer Verfassung dadurch bedingt ist. Die Verfassung erhebt einen Bindungsanspruch, aber ob er durch die Geltung der Verfassung eingelöst wird, hängt von den dargestellten gesellschaftlichen Geltungsbedingungen ab. Abgesehen von bloßen Verfassungsentwürfen, die nicht alle Hürden des Verfahrens zum Erlass einer Verfassung genommen haben und schon deshalb nicht in Kraft treten konnten, gibt es gescheiterte Verfassungen, die trotz förmlicher Pro19 Vgl. die Andeutung in BVerfGE 123,267 (332, 349) im Zusammenhang mit Äußerungen des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle, dazu Volker Müller, In gespannter Verfassung, in: Das Parlament Nr. 48 v. 28.11.2011.

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mulgation keine, zumindest keine dauerhafte Geltung erlangen. Klassische Beispiele dafür lieferte die Zeit der Französischen Revolution. Gerade der von Sieyès für die Assemblée Nationale in Anspruch genommene pouvoir constituant vermochte keine hinreichende Anerkennung zu finden. Folglich blieb die Verfassung von 1791 toter Buchstabe und wurde von der Entwicklung überrollt. Ähnliches galt für nachfolgende Verfassungen der Epoche. Weitere ähnliche Beispiele sind zahlreich, mögen sich noch so schöne verfassungspolitische Konzepte damit erledigen. Ein typischer Fall war die Verfassung der römischen Republik von 1849, die der französischen Intervention und Reaktion zum Opfer fiel.20 Aber letztlich erging es der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 nicht besser. Ihr Werk wurde zwar, entgegen einem verbreiteten, selbst vom Bundesverfassungsgericht einmal geteilten Irrtum21, verkündet und trat danach in Kraft.22 Aber wegen der Ablehnung der angebotenen Kaiserkrone durch König Friedrich Wilhelm IV. konnte sie nicht ausgeführt werden und scheiterte damit. Während diese und weitere Fälle eindeutig sind, gilt dies weniger für – aber gehören doch in die Nähe – Verfassungen, deren Implementation lückenhaft geblieben ist, wegen interner Widerstände und Schwierigkeiten sowie wegen der mangelnden Bereitschaft der politischen Klasse, sie umzusetzen. Insofern liegt der Gedanke an die Weimarer Verfassung seit der Krise von 1930 nahe.23 Aber auch die – in der Tat geltende – italienische Verfassung von 1947 hat, zunächst wegen ihrer verzögerten Implementation24, dann vor allem wegen der krassen Missbräuche exekutiver Rechtsetzung zuweilen den Eindruck einer gescheiterten Verfassung gemacht. Das Gerede von einer „Zweiten Republik“ hat dazu beigetragen. Schließlich sei erwähnt, dass auch oktroyierte Verfassungen scheitern können, wenn der Monarch darin Zugeständnisse macht, diese aber nicht ausreichen und eine Neukonstituierung, letztlich den Verzicht auf die Monarchie erfordern. Ansätze dazu ließ der preußische Verfassungs-Octroi vom 5. De20 Dazu Angelo Antonio Cervati, La costituzione romana del 1849 e i suoi principi fondamentali, in: Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, Festschrift für Dian Schefold, Baden-Baden 2001, S. 367 ff. 21 BVerfGE 62,1 (41); dazu Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl. Neuwied 1998, S. 48. 22 Verfassung des deutschen Reiches vom 28. März 1849, Reichsgesetzblatt S. 101; das Gesetz über die Grundrechte des deutschen Volkes vom 27. Dezember 1848, Reichsgesetzblatt S. 49, wurde schon vorab verkündet. 23 Vgl. die Einwände von Karsten Ruppert und die Antwort von Christoph Gusy, in: Verfassungsänderungen (zit. Fn. 13), S. 188 f. u. 191. 24 Dazu Livio Paladin, Per una storia costituzionale dell’Italia repubblicana, Bologna 2004, der von „congelamento”, einem Einfrieren der Verfassung spricht.

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zember 1848 erkennen – wie oben erwähnt mit dem nachfolgenden Eingriff des Dreiklassenwahlrechts einerseits, der Genehmigung der Verfassung durch die so umgebildeten Kammern andererseits. b) Aber diese Beispiele nähern sich einer zweiten, seinerzeit von Karl Loewenstein untersuchten Gruppe an. Ich übernehme dafür den von Loewenstein geprägten Begriff der semantischen Verfassung.25 Die zur Verfassunggebung fähigen Kräfte erlassen zwar, sei es aus eigenem Machtanspruch, sei es in einem weitere Kreise einbeziehenden Verfahren eine Verfassung, aber ohne die Macht aus der Hand zu geben und unter entsprechender Ausgestaltung der Verfassung, die nötigenfalls auch außer Acht gelassen, suspendiert oder manipuliert werden kann. Loewenstein dachte dabei an und argumentiert vor allem mit lateinamerikanischen Verfassungen, die die Grundlage seines ursprünglich für die USA bestimmten Werks waren. Von Europa aus gesehen liegen aber zunächst oktroyierte Scheinverfassungen näher, mit denen deutsche Fürsten etwa dem Erfordernis der landständischen Verfassung im Sinn von Art. 13 der Deutschen Bundesakte genügen wollten, ohne die Macht wirklich aus der Hand zu geben. Der deutsche Frühkonstitutionalismus, vor allem in der durch die Wiener Schlussakte bestimmten Ausprägung, hat sie darin bestärkt und ihnen das nötige Instrumentarium zur Sicherung ihrer Herrschaft geliefert. In der jüngeren Vergangenheit hat dieser Verfassungstyp vor allem in diktatorischen Staaten eine Rolle gespielt. Das gilt zwar weniger für den Nationalsozialismus, der – von der erwähnten Theorie von Carl Schmitt wie von Hitlers sprunghaftem Führungsstil aus – der Verfassung als Normwerk kaum Raum ließ. Auch im faschistischen Italien blieb das Statuto Albertino als formelle und 1943 wieder aktivierbare Grundlage erhalten und ermöglichte daneben die eigentlich faschistischen Regelungen. Aber schon die Verfassung der griechischen Diktatur nach dem Putsch von 1967 war ein typischer Fall semantischer Verfassunggebung. Und vor allem die Verfassungen der sozialistischen Staaten rezipierten zwar formell große Teile klassischen Verfassungssubstrats, schnitten aber mit den Instrumenten der Parteiherrschaft und des von ihr bestimmten Machtapparats das tatsächliche Verfassungssystem so zu, dass es zur Disposition der Machthaber stand. Dabei suchten diese durchaus „Massenloyalität“ und in diesem Sinn eine gesellschaftliche Verankerung der Verfassung, bis hin zu der westdeutsche Konkurrenten überbietenden Volksabstimmung über die DDR-Verfassung von 1968. Aber es war – unter anderem – eben dieser Widerspruch zwischen dem Verfassungsanspruch und der tatsächlichen Meinungsbildung im Volk, der die semantische Verfassung scheitern ließ – wenn auch nur auf Landesebene zugunsten überdies meist 25 Karl Loewenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959 (2. Aufl. 1969), S. 153 ff.

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eher dürftiger Verfassunggebungsprozesse, im wiedervereinigten Deutschland durch Einschwenken auf den erwähnten Prozess der Verankerung der Verfassung in der Gesellschaft. Besonders heikel ist die Frage nach dem semantischen Charakter eines Verfassungssystems für die preußische Verfassungsurkunde von 1850 und, in engem örtlichen, sachlichen, personellen und ideellen Zusammenhang damit, für die Reichsverfassung 1871, insoweit sie die preußischen Verfassungsverhältnisse unmittelbar sowie über den Bundesrat weiterhin mit zur Voraussetzung hatte. Die Debatte wurde, vor allem unter Historikern, mit dem Etikett des „Scheinkonstitutionalismus“ geführt, schon von Zeitgenossen, dann besonders von Hans-Ulrich Wehler, aber gegen den scharfen Einspruch etwa Ernst Noltes.26 Nun hat Arthur Schlegelmilch in seinem Buch über das deutsche konstitutionelle System die Debatte durch den Hinweis auf die in Deutschland nach der Reichsgründung erreichte Stabilität erweitert.27 Seine Argumente haben Gewicht, zunächst und vor allem: Die preußische Regierung von 1848/50 wie die Leitung des Norddeutschen Bundes und des Reichs 1867/71 haben, nach dem Octroi vom 5.12.1848, letztlich die Vereinbarung mit den Kammern erreicht. Damit haben sie nicht nur den von Ernst Rudolf Huber28 vertretenen eigenständig-dauerhaften Verfassungstyp begründet, sondern auch den Grund für das von Schlegelmilch der Verfassungspraxis entnommene Prinzip des „doppelten Vertrauens“ der Regierung gelegt und davon getragene Kompromisse ermöglicht. Insofern lässt sich auch für die deutsche konstitutionelle Monarchie von einer Suche nach gesellschaftlicher Verankerung der Verfassung sprechen. Zusätzlich war diese durch die soziale Entwicklung der bürgerlichen Mittelklasse, die sich noch im preußischen Verfassungskonflikt der Krone entgegengestellt hatte, begünstigt. In ähnlichem Sinn wirkte sich später etwa der Revisionismus und Reformismus in der Sozialdemokratie aus.

26 Vgl. für Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, 4. Aufl. Göttingen 1980, S. 60 ff.; dagegen Ernst Nolte, Deutscher Scheinkonstitutionalismus?, in: HZ 228 (1979), S. 529 ff.; zu meiner Position darf ich auf Verfassung als Kompromiss?, in: ZNR 1981, S. 137–157, hier S. 143 u. 155 ff. (auch in: Bewahrung der Demokratie, 2012, S. 46–71, hier S. 54 u. 69 ff.) verweisen. 27 Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte, Bonn 2009, insb. Kap. V; ich habe das Buch in Der Staat 2012, S. 304–308 rezensiert, die folgenden Ausführungen beruhen z.T. auf dieser Auseinandersetzung. 28 Als Grundthese seiner Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789; ich verweise nur auf die zentralen und häufig wiederholten und exemplifizierten Ausführungen Bd. 3, 3. Aufl. Stuttgart 1988, S. 3 ff.

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Andererseits bleibt festzuhalten, dass wesentliche gesellschaftliche Kräfte, vor allem das vom Monarchen gegenzeichnungsfrei geführte Heer, sowie die Vertretung des Adels im entgegen der Verfassung von 1850 ausgestalteten preußischen Herrenhaus, in den Kompromiss nicht eingebunden waren. Die Arbeiterschaft war in Preußen durch das Dreiklassenwahlrecht, im Reich durch den trotz des enormen Bevölkerungszuwachses in den Städten unveränderten Zuschnitt der Wahlkreise für den Reichstag benachteiligt. Es bleibt Schlegelmilchs zentrales Argument der langen Geltungsdauer der Verfassung. Aber erledigt das den Einwand des Scheinkonstitutionalismus? Auf die Frage wird abschließend zurückzukommen sein. Als Zwischenbefund kann jedoch festgehalten werden, dass sich die gesellschaftliche Verankerung einer Verfassung verbessern, eine semantische Verfassung sich zu einer Verfassung mit Bindungswirkung entwickeln kann. c) Das führt zur wohl wichtigsten Relativierung der Bindungswirkung auch von Verfassungen, die in der sozialen Wirklichkeit verankert sind und dadurch Geltung erlangt haben. Auch sie, als „living constitutions“, unterliegen einem Verfassungswandel, heute meist vorsichtiger als Verfassungsentwicklung bezeichnet. Schon Georg Jellinek hat den erstgenannten Begriff verwendet, und er bezeichnet ein weltweit zu konstatierendes Phänomen. In seiner konkreten Bedeutung in Deutschland ist der Verfassungswandel jedoch von der Integrationslehre geprägt oder zumindest präzisiert worden. Er gehört somit zur „geisteswissenschaftlichen“ Mobilisierung der Verfassung, der leicht der Vorwurf des Verlusts an Normativität entgegengehalten werden kann.29 Aber der Einwand scheint mir überwiegend unberechtigt. Das gilt jedenfalls für den bereits erwähnten Fall, dass eine semantische Verfassung nachträglich gesellschaftlichen Rückhalt, Anerkennung und in diesem Sinn volle Geltung findet. Eine solche Verstärkung der Wirkungskraft schwächt die Normativität nicht, sondern kommt ihr zugute. Schwerer wiegen allerdings die Probleme, wenn eine mit nachweisbarer Intention erlassene Verfassung im Lauf der Zeit anders ausgelegt und gehandhabt wird. Eine historische Interpretation auf Grund der Entstehungsgeschichte oder eine zunächst entwickelte Verfassungspraxis kann hier die Tatsache des Wandels belegen. Beispiele dafür sind zahlreich, besonders natürlich bei alten, lange geltenden Verfassungen. Musterfall ist die Verfassung 29 Zur umfangreichen, auf den Weimarer Methoden- und Richtungsstreit zurückgehenden und damals monographisch von Hsü Dau Lin, Die Verfassungswandlung, Berlin 1932, behandelten Diskussion dieser Problematik in neuerer Zeit etwa Roland Lhotta (Hg.), Die Integration des modernen Staates, Baden-Baden 2005; Horst Dreier, Integration durch Verfassung?, in: Verfassungen. Festschrift für Hans-Peter Schneider, BadenBaden 2008, S. 70 ff.

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der USA, deren Bedeutung sich grundlegend geändert hat, sei es im Bereich der Organisation der Union, man denke an die indirekte Wahl des Präsidenten, sei es im Bereich der Grundrechte, deren Bedeutung erst ganz allmählich und oft im Gegensatz zur ursprünglichen Interpretation herausgearbeitet wurde, oder des föderativen Systems, das spätestens seit dem New Deal völlig neue Dimensionen erhalten hat. Auch die Interpretation der schweizerischen Bundesverfassung vom 29.5.1874, die in ihren Grundlagen auf der am 12.9.1848 erlassenen Verfassung beruhte, hat sich im Lauf der Zeit vielfach verändert – bis zur Neuformulierung der geltenden Verfassung vom 18.4.1999, die keine einschneidende Veränderung bringen, sondern das Verfassungsrecht der Verfassungswirklichkeit anpassen sollte, womit aber eben dadurch die Tragweite des Verfassungswandels offengelegt wurde. Die französische Verfassung von 1958, zunächst zugeschnitten auf eine – auf Akklamation beruhende – einheitsstaatliche Präsidialrepublik, hat sich unter all diesen Aspekten gewandelt, wobei der Bedeutungsgewinn der Verfassungsgerichtsbarkeit besonders ins Auge sticht. Insofern gilt Vergleichbares schon für die Weimarer Verfassung und auch für das Grundgesetz. Abgesehen von der bereits erwähnten Wandlung des Provisoriums zu einer Vollverfassung hat die Praxis der Bundestags-Auflösung bei bröckelnder Mehrheit z.B. nach Koalitionswechsel, bestätigt vom Bundesverfassungsgericht, den Verfassungsinhalt ebenso verändert wie schon Sperrklausel30, Parteienfinanzierung, 30 Für alle hier angeführten, aber nicht im Einzelnen ausgeführten Beispiele sei dies exemplarisch belegt: Der Entwurf des Grundgesetzes des Verfassungsausschusses der Ministerpräsidenten auf Herrenchiemsee (vgl. oben 3c mit Fn. 18) enthielt in Art. 47 die Ermächtigung zur Einführung einer 5 %-Sperrklausel für die Bundestagswahl. Diese wurde im Parlamentarischen Rat eingehend diskutiert und schließlich durch Mehrheitsentscheidung gestrichen (JÖR NF Bd. 1, 1951, S. 349, 351 f.). Folglich sah auch das vom Parlamentarischen Rat verabschiedete Bundeswahlgesetz keine 5 %-Klausel vor. Auf Intervention der Ministerpräsidenten der Länder wurde mit Zustimmung der Militärgouverneure das Bundeswahlgesetz vom 15.6.1949, BGBl. S. 21, dennoch mit einer 5 %-Klausel verkündet (§ 10 IV, vgl. mit weiteren Belegen Hans Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. Bd. 3, Heidelberg 2005, § 45 Rdnr. 19 mit Fn. 41, S. 530). Mit eingehender Begründung hat BVerfGE 1,208 (241 ff., 255 ff.) trotz Betonung der Wahlrechtsgleichheit die Sperrklausel – jedoch von maximal 5 % – als geeignete, erforderliche und zumutbare Maßnahme gegen Splitterparteien gerechtfertigt. Die folgende Verfassungsrechtsprechung hat diese Entscheidung für Bund, Länder und Gemeinden zugrunde gelegt und generalisiert (eindeutig z.B. BVerfGE 6,84, 93 f.; 6,104 ff). BVerfGE 51,222 hat deshalb die 5 %-Klausel auch für die Wahlen zum Europäischen Parlament für verfassungsmäßig erklärt. Erst nach der Einführung der Direktwahl der kommunalen Verwaltungsspitzen (Bürgermeister, Landräte) ist die Sperrklausel zunächst in der Kommunalgesetzgebung teilweise aufgehoben, dann vom Bundesverfassungsgericht (E. 107,286, 296) angezweifelt, dann als Verletzung der Wahlrechtsgleichheit verfassungswidrig erklärt

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Einfluss des Bundesrats auf die Gesetzgebung und auch die Relativierung des Bekenntnisses zum vereinten Europa – ganz zu schweigen von der Grundrechtsinterpretation, deren Konturen 1949 noch nicht absehbar waren, das tatsächliche Verfassungsmodell aber entscheidend geprägt haben. Zugunsten all dieser – leicht zu vermehrenden – Beispiele des Verfassungswandels lässt sich anführen, dass sie auf Veränderungen der sozialen Wirklichkeit, des „Normbereichs“31 reagieren und deshalb der Verfassung in einer veränderten Lage eine veränderte, aber weiterhin verfassende Rolle sichern. Die Abhängigkeit der Verfassung von den sozialen Rahmenbedingungen, maßgeblich schon für die Verfassunggebung, wirkt sich zugunsten eines veränderten Verfassungsinhalts aus. Aber bei der Argumentation mit diesen Rahmenbedingungen ist, wenn sie nicht als Freibrief für Beliebigkeit dienen sollen, Vorsicht am Platz: Wer verkörpert sie, wer gibt ihnen Ausdruck? Notwendigerweise sind dies die von Hermann Heller so genannten „für die Machtstruktur ausschlaggebenden Schichten“32. Das ist die das Tagesgeschäft der jeweiligen Staatsleitung bestimmende politische Klasse: in der konstitutionellen Monarchie etwa der Hof mit dem ihm verbundenen Adel oder die Armeeführung, im parlamentarisch regierten Staat die Parteiführungen, heute vielfach auch die Verfassungsgerichte. Wird deren Verfassungspraxis zugrunde gelegt, so determiniert und begrenzt sie die Bindungswirkung der Verfassung. Schärfer gesagt, die normative, geschriebene Verfassung wird ersetzt durch eine sich mittels der eigenen Machtposition legitimierende Herrschaftsausübung. Herrschaft auf dieser Grundlage steht aber in direktem Gegensatz zum Verfassungsstaat. Sie bedeutet einen Interpretationsvorrang der bestimmenden Kräfte und damit eine Zurückdrängung der ihnen entgegenstehenden. Die Verfassungsgeschichte ist voll von Beispielen, um nur einige zu nennen: Die Disziplinierung von Wissenschaft, von den „Demagogenverfolgungen“ des Vormärz über die Abwehr der „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Sozialistengesetz 1878–1890) bis zum Totschweigen missliebiger Kritik im Kalten Krieg; sodann ein Notverordnungsrecht, das etwa das preußische Dreiklassenwahlrecht ermöglicht und später die Weimarer worden (E. 120,82, 109 ff.). Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht 2011, in diametraler Abweichung von BVerfGE 51,222, die 5 %-Klausel im Europawahlgesetz für grundgesetzwidrig erklärt und im Urteil vom 26.2.2014 – BvE 2/13 – diese Bewertung auch auf eine 3 %-Klausel ausgedehnt. Bei all dem argumentiert das Gericht mit veränderten Umständen. 31 Im Sinn der eine Präzisierung suchenden Terminologie von Friedrich Müller, Juristische Methodik (1971), 11. Aufl. mit Ralph Christensen, Bd. 1, Berlin 2013, insb. S. 101 ff., 501 f. u. 526 ff. 32 Vgl. das Zitat oben Fn. 16.

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Demokratie delegitimiert hat; schließlich ein sogenannter „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“, der den Interpretationsvorrang des Karlsruher Gerichts zur maßgeblichen, monopolistischen Spielart der Verfassungsgeltung macht33. All diese Spielarten der Verfassungswirklichkeit nehmen die Bindungswirkung der Verfassung für sich in Anspruch, stellen sie damit aber zugunsten persönlicher oder institutionell zugeordneter Herrschaft in Frage. Verfassungswandel muss daher an Grenzen stoßen. Es ist Aufgabe auch der Verfassungsgeschichte, diese nachzuzeichnen.

5. Stellungnahme zu Verfassungsverletzungen als Aufgabe der Verfassungsgeschichte Dies führt zu einer abschließenden These. Sie spitzt das Methodenproblem zwischen einer historisch beschreibenden und einer normativ juristischen Verfassungsgeschichte zu und entspricht eben deshalb der Interdisziplinarität der Materie: Weil die Geltung von Verfassungen als rechtliche Eigenschaft zugleich soziale Geltung der Verfassungen voraussetzt und impliziert, begrenzt der rechtliche Gehalt einer Verfassung zugleich deren historische Funktion. Geltung der Verfassung kann nur so weit reichen wie deren Regelungsinhalt. Davon losgelöste Wirkungen können nicht der Verfassung zugerechnet werden. Daraus folgt zwar, dass Verfassungsinterpretation, auch und besonders in der Verfassungsgeschichte, die Abhängigkeit der Verfassung vom sozialen Wandel und damit den Verfassungswandel zu berücksichtigen hat. Aber zugleich begrenzt der Verfassungstext in seiner Interpretation den Verfassungswandel. Löst sich dieser von der unter Einbeziehung des sozialen Wandels begründbaren Verfassungsinterpretation, so schlägt legitimer Verfassungswandel in Verfassungswidrigkeit um und ist es nicht mehr die Verfassung, sondern die sich darüber hinwegsetzende politische Herrschaft, die die geschichtliche Entwicklung prägt. Verfassungsgeschichte hat zwar insofern neutral zu sein, als sie den sozialen Wandel registriert. Aber zu ihrem Gegenstand gehört notwendig und unablösbar das Urteil darüber, inwiefern Verfassungsinterpretation unter Berücksichtigung des sozialen und des Verfassungswandels mit dem Verfassungstext zu vereinbaren ist. Insofern ist die Geschichtswissenschaft mit einer 33 Vgl. die scharfe Kritik durch Bernhard Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungswissenschaft im Wandel, JZ 2007, S. 157–162 mit weiteren Beispielen S. 159 f./Anm. 33 und in Weiterführung von Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 1989, S. 161–172.

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juristisch-normativen Problematik konfrontiert, ebenso wie die Rechtswissenschaft die sozialen Faktoren zu erkennen und bei der Verfassungsauslegung zu berücksichtigen hat. Die Bedeutung dieses Methodenproblems soll angesichts der erwähnten Analyse des monarchischen Konstitutionalismus durch Arthur Schlegelmilch konkretisiert werden. Das Buch arbeitet treffend die Merkmale eines „manipulativen Konstitutionalismus/Parlamentarismus“ heraus und benennt dabei mit Beispielen die „unrühmliche Rolle“ des preußischen Staates.34 Aber was bedeutet dieser Befund für die von Schlegelmilch erschlossene Regierung des „doppelten Vertrauens“? Legt man die Verfassungstexte und ihre Behandlung durch die Preußen regierenden Kräfte zugrunde, so steht am Anfang der Verfassungs-Octroi vom 5. Dezember 1848. Er setzt sich im Octroi des Dreiklassenwahlrechts durch Notverordnung fort. Zur Eindämmung befürchteter parlamentarischer Übermacht wird die Zusammensetzung der Ersten Kammer durch die Herrenhaus-Reform von 1853/55 zugunsten einer Stärkung von König und Adel modifiziert. Sodann beginnt der Verfassungskonflikt durch die in sehr anfechtbarer Verfassungsauslegung auf Grund des königlichen Oberbefehls – ohne Gegenzeichnung – veränderte Abgrenzung von Linie und Landwehr. Die von der Verfassung (Art. 61) ausdrücklich vorgesehene Ministeranklage bleibt ohne gesetzliche Ausführung und daher unpraktikabel.35 Fragt man, ob das einem sozialen Wandel seit dem Inkrafttreten der Verfassung entsprochen habe und von gesellschaftlichem Konsens getragen worden sei, so verdichten sich die Zweifel und bleiben die Argumente, die eine Bezeichnung jedenfalls für die preußische Verfassung als Scheinkonstitutionalismus rechtfertigen. Die Verfassungspraxis schützte die außerhalb der vereinbarten Verfassung verbliebenen Kräfte des Militärs und des Adels bis 1918 – und in mancherlei Hinsicht darüber hinaus – vor rechtlicher Einbindung. Es scheint mir wichtig, diese Einwände gegen ein ausführlich dargestelltes und auch sozialgeschichtlich begründetes Konzept zur Diskussion zu stellen, wenngleich darin – das ist mir bewusst – auch mit gegenteiligem Ergebnis argumentiert werden kann. Aber für unsere Fragestellung entscheidend erscheint mir die sachliche Verbindung von normativer und sozialgeschichtlicher Argumentation. Erst diese, mit Anforderungen an beide Seiten, ermöglicht die den Problemen des Gegenstands adäquate Verfassungsgeschichte, an der wir arbeiten. 34 Schlegelmilch (zit. Fn. 27), S. 185 ff. 35 Hugo Preuß, Die Organisation der Reichsregierung und die Parteien (1890), jetzt in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Tübingen 2007, S. 155–176, sprach von einer Gestaltung der parlamentarischen Kontrolle, „daß sie zum Messer ohne Heft würde, dem die Klinge fehlt“ (S. 159).

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Polity-Forschung: Politologie als Verfassungswissenschaft Eine Bestandsaufnahme des „Mainstreams“

Damit vorab die Namenstafel des betrachteten Faches im Sinne des Publikationskontextes geklärt ist: Der mittlerweile weniger gebräuchliche Begriff der Politologie vermeidet zunächst nur den terminologischen Wiederholungseffekt der inzwischen etablierten Kategorie Politikwissenschaft mit dem hier thematisierten Oberbegriff einer Verfassungswissenschaft. Neben der Soziologie macht – daran sprachlich anknüpfend – Politologie aber weiterhin Sinn, zumal ohnehin beide Disziplinen vorwiegend als Sozialwissenschaften verstanden werden können.1 Der politikwissenschaftliche Mainstream erscheint auf den ersten Blick jedenfalls einer zugleich verfassungsgeschichtlichen Perspektive zunehmend weniger aufgeschlossen. Eine Mitgliederbefragung von 1985 in den Fachvereinigungen ergab zwar noch eine – etwas trügerische – Führungsrolle mit 26 % bekundeter Nähe zu einem „Historischen Ansatz“. Doch erreichten die nächstplatzierten Stichworte „,Policy-Analysis‘“ (mit 17 %), „Analytische Wissenschaftstheorie“ mit 14 % und „Systemtheorie“ mit 11 % zusammen die relative Mehrheit von 42 %.2 Die eigene textliche Bestandsaufnahme gründet sich nachfolgend auf die Politische Vierteljahresschrift (PVS) der „Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft“ (DVPW) und deren PVS-Sonderhefte als Mainstream-Periodika. Die Sichtung von immerhin 20 Jahrgängen nach der Zeitenwende von 1990 soll Aufschluss über die mög-

1 Überdies könnte z.B. ein Titel wie bei Robert Chr. van Ooyen/Frank Schale, Kritische Verfassungspolitologie. Das Staatsverständnis von Otto Kirchheimer, Baden-Baden 2011, sprachlich nicht gut auf Verfassungspolitikwissenschaft umgeschrieben werden. Auf akademischen Urkunden (auch des Autors) aus den 1970er und 80er Jahren steht noch „Politische Wissenschaft“. Das markierte eine Zwischenform von den Politischen Wissenschaften bis zurück auf die früheren Staatswissenschaften – um die Genealogie des Faches nicht auch noch auf die ältere „Policeywissenschaft“ auszudehnen. Allein im Begriff der Staatswissenschaften fehlte das große P, das sich von der Polis als einem Stadt-Staats-Gemeinwesen herleitet. 2 Vgl. Harro Hanolka, Reputation, Desintegration, theoretische Umorientierungen. Zu einigen empirisch vernachlässigten Aspekten der Lage der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: PVS Sonderheft 17/1986, S. 41–61, hier S. 47.

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lichen Anknüpfungspunkte für verfassungswissenschaftliche Fragestellungen geben.3

1. Begrifflichkeit, Theoriekonzepte und allgemeinere Befunde Der Untersuchungsbereich kann dennoch breiter als Polity-Forschung mit (möglicher) unmittelbarer Relevanz für die Thematisierung von „Konstitutionalismus in Europa“ formuliert werden. Die „Polity“-Dimension zielt dabei auf den politischen „Handlungsrahmen“, die „grundlegenden Organisationsformen und Organisationsnormen eines Staates“ und dabei ebenso auf die „politisch ‚verfasste‘ Gesellschaft“ wie die „politische Verfassung einer Gesellschaft“. Indem über den formellen hinaus zugleich der informelle Handlungsrahmen des (machtzentrierten) politischen Gesamtprozesses (Politics) und der (interessengeleiteten) einzelnen Politikfelder (Policies) in die Betrachtung einbezogen wird, gelangen auch die „politisch-kulturellen Grenzen, Identitäten und Loyalitäten“ mit in den Blick.4 Die politiktheoretische Anregung, das weite Begriffsfeld der Politics in einerseits das lediglich handlungsreproduzierende Politicking und andererseits die handlungserweiternde Politicisation aufzuteilen5, berührt die Fragestellung nach der Polity-Rahmensetzung nur insoweit: wie dann eine Politisierung weiterer gesellschaftlicher Handlungsbereiche von der strukturierten, normierten oder zumindest politisch-kulturell habitualisierten und internalisierten Verfasstheit eines Gemeinwesens abhängig war und ist.

3 Solche Bestandsaufnahme von ca. 25.000 Textseiten hätte kaum geleistet werden können, wäre sie nicht dann konkreter auf Beiträge eingegrenzt, die wenigstens den Anfangsverdacht thematischer Einschlägigkeit wecken. So konnten fast 150 Aufsätze einbezogen, wenn auch nicht alle zitiert werden. Wegen dieser großen Anzahl wird Namenszuordnung meist nur über die Fußnoten gewährleistet. Hervorzuheben ist aber, dass insoweit der mit neun einschlägigen Beiträgen in deutlichem Abstand meistvertretene PVS-Autor jener Arthur Benz ist, der auch dem Vorstand des Hagener DimitrisTsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften angehört. 4 So der Ausgangspunkt bei Karl Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten, 2. erw. Aufl. Stuttgart 1994, S. 64–66, der auch die instruktive Formel prägte, „daß Politik die Verwirklichung von Politik – policy – mit Hilfe von Politik – politics – auf der Grundlage von Politik – polity – ist“ (S. 67). Polity steht also für die Grundlagen konkreter Politik(en). 5 Kari Palonen, Parlamentarische Politik und parlamentarische Rhetorik. Eine begriffsund debattengeschichtliche Perspektive, in: Andreas Schulz/Andreas Wirsching (Hg.), Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, Düsseldorf 2012, S. 75–90, hier S. 75 mit Verweis auf weitere Literatur dazu.

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Um zunächst – durchaus im Sinne von Methodenpräferenzen im Mainstream – mit einem quantitativen Befund der PVS-Sichtung zu beginnen: Geradewegs überraschend gegenüber anderen Erwartungen ist die Zunahme des Anteils thematisch einzubeziehender Aufsätze der PVS auf immerhin 20 % nach der Jahrtausendwende gegenüber nur 14 % in den 1990er Jahren. Dies liegt also insgesamt sogar auf gleicher Ebene mit jenen erwähnten 17 %, die Mitte der 80er Jahre zugunsten der „Policy-Analysis“ optierten. Doch schlägt das sich nicht in einer im disziplinären Selbstverständnis deutlich wahrnehmbaren Polity-Fokussierung wie zuvor im Bereich der Politikfeldanalysen nieder, die sich im Fachprofil auch terminologisch verankert haben.6 Dies zeigt sich besonders auffällig in den – gegenüber Einzelaufsätzen kompaktere Eindrücke vermittelnden – PVS-Sonderheften: In den letzten gut zehn Jahren war dort eine deutliche Verlagerung von den Konstituentien zu den Spezifika der Politik zu registrieren. Mit Ausnahme eines Bandes „Politik und Recht“ aus dem Jahre 2006, wo aber in der Einleitung auf langwierige Prozesse von der ursprünglichen Projektierung bis zur Publikation hingewiesen wird7, findet Polity-Forschung dort immer weniger unmittelbar anschlussfähige Themenbände. Ersichtlich beginnt dieses Missverhältnis zwischen verfügbaren Einzelbeiträgen und ausbleibender Bündelung bereits im Begrifflichen: Für Polity gibt es keine hinreichend eindeutige Übersetzung.8 Dies ist wohl ein Indiz dafür, dass die sonst nuancenreiche deutsche Sprache sich vom Bereich des Politischen weniger inspiriert zeigte als z.B. in juristischer oder geistig-kultureller Hinsicht.9 Im Unterschied von der breitflächig verfügbaren Policy-Forschung ist die Polity-Kategorie auch im World Wide Web nur über die „World Polity6 Vgl. exemplarisch PVS Sonderheft 24/1993: Adrienne Héritier (Hg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung. 7 Michael Becker/Ruth Zimmerling, Einleitung (der Hg.), in: PVS Sonderheft 36/2006, S. 9–29, hier S. 27. Dort auch die einzige Verwendung des Begriffs „Polity-Forschung“, jedoch im enger gefassten Sinne als „grundsätzliche Rechts- und Institutionenfragen“ (S. 17). 8 Vielleicht kann Polity in diesem Kontext noch am ehesten mit „verfasster Politik“ übersetzt werden: Detlef Lehnert, Hugo Preuß als moderner Klassiker einer kritischen Theorie der „verfassten“ Politik. Vom Souveränitätsdogma zum demokratischen Pluralismus, in: PVS 33,1 (1992), S. 33–54, hier S. 51. 9 Rohe, Politik (wie Fn. 4), gibt zu bedenken, ob man anstelle der historischen Vorstellung „unpolitischer“ Deutscher (die als Wahlberechtigte schon zum Ende des Kaiserreichs zu 85 % ihre Stimme zum Reichstag abgaben) vielleicht zutreffender „von einer policy-orientierten Kultur in Deutschland sprechen sollte“ (S. 173). Jenseits „großer“ Außenpolitik gelangten eher „kleine“ Einzelpolitiken in den Vordergrund, ohne in stabilen Phasen den Ordnungsrahmen und die Machtverhältnisse primär zu thematisieren und damit zu politisieren.

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Forschung“ jener Stanford-Schule um John W. Meyer prominent vertreten, deren Textsammlung jedoch bezeichnenderweise mit „Weltkultur“ ins Deutsche übertragen wurde.10 Bei einer genaueren PVS-Textauswertung ergibt sich dennoch ein aufschlussreicher Befund: Noch am ehesten haben europäische Konstitutionalisierungsansätze von Maastricht 1993 bis zum Scheitern des Verfassungsvertrags am Volksveto in Frankreich und den Niederlanden 2005 den expliziten Rückgriff auf den Polity-Begriff inspiriert – wenn auch der fachliche Blick sich dabei zuweilen „einigermaßen ratlos auf die merkwürdige Politie EU“ angesichts der „,multiplen Demoi‘“ richtete.11 Offenbar wird systematisch insofern mehr das politische Werden im „Sich-Verfassen“12 als das bereits verfasste Gewordensein thematisiert. Dies findet sich bestätigt, wenn in der Transformationsforschung mit Schwerpunkt auf östlichen Nachbarstaaten sogar eine „polity first“-These vertreten ist, und zwar „im temporalen wie hierarchischen“ Verständnis: Dies meint einen Doppelsinn, dass „die konstitutionelle Begründung der Demokratie logisch und realgeschichtlich am Anfang“ stehe, damit einen „Grundkonsens“ sowie den zureichenden „,Set an Metaregeln‘“ bereitstelle und so „zu einer drastischen Reduzierung der Verhaltenskontingenz“ in prekären Umbruchsprozessen beitrage.13 Das in der Transformationsforschung beklagte Fehlen des komparatistischen Brückenschlags von innerdeutschen zu europäisch-nachbarstaatlichen

10 Vgl. John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt a.M. 2005. Im Titel und Inhalt der Textsammlung von Yale H. Ferguson/ Richard W. Mansbach, A World of Polities. Essays on Global Politics, London 2008, wird der Polity-Begriff wieder eher zur Dekomposition in Politics disponiert. 11 Heidrun Abromeit, Ein Vorschlag zur Demokratisierung des europäischen Entscheidungssystems, in: PVS 39,1 (1998), S. 80–90, hier S. 80 u. 82, dort Zitat von Joseph H.H. Weiler, European Neo-Constitutionalism: In Search of Foundations of the European Constitutional Order, in: Political Studies 44 (1996), S. 517–533, hier S. 526. – Weitere EU-spezifische PVS-Textstellen im Kurznachweis: „Mit Verfassungsfragen sind hier alle Aspekte der Ausgestaltung der europäischen polity gemeint“ (37,1: S. 49/ Anm. 32); „Probleme des institutionellen Designs einer europäischen polity“ (40,3: S. 366); „Institutionelle bzw. konstitutionelle Reformen der europäischen polity“ (47,2: S. 254); „Euro-Polity“ (Sonderheft 29/1998: S. 369 u. 373). 12 Erik Jentges u.a., Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas. Verfassungsgebung als Katalysator europäischer Vergesellschaftung?, in: PVS 48,4 (2007), S. 705–729, hier S. 726. 13 Wolfgang Merkel, Theorien der Transformation: Die demokratische Konsolidierung postautoritärer Gesellschaften, in: PVS Sonderheft 26/1995, S. 30–58, hier S. 41. Dazu auch der Hinweis des Staatsrechtlers Dian Schefold, Deutschland als Parteiendemokratie, in: PVS Sonderheft 30/1999, S. 411–428, dass eine verfassungsmäßige Verankerung der Parteien häufig – als Schutzrahmen – autoritären Regimen folgte (S. 416).

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Entwicklungen14 kann teilweise auch Polity-bezogen erklärt werden: Die beschleunigte Vereinigung über den Beitritt gemäß Artikel 23 damaligen Grundgesetzes war gewissermaßen nur eine situativ halbierte „polity first“-Strategie: Der formelle Verfassungsrahmen wurde unter Zeitdruck der Verhältnisse und in Sorge um Delegitimierungs-Potenzial aus kontroversen Verfassungsdebatten schlicht übernommen. Dieser blieb so angesichts des offenkundigen Primats von Politics und Policies weithin eher dethematisiert. Die politologisch gängige Unterscheidung von Politics-Input- und Policy-Output-Legitimation von Regierungssystemen wird zwar im PVS-Kontext punktuell mit government „by the people“ und „for the people“ erläutert.15 Dass aber die weitere Dimension „of the people“ aus dem bekannten Lincoln-Diktum zur demokratischen Republik dabei unerwähnt bleibt, lässt eine gewisse PolityVergessenheit im Mainstream der zeitgenössischen Politikwissenschaft erkennen: Wenn darin „,by the people‘ den ‚politics‘-Aspekt, ‚for the people‘ dagegen den ‚policy‘-Aspekt“ umgreift16, verbleibt folgerichtig „of the people“ für die Polity-Dimension. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20,2 GG) ist wohl der – hier und heute – wichtigste Normativsatz dessen, was eine Regierung „des Volkes“ (of the people) begriffsgeschichtlich interpretiert bedeuten soll. Am ehesten könnte man noch erwarten, dass eine Bundesrepublik wenigstens als Bundesstaats-Polity explizit so verstanden wird. Doch selbst in einem auch zeitgeschichtlich angelegten Sonderheft zu „50 Jahre Bundesrepublik“ erscheint die Bundesstaats-Konfiguration als zweidimensionales Schaubild mit einer politics-Horizonte Parteienwettbewerb und einer policy-Vertikale territoriale Verteilungskonflikte. Darunter ist als Komponente einer „Entwicklung der Institutionen“ unter dem Stichwort Polity „seit 1986“ (insoweit seit der Einheitlichen Europäischen Akte) nur die EU benannt, wie sie dort als „Mehrebenensystem“ im Werden gesehen wird.17 Für das ebenfalls Polityverdächtige Thema Bundesrepublik als Verfassungsstaat nimmt die Politikwissenschaft besser gleich Juristenhilfe in Anspruch: So wurde der Theoriebedarf auch mit erneuter Rekapitulation des Weimarer Richtungsstreits um 14 Vgl. Rolf Reißig, Transformationsforschung: Gewinne, Desiderate und Perspektiven, in: PVS 39,2 (1998), S. 301–328, hier S. 318 u. 324; Alexander Thumfart, Bilanz der Einigungsbilanzen – Forschungs- und Meinungskonjunkturen der letzten 15 Jahre, in: PVS 48,3 (2007), S. 564–584, hier S. 580. 15 Vgl. Patrick Kenis/Jörg Raab, Politiknetzwerke als Governanceform. Versuch einer Bestandsaufnahme und Neuausrichtung der Diskussion, in: PVS Sonderheft 41/2008, S. 132–148, hier S. 136. 16 Rohe, Politik (wie Fn. 4), S. 80. 17 Arthur Benz, Der deutsche Föderalismus, in: PVS Sonderheft 30/1999, S. 135–153, hier S. 138.

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Namen wie Kelsen und Smend, Heller und Schmitt erledigt.18 Dass von der Politikwissenschaft zu wenig eigene Akzente zu einer besonderen Sicht auf die Verfassungsthematik gesetzt werden, hatte schon vor Jahrzehnten der spätere Bundesverfassungsrichter Grimm beklagt.19 Das geschah ausdrücklich werbend um sozialwissenschaftliche Dialogpartner und nicht etwa zur Bekräftigung eines faktischen Juristenmonopols der Verfassungsauslegung. In einseitiger Auflösung des behaupteten „,Legitimitäts-EffektivitätsDilemmas‘“20 wird die Staatsrechtslehre zuweilen für ihre Überschätzung der prozeduralen Input- gegenüber den materialen Output-Dimensionen von Politik getadelt. Wenn dabei allerdings u.a. Tschechien und Ungarn als besonders aussagekräftige Beispiele für gelungene Demokratisierung unbeschadet wenig ambitionierter Wege der Neukonstitutionalisierung erwähnt werden21, lassen neuere ungarische Entwicklungen dahinter ein großes Fragezeichen setzen. Offenbar berücksichtigen sogar die von „polity first“-Thesen geleiteten Gegenwartsanalysen zu wenig die vorausliegende „history first“-Perspektive. Denn Tschechien konnte immerhin an ein demokratisches Erbe der Zwischenkriegszeit anknüpfen22, was jedoch unter dem autoritären Horthy-Regime für Ungarn nicht galt.23 So mutet das an jener Stelle zu findende Lob für das effektiv mehrheitsbildende ungarische Wahlrecht24 angesichts der weiteren 18 Vgl. Walter Pauly/Martin Siebinger, Der deutsche Verfassungsstaat, in: Ebd., S. 79–90. 19 Vgl. Ingeborg Maus, Das Verhältnis der Politikwissenschaft zur Rechtswissenschaft. Bemerkungen zu den Folgen politologischer Autarkie, in: PVS Sonderheft 36/2006, S. 76–120, hier S. 76, unter Verweis auf Dieter Grimm, Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag der Politikwissenschaft (1978), in: Ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a.M. 1991, S. 336–371, hier S. 340. 20 Manfred G. Schmidt, Der Januskopf der Transformationsperiode. Kontinuität und Wandel der Demokratietheorien, in: PVS Sonderheft 26/1995, S. 182–210, hier S. 196 (Zitat von Fritz W. Scharpf). 21 Merkel, Theorien der Transformation (wie Fn. 13), S. 44. Sogar noch für 2005 wird die politische „Gesamtkonsolidierung“ in Ungarn besser als in Polen, der Slowakei, Litauen und Lettland skaliert: Ders., Gegen alle Theorie?, Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa, in: PVS 48,3 (2007), S. 413–433, hier S. 423. 22 Vgl. Martin Zückert, Die Repräsentation von Staat und Demokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Detlef Lehnert (Hg.), Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2011, S. 243–260. 23 Die ungarische Parlamentstradition lag vor demokratischer Zeit, vgl. die knappe Einbeziehung des Landes bei Robert Redslob, Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form. Eine vergleichende Studie über die Verfassungen von England, Belgien, Ungarn, Schweden und Frankreich, Tübingen 1918, S. 82–93, mit dem Fazit, dass „Ungarn ein Museum der parlamentarischen Regierung“ (S. 93), aber nicht dessen Gegenwart und Zukunft sein konnte. 24 „Das zu den Grabensystemen gehörende kompensatorische Wahlsystem Ungarns, über das ca. 45 % der Mandatssitze nach dem absoluten Mehrheitsprinzip und ca. 55 %

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Entwicklung – bis hin zu den Erfahrungen mit einem grundrechtsbeschränkenden Zweidrittelmehrheitsregime – doch etwas befremdlich an. Das in einem anderen Beitrag erwähnte Plädoyer des renommierten Vergleichsautors Lijphart, sich gerade auch in Neukonstitutionalisierungs-Prozessen „am Modell der Konsensusdemokratie und am Verhältniswahlsystem auszurichten“25, erscheint dann als dessen niederländischer Herkunft verbundene Einsicht. Diese sollte wohl auch für europäische Zukunftsprojekte besser nicht in exekutiv-dezisionistischer Grundhaltung einfach überblättert werden. Wenn trotz des begrenzten Spektrums der verfassungswissenschaftlichen Anknüpfungspunkte dennoch Auskunft über Methodenpluralismus und Methodenintegration in der Politikwissenschaft gegeben werden soll, bieten sich die pluralen Tendenzen insgesamt ausgeprägter dar als die integrativen. Das hat wenig mit der legendären Richtungspolarität normativ(-ontologisch)er, dialektisch(-kritisch)er und empirisch(-analytisch)er Herangehensweisen zu tun, was kaum jemals eine wirklich treffsichere Bestandsaufnahme war.26 Eher mangelt es überhaupt an paradigmatischen Entwürfen und jener Art von Schulenbildung, wie sie für diverse Staatsrechtskontroversen oder auch die sozial- und kulturwissenschaftliche Erneuerung der Geschichtsforschung kennzeichnend wurde. Dezidiert systemtheoretisch gerät Politik eher nur als politisch-administratives Teilsystem der Gesellschaft ins Blickfeld, was einem mehr verwaltungswissenschaftlichen Zugang entsprechen und Schwerpunkte in der Policy-Forschung nahelegen kann.27 Ansonsten hat Politik zu nach der Proporzregel bestimmt werden, erscheint als ein besonders positives Beispiel“ (ebd., S. 47). Das insofern aber für demokratische Legitimität entscheidende „kompensatorische“ Element steht eben bei einem reinen Proportionalsystem gar nicht erst zur ggf. manipulativen Disposition (wie es seither außer in Ungarn auch im „berlusconisierten“ Italien zu beobachten war). 25 Schmidt, Januskopf (wie Fn. 20), S. 191, unter Verweis auf Arend Lijphart, Democratization and Constitutional Choices in Czecho-Slovakia, Hungary and Poland 1989–91, in: Journal of Theoretical Politics 4 (1992), S. 207–223. 26 In einem viel benutzten Lehrbuch firmiert solche Trias unter „Wissenschaftstheoretische Grundlagen“, während als „Methodische Ansätze“ daraufhin „historische“, „institutionelle“, „behavioralistische“, „funktionalistische“ und „vergleichende“ differenziert werden: Klaus von Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung, 7. neu bearb. Aufl. Opladen 1992, S. 15–60 u. 61–121. Im Polity-Kontext wenig relevant sind dann nur behavioralistische und funktionalistische Ansätze, während sich im weiter gefassten (nicht allein operationalen und quantifizierenden) Sinne empirische mit normativ-kritischen Zugängen ergänzen können. 27 Vgl. PVS Sonderheft 37/2006, u.a. mit den Stichworten „politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung“ und „verwaltungswissenschaftliche Policy-Forschung“ bei Frank Janning, Koexistenz ohne Synergieeffekte? Über das Verhältnis zwischen Policy-Forschung und Verwaltungswissenschaft, S. 77–96, hier S. 92.

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differenzierte Akteurskonstellationen, um sinnvoll als ein Handlungssystem begriffen zu werden. Politische Systemanalysen, wenn sie auf einen PolityRahmen und nicht nur Teilaspekte zielen, können sich daher bevorzugt typologisch vergleichender Herangehensweisen bedienen.

2. Grundzüge und Fallbeispiele typologisierend-komparatistischer Ansätze Die meisten an „Messbarkeit“ orientierten Indikatorenmodelle z.B. des Demokratievergleichs haben Probleme mit der „Ausdifferenzierung“ bzw. „Trennschärfe“ ihrer Konzepte. Dies gilt auch für jenen „Polity-Index“, der „freie Partizipation“, „Beschränkung der Exekutive“ und „Garantie der Bürgerrechte“ umfasst28, also ein traditionelles liberales Politikverständnis zugrunde legt. Das methodische Spannungsverhältnis zwischen qualitativer Typenbildung und operationell-analytischer Zugangsweise lässt sich an einem besonders drastischen Beispiel aufzeigen: Typologisch betrachtet gilt neben direktdemokratischer Volkssouveränität der Schweiz auch die von der monarchischen Zentralgewalt übernommene Parlamentssouveränität Großbritanniens als EU-Integrationsbremse.29 Eine indikatorenorientierte Studie über „Die Bedeutung europäischer Parlamente als Wahlorgane“ (Untertitel) kommt jedoch im 25-Länder-Vergleich des Jahres 2006 zu dem Ergebnis, dass Frankreich und Großbritannien die insoweit machtlosesten Parlamente aufweisen.30 Der Grund dafür liegt gewiss vorrangig im französischen Präsidialsystem und der historisch gewachsenen Machtfülle eines britischen Premiers. Dieser mag aus einer mehr pluralistischen Sicht als Mehrheitsführer des Unterhauses mit der Möglichkeit, es durch Auflösungsdrohung zu disziplinieren, gewissermaßen als quasi-präsidiales Gegenstück zu französischen „bonapartistischen“ Tendenzen in der nationszentrierten Gouvernementalisierung des monarchischen Souveränitätserbes anmuten. 28 Thomas Müller/Susanne Pickel, Wie lässt sich Demokratie am besten messen? Zur Konzeptqualität von Demokratie-Indizes, in: PVS 48,3 (2007), S. 509–539, hier S. 529. 29 Vgl. Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: PVS 36,1 (1995), S. 49–66, hier S. 63 f. 30 Vgl. Ulrich Sieberer, Prinzipal Parlament, in: PVS 49,2 (2008), S. 251–282, hier S. 264 (Stichtag 1.1.2006) u. S. 269 (Rangliste, übrigens damals mit einem Spitzenplatz für Ungarn, was vielleicht als Rückgriff auf das zu Habsburger Zeiten noch elitäre Parlaments-„Museum“ – vgl. oben Fn. 22 – anstelle einer praxistauglicheren Auswertung vergleichsgeeigneter Erfahrungen gelten könnte).

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Die systematische Fortschreibung einer Typologie von der Schweizer Volks- über die britische Parlaments- bis hin zu einem (sodann EU-integrationsfreundlichen) neudeutschen „Konzept der Verfassungssouveränität“31 ist freilich auch nicht ohne spezifische Probleme. Das vom Output-zentrierten Mainstream der Politikwissenschaft als überholtes Einzelstaatsdenken bemängelte Insistieren des Bundesverfassungsgerichts auf Parlamentsrechten32 könnte vielleicht immer noch die angegriffene These stützen: dass nämlich ein von der Exekutivmacht übergangener Parlamentarismus – zumal angesichts der Fragmentierung kontrollierender Öffentlichkeiten – einen verlässlichen Hüter seiner Rechte letztlich durch gerichtsverbürgte Verfassungssouveränität finden sollte.33 Unpassend zu einer Typologie, die Traditionen einzelstaatlicher Volks- oder Parlamentssouveränität wie in der Schweiz und in Großbritannien als besonders autonomielastig einstuft, ist freilich die Erkenntnis, dass solches auch für eine sich allzu kompetenzstark gebärdende einzelstaatliche Verfassungsgerichtsbarkeit gelten kann.34 Die Schlussfolgerung daraus lautet dann eher, dass jegliches Souveränitätsdenken mit der Vollausbildung eines politischen Mehrebenensystems kollidieren muss – es sei denn, der Souveränitätsort würde in die Kompetenzordnung des Mehrebenensystems hineinprojiziert und mit einem letztinstanzlichen Hüter dieser Verfasstheit ausgestattet. Eine solche Entwickung könnten jüngste Verweisungen eines sich selbst beschränkenden BVerfG an den EuGH andeuten und einleiten.35 31 Abromeit, Volkssouveränität (wie Fn. 29), S. 52. 32 Z.B. in der Beschwörung einer Gefahr, der Bundestag werde sich künftig ggf. „weniger von politischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten leiten lassen als von verfassungsrechtlicher Bedenkenträgerei“, so im Textteil von Marcus Höreth bei Martin Höppner u.a., Kampf um Souveränität? Die Kontroverse zur europäischen Integration nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: PVS 51,2 (2010), S. 323–355, hier S. 335. 33 Einzelstaatliche „Souveränität hat hier die Aufgabe des Demokratieschutzes, an dem auch das Bundesverfassungsgericht als Demokratiegarant partizipiert“, so trotz gewisser Offenheit für künftige europäische Lösungen das Lissabon-Urteil verteidigend Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin 2009, S. 110. 34 Der im Sinne notwendiger Selbstbeschränkung des BVerfG nachvollziehbare Hinweis auf über zwei Dutzend weitere Anspruchsberechtigte solcher Art im Diskussionstext bei Höppner u.a., Kampf um Souveränität? (wie Fn. 32), S. 347 (Fritz W. Scharpf) und S. 352 (Michael Zürn) vernachlässigt neben anderen Traditionen wohl diesen Unterschied: Im BVerfG ist nur Vetomacht konzentriert, während die vor der (mehr wie die US-Notenbank agierenden) EZB dominante Bundesbank faktisch ihre nicht gerade seltene Hochzinspolitik tendenziell den wichtigsten europäischen Handelspartnern aktiv zu diktieren vermochte. 35 BVerfG, 2 BvR 2728/13 v. 14.01.2014 (www.bverfg.de/entscheidungen/rs20140114_ 2bvr272813.html).

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Eigentümlich unpräzise bleibt häufig die typologische Einordnung des ohne Sprachbarrieren zugänglichen Nachbarlands Österreich. In dessen Staatsnamen klingt jene Vorstellung des Imperiums nach, das einen von Rom auf die Habsburger Universalmonarchie transponierten Herrschaftsanspruch beinhaltete. Diesseits des Ausgleichsdualismus mit der ungarischen transleithanischen Reichshälfte war Cisleithanien „eher ein dezentralisierter Einheitsstaat mit bestenfalls quasi-föderalen Strukturen“36, der keine weitere Föderalisierung des Vielvölkerstaats wenigstens zum Trialismus mit dem tschechischen Landesteil ermöglichte. Daraus wurde auch in der kleinösterreichischen Republikzeit eher nur ein deklamatorischer Bundesstaat, was nach geeigneten Vergleichsfällen suchende Föderalismusstudien nicht selten übersehen37: Der österreichische Bundesrat hat nicht die Stellung des deutschen, denn er kann jederzeit durch einen Beharrungsbeschluss des Nationalrats übergangen werden. Überdies wird er nicht von Länderregierungen besetzt, sondern von Landesparlamenten nach Fraktionsanteil und mit freiem Mandat. Auch sonst ist Österreich überwiegend nicht für Konkordanz-, sondern für Differenzvergleiche geeignet. Denn es gibt dort einen sozusagen „Weimarer“ (volksgewählten) Präsidenten ohne „weimarisierende“ Konsequenzen und dennoch gleichzeitig den wesentlich auf Kelsen zurückgehenden Verfassungsgerichtshof. Dieser agierte jedoch zurückhaltender, während das staatsrechtstheoretisch zuvor im Überhang der Weimarer Staatsrechtsdebatte abgelehnte Kelsen-Modell in der Praxis unseres BVerfG zuweilen sogar überdehnt wurde.38 Schließlich gibt es 36 Francis G. Castles u.a., Bremst der Föderalismus den Leviathan? Bundesstaat und Sozialstaat im internationalen Vergleich, 1880–2005, in: PVS 46,2 (2005), S. 215–237, hier S. 223. 37 Z.B. Tanja A. Börzel, Europäisierung und innerstaatlicher Wandel. Zentralisierung und Entparlamentarisierung?, in: PVS 41,2 (2000), S. 225–250, hier S. 237 (etwas abgeschwächt S. 240). Zutreffend aber Gerhard Lehmbruch, Der unitarische Bundesstaat in Deutschland. Pfadabhängigkeit und Wandel, in: PVS Sonderheft 32/2001, S. 55–110, betr. Österreich, „dass die Länder von ihrer Kompetenzausstattung her gesehen eher zu stark aufgewerteten Selbstverwaltungskörperschaften geworden sind“ (S. 66). Das entspricht gerade nicht dem Überhang an deutscher Länderstaatlichkeit, weil Österreich „einer der ‚zentralisiertesten Bundesstaaten der Welt‘ ist“, so Florian Grotz, „Europäisierung“ der Bundesstaatsreform? Zur Übertragung des EU-Konventsmodells in Deutschland und Österreich, in: PVS 46,1 (2005), S. 110–131, hier S. 118, mit dem Zitat von Martin F. Polaschek, Bundesstaat im Wandel, in: Anton Pelinka u.a. (Hg.), Die Zukunft der österreichischen Demokratie, Wien 2000, S. 403–422, hier S. 404. 38 Zu dieser politikwissenschaftlich vernachlässigten Institution vgl. Christoph Hönnige/ Thomas Gschwend, Das Bundesverfassungsgericht im politischen System der BRD – ein unbekanntes Wesen?, in: PVS 51,3 (2010), S. 507–530, mit dem Hinweis, dass immerhin 5 % vorgelegter Gesetze vom BVerfG beanstandet wurden, hingegen (gewiss wegen des inneren Zwangs zur Kompromissfindung) nur 1  % vom Bundesrat abgelehnt worden sind (S. 510 f.).

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österreichweite Volksbegehren und Volksabstimmungen und zumal historisch nicht so viel Konkordanz, wie es manche Typologie unterstellt: Die Erste Republik war nach der Verfassunggebungsphase konkurrenzdemokratisch geprägt bis zur Überpolarisierung in einem Bürgerkrieg.39 Dessen Trauma und das nach der NS-Zeit erst zu schaffende eigene Nationalbewusstsein zogen seit 1945 zwei Jahrzehnte Großer Koalition nach sich. Aber von 1966 bis 1986 bestand wiederum eine konkurrenzdemokratische Situation. Wenn seither Große Koalitionen dominieren, liegt das wesentlich an rechtspopulistischen Gruppierungen wie insbesondere der FPÖ, die andere Mehrheitsbildungen behindern. Fruchtbarer erschienen Vergleichsansätze mit Österreich und skandinavischen Ländern im Rahmen der Neokorporatismusthesen, die ihre Blütezeit in den 1970er und 80er Jahren hatten.40 Unterschätzt wurden dabei aber historisch-institutionelle Differenzen: Vom preußisch-deutschen und dem k. u. k. Etatismus unterschied sich der skandinavische Typus durch stärkere Dezentralisierung. Wenn im Schweden der 1980er Jahre ein Viertel der insgesamt überhaupt Berufstätigen bei Gemeinden und Kreisen beschäftigt war, repräsentierte dies auch einen dritten Sektor jenseits von Zentralstaatsverwaltung und Privatwirtschaft; mit 80 % Frauenanteil fand dort gleichzeitig eine Verlagerung ehemals privater in öffentliche Aufgaben statt.41 Solche Entwicklungen sind in feministischen Diskursen als Erweiterung des Politikverständnisses thematisiert worden.42 Der Kontrast gerade zu einer alpenländischen Polity ist besonders groß: Zwischen der Einführung des Frauenstimmrechts in Norwegen und in der Schweiz lagen 65 Jahre43, und in einzelnen ländlich ge39 Vgl. Detlef Lehnert, Die unterschätzte Erste Republik. Zur politischen Kultur der österreichischen Konkurrenzdemokratie in den 1920er Jahren, in: Ders., Demokratiekultur (wie Fn. 22), S. 135–154. 40 Vgl. den Überblick bei Roland Czada, Konjunkturen des Korporatismus. Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Verbändeforschung, in: PVS Sonderheft 25/1994, S. 37–64; Franz Traxler, Die Metamorphosen des Korporatismus. Vom klassischen zum schlanken Muster, in: PVS 42,4 (2001), S. 590–623, mit Verweis auf den Schwerpunkt „in den nordischen Ländern“ (S. 596). 41 Vgl. Ingemar Elander/Stig Montin, Dezentralisierung und Kontrolle. Die Beziehungen zwischen der zentralen Regierung und den Kommunen in Schweden, in: PVS Sonderheft 22/1991, S. 308–336, hier S. 318. 42 Vgl. Eva Kreisky/Birgit Sauer, Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation, in: PVS Sonderheft 28/1997, S. 9–49, mit dem Hinweis auf „Staatsfeminismus“ in Skandinavien als „politische Allianz mit dem Wohlfahrtsstaat“ (S. 28). Insofern wird es auch kein Zufall sein, dass weibliche Parlamentsmitglieder dort am häufigsten anzutreffen sind, vgl. Daten von 2005 unten in Fn. 86. 43 Wie problematisch Momentaufnahmen für Operationalisierungen sind, zeigt die Frage einer Einordnung der „Schweiz bis 1971“ als wegen fehlenden Frauenstimmrechts „exklu-

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prägten Kantonen fiel diese Geschlechterbarriere gar erst zusammen mit der Berliner Mauer. Politiksystematisch interessant erscheint jedenfalls, dass im skandinavischen Modell die Grenzverschiebungen ins Öffentliche gleichermaßen die Rollenmuster der Geschlechter wie das spannungsreiche Verhältnis von Staat und Markt betrafen. Auch die Niederlande als Gründungsmitglied der Römischen Verträge sind ein dezentralisierter bzw. „zusammengesetzter“ Einheitsstaat. Dort hat in diesem Sinne die eigenständige Rezeption der Selbstverwaltungslehre Gneists bereits seit den 1870er Jahren zu Ansätzen des Mehrebenenverständnisses einer sog. „Co-Herrschaft“ geführt.44 Wie in Skandinavien und modifiziert sogar für Österreich profitierte in den Niederlanden vor allem die Gemeindeebene vom Fehlen der reichsdeutsch aus präkonstitutionellem Landesfürstentum fortgeschleppten Länderstaatlichkeit. Die Interessenvertretung der Gemeinden konnte als schon im Vorfeld von Entscheidungen einzubeziehender Teil eines in den Niederlanden stark ausgeprägten Konkordanzsystems des Regierens gelten.45 Anders als die Staatsrechtslehre, in der bis heute in deren „Vereinigung“ eine Organisations-Verflechtung mit den Nachbarn in Österreich und auch teilweise der Schweiz besteht, hat es neben der Geschichts- die Politikwissenschaft eher vernachlässigt, die kleineren Nachbarstaaten häufiger wenigstens in Differenzvergleiche einzubeziehen. Es ist wohl immer noch das Resterbe eines preußenakzentuierten Geschichts- und Politikverständnisses, die Referenzländer vorwiegend im Konzert der größeren Mächte zu suchen. Selbst demokratiewissenschaftliche Neuorientierungen fächerten sich nach primär England-, USA- und Frankreich-orientierten Denkansätzen auf und merkten daneben allenfalls noch an, dass Schweizer Kleinstaatsverhältnisse zur Entlehnung kaum geeignet seien. Doch war jenseits von Preußen ein deutsches Klein- bis allenfalls Mittelstaatsformat durchaus typisch gewesen.46 sive“ (nicht inklusive) und somit auch „defekte“ Demokratie bei Wolfgang Merkel/Aurel Croissant, Formale und informale Institutionen in defekten Demokratien, in: PVS 41,1 (2000), S. 3–30, hier S. 9. Z.B. Anhänger der Argumente Rousseaus für direkte Demokratie würden den Einwand vorbringen, dass solcher Defekt aus der Unmittelbarkeit (zunächst nur bei den Männern) resultierte und eine Generation Verspätung z.B. gegenüber Frankreich nun bald schon von zwei Generationen auch unmittelbarer Frauenpartizipation aufgewogen werden. Umgekehrt werden Kritiker das lange verweigerte Frauenstimmrecht als Indiz betrachten, wie Referendumsdemokratie auch Vorrechteschutz begünstigt. 44 Peter L. Hupe/Theo A.J. Toonen, Die Gemeinde als Co-Staat. Dezentralisierung in den Niederlanden, in: PVS Sonderheft 22/1991, S. 337–354, hier S. 337 (Co-Herrschaft) und S. 345 (Gneist). 45 Ebd., S. 348; als Überblick der hierzulande weniger bekannten Entwicklungen: Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008. 46 Einerseits den tatsächlichen Zerfall des Habsburgerreichs, andererseits kontrafaktisch das eigenstaatliche Ausscheiden nur Preußens aus dem Deutschen Bund unterstellt, hätte

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Wenn von heutiger Rechtswissenschaft der Geschichte ein noch ziemlich diffuser Europäisierungs-Begriff des „Verbunds“ bzw. des „Bundes“ entnommen wird47, blendet das manche realgeschichtlichen Dynamiken aus. Tatsächlich verließ Preußen eben nicht nur zwecks Nationalstaatsgründung den Deutschen Bund mit Österreich, sondern es vollzog mit vielzitiertem „Eisen und Blut“ die großpreußische Reichsgründung nach drei Kriegen. Auch die heutigen United States of America wären ohne den mehrjährigen verlustreichen Bürgerkrieg wohl kaum so anzutreffen. Sogar die ebenso wehrhafte wie friedliche Schweiz gelangte 1848 erst durch einen revolutionären Bruch der Rechtskontinuität und nach einem kurzen Sonderbundskrieg zur modernen Bundesstaatlichkeit. Die Etablierung einer Friedens- und Rechtsstaatsordnung nach Weltkriegen und totalitären Systemen lässt inzwischen dahin tendieren, mit der hoffentlich irreversiblen Ächtung der physischen Gewalt voreilig die Möglichkeiten neuer Rechtsschöpfung aus den Augen zu verlieren. Es ist zwar sicher ein Fortschritt im Prozess der politiktheoretischen Zivilisierung, dem ohnehin zu Tode zitierten „Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit“ des Staatsverständnisses Max Webers kein Deutungsmonopol mehr zuzubilligen. Auch Webers Machtbegriff siedelte mit der Chance, den eigenen Willen gegen andere durchzusetzen, noch im Schatten des Herrschaftsdenkens. Insofern komplettiert es modernes Politikverständnis, wenn nun ebenso z.B. Hannah Arendts gewaltferne Machtdefinition im Sinne einer gemeinsamen Bemächtigung zum Handeln beachtet wird.48 Aber es ist wohl ein Defizit in zeitgenössischen Politikanalysen, neben der physischen zugleich die strukturelle Gewalt aus dem Theoriehorizont verloren zu haben.49 Der Einwand, dass es systemische Zwangs-, aber nicht Gewaltformen geben kann, weil diese stets Akteure voraussetzen, verkennt über das Problem der Individualzurechnung wohl doch, wie z.B. die akteursvermittelte Strukturgewalt eines unzureichend rechtsförmig eingehegten Weltfinanzsystems in Verbindung mit der Verfügbarkeit des World Wide Web sogar frühere staatliche Gewaltmonosich ein außerpreußisches Restdeutschland geradewegs vor die heutige europäische Situation des Zusammenwachsens einer politischen Einheit aus Vielfalt gestellt befunden. 47 Vgl. Beate Kohler-Koch/Markus Jachtenfuchs, Regieren in der Europäischen Union – Fragestellungen für eine interdisziplinäre Europaforschung, in: PVS 37,3 (1996), S. 537–556, hier S. 541 (unter Bezug auf Ingolf Pernice). Zum Rückbezug auf den Bundesbegriff: Christoph Schönberger, Unionsbürger. Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht, Tübingen 2006. 48 Vgl. Barbara Holland-Cunz, Die Wiederentdeckung der Herrschaft. Begriffe des Politischen in Zeiten der Transformation, in: PVS Sonderheft 28/1997, S. 83–97, hier S. 88 f. 49 Gewaltfragen kommen zumeist nur im Kontext des Rechtsextremismus (PVS Sonderheft 27/1996) oder vornehmlich außereuropäischer Studien (PVS Sonderheft 43/2009) ins Blickfeld des Faches.

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pole aushebelt. Das leitet nun über zur intensiveren Befragung eines neueren Theoriekonzepts.

3. „Governance“ – zwischen Mode und Methode Kaum etwas ist für den Mainstream zeitgenössischer Politikwissenschaft charakteristischer als die Konjunktur des merkwürdig subjekt- und objektlosen, verselbständigt prozesshaften Governance-Begriffs. Aus quantifizierender Selbstbeobachtung einschließlich der Nachbardisziplinen springt dessen exponentielle Wachstumskurve exakt seit Beginn der 1990er Jahre ins Auge: Von Marginalziffern zwischen 0,01 und 0,03 % vervielfachte sich die Wortverwendungshäufigkeit in Richtung einer dezidierten Schlüsselkategorie mit dicht an 1 % Anteil.50 Das ist angesichts der Themen- und Begriffsvielfalt in Fachtexten eine ungewöhnliche Verdichtung. Mit solchem Anglizismus hat die Politologie auch länderübergreifend einen neuen Leitbegriff gefunden, der sekundär noch in der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft sowie der Soziologie verwendet wird, aber die Geschichts- sowie generell die Geistes- und Kulturwissenschaften fast gar nicht erreicht.51 Überhaupt ist parallel dazu eine fortschreitende Enthistorisierung der Politikwissenschaft zu registrieren. Sogar ein gehaltvolles PVS-Sonderheft „Föderalismus“ aus dem Jahre 2001 mit dem vielversprechenden Untertitel „Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive“ mündet in folgende Schlussbemerkung des Mit-Herausgebers zum Gesamtbefund des eigenen Faches: „Die Rezeption der entwicklungsgeschichtlich orientierten und der vergleichenden Forschung ist hierbei noch am schwächsten. Dabei ist ihre Relevanz nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch in der Praxis beträchtlich.“52 Hingegen bieten sich Bezugnahmen auf rechtswissenschaftliche Ansätze inhaltsreicher dar. Das gilt aber vorwiegend für die Policy-Forschung, bereits weniger für den Kernbereich der Politics, während gerade in der Polity-Dimension politikwissenschaftliche Sichtweisen mit staatsrechtlichen ersichtlich fremdeln. Einerseits wird die vom Bundesverfassungsgericht verwendete 50 Vgl. das Schaubild bei Gunnar Folke Schuppert, Governance – auf der Suche nach Konturen eines „anerkannt uneindeutigen Begriffs“, in: PVS Sonderheft 41/2008, S. 13–40, hier S. 14; Titelanleihe bei Julia von Blumenthal, Governance – eine kritische Zwischenbilanz, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 15 (2005), S. 1149–1180, hier S. 1150. 51 Vgl. Schuppert, Governance (wie Fn. 50), S. 17. 52 Arthur Benz, Lehren aus entwicklungsgeschichtlichen und vergleichenden Analysen – Thesen zur aktuellen Föderalismusdiskussion, in: PVS Sonderheft 32/2001, S. 391– 403, hier S. 401.

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Kategorie des EU-Staatenverbunds als Schwundstufe des Integrationsdenkens im Rückbildungsprozess zur Staatenbundlehre mit bloßen supranationalen Vertragsergänzungen bemängelt: „Der logische Endpunkt dieser Entwicklung ist das reine Staatenbunddenken mit 0 % europäischer Kollektivität. Das Lissabon-Urteil könnte einen weiteren Schritt in dieser Involution des Denkens über Europa markieren.“ Andererseits wird in ungeklärtem Verhältnis dazu auch das alternative Deutungskonzept eines Verfassungsverbunds als lediglich „Verfassungsspiritueller Evolutionsraum“ ebenso beiläufig zurückgestuft.53 Geradewegs ein Anti-Polity-Affekt könnte sich in der Fachsprache andeuten, wenn von „verfassungsrechtlicher Bedenkenträgerei“ in Kollision mit „politischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten“ die Rede ist.54 Vor solchem Hintergrund erscheint dann Governance als neuer Leitbegriff einer Politikwissenschaft, die sich auf Funktionsweisen des Politikprozesses und der Politikfelder konzentriert und Polity-Dimensionen eher der Staatsrechtsdogmatik oder der Sozialphilosophie überlässt. So ist es durchaus charakteristisch, wenn 2007 ein Sonderheft „Die Europäische Union“ mit dem thematisierenden Untertitel „Governance und Policy-Making“ erschien. Gegenüber einer geradezu inflationären Verwendungsbeliebigkeit trägt es dort zur systematischen Klärung bei, die Governance-Perspektive auf Fragehorizonte zu fokussieren, „wie Akteure im kollektiven Handeln mit Institutionen umgehen“. Es handelt sich dann also „nicht primär darum, wie Institutionen Politik lenken“.55 Die über solche akteurszentrierte Politikanalyse ausgeblendete Polity-Dimension wird dann in zunehmend fachtypischer Sprachverkomplizierung als „konstitutionelle Ebene der EU-Meta-Governance“ ausgelagert.56 Hellhörig macht allerdings der Befund, dass in neuer Perspektive gerade „die klassischen Felder negativer Integration, die Binnenmarkt- und Wettbewerbspolitik“, bislang wenig erforscht sind.57 Auch wird in der Zusammenfassung am Ende des Bandes eingeräumt, dass „einerseits Fragen nach den Machtbeziehungen zwischen institutionellen Akteuren im Rahmen europäischer Governance, andererseits Fragen der demokratischen Legitimation europäischer Politik“ dort nicht behandelt wur53 Höppner u.a., Kampf um Souveränität (wie Fn. 32), S. 328 f. (Textteil Stephan Leibfried). 54 Vgl. Zitatbeleg in Fn. 32. 55 Arthur Benz, Entwicklung von Governance im Mehrebenensystem der EU, in: PVS Sonderheft 40/2007, S. 36–57, hier S. 37. 56 Tanja A. Börzel, European Governance – Verhandlungen und Wettbewerb im Schatten der Hierarchie, in: Ebd., S. 61–91, hier S. 81. 57 Susanne K. Schmidt u.a., Jenseits von Implementierung und Compliance – Die Europäisierung der Mitgliedstaaten, in: Ebd., S. 275–296, hier S. 275.

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den.58 Eine von Grundfragen nach Interessen, Macht und Demokratie entkernte Politologie würde sich jedoch mehr auf den Weg zu einer Verwaltungswissenschaft begeben. Sie könnte jedenfalls nicht hinreichend der Perspektive einer Öffnung zu Neuansätzen der Verfassungswissenschaft folgen. In konkret gegenwartsbezogener Analyse werden jedoch punktuell auch ökonomische Globaltrends durchaus überzeugend in Polity-Kontexte gestellt. Wenn sogar von „Markt als konstitutioneller Ordnung“ die Rede ist59, kann zunächst an die in der Tat konstitutive Bedeutung des Steuerstaates für zahlreiche Politics- und Policy-Bereiche erinnert werden. So ergibt sich zur Erklärung der – politische Dispositionsräume begrenzenden – Abwärtsspirale bei der europäischen Unternehmensbesteuerung dieser komplexe Gesamtbefund60: Steuern gelten als wesentlich mit staatskonstituierend und waren daher in der EU nicht mit qualifizierter Mehrheit anzugleichen, setzen dort aber „Markt und Staat unmittelbar in Verbindung“. Somit konnten sich insbesondere kleinere Staaten trotz drastischer Absenkung der Steuersätze dennoch Mehreinnahmen verschaffen. Ohne die sonst hemmenden Abwanderungskosten lassen sich Unternehmensgewinne bilanztechnisch in Niedrigsteuerländer verlagern. Abwehrmaßnahmen gegen diese keinerlei Gemeinnutzen stiftenden Transaktionen untersagte aber der Europäische Gerichtshof unter Hinweis auf Binnenmarktfreiheiten. Das treibt dann geschädigte Staaten zu eigenen Steuersatzsenkungen. Wenn aber zur Begrenzung der Steuerausfälle die Bemessungsgrundlage verbreitert wird, entfallen Möglichkeiten der Steuerung durch Steuern. Dies ist ein wirkungsstarkes Beispiel für die innere Systemdifferenz zwischen fortgeschrittener sog. „negativer Integration“, die einzelstaatliches politisches Handeln entmächtigt, ohne dass sich die EURegulierungsebene bereits dieser Kompetenz auch in „positiver Integration“ bemächtigen konnte.61 Die erfahrene Ohnmacht führt zu Legitimitätseinbußen einzelstaatlicher Demokratien ohne kompensierende Legitimitätszufuhr für die EU-Handlungsebene. Im Gegenteil wurden durch wahrgenommene Auslieferung vormaliger politischer Gestaltungsmöglichkeiten an die anonymen Marktkräfte antieuropäische Stimmungen auch in vormals integrationsfreundlicheren National- und Sozialmilieus provoziert. Das wiederum mindert die Chancen für rasche Schritte positiver Integration zu einer handlungsfähigeren 58 Ingeborg Tömmel, Governance europäischer Politiken – Konvergenzen, Divergenzen und Varianzen im EU-System, in: Ebd., S. 413–423, hier S. 423. 59 Viktor J. Vanberg, Konsumentensouveränität und Bürgersouveränität: Steuerungsideale für Markt und Politik, in: PVS Sonderheft 34/2003, S. 48–65, hier S. 57. 60 Nachfolgendes orientiert an Philipp Genschel u.a., Die Ursachen des europäischen Steuerwettbewerbs, in: PVS Sonderheft 40/2007, S. 297–320 (Zitat S. 316). 61 Höppner u.a. (wie Fn. 32), S. 345 (Textteil Fritz W. Scharpf).

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EU-Polity neuer Prägung, die ggf. nach Mehrheitsprinzip ungewollte Systemwidersprüche beheben könnte. Das letzte noch thematisch einschlägige PVS-Sonderheft mit fast unübertreffbar inhaltsunspezifischem Titel „Governance in einer sich wandelnden Welt“ bringt dennoch einige Bezugspunkte. Schon in der Begriffsgenese wird dargelegt, dass es jenseits punktuell anderer Verwendung wohl die Weltbank gewesen ist, die zuerst strategischen Gebrauch von der Governance-Kategorie machte.62 Das geschah ersichtlich mit der Intention, einerseits den Government-Begriff und damit zu augenfällige Übergriffe in die inneren Angelegenheiten völkerrechtlich souveräner Staaten zu vermeiden, andererseits jedoch Finanzhilfen an Verzicht auf deren Regulationsautonomie zu binden.63 Ein paternalistischer Unterton des Nahebringens von „Good Governance“ ist sicher mit ein Grund, warum sich eine primär empirisch-analytisch darbietende Politikwissenschaft auf ständiger Flucht vor Begriffsnormativismus zeigt. Tatsächlich ist das Weltbank-Regime in Verbindung mit dem IWF wohl das real wirkungsmächtigste Beispiel von internationaler Steuerung jenseits seltener Fälle, wo die UNO mit Billigung des Weltsicherheitsrats ein Mandat zur unmittelbaren Intervention erteilt. Auf Europa bezogen kann es insofern wenig überraschen, dass ein EZB-Regime sich zum wirkungsmächtigen Steuerungszentrum entwickelt. Statt der schlagzeilenträchtig behaupteten 80 % sind es zwar nur etwa 20–30 % der bedeutsameren Regelungen, die auf EU-Ebene getroffen werden.64 Aber neben der EZB in der Geldpolitik ist auch der EuGH in der Wettbewerbspolitik an keine einzelstaatliche Rückkopplung gebunden. In solchem Primat von Marktsteuerung bleibt die EU trotz aller Versuche der gouvernementalen Flankierung und mehr Beteiligung des Europäischen Parlaments in zeitgeschichtlicher Pfadabhängigkeit der ursprünglichen EWG, die aus dem politischen Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft am französischen Parlament erwuchs. Das war in den Ursprüngen teilweise die Parallele zu einem in den USA entworfenen Völkerbund, dem sie aber nach dem Ersten Weltkrieg zunächst wegen isolationistischen Parlamentsvetos nicht beitreten konnten. 62 Vgl. Claus Offe, Governance – „Empty signifier“ oder sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm?, in: PVS Sonderheft 41/2008, S. 61–76, hier S. 66. 63 Vgl. Christoph Möllers, Die Governance-Konstellation. Transnationale Beobachtung durch öffentliches Recht, in: PVS Sonderheft 41/2008, S. 238–256, hier S. 239–247, mit dem Hinweis, „dass die wissenschaftliche Leitdisziplin für den Governance-Diskurs eine weit verstandene Institutionenökonomik sein dürfte“ (S. 244). 64 Vgl. Thomas König/Lars Mäder, Das Regieren jenseits des Nationalstaates und der Mythos einer 80-Prozent-Europäisierung in Deutschland, in: PVS 49,3 (2008), S. 438– 463, hier S. 449.

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Präzisierend in einem diffusen Begriffsfeld könnte ein Vorschlag wirken, dass sich ein Governance-Konzept im öffentlichen Raum „zwischen den Polen kompetitiver Märkte und hierarchischen Äußerungen der Staatsgewalt (sowie drittens der grundrechtlich geschützten Privatsphäre der Bürger) erstreckt“.65 Auch ein „Verdacht der Depolitisierung zeitgenössischer Diskurse über Staatsaufgaben durch die Governance-Semantik“ wird nicht verschwiegen.66 Zumindest ein wie immer auch genauer bemessenes „mittleres“ Niveau staatlicher Interventionskapazität ist als Voraussetzung neuer Regulationsformen unter Beteiligung gesellschaftlicher Akteure benannt. Interessant sind auch Überlegungen, dass ein nicht-hierarchisches Mehrebenensystem sich mit Kollisionsrecht arrangieren sollte: In Einzelfällen führt die fehlende KompetenzKompetenz dann zum Meinungskampf in politischen Arenen um Anerkennung widerstreitender Normenauslegung. Als „meistgenannte Schwäche der Governanceforschung“ wird eingeräumt, dass es ihr „bisher nicht gelungen“ ist, „Fragen der demokratischen Verantwortlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit systematisch einzubinden“. Offenbar in Vorwärtsverteidigung dagegen wird dem Governance-Konzept zuletzt bescheinigt, es umfasse „alle Formen der Handlungskoordination durch verhaltenssteuernde Normen und setzt sich von der rein interessengeleiteten Koordination auf Märkten ab“. Wenn aber derlei Klärungsversuche unmittelbar darauf als „Begriffssophistik“ entwertet werden und die „Bewährungsprobe“ allein in der „Empirie“ liegen soll67, lässt sich ein seltener Hinweis in der PVS zitieren, „dass nichts so praktisch ist wie eine stimmige Theorie“.68 Gegen eine zugestandene „technokratische Schlagseite“ im Governance-Ansatz ist es nämlich überhaupt nicht hilfreich, die Normorientierung bereits allen Regelungen zu bescheinigen, „die mit Verweis auf das Kollektivinteresse der betroffenen Gruppe gerechtfertigt werden“. Wörtlich folgt sodann dieses „extreme Beispiel“ dafür: „Regelungen im nationalsozialistischen Deutschland können als Governance bezeichnet werden. Sie wurden im Namen des deutschen Gemeinwohls erlassen.“69 Zwar meint der Bandherausgeber das sicher nicht bewusst NS-verharmlosend, zumal auch der justizmordende „Volksgerichthof“ seine Urteile „im Namen des 65 Offe, Governance (wie Fn. 62), S. 65. 66 Michael Haus, Governance-Rhetorik und Institutionenpolitik. Politisierung und Depolitisierung in der Konstruktion neuer Praktiken des Regierens, in: PVS Sonderheft 41/2008, S. 95–117, hier S. 114. 67 Michael Zürn, Governance in einer sich wandelnden Welt – eine Zwischenbilanz, in: Ebd., S. 553–580, hier S. 575 u. 562. 68 Michael Haus, Governance-Theorien und Governance-Probleme: Diesseits und jenseits des Steuerungsparadigmas, in: PVS 51,3 (2010), S. 457–479, hier S. 458. 69 Zürn, Governance (wie Fn. 67), S. 560.

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Volkes“ verkündete. Aber die unterschwellig angelegte empiristisch-formalistische Distanzierung von jeglicher materialen Gemeinwohlperspektive kann letztlich in einen bloßen Normenfunktionalismus ohne Normativität münden. Immerhin wird im Fazit des Bandes eine Konsequenz aus der bemängelten „Tendenz“ gezogen, „die Strukturen, Prozesse und Inhalte von Governance nicht ausreichend scharf voneinander zu trennen“. Folglich erscheint dortigem Bandherausgeber es „hilfreich, wenn sich die Governanceforschung die Trias des Politikbegriffs: Polity, Politics und Policies aneignet“.70 Nach fast zwei Jahrzehnten begriffsüberschäumender Hochkonjunktur des GovernanceKonzepts mag solche Rückverweisung auf Elementarkategorien fast schon selbstironisch klingen. Allerdings wäre der spöttische Vergleich mit etwaigem Ratschlag, die Historikerzunft möge sich die Trias Alte, Mittlere und Neue Geschichte und die Juristenzunft die Trias des Staatsbegriffs: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsordnung neu „aneignen“, doch nicht ganz fair. Mainstream-Politikwissenschaft wie z.B. Wahlforschung kann gewöhnlich auf einen dort tautologisch anmutenden Politics-Begriff verzichten, und an expliziten Policy-Studien besteht häufig kein Mangel. Das beklagte Aneignungsdefizit konzentriert sich also tatsächlich nur auf die Polity-Dimension, die sich im Governance-Konzept mit seiner „Entgrenzungs“-Semantik allzu leicht verflüchtigt.71 Jedenfalls im politischen Europa ist das Nicht-Europa immer schon mitgedacht, und auch Mehrebenensysteme kommen nicht ohne Grenzziehungsleistungen der verschiedenen Ebenen aus, um nicht gar zu sehr in „Politikverflechtungsfallen“ zu geraten. Die Verwendungshäufigkeit dieses von Scharpf zur differenzierten Problemanalyse von Mehrebenensystemen geprägten Begriffs der Politikverflechtungsfalle72 ging, noch innerhalb des

70 Ebd., S. 555. Sonst finden sich nur beiläufige Verwendungen wie „Policy-, Politicsund Polity-Dimension der lokalen Politik“ (PVS Sonderheft 22/1991, S. 84) sowie die Themengliederung in die „Institutionen (polity)“, die „politische Beteiligung und Interessendurchsetzung (politics)“ und die „materielle Staatstätigkeit“ (policy)“, so bei Florian Grotz, Direkte Demokratie in Europa: Erträge, Probleme und Perspektiven der vergleichenden Forschung, in: PVS 50,2 (2009), S. 286–305, hier S. 296. 71 Auch der terminologische Soziologismus im Hinweis bei Höppner u.a. (wie Fn. 32) auf „entgrenzte Gesellschaften“ gegenüber der konträr rechtsdogmatischen Sicht, „wie das BVerfG das demokratische Prinzip exklusiv an freie Wahlen ohne Stimmengewichtung bindet“ (S. 352, Textteil Michael Zürn), ruft geradezu nach einem dritten Argumentationsweg spezifisch politikwissenschaftlicher Prägung. 72 Ausgehend von Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle. Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: PVS 26,4 (1985), S. 323–356. Als Beispiel der Verweis auf das europäische „Mehrebenensystem als Politikverflechtung“ bei Michael Kreile, Einleitung, in: PVS Sonderheft 23/1992, S. VII–XIX, hier S. XI.

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Steuerungsparadigmas73, übrigens ersichtlich den späteren Konjunkturen der Governance-Terminologie voraus. Als interdisziplinärer Anknüpfungspunkt fruchtbar erscheinen politiktheoretische Neuansätze zum Verständnis des Schlüsselbegriffs der Repräsentation. Diese nicht allein im Sinne von Vertretung, sondern „als Beziehung“ zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten zu begreifen, „öffnet damit einen Raum des optionalen Handelns“ als „ein umkämpfter, Demokratie erst ermöglichender Bereich“. Diese Herangehensweise begründet Skepsis gegenüber solchen Vorstellungen „einer transnationalen Demokratie“, die „,Netzwerke‘ beratender Arenen und Gremien“ als Repräsentationsersatz bemüht. Denn solche „Informalisierung der Macht“ fördere „die soziale Selektivität einer ... gerade nicht durch Gleichheit der Stimmen charakterisierten Beeinflussung der politisch Verantwortlichen.“74 Wenn mit den „Versuchen, eine Art post-parlamentarischer Struktur der Euro-Polity zu beschreiben“75, im erwähnten Sinne gemeint ist: es sei für supranationale Politikformen ausreichend, dass in Bereichsöffentlichkeiten und in Anhörungsgremien den Entscheidungsträgern eine Diskussionspartnerschaft erwächst, wäre das wohl eher als eine postdemokratische Sicht einzustufen, die unverzichtbare demokratische Repräsentationsbeziehungen zerreißt. Zudem wird in der Tendenz zur Auslagerung genuin öffentlicher Zuständigkeiten die „Gewaltenteilungsnorm unweigerlich gesprengt. Im kooperierenden Staat, der seine Tätigkeiten und Zuständigkeiten zur Gesellschaft hin schrittweise entgrenzt, wird ein Kernelement der Polity somit faktisch zur Disposition gestellt.“76 Konzeptionell anders zu beurteilen sind ebenfalls diskutierte assoziationsdemokratische Konzepte der Öffnung neuer Handlungsoptionen, die intermediäre Koppelung der Repräsentationsbeziehungen fördern wollen.77 Polity-Forschung zielt ohnehin nicht auf Relationen zwischen Repräsentanten und Individualpersonen – das wäre dann eher die wenig fruchtbare Privatrechtsanalogie zum anwaltschaftlichen Mandat. Die politische Repräsentation von Kollektivpersonen, die Individualpersonen also in diversen 73 Vgl. Renate Mayntz, Von der Steuerungstheorie zur Global Governance, in: PVS Sonderheft 41/2008, S. 43–60. 74 Winfried Thaa, Kritik und Neubewertung politischer Repräsentation: vom Hindernis zur Möglichkeitsbedingung politischer Freiheit, in: PVS 49,4 (2010), S. 618–640, hier S. 628, 632, 630, 623 u. 637. 75 Rainer Schmalz-Bruns, Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen: Demokratie im integrierten Europa?, in: PVS Sonderheft 29/1998, S. 369–380, hier S. 373. 76 Everhard Holtmann, Dynamische Gewaltenteilung – ein „vergessenes“ Thema der Politikwissenschaft, in: PVS 45,3 (2004), S. 311–320, hier S. 316. 77 Vgl. Joshua Cohen/Joel Rogers, Solidarity, Democracy, Association, in: PVS Sonderheft 25/1994, S. 136–159.

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assoziativen Relationen einbeziehend, hat im Kern schon die klassische pluralismustheoretische Erweiterung des Staatsverständnisses thematisiert, bevor neopluralistische Rückbildungen manche Verwechslung mit der Allgegenwart von Lobbyinteressen begünstigte. Eine geeignete „Funktionsdifferenzierung zwischen den Arenen der gouvernementalen, der parlamentarischen und der assoziativen Repräsentation“78 könnte für die EU-Polity durchaus Sinn machen, wenn in Ergänzung des vertikalen Mehrebenensystems für diese horizontale Verkoppelung ein praktikables institutionelles Design gelingt.

4. Fazit und Ausblick Um zuletzt auch über den Zeitraum der Bestandsaufnahme 1991–2010 hinauszugreifen: Es deutet sich danach wiederum eine gewisse Akzentverschiebung im Fachprofil an, für deren Qualifizierung oder gar Quantifizierung es aber jenseits punktueller Hinweise noch zu früh sein dürfte. Eine pointierte Formulierung zu möglichem Trendwechsel lautet: „Das rasante ‚Comeback‘ von ‚Vater Staat‘ im Zuge der internationalen Finanzkrise könnte dann als Indiz für den Niedergang von Governance und als ‚Rückkehr des Staates‘ interpretiert werden.“79 Noch weniger erfreulich als die nachträgliche Feststellung mancher Horizontverengungen ist die empirisch nachweisbare Unfähigkeit auch der interdisziplinär untersuchten Fachwelt, künftige Entwicklungen richtig vorauszusehen: „Die durchschnittliche Prognosefähigkeit der Expertenschaft ist nicht besser als die von mit Wurfpfeilen versehenen Schimpansen.“80 Wenn gegenüber der „Hinwendung der Politikwissenschaft zu Policy-Fragen“ in den 1980er Jahren inzwischen zu konstatieren sei: „Die Polity- und Politics-Dimensionen der Politikwissenschaft sind längst zurückgekehrt“, so ist dies mit der perspektivischen Empfehlung „Aufbruch zur Legitimitätswissenschaft“ versehen: „Nur die Politikwissenschaft scheint das konzeptionelle Handwerkszeug zu haben, um Legitimationsprozesse empirisch sowohl auf der Einstellungsebene, auf der Ebene von diskursiven Legitimationsprozessen 78 Arthur Benz, Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiekonzept, in: PVS Sonderheft 29/1998, S. 345–368, hier S. 358. 79 Edgar Grande, Governance-Forschung in der Governance-Falle? – Eine kritische Bestandsaufnahme, in: PVS 53,4 (2012), S. 565–592, hier S. 569, mit dem zusätzlichen Problem, dass „Governance-Forschung“ bislang „keinen theoretischen Kern“ ausgebildet habe (S. 579), vielmehr sich mit einem von der Policy-Analyse übernommenen „Problemlösungsbias“ behelfe (S. 584). 80 Michael Zürn, Perspektiven des demokratischen Regierens und die Rolle der Politikwissenschaft im 21. Jahrhundert, in: PVS 52,4 (2011), S. 603–635, hier S. 605.

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als auch auf der institutionellen Ebene analysieren und sie zugleich normativ an Grundfragen der politischen Theorie rückbinden zu können.“81 So wie es offenbar wieder bedeutsamer wird, dem Fach über Einzelforschung hinaus Gesamtprofile zu geben, kommen zuletzt auch übergreifend formulierte Themen wie „Die Zukunft Europas zwischen Demokratie und Kapitalismus“ im Rückgriff auf die Habermas-Streeck-Kontroverse um die Krise im EU- bzw. Euro-Raum mit ins Blickfeld. Dabei wird die vorherrschend gewordene „Regierungsweise“ im Sinne der „Gouvernementalität“ als bereits im ursprünglichen „ordoliberalen“ Konzept angelegt kritisch beleuchtet, um letztlich „eine gefährliche Tugend der Demokratie wiederzuentdecken: Sie verspricht ihren Bürger_innen keine Sicherheit, sondern Selbstbestimmung.“82 Derlei normative Überschüsse bleiben freilich im Spannungsverhältnis zu empirischen Befunden, dass gerade die partizipationsgetragenen und damit stärker konfliktbeladenen Institutionen an Zustimmung in der (politikfernen) Bevölkerungsmehrheit eingebüßt haben, während das nicht für Entscheidungsorgane wie das BVerfG gilt, die sich nach Einsetzung nicht annähernd gleichermaßen für ihre Handlungen zu verantworten haben.83 Aus der binnenmarktorientierte Akzente ergänzenden beispielhaften EuGH-„Rechtsprechung zu den sozialen Rechten Nichterwerbstätiger“ wird überdies nun optimistischer auf Chancen zu einem „Staatsprojekt Europa“ verwiesen.84 Betont kritische Titelschöpfungen wie „Das erste Opfer der Krise ist die Demokratie“85 bringen neuerdings sogar Politikfeldanalysen auf jene Polity-Systemebene, die ein weiterer Titel mit dem „postdemokratischen europäischen Mehrebenensystem“ nicht minder kritisch thematisiert.86 Sofern Postdemokratie-Thesen auf nationaler Ebene als 81 Ebd., S. 629. 82 Thomas Biebricher/Frieder Vogelmann, Die Zukunft zwischen Demokratie und Kapitalismus, in: PVS 55,1 (2014), S. 1–17, hier S. 8, 10 u. 14. Teilweise ähnlich schon bei Thomas Lemke, Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologie. Ein kritischer Überblick über die governmentality studies, in: PVS 41,1 (2000), S. 31–47, mit dem Inhalt, „das neoliberale Programm des ‚Rückzugs des Staates‘ als eine Regulierungstechnik zu dechiffrieren“ (S. 39). 83 Vgl. Zürn, Perspektiven (wie Fn. 67), S. 613. 84 Sonja Buckel, Staatsprojekt Europa, in: PVS 52,4 (2011), S. 636–662, hier S. 658. Wegen dabei lediglich individualrechtlicher Fundierung urteilt skeptischer: Fritz W. Scharpf, Individualrechte gegen nationale Solidarität, in: Martin Höppner/Armin Schäfer (Hg.), Die Politische Ökonomie der europäischen Integration, Frankfurt a.M. 2008, S. 89–99, hier S. 94. 85 Henrik Enderlein, Das erste Opfer der Krise ist die Demokratie. Wirtschaftspolitik und ihre Legitimation in der Finanzmarktkrise 2008–2013, in: PVS 54,4 (2013), S. 714–739. 86 Michèle Knodt, Semi-permeable Verwaltung im postdemokratischen europäischen Mehrebenensystem, in: PVS 54,3 (2013), S. 534–557. – Mit dem PVS Sonderheft 47/2013 ist der Ergänzungsbereich zur Postdemokratie-Debatte ein Sammelband „Autokratien

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richtig unterstellt werden, könnte dann ein sonst eher als frühdemokratische Entwicklungsstufe anmutendes europäisches Parlamentarisierungsniveau wesentlich auch Kulisse intergouvernementaler Elitendominanz unter Vorspiegelung einer technokratischen „Politik des Unpolitischen“87 sein. Um von fachspezifischen Gegenwartsfragen zu auch historisierbaren methodischen Aspekten überzuleiten: Polity-Forschung im Sinne „verfasster Politik“ ist wohl auch eine geeignete Brückenkategorie von der Politikwissenschaft zur Staatsrechtslehre und Verfassungsgeschichte. Insofern öffnet die einzelwissenschaftliche Defizitanalyse zugleich eine interdisziplinäre Perspektive. Die Politikwissenschaft ist offenbar mit einem Kernbereich von Politics und dem praxis- und beratungsrelevanten Ergänzungsbereich der Politikfeldanalysen ohnehin gut ausgelastet. Dort werden rechtswissenschaftliche und – seltener – historische Erkenntnisse punktuell berücksichtigt. Ein doppelter interdisziplinärer Brückenschlag gelingt aber fast niemals. Dies hat wesentlich fachmethodische Gründe, um noch einmal die Unterscheidung von systemanalytischen und typologischen Herangehensweisen aufzugreifen: Das politisch-administrative System und das Rechtssystem einer Gesellschaft stehen in so enger Verbindung, dass es mit der Verwaltungswissenschaft sogar eine Brückendisziplin gibt. Aber ein System der Geschichte haben immer nur spekulative geschichtsphilosophische Entwürfe zu thematisieren gewagt. Hingegen ist Strukturgeschichte in analytischer Ergänzung der schlichten Empirie von Ereignisgeschichte ein gut eingeführter Begriff. Wenn es die „Neue Politikgeschichte“88 jenseits verdienstvoller Ansätze bereits umfassender gäbe, würde sich über strukturanalytisch-typologisch vergleichende Konzepte sinnvolle Kooperation entfalten können, falls sich dann noch historisch-komparatistisch interessierte Politologie findet. Auch der Blick auf Rechtsstrukturen und Rechtstypologien sollte methodisch Sinn machen können, so dass insgesamt der strukturanalytisch-typologische Zuschnitt einer Verfassungswissenschaft möglich erscheint, die geeignete Ansätze aus der Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaft zusammenführt. Der ohnehin nicht gerade PVS-typische Anteil kulturwissenschaftlicher Neubesinnung der Politikwissenschaft kann hier nur knapp berücksichtigt im Vergleich“, wo EU-Bezug nur bei Weltvergleichsdaten entsteht; so betrug auf dort letzterfasstem Stand 2005 z.B. der Frauenanteil in den nationalen Parlamenten nicht unerwartet in Saudi-Arabien 0 %, hingegen in Schweden nahe 50 %, gefolgt von Finnland und Dänemark nahe 40 % (S. 455). 87 Roland Sturm, Die Entdeckung einer Politik des Unpolitischen. Zur Institutionalisierung der „List der Vernunft“ in der Fiskalpolitik, in: PVS 54,3 (2013), S. 403–414. 88 Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M. 2005.

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werden.89 Dabei ist ohnehin auf den Beitrag von Hans Vorländer zu verweisen, der u.a. mit dem Stichwort „Verfassung als symbolische Ordnung“ den Ansatz zu einer „kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie“ wesentlich mit auf den Weg brachte.90 Indem „politische Kultur den Charakter einer Symbolisierungs-Institution“ hat, bildet sie eine öffentliche Arena für den „Kampf um Deutungsmacht“.91 Wenn die Polity im formellen und informellen Doppelsinn gleichermaßen Ordnungs- und Orientierungs-Dimensionen umfasst, gilt ohnehin konstitutiv: „Steuerungsleistungen in politischen Räumen sind stets auf symbolische Verdichtungen angewiesen.“92 Das in einem PVS-Sonderheft thematisierte Verhältnis von „Politik und Religion“ wird man über die politische Kultur einbeziehen können, während die Beziehungen von Staat und Kirche auch formelle Polity-Aspekte berühren: Wenn Skandinavien durch ausgeprägtes lutheranisches Staatskirchentum auffällt93, liegt im Zuge des gleichwohl deutlichen Säkularisierungsprozesses die Frage nahe, inwieweit ein Zusammenhang nicht allein mit dem Neokorporatismus, sondern darüber hinaus mit der insgesamt eher kommunitarisch als individualistisch geprägten politischen Kultur dieser stärker egalitär-demokratischen Gesellschaften besteht.94

5. Nachbemerkung zum PVS-Kern der Textbasis In zweierlei Hinsicht muss die Vorgehensweise dieser Sichtung zum politikwissenschaftlichen state of the art zweier Jahrzehnte wesentlich anhand 89 Zum Stichwort: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Probleme, Wiesbaden 2004. 90 Hans Vorländer, Die Verfassung als symbolische Ordnung. Perspektiven einer kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie, in: PVS Sonderheft 36/2006, S. 229–249. Zum soziologischen Hintergrund: Karl-Siegbert Rehberg, Symbolische Ordnungen. Beiträge zu einer soziologischen Theorie der Institutionen, Hg. Hans Vorländer, Baden-Baden 2014. 91 Dietmar Schirmer, Die Kategorie Geschlecht als kultureller Code. Über Exklusion, Inklusion und Demokratisierung, in: PVS Sonderheft 28/1997, S. 194–219, hier S. 199 (unter Bezug auf den vor dem Betrachtungszeitraum liegenden Text von Karl Rohe im PVS Sonderheft 18/1987, S. 39–48). 92 Gerhard Göhler u.a., Steuerung jenseits der Hierarchie. Wie diskursive Praktiken, Argumente und Symbole steuern können, in: PVS 51,4 (2010), S. 691–720, hier S. 699. 93 Vgl. Michael Minkenberg, Staat und Kirche in westlichen Demokratien, in: PVS Sonderheft 33/2002, S. 115–138, hier S. 123. 94 Vgl. Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938, Köln 2013.

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eines repräsentativen Fachorgans95 kurz ausgewiesen werden. Zum einen gibt der eindeutige Befund zum Leseverhalten die Richtschnur für die Auswahl: Wenn gut 94 % der auskunftswilligen DVPW-Mitglieder in „ihrer“ Zeitschrift jeweils „nur einige Beiträge“ und zu gut 90 % selektiert nach „Themengebiet“ lesen96, folgt es solchem typischen Nutzungsverhalten schlüssig, die Auswahl für diesen Beitrag nach etwaiger Polity-Relevanz ganz ähnlich im Blick auf Titel und Abstract und im kurzen Hineinlesen bereits getroffen zu haben. Zum anderen wurden von den verbliebenen, komplett gelesenen Fachaufsätzen letztlich doch insoweit nicht ergiebige aussortiert und der Rest nach einschlägigen Bezugsstellen exzerpiert, so dass in den Dateien dann auch mit Suchworten agiert werden konnte. Da aber mit Ausnahme der Verfügbarkeit thematisch relevanter Texte in den beiden Dekaden bis zur und nach der Jahrtausendwende keine primär quantitativen Untersuchungsziele verfolgt wurden, ist mit den Suchergebnissen dann qualifizierend verfahren worden. So wurde z.B. gelegentlich unspezifische oder untypische Verwendung des Wortes polity nicht weiter beachtet, zumal es hier um systematische Interessen hinsichtlich von Analysen zum „Konstitutionalismus in Europa“ und nicht zugleich um eine Studie zur politikwissenschaftlichen Fachterminologie geht. In komprimierter Form sei nun die letztlich mit berücksichtigte, wenn auch schon aus Umfangsgründen nicht jeweils im Detail auch zitierte Textbasis nach Jahrgangs-/Heft-Nummer (in Klammern) und erster Seite bei der PVS97 (bzw. nur Bandnummer/Jahr bei den Sonderheften98) so gelistet, dass Band-/ Heftnummer durch Semikolon, Aufsätze durch Komma getrennt sind. 95 Selbstverständlich enthält dies kein Werturteil über andere politikwissenschaftliche Fachzeitschriften; ganz im Gegenteil wäre es wünschenswert, diese von anderer Seite einmal vergleichend mit zu betrachten. 96 Thorsten Faas/Rüdiger Schmitt-Beck, Die Politische Vierteljahresschrift im Urteil der Profession: Ergebnisse einer Umfrage unter den Mitgliedern der DVPW, in: PVS 50,3 (2009), S. 627–645, hier S. 631. 97 (32,4) 621, 635; (33,1) 33; (34,4) 588; (36,1) 49; (36,2) 197; (37,1) 5, 27; (37,3) 494, 537; (38,2) 318; (38,3) 530; (39,1) 55, 80; (39,2) 235, 301; (39,3) 558; (40,1) 3, 116; (40,3) 365, 390, 415; (41,1) 3, 31; (41,2) 225; (41,4) 623, 730; (42,2) 173, 193; (42,3) 474; (42,4) 590; (43,2) 211, 235, 272; (43,4) 606; (44,1) 66; (44,4) 453; (45,3) 311; (45,4) 519; (46,1) 110; (46,2) 195, 204, 215, 288; (46,3) 406; (46,4) 575; (47,2) 219, 242, 252, 264; (48,1) 3, 17, 28; (48,2) 243; (48,3) 413, 511; (48,4) 680, 705, 730, 740; (49,2) 251; (49,3) 438; (49,4) 618; (50,1) 3; (50,2) 286; (50,3) 408, 433; (51,2) 323; (51,3) 457, 507; (51,4) 691. 98 22/1991; 23/1992; 25/1994; 26/1995; 28/1997; 29/1998; 30/1999; 32/2001; 33/2002; 34/2003; 36/2006; 40/2007; 41/2008. Zumal sämtliche gelisteten Sonderhefte in den Fußnoten auch mit Textbezügen vertreten sind, was mit den viermal zahlreicheren PVSEinzelheften so nicht möglich ist, machen hier weitere Hervorhebungen weniger Sinn.

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Um nicht mit auswertungstechnischen Erläuterungen abzuschließen, sei noch eine geeignete Vergleichsperspektive hinzugefügt. Bei Sichtung der Jahrgänge 2001 bis 2010 der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP), passend zu der zweiten hier betrachteten Dekade der PVS-Inhalte, ergeben sich zumindest drei Unterschiede: Die ÖZP wurde erstens ausweislich der Beitragstitel weniger als die PVS von der Governance-Debatte erfasst. Lediglich zwei Aufsätze in gleichfalls 40 Einzelheften mit weit über 200 Beiträgen weisen solchen Titelbezug auf: Einmal wird „EU Governance“ in einem englischsprachigen Beitrag thematisiert, wo dieser Begriff ohnehin mehr Sprachplausibilität entfaltet.99 Auch der zweite „Governance“ im Titel führende Aufsatz (ein deutscher Import) befasst sich mit EU-Politiken. Damit wird der PVS-Befund bestätigt, dass die EU als ein zentrales Anwendungsfeld des Governance-Ansatzes gelten darf. Wenn in jenem ÖZP-Text betont wird: es „sensibilisiert das Konzept des Polity-Shapings für die institutionelle Dimension des externen Regierens“100, so unterstreicht dies auch die EU-Bezüglichkeit der (seltenen) Verwendung des Polity-Kategorie. Die ÖZP kennzeichnet zweitens eine mehr als marginale Einbeziehung feministischer Erweiterung der Politikwissenschaft. Dies findet umgekehrt die Bestätigung darin, dass auch ein singuläres PVS-Sonderheft über „Geschlechterverhältnisse“ von zwei Wiener Fachvertreterinnen herausgegeben wurde.101 Überdies entsteht auch sonst drittens bei dem – über die Rezeption entscheidenden – Blick auf die Beitragstitel und Abstracts der Gesamteindruck: dass die ÖZP bei aller Fachbezogenheit mehr als die PVS den stärker Politics- als Policies-orientierten Anschluss an Diskussionen und Engagement im öffentlichen Leben zu halten versucht hat – bei ähnlichen Grenzen in der Polity-Forschung. Wenn erwähnte Anzeichen aus den PVS-Jahrgängen nach 2010 nicht trügen, könnte sich die andere Entwicklung der PVS seit der Epochenzäsur von 1990 als disziplingeschichtlich erklärungsbedürftiges Phänomen erwiesen haben.

99 Vgl. Thomas Paster, The New Modes of EU Governance: Combining Rationalism and Constructivism in Explaining Volutarist Policy Coordination in the EU, in: ÖZP 2/2005, S. 147–161. 100 Daniel Göler/Kristina Kurze, Die EU als transnationaler Polity-Shaper – über die Schaffung sektoraler Governance-Strukturen am Beispiel der Energiegemeinschaft, in: ÖZP 4/2009, S. 423–436 (Zitat S. 426). 101 Vgl. oben Fn. 42.

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Strukturen als Ordnungsmodell in der Verfassungsgeschichte* Das Thema „Struktur“ ist in der Verfassungsgeschichtsschreibung keineswegs neu. Im Vergleich zur kulturgeschichtlich ausgerichteten Verfassungsgeschichte wirkt es ganz im Gegenteil eher altbacken und wissenschaftsgeschichtlich längst überholt. Denn seit mehr als einem Jahrzehnt steht die Geschichtswissenschaft unter dem Primat des „cultural turn“1, und auch die Verfassungshistoriker behandeln in den letzten Jahren verstärkt Fragen der Verfassungskultur.2 Wenn eine strukturbezogene Verfassungsgeschichte hier erörtert werden soll, dann jedoch nicht allein in wissenschaftshistorischer Perspektive. Diese ist zweifellos ein wichtiger Teil der Fachgeschichte. Aber es soll auch gefragt werden, ob überhaupt strukturbezogene Aspekte in der Verfassungsgeschichte heute noch lohnend sind und welche Aufgaben diesen im Kontext einer allgemeinen Verfassungsgeschichte zukommen können. Bevor nachfolgend die strukturbezogene Verfassungsgeschichte in ihrer Entwicklung und in ihren Perspektiven behandelt werden soll, ist zunächst zu untersuchen, was Historiker und Verfassungshistoriker eigentlich meinen, wenn sie von Struktur reden.3 Und was bewegt die benachbarten Geistesund Gesellschaftswissenschaften, wenn sie sich mit Strukturen beschäftigen? Es ist zu fragen, seit wann Strukturen in der Verfassungsgeschichte betrachtet werden und ob in der Vergangenheit Konjunkturen einer strukturbezogenen Verfassungsgeschichte festzustellen sind. In diesem Zusammenhang wird zu klären sein, wie sich der Strukturbegriff im Kontext der Verfassungsge* Für Kritik und Anregungen danke ich sehr herzlich Edgar Liebmann (Hagen) und Ulrich Sieg (Marburg). 1 Achim Landwehr, Kulturgeschichte, Stuttgart 2009; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien–Praxis–Schlüsselwörter, 5. Aufl. Frankfurt a.M. 2006. 2 Wolfgang Reinhard, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Grundlagen europäischer politischer Kulturen, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 115–131; ders., „Staat machen“. Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1998, S. 99–118; Arthur Schlegelmilch u.a. (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005. 3 Knapper Abriss: Thomas Welskopp, Strukturgeschichte, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 270–273.

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schichtsschreibung gewandelt hat. Und schließlich muss angesprochen werden, wie es heute um eine strukturbezogene Verfassungsgeschichte steht und was sie zu leisten vermag. Ist sie noch zeitgemäß und hat sie eine Zukunft?

1. Definition von Struktur Das Wort „Struktur“ findet seit dem 19. Jahrhundert in verschiedenen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften Verwendung. Es tritt uns in philosophischen, theologischen und germanistischen Lexika entgegen und wird zudem in den Bereichen Recht, Wirtschaft, Psychologie, Ethnologie sowie in der Linguistik verwendet.4 In Politiklexika taucht „Struktur“ vorwiegend als Kompositum auf; es ist von Strukturanpassung, Strukturpolitik, Strukturwandel bei Beziehungen, Ordnungen und Ebenen die Rede.5 In der Soziologie ist mit dem Begriff „Sozialstruktur“ der Aufbau einer Gesellschaft aus Bevölkerungsgruppen gemeint, die nach Merkmalen vertikaler und horizontaler sozialer Ungleichheit unterschieden werden. Damit werden Termini wie Klasse, Milieu, sozialer Wandel oder soziale Mobilität verbunden. Der Begriff bezieht sich bevorzugt auf Geschichte, sobald es um die Veränderungen und die Dynamik der sozialen Strukturen geht.6 In der Geschichtswissenschaft ist mit „Struktur“ ein gesellschaftliches System in seiner historischen bzw. chronologischen Entwicklung, seinen einzelnen Elementen sowie deren sozialen Beziehungen zueinander gemeint. Strukturgeschichte ist kein Teilbereich, sondern eine Methode für alle Gebiete der Geschichte. Es handelt sich um einen Aspekt oder eine Perspektive auf das historische Geschehen im Rahmen einer überindividuellen Betrachtungsweise. Strukturbezogene Analysen arbeiten mit eigenen Methoden und repräsentieren einen spezifischen Zugriff auf die Geschichte unter speziellen Fragestellungen. Auf der begriffsgeschichtlichen Ebene gibt es ältere Bezeichnungen, die mit dem Wort „Struktur“ zum Teil synonym verwendet wurden oder werden. Zu nennen wären die Begriffe Ordnung, Organismus, Organisation, System, Zusammenhang, Gefüge, Gebilde oder Zustand.7

4 Siehe dazu mit Beiträgen aus diversen Fächern: Hans Naumann (Hg.), Der moderne Strukturbegriff. Materialien zu seiner Entwicklung, Darmstadt 1973. 5 Klaus Schubert/Martina Klein (Hg.), Das Politiklexikon, 3. Aufl. Bonn 2003, S. 285; Dieter Nohlen (Hg.), Lexikon der Politik, München 2001, S. 501 f. 6 Bernhard Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, 6. Aufl. Opladen 2000, S. 232– 234 (Milieu), S. 427–432 (Wandel, sozialer). 7 Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, 2. Aufl. München 1972, S. 101.

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Was kennzeichnet eine historische Struktur im Speziellen? Nach der Definition von Karl-Georg Faber sind dies folgende Merkmale: die Wiederholung von Konfigurationen, das Vorhandensein von Mustern oder eines sogenannten Simultantypus, eines Gebildes ähnlicher Art, funktionale und gefestigte Beziehungen der Elemente untereinander, ein Spannungsfeld, eine Interdependenz.8 Ernst Pitz zufolge ist in den verschiedenen Beziehungen keine Kausalität notwendig9, aber es existieren möglicherweise Wirkungszusammenhänge.10 Strukturen bestehen aus historischen Elementen, die aufeinander bezogen sind und Veränderungen nach sich ziehen, die man oft als Systemzwänge bezeichnet. Mit dem Begriff „Struktur“ ist tendenziell das Statische, nicht das Dynamische in der Geschichte gemeint. In der französischen Geschichtsschreibung der „Annales“-Schule herrschte schon früh eine Sensibilität für eine Geschichte jenseits der Personen und Ereignisse. Hier ist von langfristigen oder dauerhaften Strukturen, der sogenannten longue durée, die Rede, die den kurzfristig wirkenden Ereignissen gegenüberstehen. Fernand Braudel prägte 1949 erstmals den Begriff der „histoire de structures“, der Strukturgeschichte.11 Strukturen können nach Ansicht der „Annales“-Historiker offen und veränderlich sein, aber dieser Wandel vollzieht sich in einem viel langsameren Prozess als bei den Ereignissen. Nach Faber gibt es keine feste Relation zwischen Struktur und Zeit. Ebenso existiert kein absoluter Gegensatz zwischen Struktur und Ereignis, zwischen generalisierender und individualisierender Geschichte, sondern beide bewältigen auf je eigene Weise die geschichtliche Wirklichkeit.12 Folgt man dem Philosophen Jean-Paul Sartre, so steht die Ordnung der Strukturen im Kontrast zur Unordnung der Geschichte.13

2. Strukturen als Thema der Verfassungshistoriographie Da der Begriff „Struktur“ erst im 19. Jahrhundert im heutigen Sinne auftritt, muss man auf der Suche nach früheren Ansätzen in der Verfassungsge8 Ebd., S. 102 f. 9 Ernst Pitz, Geschichtliche Strukturen. Betrachtungen zur angeblichen Grundlagenkrise der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 198 (1964), S. 265–305, hier S. 287 f. u. 291 f. 10 Werner Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln 1957, S. 19. 11 Fernand Braudel, La Méditerranée et le Monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 1949. 12 Faber, Theorie, S. 108. 13 Vgl. Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus. Mode, Methode, Ideologie, Reinbek 1969, S. 210.

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schichtsschreibung, Strukturen zu analysieren, eher zurückhaltend verfahren. Sind die Aggregatzustände der Völker, die August Ludwig von Schlözer 1772 in seiner „Weltgeschichte“ untersuchte, nicht auch als Strukturen in seinem System der Universalhistorie aufzufassen?14 Spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Anfänge einer strukturbezogenen Verfassungsgeschichte konkreter und die Belege dichter. Allerdings ist es in der als Fach entstehenden Geschichtswissenschaft noch weitgehend unüblich, den Begriff „Struktur“ zu verwenden. Vielmehr unterscheidet man die Dynamik der Ereignisse von der Statik sogenannter Zustände. So konstatierte Johann Gustav Droysen in seiner „Historik“ 1868 ein „rastloses Streben [des historischen Geschehens] nach Zuständlichkeit“, d.h. „danach, sich in möglichst feste, bindende Formen umzusetzen“.15 Im Gegensatz zu dieser Zeittendenz bezeichneten Droysen und sein Historikerkollege Max Duncker die Geschichtsschreibung über die inneren Zustände Preußens 1874 als ein bis dahin „todtes Feld“.16 Das Interesse der Historiker änderte sich jedoch, denn seit den 1880er Jahren entwickelte sich in der preußischen Historiographie eine Art ‚Staats-Strukturgeschichte‘. Die ‚strukturgeschichtliche‘ Themen behandelnden Historiker interessierten sich besonders für die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Historiker und historisch arbeitende Juristen erforschten Beamtentum, Bauernbefreiung, zudem auch Wirtschafts- oder Bevölkerungsgeschichte.17 Als zentrale Schaltstelle in diesem Bereich kann Gustav Schmoller gelten, der die Preußenforschung reorganisierte und seit den neunziger Jahren im „Kombinats-Format“ betrieb.18 Im Antrag der Königlichen Akademie der Wissen14 Ursula A. J. Becher, August Ludwig von Schlözer, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 7, Göttingen 1980, S. 7–23, hier S. 14. Vgl. auch Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809), Münster 2003. 15 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, Hg. Rudolf Hübner, 5. Aufl. München 1967, S. 242. Siehe dazu Faber, Theorie, S. 100 ff. 16 Zit. nach Wolfgang Neugebauer, Zum schwierigen Verhältnis von Geschichts-, Staatsund Wirtschaftswissenschaften am Beispiel der Acta Borussica, in: Jürgen Kocka (Hg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, S. 235–275, hier S. 239. 17 Dazu im Einzelnen Wolfgang Neugebauer, Die Anfänge strukturgeschichtlicher Erforschung der preußischen Historie, in: Ders./Ralf Pröve (Hg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700–1918, Berlin 1998, S. 383–429, hier S. 394–412. 18 Ders., Das Ende der alten Acta Borussica, in: Rüdiger vom Bruch/Eckart Henning (Hg.), Wissenschaftsfördernde Institutionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 40–56, hier S. 43.

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schaften beim preußischen Kultusministerium für die „Acta Borussica“, die Edition älterer preußischer Verwaltungsquellen, konstatierten Schmoller, Heinrich von Sybel und Max Lehmann, dass man die „Ursachen der Staatenbildung, ihrer Blüthe und ihres Untergangs ... vor allem auch in den inneren Kräften und Institutionen zu suchen“ habe. Deshalb gelte es, „die inneren Zustände, die Verwaltungs- und Verfassungsverhältnisse auf[zu]hellen“.19 Gemeint waren mit den „Zuständen“ nichts anderes als die Verfassungsstrukturen. Aber nicht nur die preußische Historiographie beschäftigte sich um die Jahrhundertwende mit den Strukturen in der Verfassungsgeschichte. Auch der Leipziger Ordinarius Karl Lamprecht plädierte in seiner „Deutsche[n] Geschichte“ für eine Erforschung der Strukturen und der Prozesse, vor allem auch der sozialpsychologischen Urgründe und Gesetzmäßigkeiten.20 Es sei an der Zeit, so formulierte er programmatisch, die Totalität sozialer, wirtschaftlicher, politischer und geistiger Zustände in der Geschichte zu erfassen. Der Begriff „Struktur“ hatte um 1900 als Wissenschaftsterminus Konjunktur, so wurde er z.B. in der Psychologie zur Erklärung psychischer Zusammenhänge benutzt.21 Auch der Wissenschaftstheoretiker Wilhelm Dilthey sprach in seinem Buch über den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ von der Struktur eines Werkes, von psychischen Strukturen oder der Struktur der Geisteswissenschaften.22

3. „Strukturgeschichte“ bei Otto Hintze Unter den Historikern interessierte sich um 1900 vor allem Otto Hintze für Strukturen. Der Berliner Schmoller-Schüler war strukturgeschichtlichen Fra19 Antrag der Akademie der Wissenschaften an das Ministerium vom 21.4.1887, gedruckt in: Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. v. der Königlichen Akademie der Wissenschaften. [Abt. 2:] Die einzelnen Gebiete der Verwaltung. [Tl. 4:] Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen, 3 Bde., Bearb. Gustav Schmoller/Otto Hintze, Berlin 1892, S. V–XIV, hier S. VI. 20 Schlüsselhaft: Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte. Bd. 4,1: Urzeit und Mittelalter. Zeitalter des symbolischen, typischen und konventionellen Seelenlebens, 5. Aufl. Berlin 1921 [zuerst 1891], S. 133 f. 21 Manfred Riedel, System, Struktur, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 285–322, hier S. 318–322. 22 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, eingel. von Manfred Riedel, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1974 [zuerst 1910].

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gestellungen bereits bei seiner Mitarbeit an den Acta Borussica-Bänden ausgiebig nachgegangen. In seinen verfassungshistorischen Untersuchungen seit den 1890er Jahren konstatierte er neben der Dynamik in der Geschichte, dass sich historische Prozesse auch in staatlichen Strukturen und Institutionen niederschlugen und verfestigten. Es gehöre zur Aufgabe des Verfassungshistorikers, diese historisch geronnenen Formen zu analysieren sowie die äußeren Zustände und die inneren Verhältnisse von Staaten in ihrer Interdependenz zu untersuchen.23 Als analytische Methode zur Interpretation der Strukturen zog Hintze insbesondere den historischen Vergleich heran. Methodisch berief er sich bei diesem Vorgehen vor allem auf Max Weber.24 Hintzes methodologische Bemerkungen überbrücken die wissenschaftsgeschichtliche Zäsur des Ersten Weltkriegs. Denn Hintze knüpfte in der Weimarer Zeit an seine Forschungen und seine methodischen Überlegungen aus den Jahren vor 1914/18 an. In seinen ‚Großrezensionen‘ der 1920er Jahre behandelte er stärker als vorher geschichtsphilosophische und geschichtstheoretische Fragen. Er betonte dabei vor allem die Notwendigkeit, soziale Strukturanalysen bei verfassungsgeschichtlichen Untersuchungen durchzuführen.25 Hintzes Bemühungen um eine neue methodische Grundlegung der Verfassungsgeschichtsschreibung fielen allerdings zunächst nicht auf fruchtbaren Boden. Er bildete keine eigene historiographische Schule aus, denn sein Schüler und Berliner Lehrstuhlnachfolger Fritz Hartung schlug methodisch andere Wege ein. Zudem beschäftigten sich die dominierenden Historiker der Weimarer Jahre mit politischer, speziell mit außenpolitischer Geschichte. Verfassungsgeschichte lag dagegen nicht im Trend. In erster Linie bemühten sie sich um einen eigenständigen Anteil an der Revision von Versailles, indem sie die Kriegsschuldfrage diplomatiegeschichtlich untersuchten oder die neue historiographische Richtung der Volksgeschichte verfolgten.26

23 Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005, S. 79. 24 Ebd., S. 143–145. 25 Ebd., S. 147. 26 Grundlegend: Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003.

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4. Strukturgeschichte als Volksgeschichte bei Otto Brunner und Theodor Schieder Bis heute ist die Wissenschaftsgeschichte uneins darüber, ob die deutsche Volksgeschichte der 1930er Jahre als Vorläufer der bundesrepublikanischen Strukturgeschichte angesehen werden kann.27 Tatsächlich lassen sich die Wissenschaftlerbiographien ihrer Hauptvertreter, Otto Brunner, Werner Conze und Theodor Schieder, bis in die NS-Zeit zurückverfolgen. In der Debatte geht es zum einen um die methodischen Traditionslinien, zum anderen aber auch um die politische Vereinnahmung der Volksgeschichte durch den Nationalsozialismus. Mit Blick auf die Verfassungsgeschichte im Speziellen lässt sich feststellen, dass Brunner bereits in den 1930er Jahren intensiv entsprechende Themen bearbeitet hat. Brunner definierte es als Aufgabe des Historikers, „die Verfassung eines konkreten geschichtlichen Gebildes so zu verstehen, daß daraus das Spiel der politischen Abläufe unmittelbar einleuchtend wird“.28 Bei der Beschreibung dieser „konkreten politischen Ordnung“ müsse man sich freimachen „von den Dogmen einer positivistischen Jurisprudenz“.29 Es komme auf eine ‚richtige‘ Darstellung der historischen Entwicklungen an, die mehr als nur die rechtliche Seite berücksichtige, vielmehr auch die politischen, möglichst sogar soziale und wirtschaftliche Aspekte zusätzlich einbeziehe. Die Verfassungsgeschichtsschreibung solle Prozesse beschreiben und nicht Zustände schildern. Gefragt war die Dyna27 Lutz Raphael (Hg.), Von der Volksgeschichte zur Strukturgeschichte. Die Anfänge der westdeutschen Sozialgeschichte 1945–1968, Leipzig 2002. 28 Otto Brunner, Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 7 (1936), S. 671–685, hier S. 675 f. Zu Brunners Person und Werk und seiner Konzeption der Verfassungsgeschichte: Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt a.M. 1996; Reinhard Blänkner, Von der „Staatsbildung“ zur „Volkwerdung“. Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999, S. 87–135; ders., Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer „europäischen Sozialgeschichte“, in: Hettling, Volksgeschichten (2003), S. 326–366; Hans Boldt, Otto Brunner und die deutsche Verfassungsgeschichte, in: Karl-Egon Lönne (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Tübingen 2003, S. 193–206; James Van Horn Melton, Otto Brunner und die ideologischen Ursprünge der Begriffsgeschichte, in: Hans Joas (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 123–137. 29 Otto Brunner, Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, in: Vergangenheit und Gegenwart 27 (1937), S. 404–422, hier S. 406.

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mik von historischen Vorgängen gegenüber der Statik rechtlicher Normen. Hier schien deutlich die bewegungsorientierte NS-Ideologie durch. Die alten Formen galten als verstaubt, überlebt und erstarrt. Die bisherige „Staatsverfassungslehre“ müsse grundlegend umgestaltet werden, denn „dem Nationalsozialismus ist nicht mehr der Staat sondern das Volk oberstes Prinzip des politischen Denkens“.30 Der Historiker Brunner berief sich bei seinen programmatischen Überlegungen auf die Juristen Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber. Die drei Wissenschaftler teilten in Fragen der Terminologie die Auffassung, es gelte, den „inneren Bau“ und die „Formen“ von Institutionen zu untersuchen und den „lebendigen Kräften“ der Verfassungswirklichkeit nachzugehen.31 Innere Bauprinzipien und geronnene Formen waren von dem damals allerdings selten gebräuchlichen Begriff der Struktur nicht weit entfernt. Der Königsberger Neuzeit-Historiker Theodor Schieder untersuchte 1943 vergleichend die landständischen Verfassungsstrukturen in Livland, Westpreußen und Siebenbürgen zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Er behandelte dabei die Frage, inwieweit durch die Landstände in den „Frontabschnitten der Reichs- und Volksgrenze ... dauernde oder vorübergehende Gebietsverluste und Grenzschwächungen“ verursacht worden seien.32 In diesen „Außenposten deutschen Volkstums“ sei eine „Durchdringung der ständischen mit den nationalen Problemen der ostmitteleuropäischen Völkermischzone“ feststellbar.33 Die Worte Schieders zeigen deutliche Anklänge an die ideologischen Sprachschablonen der Zeit. Strukturen werden hier völkisch definiert und zur Legitimation staatlichen Handelns benutzt.

30 Otto Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Erg.-Bd. 14 (1939), S. 513–528, hier S. 517. 31 Ebd., unter Bezugnahme auf Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 3–5. Brunners Rezeption von Huber wird in der Forschung allenfalls erwähnt, aber nicht näher untersucht. 32 Theodor Schieder, Landständische Verfassung, Volkstumspolitik und Volksbewußtsein. Eine Studie zur Verfassungsgeschichte ostdeutscher Volksgruppen, in: Hermann Aubin u.a. (Hg.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg. Bd. 2, Leipzig 1943, S. 257–288, hier S. 259. Dazu neuerdings: Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013, S. 107–112, bes. S. 111 f. 33 Schieder, Landständische Verfassung, S. 279 u. 264.

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5. Die „Strukturen“ in der Verfassungsgeschichte von Ernst Rudolf Huber Einen anderen Weg als die historische ging seit den dreißiger Jahren die juristische Verfassungsgeschichtsschreibung. Hier entwickelte sich seit jener Zeit der um 1930 zunächst als Kirchen-, Wirtschafts- und Staatsrechtler bekannt gewordene Ernst Rudolf Huber zu einer zentralen Figur der nationalsozialistisch geprägten Verfassungswissenschaft. Ausgangspunkt der Verfassungsgeschichtsschreibung Hubers, die er Mitte bis Ende der 1930er Jahre begann, war zunächst eine Klärung des Verfassungsbegriffs. Seine Grundauffassung von den Aufgaben der Verfassungsgeschichtsschreibung änderte sich dabei im Laufe der Jahrzehnte wenig. Verfassung verbindet sich für Huber primär mit der Vorstellung von Ordnung. Es handelt sich um ein „Gesamtgefüge geistiger Bewegungen, sozialer Auseinandersetzungen und politischer Ordnungselemente, [um den] ... Inbegriff von Ideen, Interessen und Institutionen, die sich im Kampf, im Ausgleich und in wechselseitiger Durchdringung jeweils zum Ganzen der Verfassungswirklichkeit einer Epoche verbinden“.34 Bemerkenswertes ergibt ein kurzer Blick auf die Begrifflichkeit. Huber verwendet bevorzugt die Metapher „Gefüge“. Das erinnert an Otto Brunner, der zur gleichen Zeit von dem „inneren Bau der politischen Verbände“ sprach.35 Der von Werner Conze später aus Frankreich rezipierte Begriff „Struktur“36 wird bei Huber jedoch kaum verwendet, obwohl rein inhaltlich Hubers „Gefüge“ etwas Ähnliches meint. Hubers Verfassungsbegriff und seine Definition vom Ringen der Kräfte um Ordnung und Struktur prägten das Bild der deutschen Verfassungsgeschichte von den dreißiger bis in die achtziger Jahre hinein. Seine Verfassungshistoriographie bildet eine konstante Brücke über die Umbrüche und Systemwechsel deutscher Verfassungswirklichkeit hinweg.

34 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsgeschichte in Darstellung und Dokumentation, in: Hundert Jahre Kohlhammer 1866–1966, Stuttgart 1966, S. 231–238, hier S. 231 f. 35 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl. Wien 1965, S. 163. 36 Conze, Strukturgeschichte. Zu ihm zuletzt: Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein Deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001.

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6. Die moderne Strukturgeschichte von den 1950er zu den 1980er Jahren In der historischen Verfassungsgeschichtsschreibung war seit den fünfziger Jahren eine deutliche Hinwendung zum „soziologischen Aspekt“ in der Geschichte feststellbar.37 Damit rückte auch eine strukturbezogene Verfassungsgeschichte nachdrücklicher ins Blickfeld der Historiker. Die schmale und oftmals nur subkutane Anerkennung struktureller Faktoren in der Geschichte lässt sich an einigen bezeichnenden Indizien festmachen. So trug der Soziologe Hans Freyer auf mehreren Historikertagen vor.38 Werner Conze gründete 1957 den Heidelberger „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“. Und Otto Brunner publizierte 1959 die vierte Auflage von „Land und Herrschaft“, in der er die neuen Begriffe der Sozial- oder Strukturgeschichte nach vorne spielte.39 Die „sozialen Bauformen“ und das „Ordnungsgefüge“ wurden dadurch allmählich zu festen Formeln in der deutschen Verfassungsgeschichte. Zugleich wurden gegen diese Anerkennung der gesellschaftlichen Aspekte in der Geschichte, die eine partielle Abwendung von der reinen Politikgeschichte bedeutete, schon früh Bedenken geäußert.40 Die Anfänge der Sozialgeschichtsschreibung in der Bundesrepublik weisen methodische und inhaltliche Parallelen mit der Verfassungshistoriographie auf, die in der Wissenschaftsgeschichte bisher ignoriert wurden. Die Gründe dafür müssten genauer untersucht werden. Fraglos aber haben die späteren Vertreter der historischen Sozialwissenschaft aus der rückschauenden Deutung einseitig die sozialgeschichtlichen Aspekte der Verfassungshistoriographie betont. Damit haben sie gezielt eine teildisziplinäre Traditionsstiftung betrieben und den verfassungshistorischen Anteil dabei bewusst ausgeblendet.41 Gerade in der Anfangsphase bereitete die genaue Definition des favorisierten Themenbereichs Schwierigkeiten, so dass terminologische Verwirrungen auftraten. Die Bezeichnungen der Teilgebiete als Sozial-, Struk37 Karl Bosl, Der „soziologische Aspekt“ in der Geschichte. Wertfreie Geschichtswissenschaft und Idealtypus, in: Historische Zeitschrift 201 (1965), S. 613–630. 38 Hans Freyer, Soziologie und Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 3 (1952), S. 14–20 (Marburger Vortrag von 1951); ders., Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, in: Historische Zeitschrift 183 (1957), S. 97–116 (Ulmer Vortrag von 1956). 39 Grothe, Zwischen Geschichte und Recht, S. 386 f. 40 So beispielsweise bei Kurt von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: Historische Zeitschrift 183 (1957), S. 55–96, hier S. 64/Anm. 1. 41 Hinzu kam der „politisch-moralische Gestus“ und die „generationelle Vergemeinschaftung“ dieser Historikergeneration; Paul Nolte, Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine „lange Generation“, in: Merkur 53 (1999), S. 413–432, hier S. 420.

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tur- und – seltener – Verfassungsgeschichte wurden teilkongruent oder zum Teil synonym verwendet.42 Der Terminus „Verfassungsgeschichte“ war dabei eher im Bereich der mittelalterlichen Geschichte geläufig43, während die Neuzeithistoriker die Begriffe „Sozial-“ oder „Strukturgeschichte“ favorisierten. Otto Brunner benutzte phasenweise die Begriffe Sozial-, Struktur- und Verfassungsgeschichte parallel.44 Er arbeitete zu mittelalterlicher wie frühneuzeitlicher Geschichte und behandelte beide Teilgebiete gemeinsam unter dem Alteuropa-Konzept. 1968 bemerkte er zur „Verfassungs- und Sozialgeschichte“, dass es sich um „vieldeutige Termini“ handele. „Sie sind als einander übergreifende Aspekte geschichtlichen Denkens zu verstehen, die je nach dem Brennpunkt der Betrachtungsweise als Verfassungs- oder Sozialgeschichte bezeichnet werden können ... Es geht um die Darstellung des ‚inneren Gefüges‘.“45 Brunner versuchte durch eine konzeptionelle Anlehnung an die Sozialgeschichte seine älteren verfassungshistorischen Überlegungen in die Nachkriegszeit zu transformieren. Das Volk wurde durch die ‚societas civilis‘ ersetzt, und den Platz der nun verpönten Volksgemeinschaft nahm das Konzept vom „Ganzen Haus“ ein.46 An seinen methodischen Überlegungen zur Notwendigkeit einer quellenbezogenen Begrifflichkeit hielt er indessen fest. Brunners Konzept wurde von vielen Historikern akzeptiert.47 Dies hinderte ihn jedoch nicht, seine eigenen Zentralbegriffe auszutauschen. Die „Volksgeschichte“ in den drei Auflagen von „Land und Herrschaft“ der Jahre 1939 bis 1943 mutierte nach 1959 zur „Struktur-“ bzw. „Sozialgeschichte“.48 Brunner wies in seinen Veröffentlichungen der fünfziger Jahre auf Otto Hintze hin. Er hatte zwar bereits 1939 in der Erstauflage von „Land und Herrschaft” auf den Verfassungshistoriker aufmerksam gemacht, allerdings, ideo42 Hier ließen sich lohnende empirische Untersuchungen über den historiographischen ‚Begriffs-Haushalt‘ der fünfziger Jahre anschließen. 43 Als Beispiel: Walter Schlesinger, Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, 2 Bde., Göttingen 1963. 44 Bezeichnend ist die Umbenennung seiner Aufsatzsammlung zwischen 1956 und 1968 von „Neue Wege der Sozialgeschichte” zu „Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte”. Zum Alteuropa-Konzept: Blänkner, Staatsbildung, S. 117–135. 45 Otto Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968/3. Aufl. 1980, S. 7 (Vorwort). 46 Vgl. insbesondere Blänkner, Volksgeschichte. 47 Ein frühes Beispiel: Ernst Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff. Eine Untersuchung über die Grundlagen und die Entwicklung des kontinental-europäischen Staates, Hamburg 1949, S. 51–58, zum Begriff der Verfassung. 48 Siehe den stillschweigend veränderten Wiederabdruck des Aufsatzes Brunner, Verfassungsbegriff, bei Hellmut Kämpf (Hg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1956 [Ndr. 1974].

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logisch motiviert, dessen methodische Begrenztheit betont:49 Er halte Hintzes Arbeiten nicht für zukunftsweisend.50 Nach dem Krieg hoffte er im Gegensatz dazu, dass Hintzes „Werk erst noch zu breiter Wirkung gelange“.51 Er lobte dessen Verbindung von sozialer Struktur und politischer Verfassung als vorbildlich; sie zeichne ihn gegenüber denjenigen Historikern aus, die beide Bereiche isoliert betrachteten. Jenseits der älteren Historikergeneration der Brunner, Conze und Schieder bildete sich, zum Teil in ihrem Schülerkreis, um 1970 eine eigene Richtung heraus. Sie rückte die Strukturen ins Zentrum ihrer historischen Forschungen und gab sich den Eigennamen „Historische Sozialwissenschaft“.52 Die Häupter der sogenannten Bielefelder Schule, Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka, sahen die historische Struktur als Synonym für die von langlebigen, überindividuellen und stabilen Prozessen ausgehenden Zwänge an. Die starren Strukturen stünden im kategorialen Gegensatz zur Persönlichkeit und zu Handlungsspielräumen in der Geschichte. Die Sozialhistoriker rezipierten die amerikanische Soziologie und Modernisierungstheorie und ließen sich darüber hinaus vor allem von Max Weber inspirieren.53 In den siebziger Jahren schaute die als innovativ gepriesene Sozial- und Strukturgeschichte auf die Verfassungsgeschichte herab. Rechtliche Normen schienen, verglichen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, historisch eher wenig relevant zu sein. Eine wirkliche Debatte fand zwischen den Sozialhistorikern, welche die ‚totale Geschichte‘ beanspruchten, und den Verfassungshistorikern nicht statt. Stattdessen okkupierte die Sozialgeschichte den aus ihrer Sicht ‚fortschrittlichen‘ Bereich der Verfassungsgeschichte, nämlich eine eigenständig definierte Strukturgeschichte, während sie die vorgeblich ‚reaktionären‘ Teile der Verfassungsgeschichte, wie die Geschichte der geschriebenen (vordemokratischen) Verfassungen oder die Verwaltungsgeschichte, geringschätzte. Der Streit der Sozial- mit der Politikgeschichte stand im Fokus, die Verfassungsgeschichte hielt sich im Schatten auf. Ohne Beteiligung an der Kontroverse unter49 Brunner, Land, S. 157. Diese Passagen hat Brunner auch noch in die Auflage von 1965 übernommen; ders., Land, S. 160–163. 50 Ders., Land, S. 157. 51 Ders., Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968, S. 80–102 [zuerst 1954], hier S. 89. 52 Klaus Nathaus, Sozialgeschichte und Historische Sozialwissenschaft, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 24.09.2012. Online unter: http://docupedia.de/zg/Sozialgeschichte_und_Historische_Sozialwissenschaft [abgerufen 6.9.2013]. 53 Jürgen Kocka, Otto Hintze und Max Weber. Ansätze zum Vergleich, in: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988, S. 403–416.

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blieb eine offensive Profilierung und Positionierung der Verfassungsgeschichte. Dabei hätte sich hierfür gerade der Strukturbegriff angeboten, der sowohl von der Verfassungsgeschichte wie von der Sozialgeschichte verwendet wurde. Hans Mommsen sprach 1966 in Wehlers Sammelband zur Sozialgeschichte Hintze explizit die Vaterschaft für eine moderne Historiographie zu, die sich mit den Strukturen und Typen des Berliner Historikers auseinandersetze. Bei Hintze und Weber hätten sich „individualisierende Geschichtsbetrachtung und ‚strukturierende‘ Gesellschaftswissenschaft verknüpft“.54 Auf dem Weg Hintzes und über ihn hinausführend wären dann Hans Rosenberg und Heinrich Heffter für die Struktur- und Sozialgeschichte wegweisend geworden.55 Tatsächlich war die seit Ende der 1960er Jahre in Deutschland massiv aufkommende Sozialgeschichte der dominierende Trend. Demgegenüber sah sich die Verfassungsgeschichte in der Defensive. Die Strategie lautete, beide Bereiche zueinander zu führen. 1971 konstatierte Hartwig Brandt: „Verfassungsgeschichte als Sozialgeschichte“ sei „eine in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft fast suggestiv wirkende Lösung“. Sie könne „mehr statisch den sozialen Hintergrund Politik betreibender Gruppen oder Individuen zu ihrem Gegenstand machen“, aber auch „die sozialen Bedingungen normierter Ordnung und der durch sie ‚reglementierten‘ Politik untersuchen“. „Sie kann aber auch“, so Brandt weiter, „Institutionen als ‚geronnene‘ Politik betrachtend, primär auf das Handeln sozialer Gruppen abstellen.“ Man müsse „zur Analyse eines strukturellen Beziehungsgeflechts vordringen“.56 Verfassungsgeschichte sei Strukturgeschichte, so Brandt in seinem Habilitationsvortrag von 1976. Sie solle vor allem „Prozeß- und Entscheidungsanalyse“ betreiben. Die Verfassungsgeschichte müsse sich mit dem „alltäglich Normalen“, aber auch mit dem Hintergründigen befassen, das dem Zeitgenossen verborgen bleibe.57 Der Jurist Hans Boldt, der einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl innehatte, wandte sich Anfang der 1980er Jahre einer strukturbezogenen Verfassungsgeschichte zu.58 Er definierte die Verfassung als „die Struktur eines 54 Hans Mommsen, Sozialgeschichte, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 5. Aufl. Köln 1976 [zuerst 1966], S. 27–36, hier S. 30. 55 Ebd., S. 35. 56 Hartwig Brandt, Verfassungsgeschichte als Sozial- und Organisationsgeschichte, in: Neue Politische Literatur 16 (1971), S. 242–255, hier S. 244 u. 246. 57 Ders., Verfassungsgeschichte. Standort und Probleme einer historischen Disziplin, Ms. Marburg 1976, S. 11 (in diesem Bd. S. 153–163). Ich danke Hartwig Brandt für die Überlassung einer Kopie seines Habilitationsvortrags, der in diesem Band erstmals veröffentlicht wird. 58 Hans Boldt, Die Verfassungsgeschichte und ihre Methodik, in: Ders., Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984, S. 9–117, hier S. 18–23. Dort finden sich alle nachfolgenden Zitate.

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Steuerungszusammenhangs, eines Systems, näherhin: Regierungssystems innerhalb einer Gesellschaft, durch den diese zu einer Einheit (zu einem Staat im weiteren Sinn) zusammengefaßt wird“. Die Verfassung sei ein Komplex von Institutionen. Somit stehe ein „politischer Verfassungsbegriff“ den üblichen historischen oder juristischen gegenüber. Deshalb sei die Verfassungsgeschichte auch von einer historisch arbeitenden Politikwissenschaft zu betreiben. Aufgabe von Historikern oder Politikwissenschaftlern solle eine Verfassungsgeschichte als „politische Struktur-Geschichte einer partiellen, aber durchaus wichtigen Gesellschaftsstruktur und ihres Wandels“ sein. Demgegenüber wirkten die Rechtsverfassungsgeschichte zu eng und die Sozialverfassungsgeschichte, die auf historische Totalität ziele, zu weit. Boldts Programm einer politikwissenschaftlichen Verfassungsgeschichte blieb bis heute uneingelöst. Dagegen mangelte es in den 1970er und 80er Jahren nicht an einer Theoriediskussion, in der eine strukturbezogene Verfassungsgeschichte eingefordert wurde. Vor allem bestimmt der Verfassungsbegriff, was letztlich der Inhalt von Verfassungsgeschichte und Verfassungsgeschichtsschreibung ist.59 Dem Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck zufolge geht es in der Verfassungsgeschichte um Institutionen und Organisationsweisen sowie um die Darstellung dessen, was kraft Rechtsregeln wiederholbar ist. Er plädiert für eine um soziale Strukturen erweiterte „integrale Rechtsgeschichte“, die sich von vorkonstitutionellen Zuständen bis zu konstitutionellen Verhältnissen erstrecken solle.60 Hartwig Brandt sieht den Kern der Verfassungsgeschichte in „politischem Handeln unter Regelbedingungen“, welches sich vor allem in Entscheidungsprozessen ausdrücke.61 Für den Rechtshistoriker Dietmar Willoweit 59 Vgl. zum Verfassungsbegriff: Heinz Mohnhaupt/Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 1995; sehr knapp: Hans Boldt, Verfassung/Verfassungstheorie, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hg.), Pipers Wörterbuch zur Politik. Bd. 1: Politikwissenschaft. Theorien – Methoden – Begriffe, München 1985, S. 1069–1073; Dieter Grimm, Verfassung, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hg. v. der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7. Aufl. Freiburg 1989, Sp. 633–643; Ulrich K. Preuß, Verfassung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. Joachim Ritter u.a., Bd. 11, Darmstadt 2001, S. 636–643; W.[alter] Pauly, Verfassung, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 5 (1998), S. 698– 708. Zum Stichwort „Verfassungsgeschichte“ zuletzt: Christoph Gusy, Verfassungsgeschichte, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010. Online unter: http:// docupedia.de/zg/Verfassungsgeschichte [abgerufen 6.9.2013]. 60 Reinhart Koselleck, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000 [zuerst 1986], S. 336–358, hier S. 357. Rechtsgeschichte sei auf Wiederholbarkeit angelegt und untersuche die Geschichte der Gerechtigkeit. 61 Brandt, Verfassungsgeschichte, S. 10 (in diesem Band S. 161).

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sind schließlich die „rechtlichen Regeln und Strukturen, die das Gemeinwesen und damit die politische Ordnung prägen“, der Untersuchungsgegenstand des Verfassungshistorikers.62

7. Strukturbezogene Verfassungsgeschichtsschreibung heute Was kann eine strukturbezogene Verfassungsgeschichtsschreibung in Zukunft leisten bzw. was leistet sie bereits heute?63 In dem neuen „Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert“ geht es um die „hauptsächlichen Organisations- und Regelungsbereiche staats- und regierungspolitischen Handelns“. Diese pragmatische Auffassung von Verfassungsgeschichte setzt nicht zwingend eine existierende Verfassungsnorm voraus.64 Sie rekurriert aber auf einen politiknahen, die Verfassungsstrukturen intensiv in den Blick nehmenden Verfassungsbegriff. Das läuft auf eine Verbindung von Politik-, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, eine Art „Verfassungsgesellschaftsgeschichte“ oder moderne Verfassungsstrukturgeschichte hinaus. Die Handbuch-Beiträge sind systematisch-vergleichend angelegt und münden in eine Synthese, die sich in zwölf Verfassungsbereiche gliedert. Diese strukturellen Felder dienen als Raster für die Untersuchung der einzelnen Länder. Zugleich zeigen diese Bereiche, dass die Betrachtung von Grundstrukturen verfassungshistorische Analysen gliedern, ordnen und damit eine Auswertung erst sinnvoll ermöglichen kann. Hinsichtlich der Methodik mag eine strukturbezogene Verfassungsgeschichte zwar weder neu noch originell sein, sie ist dennoch auf der Höhe der Zeit: Kategorienbildung, Strukturvergleich, Typologisierung oder Prozessanalyse werden auch in weiteren historischen Teilgebieten sowie in anderen Wissenschaften erfolgreich angewandt. Die Frage, ob nach dem Sozialen, den Strukturen, der Gesellschaft, der Mentalität, dem Geschlecht und der Kultur bald ein neues Paradigma die Historiographie bestimmt, ist jedenfalls nicht maßgeblich für die Sinnhaftigkeit struktureller Analysen in der Verfassungsgeschichte. Ohne Zweifel werden historische Komparatistik und typologi62 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 4. Aufl. München 2001, S. 2. 63 Vgl. Ewald Grothe, Zwischen Norm und Symbol. Tradition und Innovation in der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung nach 1945, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 32 (2010), S. 19–36, hier S. 32–36. 64 Peter Brandt u.a., Einleitung, in: Ders. u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 7–118, hier bes. S. 10 f.

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sierende Forschungen in der Verfassungsgeschichte weiter betrieben werden und vermutlich sogar zunehmen. Die diachronen Aspekte der Verfassungsgeschichte, welche die vornehmlich national ausgerichtete Historiographie bevorzugt hat, weichen den synchronen Perspektiven und dem historischen Vergleich.65 Schließlich werden Probleme von Rezeption und Transfer in der zukünftigen Verfassungsgeschichtsschreibung ebenso untersucht wie transnationale und globale Fragen. Doch bei allen methodischen Neuerungen müssen auch die Kernbereiche der Verfassungsgeschichte weiter ihre Berechtigung behalten. Eine historisch betriebene Verfassungsgeschichte wird auch künftig die Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit oder langfristige regelhafte Strukturen und kurzfristige Entscheidungsprozesse analysieren.66 In einer Verfassungsgeschichte als Strukturgeschichte können politische Praktiken, Wahlverhalten, ebenso wie politische Institutionen und Funktionsweisen untersucht werden.67 Man kann Verfassungsgeschichte demzufolge sowohl kultur- als auch strukturgeschichtlich betreiben. Keine der beiden Betrachtungsweisen sollte in der künftigen historischen Forschung vernachlässigt werden.

65 Vgl. auch Michael Stolleis, Concepts, models and traditions of a comparative European constitutional history, in: Themis 4 (2003), S. 155–163; Joachim Eibach, Verfassungsgeschichte als Verwaltungsgeschichte, in: Ders./Günther Lottes (Hg.), Kompaß der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 142–151, hier S. 150 f.; Milos Več, Vergleichende Verfassungsgeschichte. Historiographische Perspektiven, in: Rechtshistorisches Journal 20 (2001), S. 90–110; Ewald Grothe, Geschichtsschreibung und Verfassungsgeschichte, in: Neue Politische Literatur 46 (2001), S. 79–95, hier S. 79 f. u. 94 f. 66 Vgl. ausführlicher Ewald Grothe, Neue Wege der Verfassungsgeschichte in Deutschland. Probleme und Perspektiven aus der Sicht des Historikers, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Verfassungsgeschichte in Europa. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 27. bis 29. März 2006, Berlin 2010, S. 123–144, hier S. 141–144. 67 So auch Brandt, Verfassungsgeschichte, S. 11 (in diesem Band S. 162).

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Verfassungsgeschichte Standort und Probleme einer historischen Disziplin

Vorbemerkung: Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um die schriftliche Fassung des im Januar 1976 im Fachbereich Geschichtswissenschaften der Universität Marburg gehaltenen, aber bisher unveröffentlichten Habilitationsvortrages des Verfassers. Der Text selbst ist im Umfeld methodischer Diskussionen der 1970er Jahre entstanden und von diesen, wie unschwer zu erkennen ist, beeinflusst, ja geprägt. In der Sache erstrebt er eine Neubewertung der Verfassungsgeschichte, methodisch ist er bemüht, diesem Fach die Schwerkraft einer eigenständigen historischen Disziplin zurückzugeben. Dies soll auch heute noch einen Impuls zur weiteren Diskussion in einem interdisziplinären Kontext bieten.

Seit gut einem halben Jahrzehnt pflegt die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik ihren Nachholbedarf an Theorie, an Methodologie und Didaktik. Was zuvor bestenfalls auf höfliche Nichtbeachtung traf, selten honoriert wurde – die Wende des Zeitgeistes in den späten 60er Jahren machte aus solcherlei Tätigkeit ein respektiertes, ja ein seriöses Gewerbe. Dabei schlug der ideologische Wetterwechsel dieser Jahre, der auf seinen meteorologischen Kern gesehen ja bekanntermaßen eine Marxrenaissance war, nicht etwa wie in Soziologie und Politik unvermittelt und direkt auf Selbstverständnis und organisatorisch-personales Gefüge der Disziplin durch, er wirkte vielmehr vermittelt und indirekt auf das Fach ein. Und dies – sehe ich recht – in zweierlei Weise: erstens lenkte er das wissenschaftliche Interesse in konzentrierter Weise auf die sozialökonomische Sphäre, die der Produktionsverhältnisse insbesondere, und zweitens stellte er die Historie, wenn auch vorab die im sogenannten bürgerlichen Gewande, unter theoretischen Legitimationszwang. Die beträchtliche Literatur, die aus dieser Herausforderung erwuchs, machte erst im Laufe der Zeit die Zäsur zum Vorhergehenden deutlich. Im Grunde war die deutsche Geschichtswissenschaft seit den Auseinandersetzungen Hintzes mit Max Weber, Oppenheimer, Scheler und Carl Schmitt systematisch-theoretischer Übung entwöhnt, und das trotz der Bemühungen um Sozialgeschichte in den 50er und 60er Jahren, trotz der Kooperation von Zeitgeschichte und Politikwissenschaft, trotz dieses oder jenes Einzelgängers in dieser Zeit. Die Schwierigkeiten der Umstellung lagen dabei weniger in

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der traditionellen, dem Historismus entlehnten Kultivierung der Individualität, seiner Reduzierung auf das Personale zumal, als vielmehr in dem etwas hausbackenen Erkenntnisrealismus, wie er einem Großteil der Disziplin doch ohne Frage eigen war und übrigens zum Teil heute noch eigen ist. Die Lücke gerade in diesem empfindlichen Bereich erklärt die Sympathie mancher Historiker in jüngster Zeit für eine Wissenschaftstheorie, die von Haus aus dem hermeneutischen Verfahren an sich nicht gewogen war: den kritischen Rationalismus. Ausweis solcher sich anbahnenden Nachbarschaftshilfe sind etwa die Aufsätze von Karl Acham, neben Hans Albert „Generalagent“ des deduktiven Kritizismus Popperscher Prägung auf dem Kontinent.1 Wobei der Vorgang selbst übrigens gewisse Ähnlichkeiten mit der methodologischen Rückenstützung Diltheys, Rickerts und Windelbands für die Geschichtswissenschaft der Jahrhundertwende gegen den westeuropäischen Positivismus nicht leugnen kann. Sieht man auf den methodisch-theoretischen Habitus der deutschen Geschichtswissenschaft, wie er sich im Augenblick darbietet, so sticht zweierlei hervor: Ubiquität sozialgeschichtlichen Erklärens von historischen Vorgängen und Zusammenhängen und partielle Verwendung von systematischen Erklärungsmodellen zum Zwecke historischer Hypothesenbildung. Zeigt sich dabei der zweite Trend weniger augenfällig, so bietet sich der erste geradezu plakativ dar. Die Veröffentlichungen über Sozialgeschichte im allgemeinen und ihr Verhältnis zur Soziologie im besonderen in den letzten Jahren gehen inzwischen in die Dutzende, die Bekenntnisse zu ihr, in Vor- und Nachworten zumal, sind Legion. Dabei ist für die westdeutsche Szene bezeichnend, dass das Fach Sozialgeschichte, während es als spezielle historische Disziplin, als Sektorwissenschaft, als quantitative Analyse von Schichten, Ständen, deren materielle Standards, Gewohnheiten und Mentalitäten vorerst höchst Bescheidenes zutage gefördert hat, es bereits seinen eigenen Konformismus erzeugt. Will sagen: dass Sozialgeschichte vorzeitig zur suggestiven Alibiformel in Berufungs- und anderen akademischen Kämpfen verschlissen zu werden droht. All dies darf hier jedoch seitwärts liegengelassen werden. Die Konzentration gilt der Beziehung von Sozialgeschichte zu einem Fach, das seit 50 Jahren nie mehr sonderlich aufgefallen ist und auch derzeit über einen denkbar bescheidenen wissenschaftlichen Leumund verfügt: der Verfassungsgeschichte. Das Augenmerk gilt genauer gesagt der methodischen Vereinnahmung der einen Disziplin (Verfassungsgeschichte) durch die andere (Sozialgeschichte), 1 Karl Acham, Vernunft und Engagement. Sozialphilosophische Untersuchungen, Wien 1972; ders., Analytische Geschichtsphilosophie. Eine kritische Einführung, Freiburg i. Br. 1974.

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denn um nichts anderes handelt es sich bei Lichte besehen. Mit dieser These ist der Erörterung indes schon weit vorgegriffen; zu prüfen wäre zunächst, was das Fach selbst zu dieser, seiner Isolierung beigetragen hat, ja, ob das gänzliche Fehlen eigener methodologischer Anstrengung nicht Indiz einer den Zeitläuften angemessenen Selbstaufgabe des Faches ist. Verfassungsgeschichte als wissenschaftlich-systematische Anstrengung gibt es seit dem frühen 19. Jahrhundert, lässt man die ältere, juristisch betriebene Reichshistorie einmal außer Betracht. Dahlmann, Beseler, Welcker, Waitz – diese Namen sind geläufig, allerdings mehr als Figuren der Verfassungsgeschichte selbst als deren Historiographie. Die enge Liaison von Politik und Wissenschaft ist kennzeichnend für die Anfänge der Disziplin. Obwohl die vorgenannten Historiker der ersten Generation zugleich auch als Gründerfiguren des Historismus gelten dürfen, so waren sie doch nicht von objektivistischen Skrupeln und Zweifeln geplagt – bei allem Insistieren auf dem quellenmäßigen Befund. „Das Verhältnis zur Geschichte und die Berufung auf sie erwuchs bei ihnen“, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde dargetan hat, „nicht mehr aus einer ungebrochenen historischen Kontinuität, sondern aus einem nationalen und politischen Programm“.2 Die konstitutionellen Zielvorstellungen wurden gleichsam zur Geschichte rückverwandelt. Mit der germanischen Frühzeit glaubte diese Geschichtsschreibung – gegen Feudalismus und Ständegesellschaft – eine Epoche des freien Mannes reklamiert zu haben. Wie schon Montesquieu, so wähnten auch sie die konstitutionelle Freiheit als Gewächs der germanischen Wälder. Was danach folgte bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts, schien nur Depravation dieser vormaligen Verhältnisse – ständische Abschottung, aber auch despotische Verirrung. Die europäische Verfassungsgeschichte vom Hochmittelalter bis an den Ausgang des Ancien Régime fiel politischer Ächtung und damit wissenschaftlichen Desinteresses anheim. Verfassungsgeschichte gab sich als Vorgeschichte und als Zeitgeschichte. Georg Waitz schrieb eine Verfassungsgeschichte, die bis ins 12. Jahrhundert reicht, und er schrieb eine Politik.3 Mit der Anpassungskrise der Liberalen in den 1860er Jahren und schließlich der kleindeutsch-gouvernementalen Nationalstaatsgründung entfiel das herkömmliche Verfassungsleitbild als Antrieb historischer Forschung. Teils war es verfassungsrechtlich positiviert, teils nationalpolitisch korrumpiert. Nicht zufällig fiel die Verfassungsgeschichte, die auch künftig noch fast ausschließlich mit dem Mittelalter befasst war, in stärkerem Maße der Domäne 2 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961, S. 79. 3 Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8 Bde., Kiel 1844–1878; ders., Grundzüge der Politik nebst einzelnen Ausführungen, Kiel 1862.

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von Juristen anheim. Das ganze Begriffsarsenal eines ebenso selbstsicheren wie selbstgenügsamen Positivismus (Staat – Gesellschaft, öffentlich – privat, Verwaltung, Gesetz, Verordnung usw.) wurde aufgeboten und historisch transportiert. Darüber hinaus gerann Verfassungsgeschichte zur statischen Behandlung von Rechtsinstituten. Eine Wissenschaftsrichtung, für die Sein und Sollen in eins fiel – man denke an die Gerber-Labandsche Schule – entwickelte auch kein Gespür für Geschichte als Prozess. Genau darin lag wohl auch der Grund dafür, dass Paul von Roth, Heinrich Brunner u.a. sich nur kursorisch und flüchtig der Neuzeit widmeten.4 Denn hier verlangte der zur Verfügung stehende Quellenfundus ja geradezu danach, auch den Verfassungswandel zum Thema zu machen. Nein, der noch ungekrümmte Liberalismus bekundete kein Interesse an neuzeitlicher Verfassungsgeschichte, ebenso wenig der politisch indolente aber deshalb mitnichten politisch folgenlose Rechtspositivismus. Die Gründe sind dargetan. Wissenschaftlich attraktiv erschien die Neuzeit, der Absolutismus insbesondere, erst in der Zeit der großpreußischen Lösung nach 1870. Und hier ist zweierlei festzuhalten: So fraglos es zutrifft, dass aus dem historischen Legitimationsbedürfnis der neuen Ära jener Typ von Geschichtsschreibung erwuchs, der sich an der großen historischen Figur aufrichtete und in ihr die Essenz der Epoche konzentriert sah, so wenig darf übersehen werden, dass auch Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der neueren Zeit – und zwar durchaus mit strukturgeschichtlichem Einschlag – von hier ihren Ausgang nahm. Das gouvernemental-konservative Erkenntnisinteresse dieser Geschichtswissenschaft war ja keineswegs, wie immer wieder behauptet wird, notwendig auf ein habituell-personelles Verständnis von Historie fixiert, wie ja umgekehrt ein progressistisch-demokratisches Erkenntnismuster – man denke etwa, um ein modernes Beispiel zu geben, an die Schule Fritz Fischers – nicht eo ipso auf Strukturgeschichte verweist. Das Gesagte wird deutlich an einer Figur wie Gustav Schmoller, es wird untrüglich belegbar bei einem Historiker wie Otto Hintze. Hintze hat die moderne Verfassungsgeschichte erst eigentlich auf ein festes methodisches Fundament gestellt. Dabei soll seine Kärrnerarbeit in der Rekonstruktion von Vorgängen des 17. und 18. Jahrhunderts, über die man nach einem Worte Schmollers bis dahin nicht viel mehr als Banalitäten zu sagen wusste5, nicht gering geschätzt werden. Das eigentlich Neue, das methodisch 4 Paul von Roth, System des deutschen Privatrechts. 3 Bde., Tübingen 1880–1886; Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, 2 Bde., Leipzig 1887–1892. 5 Gustav von Schmoller, Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungsund Wirtschaftsgeschichte besonders des Preussischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1898, S. VIII.

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Neue lag aber doch wohl in seinen ambitiösen Längs- und Querschnittsanalysen. Hier versuchte er die Entwicklung politischer Institutionen kausal-funktional zu erklären, dort gab er einen strukturgeschichtlichen Aufriss. Hier entwickelte er den historischen Progress, den langfristigen zumal, wo er sich der hermeneutischen Deutung von Denken und Planen der Handelnden entzog, aus der Eigendynamik von Verfassungsquantitäten, dort drang er über die formal verfassten Einrichtungen tief in den sozial-ökonomischen Unterbau ein. Der Affront gegen statisch betriebene Rechtsgeschichte des zuvor beschriebenen Typs und eine personalistisch gerichtete Verstehenslehre ist offensichtlich, obgleich Hintze sich in seinen methodisch-theoretischen Erörterungen – man denke an seine Intervention im Lamprecht-Streit6 – eher vermittelnd vorsichtig geäußert hat. Hintzes verfassungsgeschichtlichen Arbeiten liegt ein langfristiges Erklärungsmuster neuzeitlicher Geschichtsdynamik zu Grunde: Staatenbildung und Machtintensivierung als Folge zwischenstaatlicher Konkurrenz und außenpolitischen Drucks. Dieses Modell erwies sich als genialer Schlüssel für die Analyse der Herausbildung neuzeitlicher Bürokratien bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts. Es versagte seinen Dienst allerdings dort, wo Vorgänge der Fundamentaldemokratisierung begannen, auf den Verfassungsprozess Einfluss zu nehmen. Trotz respektvoller Rezeption des Hintzeschen Œuvres7 und trotz enger Kooperation von political science und Zeitgeschichte fehlte der neueren Verfassungsgeschichte auch nach 1945 die methodische Konsistenz. Teilweise wurde sie von der konjunkturell aufblühenden Sozialgeschichte ins Schlepptau genommen, teils der traditionellen sog. politischen Geschichte zugeschlagen. Je länger, je mehr war der doppelte Vorwurf zu hören: 1. sie erschöpfe sich in rückwärts gewandter Normenauslegung und 2. sie sei als Teil des historistischen Syndroms geschichtliches Verstehen/Ereignishistorie methodisch diskreditiert. Die Berechtigung dieser Kritik, vor allem, was den ersten Punkt anbelangt, soll hier nicht gänzlich in Abrede gestellt werden, aber sie wurde eben doch auch von Positionen einer Sozialgeschichte vorgebracht, die einen eigentümlichen Degout gegen das Phänomen des Politischen hegten. Die neomarxistische Position, um mit ihr zu beginnen, kann diesbezüglich auf eine ehrwürdige Tradition verweisen. Marx selbst war es ja nicht nur um 6 Otto Hintze, Über individualistische und kollektivistische Staatsauffassung (1897), in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, Hg. Gerhard Oestreich, Göttingen 1962, S. 315–322. 7 Theodor Schieder, Der Typus in der Geschichtswissenschaft (1952), in: Ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, München 21970, S. 172–187, hier S. 176 f.; Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen, Hg. Gerhard Oestreich, 3 Bde., Göttingen 1962–1967.

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eine ökonomische Bedingungsanalyse politischer, vornehmlich bürgerlicher Herrschaft zu tun gewesen, sondern zugleich darum, das rationale System des neuzeitlichen Staates als so typisches Produkt des bourgeoisen Zeitalters zu erweisen, dass seine Unbrauchbarkeit für nachfolgende Gesellschaftsformationen außer Frage stehe. Aber nicht nur das. Die prätendierte Selbstbewegung der Produktivkräfte drängte das Politische generell in eine historische Randrolle ab. Gab Marx dem designierten Subjekt der Weltgeschichte, dem Proletariat, kein institutionell-politisches Gehäuse an die Hand, so war das nur konsequent. Der vorausschauenden Geringschätzung von Institutionen – schon Hermann Heller sprach vom „Staatsunverständnis“ bei Marx8 – entsprach deren historische Mediatisierung. Vergröbert werden solche Tendenzen in der zeitgenössischen marxistischen Orthodoxie sichtbar. Das offiziöse Organ der Geschichtswissenschaft der DDR, die „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, verzeichnet – selbst bei großzügiger Auslegung des Begriffs – kaum einen Beitrag, den man als verfassungsgeschichtlich bezeichnen könnte. Bei aller gewissenhaften Ausleuchtung von Produktionsverhältnissen und materieller Kultur, die Forschung wird dort einsilbig, wo es um Entscheidungsprozesse, wo es um die Vermittlung zum politischen System geht. Die monoton behauptete Abhängigkeit des einen, des politischen Systems, vom anderen, dem ökonomischen, kontrastiert mit einem fast völligen Fehlen empirischer Einlösung dieses Axioms. Dass Institutionen keine politischen Luftschlösser sind, dass Willensbildungsvorgänge und Interessensstränge je in den sozialökonomischen Wurzelgrund reichen, ist im zeitgenössischen Wissenschaftsverständnis eine Trivialität. Aber Annahmen über Abhängigkeiten – und schon gar eine so dezidierte wie die marxistische – bedürfen des je konkreten Nachweises. Einen solchen Nachweis zu führen, macht einen wesentlichen Teil von Verfassungsgeschichte aus. Der Verzicht eines großen Teils der marxistischen Geschichtswissenschaft ihn zu führen, erklärt den Verzicht auf eine Disziplin Verfassungsgeschichte. Die Ahnung, dass die Resultate verfassungsgeschichtlicher Interdependenzforschung sich womöglich gegen die eigenen Prämissen sperren könnten, macht diesen Verzicht darüber hinaus plausibel. In der Bundesrepublik wirkte der Marxismus auf eine subtilere und indirektere Weise auf die Bedeutungsminderung von Verfassungsgeschichte, vornehmlich über Soziologie und Politikwissenschaft. Claus Offe etwa, um nur dieses Beispiel zu geben, darf durchaus für beträchtliche Teile seiner Diszi8 Hermann Heller, Sozialismus und Nation (1925), 2. veränd. Aufl. Berlin 1931, S. 55 (wieder abgedruckt in: Ders., Gesammelte Schriften, Hg. Christoph Müller, Bd. 1, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 437–526, hier S. 482).

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plin, die Politikwissenschaft, sprechen, wenn er es für entbehrlich, allenfalls zweitrangig hält, ein politisches System aus sozialökonomischen Bedingungen und Anstößen zu erklären, vielmehr sich auf die Erhellung von Strukturanalogien zwischen Staat und Ökonomie kapriziert.9 Also etwa nach jenem bekannten Modell, das den Parlamentarismus als eine Variante des kapitalistischen Marktmechanismus erklärt. Die gänzliche Bagatellisierung beobachtbaren politischen Verhaltens, die aus dieser Konzeption spricht, die Geringschätzung des Politischen als Prozess, bedeutet auf unser Thema bezogen nichts Geringeres als dies: der Disziplin Verfassungsgeschichte wird der Totenschein ausgestellt. Und doch ist es nicht der wissenschaftliche Neomarxismus, der entscheidend den Kurs von Verfassungsgeschichte gedrückt hat, sondern vielmehr jene Denkströmung, die sich auch für ein breiteres Publikum signalhaft mit der Richtung der „Annales“ verbindet. Diese Denkschule ging ja aus von der Überlegung, dass es jenseits der irritierenden Vielfalt von Ereignissen noch eine zweite Ebene historischer Realität gäbe: das zyklisch-konjunkturelle Ansteigen und Abebben des historischen Prozesses, nicht mehr fassbar durch die lineare Erzählung, sondern nur mehr durch Kurven, Tabellen und Zahlen. Diese einen spezifischen Aggregatzustand historischer Realität bezeichnende „l’histoire lentement rhythmée“ wurde abgesetzt einesteils von der fluktuierenden Vielfalt der historischen Ereignisse, der „l’histoire des évènements“ (das deutsche Wort Ereignisgeschichte ist ja eine Übersetzung aus dem Französischen), und andererseits von der Geschichte der langen Dauer, der „l’histoire quasi-immobile“, der historischen Grundschicht geographischer Dispositionen und biologischen Verhaltens, der Geschichte als Natur- und Gattungsgeschichte der Menschheit. Es ist bekannt, zu welcher Fülle von Einzelforschung der geschilderte Ansatz die französische Sozialgeschichte inspiriert und stimuliert hat. Es ist dem wissenschaftlichen Zeitbewusstsein weniger präsent, dass die Kaprizierung auf das Zuständlich-Statische resp. nur langfristig sich Verändernde in der Geschichte die hier bezeichnete Forschungsrichtung unempfindlich und indolent für das Politische, auch und gerade in seiner prozesshaft-verfassungsgeschichtlichen Form gemacht hat. Der Umkreis der von ihr als kooperationsfähig betrachteten, will sagen: als Hilfsdisziplinen zu konsultierenden Fächer, bietet dafür einen Anhalt. Es sind dies Geographie, Soziologie, Demographie, 9 Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur politischen Soziologie, Frankfurt a.M. 1973; als „Eine Fallstudie über Reformpolitik“ (Untertitel) dann auch stärker gegenstandsbezogen: Ders., Berufsbildungsreform, Frankfurt a.M. 1975.

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Statistik, Sozialpsychologie, Linguistik und Ethnographie. Öffentliches Recht und Politikwissenschaft fehlen. Einen zweiten Anhalt bietet der thematische Querschnitt des Periodikums „Annales“ selbst. Einer 1972 erschienenen umfangreichen Aufschlüsselung ist zu entnehmen10, dass von den 4293 zwischen 1949 und 1968 publizierten Beiträgen nur 108 verfassungsgeschichtlicher Art waren, die sozialgeschichtliche Behandlung von Institutionen eingeschlossen. Noch aufschlussreicher ist der wissenschaftssystematische Ort, dem in dieser Studie die Verfassungsgeschichte zugewiesen wird. Innerhalb der Grobgliederung „Sociétés – Economies“ und „Civilisations“ findet sie sich der letzteren, nämlich der Kategorie „Civilisations“ zugeschlagen, eingerahmt von einem Kapitel „Communications de la pensée“ (Publizistik, Erziehung usw.) und einem anderen „Formes de la Culture“ (Künste, Literatur, Philosophie, Film, Sport). Abdrängung des Politischen in die Etappe, das war auch im Nachkriegsdeutschland zunächst eine verbreitete Geisteshaltung. Eine Disziplin, der mit der Hypertrophie des Staatlichen im Faschismus der Geschmack an den großen Staatsaktionen zunächst verdorben war, suchte eine Reihe von Fluchtwegen, zumeist in die Geistesgeschichte. Die allgemeine Irritation nutzend, drang auch ein schmaler, vom Ausland, vor allem Frankreich, gespeister Strom sozialgeschichtlicher Forschung und Reflektion in das Fach ein. Unter dem Eindruck und Einfluss von Fernand Braudels monumentaler Studie „La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II“ formulierte Werner Conze zu Beginn der 50er Jahre methodische Misslichkeiten einer modernen Sozialgeschichte auch in Deutschland.11 Von einer gänzlich anderen Tradition herkommend, tat Otto Brunner ein gleiches.12 Beide gingen aus von einer methodisch-analytischen Trennung von allgemeinpolitischer und Sozialgeschichte. Brunner sah die Scheidelinie zwischen „dem inneren Bau, der Struktur der menschlichen Verbände“ hier und „dem politischen Handeln, das Selbstbehauptung zum Gegenstand hat“, dort13. Conze trennte das politische Handeln von dessen gesellschaftlichen Objektivationen und Determinanten. In dieses integrale Programm war virtuell auch ein Teil der Verfassungsgeschichte einbegriffen, aber um den Preis ihrer Auf10 Branislava Tenenti, Vingt Années d’histoire et de sciences humaines. Table analytique des annales fondées par Marc Bloch et Lucien Febvre 1949–1968, Paris 1972 (= Annales. Économies, sociétés, civilisations, No. spécial). 11 Werner Conze, Die Stellung der Sozialgeschichte in Forschung und Unterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 3 (1952), S. 648–657, hier S. 654–657. 12 Otto Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte, in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968, S. 80–102 [zuerst 1954]. 13 Ebd., S. 82.

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spaltung, um den Preis ihrer methodischen Verfremdung. Der Vorgang verrät sich im Sprachgebrauch. Ist das Gespann Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eine dem Zeitgenossen geläufige, wenn nicht Progressives verheißende Wortverbindung, so kann ähnliches von der Formel Sozial- und Verfassungsgeschichte schlechthin nicht behauptet werden: Ja, schlimmer noch: sie gilt als ganz und gar obsolet. Die sich einbürgernde Sprachkonvention reflektierte eine Arbeitsteilung zwischen der sog. politischen Geschichte, die sich inzwischen längst erholt und im Klima des Kalten Krieges altes Terrain zurückgewonnen hatte, und eben besagter Sozialgeschichte. Das Politische und damit die Verfassungsgeschichte wurde – nicht das erste Mal in der Geschichte des Faches – aufgespalten in die Verhältnisse, Zustände, Bauformen oder – wie immer die Formel hieß – in der gestrengen Obhut der Sozialgeschichte: dort die sogenannten politischen Ereignisse als Reservat der überkommenen, mit dem je Individuellen befassten Richtung. Ist aber der desolate Zustand des Faches Verfassungsgeschichte und damit auch eine Preisgabe von historischer Realität Folge der besagten Spaltung, so seine Behebung nur möglich im Wege ihrer Überwindung. Verfassungsgeschichte – so hier deshalb die These – hat es zunächst und vor allem zu tun mit politischem Handeln, und zwar Handeln unter Regelbedingungen, wobei es im Prinzip keinen Unterschied macht, ob diese Regeln auf schriftlich fixierten Ordnungen, Gewohnheitsrecht oder stillschweigend respektierten Verfahrensweisen beruhen. Politisch heißt, dass dieses Handeln für den bzw. die betroffenen Adressaten verbindlich ist und der Akteur diese Verbindlichkeit durchzusetzen weiß. Der Verfassungshistoriker hat es auch mit gesetztem Recht zu tun, den Objektivationen politischen Handelns also, aber dessen Inhaltsanalyse macht doch nur einen verschwindenden Teil seines Berufes aus. Vielmehr ist er bestrebt, die kodifizierten Ordnungen historisch zu verflüssigen, Entstehung und Durchsetzung von gesetztem Recht zu analysieren, ja, die zu Institutionen geronnenen Tatbestände selbst in soziales Handeln, in Entscheidungsprozesse aufzulösen und rückzuverwandeln. Es ist kein Zufall, dass eine Theorie des sozialen Handelns, wie sie sich – man denke an Arthur Bentley14 – seit dem Jahrhundertbeginn in den USA herausbildete, ohne Einfluss auf die deutsche Verfassungsgeschichte blieb. Es ist auch kein Zufall, dass Otto Hintze, der doch Max Webers Idealtypuslehre wie eine Offenbarung feierte und sie für die praktische Historie

14 Arthur Bentley, The Process of Government. A Study of Social Pressures, Chicago 1908.

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höchst erfolgreich dienstbar machte15, Webers Theorie des sozialen Handelns nichts abzugewinnen vermochte. Folge nicht nur, aber auch des Umstands, dass Hintze – wie übrigens ähnlich die französische Strukturgeschichte – sich vornehmlich mit Institutionen statischer, vorindustrieller Gesellschaften befasste: Zeiträume, deren Überlieferungszustand in geringem Maße eine Analyse von Entscheidungsprozessen zulässt. Wenn hier Prozess- und Entscheidungsanalyse als das Herzstück von Verfassungsgeschichte postuliert wird, dann deshalb, weil es sich dabei um eine originäre, d.h. nicht ableitbare Dimension historischer Realität handelt. Das hat Verfassungsgeschichte mit Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte gemein. Verfassungsgeschichte hat verfasstes politisches Handeln zum Gegenstand, Handeln in Regierung und Parlament, in Verwaltung, in Verbänden und Parteien, in gesellschaftlichen Druckgruppen und Bildungseinrichtungen, also Handeln gänzlich unabhängig von der Art der Institution, in der dieses Handeln stattfindet. Verfassungsgeschichte geht es somit nicht allein – Reflex einer überholten historischen Ausgangslage – um den Staat; auch nicht allein um den Staat unter Berücksichtigung alles dessen, was auf ihn einwirkt, wie – je nach der Blickrichtung – die beschwichtigende oder eingrenzende Formel lautet. Die Verweisung auf das fest umzäunte Revier des Staatlichen wird nur zu gern von jenen gesehen und betrieben, für die Verfassungsgeschichte eine Sparte jener Form sogenannter politischer Geschichte ist, die in methodischer Selbstgenügsamkeit historische Fakten wie Perlen auf die Schnur zieht. Verfassungsgeschichte hat es mit zweierlei Form historischer Realität zu tun: der politischen Innenlage, der Entscheidungssituation und den Instrumenten ihrer Bewältigung und der Außenansicht, dem geronnenen System, der Morphologie des Politischen gewissermaßen. Sie ist Prozess- und Willensbildungsgeschichte und sie ist Strukturgeschichte, wobei Struktur alle feststellbaren Realitäten meint, die über eine längere Frist den Einflüssen der Zeit widerstehen. Verfassungsgeschichte als Strukturgeschichte meint: Untersuchung von Herrschaftspraktiken, von politischen Geschäftsusancen, von Wahlverhalten, aber auch von institutionellen Bauformen und Funktionsweisen. Verfassungsgeschichte als Strukturgeschichte meint das alltäglich Normale, das Gewohnheitsrechtliche, das sich nur langfristig, wenn auch unter Umständen dann schubweise Verändernde. Verfassungsgeschichte als Strukturgeschichte meint aber auch dies: das Hintergründige, die dem Zeitgenossen oftmals verborgene 15 Otto Hintze, Max Webers Soziologie (1926), in: Ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, Hg. Gerhard Oestreich, Göttingen 21964, S. 135–147.

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Interdependenz von Dingen und Vorgängen. Aber auch Strukturen sind nur greifbar im Medium von Ereignissen, sei es, dass sie durch jene hindurchscheinen, sei es, dass sie als kleinstes gemeinsames Vielfaches aus einer Reihe von Einzelfällen gewonnen werden. Verfassungsgeschichte ist methodisch nicht teilbar. Und ein letztes: Der landesüblichen Eingemeindung von Verfassungsgeschichte in eine diffuse Sozialgeschichte entspricht auf dem anderen Flügel ein höchst ambivalentes Verhältnis zur juristisch betriebenen Verfassungsgeschichte. In Abgrenzung von dieser mit der Entwicklung der Legalnormen als Gegenstand prätendiert sie in aller Regel sogenannte „Verfassungswirklichkeit“ als Forschungsfeld. Verfassungswirklichkeit als jene Praxis offenbar, die von der Norm der Verfassung abweicht und bedeutsam gegen diese gewandt werden kann. Die Kategorie selbst erscheint gleichwohl als fragwürdig. Juristisch droht sie, wird das Normwidrige, die Deviation zur Verfassungswirklichkeit, dieser selbst normierende Kraft zu geben. Historisch-sozialwissenschaftlich bleibt der Begriff, obwohl er soziale Wirklichkeit erfassen will, eigentümlich ängstlich auf die Verfassungsnorm fixiert, indem er jene – nämlich die soziale Wirklichkeit – als Normverfehlung, als Normabweichung begreift. Deshalb: Verfassungsgeschichte der hier konzipierten Art hat es nicht mit Verfassungswirklichkeit als Derivat vorgegebenen Verfassungsrechts zu tun, sondern mit der Wirklichkeit von Verfassung als dem in Verfassung handelnden politischen Subjekt, als dem regelgeleiteten politischen Prozess und dessen zu Strukturen geronnenen Formen.

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„Verfassungskultur“ als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften Dass mir das Hagener Institut freundlicherweise das Thema „Verfassungskultur“ anvertraut hat, ist wohl nicht ganz zufällig.1 Ich habe diesen Schlüsselbegriff seit 1982 erarbeitet, parallel zum Begriff „Grundrechtskultur“ (1979)2, und seitdem wurde er oft rezipiert, auch plagiiert; heute ist er schon fast ein „Gemeinplatz“: in Deutschland, später Polen3 und sogar in Amerika. Solche Begriffskarrieren in der Wissenschaft können auch misstrauisch machen. Sind sie nur eine „Mode“ oder vermitteln sie einen spezifischen Erkenntniswert? Auch muss man fragen, ob es klug ist, auf ein „Jugendthema“ zurückzukommen (sozusagen „Verfassungskultur revisited“). Vor allem aber darf man sich nicht selbst kommentieren (man fällt sonst immer unter sein Niveau, um ein fremdes bonmot zu paraphrasieren), allenfalls Ironisches ist erlaubt. Doch fasse ich Mut: Das Hagener Institut stellt die Kategorie „Verfassungskultur“ in das Kraftfeld der „Verfassungswissenschaften“, ja der Europäischen Verfassungswissenschaften. Damit ist viel Neues zu erarbeiten, es wird gewiss vor allem von den übrigen Beiträgen geleistet. Wohlweislich heißt es ja „Verfassungswissenschaften“, nicht Verfassungsrechtswissenschaften. Man fühlt sich an Smends „Verfassung und Verfassungsrecht“ (1928) erinnert. Die Dimension des Verfassungsrechts ist von vornherein im Blick auf sog. „Nachbarwissenschaften“ erweitert. Deren Horizonte sind auch auf Europa bezogen (Smend arbeitete noch betont nationalstaatsbezogen). Wie aber sollen die Verfassungswissenschaften – im Plural – methodisch arbeiten? Auch verfassungsgeschichtlich, verfassungssoziologisch, verfassungsökonomisch? M.E.: kulturwissenschaftlich! Damit werden Konsequenzen aus dem Ungenügen der „Sozialwissenschaften“ (ihnen fehlt die ideelle Dimension), aber auch der „Geisteswissenschaften“ gezogen (diesen fehlt das „Soziale“); all dies sei ohne Übermut und in offener Selbstbescheidung gesagt. Gleichwohl kann der kulturwissenschaftliche Ansatz, 1 Dieser Beitrag beruht auf dem Eröffnungsvortrag zu dem Symposion „Verfassungskultur“ in Europas Geschichte und Gegenwart, der am 27. Mai 2005 in Hagen gehalten wurde. 2 Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982; Kulturpolitik in der Stadt, 1979; Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979. 3 M. Wyrzykowski (ed.), Constitutional Cultures, 2000.

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1979/1982 (auch unter Rückgriff auf „Weimar“) begonnen und gegen anfänglich viele Kritiker schrittweise aufgebaut, helfen, die Propria der Verfassung (auch in und für Europa) zu erkunden. Der ältere Begriff der „politischen Kultur“4 darf ermutigen, meint aber nicht dasselbe wie „Verfassungskultur“. Der ebenfalls schon 1982 ins Auge gefasste Begriff der „Verwaltungskultur“ hat später plötzlich Karriere gemacht5, und man muss sich fragen, warum der kulturwissenschaftliche Ansatz vor allem seit dem „annus mirabilis“ 1989 recht erfolgreich ist: wohl wegen des weltweiten Vordringens des Typus Verfassungsstaat, wegen der Hilfestellung, die er den sog. Entwicklungsländern und den Reformländern in Osteuropa und Asien auf der Suche nach sich selbst gibt – sie, die heute zu Recht die eurozentrische Selbstgefälligkeit ablehnen, weil „Kultur“ der Identität und Differenz, d.h. dem Typus Verfassungsstaat als solchem und den je nationalen Varianten Raum lässt. Und: weil er auch ermöglicht, Europa zu denken, zu bauen und zu gestalten. Schließlich setzt der kulturwissenschaftliche Ansatz einen bewussten Akzent gegen die um sich greifende fast totale Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse. Doch sind Märkte nicht das Maß aller Dinge, sie sind nicht das Maß des Menschen, kein Selbstzweck, auch nicht in Europa, sondern instrumental in Bezug auf den Menschen und Bürger bzw. ihre Würde zu denken. Gegen die Epigonen eines C. Schmitt ist zu sagen: Mit ihm kann man weder die Schweiz erklären noch Europa bauen! Die Grenzen des Positivismus sind bekannt, so groß Kelsen bleibt; Heller ist aber nicht zufällig eine, ja die Referenzgröße in ganz Lateinamerika. 1989 habe ich auf einer Tagung in Madrid den eindrucksvollen L. Favoreu „elektrisiert“ mit der Veranschaulichung meines Begriffs „Grundrechtskultur“ am Fallbeispiel de Gaulle und Sartre. De Gaulle: „Einen Voltaire verhaftet man nicht“. Das ist klassische, französische Grundrechtskultur! Was aber bedeutet – nach dieser Ouvertüre – „Verfassungskultur“ im Kontext der (nicht nur Hagener) Verfassungswissenschaften? Dazu einige Überlegungen in drei Teilen, nicht ohne vorweg den anderen, 2001 erarbeiteten Schlüsselbegriff zu nennen: die Kontextthese.6 Kontext meint „Auslegen durch Hinzudenken“. Das ist hier und heute besonders notwendig, es verlangt viel Sensibilität. 4 B. Schwelling, Kulturwissenschaftliche Traditionslinien in der Politikwissenschaft: Eric Voegelin revisited, ZfP 2005, S. 3 ff. – S. auch den Band: Politische Kultur, Deutschland – Tschechien, Hg. E. Trützschler, 2004. 5 Z.B. D. Cybulka, Verwaltungsreform und Verwaltungskultur, FS Knöpfle, 1996, S. 79 ff.; W. Thieme, Über Verwaltungskultur, in: Die Verwaltung 20 (1987), S. 277 ff. 6 P. Häberle, Verfassung „im Kontext“, in: D. Thürer u.a. (Hg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 17 ff.

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1. Methoden und Inhalte kulturwissenschaftlichen Arbeitens: von Verfassung und Kultur zur Verfassung als Kultur Vorbemerkung: Die Rede ist von „Methoden und Inhalten“. Beides lässt sich im Blick auf die Verfassung bzw. den Typus „Verfassungsstaat“ nicht trennen, das zeigt sich allgemein und speziell. Vor allem sei die Einsicht Smends vorweg zitiert, wonach es nur so viel Staat gibt, wie die Verfassung konstituiert. Das gilt national wie vor allem auch für die EU-Ebene. Die Bürger geben „sich“ seit den klassischen Texten der französischen Revolution eine Verfassung, nicht den Staat. Alle deutschen, bei uns so beliebten Staatsideologien „Staat vor Verfassung“ oder zugespitzt „Staat über alles“, kritisch als Stimme aus den USA gegen das Maastricht-Urteil des BVerfG (J.H. Weiler)7 formuliert, sind dadurch ad acta gelegt. Freilich fällt in den sog. Entwicklungsländern „Nation building“ und „constitution making“ oft zusammen, aber die „Nation“ ist nicht der etatistische Staat, sondern gerade eine kulturwissenschaftliche Größe, die sich aus vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Generationen zusammensetzt, wobei das Band durch Kultur gestiftet ist (z.B. schaffen sich heute Tadschikistan und Kirgistan durch Rückgriff auf uralte Kulturtraditionen neue nationale Identität). Vielleicht lebt gerade die „Nation“ den großen kulturellen Generationenvertrag, so wie wir im Kleinen den kulturellen Generationenvertrag in der Wissenschaft pflegen: das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern (Zusatz: Der Berliner Streit um den Werte-Unterricht in den Schulen hat verfassungskulturelle Dimensionen). Die seinerzeitige Diskussion um die deutsche „Leitkultur“ bleibe ein Merkposten. Die Methoden als „Erkenntniswege“ sind schon vorgeprägt im Blick auf die einzelnen Elemente des Verfassungsstaates. Umgekehrt gehört es zum Verfassungsstaat als kulturelle Errungenschaft, dass er seine „Diener“ mit bestimmten Methoden arbeiten lässt, vor allem die Verfassungsrichter, die die Verfassung buchstäblich „fortschreiben“. Gewiss, der Methodenkanon ist (ebenso wie der Rechtsquellenkanon) offen, die rechtsvergleichende ist als „fünfte“ Auslegungsmethode hinzugekommen (1989)8, jüngst sogar vom Verfassungsgericht in Liechtenstein rezipiert und praktiziert, doch herrscht keine Einigkeit hinsichtlich der Bündelung der Methoden im Einzelfall. Es geht um einen rationalen Prozess, wobei das offenzulegende „Vorverständnis“ i.S. von Gadamer/Esser und Ehmke die Methodenwahl mit steuert, ebenso wie auch vorletzte und letzte Gerechtigkeitsprinzipien wirken. Eine Methodendebatte 7 J. H. H. Weiler, Der Staat „über alles“, in: JöR 44 (1996), S. 91 ff. 8 P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode, in: JZ 1989, S. 913 ff.

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„an und für sich“ ist leer, buchstäblich „gegenstandslos“, aber alle inhaltlichen Prinzipien des Verfassungsstaates brauchen ihrerseits diese Arbeitsmethoden (mein Stichwort von 1982: „kulturspezifische Verfassungsinterpretation“ – es findet sich nun als Stichwort im Programm dieser Tagung).

1.1 „Verfassung“ Wenn von „Verfassungswissenschaften“, also im Plural, die Rede ist, meint das wohl verschiedene Teildisziplinen. Hier seien nur einige weitere Verfassungsverständnisse rekapituliert, um das vielleicht Neue des kulturwissenschaftlichen Ansatzes bzw. der „Verfassung als Kultur“ erkennen zu lassen. Deutschland darf sich auf den „Schultern der Riesen“ Weimars rühmen, besonders viel zum „Verfassungsverständnis“ beigetragen zu haben, so wie Frankreich die Menschenrechte, England die parlamentarische Demokratie, den USA der Föderalismus, Italien der Regionalismus zu verdanken sind. Stichworte lauten: Verfassung als „Entscheidung“ (Dezision Schmitts), schon historisch-vergleichend widerlegbar, man denke an die pluralistischen Verfassungsprozesse Südafrikas (von 1997) oder das langsame schrittweise Werden der Schweiz (seit 1291). Verfassung als „Anregung und Schranke“ (Smend) bleibt ein wichtiger Teilaspekt, Verfassung als „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner) ebenfalls. Erinnert sei auch an die Verfassungstheorie von H. Ehmke „Verfassung als Beschränkung von Macht“ (1953). Man darf ergänzen: Verfassung als spezifischer öffentlicher Prozess (1969) und auf den Schultern von Heller (der freilich in der Kategorie der allgemeinen Staatslehre bleibt): Verfassung als Kultur. Zurückgewiesen sind damit bloß technische Verfassungsverständnisse (Verfassung als „Grundbuch“) oder Reduktionen auf den organisatorischen Teil. Ein instrumental-positivistisches Verfassungsverständnis geht fehl, erst recht in Europa (man denke nur an die Werte-Klauseln im Europäischen Verfassungsrecht), ein materiales, freilich die Wichtigkeit formaler Regeln und Prozesse mit beachtendes, ist m.E. wegleitend. Wohl gemerkt: Verfassung als Kultur, nicht nur Verfassung und Kultur, wie dies oft behandelt wird. Aus diesem Ansatz folgen die Thesen von der Erarbeitung des kulturellen Kontextes von Verfassungen, von der kulturellen Verfassungsvergleichung in Bezug auf die Trias von Texten, Judikaten (Praxis) und Theorien sowie von den Verfassungskulturen, die national variieren. Die „Europäisierung“ des nationalen Verfassungsstaates ist die andere Seite der „Konstitutionalisierung“ Europas.

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1.2 „Kultur“ Kultur ist der andere Begriff unserer Themen. Hier kann keine abendländische Kulturgeschichte des Kulturverständnisses skizziert werden. Erinnert sei aber an die Begriffsprägung eines Ciceros. Für den Verfassungsstaat ist die Unterscheidung zwischen „Hochkultur“ (des Wahren, Guten und Schönen) sowie „Volkskultur“ und Alternativ-Kulturen, Alltagskulturen einschlägig, gemäß dem offenen, pluralistischen Kulturkonzept. Der Verfassungsstaat ermöglicht die Durchlässigkeit zwischen diesen Schichten. Z.B. sind die „Beatles“ als Subkultur längst zu Hochkultur geworden. Einschlägige Stichworte sind auch Hilmar Hoffmanns Devise „Kultur für alle“ (ich füge hinzu: von allen) sowie J. Beuys‘ Erweiterung des Kulturbegriffs. An anderer Stelle wurde vergleichend systematisiert, was alles schon in den Verfassungstexten Kultur ausmacht: von den allgemeinen und speziellen Kulturauftragsklauseln über die Erziehungsziele bis zum Religionsverfassungsrecht (statt „Staatskirchenrecht“).9 Neuerdings finden sich viele Texte zur kulturellen Identität10: von Osteuropa bis Afrika, vor allem aber auch im Europäischen Verfassungsrecht. Offengelegt sei auch der innere Impuls, wenn man so will, das „Credo“ des kulturwissenschaftlichen Ansat­zes: Es geht um Eindämmung des bodenlosen und grenzenlosen Ökonomismus unserer Tage und um Bewahrung von Identität und Differenz, letztlich um den „aufrechten Gang“. Im Übrigen sei die Stelle wiederholt, in der ich 1982 die Debatte eröffnete: Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kultu-

9 Ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 758 ff. u. 561 ff.; ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 273 ff. u. 321 ff. sowie öfter. 10 Aus der Lit. jetzt auch: A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2005.

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rellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten11. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Juristisch gesehen hat ein Volk eine Verfassung, erweitert kulturell betrachtet ist es in (mehr oder weniger guter) Verfassung! Die Akzeptanz einer Verfassung, ihre Verwurzelung im Bürgerethos und Gruppenleben, ihr Verwachsensein mit dem politischen Gemeinwesen etc. – all dies hat zwar bestimmte rechtliche Normierungen zur Voraussetzung, aber darin liegt noch keine Garantie, dass ein Verfassungsstaat hic et nunc „wirklich“ ist. (Das Rechtliche ist nur ein Aspekt der Verfassung als Kultur.) Ob dies gelungen ist, zeigt sich nur in Fragestellungen wie: Besteht ein gelebter Verfassungskonsens? Hat der juristische Verfassungstext eine Entsprechung in der „politischen Kultur“ eines Volkes? Sind die spezifisch kulturverfassungsrechtlichen Teile einer Verfassung so in die Wirklichkeit umgesetzt, dass sich der Bürger mit ihnen identifizieren kann? M.a.W.: Die rechtliche Wirklichkeit des Verfassungsstaates ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit einer „lebenden Verfassung“, die – weit- und tiefgreifend – kultureller Art ist. Verfassungstexte müssen buchstäblich zur Verfassung „kultiviert“ werden.

2. Sieben praktische Anwendungsfelder und Beispielsfälle für „Verfassungskultur(en)“ – national wie europäisch Der Schlüsselbegriff „Verfassungskultur“ (und als Teil von ihm „Grundrechtskultur“) gewinnt Anschaulichkeit, Gestalt und Farbe erst an Hand praktischer Beispiele. Vorweg seien übergreifend die Präambeln und kulturelle Erbesklauseln erwähnt. Sie gleichen „Batterien“, „Kraftfeldern“ für die Verfassungskultur. Präambeln, kulturwissenschaftlich Ouvertüren, Prologen, Präludien vergleichbar, bilden eine Essenz der Verfassung, sie verarbeiten Geschichte, Gegenwart und entwerfen Zukunft, z.T. Utopien, mindestens aber Hoffnungen, und sie können in der Hand guter Verfassunggeber zum „Textereignis“ werden, so im GG, der nBV der Schweiz (1999) oder in der Verf. Tirol (1989). Ich darf hier auf ältere Publikationen verweisen: „Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen“ (1981)12. Ob eine Präambel, z.T. die „Biographie“ eines Volkes und Ausdruck seines Selbstverständnisses, ihre „Energie“ entfaltet wie etwa die deutsche zum GG in Sachen Wiedervereinigung (an die 11 Im nicht-juristischen, kulturanthropologisch bzw. ethnologisch gewendeten Sinne wird der Begriff „Verfassung“ nicht zufällig benutzt bei B. Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), 1975, S. 142. 12 In FS für Broermann, 1982, S. 211 ff.

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nur noch wenige buchstäblich „glaubten“) oder inskünftig vielleicht die EUPräambel, das ist eine Frage der Verfassungskultur, nicht der Ökonomie oder Politik und Soziologie, eine Frage schon der Textfassung, aber auch der aus Präambeln wachsenden „normativen Kraft der Verfassung“ i.S. von K. Hesse. Man denke z.B. an die Judikatur der französischen Conseil Constitutionnel in Sachen Menschenrechte – all das ist werdende bzw. geronnene Verfassungskultur. Ähnliches gilt für die sog. kulturellen Erbeklauseln, die sich als eigene Kategorie in vielen nationalen Verfassungen und auch im Europäischen Verfassungsrecht finden.13 Ob sich ein Volk oder Europa sein kulturelles Erbe je neu aneignet, i.S. von „besitzen, um es zu erwerben“, ob es sich z.B. in Lateinamerika real zum Schutz der Indios und anderer kultureller Minderheiten entschließt, ob man in Granada erstmals seit 1492 den Bau einer Moschee (wie geschehen) erlaubt und dort mehr und mehr das „arabische Spanien“ wieder entdeckt – all dies kann nur mit den Methoden und Inhalten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft begleitet und zu einem geringen Teil gestaltet werden. Der Zusammenhang und die Differenz von nationalen Identitäten und europäischer Identität lässt sich ebenfalls nur kulturwissenschaftlich erkennen. Hierher gehört C. Landfried’s „Differenz als Potential der europäischen Verfassunggebung“.

2.1 Feiertagskultur Feiertage14 sind in vielen nationalen Verfassungen textlich garantiert, vor allem in Deutschland, in einigen Ländern Österreichs und der Schweiz, vereinzelt in Afrika und Osteuropa. Doch gerade bei diesem Thema sagen bzw. leisten die Verfassungstexte oft wenig: Der 4. Juli in den USA (wo sich das Volk und der Präsident vor dem Kapitol zivilreligiös feiern), der 14. Juli in Frankreich, der 1. August in der Schweiz (Feuerzeichen auf den Bergen) – das sind gelebte kulturelle Identitätselemente dieser Verfassungsstaaten. Feiertagskultur kann kein Verfassungs- oder Gesetzgeber einfach befehlen, sie kann verblassen. Auch das Umgekehrte kommt vor: Die Hälfte der Franzosen feierte den Pfingstmontag als Feiertag (16. Mai 2005), obwohl er gesetzlich abgeschafft ist (als sog. „Solidaritäts-“ bzw. Arbeitstag). Ob und wie sich die Bürger mit ihrem „Verfassungstag“ identifizieren, ist ihrer offenen Gesellschaft überantwortet. Feiertage gehören derselben konstitutionellen (natio13 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 3. Aufl. 2005, S. 489 ff. 14 Ders., Feiertage als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987.

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nalen) (Tiefen-)Schicht an wie Sprachen, Hymnen, Flaggen, Wappen, auch Hauptstädte15 (z.B. Art. 14 Verf. Albanien, 1998). Das Normative kann hier nur „anregen“, aber nicht „leben“. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf Deutschland, dass (nach der Abschaffung des Buß- und Bettages) ein Finanzminister und sogar der Bundeskanzler es 2004 wagen konnten, den Tag der Deutschen Einheit (3. Oktober) aus ökonomischen/fiskalischen Gründen zur Disposition zu stellen („Ausverkauf“). Es ermutigt, dass die Öffentlichkeit quer zu allen politischen Parteien und vor allem der Bundespräsident H. Köhler als nicht alleiniger, aber doch Teilhaber am Prozess des „Hütens“ der Verfassung sich der Abschaffung des 3. Oktober mutig entgegenstellten. Die Medien haben dabei wohl einhellig gut gearbeitet. Sichtbar wird hier eine punktuelle, auf ein Stück Verfassung bezogene deutsche Verfassungskultur, auch wenn das (oft ökonomische) Freizeitverhalten vieler zum Motivbündel der Beteiligten gehören mag. Freilich: Deutschland ist damit erst auf dem vielleicht langen Weg zu einem den großen westlichen Demokratien ähnlichen Feiertag bzw. „Verfassungstag“. Auch hier zeigt sich, dass wir ein „schwieriges Vaterland“ haben (G. Heinemann) und eine „verspätete“ Nation sind. Der Streit um „Patriotismus“ und die „Leitkultur“ ist für Deutschland typisch. Zivilreligiöse Identitätsfindung und -bildung in pluralistischen Gesellschaften ist auch sonst schwer. Ein „Eid auf die Verfassung“ für Einbürgerungswillige wäre in Deutschland kaum zu verlangen (in den USA ist er Praxis, ebenso wie das tägliche Schulgelöbnis). Ist der „Multikulturalismus“ in Deutschland gescheitert? Können wir einen „Verfassungspatriotismus“ ertragen? Was sind die deutschen Grundwerte?16 Zuvörderst doch die des GG! – unseres „gemeinsamen Hauses“.

2.2 Stadtkultur(en) Ein Beispiel für Verfassungskultur „im Kleinen“ sind die Stadtkulturen sowie im Europäischen Verfassungsrecht Idee und Wirklichkeit der „Kulturhauptstadt Europas“. Der kulturwissenschaftliche Ansatz wurde vor 26 Jahren überhaupt erst erprobt in der Augsburger Festrede „Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag“ (1979). Im Europa der Kommunen und Regionen sind Städte ein Element der „kommunalen Verfassungsform Europas“. So sehr heute die „kulturelle Grundversorgung“ der Städte (O. Scheytt)17 aus Finanznot gefähr15 Ders., Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, in: DÖV 1990, S. 989 ff. 16 Einschlägig J. Thiele, Das Buch der Deutschen, 2004. 17 Zuletzt von ihm: Kommunales Kulturrecht, 2005, S. 6, 36, 46 ff. u. 58.

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det ist, so sehr die Verödung der Innenstädte, Kriminalität und Drogen drohen: das Bewusstsein, dass damit auch eine konstitutionelle Programmatik auf der untersten Ebene in Frage gestellt wird, wächst. Kommunales Leben kann ebenfalls nur dank rechtlicher Rahmenbedingungen „angeregt“ werden, das bürgerliche Leben selbst muss wachsen, gedeihen, sich entwickeln und behaupten. In der Verfassungsgeschichte Europas haben sich Städte als Foren nicht nur für Handel und Wandel, sondern auch für Kultur entwickelt. Man denke an das Italien der Renaissance. Wenn es heute die Bewerbungen und Verfahren in Sachen Kulturhauptstadt gibt (bekanntlich eine Idee von Melina Mercouri: „Sonntags nie“), so lässt sich behaupten, dass in dieser „Europäisierung“ von Städten zu Hauptstädten (mindestens auf Zeit) ein Stück Konstitutionalisierung liegt. Die Kriterien beim Auswahlverfahren gehören in die Nähe von Verfassungskultur18. Im Einzelnen etwa: „Stadtprominenz“, geschichtliche, kulturelle Einrichtungen, Kunststile und Kunstwerke, auch Beispiele für das „kollektive Gedächtnis“19.

2.3 Sonntagskultur Die Sonntagskultur, ihre Möglichkeit und Gefährdungen seien nur als ein Merkposten im Kraftfeld des kulturwissenschaftlichen Ansatzes genannt. Sonntage bilden ein meist auch verfassungstextlich geschriebenes Element des demokratischen Verfassungsstaates.20 Ob und wie sich die Sonntage gegen die um sich greifende Ökonomisierung behaupten können und von den Bürgern introvertiert oder extrovertiert gelebt werden, ist ein eigenes Thema. Es gibt in der deutschen Literatur der Vergangenheit viele schöne Gedichte zum „Sonntag“, heute finden sich kaum Entsprechungen.

2.4 Wahlverhalten der Bürger und „Parteienrechtskultur“ Zu den Bereichen, für die die Verfassungen nur relativ weitmaschige Normen vorgeben, gehören Wahl- und Parteienrecht. Wie könnte ich hier zumal seit dem schon klassischen Mendez de Vigo/Tsatsos-Bericht etwas Relevantes 18 Dazu P. Häberle, Die europäische Stadt – das Beispiel Bayreuth, in: BayVBl. 2005, S. 161 ff. 19 Vgl. das Portrait der 10 deutschen Städte, die sich in Sachen „Kulturhauptstadt 2010“ bewerben: SZ vom 9. März 2005, S. 13. 20 Dazu P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1987. Aus der Kommentarliteratur: M. Morlok, in: H. Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 140/139 WRV.

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sagen?21 Kurz nur dies: Der Schlüsselbegriff „Verfassungskultur“ erweist sich als solcher gerade auch hier. Das Wählerverhalten ist von Nation zu Nation unterschiedlich, zwar auch Wahlrecht und Parteienrecht, aber innerhalb der normativen Vorgaben bilden sich in oft generationenlangen Entwicklungsprozessen bestimmte Verhaltensweisen, die Gegenstand kulturorientierter Verfassungswissenschaften sein sollten, auch dort, wo Defizite beim Namen genannt werden müssen. So wird in Deutschland die wohl wachsende Zahl von sog. „Wechselwählern“ charakteristisch, was m.E. zu begrüßen ist. Auf EU-Ebene ist in Sachen Parteienrechtskultur22 (D. Tsatsos) zu kritisieren, dass die nationalen Parteien bei EU-Wahlen primär nationale, nicht europäische Themen in den Vordergrund rücken (auch 2004 wieder). Insofern entsteht nur langsam die so wichtige „europäische Öffentlichkeit“23 (auch aus Politik). Die „schlechte“ Behandlung der Kleinstparteien durch die etablierten Parteien in Deutschland gehört in das negative Bild – zum Glück kommt das BVerfG jenen, wie jüngst, gelegentlich zu Hilfe. Gewiss wäre auch die Parteispendenaffäre24 der CDU unter dem Aspekt des verfassungskulturellen Ansatzes zu untersuchen. Die Verletzung der Wahrheitspflicht, aber auch die m.E. fast mörderische Praxis des mehr als parteiischen Untersuchungsausschusses des Bundestages (gegen Altbundeskanzler Kohl) müssten ebenso gründlich untersucht werden wie Möglichkeiten und Grenzen des parlamentarischen Untersuchungsrechts überhaupt. (Zusatz: Was bedeuten live-Übertragungen in Sachen J. Fischer für die Theorie der Öffentlichkeit?) Hier haben auch die Politikwissenschaft und ihr älterer Begriff der „politischen Kultur“ ihre Kompetenz. Doch vermag sie die spezifisch verfassungstheoretische Dimension nicht einzufangen. Das schwer ergründbare Wechselspiel von „judicial activism und judicial restraint“ der Verfassungsgerichte kann zu „Verfassungskultur“ gerinnen.25 (Zusatz: Ein schlechtes Beispiel lieferten der Präsident und Vizepräsident des BVerfG jüngst, als sie ein neues Parteiverbotsverfahren gegen die NPD anregten).

21 EuGRZ 1998, S. 72 ff. 22 D. Tsatsos, Europäische Politische Parteien?, in: EuGRZ 1994, S. 45 ff. 23 Dazu P. Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, FS Hangartner, 1999, erweitert als selbstständige Monographie, 2001. 24 Aus der Lit.: F. Saliger/S. Sinner, Korruption und Betrug durch Parteispenden, in: NJW 2005, S. 1073 ff. 25 Vgl. W.-M. Mors, Verfassungsgerichtsbarkeit in Dänemark, 2002, S. 81 ff.: „Richterliche Zurückhaltung als Verfassungskultur“.

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2.5 Föderalismus und Regionalismus als innere Gewaltenteilung aus pluraler, offener Kultur Ein besonders anschauliches Beispiel für den dank der „Verfassungskultur“ vermittelten Erkenntnisgewinn lässt sich am Föderalismus und seinem „kleineren Bruder“, dem Regionalismus z.B. in Italien und Spanien studieren. Föderalismus bzw. Regionalismus („devolution“ in Großbritannien) gehören zu den Strukturelementen des Verfassungsstaates26, die heute weltweit Karriere machen. Dies ist nur aus einem kulturwissenschaftlichen Ansatz zu erklären. Es gibt zwar gewisse „allgemeine“ Elemente von Föderalismus bzw. Regionalismus (Gewaltenteilung, Verhinderung von Machtmissbrauch, Schutz von Minderheiten, Kompetenzteilung, Öffentlichkeit, Bewahrung kultureller Vielfalt), doch drängen sich auch die Varianten und Differenzen je nach Nation in den Vordergrund. „Deutsche Freiheit ist föderative Freiheit“ – ein aus unserer Verfassungsgeschichte belegbarer Satz, der so in Frankreich nicht gälte, würde auch die Regionalisierung bzw. Dezentralisierung noch so entschieden vorangetrieben werden. Das System der spanischen Autonomien ist ein ganz eigenes „Gewächs“, auch die besonders herausgestellten wie das Baskenland, Katalonien und Galicien – ähnliches gilt für den älteren italienischen Regionalismus, der an die gewachsenen Städtebilder und Kulturlandschaften dort anknüpfen kann, es aber immer noch schwer hat, gegen das übermächtige „Roma ladrone“ anzugehen. Es spricht Bände, dass Finanzminister Eichel sogar kleinen Bundesländern wie Bremen und Saarland mit der Neugliederung drohte (FAZ vom 6. April 2005, S. 11). Die gewachsene Verfassungskultur Brandenburgs spricht auch gegen den Zusammenschluss mit Berlin! Es gibt viele Bundesstaatstheorien, die ihre relative Berechtigung behalten: den (allzu ökonomischen) Wettbewerbsföderalismus, den (zu reformierenden) „unitarischen Bundesstaat“ und den kooperativen (sowie fiduziarischen) Föderalismus mit der Pflicht zur Solidarität. M.E. hilft nur eine „gemischte“, spezifisch kulturelle Bundesstaatstheorie weiter. Sie lebt aus der Maxime: Minimum an Homogenität und Optimum an vor allem kultureller Pluralität (vorbildlich ist die Schweiz). Daher darf man von „Kulturföderalismus“ und „Kulturregionalismus“ sprechen. Ob es ihn realiter gibt, ist eine Frage der Verfassungskultur. Ermutigend wirken die fünf neuen Bundesländer in Ostdeutschland mit ihren innovativen Verfassungen. Auch hier sind langfristige Wachstumsprozesse (welche Metapher nicht „organologisch“ verstanden sei) 26 P. Häberle, Kulturföderalismus in Deutschland – Kulturregionalismus in Europa, FS Fleiner, 2003, S. 61 ff.

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oder Rückgriffe ins geschichtliche Erbe einschlägig. Ein nur technisch verstandener Föderalismus ist keiner. Die kulturelle Freiheit und Vielfalt bildet die „Seele“ des Föderalismus (Vorbild: die Schweiz als „Willensnation“), die Seele auch des Regionalismus, der freilich keine „Verfassungsautonomie“ kennt; heute sind aber die Regionen auf dem Weg zur „europäischen Verfassungsform“. Ermutigend ist, dass föderale bzw. regionale Strukturen am ehesten geeignet sein dürften, die Probleme des Irak, Afghanistans und Somalias27 zu lösen. Für das letztgenannte Land war ich 2003 um Lösungsvorschläge gebeten worden. Ob sie sich umsetzen lassen, ist zweifelhaft. Die religiöse Vielfalt des Irak, auch die ethnische und sprachliche, kann nur in einem Föderalismusbzw. Regionalstaat ihr „Gehäuse“ finden. Das dient dann auch der Entwicklung der Demokratie, die ein so mühsames „Geschäft“ ist, aber letztlich von der Würde des Menschen her zu denken ist.28 Der Zeitfaktor ist eine spezifische Dimension der „Verfassungskultur“, das sei festgehalten, ebenfalls der juristisch nur bedingt steuerbare Entwicklungsprozess. (Darum könnte in der Tat „Weimar“ eine Verfassung ohne Verfassungskultur gewesen sein, vgl. Beitrag Boldt). Die Verfassung muss „akzeptiert“ werden. Zu Recht spricht eine Festschrift vom „akzeptierten GG“: FS Dürig, 1990). Heute ist unser Verfassungsstaat ein politisches Gemeinwesen in den drei Dimensionen: der Verfassungsgeschichte, der Gegenwart und der Zukunft – in Europa und der Welt.

2.6 Nationales und europäisches Kulturverfassungsrecht Dieses Beispielsfeld ist das für den kulturwissenschaftlichen Ansatz besonders naheliegende und ergiebige. Die drei kulturellen Freiheiten par excellence: Freiheit der Religion, der Künste und der Wissenschaften sind die schöpferischen „Generatoren“ von allem, was der Mensch im Verfassungsstaat schaffen kann. Goethe hat sie in dem wunderbaren Satz zusammengebunden: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion. Wer diese nicht hat, der habe Religion“. Der „aufrechte Gang“ symbolisiert den Übergang von der Natur zur Kultur – Kultur verstanden als das vom Menschen Geschaffene. Darum sind „Objekte“, in denen afrikanische Naturvölker „Baumgeister“ wähnen, „Kulturgut“ im Sinne der nationalen und internationalen Kulturgüterschutzbestimmungen. Freilich gehören Kunst und Natur i.S. des anderen Dictum von 27 Dazu J. Luther, Zur Verfassungsentwicklung der Republik Somalia: Frieden durch Verfassung?, in: JöR 53 (2005), S. 703 ff. 28 Dazu mein Beitrag: Menschenwürde und pluralistische Demokratie – ihr innerer Zusammenhang, FS Ress, 2005, S. 1163 ff.

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Goethe zusammen! „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden.“ Darum gehören der Schutz von Natur- und Kulturerbe zusammen. Die drei genannten Urfreiheiten bilden sozusagen den „Humus“ für alle Hervorbringungen der Menschheit, für ihre Kultur. Spezifische Erscheinungsformen des Religiösen, auch seines Rückzugs in ganz Deutschland, sind ein Stück Verfassungskultur. Dabei kann es auch zu Spannungen kommen: Der Antikruzifixbeschluss des BVerfG (E 93, 1)29 wird durch die noch lebendigen (Kruzifix-)Traditionen im Grunde kaum befolgt (Der Kopftuchstreit wäre ein eigenes Problem). Im Bereich der Wissenschaftsfreiheit gehören die verschiedenen nationalen Ausprägungen etwa in die vielen Literaturgattungen Deutschlands vom abundanten Handbuch bis zur „feinen“ Rezension zu seiner respektablen Wissenschaftskultur, die Common Law-Länder haben andere Traditionen. Auch der nicht nur sprachlich unterschiedliche Urteilsstil, etwa in Frankreich bzw. Deutschland, gehört hierher. Schließlich ist die Kunst schon prima facie das klassische Feld für die Prinzipien nationalen Kulturverfassungsrechts: Offenheit, Pluralität, Prozesscharakter, Stichwort das „offene Kunstwerk“. Die Relevanz des Selbstverständnisses der Religionsausübenden (dazu KV Obwalden von 1968, noch vor dem BVerfG, E 24, 236), der Wissenschaftler und Künstler (dazu § 70 G Abs. 2 Verf. Ungarn), das Verständnis der zugehörigen Freiheiten ist das vielleicht schönste Thema des kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Europas „Religionsverfassungsrecht“ ist Kulturverfassungsrecht mit einem Defizit in der neuen EU-Präambel: dem Fehlen des Gottesbezugs nach polnischem Vorbild in der Präambel (Alternativformel). Die Kulturklauseln im neuen Europäischen Verfassungsrecht seien nur der Vollständigkeit wegen in Erinnerung gerufen. Sie vermitteln Europa ein Stück seiner Identität, so wie die „nationale Identität“ grundsätzlich geschützt bleibt und als solche nur kulturwissenschaftlich erkennbar ist. In Polen sind die Religion und die Literatur herkömmliche Elemente der Nationalkultur. Für Tschechien gehört die Rückbesinnung auf die beiden Missionare Kyrill und Method ebenso zum Selbstverständnis wie der Komponist Janáček. Verdi ist dank „Nabucco“ als „geheime Nationalhymne“ ein Stück Verfassungskultur Italiens, obwohl es dazu keinen normativen verbindlichen Text gibt. Beethovens „Neunte“ ist in Europa längst vor dem Verfassungstext schon Verfassungskultur, ebenso die Europa-Flagge. Europa ist eine vielfältige und doch zusammengehörende Kultur. Es ist in einer Dimension auch ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ als juristischer Rahmen, aber nur in 29 Dazu zuletzt J. Krüper, Die grundrechtlichen Grenzen staatlicher Neutralität, in: JöR 53 (2005), S. 79 ff.

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Grenzen der offene Markt. Märkte schaffen keinen Sinn, sie bleiben Instrumente, nicht mehr und nicht weniger, Instrumente für den sinnsuchenden und kulturfindenden Menschen. In Sachen Schutz kultureller Minderheiten sind die Gefahren der Ghettoisierung, des Umgangs der jungen Menschen in den Schulen und Universitäten einschlägig. Kulturelle Sozialisationsprozesse müssen mühsam genug gelernt, vorgelebt werden. Das Recht kann auch hier nur Rahmenbedingungen schaffen und „anregen“, aber kaum erzwingen. Auch hier geht es um „Kultur“. Doch fällt allgemein auf, dass die „Erwartungen an das Recht“ (M. Stolleis) hoch sind. Warum, etwa wegen seiner für alle geltenden Verbindlichkeit?

2.7 Kulturelle Minderheiten Der tagtägliche bzw. grundsätzliche Umgang mit kulturellen Minderheiten (Stichwort: gegenseitige Toleranz von Mehrheits- und Minderheitskulturen) ist der Testfall des Verfassungsstaates in Sachen Kultur. Die neuen Verfassungstexte in Osteuropa entfalten hier ein erstaunliches innovatives Programm mit neuen Textstufen. (Am schönsten erscheint das Bild Ungarns von Minderheiten als „staatsbildende Faktoren“, vorbildlich auch Art. 35 Verf. Polen von 1997). Es fragt sich nur, ob, wann und inwieweit sie Wirklichkeit werden, aber auch „Parallelgesellschaften“ erträglich bleiben. Das stolze französische Integrationsmodell ist in der Krise (FAZ vom 26. Nov. 2004, S. 8). All dies sind Fragen der „Verfassungskultur“. Hiermit wird ein weiteres theoretisches Element von „Verfassungskultur“ sichtbar: neben der erwähnten Zeitdimension ist es die durch sie geprägte Dimension bzw. Wirklichkeit, die zu ihrer Eigenart gehört. („Mitmenschlichkeit fängt im Kleinen an“, H. Köhler). Manche alten Debatten über das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit wären neu zu durchdenken. Dabei ist jedoch besser von „Wirklichkeit der Verfassung“ zu sprechen. Ihr vornehmstes Teilstück bildet die „Verfassungskultur“ (toto coelo etwas anderes als „Staatskultur“). Der österreichische Weg des Lebens mit einem staatlich anerkannten Muslimrat ist vorbildlich.

3. Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes bzw. des Schlüsselpotentials der „Verfassungskultur“ Jeder methodisch neue oder „altneue“ Versuch muss über seine eigenen Grenzen Rechenschaft geben, so auch der hier entwickelte Ansatz. Der Verfassungsstaat bleibt die kulturelle Errungenschaft par excellence, die Erarbei-

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tung der je relevanten kulturellen Kontexte für seine Verfassungsprinzipien und Normenensembles bleibt die „Wünschelrute“ für die Erschließung seiner Inhalte, die kulturelle Verfassungsvergleichung und „kulturspezifische Verfassungsinterpretation“ bleiben der Weg, Identität und Differenzen des Typus Verfassungsstaat und seiner nationalen Beispiele sensibel nachzuzeichnen. Doch ist der kulturwissenschaftliche Ansatz nur eine Ergänzung zu anderen Wegen bzw. Verständnissen: Verfassung als „Norm und Aufgabe“, als „Anregung und Schranke“, als Gehäuse für die mit juristischem „Handwerkszeug“ zu bearbeitenden und erarbeitenden Prinzipien. Er ist ein rechtliches Konstruktionsgebilde und ein öffentlicher Lebensvorgang. Der kulturwissenschaftliche Ansatz dient seiner Fundierung, Stabilisierung und Fortschreibung im „Laufe der Zeit“. So wie das Wort „Rechtskultur“ schon seit längerem seinen Dienst leistet (etwa als „europäische Rechtskultur“)30 und wir uns das „colere“ Ciceros (Pflegen, Hegen, Verehren), auch des Augustinus‘ „Colit nos deus“ und „Nos colimus deum“ vor Augen halten müssen31, so kann der Begriff „Verfassungskultur“ die Verfassung im sog. „Nicht-Rechtlichen“ i.S. D. Schindlers „Ambiance“ verwurzelt sehen. Die europäische Rechtskultur und die werdenden europäischen Verfassungskulturen i.S. des Europarechts im engeren Sinne der EU und des Europarechts im weiteren Sinne von Europarat und OSZE verweisen auf neue Horizonte. Die „orangene Revolution“ in Kiew (2004) holte sich Mut – in Polen und in der EU: von Polen den Runden Tisch als „kulturelles Gen“ der Menschheit, von Europa dessen Grundwerte.

4. Exkurs – werdend „Inkurs“: „Verfassungskultur“ als Vehikel für das konstitutionelle Völkerrecht? Dazu nur Stichworte für eine Bestandsaufnahme: I. Seit der frühen Grundlagenstudie von A. Verdross über die „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“32 hat konstitutionelles Denken im Völkerrecht eine große Tradition. Konstitutionelle Spurenelemente finden sich nicht nur 30 P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994; aus der Lit. bemerkenswert: R. Schulze (Hg.), Rechtssymbolik und Wertevermittlung, 2004. 31 Vgl. etwa Art. „Kultur“ in Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl. 12. Bd. 1990, S. 580 ff.; Rassem, Art. Kultur, in: Staatslexikon 7. Aufl. 3. Bd. 1987, Sp. 746 ff.; W. Schneemelcher, Art. Kultur, in: Ev. Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, Sp. 911 ff. 32 A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, 1923, S. 126 ff.; programmatisch fortgeführt in ders., Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926; siehe schließlich auch ders./B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 59 f.

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in den Völkerrechtstexten (UN-Charta, Menschenrechtskonventionen33, WTO als Teilverfassungen), sie müssen in weltweitem Rechts- und Kulturvergleich auch aus einer wertenden Zusammenschau nationaler Verfassungsnormen mit Bezug zum Völkerrecht gewonnen werden. Die konstitutionelle ist immer auch eine interkonstitutionelle Völkerrechtskonzeption.34 Sie will dem nachspüren, was die je nationalen Verfassungstexte in ihren völkerrechtsbezogenen Normen35 dank weltweiter Rezeptionszusammenhänge für die Entwicklung einer sich verfassenden Völkergemeinschaft leisten können. II. Für die kulturvergleichende Grundlegung des konstitutionellen Völkerrechts gilt es folgendes zu bedenken: Die neuzeitliche Völkerrechtsordnung gründet in der Idee einer christlich-europäischen Völkerfamilie, der universitas christiana.36 Doch die Entdeckung Amerikas, Reformation und Glaubenskriege entzogen diesem Universalitätsmodell früh seine religiös motivierte, eurozentrische Substanz.37 Die Menschheit selbst – in der allumfassenden societas humana des rationalistischen Naturrechts, in Vattels „société des nations“ schon im 18. Jahrhundert als Legitimationssubjekt der rechtlich geord33 Ch. Tomuschat, Die internationale Gemeinschaft, in: AVR 33 (1995), S. 1 ff.; W. Schreckenberger, Der moderne Verfassungsstaat und die Idee der Weltgemeinschaft, in: Der Staat 34 (1995), S. 503 ff., hier S. 507 ff.; A. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001; siehe auch F. Schorkopf/Ch. Walter, Elements of Constitutionalization: Multilevel Structures of Human Rights Protection in General International and WTO-Law, GLJ 4 (2003), S. 1359 ff. 34 P. Häberle, Das „Weltbild“ des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und „letztem” Geltungsgrund des Völkerrechts, in: FS M. Kriele, 1997, S. 1277 ff., hier S. 1278; daran anknüpfend M. Kotzur, Weltrechtliche Bezüge in nationalen Verfassungstexten. Die Rezeption verfassungsstaatlicher Normen durch das Völkerrecht, in: Beiheft zur Zeitschrift Rechtstheorie, 2005; ders., Wechselwirkungen zwischen Europäischer Verfassungs- und Völkerrechtslehre, in: Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 289 ff.; siehe auch B. Fassbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, in: EuGRZ 2003, S. 1 ff.; Ch. Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance: Possibilities and Limits to the Development of an International Constitutional Law, in: German Yearbook of International Law 44 (2001), S. 170 ff. 35 Ein Beispiel gibt die innerstaatliche Implementierung völkerrechtlicher Menschenrechtsstandards, siehe Ch. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozeß, in: ZaöRV 59 (1999), S. 961 ff.; ders., Nationale Durchsetzung der Grundrechte, in: R. Grote/Th.Marauhn (Hg.), Handbuch des Grund- und Menschenrechtsschutzes, 2005. 36 A. Verdross, Die Wertgrundlagen des Völkerrechts, in: AVR 4 (1953), S. 129 ff., bezeichnet das Völkerrecht als ein „Produkt der christlich-abendländischen Kultur“ (S. 129). 37 Wenngleich es in der Völkerrechtswirklichkeit bis zur nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Dekolonialisierungsphase ungleich länger brauchte, den Eurozentrismus auch de facto weitgehend zu überwinden.

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neten Völkergemeinschaft theoretisch angelegt38 – wurde zum Bezugspunkt einer „weltumspannenden Rechtsgemeinschaft“.39 Das Fundament eines vom Menschen ausgehenden, „menschheitlich“ konzipierten Völkerrechts bilden seit 1945 vor allem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) und die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen – ihrerseits ein Stück weit sprachliches „Konzentrat“ von „Text-Vorbildern und Textelementen“, die sich bereits in der Virginia Bill of Rights von 1776 oder der Französischen Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 finden lassen.40 III. In der Literatur finden sich aber auch Vorschläge, eine „Globalverfassung“ jenseits der tradierten Rechtsgebiete „Völkerrecht“ und „Internationales Privatrecht“ zu konzipieren: Das Konzept einer globalen Rechtsordnung sui generis, die unabhängig vom Völkerrecht und nationalen Rechten entsteht, ohne staatlichen Setzungsakt auskommt und sich der Gestaltungsmacht gesellschaftlicher Potenzen wie multinationaler Konzerne, Menschenrechtsorganisationen oder Massenmedien verdankt, gerät zu einem hochinteressanten Denkspiel.41 Von einer „lex spontiva internationalis“ ist mitunter die Rede. Im Schrifttum zum Internationalen Privatrecht wird die „lex mercatoria“ als Vision oder Wirklichkeit einer politikfernen transnati­onalen Rechtsordnung der Weltmärkte gleichermaßen propagiert wie bekämpft.42 Ohne auf Einzelheiten eingehen zu können, sei hier eines festgehalten: Jeder Entwurf rein autonomen transnationalen Rechts übersieht, dass die behauptete rechtssetzende Autorität nichtstaatlicher Akteure doch, wenn überhaupt, vor allem durch die Gestaltungsfreiheit möglich wird, die ihnen die nationalen Verfassungsordnungen einräumen. 38 W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, S. 689. 39 Ebd., S. 686; C.W. Jenks, The Common Law of Mankind, 1958, S. 19 und passim. 40 Das Textstufenmodell beschreibt P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: Ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff., hier S. 9. 41 V. Ronge, Am Staat vorbei, 1980; M.J. Bonell, Das autonome Recht des Welthandels – rechtsdogmatische und rechtspolitische Aspekte, in: RabelsZ 42 (1978), S. 485 ff.; J.Ph. Robe, Multinational Enterprises: The Constitution of a Pluralistic Legal Order, in: G. Teubner (ed.), Global Law Without A State, 1996; G. Teubner, Privatregimes: Neospontanes Recht und duale Sozialverfassung in der Weltgesellschaft, in: Liber amicorum S. Simitis, 2000, S. 437 ff. 42 Aus der Lit. vgl. etwa R. Meyer, Bona fides und lex mercatoria in der europäischen Rechtstradition, 1994; U. Stein, Lex mercatoria. Realität und Theorie, 1995; K. Highet, The Enigma of the Lex Mercatoria, in: Tulane Law Review 63 (1989), S. 613 ff.; G. Teubner, Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Basler Schriften zur Europäischen Integration Nr. 21, 1996, S. 3; ablehnend O. Sandrock, Das Privatrecht am Ausgang des 20. Jahrhunderts: Deutschland – Europa – und die Welt, in: JZ 1996, S. 1 ff., hier S. 9.

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IV. Der Bedingungszusammenhang, der so für das Verhältnis zivilgesellschaftlicher Handlungsfähigkeit und verfassungsrechtlicher Steuerung sichtbar wird, findet eine Parallele im Zusammenspiel von Verfassungs- und Völkerrecht. Die universellen Prinzipien des Völkerrechts haben umso höhere Effektivität, je intensiver die nationalen Verfassungsordnungen sie implementieren, und vice versa leisten die nationalstaatlichen Verfassungstexte in ihren völkerrechtlichen Öffnungsklauseln und Bekenntnissen zu Menschenrechtsgarantien einen originären Beitrag zur Entstehung respektive differenzierenden Fortschreibung neuer Rechtsnormen mit universellem Geltungsanspruch – das nationale und das Völkerstrafrecht mit der jeweiligen Geltung des Weltrechtsprinzips geben dafür ein anschauliches, auf verfassungsstaatliche Menschenrechtsstandards hin orientiertes Beispiel.43 Für genau diese Erscheinungsform gleichsam kooperativer Normerzeugung und Normverwirklichung zwischen nationalstaatlich verfasster und internationaler Gemeinschaft wird das Bild ineinandergreifender Teilverfassungen zum tragfähigen Modell. Die Begriffe „konstitutionelles Völkerrecht“, „kommunitäres Völkerrecht“, „internationales Verfassungsrecht“ setzen zusätzliche Akzente.44 V. Unschwer lassen sich Elemente einer „völkerrechtlichen Verfassungskultur“ erkennen: der erwähnte Zeitfaktor, der Wachstumsvorgang, der inten43 M. Kotzur, Weltrecht ohne Weltstaat – die nationale (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit als Motor völkerrechtlicher Konstitutionalisierungsprozesse, in: DÖV 2002, S. 195 ff.; W. Weiß, Völkerstrafrecht zwischen Weltprinzip und Immunität, in: JZ 2002, S. 696 ff., hier S. 698 ff.; Ch. Safferling, Zum aktuellen Stand des Völkerstrafrechts, in: JA 2000, S. 164 ff. Zum Internationalen Strafgerichtshof und dem „Statute of Rome“: Text des Statuts: A/CONF. 183/9 vom 17. Juli 1998, deutsche Übersetzung in: EuGRZ 1998, S. 618 ff. Aus der Lit.: Ch. Tomuschat, Das Statut von Rom für den internationalen Strafgerichtshof, in: Friedens-Warte 73 (1998), S. 335 ff.; A. Zimmermann, Die Schaffung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs, in: ZaöRV 58 (1998), S. 47 ff.; C. Stahn, Zwischen Weltfrieden und materieller Gerechtigkeit: Die Gerichtsbarkeit des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IntStGH), in: EuGRZ 1998, S. 577 ff., hier S. 590 f.; U. Fastenrath, Der Internationale Strafgerichtshof, in: JuS 1999, S. 632 ff.; K. Ambos, Der neue Internationale Strafgerichtshof – ein Überblick, in: NJW 1998, S. 3743 ff., hier S. 3746; ders., „Verbrechenselemente“ sowie Verfahrens-Beweisregeln des Internationalen Strafgerichtshofs, in: NJW 2001, S. 405 ff.; Ch. Walter, Zwischen Selbstverteidigung und Völkerrecht: Bausteine für ein internationales Recht der „präventiven Terrorismus-Bekämpfung“, in: D. Fleck (Hg.), Rechtsfrage der Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte, 2004, S. 23 ff.; G. Werle, Völkerstrafrecht, 2003; F. Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2003; J. Schlösser, Mittelbare individuelle Verantwortlichkeit im Völkerstrafrecht, 2004. 44 M. Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, in: JZ 2002, S. 569 ff., hier S. 578; internationale Wirkungszusammenhänge beleuchtet ferner S. Kadelbach, Internationale Verflechtung, in: B. Pieroth (Hg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, S. 160 ff., hier S. 162; m.w.N. kritisch U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, in: AöR 2003, S. 511 ff.

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sive Wirklichkeitsbezug (auf den Herb. Krüger immer wieder hinwies, so wie D. Schindler das Völkerrecht als typisch „werdendes Recht“ gekennzeichnet hat). Sieht man das Völkerrecht als „verfassungsstaatlichen Grundwert“, dann ist die Relevanz der „Verfassungskultur“ evident. Dies erforderte einen eigenen Beitrag mit eigenem Theorierahmen. Er bleibe der nächsten Generation überlassen.45

5. Dank und Ausblick Mein Dank gilt dem „deutschen bzw. europäischen Griechen“ D. Tsatsos46 und seinem „Bruder im Geiste“ Peter Brandt. Zwar durfte ich schon des öfteren Tagungen, vor allem im Ausland, im Blick auf meine kulturwissenschaftlichen Versuche eröffnen und mit bestreiten (etwa in Granada, Athen und Rom sowie in Trient 1999 bzw. 2001 und 2003), doch in diesem Tagungsprogramm wird Besonderes konzipiert. Dabei leben wir alle von der Einsicht, dass auch der immer wieder gefährdete Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe ein unverzichtbares Utopiequantum, Horizonte der Hoffnung, braucht (Das amerikanische „pursuit of happiness“ gehört hierher, auch so manches Staatsziel, z.B. „Europa“, „Frieden in der Welt“). Dabei kann das Konzept der „Verfassungskultur“ (in Singular und Plural) helfen. Vor allem aber ist heute das „Utopiequantum“ des Verfassungsstaates das Völkerrecht. Seine allgemeinen Grundsätze sind ein Grundwert des Verfassungsstaates oder befinden sich doch auf dem Weg, ein solcher zu werden. „Weltbürgertum aus Kunst und Kultur“, die Konstitutionalisierung des Völkerrechts, seine Anverwandlung zum „Innenrecht“ des Verfassungsstaates, seine Konstruktion vom Menschen und Bürger her im Geiste Kants sind Stichworte. Vor allem aber: die Welt ist kein Markt, sie ist universale und partikulare Kultur, alle mögliche und wirkliche Freiheit ist kulturelle Freiheit. Die Übertragung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes auf das Völkerrecht bleibt ein Desiderat, nicht zuletzt um der Ökonomisierung entgegenzutreten. Frieden ist ein Kulturzustand, nicht nur, aber auch dank einer sich reformierenden UN. Wir brauchen eine neue „Schule von Salamanca“! Sie könnte eine „Kultur des Völkerrechts“ entwerfen, die dem Mühen um „Verfassungskultur“ zur Seite steht. Das Völkerrecht wäre in diesen Horizont einzubeziehen. 45 Andeutungen in meinem Beitrag: Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht, FS Zuleeg, 2005, S. 80 ff. 46 Würdigungen: I. Pirgiotakis, in: FS Tsatsos, 2003, S. 517 ff.; P. Häberle u.a. (Hg.), Staat und Verfassung in Europa, 2000; K. Hesse, in: D. Tsatsos, Verfassung – Parteien – Europa, 1999.

HANS VORLÄNDER

„Verfassungskultur“ aus politikwissenschaftlicher Perspektive Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft

Verfassungswissenschaften als Kulturwissenschaften – das ist Programm, und zwar in zwei Hinsichten. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft ist erstens Integrationswissenschaft: „Sie integriert das von den einzelnen Geistesund Sozial-, von den Norm- und Wirklichkeitswissenschaften allzu getrennt Gedachte – soweit es die Sache Verfassung betrifft“1. Zweitens wird das Integrative, der „interdisziplinäre Gesprächszusammenhang“ über die „Kultur“ hergestellt: „Eine kulturwissenschaftliche (Verfassungs-)Rechtswissenschaft lenkt also den Lichtkegel des Erkenntnisinteresses auf die kulturellen Dimensionen der und in der Verfassung“2. Die Wissenschaft von der Verfassung, die sich über die Kultur ihren gemeinsamen Gegenstand und damit als Integrationswissenschaft findet – das ist das ambitionierte Programm einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft. Was aber bedeutet das konkret? In aller gebotenen Kürze und stark pointierend möchte ich zunächst herausstellen, worauf es Peter Häberle ankommt.3

1 Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1998, S. 585. 2 Ebd., S. 586. 3 Der Stil eines Vortrags (Hagen 2005) wurde im Wesentlichen beibehalten; auf eine aktualisierende Überarbeitung des Textes wurde verzichtet; in den Anmerkungen sind indes Verweise auf in der Zwischenzeit erfolgte, auch weiterführende Arbeiten des Verfassers eingefügt worden. Zum Thema jetzt v.a. Silke Hensel u.a. (Hg.), Constitutional Cultures. On the Concept and Representation of Constitutions in the Atlantic World, Newcastle upon Tyne 2012 (darin Hans Vorländer, What is „Constitutional Culture“, S. 21–41). Zu Häberles Programm vgl. André Brodocz, Die symbolische Dimension konstitutioneller Institutionen. Über kulturwissenschaftliche Ansätze in der Verfassungstheorie, in: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 134 ff., und zu Häberles verfassungstheoretischem Ansatz bereits früher Hans Vorländer, Verfassung und Konsens. Der Streit um die Verfassung in der Grundlagen- und Grundgesetz-Diskussion der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1981, S. 333 ff.

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Hans Vorländer

1. Peter Häberles Programm einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft Häberle kommt es, erstens, darauf an, die unheilvolle Auseinanderentwicklung der Verfassungs- und Staatslehre und damit auch die Borniertheiten von Positivismus und Dezisionismus zu überwinden. Die kulturwissenschaftliche Wendung der Verfassungswissenschaft besteht für Häberle in der Verpflichtung, die Verfassung nicht nur juristisch, sondern auch geistes-, sozial- und eben kulturwissenschaftlich in den Blick zu nehmen. Dahinter steht, zweitens, die Überzeugung, dass das Recht immer auch über Normen, die unmittelbar oder mittelbar aus der Kultur hervorgehen, erzeugt wird. Anders formuliert: Normen gelten nicht nur deshalb, weil sie gesetzt sind. Satzungsgeltung ist eine Form der Geltung, aber keineswegs die einzige, vor allem nicht eine solche, die die Verfassung auf Dauer in Geltung hält.4 Daraus folgt, drittens, dass Verfassung immer über eine „kulturelle Grundierung“5 verfügt. Neben dem Verfassungstext gibt es einen (kulturellen) Kontext, der auf den Verfassungstext, seine Formulierung wie seine Interpretation und Fortbildung, einwirkt. Dahinter steht die Beobachtung, dass ein gleicher Text nicht die gleiche Bedeutung hat. Bedeutungsvarianten konstitutioneller Begrifflichkeiten erklären sich aus kulturellen Divergenzen und Partikularitäten.6 Neben dem Problemzusammenhang von Text und Kontext tritt der von Zeit und Raum. Damit ist die Rekonstruktion der kulturellen Grundierungen, viertens, auf den Rechtsvergleich in diachroner und synchroner Form angewiesen. Das Vorher und Nachher einer Verfassung wird historisch verglichen, und nebeneinander existierende Verfassungen werden im Raum, im Hier und Dort, miteinander in Beziehung gesetzt. Hierauf beruht, fünftens, die Methodik des „historischen und kontemporären Textstufenvergleichs“7. In Zeit und Raum können Textstellen identifiziert und miteinander verglichen werden. Die Unterschiede in den Texten lassen 4 Vgl. auch Hans Vorländer, Gründung und Geltung. Die Konstitution der Ordnung und die Legitimität der Konstitution sowie ders./Gert Melville, Geltungsgeschichten und Institutionengeltung, beide in: Gert Meville/Hans Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, S. 234–264 u. S. VIII–XV. 5 Peter Häberle (wie Fn. 1), S. 83 u. 88. 6 Vgl. auch Hans Vorländer, Verfassung und politische Kultur. Anmerkungen aus aktuellem Anlaß, in: Jürgen Gebhardt (Hg.), Verfassung und politische Kultur, Baden-Baden 1999, S. 75–84. 7 Ebd., S. 351.

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sich damit schließlich kulturell erklären. Kultur wird zur historischen und systematischen Vergleichsvariable. Damit aber nicht genug. Sechstens gibt die kulturelle Perspektive den Blick frei auf die kulturelle Evolution verfassungsstaatlicher Verfassungen. Fast so, wie Arnold Toynbee sich den universellen Gang der Geschichte vorstellte, nämlich als ein Muster von challenge and response, so heißt es bei Häberle: „Die Textstufen sind ‚Antworten‘ auf bisherige Entwicklungen, Herausforderungen und Probleme, aber auch Hinweise auf ‚neue Ufer‘ bzw. Fragenkreise, zu denen der Verfassungsstaat als Typus aufbricht. Sie bilden insoweit verlässliche, aussagekräftige ‚Materialien‘ der gestuften kulturellen Evolution des Verfassungsstaates“.8 Die Methodik des Textstufenvergleichs zeigt also, dass verschiedene Verfassungen und Verfassungskulturen füreinander Kontext sind und aufeinander einwirken und dass die Rezeption anderer Verfassungskulturen dabei, nicht zuletzt auf dem Wege der Hybridisierung unterschiedlicher Konstitutionalismen, zum wichtigsten Mechanismus konstitutioneller Evolution wird.9 In diesem Zusammenhang nimmt dann schließlich, siebtens, der Begriff der Verfassungskultur eine zentrale Stellung ein, wobei Verfassungskultur mit der „politischen Kultur“ in einem engen Zusammenhang steht, jene, wie Häberle formuliert10, einen „spezifischen Aggregatzustand“ dieser darstellt. „Verfassungskultur“ ist Ergebnis „generationenlanger Arbeit an der Verfassung“. In der Verfassungskultur drücken sich die „kulturellen Kristallisationen und Objektivationen“ in einer gewissen Dauerhaftigkeit aus. Der Begriff der Verfassungskultur ist zugleich aber auch ein fluider Begriff, weil er abstellt auf das gesamte Feld der gesellschaftlichen und politischen Interpretation der Verfassung. Die „Arbeit an der Verfassung“ ist ein in Zeit und Raum offener Prozess.

2. Die Politikwissenschaft und die Verfassung Was ist dabei nun die genuin politikwissenschaftliche Perspektive auf ein solches Programm von „Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft“ – und welchen Platz nimmt darin der Begriff der „Verfassungskultur“ ein? Sehe ich einmal von vereinzelten Bemühungen in den letzten 30 Jahren ab, so lässt sich feststellen, dass die Politikwissenschaft lange Zeit sowohl den Gegenstand 8 Ebd., S. 355. 9 Vgl. zum konstitutionellen Mimetismus auch Jürgen Gebhardt, Verfassung und Symbolizität, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, S. 585–602. 10 Peter Häberle (wie Fn. 1), S. 91.

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der Verfassung aus den Augen verloren hat als auch die Beschäftigung mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen schuldig geblieben ist. Damit will ich nicht sagen, dass sich an diesem Befund bis heute grundlegend etwas verändert hat. Doch glaube ich festhalten zu können, dass die Politikwissenschaft auch ihrerseits dabei ist, beide Themen, den Gegenstand der Verfassung und die methodisch-theoretischen Anregungspotentiale der Kulturwissenschaft, für sich neu zu entdecken. Dass die Politikwissenschaft den Gegenstand der Verfassung lange aus ihrem Horizont ausgeblendet hatte, lag an ihrer szientistisch-technizistischen, an ihrer empirisch-positivistischen Wendung im Laufe der letzten 30, 40 Jahre – ein Prozess, der bekanntlich in den USA sehr viel früher eingesetzt hatte und der die moderne Sozial- und Politikwissenschaft, das ist einzuräumen, auf manchen Feldern der Analyse sehr beflügelt hat. Doch der Beschäftigung mit Verfassungsfragen war das nicht förderlich. Dass es sich bei Verfassungsfragen immer um Grundlagenfragen des Politischen, nämlich die Ordnung der Gesellschaft nach Regeln und Normen, handelt, geriet der Politikwissenschaft aus dem Blick. Stattdessen war die Verfassung eher eine abgeleitete, aus den faktischen Machtverhältnissen heraus zu bestimmende Größe, allenfalls als der technische Bauplan für ein funktionstüchtiges oder aber Strukturdefekte generierendes Regierungssystem in den Fokus zu nehmen. Die aristotelische Tradition der Wissenschaft von der Politik, die die Frage nach der guten und gerechten Ordnung mit der Frage nach den richtigen und begründbaren Verfassungsformen untrennbar verbunden hatte, hatte jedenfalls entscheidend an Boden verloren. Disziplinengeschichtlich war auch mit dem Auseinanderbrechen der alten „Staatswissenschaften“ und jener Ausdifferenzierung einer gesonderten Staatsrechtswissenschaft ein Weg vorgezeichnet gewesen, der der Politikwissenschaft als einer Form empirischer Wirklichkeitswissenschaft in der Analyse von Macht, Herrschaft und dem Handeln von politischen Akteuren den Vorrang gab. Auch dort, wo sich die Politikwissenschaft der jungen Bundesrepublik als „Demokratiewissenschaft“, später als „Oppositionswissenschaft“ verstand, ging es, abgesehen von Ausnahmen wie Fraenkel11, Sternberger12 oder Graf Kielmansegg13, stärker um die allgemeinen Aspekte einer effizienten Regierungslehre, um die Steuerungsfähigkeit und Krise des Staates oder eine stabile und funktionsfähige Binnenstruktur eines demokra11 Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 4. Aufl. Stuttgart 1986. 12 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus. Schriften Bd. 10, Frankfurt a.M. 1990. 13 Peter Graf Kielmansegg, Das Experiment der Freiheit. Zur gegenwärtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart 1988. Jetzt auch: Ders., Grammatik der Freiheit. Acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat, Baden-Baden 2013.

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tischen Regierungssystems. Im Blick auf die „lebende Verfassung“ (Sternberger) ging bisweilen dann doch auch der Blick auf die Verfassung als allgemeiner politischer Ordnungsbegriff unter. Erst mit der Diskussion um den „Verfassungspatriotismus“, zuerst von Sternberger eingeführt, dann von Habermas in polemisch-pädagogischer Absicht popularisiert14, setzte eine Reflexion auf die Ordnungsgrundlagen einer guten und gerechten Ordnung langsam wieder ein. In jüngster Zeit kommt die Verfassung als Ordnungsbegriff wieder stärker in den Fokus der Politikwissenschaft. Das hat einmal mit der Erkenntnis zu tun, dass sich „fortgeschrittene“ Demokratien als Verfassungsdemokratien, als konstitutionelle oder Grundrechtedemokratien, ausgeprägt haben.15 Damit einher geht die Erkenntnis, dass der Konstitutionalismus, auch und gerade nach den Revolutionen, zuerst in Südeuropa, dann in Ost- und Mitteleuropa, einen Siegeszug davongetragen hat.16 Und das hat, in der Bundesrepublik Deutschland vor allem, zu der Erkenntnis geführt, dass sich moderne Gesellschaften auch und nicht zuletzt über Verfassung und Recht integrieren und dass dabei Institutionen wie die Verfassungsgerichtsbarkeit eine nicht unerhebliche Rolle, nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch in der Gestaltung von Politik und der Diskussion der grundlegenden Ordnungsprobleme einer Gesellschaft, spielen.17 Die Verfassung wird immer stärker zu einem Forum, auf dem gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse ausgetragen werden.18

14 Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: Ders., Verfassungspatriotismus (wie Fn. 12), S. 13–16, und Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a.M. 1987; ders., Grenzen des Neohistorismus, in: Ders., Die nachholende Revolution, Frankfurt a.M. 1990, S. 149–156, hier S. 151 ff. 15 So schon früher Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953; Herbert J. Spiro, Government by Constitution: The Political Systems of Democracy, New York 1959; Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Köln 1989; vgl. auch Alec Stone Sweet, Governing with Judges. Constitutional Politics in Europe, Oxford 2000; Hans Vorländer, Die Verfassung – Idee und Geschichte, 2. Aufl. München 2004. 16 Hans Vorländer u.a., The Triumph of Constitutionalism in the 20th Century, in: Brigitte Georgi-Findlay/Hans Ulrich Mohr (Hg.), Millennial Perspectives: Lifeworlds and Utopias, Heidelberg 2003, S. 227–247. 17 Hans Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002; ders. (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006. 18 So schon – in verfassungskultureller Analyse – Hans Vorländer, Forum Americanum. Kontinuität und Legitimität der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 1787– 1987, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 36 (1987), S. 451–488.

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3. Der Zusammenhang von Politik, Kultur und Verfassung Auf drei Feldern zeigt sich die Hinwendung zu Fragestellungen, die im Konzept einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft thematisiert werden können und insofern den interdisziplinären Gesprächszusammenhang konstituieren, den auch Peter Häberle für sein Projekt intendiert. Das erste Feld ist das der politischen Theorie. Es geht hier vor allen Dingen um die Aufdeckung der Geltungszusammenhänge von Verfassungen. Bei keinem Geringerem als Jürgen Habermas und in seiner Studie von Faktizität und Geltung taucht – einigermaßen überraschend – der Begriff der politischen Kultur an nicht unbedeutender Stelle auf.19 Eigentlich dürfte der Begriff der politischen Kultur in den diskurstheoretischen Begründungszusammenhängen keine Rolle spielen. Und dennoch, als wenn Habermas seinem diskursiven Normenbegründungszusammenhang nicht so recht trauen sollte, führt er die politische Kultur als zusätzliche, aus der politischen Lebenswelt zu generierende Geltungsressource für die rechtsstaatliche und demokratische Verfassung ein. Gerade die permanente Verfassungsgeltung wird auf den in einer freiheitlichen politischen Kultur enthaltenen und explizierten Hintergrundkonsens orientiert. Auch die Geltung der ein solches Verfassungsverständnis tragenden Normen wird keinesfalls allein den kommunikativen Strukturen einer diskurstheoretischen Begründung zugeschrieben, sondern als „Entgegenkommen einer liberalen politischen Kultur“20 den kulturellen Traditionen und eingeübten Verhaltensweisen überantwortet. Doch bleibt bei Habermas der systematische Ort der politischen Kultur für die Begründung von Normativität und Geltung der Verfassung offen. Eine fast analoge Argumentation lässt sich bei John Rawls und seiner Begründung der Konzeption des Rechts finden. Ich denke dabei weniger an seine kontraktualistisch argumentierte Theorie der Gerechtigkeit von 1971, sondern vor allem an seine theoretischen Modifikationen, beginnend mit „Theory of Justice – Political not Metaphysical“ von 1984/85, die zu einer, in der Konsequenz, Common Sense-Theorie des demokratischen Verfassungsstaates geführt haben.21 Auch bei Rawls ist von der politischen Kultur die Rede, aus der heraus die Sinngehalte und Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates gewonnen, besser gesagt: expliziert werden. Unter „politischer Kultur“ werden also in beiden Fällen, bei Habermas und bei Rawls, Dispositionen und 19 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1998. 20 Ebd., S. 678, vgl. in diesem Sinne auch ebd., S. 385, 395, 434, 446 u. 642 f. 21 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2003; ders., Die Idee des Politischen Liberalismus, Frankfurt a.M. 1994.

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Traditionen, Gewohnheiten und Überzeugungen verstanden, die eine freiheitliche, rechtsstaatliche und demokratische Verfassung zu stützen in der Lage sind. Damit komme ich zum zweiten Feld, der Hinwendung der politikwissenschaftlichen Kulturforschung zu einem neuen Verständnis von „politischer Kultur“. Einher geht mit dieser Reorientierung innerhalb der Politischen Kulturforschung der Rückgriff in der Politikwissenschaft auf neuere kulturwissenschaftliche Ansätze – das dritte Feld, wobei hier weniger die Einholung der deutschen kulturphilosophischen Tradition gemeint ist, vielmehr jene Ansätze aus Kulturanthropologie und Ethnomethodologie und neuere Ansätze der ideengeschichtlichen Forschung, vor allem aus dem anglo-amerikanischen Bereich, reflektiert werden.22 Beide Felder, die Neujustierung der politischen Kulturforschung und der Einbezug kulturwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden, möchte ich im Folgenden zusammen behandeln, weil sich hierin auch eine systematische theoretische Perspektive für das Verhältnis von Kultur, Politik und Verfassung gewinnen lässt, die also nicht nur additiv, sondern konstitutiv zu verstehen ist. Der systematische Aspekt besteht in einer Reflexion auf die kulturelle Codierung der Weltwahrnehmung, den kulturellen Charakter der Deutung der politischen Welt. Eine Verfassungswissenschaft, die Kulturwissenschaft sein möchte, wird zu ihrer Grundlegung an einer solchen systematischen Überlegung nicht vorbei kommen. Die Politische Kulturforschung hatte zunächst versucht, die subjektive Dimension von Politik mittels der Aggregierung von Einstellungen in Survey-Untersuchungen und/oder durch die behavioristische Analyse von Verhaltensweisen individueller oder kollektiver sozialer und politischer Akteure zu erfassen. An dieser Konzeption von politischer Kultur, wie sie vor allem Almond und Verba eingeführt haben, hat sich dann eine grundlegende Kritik herausgebildet, die vor allem die kollektive, gesellschaftliche, intersubjektive Dimension von Kultur einbezogen wissen wollte. Der grundlegende Einwand gegen die vorwiegend quantitativ und szientistisch orientierte Politische Kulturforschung ist, dass sie die überindividuellen kulturellen Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse, die sozial vermittelten „shared meanings“ und Weltbilder nicht oder nur unzureichend erfasst.23 22 Vgl. jetzt die Beiträge in Birgit Schwelling Hg. (wie Fn. 3). 23 Vgl. u.a. Karl Rohe, Politische Kultur und der kulturelle Aspekt politischer Wirklichkeit – Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Fragestellung Politischer-Kultur-Forschung, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.), Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung. PVS Sonderheft 18, Opladen 1987, S. 39–48; Jürgen Gebhardt, Politische Kultur und Zivilreligion, in: Ebd., S. 49–60.

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Die Neuorientierung in der Politischen Kulturforschung ist dagegen getragen von den kulturtheoretisch und auch kulturanthropologisch informierten zwei Prämissen: Erstens, Politik stellt eine soziale Aktivität dar, die in gesellschaftlich konstituierten Sinnbezügen steht, durch sie Präferenzen, Eingrenzungen und Ausrichtungen erfährt, die aber selbst zur symbolischen und normativen, deutenden und handlungsleitenden Interpretation von Leben und kulturellen Lebensweisen beiträgt. Zweitens, Kulturen, in denen sich die sozialen Sinngehalte einer Gemeinschaft oder Gesellschaft manifestieren und in denen sich die Sinnbezüge von Politik auskristallisieren, unterscheiden Gesellschaften voneinander. Kulturen unterscheiden sich also in ihren Weltbildern. Ein Konzept Politischer Kulturforschung, das sich die Entschlüsselung des „kulturellen Codes“ von politischen Gesellschaften zur Aufgabe macht, setzt andere, erweiternde theoretische und methodische Akzente als ein allein auf Umfrageforschung basierender Ansatz. Hierzu ist eine Rückbesinnung auf interpretativ-hermeneutische Ansätze und eine Neuorientierung auf diskursund sprachanalytische Methoden notwendig, mit deren Hilfe kulturelle und kollektive Vorstellungen und Selbstverständnisse einer Gesellschaft, die sich unter anderem in Texten, Symbolen, Ritualen etc. manifestieren, erschlossen werden können. Politische Kultur lässt sich somit verstehen als das Ensemble verfestigter Einstellungen und Werte sowie Denkformen, Vorstellungen und Verhaltensweisen, die in einer Gesellschaft vorfindlich sind und weder durch staatlich sanktionierte Regeln noch durch unmittelbar materielle Abhängigkeiten bestimmt sind – und die dennoch zur Stabilisierung und Integration der Gesellschaft beitragen. Damit erweitert sich der Gegenstandsbereich politischer Kultur von der Orientierung kognitiver, affektiver und evaluativer Einstellungen zum politischen System und seinen Leistungen zu den normativen Vorstellungen über die gesellschaftlichen Grundlagen politischer Ordnungen.24 Kultur wird damit als eigenständige Variable verstanden. Einstellungen wie Vorstellungen, Ideen wie Begriffe (so auch der Verfassung), „konstituieren“ Realität insofern, als sie den Ausschnitt wahrgenommener, perzipierter Realität strukturieren. Kultur, so hat Max Weber definiert, „ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“.25 Kultur ist entscheidend „nicht nur für das, was als ,wertvoll‘, sondern auch für das, was als bedeutsam oder bedeutungslos, als ,wichtig‘ und ,unwichtig‘ an den Er24 Vgl. Hans Vorländer, Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und Politische Kultur in den USA 1776–1920, Frankfurt a.M. 1997, S. 65 ff. 25 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 180.

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scheinungen gilt“.26 Kultur in dem hier verstandenen Sinne lässt auch Institutionen und soziale Praktiken erst zu dem werden, was sie sind: „No institution or practice is what it is, or does what it does … for institutions and practices are always partially … constituted by what certain people think and feel about them“27. Anders ausgedrückt: Institutionen und soziale Praktiken werden erst durch ihre Verordnung und Verankerung in einem kulturellen Bedeutungsfeld zu dem, was sie sind. Diese Überlegungen schließen eine Reihe von kulturwissenschaftlichen Ansätzen und Theorieentwicklungen ein, die, bei aller Unterschiedlichkeit, zwei Gesichtspunkte gemeinsam haben: Erstens sehen sie in Sprache, Symbolen und geteilten Überzeugungen, also in einem System intersubjektiver Bedeutungen, die Grundlagen von Gemeinschaft. Bedeutungen sind die Voraussetzungen für Handeln, umgekehrt gilt aber auch: Handeln ist Deuten, es schafft Bedeutungen. Zweitens finden diese „geteilten Überzeugungen“, die „Bedeutungsgewebe“ (Clifford Geertz), die großen und kleinen sinnhaften Welten, ihren materiellen Niederschlag in sprachlichen und nichtsprachlichen Zeugnissen gesellschaftlicher Selbstverständigung. Bedeutungswelten, Sinnbezüge, politische Deutungskulturen finden ihren Ausdruck in Sprache, Diskursen, Texten, Praktiken und Institutionen, zusammengenommen also in unterschiedlichen symbolischen Formen, in denen Sinn zum Ausdruck gebracht wird.

4. Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft Hier nun kann eine politikwissenschaftliche Verfassungstheorie ansetzen und zugleich die Brücke zu einer sich interdisziplinär verstehenden Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft schlagen.28 Die Wissenschaft von der Politik war seit ihren aristotelischen Anfängen eine Wissenschaft vom Handeln des Menschen in einer guten und gerechten Ordnung. Der Begriff der Verfassung ist also als allgemeiner politischer Ordnungsbegriff zu restituieren. In einer Verfassung, so kann hier argumentiert werden, werden die 26 Ebd., S. 182. 27 Alasdair MacIntyre, Against the Self-Image of the Age, London 1971, S. 263. 28 Vgl. jetzt ausführlich meine Überlegungen in Hans Vorländer, Die Verfassung als symbolische Ordnung. Perspektiven einer kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie, in: Michael Becker/Ruth Zimmerling (Hg.), Politik und Recht. PVS Sonderheft 36, Wiesbaden 2006, S. 229–249, und die dort angeführten Arbeiten, die im Rahmen des Dresdner Sonderforschungsbereichs 537 (Projekt „Verfassung als institutionelle Ordnung des Politischen“) entstanden sind.

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grundlegenden Ordnungsvorstellungen des politischen Gemeinwesens symbolisch zum Ausdruck gebracht.29 Dabei kommt es entscheidend auf die symbolischen Formen der Ordnungsrepräsentation an. Symbolische Formen – ein Begriff, der der Philosophie Ernst Cassirers entlehnt ist – sind die Vermittlungsformen zwischen der politischen Kultur, in der die politischen Ordnungsvorstellungen enthalten und verhandelt werden, und der Verfassung, in der diese Ordnungsvorstellungen zu einem normative Verbindlichkeit beanspruchenden Regelwerk verdichtet werden. Die symbolischen Formen sorgen dafür, dass die Vorstellungen über die Grundlagen des Politischen zu etwas Sinnhaftem und zu etwas Gültigem verarbeitet werden. Symbole lassen sich demnach keineswegs nur auf expressive oder additive Funktionen bereits konstituierter Ordnungen und ihrer institutionellen Formen reduzieren, auch nicht als Muster von Täuschungs- oder Ersatzhandlungen verstehen. Symbole sind „Vehikel der Sinnbildung“, sie geben Handlungen und Orientierungen sinnstiftende Deutungen. Der Sinn einer Verfassung als einer solchen symbolischen Ordnung ergibt sich nicht daraus, dass ihr eine normativ-regulative Funktion eingeschrieben ist – ein positivistischer Kurzund ein nominalistischer Fehlschluss –, sondern daraus, dass ihr herausgehobene, grundlegende Ordnungsvorstellungen und Leitideen zugeschrieben werden und von ihr eine instrumentell-steuernde Funktion erwartet wird. Verfassungen sind symbolische, keine feststehenden Ordnungen, sie stellen Ordnungsbehauptungen und Geltungsansprüche auf, können sie aber von sich aus nicht einlösen. Verfassungen sind auf symbolische Darstellungsformen angewiesen30, die ihr Geltung, das heißt Akzeptanz und Anerkennung, verschaffen. Symbolizität und Funktionalität lassen sich deshalb nicht trennen, die Funktionalität der Verfassung liegt in ihrer symbolischen Bedeutung. Zusammenfassend kann also festgehalten werden: Unter Konstitutionalismus können jene grundlegenden Ordnungsvorstellungen des Politischen verstanden werden, denen in einem politischen Gemeinwesen ein besonderer normativer Rang zugeordnet wird. Solche grundlegenden Ordnungsvorstellungen müssen nicht immer in urkundlicher Form, als geschriebene Ver29 Wenn man mit Eric Voegelin zudem davon ausgehen kann, dass eine jede Ordnung auf Erfahrung beruht, dass „die Realität der Erfahrung selbst-interpretativ“ ist, also Gesellschaften sich beständig selbst interpretieren, dann bringt sich der Sinn der Ordnung in symbolischen Formen der Gesellschaft zum Ausdruck, vgl. Eric Voegelin, Autobiographische Reflexionen, München 1994, S. 100. 30 Wobei der Text, die Schriftlichkeit, nur eine Form neben vielen anderen – Erlebnis, Fest, Richterinszenierung, Oralität etc. – ist. Vgl. Hans Vorländer, Verfassungen leben nicht vom Text allein. Wie die normative Kraft von Verfassungen erzeugt wird, in: Karénina Kollmar-Paulenz u.a. (Hg.), Kanon und Kanonisierung. Ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften im Interdisziplinären Dialog, Basel 2011, S. 79–97.

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fassung und in Rechtsform vorliegen. Auch ungeschriebene Konventionen können, genauso wie einzelne Gesetze oder Regelungen, den Rang einer Verfassung erhalten und auch als „Verfassung“ bezeichnet werden. Die englische Entwicklung, die keine geschriebene Verfassung im kontinentaleuropäischen und nordamerikanischen Verständnis besitzt, ist gleichwohl immer davon ausgegangen, dass es eine constitution gibt.31 Auch meine Überlegungen zeigen an, dass der Begriff der Verfassung oder des Konstitutionalismus aus einer juristischen Engführung zu befreien ist. Denn eben nicht allein die rechtliche Verfassung beinhaltet jene grundlegenden Ordnungsprinzipien des Politischen, sondern es kommen kollektive Vorstellungen und soziale Praktiken hinzu, in denen sich diese Ordnungsprinzipien und ihre Anerkennung ausbilden und die einer – rechtlichen – Verfassung erst den normativen Rang und die Geltung sichern, die zu ihrer Aufgabenerfüllung notwendig ist. Mehr noch, Verfassungen sind immer in kulturelle und historische Kontexte eingelassen, sie sind eingebettet in eine politische Kultur, aus der heraus sich Rang, Stellung und Ordnungsgehalt der Verfassung ergeben. Deshalb erscheint es auch sinnvoll, von historisch distinkten Verfassungskulturen zu sprechen, in denen jene Ordnungsgehalte und Prinzipien enthalten sind und präsent gemacht werden. Unter Verfassungskulturen können damit jene verfestigten, über lange Zeit bestehenden kollektiven Vorstellungen und Praktiken verstanden werden, die die Sinngehalte einer spezifischen politischen Ordnung normativ auszeichnen.

31 Vgl. zu den unterschiedlichen Verfassungskulturen Hans Vorländer (wie Fn. 15), S. 34 ff. und ders., Die drei Entwicklungswege des Konstitutionalismus in Europa, in: Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (Hg.), Die Europäische Union als Verfassungsordnung, Berlin 2004, S. 21–42.

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„Verfassungskultur“ Überlegungen aus historisch-kulturwissenschaftlicher Sicht

Die kulturwissenschaftliche Wende, die seit zwei Jahrzehnten das Profil der Geistes- und Sozialwissenschaften nachhaltig veränderte1, hat in jüngster Zeit auch die verschiedenen Disziplinen der rechts- und verfassungsgeschichtlich interessierten Forschung erreicht. Im besonderen Fokus steht dabei die Diskussion über das Konzept der „Verfassungskultur“. Worin aber liegt die Besonderheit eines geschichtswissenschaftlichen Blicks auf „Verfassungskultur“ im Vergleich zu politikwissenschaftlichen Sichtweisen oder zu Ansätzen in der Rechtswissenschaft, von wo aus diese Diskussion ihren Ausgang genommen hat?2

1. Problemstellung Diese Frage ist komplexer und darum schwieriger zu beantworten, als es auf den ersten Blick scheint. Denn im Unterschied zur Rechts- und Politikwissenschaft, deren Sichtweisen aus der sachlich begründeten Perspektive eines jeweils spezifischen sozialen und wissenschaftlichen Feldes, eben der Politik und des Rechts, erfolgt, besitzt die Geschichtswissenschaft kein vergleichbar genuines Feld. Weder ist sie eine Wissenschaft von der Vergangenheit – eine Auffassung, die bereits Marc Bloch als „absurd“ zurückgewiesen hat3 –, noch eine bloße Darstellung von Ereignis- und Geschehensabläufen in der Vergangenheit. Daher kann, auch in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen selbst, potentiell alles zum Gegenstand historischen Forschens 1 S. hierzu Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht s. Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001; Reinhard Blänkner, Historische Kulturwissenschaften im Zeichen der Globalisierung, in: Historische Anthropologie 16 (2008), S. 341–372. 2 S. Peter Häberle, Europäische Rechtskultur, Frankfurt a.M. 1997, insbes. S. 16–20; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. erw. Aufl. Berlin 1998; ders., Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden 2001, insbes. S. 5–8. 3 Vgl. Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Hg. Lucien Febvre, München 1985, S. 22 (zuerst franz. 1949).

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gemacht werden.4 So wird von Politikgeschichte und der Geschichte der politischen Ideen gesprochen, von Rechtsgeschichte und Verfassungsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Kunst- und Literaturgeschichte usw. Der mit Bezug auf die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin naheliegende Begriff einer „Geschichtsgeschichte“ bzw. einer „Geschichte der Geschichte“ ist bezeichnenderweise jedoch nicht gebräuchlich.5 Der Grund hierfür liegt darin, dass „Geschichte“ nicht nur eine akademische Disziplin ist, sondern als allgemeiner Geschehensraum und letztinstanzlicher Begriff verstanden wird. Dies war nicht immer so. Reinhart Koselleck hat in seinen grundlegenden begriffs- und wissenschaftshistorischen Studien die Voraussetzungen und semantischen Veränderungen aufgezeigt, die erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Herausbildung jenes modernen Geschichtsbegriffs geführt haben, der uns heute als Kollektivsingular und Subjekt geläufig ist. Bis dahin galt Historie im alteuropäischen Verständnis als magistra vitae. Sie war Erfahrungsschatz im Horizont stabil gedachter Ordnungen, auf den sich bei Bedarf zurückgreifen ließ, also eine „Exempelsammlung der Moral“6. Erst im Zuge der Auflösung des alteuropäischen Topos der historia magistra vitae und seines vorkritischen Wahrheits- und Objektivitätspostulats rückte „die Geschichte“ als „regulatives Prinzip aller Erfahrung und möglicher Erwartungen“7 am Ausgang des 18. Jahrhunderts zum leitenden Orientierungsbegriff auf. Vor diesem Hintergrund konnte Karl Marx dann zu der lapidaren Feststellung kommen: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden.“8 „Geschichte“ bezeichnet also kein sachlich umgrenztes Feld, und auch die Geschichtswissenschaft ist nicht definiert durch ein besonderes materi4 Vgl. Reinhart Koselleck, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen (1973), in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 130–143, hier S. 131; Daniel, Kompendium Kulturgeschichte (wie Fn. 1), S. 8 f. 5 S. hierzu auch Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft (1972), in: Ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S. 298–316, insbes. S. 301 f. 6 Ders., Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte (1967), in: Ders., Vergangene Zukunft (wie Fn. 4), S. 38–66, hier S. 52. 7 Ders., Art. „Geschichte, Historie“, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593–717, hier S. 678. 8 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), in: MEW Bd. 3, Berlin 1973, S. 18.

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ales Forschungsobjekt. Neben ihren Methoden und Regeln, die sie von anderen Geistes- und Sozialwissenschaften unterscheidet, liegt ihr proprium vielmehr in einer spezifischen Auffassung von Zeit, mit deren Hilfe Geschehensabläufe der Vergangenheit sinnhaft mit der Gegenwart verknüpft werden. „Geschichte“ ist ein totalisierender Denkstil, der als Historismus bezeichnet werden kann und dessen perspektivischem Zeitverständnis ein spezifisches Erklärungspotential zugesprochen wird. Hierin gründet die vor allem in der politischen Rhetorik verbreitete Berufung auf die „Geschichte“ oder die nicht weniger populäre Redewendung, dass man dieses oder jenes „nur historisch erklären“ könne. Dieses Verständnis von Geschichte unterstellt Kontinuität, und zwar als „Entwicklung“ in Form eines aufstrebenden Zeitpfeils, teleologisch oder finalistisch, jedenfalls fortschrittsorientiert. Dieser Historismus ist eine Methode der Identitätsstiftung durch Traditionsbildung. Was aber geschieht, wenn die (unterstellte) „Entwicklung“ und Kontinuität zerbricht, oder wenn das Theorem der „Entwicklung“ fraglich und von plausibleren Evolutionstheorien abgelöst wird? Dies ist die Situation, in der, schärfer noch als früher, aktuell die Frage gestellt wird: Wozu noch Historie?9 Die Rechts- und Politikwissenschaft befinden sich in dieser Hinsicht in einer vergleichsweise komfortablen Lage, denn kaum jemand käme auf die Idee, an beide die Legitimationsfrage in dieser Grundsätzlichkeit zu richten, und sie wäre auch kaum sinnvoll. Mit dieser Vorbemerkung sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass Recht und Politik einerseits und Geschichte andererseits wissenschaftsdisziplinär asymmetrische Begriffe sind. Ihre jeweiligen Aussagefelder befinden sich auf unterschiedlichen Ebenen. Dies war solange kein Problem, wie das entwicklungsgeschichtliche Erklärungsmodell allgemeine Zustimmung unter den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen fand und insofern „Geschichte“ als leitende Orientierungsmacht galt.10 Dies ist jedoch heute nicht mehr Fall. Die katastrophale „Maßlosigkeit der historischen Erfahrungen des 9 Vgl. Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: HZ 212 (1971), S. 1–18; Lothar Gall, Das Argument der Geschichte. Überlegungen zum gegenwärtigen Standort der Geschichtswissenschaft, in: HZ 264 (1997), S. 1–20; Luise Schorn-Schütte, Wozu noch Geschichtswissenschaften? Überlegungen zu einem Thema des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in: Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker? Universitätsreden, Heidelberg 2004, S. 9–20. 10 S. hierzu Thomas Nipperdey, Sich an der Geschichte orientieren?, in: Der Mensch als Orientierungsweise. Ein interdisziplinärer Erkundungsgang. Beiträge von Hermann Lübbe u.a., Freiburg 1982, S. 107–144; Gangolf Hübinger, Geschichte als leitende Orientierungsmacht im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 149–158.

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20. Jahrhunderts“11 ebenso wie der Postkolonialismus – als politisch-kulturelle und intellektuelle Bewegung, vor allem aber seine epistemologischen Konsequenzen12 – haben die Plausibilität des historistischen Erklärungsmodells erschüttert, und das Paradigma der „Entwicklung“ ist durch neuere Evolutionstheorien obsolet geworden. Das hat zur Folge, dass Recht und Politik (weitere Disziplinen ließen sich hinzufügen) sowie Geschichte auf neue, kulturwissenschaftliche Weise miteinander ins Gespräch gebracht werden müssen. Dies allerdings nicht in dem flachen Verständnis einer wissenschaftlichen Erforschung der Kultur als einem von der Natur unterschiedenen Gegenstandsfeld, sondern als Frage nach den kulturellen Voraussetzungen von Wissen und Wissenschaft sowie nach den „symbolischen Formen“ der Weltaneignung, die, wie etwa Recht, Geschichte, oder Technik, Ästhetik etc. als Formen bzw. Felder einer materialen Kulturgeschichte beschrieben werden können. In diesem durch die Kulturphilosophie Ernst Cassirers angeregten Ansatz wird das Denken in Substanzbegriffen durch relationale Funktionsbegriffe und der entwicklungsgeschichtliche Historismus durch kulturwissenschaftliche Historizität ersetzt. Die Transformation einer traditionellen geschichtswissenschaftlichen Fragestellung in eine historisch-kulturwissenschaftliche Problemstellung hat Folgen auch für das Verständnis von „Verfassungskultur“ aus historischer Sicht, das sich an den Grundkategorien Historizität, Institutionalität und Symbolizität orientiert.

2. Verfassung als Kultur Wenn „Verfassungskultur“ als neuer Leitbegriff für historische Forschung operationalisierbar sein soll, bedarf er gegenüber anderen bisher gebräuchlichen Kategorien und Forschungsfeldern der Abgrenzbarkeit durch ein genuines methodologisches und thematisches Profil. Hierzu gehört die Verständigung über den Begriff der Kultur.

11 Jörn Rüsen, Sinnverlust und Sinnbildung im historischen Denken am Ende des Jahrhunderts, in: Wolfgang Küttler u.a. (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 5: Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt a.M. 1999, S. 360–377, hier S. 373. 12 S. hierzu Bachmann-Medick, Cultural Turns (wie Fn. 1), S. 184–237; Blänkner, Historische Kulturwissenschaften (wie Fn. 1), S. 357–371.

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2.1 „Verfassung und Kultur“ oder „Verfassung als Kultur“? Ein gehaltvoller Begriff von Kultur wird sich zunächst von der derzeit verbreiteten Neigung abzugrenzen haben, diese als Reaktion auf die lange vorherrschende Reduktion auf „Hoch“-Kultur nun umgekehrt auf das Ganze einer Gesellschaft oder eines sozialen Systems zu beziehen. Ein solcher universaler Kulturbegriff verliert seine für wissenschaftliche Fragestellungen notwendige Distinktionskraft und wird zum „garbage can“13. Umgekehrt wird „Kultur“ sich nicht im Verständnis eines besonderen Feldes neben den Sphären des Politischen, des Ökonomischen, des Rechts oder des Sozialen und in Fragen nach Mentalitäten und Symbolen politischer Gemeinwesen erschöpfen können. Insofern kann es in der gegenwärtigen Diskussion über die Aufnahme kulturwissenschaftlicher Problemstellungen in der rechts- und verfassungshistorischen Forschung nicht nur um das Aufzeigen von „Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur“14 oder um eine „Verfassungsgeschichte in kulturgeschichtlicher Erweiterung“15 gehen. Ergiebiger erscheint stattdessen ein Ansatz, der „Verfassung als Kultur“ beschreibt. Was unter dieser programmatischen Formel genau zu verstehen sei, ist jedoch umstritten. So hat Peter Häberle mit seinem Konzept der „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ eine interdisziplinäre Perspektive eröffnet, die nicht nur der Rechtswissenschaft neue Impulse zu verleihen vermag.16 Häberles beeindruckendes Forschungstableau ist an dieser Stelle nicht eingehender zu würdigen. Allerdings sind auch die Probleme dieses „Paradigmas ‚Verfassung als Kultur‘“17 für die Anschlussfähigkeit einer historischkulturwissenschaftlichen Sicht auf das Feld der „Verfassungskultur“ nicht zu übersehen. Dies gilt zunächst für den Verfassungsbegriff, den Häberle zwar 13 Dirk Baecker, Der blinde Fleck der Kultur (1995), in: Ders., Wozu Kultur?, Berlin 2000, S. 77–97, hier S. 77. 14 Vgl. den gleichnamigen Band, Hg. Hans-Jürgen Becker, Berlin 2003 (Der Staat, Beih. 15). 15 Ewald Grothe, Geschichtsschreibung und Verfassungsgeschichte, in: NPL 46 (2001), S. 79–95, hier S. 93; Arthur Schlegelmilch, „Verfassungskultur“ als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: Peter Brandt u.a. (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. „Verfassungskultur“ als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, S. 9–14, insbes. S. 9; ders., Verfassungskultur, in: Peter Brandt u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 88–94. 16 Die verfassungsgeschichtliche Forschung in Deutschland hat Häberles Anregungen allerdings bisher nur zögerlich aufgenommen, s. etwa Rainer Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung (2000), in: Ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt a.M. 2003, S. 96–118; Schlegelmilch, „Verfassungskultur“ (wie Fn. 15); Brandt u.a. (Hg.), Handbuch (wie Fn. 15), S. 88–94 u. passim. 17 Vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre (wie Fn. 2), S. 203–206.

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normativ fasst, der jedoch nicht als historisch-spezifische Problemlösung, sondern als „Entwicklung“ gedacht wird, die bereits in der Antike einsetzt. „Verfassung“ wird so zu einem ahistorischen Allgemeinbegriff. Ähnliches trifft auf den Kulturbegriff zu, der ebenfalls so weit gespannt ist, dass unklar bleibt, worin das Spezifikum der „Kultur“ liegt. Häberles Konzept der „Verfassungskultur“ enthält somit eine totalisierende Sicht, die für eine historisch-kulturwissenschaftliche Analyse der „Verfassungskultur“ nur bedingt fruchtbar gemacht werden kann. Theoretische Ansätze aus der Ethnologie, des Postkolonialismus oder der Medientheorie, von denen in jüngerer Zeit die wichtigsten Anregungen für eine Neuprofilierung der Kulturwissenschaften ausgegangen sind18, haben in Häberles „Paradigma“ von „Verfassung als Kultur“ jedenfalls bislang keinen Niederschlag gefunden. Man wird es daher vor allem als Versuch einer gleichsam alteuropäischen Traditionsvergewisserung aus rechtswissenschaftlicher Perspektive anzusehen haben. Dieser kritische Einwand verweist auf die Differenzen über das Verständnis von „Kulturwissenschaften“, die die gegenwärtige Forschung durchziehen. Gegenüber traditionellen Auffassungen von Kulturwissenschaft ist hervorzuheben, dass deren Gegenstand sich nicht darauf beschränken kann, wissenschaftlich die Felder der „Kultur“ zu untersuchen, sondern dass die Kulturwissenschaften sich darüber hinausgehend durch die selbstreflexive Frage nach den kulturellen Voraussetzungen und Bedingungen von Wissen und Wissenschaft profilieren. In Abgrenzung von einem entweder totalisierenden oder aspektiven Kulturbegriff erscheint es daher ergiebiger, Kultur als gleichsam „mitlaufende Beobachtung“19 einer Gesellschaft zu verstehen, um dann, wie hier mit Blick auf die „Verfassung“, zunächst nach deren historischen Voraussetzungen als institutionelles Ordnungsarrangement ebenso wie als Wissensform zu fragen.

2.2 „Verfassung“ oder „institutionelle Ordnungsarrangements“? Aus dieser kulturwissenschaftlichen Sicht ist „Verfassung“ kein a priori gegebener, gleichsam „natürlicher Gegenstand“ (Paul Veyne), und insofern erscheint der vor allem in der deutschen Verfassungslehre vorherrschende Gebrauch des „materiellen“ Verfassungsbegriffs als problematisch. Dies ist das Erbe der germanistischen Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. Jahr18 S. hierzu Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004; Bachmann-Medick, Cultural Turns (wie Fn. 1); Blänkner, Historische Kulturwissenschaften (wie Fn. 1). 19 Dirk Baecker, Vorwort, in: Ders., Wozu Kultur? (wie Fn. 13), S. 7–10, hier S. 9.

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hunderts sowie des staatsrechtlichen Positivismus und ihrer kritischen Überformung durch ordnungsgeschichtliche Problemstellungen bei Carl Schmitt und Otto Brunner. Schmitt hatte „Verfassung“ als „konkrete(n) Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates“20 beschrieben, zugleich aber „Staat“ als spezifisch neuzeitliches politisches Ordnungsmodell verstanden.21 Damit ergab sich jedoch das Problem, wie vor-neuzeitliche politisch-soziale Ordnungen beschrieben werden können, ob der Verfassungsbegriff auf vor-staatliche Ordnungen anwendbar sei und welches das vor-neuzeitliche funktionale Äquivalent des durch das Gewaltmonopol des Souveräns definierten „Staates“ sei. Dieses von Schmitt offen gelassene Problem griff Brunner auf. Wie Schmitt, so wandte sich auch Brunner vom Etatismus des staatsrechtlichen Positivismus sowie der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung ab und formulierte sein Konzept des „Landes“ als mittelalterliches Funktionsäquivalent des neuzeitlichen „Staates“, das er jedoch, hierin an die germanistische Verfassungsgeschichtsschreibung anknüpfend, als „Verfassungsordnung“ verstand. Um die Differenz zwischen der neuzeitlichen, auf den „Staat“ bezogenen, und der mittelalterlichen, auf das „Land“ bezogenen Verfassungsordnung auch terminologisch kenntlich zu machen, unterschied Brunner zwischen neuzeitlicher „Konstitution“ und mittelalterlicher „Verfassung“.22 Weder auf Brunners komplexe Neukonzeptualisierung der Verfassungsgeschichtsschreibung noch auf dessen intellektuelle Beziehung zu Schmitt ist an dieser Stelle näher einzugehen.23 Festzuhalten ist hier lediglich, dass 20 Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 4. 21 Ders., Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924–1954, Berlin 1958, S. 375–383. Vollständige Fassung dieses Aufsatzes erstmals in deutscher Sprache u.d.T.: Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit (1941), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, Hg. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 401–430. 22 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Brünn 1939; ders., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Erg. Bd. 14 (1939), S. 513–528. 23 S. hierzu Reinhard Blänkner, Von der „Staatsbildung“ zur „Volkwerdung“. Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik für das 16.–18. Jahrhundert in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999, S. 87–135; ders., Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer europäischen Sozialgeschichte, in: Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschich-

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Brunner in der – vor allem deutschen und österreichischen – Verfassungsgeschichtsschreibung einen „innovative(n) Anstoß“ ausgelöst hat, der bis heute nachwirkt.24 Kritisch an Schmitt und Brunner sowie Ernst Rudolf Huber anknüpfend, hat Ernst-Wolfgang Böckenförde „Verfassung“ als „politisch-soziale Bauform der Zeit“25 bezeichnet, und dieser – häufig so genannte – „weite“ Verfassungsbegriff ist der derzeit vorherrschende.26 Gegenüber vermeintlich begrifflichen Engführungen besitzen konzeptuell „weite“ Ansätze zumeist einen intuitiven Vorteil. Gerade darum aber lohnt ein näherer Blick auf mögliche intellektuelle Zugewinne wie umgekehrt auch auf Erkenntnishypotheken dieses „weiten“ Verfassungsbegriffs. Sein wichtigster Zugewinn liegt in der Überwindung der rechtspositivistischen Reduktion der Verfassung auf formal-juristische Verfahrensprobleme. Das Verständnis von Verfassung als „politisch-soziale Bauform der Zeit“ hat den Blick auf deren extra-juristische Voraussetzungen und Bedingungen geöffnet und damit einer Verfassungsgeschichte als Sozialgeschichte den Weg

ten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 326–366. Über Brunners Verhältnis zu Schmitt s. auch, wenngleich streckenweise stark verkürzend und darum partiell mit fragwürdigen Schlußfolgerungen: Gadi Algazi, „Konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 166–203, u. Hans-Henning Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpaß“? Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde, in: HZ 282 (2006), S. 585–617. 24 Vgl. Gerhard Dilcher, Von der geschichtlichen Rechtswissenschaft zur Geschichte des Rechts. Leitende Fragestellungen und Paradigmenwechsel zwischen 19. und 20. Jahrhundert, in: Pio Caroni/Gerhard Dilcher (Hg.), Norm und Tradition. Welche Geschichtlichkeit für die Rechtsgeschichte?, Köln 1998, S. 109–143, hier S. 133–135, Zitat S.  134; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 4. erg. Aufl. München 2001, S. 5 f. Wissenschaftsgeschichtlich noch immer wichtig die Problemaufrisse von Reinhart Koselleck und Karl Kroeschell in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, Berlin 1983 (Der Staat, Beih. 6). 25 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 2. veränd. Aufl. Königstein/Ts. 1981, S. 9. 26 S. hierzu den theorie- und dogmengeschichtlichen Überblick bei Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001, S. 38–92. Zur Begriffsgeschichte s. Heinz Mohnhaupt/Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 1995; Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung: Der Staat, Beih. 6, Berlin 1983; Ulrich K. Preuß (Hg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Frankfurt a.M. 1994. Zur jüngeren Verfassungsgeschichtsschreibung s. die Literaturberichte von Grothe, Geschichtsschreibung und Verfassungsgeschichte (wie Fn. 15); Miloš Vec, Vergleichende Verfassungsgeschichte. Historiographische Perspektiven, in: Rechtshistorisches Journal 20 (2001), S. 90–110.

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bereitet.27 Kulturgeschichtliche Aspekte sind hiermit noch nicht eigens angesprochen. Allerdings verweist Böckenfördes an anderer Stelle formulierte These, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat ... von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“28, auch die Verfassungstheorie und Verfassungsgeschichtsschreibung auf die Frage nach den „sozio-moralischen Grundlagen ... politischer Ordnung“29, die am plausibelsten im Rahmen eines Konzepts von „Verfassung als Kultur“ im oben genannten Sinn behandelt werden kann. Zu den problematischen Erkenntnishypotheken des „weiten“ Verfassungsbegriffs gehört dagegen vor allem das hiermit zumeist verbundene überzeitliche Verständnis von Verfassung. Hierdurch wird jedoch „Verfassung“ zum passepartout für die Deskription gänzlich unterschiedlicher historischer Sozialsysteme hypostasiert – von der antiken griechischen Polis und der römischen Republik, der Verfassung des mittelalterlichen Feudalismus und den ständischen Verfassungen der frühen Neuzeit bis hin zur Verfassung der „bürgerlichen Gesellschaft“ – und „Verfassungsgeschichte“ zu einer überhistorischen Form der Historiographie reifiziert. Unvermeidliche Folge hiervon ist das ständige Changieren zwischen „Verfassung“ und (moderner) „Konstitution“, das historische Forschung auf diesem Feld zum Vexierspiel macht. Der „weite“ Verfassungsbegriff berührt sich hier mit dem einflussreichen Gebrauch des „materiellen“ Verfassungsbegriffs, der, entgegen geläufiger Annahme, keineswegs normativ indifferent ist und vermeintlich die „Verfassung“ zum vorgängigen Ordnungsbegriff neutralisiert. Die Rede von „materieller“ Verfassung und ihre Unterscheidung von „formeller“ Verfassung ist vielmehr höchst voraussetzungsvoll und hat ihren intellektuellen und wissenschafts27 Zu den Pionierarbeiten einer Verfassungsgeschichte als Sozialgeschichte s. vor allem Hartwig Brandt, Verfassungsgeschichte als Sozial- und Organisationsgeschichte, in: NPL 16 (1971), S. 242–255; ders., Parlamentarismus in Württemberg 1819–1870. Anatomie eines deutschen Landtags, Düsseldorf 1987, sowie Christof Dipper, Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte. Zur Europäischen Verfassungsgeschichte aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, in: Reiner Schulze (Hg.), Europäische Rechtsund Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Berlin 1991, S. 173–198. 28 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976, S. 42–50, hier S. 60. 29 Herfried Münkler, Einleitung: Was sind vorpolitische Grundlagen politischer Ordnung?, in: Ders., Bürgerreligion und Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung, Baden-Baden 1996, S. 7–11, hier S. 8. S. a. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1991, S. 289–378, insbes. S. 344–364.

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geschichtlichen Ort im staatsrechtlichen Positivismus, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den bis dahin dominierenden naturrechtlichen Verfassungsdiskurs verdrängte.30 Die positivistische Begriffsjurisprudenz hat damit nicht nur all jene Problemstellungen und objektiven Forschungsfelder zu eliminieren versucht, die für eine kulturwissenschaftliche Verfassungsforschung von Interesse sind. Sie hat darüber hinaus einer Rechtswissenschaft zum Durchbruch verholfen, die an der Thematisierung ihrer eigenen kulturellen Voraussetzungen nur geringes Interesse zeigt und die Reflexion über die Historizität ihrer disziplinären Methodologie marginalisiert. Hinter dem scheinbar „weiten“ und „materiellen“ Verfassungsbegriff verbirgt sich tatsächlich eine problematische ahistorische Engführung, die das Verständnis jeweils spezifischer politisch-sozialer Ordnungen geradezu blockiert. Gegen diesen „Schlendrian scheinbar allgemein gültiger Begriffe“31 hatte schon Otto Brunner das Postulat begrifflicher Historizität betont. Wenngleich dies zunächst in „völkischer“ und dem Nationalsozialismus nahestehender Terminologie geschah, so ändert dies nichts an dem innovativen Impuls, der von Brunners Kritik und methodologischer Neuorientierung ausgegangen ist – „ein gutes Beispiel dafür“, wie Koselleck mit Recht betont hat, „daß auch politisch bedingte Erkenntnisinteressen zu theoretisch und methodisch neuen Einsichten führen können, die ihre Ausgangslage überdauern“.32 Allerdings führt auch Brunners Unterscheidung zwischen (mittelalterlicher) „Verfassung“ und (neuzeitlicher) „Konstitution“ letztlich aus dem verfassungssemantischen Dilemma nicht hinaus, denn unbesehen ihres sachlichen Potentials ist sie nur in der deutschen Sprache möglich. Das Englische, Französische, Italienische oder Spanische etwa lassen diese sprachliche Unterscheidung nicht zu. Möglicherweise lag hierin ein zusätzliches Motiv dafür, dass Brunner sich in seinem Spätwerk ausdrücklich gegen den Vorschlag des Mediävisten Walter

30 S. hierzu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 2. erg. Aufl. Berlin 1981, insbes. S. 210–259; Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997, S. 222–252; Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 330–348; Dieter Grimm, Methode als Machtfaktor (1982), in: Ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987, S. 347–372; Walter Pauly, Der Methodenwechsel im deutschen Spätkonstitutionalismus. Ein Beitrag zur Entwicklung und Gestalt der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993. 31 Brunner, Land und Herrschaft (wie Fn. 22), S. 155. 32 Reinhart Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Wolfgang Schieder/ Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. I, Göttingen 1986, S. 89–109, Zitat S. 109/Anm. 4.

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Schlesinger wandte, „von ‚Verfassungsgeschichte‘ im allgemeinen Sinn“33 zu sprechen. In der Verfassungshistorie ist dieses gewichtige Bedenken nicht aufgenommen worden, und auch darum ist sie über den Problemhorizont dieses begrifflich-konzeptuellen Dilemmas bis heute nicht hinaus gekommen. Zwar hat sie sich, ähnlich wie die Staats- und Verfassungsrechtslehre, vor dem Hintergrund des Funktionsschwunds des Nationalstaats und dem Prozess der europäischen Integration gegenüber konzeptuellen Problemen einer Europäisierung der Verfassungsgeschichte geöffnet.34 Eine grundsätzliche Reflexion über die Historizität der „Verfassung“ als Ordnungs- oder Integrationskonzept jenseits ihres ahistorischen Verständnisses als „allgemeine[m] politische[m] Ordnungsbegriff“35 ist hiermit bisher jedoch, mit Ausnahme etwa der Arbeiten von Dieter Grimm36, nur selten verbunden. Einen Ausweg aus dem verfassungssemantischen Dilemma eröffnet methodologisch die Hinwendung

33 Otto Brunner, Zum Begriff des Bürgertums, in: Theodor Mayer (Hg.), Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa. ReichenauVorträge 1963–1964, Sigmaringen 1966, S. 13–23, hier S. 15. 34 S. etwa die Arbeiten von Häberle (s. Fn. 2); Dietmar Willoweit/Ulrike Müßig (Hg.), Europäische Verfassungsgeschichte, München 2003; Horst Dippel, Prolegomena zu einer europäischen Verfassungsgeschichte, in: Michael Wala (Hg.), Gesellschaft und Diplomatie im transatlantischen Kontext. FS für R. Doerries, Stuttgart 1999, S. 355– 384; Martin Kirsch/Pierangelo Schiera (Hg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999; Martin Kirsch u.a. (Hg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002; Brandt u.a. (Hg.), Handbuch (wie Fn. 15). Zu einer über Europa hinausgreifenden vergleichenden Verfassungsgeschichte s. Rainer Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, in: Ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt a.M. 2003, S. 96–118, sowie Horst Dippel (Hg.), Verfassungen der Welt / Constitutions of the World, Berlin-New York 2005 ff. (bisher 8 Bde.). 35 Hans Vorländer, Die Verfassung als symbolische Ordnung. Perspektiven einer kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie, in: Michael Becker/Ruth Zimmerling (Hg.), Politik und Recht. PVS-Sonderheft 36, Wiesbaden 2006, S. 229– 249, hier S. 237. 36 Vgl. Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1990), in: Ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a.M. 1991, S. 397–437. S. a. Reinhard Blänkner, Die Idee der Verfassung in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Münkler (Hg.), Bürgerreligion und Bürgertugend (wie Fn. 29), S. 309–341; ders., Integration durch Verfassung? Die „Verfassung“ in den institutionellen Symbolordnungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Hans Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, Darmstadt 2002, S. 213–236.

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zur Problemgeschichte37 und im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand die Aufnahme jüngerer institutionentheoretischer Fragestellungen. Aus dieser Perspektive verliert die „Verfassung“ ihren kategorialen Status als etwas Vorgegebenes. Problemgeschichtlich ist „Verfassung“ eine historisch-spezifische Antwort auf die allgemeine Frage nach den Möglichkeitsbedingungen politisch-sozialer Ordnung, für deren Behandlung die „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“ des Kultursoziologen Karl-Siegbert Rehberg sich als besonders anregend erweist. Diese Theorie zielt auf die Analyse „institutioneller Ordnungsarrangements“, die nicht nur formale Prozeduren organisierten Handelns beschreibt, sondern die Gesamtheit der Repräsentationen und Praktiken jeweils historisch besonderer politisch-sozialer Figurationen umfasst.38 Im Anschluss an die „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“ wird darum hier vorgeschlagen, den vermeintlich „weiten“, tatsächlich jedoch ahistorischen und verengenden Verfassungsbegriff fallen zu lassen und ihn durch den Begriff der „institutionellen Ordnungsarrangements“ zu ersetzen. „Verfassung“ ist demnach ein historisch besonderes institutionelles Ordnungsarrangement, das sich durch seine konkreten Voraussetzungen und Wirkungsbedingungen von anderen institutionellen Ordnungsarrangements, wie etwa der Figuration des frühneuzeitlichen Hofes, in spezifischer Weise unterscheidet.

2.3 „Politische Kultur“ und „Verfassungskultur“ Ein weiteres Kriterium für die Profilierung des Konzepts „Verfassungskultur“ liegt in dessen Unterscheidung von „Politischer Kultur“. Peter Häberle, von dessen Arbeiten wichtige Anregungen für die Konzeptualisierung von „Verfassungskultur“ ausgegangen sind, versteht diese in Abgrenzung von „politi37 S. hierzu Otto Gerhard Oexle (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, Göttingen 2001. 38 S. hierzu Karl-Siegbert Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84; ders., Die stabilisierende „Fiktionalität“ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: Reinhard Blänkner/Bernhard Jussen (Hg.), Institutionen und Ereignis, Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998, S. 381–407; ders., Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001, S. 3–49.

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scher Kultur“ als „einen höheren Grad an Dichte, Beständigkeit, Dauer und Objektivation“.39 In ähnlicher Weise unterscheidet aus politikwissenschaftlicher Sicht Hans Vorländer: „In Verfassungsdiskursen findet ... eine Vermittlung zwischen der politischen Kultur, in der die politischen Ordnungsvorstellungen enthalten und verhandelt werden, und der institutionellen Ordnung, in der diese Ordnungsvorstellungen zu einem normative Verbindlichkeit beanspruchenden Regelwerk verdichtet werden, statt.“40 Diese Unterscheidung ist plausibel, sofern sie sich auf „Verfassung“ im Verständnis des Konstitutionalismus bezieht. Fragwürdig ist sie jedoch, wenn „Verfassung“ als „allgemeiner politischer Ordnungsbegriff“ gemeint ist und sich auf eine „allgemeine“, historisch indifferente „Verfassungsgeschichte“ bezieht. Für eine weiterführende Diskussion erscheint vor allem ein Blick auf Arbeiten lohnenswert, in denen Untersuchungen über „politische Kultur“ nicht, wie in dem in der empirischen Sozialforschung bis heute einflussreich gebliebenen fragwürdigen Konzept von Gabriel A. Almond und Sidney Verba, auf „Einstellungen“ und „Meinungen“ reduziert bleiben. In politikwissenschaftlichen und soziologischen Arbeiten41, vor allem aber in der historischen Forschung bis hin zur aktuellen Debatte über eine „Kulturgeschichte des Politischen“ ist dieser weitergehende Ansatz lange etabliert und hier nicht näher darzulegen.42 39 Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (wie Fn. 2), S. 91. 40 Vorländer, Die Verfassung als symbolische Ordnung (wie Fn. 35), S. 242. S. a. André Brodocz, Die symbolische Dimension konstitutioneller Institutionen. Über kulturwissenschaftliche Ansätze in der Verfassungstheorie, in: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft – Theorien, Methoden, Probleme, Wiesbaden 2004, S. 131–150, insbes. S. 134–137 u. S. 141 f. 41 S. hierzu etwa Detlef Pollack, Zwischen Kulturalismus und Konstruktivismus: Die Transformation Ostdeutschlands als Prüfstein der Politische-Kultur-Forschung, in: Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? (wie Fn. 18), S. 213–238; Birgit Schwelling, Politische Kulturforschung als kultureller Blick auf das Politische. Überlegungen zu einer Neuorientierung der Politischen Kulturforschung nach dem „cultural turn“, in: ZfP 11 (2001), S. 601–629; dies. (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft (wie Fn. 40). 42 S. hierzu Lynn Hunt, Symbole der Macht – Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a.M. 1989; Keith Michael Baker u.a. (Hg.), The French Revolution and the creation of modern political culture, 3 Bde., Oxford 1987–1994; Eckhart Hellmuth (Hg.), The transformation of political culture. England and Germany in the late eighteenth century, Oxford 1990; Karl Rohe, Politische Kultur. Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Niedermayer/Klaus von Beyme (Hg.), Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1–21; Wolfgang Reinhard, Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie, in: GG 27 (2001), S. 593–616; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politi-

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Für die Unterscheidung zwischen „politischer Kultur“ und „Verfassungskultur“ ist dagegen besonders auf zwei Ansätze hinzuweisen, die in jüngster Zeit aus der Geschichtswissenschaft hervorgegangen sind. So spricht Wolfgang Reinhard in seiner „Geschichte der Staatsgewalt“ (1999) aus der Sicht einer „politischen historischen Anthropologie“ und unter Fokussierung auf „politische Kultur“ davon, „daß einer bestimmten Kultur oder Epoche auch eine bestimmte Institutionskultur entspricht“.43 Es hätte nahe gelegen, moderne im Unterschied zu „vormoderne[r] Institutionskultur“44 als „Verfassungskultur“ zu beschreiben. Allerdings verwendet Reinhard diesen Begriff nicht, wie überhaupt auffällig ist, dass dort, wo er über den „Verfassungsstaat“ des 19. und 20. Jahrhunderts spricht, der Bereich dessen, was er zuvor mit Blick auf das Ancien Régime in überzeugender Weise als „Institutionskultur“ beschrieben hat, ausfällt. Die Institutionskultur bzw. die Verfassungskultur des Konstitutionalismus bleibt so eine Leerstelle. Über die Gründe hierfür soll hier nicht spekuliert werden. Die Vermutung, dass diese Leerstelle nicht zuletzt in einem unscharfen Verfassungsbegriff liegt, liegt jedoch nahe. Dabei ist Reinhard sich der Problematik bewusst, den modernen Verfassungsbegriff auf vormoderne Epochen anzuwenden. Dort könne der Begriff „Verfassung“ nur „im übertragenen Sinn“45 gebraucht werden und die politische Ordnung vormoderner Gemeinwesen sei darum nur „metaphorisch als ‚Verfassung‘ (zu) bezeichnen.“46 Was dies genau bedeutet und in welcher Weise dann dennoch generell von Verfassungsgeschichte gesprochen werden kann, bleibt allerdings unklar. Festzuhalten ist jedoch, dass Reinhards anregendes Konzept der „Institutionskultur“ als „politische Kultur“ etliche Anknüpfungspunkte an das Konzept einer historischen Analyse institutioneller Mechanismen und für die Untersuchung institutioneller Ordnungsarrangements bietet. Was Reinhard über „Formen und Symbole“ frühneuzeitlicher Institutionskultur analytisch beschreibt, kann darüber hinaus an das Forschungsprogramm einer kulturgeschichtlich erweiterten Verfassungsgeschichte von Barbara

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schen?, Berlin 2005; Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M. 2005; Luise SchornSchütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung, München 2006. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, Zitate S. 132 u. 125; ders., Was ist europäische politische Kultur? (wie Fn. 42). Ders., Geschichte der Staatsgewalt (wie Fn. 43), S. 133. Ebd. S. 18. Ders., Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Grundlagen europäischer politischer Kultur, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 115– 131, hier S. 115.

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Stollberg-Rilinger anknüpfen, deren Aufforderung, es sei „höchste Zeit, daß der kulturalistische Ansatz gerade auch für die Gegenstände der traditionellen Politik- und Verfassungsgeschichte fruchtbar gemacht“ werden müsse47, nachdrücklich beizupflichten ist. Stollberg-Rilingers besonderes Interesse gilt den vormodernen politischen Verfahren, insbesondere der Bedeutung des höfischen Zeremoniells, das sie unter der Forschungsperspektive der „symbolischen Kommunikation“ untersucht.48 Überzeugend wird in diesen Studien herausgearbeitet, dass „Symbolik“ „nicht reduzierbar ist auf ein paar gegenständliche Zeichen“49 und insofern keineswegs ein akzidentielles Addendum zur herkömmlichen Verfassungsgeschichte ist, in der das vormoderne Zeremoniell eher als Kuriosum verhandelt wird. In gleichsam „dichten Beschreibungen“ zeigt Stollberg-Rilinger, wie in der „symbolischen Praxis“ des Zeremoniells die Mechanismen der altständisch-höfischen Ordnung eingelassen sind und wie umgekehrt die Analyse der symbolischen Praktiken die Ordnungsprinzipien des Alten Reiches bzw. Ancien Régimes offenlegt.50 Mit diesem kommunikationstheoretischen Ansatz geht Stollberg-Rilinger über die traditionelle Verfassungsgeschichte des Alten Reiches hinaus und eröffnet neue und überraschende Einsichten in dessen Funktionsweisen und Legitimitätsstiftungen. Fragwürdig erscheint hierbei jedoch die an Niklas Luhmann angelehnte Reduzie­rung des Symbolverständnisses auf expressives Handeln sowie die Unterscheidung zwischen instrumentellen und symbolisch-expressiven Variablen des Handelns.51 Weiterführend erscheint demgegenüber ein Symbolverständnis, das, ausgehend von der Kulturphilosophie Ernst Cassirers und dem institutionentheoretischen Ansatz von Rehberg, auch das Feld der Wissensformen miteinbezieht. Aus dieser Sicht finden dann auch 47 Barbara Stollberg-Rilinger, Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte?, in: Matthias Schnettger (Hg.), Imperium Romanum – irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 233–246, hier S. 234 f. 48 Dies. (Hg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001; dies., Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997, S. 90–132; dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: ZHF 31 (2004), S. 489– 527. 49 Dies., Die zeremonielle Inszenierung des Reiches (wie Fn. 47) S. 236. 50 S. zusammenfassend dies., Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008. 51 Vgl. dies., Einleitung, in: Dies. (Hg.), Vormoderne politische Verfahren (wie Fn. 48), S. 9–24, insbes. S. 12; dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne (wie Fn. 48). Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1978, S. 223–232.

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die Zeremonialwissenschaften des frühmodernen Fürstenstaates oder die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entstehenden Verfassungswissenschaften (Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte) eigene Berücksichti­gung als „symbolische Formen“ (Cassirer) des sozialen Wissens.52 Eine kritische Diskussion über die jeweiligen Vorzüge und Probleme dieser beiden Symbolverständnisse, die letztlich auf einen Vergleich zwischen Luhmanns „Theorie sozialer Systeme“ und Rehbergs „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“ verweisen, ist hier nicht näher zu führen.53 Wichtiger für die verfassungshistorische Debatte ist die scharfe Abgrenzung bei Stollberg-Rilinger und Reinhard von einem Verständnis der Verfassung als ahistorischem „allgemeinem politischen Ordnungsbegriff“ sowie von der obsoleten Vorstellung einer „Entwicklung des europäischen Verfassungsstaates“. Erst vor dem Hintergrund dieser kulturalistischen, d.h. anthropologisch-ethnologisch begründeten Abgrenzung mag es plausibel sein, von „Verfassung“ im vorkonstitutionellen Sinn zu sprechen.54 Die vorkonstitutionelle Institutionskultur als „Verfassungskultur“ oder die mittelalterliche Institutionskultur 52 S. hierzu Miloš Vec, Zeremonialwissenschaften im Fürstenstaat, Frankfurt a.M. 1998; ders., „Technische“ gegen „symbolische“ Verfahrensformen? Die Normierung und Ausdifferenzierung der Gesandtenränge nach der juristischen und politischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren (wie Fn. 48), S. 559–587; Reinhard Blänkner, Der Vorrang der Verfassung. Formierung, Legitimations- und Wissensformen und Transformation des Konstitutionalismus in Deutschland im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Ders./Jussen (Hg.), Institutionen und Ereignis (wie Fn. 38), S. 295–325; ders., Verfassungsgeschichte als aufgeklärte Kulturhistorie. Karl Heinrich Ludwig Pölitz und das Programm einer vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte der Neuzeit, in: Brandt u.a. (Hg.), Symbolische Macht (wie Fn. 15), S. 298–330. 53 S. hierzu Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen (wie Fn. 38), S. 52–57. S. a. Andreas Göbel, Institution und System, in: Joachim Fischer/Hans Joas (Hg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. FS für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M. 2003, S. 185–197; Joachim Fischer, Perspektivische Soziologie der Institutionalität. Rehbergs Denken zwischen Philosophischer Anthropologie, Soziologie und Kunst, in: Ebd., S. 671–685; Reinhard Blänkner, Historizität, Institutionalität, Symbolizität. Grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (wie Fn. 42), S. 71–96, insbes. S. 89–93. 54 S. hierzu aus begriffsgeschichtlicher Sicht Heinz Mohnhaupt, A. Verfassung I, in: Ders./ Grimm, Verfassung (wie Fn. 26), S. 1–99; Wolfgang Schmale, Art. „Constitution, constitutionnel“, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680–1820. Hg. Rolf Reichardt/Hans-Jürgen Lüsebrink, Bd. 11, München 1992, S. 31–62; Terence Ball/John G.A. Pocock (Hg.), Conceptual Change and the Constitution, University Press of Kansas 1988.

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als „Verfassungskultur ohne Verfassung“55 zu beschreiben, ist jedoch kaum sinnvoll. Vor diesem Hintergrund bleiben auch die einschlägigen Kapitel des Handbuchs der europäischen Verfassungsgeschichte56 konzeptuell unbefriedigend. Zwar wird hier ebenso wie in dem vorangegangenen Band über Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit57 der Aspekt der „Verfassungskultur“ systematisch in die vergleichende europäische Verfassungsgeschichtsschreibung aufgenommen. Der zugrunde gelegte ahistorische Verfassungsbegriff, mit dem eine Unterscheidung zwischen „vormoderner, mittelalterlicher, antiker und außereuropäischer politischer Institutionengeschichte einerseits sowie dem modernen Konstitutionalismus andererseits“58 ausdrücklich zurückgewiesen wird, öffnet jedoch einem historisch ebenso indifferenten Verständnis von „Verfassungskultur“ ein breites Einfallstor. Arthur Schlegelmilch definiert diese pauschal als „das kulturelle (symbolische, rituelle, diskursive) Verbindungsstück zwischen den im Rahmen einer gegebenen politischen Legitimations- und Integrationsordnung erhobenen Herrschaftsansprüchen und ihrer Rezeption und Akzeptanz durch die Herrschaftsunterworfenen“.59 Trotz gegenteiliger Absichtserklärung ist ein solches Verständnis von „Verfassungskultur“, abgesehen von seiner mangelnden Historizität, von „politischer Kultur“ kaum abgrenzbar. Dementsprechend inhomogen sind die zwanzig länderspezifischen Abschnitte über „Verfassungskultur“ in dem Handbuch, dessen erster Band die Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel um 1800 behandelt. Erste gelungene Bestandsaufnahmen der Verfassungskultur um 1800 stehen hier neben Abschnitten, in denen ausschließlich vorkonstitutionelle, teilweise mittelalterliche politische Kultur behandelt wird. Dabei hätte sich vor dem historischen Hintergrund der Formierung des Konstitutionalismus besonders dieser Zeitraum für eine anspruchsvolle Konzeptualisierung der „Verfassungskultur“ angeboten, die sich zur Unterscheidung von konstitutionellen und vorkonstitutionellen institutionellen Ordnungsarrangements durch Reinhards Konzept der „Institutionskultur“ hätte anregen lassen können. Ohne eine klare konzeptuelle Abgrenzung von „politischer Kultur“ ist ein analytischer Zugewinn durch den neuen Begriff der „Verfassungskultur“ jedenfalls nicht erkennbar. 55 Felicitas Schmieder, Verfassungskultur ohne Verfassung. Überlegungen aus alteuropäischen Zusammenhängen (unveröffentl. Manuskr., Hagen 2006). 56 Brandt u.a. (Hg.), Handbuch (wie Fn. 15). 57 Ders. u.a. (Hg.), Symbolische Macht (wie Fn. 15). 58 Schlegelmilch, „Verfassungskultur“ (wie Fn. 15), S. 9–14, hier S. 11. 59 Ders., Österreich, in: Brandt u.a. (Hg.), Handbuch (wie Fn. 15), S. 851–943, hier S. 901; s.a. ders., „Verfassungskultur“ (wie Fn. 15), S. 13.

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Zusammenfassend soll daher hier unter Verfassungskultur die historischspezifische Institutionskultur des Konstitutionalismus verstanden werden, die sich darüber hinaus von der allgemeinen „politischen Kultur“ durch die explizite Fokussierung auf die Verfassung unterscheidet. Der Begriff der Institutionskultur umfasst Formen symbolisch-expressiven Handelns ebenso wie symbolische Formen des Wissens und ist insofern in deren Gesamtheit als „symbolische Ordnung“ zu verstehen. Aus dieser historisch-kulturwissenschaftlichen Sicht ist daher die Verfassungskultur nicht Teil einer allgemeinen Verfassungsgeschichte, sondern „Verfassungsgeschichte“ ist umgekehrt als historiographische Wissensform ein Aspekt der historisch-besonderen konstitutionellen Verfassungskultur.60

3. Konstitutionalismus und Verfassungskultur Das hier vorgeschlagene Verständnis von Verfassungskultur leitet sich aus der Historizität der „Verfassung“ als Problemlösungsformel für die soziale Komplexitätssteigerung und Ausdifferenzierung zwischen Politik und Recht der ständischen Ordnung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ab.61 In der verfassungsgeschichtlichen Forschung wird dieser Prozess nicht zu Unrecht zumeist als „Entstehung des modernen Konstitutionalismus“ bezeichnet. Häufig ist hiermit allerdings ein entwicklungsgeschichtliches und finalistisches Verständnis verbunden, das den Konstitutionalismus pauschal zur Grundform neuzeitlicher politisch-sozialer Ordnung erhebt. Zwar ist „Verfassungswandel“ seit langem Gegenstand verfassungsrechtlicher und verfassungsgeschichtlicher Forschung62, doch wird dabei der Bezug auf den „Verfassungsstaat“ zumeist invariabel vorausgesetzt. Die Frage, ob mit der weiteren Ausdifferenzierung und Komplexitätssteigerung des sozialen Systems „inhaltliche Prämissen

60 Aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht s. hierzu Blänkner, Verfassungsgeschichte (wie Fn. 52). 61 S. hierzu Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176–220. 62 S. hierzu Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung (1906). Hg. u. eingel. v. Walter Pauly, Goldbach 1996; Rainer Wahl (Hg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, Berlin 2008; Martin Kirsch/Pierangelo Schiera (Hg.), Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, Berlin 2001; Hans Vorländer, Emergente Institution. Warum die Verfassung ein Prozeß ist, in: Hubertus Buchstein/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution. FS für Gerhard Göhler, Baden-Baden 2006, S. 247–259.

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des ... Konstitutionalismus obsolet werden könnten“63, tritt daher kaum in den Blick. Auf die Historizität der Verfassung und die sich verändernde Reichweite ihrer Integrationsleistungen für moderne Sozialsysteme hat neben Niklas Luhmann und im Anschluss an dessen systemtheoretische Arbeiten vor allem Dieter Grimm aufmerksam gemacht. Nach der Etablierung des „bürgerlichen Sozialmodells“ mit der Verfassung als „historisches Novum“ und „adäquates Problemlösungsmittel“ seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts sei, so Grimm, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der „Vorrang des Staates vor [den] der Verfassung“ getreten. Für den Wohlfahrtsstaat und die Risikogesellschaft der jüngeren Zeit diagnostiziert Grimm darüber hinaus eine wachsende „innere Aushöhlung“ und einen „Geltungsschwund“ der Verfassung, die sich nun „ohne jede Textänderung am Rand des Soziallebens wieder[findet]“.64 Die sozialtheoretisch ebenso wie politisch gravierenden Befunde von Grimm und Luhmann über die Transformationen und den Kohäsionsverlust der Verfassung sind in der verfassungsgeschichtlichen Forschung bislang nicht aufgenommen worden.65 Wie eine Verfassungsgeschichte konzeptualisiert sein müsste, die die Formveränderungen des Konstitutionalismus von der vorindustriell-neuständischen Gesellschaft über die industrielle Klassen- und Massengesellschaft66 bis zu dem gegenwärtigen Strukturwandel der Gesellschaft, die mithin die systemische Verschiebung der Verfassung vom Zentrum an den „Rand des Soziallebens“ mitreflektiert, ist bislang kaum ansatzweise diskutiert worden. Dieses grundsätzliche Problem der Historizität der Verfassung, das eine der zentralen Herausforderungen zukünftiger verfassungsgeschichtlicher Forschung markiert, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Es hat allerdings Folgen für das neue Forschungskonzept der „Verfassungskultur“, die hier abschließend angedeutet werden sollen. Dabei geht es, wie aus den vorangehenden Darlegungen deutlich werden sollte, nicht da63 Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft (wie Fn. 61), S. 215. 64 Vgl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (wie Fn. 36), S. 436 f.; ders., Art. B. Verfassung II, in: Mohnhaupt/Grimm, Verfassung (wie Fn. 26), S. 100–144, insbes. S. 133 f.; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, Frankfurt a.M. 1988, insbes. S. 10–42. 65 Ulrike Müßig hat Luhmanns Titel „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“ als Formulierung aufgegriffen, im Sinne einer entwicklungsgeschichtlichen Kontinuität und gerade nicht systemtheoretischen Auslegung allerdings ins Gegenteil verkehrt. S. Ulrike Müßig, Konflikt und Verfassung, in: Dies. (Hg.), Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt, Tübingen 2006, S. 1–27, insbes. S. 6–13. 66 S. hierzu Kirsch u.a. (Hg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft (wie Fn. 34); ders., Der Verfassungsstaat im letzten Drittel des langen 19. Jahrhunderts und die Herausforderung der Massengesellschaft im europäischen Vergleich. Überlegungen zu einer Tagung, in: Comparativ 10 (2000), S. 119–131.

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rum, den bisherigen geschichts-, rechts- und politikwissenschaftlichen Verfassungsforschungen lediglich einen weiteren Aspekt, nämlich den der „Kultur“, hinzuzufügen. Es geht vielmehr um die Frage, ob und inwieweit ein verfassungskultureller Blick zur Beantwortung des grundsätzlichen Problems der politisch-sozialen Integration durch Verfassung beizutragen vermag. Explizit ist diese Frage, die sich problemgeschichtlich in den neuzeitlichen Theoriediskurs über die Bedingungen und Möglichkeiten innerweltlicher Ordnungsstiftung einfügt, erst in jüngerer Zeit Gegenstand ausführlicher Diskussion geworden.67 Dabei hat Dieter Grimm die skeptische Frage aufgeworfen, ob denn „in der Existenz der Verfassung auch schon ihre Integrationswirkung begründet [liegt]?“68 Ein vergleichender Blick auf die Nationalgeschichten des Konstitutionalismus seit dem Ausgang des 18. Jahrhundert zeigt, dass dies keineswegs der Fall ist, und „die Tatsache, dass eine Verfassung juristisch funktioniert, garantiert“, wie Grimm hervorhebt, „noch keine Integrationskraft“.69 Zu fragen ist daher nach den „Voraussetzungen der Integrationskraft von Verfassungen“ (D. Grimm). Hiermit ist zunächst die bereits mehrfach betonte Historizität der Verfassung angesprochen, die die pauschale These von der „Verfassung als Kristallisationskern der politischen Kultur der Gesellschaft“70 der Moderne als grundsätzlich fragwürdig erscheinen lässt. Wenn oben „Verfassungskultur“ als die historisch-spezifische Institutionskultur des Konstitutionalismus definiert wurde, so bedarf dies nun der Präzisierung. Denn wenngleich Verfassungen heute zum Normbestand politisch-sozialer Ordnungen weltweit gehören, ist hiermit jedoch keineswegs eine gleichermaßen entfaltete Verfassungskultur verbunden. Somit ist der Konstitutionalismus eine zwar notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für Verfassungskultur. Welche konkreten Voraussetzungen hierzu erforderlich sind, ist bislang erst ansatzweise untersucht, und die vergleichende historisch-empirische Forschung zur „Verfassungskultur“ steht noch ganz am Anfang. In der verfassungstheoretischen Debatte erweist sich dabei die symbolpolitische Verengung auf einen „affektiv und evaluativ verankerten Konstitu-

67 S. hierzu Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung (wie Fn. 36); Dieter Grimm, Integration durch Verfassung, in: Leviathan 32 (2004), S. 448–463; Frank Nullmeier, Symbol und Demokratie, Souveränität und Verfassung, in: Buchstein/Schmalz-Bruns (Hg.), Politik der Integration (wie Fn. 62), S. 261–279; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (wie Fn. 26), S. 84–91. 68 Grimm, Integration durch Verfassung (wie Fn. 67), S. 450. 69 Ebd., S. 454. 70 Richard Münch, Die Struktur der Moderne, Frankfurt a.M. 1984, S. 336.

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tionalismus“71 als problematisch, denn Verfassungskultur wird aus dieser Sicht zu einer lediglich „additiven Konzeption der Integrationsmechanismen“72. Ohne den Rückbezug auf die Historizität der Verfassung vermag ein auf affektive Integrationseffekte reduziertes Verständnis der symbolischen Dimension der Verfassung keine Antwort auf die Frage zu geben, unter welchen Bedingungen Verfassungskultur integrativ (oder auch desintegrativ) wirken kann. Verfassung als „symbolische Kommunikation“ läuft ins Leere, wenn die Verfassung selbst als Folge sozialer Ausdifferenzierung ihren funktionalen Ort als Zentrum der Sozialintegration verliert. Schlagendes Beispiel hierfür ist die Geschichte der Weimarer Republik, deren Niedergang durch eine – ohnehin marginale – verfassungskulturelle Symbolpolitik nicht aufzuhalten war: eine „Verfassung ohne Verfassungskultur“.73 Die lange einflussreiche Auffassung, dass die Weimarer Reichsverfassung an dem wachsenden Einfluss der antidemokratischen Verfassungsfeinde von links und rechts gescheitert sei, erweist sich vor dem Hintergrund der Einsicht in die Historizität der Verfassung und deren Verschiebung im sozialen System als zu kurz gegriffen und bedarf darum einer grundsätzlichen Überprüfung. Denn nicht zu übersehen ist, dass die Problemlösungskapazität der Weimarer Verfassung hinter den neuen Herausforderungen des Interventionsstaats zurückblieb und selbst zu einem Faktor der Desintegration bei der Bewältigung der Strukturkrise wurde.74 Langfristig erfolgreiche Stabilisierungsstrategien, von Ernst Forsthoffs Konzept eines daseinsvorsorgenden Verwaltungsstaats bis zu Ernst Fraenkels demokratischer Pluralismustheorie, lagen daher jenseits der bisherigen verfassungs-

71 Hans Vorländer, Integration durch Verfassung? Die symbolische Bedeutung der Verfassung im politischen Integrationsprozess, in: Ders. (Hg.), Integration durch Verfassung (wie Fn. 36), S. 9–40, hier S. 28. 72 Nullmeier, Symbol und Demokratie (wie Fn. 67), S. 271. 73 S. hierzu Hans Boldt, Weimar, Verfassung ohne Verfassungskultur? (in diesem Band, S. 223 ff.). S. a., mit Blick auf das Konzept der „Verfassungskultur“ allerdings zu pauschal, Andreas Wirsching, Verfassung und Verfassungskultur der Zwischenkriegszeit, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 371–389. 74 S. hierzu Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, München 1990, S. 243; Michael Stolleis, Die Entstehung des Interventionsstaats (1989), in: Ders., Konstitution und Intervention. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert, Frankfurt a M. 2001, S. 253–282; Detlef Lehnert, Desintegration durch Verfassung? – oder wie die Verfassung der Nationalversammlung von 1919 als Desintegrationsfaktor der Weimarer Republik interpretiert wurde, in: Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung (wie Fn. 36), S. 237–265.

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rechtlichen Ordnung.75 Dass die Verfassungskultur im Rahmen der allgemeinen politischen Kultur der Weimarer Republik weitgehend eine Leerstelle blieb, hatte also nicht nur politische Gründe, sondern lag in der Formverwandlung des Konstitutionalismus selbst begründet. Ein ähnlicher Befund gilt für die aktuellen Debatten über die Konstitutionalisierung der Europäischen Union. Zwar ist die gescheiterte Ratifizierung des Verfassungsvertrags zunächst das Ergebnis der politischen Referenden in Frankreich und in den Niederlanden, die vor allem aktuelle Stimmungslagen zum Ausdruck brachten. Sie verweist aber ebenso auf divergierende national-kulturelle Verfassungssemantiken, die im politischen Vorfeld nur unzureichend berücksichtigt worden sind. „Verfassung“ im deutschen Kontext evoziert eben Anderes als „constitution“ im französischen oder britischen Kontext. Darüber hinaus ist jedoch grundsätzlich zu fragen, ob unter Bedingungen des von Luhmann und Grimm diagnostizierten allgemeinen Geltungsschwunds der Verfassung in hochkomplexen Sozialsystemen der Gegenwart Verfassungsgebung überhaupt ein geeignetes Instrument im Prozess der Europäischen Integration sein kann. Jedenfalls ist ein Legitimitätszuwachs der Europäischen Union durch Konstitutionalisierung nicht zu erwarten, wenn die Problemlösungskapazitäten der „Verfassung“ hinter den Erfordernissen der Sozialregulierung und des Steuerungsbedarfs der Europäischen Union zurückbleiben. Unter diesen Bedingungen kommt auch einem postulierten „Verfassungspatriotismus“ (Jürgen Habermas) als Teil einer „Verfassungskultur“ lediglich „symbolpolitische“ Bedeutung zu, die keinen realen Bezug zur schwindenden sozialen Kohäsionskraft der Verfassung besitzt. An beiden Beispielen – Weimarer Verfassung und EU-Verfassung – wird die Problematik eines auf Affektivität und Expressivität verengten Symbolbegriffs deutlich, der aus der Trennung zwischen instrumentellen und symbolischen Integrationsleistungen der Verfassung folgt.76 Um Verfassung und Verfassungskultur in ihrer Relationalität und Historizität plausibler beschreiben zu können, erscheint zunächst ein Anschluss an das Symbolverständnis von Cassirer und den institutionentheoretisch begründeten Begriff der Symbolizität bei Rehberg ergiebiger. Folgt man darüber hinaus Luhmanns und Grimms Überlegungen zu Integration und Kohäsionsschwund der Verfassung, lassen sich historisch mehrere Typen des Konstitutionalismus als jeweils besondere

75 Anregend und weiterführend hierzu, insbes. mit Blick auf Ernst Forsthoff: Florian Meinel, Der Verfassungsumbruch bei Kriegsende in der Staatsrechtslehre 1918–1939, in: Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise (wie Fn. 73), S. 122–143. 76 S. hierzu Nullmeier, Symbol und Demokratie (wie Fn. 67), S. 270–274.

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„institutionelle Figuration“77 unterscheiden, in denen die funktionale Differenzierung (also nicht Trennung) zwischen der instrumentellen und der symbolischen Seite der Verfassung konzeptuell vermittelt ist. So korrespondiert mit der Verfassung als „adäquates Problemlösungsmittel“ der neuständisch-vorindustriellen Staatsbürgergesellschaft des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts eine – bislang allerdings nur in Ansätzen untersuchte – entfaltete Verfassungskultur. Schon die nachfolgende, durch die Fabrikindustrialisierung ausgelöste soziale Differenzierung, die sozialtheoretisch als Trennung von „Staat und Gesellschaft“ beschrieben wurde, führte zur Bedeutungssteigerung der Verwaltung als „tätig werdende Verfassung“ (Lorenz von Stein). Ideologisch wurde hierdurch die „Verfassung“ neutralisiert und die vormalige Verfassungskultur wurde durch die politische Kultur des Nationalismus überformt und verdrängt. Der weitere Ausbau des Interventionsstaats seit Beginn des 20. Jahrhunderts engte die Möglichkeiten für eine auf die Verfassung fokussierte Institutionskultur ein, die durch die einflussreiche antidemokratische politische Kultur der Zwischenkriegszeit zusätzlich unter Druck geriet. Der von Luhmann und Grimm für die hochkomplexen Sozialsysteme der Gegenwart diagnostizierte Geltungsschwund der Verfassung schließlich hat die Voraussetzungen für eine Verfassungskultur weiter minimiert. Die Verschiebung der Verfassung vom Zentrum an den „Rand des Soziallebens“ lässt auch für eine postulierte Verfassungskultur nicht mehr als die Position einer Marginalkultur zu. Diese hier lediglich angedeutete Skizze bedürfte der Fundierung durch weitere historisch-empirische Untersuchungen im europäischen Vergleich. Festzuhalten für künftige Forschungen zur Verfassungskultur und zur Frage nach der Integrationskraft der Verfassung bleibt vor allem die Notwendigkeit, diese in Relation zur Historizität der Verfassung zu setzen. Ohne den reflektierenden Rückbezug auf den Ort der Verfassung in der jeweiligen institutionellen Figuration des Konstitutionalismus verlieren sich Untersuchungen über Verfassungskultur und zur symbolischen Dimension der Verfassung im luftleeren Raum.

77 Vgl. Reinhard Blänkner, Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Theorie politischer Institutionen, in: Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen (wie Fn. 38), S. 85–122, hier S. 106 f. Von „institutioneller Konfiguration“ spricht Gerhard Göhler, s. ders., Wie verändern sich Institutionen? Revolutionärer und schleichender Institutionenwandel, in: Ders. (Hg.), Institutionenwandel, Opladen 1997, S. 21–56, insbes. S. 24–27.

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4. Nachbemerkung Der vorstehende Text ist die 2008 überarbeitete und für den Druck ergänzte Fassung meines Vortrags, der als drittes Impulsreferat zur Eröffnung der vom Institut für Europäische Verfassungswissenschaft (IEV) am 27. Mai 2005 an der Fernuniversität Hagen veranstalteten Tagung „,Verfassungskultur‘ in Europas Geschichte und Gegenwart“ gehalten wurde. Die beiden anderen Impulsreferate hielten Peter Häberle („,Verfassungskultur‘ als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften“) und Hans Vorländer („,Verfassungskultur‘ aus politikwissenschaftlicher Perspektive“).78 Für kritische Hinweise und weiterführende Anregungen meines Beitrags in der anschließenden Diskussion danke ich Wolfgang Reinhard (Freiburg). Seither ist die Diskussion über „Verfassungskultur“ weitergeführt worden. Eine Problemverschiebung hat vor allem die bereits von Peter Häberle in seinem Vortrag angesprochene „,Verfassungskultur‘ als Vehikel für das konstitutionelle Völkerrecht“ (s. o. S. 181) angestoßen. In den Rechts- und Sozialwissenschaften hat diese Problemverschiebung in jüngster Zeit zur Formierung des „Globalen Konstitutionalismus“ als eigenes Forschungsfeld geführt. Für die historische Forschung, d.h. für die Geschichtswissenschaft ebenso wie für die Verfassungsgeschichtsschreibung und die historisch interessierte Politikwissenschaft, wäre diese neue Problemstellung erst noch aufzunehmen. Aus der jüngsten einschlägigen Diskussion sei hier lediglich auf wenige Titel verwiesen, die das Feld für künftige Forschung umreißen: Werner Daum u.a. (Hg.), Kommunikation und Konfliktaustragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Berlin 2010; Rainer Schmidt, Verfassungskultur und Verfassungssoziologie. Politischer und rechtlicher Konstitutionalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2012; Anne Peters, The Merits of Global Constitutionalism, in: Indiana Journal of Global Legal Studies 16 # 2 (2009), S. 397–411; Bardo Fassbender u.a. (eds.), The Oxford Handbook of the History of International Law, Oxford 2013, darin insbesondere die „Introduction“ von ders./Anne Peters, Towards a Global History of International Law, S. 1–24; Reinhard Blänkner, B/Ordering 18th-Century Constitutionalism in a Global Context (unveröffentl. Paper, Third European Congress on World and Gobal History, London, 14–17 April 2012). Aus diffusionistischer Sicht: Silke Hensel u.a. (eds.), Constitutional Cultures. On the Concept and Representation of Constitutions in the Atlantic World, Cambridge 2012.

78 S. o. S. 167 ff. u. S. 187 ff.

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Weimar: Verfassung ohne Verfassungskultur? Über „Weimar“ im Rahmen von Fragestellungen der „Verfassungskultur“ zu reden, erscheint schwierig: Besaß die Weimarer Republik überhaupt eine tragfähige Verfassungskultur? Beziehungsweise wenn die Aufforderung dahin geht, darüber etwas im Hinblick auf den ‚Verfassungswandel in kultureller Perspektive‘ zu sagen: Gab es in Weimar eine Verfassungskultur, die sich im Laufe einer relativ kurzen Zeit von zwölf Jahren gewandelt hat? Was ist überhaupt eine „Verfassungskultur“? Der Begriff scheint inhaltsreich zu sein, aber kaum scharfe Konturen zu besitzen. Auf den Gegenstand meiner Betrachtung, die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919, bezogen möchte ich ihn so umreißen: Zum einen kann er darauf verweisen, dass Staatsverfassungen Erzeugnisse einer bestimmten Kultur sind, der sie entstammen. So etwa der klassische Verfassungstypus mit Grundrechten und Gewaltenteilung, von dem die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen zu Beginn der Französischen Revolution, bewusst begrifflich einengend, in ihrem Art. 16 behauptete, dass eine „société, dans laquelle la garantie des droits“ nicht gesichert und die „séparation des pouvoirs“ nicht geregelt sei, überhaupt keine „constitution“ besäße. Es ist ersichtlich die Ideenwelt der Aufklärung gewesen, die diese bis heute maßgebliche Art von Verfassung hervorgebracht hat. Etwas anders liegen die Dinge dagegen bei der nicht schriftlich fixierten „lebenden“ Verfassung Großbritanniens. Zum anderen kann mit dem Begriff aber auch der Umgang mit einer gegebenen Verfassung, können die darauf bezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürger gemeint sein – und daran denkt man ja wohl hauptsächlich, wenn von „Verfassungskultur“ die Rede ist.

1. Probleme der politischen Kultur und Verfassungslegitimität In beiderlei Hinsicht ist die Situation für die Weimarer Republik prekär gewesen: Galt die Reichsverfassung von 1919 doch als ein eklektisches, verschiedene politische „Kulturen“ wie die des Parlamentarismus, des Präsidialregimes und der direkten Demokratie, Volkssouveränität und Föderalismus miteinander verbindendes Gebilde voll unausgegorener Kompromisse, das – und dies meinten nicht nur die Gegner der Republik – weniger an der eigenen nationalen Tradition als an der politischen Vorstellungswelt der im

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vorangegangenen Krieg siegreichen Feinde orientiert sei.1 Dementsprechend gering war der Respekt, der den Symbolen der als „Judenrepublik“ und mit ähnlichen Schmähungen verunglimpften Republik entgegengebracht wurde. Bezeichnend dafür ist der Flaggenstreit bereits in der Nationalversammlung, bei dem es um die Farben des neuen Staates: schwarz-weiß-rot oder schwarzrot-gold ging, um das Staatssymbol, das man seitens der Republikgegner bald als „schwarz-rot-Senf“ verhöhnte.2 Symptomatisch war aber auch das Scheitern des Versuchs, den 11. August zum Nationalfeiertag zu erheben. Zwar gab es in Weimar sog. Verfassungstage, in denen des Tages der Verabschiedung der neuen Verfassung gedacht wurde. Doch konkurrierte mit ihnen der vor allem in nationalistischen Kreisen festlich begangene, an den 18. Januar 1871 erinnernde „Reichsgründungstag“.3 Augenscheinlich fehlte es Weimar an einer breiten, die Verfassung bejahenden und sie mit Leben erfüllenden Bürgerschaft, bezeichneten sich selbst manche treue Parteigänger der Republik doch als zu bloßen „Vernunftrepublikanern“ gewordene „Herzensmonarchisten“.4 Zu viele gab es, die der Monarchie nachtrauerten, auch zu viele Extremisten, die eine andere Republik herbeiwünschten: Räteromantiker und Kommunisten, „konservative Revolu1 Vgl. statt vieler Helmuth Plessner, der in seiner bekannten, bereits 1935 unter anderem Titel erschienenen Abhandlung „Die verspätete Nation“ (ND Frankfurt a M. 1998, S. 50) auf das Fehlen einer „eigenen Staatsidee“ und die „Volksfremdheit des Systems“ hinwies. Zum Vorwurf des Eklektizismus s. z.B. die Äußerung des Reichswehrministers Geßler, der 1924 in einer Kabinettssitzung darüber klagte, dass „in unserer Reichsverfassung die unzweckmäßigsten Bestimmungen anderer Verfassungen zusammengestoppelt“ seien (zit. bei Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 399). 2 Zum Flaggenstreit s. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Kommentar zu Art. 3, sowie ausführlich Gusy (wie Fn. 1), S. 86 ff. 3 Vgl. Ralf Poscher in der Einführung zu der von ihm herausgegebenen Sammlung: Der Verfassungstag. Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfasssung, Baden-Baden 1999, sowie Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989. Bezeichnend ist, dass Rudolf Smend seinen berühmten Vortrag über ‚Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht‘ auf der Reichsgründungsfeier der FriedrichWilhelms-Universität Berlin am 18. Januar 1933 hielt unter Hinweis darauf, dass dieser Tag der große nationale Feiertag sei, den die deutschen Hochschulen begehen. Friedrich Meinecke äußerte 1929 zum 11. August, vor dem lebensgefährlichen Experiment eines Rüttelns an den Verfassungsgrundlagen warnend, dass nationale Gedenktage Tage des Nachdenkens seien, da zum Jubeln kein Anlass bestehe (s. Politische Schriften und Reden, Hg. Georg Kotowski, 2. Aufl. Darmstadt 1966, S. 426 ff.). 4 So Meinecke in der Neuen Rundschau im Januar 1919, s. Politische Schriften (wie Fn. 3), S. 281.

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tionäre“ und Faschisten. Selbst unter Sozialdemokraten, Trägern des neuen Staates, kursierten (in deren Jugendorganisation nach Jahren der Enttäuschung) zuweilen bekennerhafte Sätze wie: „Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel“.5 Kurzum: Wie auch immer man „Verfassungskultur“ definieren mag, eine solche scheint es in Weimar nicht gegeben zu haben, es gab sie jedenfalls nicht als eine die verschiedenen „Teilkulturen“ Weimars einigende Grundlage.6 Das mag in einer modernen, stark fragmentierten Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen, aus der Vergangenheit überkommenen, fest gefügten sozialmoralischen Milieus nicht Wunder nehmen – allerdings bieten die USA dazu ein Gegenbeispiel. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass dieser hier nur grob umrissene Befund für die Weimarer Republik schon von Anfang an zutrifft. Ein Verfassungswandel hat in Weimar ohne Frage stattgefunden, von einem zunächst stärker parlamentarisch orientierten zu einem präsidialen System, von dem sich mancher den Übergang zu einem anderen Staat mit einem autoritären Regime erhoffte.7 Indessen bedeutete die große Mehrheit, welche die sog. Weimarer Koalition in der Nationalversammlung besaß, nicht, dass an der Wiege der Republik eine verfassungskulturelle Einheit gestanden hätte, die erst 1920 oder 1922 oder noch später aufgebrochen wurde.8 Die Stellungnahmen zum Versailler Friedensvertrag, der Kapp-Putsch, die alsbaldige Flucht 5 Vgl. den Hinweis auf diese SAJ-Parole um 1930 u.a. bei Willy Brandt, Links und frei. Mein Weg 1930–1950, Hamburg 1982, S. 44; aber ebenso die Belege zu republiktragender Haltung der SPD z.B. bei Dietmar Schirmer, Politisch-kulturelle Deutungsmuster: Vorstellungen von der Welt der Politik in der Weimarer Republik, in: Lehnert/ Megerle (wie Fn. 3), S. 51 f. 6 Vgl. Detlef Lehnert/Klaus Megerle, Identitäts- und Konsensprobleme in einer fragmentierten Gesellschaft – Zur Politischen Kultur in der Weimarer Republik, in: Dirk Berg-Schlosser/Jakob Schissler (Hg.), Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987, S. 80–95, sowie Detlef Lehnert/Klaus Megerle (Hg.), Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990. S. allgemein auch Jürgen Gebhardt (Hg.), Verfassung und politische Kultur, Baden-Baden 1999. 7 Dazu neuerdings Bernd Hoppe, Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidial-Staat. Verfassungsentwicklung am Beispiel der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik, Berlin 1998. S. auch meinen Beitrag: Die Stellung von Parlament und Parteien in der Weimarer Republik. Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit, in: Eberhard Kolb/Walter Mühlhausen (Hg.), Demokratie in der Krise. Parteien im Verfassungssystem der Weimarer Republik, München 1997, S. 19–58. Offen blieb von Anfang an das Verhältnis von Reichspräsident und Reichstag bei der Regierungsbildung nach Art. 53 f. der Reichsverfassung. 8 Die Frage wird diskutiert von Detlef Lehnert, Wie desintegrativ war die Weimarer Reichsverfassung?, in: KJ 32 (1999), S. 398–409; vgl. zu den Belastungen der Verfassungskultur von Beginn an auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Zusammenbruch

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in präsidiale Notverordnungen, von Anfang an geschürte Ängste vor einem „Parlamentsabsolutismus“9, schon früh gespürte „Verfassungskrisen“10, all das deutet auf anderes denn eine erst allmähliche Delegitimation der Republik hin. Als Kind einer Revolution galten die Republik und ihre Verfassung vielmehr vielen schon von vornherein als illegitim11, mochte die Staatsrechtslehre auch versuchen, mit Hinweisen auf die „normative Kraft des Faktischen“ und darauf, dass „Legitimität ... kein Wesensmoment der Staatsgewalt“ sei, der neuen Ordnung eine, wenn auch kaum innerlich überzeugende Anerkennung zu verschaffen.12 Waren die Republik und ihre Verfassung als Frucht einer Kriegsniederlage, als Rezeption der fremden Verfassungswelt der Sieger nicht eigentlich etwas Unnationales, der eigenen monarchisch-obrigkeitsstaatlichen Verfassungstradition Widersprechendes? Zeigte nicht der „Parteienstaat“, unfähig stabile Regierungen zu bilden, zeigte nicht das Parteienwesen mit seinem „Kuhhandel“, dass es unmöglich war, eine starke und konsistente Politik zu treiben, wie es die Lage nach dem Krieg, wie es die modernen krisenhaften Umstände überhaupt erforderten? Waren die Republik und ihre Verfassung daher vielleicht überhaupt unzeitgemäß, nicht mehr auf der Höhe der Zeit, so dass ihnen nicht nur die nationale Legitimität fehlte, sondern in einem weiteren Sinne auch die historische? Die Frage mag verblüffen. Sind wir es doch gewohnt, die Republik und insbesondere die Weimarer Verfassung als etwas Fortschrittliches anzusehen,

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der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Bracher u.a. (Hg.), Die Weimarer Republik 1918–1933, 3. Aufl. Bonn 1998, S. 17–43. Zu diesem immer wieder verwandten Argument vgl. z.B. den Staatsrechtler Heinrich Triepel, der bereits 1920 für die richterliche Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen eintrat als dem „wichtigsten Schutz der bürgerlichen Freiheit gegenüber einem „machthungrigen Parlamente“ (s. ‚Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung‘, in: AöR 1920, S. 456–546, hier S. 537). Zum Versuch, eine gesetzeskontrollierende Verfassungsgerichtsbarkeit gegen die Willkür parlamentarischer Mehrheiten einzurichten, überhaupt Helge Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, Göttingen 1984. Davon spricht z.B. Geßler in der Debatte des Regierungskabinetts über eine Verfassungsreform am 19.12.1924 (o. Fn. 1). Prononciert z. B. Axel von Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, München 1924. So die herrschende Lehre, vgl. Anschütz in der Einleitung zu seinem Kommentar zur Reichsverfassung (wie Fn. 2). Eine ausführliche Darstellung der Diskussion über den „Geltungsgrund der Reichsverfassung“ findet sich bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6, Stuttgart 1981, S. 5 ff. (dort S. 8 die im Text wiedergegebenen Zitate).

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moderner, mehr in die Zeit passend als die vorangegangene Verfassung des Kaiserreichs, als eine Verfassung, die – auch das wird gelegentlich und wie mir scheint gar nicht zu Unrecht behauptet13 – auch ein passables Grundgesetz für unsere Bundesrepublik hätte abgeben können. Ja, ist nicht gar behauptet worden – von Peter Häberle, wie mir erinnerlich –, dass das Grundgesetz der Weimarer Verfassung gegenüber „unterentwickelt“ sei – eine Bemerkung, offenbar auf den schmalen, sich gegenüber Weimarer Üppigkeit karg ausnehmenden Grundrechtskatalog von 1949 gemünzt. Die Weimarer Verfassung also sogar „moderner“ als das Grundgesetz – einen erst künftig zu erreichenden Verfassungszustand normierend? Wie lässt sich dann aber meinen, sie sei 1919 „unzeitgemäß“ – und zwar im Sinne von „überholt“ – gewesen?

2. Modernität oder Überholtsein einer Konstitutionalisierung Ich werfe diese Fragen mit Bedacht an einem Institut auf, das sich dem Studium der Europäischen Verfassungswissenschaften verschrieben hat. Denn der Eindruck der Unzeitgemäßheit ergibt sich, wenn man die Weimarer Verfassung im europäischen Kontext betrachtet. Auch das leuchtet nicht auf Anhieb ein, dominierten in Europa nach dem Ersten Weltkrieg doch die demokratisch-parlamentarischen Systeme, die damals auch in den neugebildeten Staaten eingeführt wurden.14 Also war das, was die Weimarer Nationalversammlung gemacht hat, etwas sehr Zeitgemäßes? Ein Blick auf die weitere Entwicklung zeigt indessen, dass die meisten der neuen Staaten ihre ursprüngliche Option bald wieder aufgaben – und einige ältere ebenfalls. Von Osteuropa (mit Ausnahme der Tschechoslowakei) über Italien, später auch Österreich, bis hin nach Spanien und Portugal erstreckte sich allmählich ein Band mehr oder weniger autoritärer Regime. Und selbst in Frankreich blieb der parlamentarische Parteienstaat nicht unangefochten. Die Zeit des klassischen Parlamentarismus schien vorüber zu sein.15 Nicht nur Carl Schmitt hat das in seiner berühmten Studie über „die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ nachzuweisen versucht16, andere Autoren sahen das eben-

13 Lehnert (wie Fn. 8), S. 409. 14 Hierzu und zum Folgenden Horst Möller, Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998, und Gunther Mai, Europa 1918–1939, Stuttgart 2001 (bes. S. 147 ff.: Politik ohne Legitimation: Die Krise des Verfassungsstaates). 15 Zu dieser bereits vor dem Weltkrieg einsetzenden Entwicklung s. Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung, in: HZ 272 (2001), S. 623–666. 16 Erstauflage 1923, ND der 2. Auflage von 1926, Berlin 1961.

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falls so und zweifelten daran, dass dem parlamentarischen System noch eine Zukunft beschert sei.17 Offensichtlich ist es der Übergang zur Massendemokratie, zum allgemeinen Wahlrecht gewesen, war es der Zusammenschluss ganzer Bevölkerungsgruppen in Großverbänden und Massenvereinigungen sowie die damit verbundene Veränderung des Parteienwesen, was die herkömmliche parlamentarische Praxis fragwürdig machte und schon bald politische Vordenker und Philosophen wie Ortega y Gasset mit seinem Ende der zwanziger Jahre geschriebenen, Furore machenden „Aufstand der Massen“ Kulturkritik üben und nach neuen Formen der Politik suchen ließ.18 Modern war nun nicht mehr der Parlamentarismus, ein Erzeugnis des als überholt erachteten Liberalismus des 19. Jahrhunderts19, sondern der autoritäre Staat unter einem autoritären „Führer“.20 Modern war aus solchem Blickwinkel der italienische Faschismus, wobei man zu bedenken hat, dass „Faschismus“ damals in den zwanziger Jahren noch nicht jene pejorative Konnotation besaß, die er erst durch linke Faschismustheorien und den generalisierten Faschismusvorwurf erhielt. Anders wäre gar nicht die Sympathie, die dem italienischen Experiment in Europa entgegengebracht wurde, zu verstehen.21 Die Moderne oder wie man heute mit einem der Kunstgeschichte entlehnten Ausdruck sagt: die „klassische Moderne“ schien sich eben nicht in den Bahnen altväterlich-liberaler Fortschrittsannahmen zu bewegen, sondern von Leuten wie Mussolini, Franco, Salazar oder Pilsudski repräsentiert zu werden. 17 Vgl. etwa Moritz J. Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925. Zum Thema ‚Die Krisis des deutschen Parlamentarismus‘ s. auch die gleichnamige Tagung der Deutschen Hochschullehrer in Weimar 1927 (veröff. Karlsruhe 1927) und: Die gegenwärtige Entwicklung des repräsentativen Systems, Hg. Interparlamentarische Union, Berlin 1928 (Tagung von 1924). 18 José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1931 (La rebelión de las masas, 1929). Einen Überblick über die Diskussion gibt Marcus Llanque, Massendemokratie zwischen Kaiserreich und westlicher Demokratie, in: Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000, S. 38–70. 19 Rudolf von Thadden (Hg.), Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978. 20 Auch von Anhängern der Weimarer Republik wurde eine „Einschränkung“ der Demokratie befürwortet, s. Willy Hellpach: „konservative Demokratie“ (Artikel in der Vossischen Zeitung vom 5.10.1921), Alfred Weber, Option für eine „konstitutionelle Demokratie“ in: Das Ende der Demokratie, Berlin 1931, S. 23, Friedrich Meinecke: „konstitutionelle Demokratie“; s. ‚Nationalsozialismus und Bürgertum‘, Artikel in der Kölnischen Zeitung vom 21.12.1930, jetzt in ders., Politische Schriften (wie Fn. 3), S. 442. Vgl. dazu meinen Beitrag: Demokratie in krisengeschüttelter Zeit, in: Gusy (wie Fn.18), S. 608–634. 21 Nachweise bei Mai (wie Fn. 14), S. 37 ff. sowie Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 4. Aufl. München 1971.

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Diese Ansichtsweise widerspricht freilich der gängigen, von den Sozialwissenschaften auch auf die Geschichtswissenschaft ausstrahlenden Modernisierungstheorie22 mit ihrer Annahme eines Gleichlaufs von industriellem Fortschritt und Demokratisierung, wie sie durch die Entwicklung seit 1945 und den Zusammenbruch auch der kommunistischen Alternative bestätigt worden zu sein scheint. Dementsprechend wurden die in den zwanziger und dreißiger Jahren aufkommenden „Diktaturen“ als lediglich temporäre „Ausreißer“ interpretiert.23 Anders dagegen das Konzept der „klassischen Moderne“.24 Auch die ihm zugrunde liegende Vorstellung geht vom Phänomen der „Modernisierung“ aus, vom Aufbruch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Wirtschaft und Technik, in Kunst und Kultur, vom Wandel der gesamten damaligen Lebenswelt mit ihrer zunehmenden „Beschleunigung“25, einem Wandel, der zur – eben „modernen“ – Industrie- und Massengesellschaft geführt hat und damit zur Massendemokratie, auf die die überkommenen parlamentarischen Formen nicht mehr zu passen schienen. Nicht nur der Übergang zum allgemeinen Wahlrecht und die Bildung von Massenparteien zusammen mit dem Aufkommen der Massenmedien verdeutlichen das, sondern ebenso und noch mehr die Bildung zahlreicher hinter den Parteien, hinter Parlament und Regierung stehender Großverbände, gewerkschaftliche, industrielle, agrarische und andere Zusammenschlüsse, die (oft in eine antiquierte aber eingän-

22 Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. 23 So hat z.B. Barrington Moore jr. in: Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie (Frankfurt a.M. 1969) das Aufkommen des Faschismus in Japan und Deutschland mit der besonderen Rolle des Großgrundbesitzes und der Bauern in diesen Staaten zu erklären versucht. Das ähnelt der in der Theorie vom ‚deutschen Sonderweg‘ (u. Fn. 45) vertretenen Ansicht von der verhängnisvollen Rolle der Rittergutsbesitzerklasse. Zur Entwicklung der „Diktaturen“ im Europa der Zwischenkriegszeit s. Mai (wie Fn. 14), S. 187 ff. 24 Einen Vorschlag, den Begriff generell auf die „soziokulturelle Epochenlage“ der zwanziger Jahre anzuwenden, machte Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987, S. 11 u. 266. Er wurde aufgegriffen von Andreas Wirsching, Krisenzeit der „Klassischen Moderne“ oder „deutscher Sonderweg“?, in: 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, Hg. Horst Möller/Udo Wengst, München 1999, S. 365–381. Vgl. auch Stephan Loos, in: Ders./Holger Zaborowski, Leben, Tod und Entscheidung. Studien zur Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Berlin 2003, S. 7. Reserviert gegenüber Peukert unter Beschränkung des Konzepts auf den kulturellen Bereich: Dieter Gessner, Die Weimarer Republik, Darmstadt 2002, S. 55 ff. u. 108. 25 Ein charakteristisches Zeitzeugnis dafür: das „futuristische Manifest“ von Filippo Tomasio Marinetti aus dem Jahr 1909 und die Verbindung dieses Begründers des Futurismus mit Mussolini und dem Faschismus in den zwanziger Jahren.

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gige ständische Terminologie gekleidet) korporativ organisiert den klassischen Parlamentarismus zu ersetzen sich anschickten.26 An dieser Stelle unterscheidet sich das neue Konzept von älteren Versionen der Modernisierungstheorie: Nicht mehr von einer bestimmten Gerichtetheit der gesellschaftlichen Entwicklung wird jetzt ausgegangen, sondern von einer Offenheit der Situation so, wie sie sich den Zeitgenossen in ihrer Wahrnehmung bot – einem Geschichtsverständnis folgend, das Handlungsalternativen in bestimmten Lagen nicht für bloß eingebildet sondern real hält. Was sich den Zeitgenossen aber bot und von ihnen auch so wahrgenommen wurde, ist eine sich der wirtschaftlich-technischen Entwicklung verdankende, sich auch in der Kunst entfaltende Vielfalt der Möglichkeiten gewesen, eine Zukunftsoffenheit, die von einer heterogenen Gesellschaft mit ihrer Vielfalt unterschiedlichster Interessen als ambivalent erfahren wurde. Das konnte Aufbruchstimmung erzeugen, angesichts des Verlustes überkommener Maßstäbe aber auch Unsicherheit und Desorientiertheit – und damit ein allgemeines Krisenbewusstsein hervorrufen, das sich in einer weit verbreiteten Kulturkritik und in Kulturpessimismus äußerte.27 Es konnte angesichts des Schwindens allgemeingültiger Maßstäbe – eine Erfahrung, die der damals aufkommende Wertrelativismus in nachhaltiger Weise bis heute artikulierte28 – sowohl Freiheit verheißen, als auch die Sehnsucht nach festen Formen beflügeln, nach einer autoritär geführten Gemeinschaft, zum, wie man es formuliert hat: „Streben nach einem Eingebettetsein in einem neuen Absoluten“.29 Diese Ambivalenz war das Signum der damaligen Moderne. Sie äußerte sich auf der einen Seite in einem vom Relativismus geprägten Demokratieverständnis, wie wir es prononciert bei Hans Kelsen finden.30 Das war eine politische Sichtweise, die auf die Kompromissfähigkeit freier, der Selbstbestimmung fähiger Individuen und auf das akzeptierte Mehrheitsprinzip setzte, aber angesichts der eigenen Neutralität gegenüber den widersprüchlichsten Werthaltungen am Ende vor der Durchsetzungskraft totalitärer Überzeugun-

26 S. dazu Mai (wie Fn. 14), S. 48 u. 196 ff. 27 „Krise“ bzw. „Krisis“ ist ein in jener Zeit überaus gängiges Schlagwort, das in unzähligen Artikeln und Büchern vorkommt. Einige Nachweise in meinem Beitrag: Demokratie in krisengeschüttelter Zeit (wie Fn. 20), bes. S. 616. Erich Kästner dichtete 1931 in der Satire „Fabian“: „Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende“. 28 Nachweise in meinem Beitrag: Demokratie in krisengeschüttelter Zeit (wie Fn. 20), S. 617 ff. 29 So Gerhard Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, München 1933, S. 55. 30 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. Tübingen 1929.

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gen nur zu resignieren vermochte.31 Sie zeigte sich andererseits in einer Gegenbewegung, welche den Gesetzgeber, d.h. die wechselnden parlamentarischen Mehrheiten an feste vorgegebene Wertmaßstäbe, an unverbrüchliche Prinzipien des Rechts zu binden suchte, nach denen sich auch die Auslegung der Verfassung zu richten habe. Was damals als sog. „Methodenstreit“ in der Staatsrechtslehre die Gemüter bewegte und bis heute bewegt, ist ein tiefgehender Richtungsstreit gewesen, bei dem es nicht nur um verschiedene Methoden der Verfassungsinterpretation ging, sondern um das Verständnis von Recht und Politik überhaupt.32 Während die am Wertrelativismus orientierten „Positivisten“ dem Gesetzgeber eine weite, nur an die Formalbestimmungen der Verfassung gebundene Rechtsetzungsbefugnis zusprachen – überzeugt davon, dass es so etwas wie einen Rekurs auf ihm vorgegebene, allgemeinverbindliche Werte nicht geben könne33 –, postulierten die sog. „Antipositivisten“ gerade solche, weil eine Gesellschaft doch ihrer bedürfe, da sie eine „Wertund Willensgemeinschaft“ sein müsse, um existieren zu können.34

3. Konflikte in wesentlichen Verfassungsfragen Der damals entbrannte Streit um das Verständnis der Reichsverfassung zeugt nicht nur vom Eingebundensein ihrer Interpreten in die Ambivalenzen der klassischen Moderne, sondern verweist darüber hinaus auch auf die Entstehung der Verfassung selbst aus eben jenem Geist der Epoche. Deutlich geprägt davon erscheint der umfangreiche, die heterogenen Interessen und Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft widerspiegelnde Grundrechtskatalog im zweiten Hauptteil der Verfassung, in dem der Versuch unternommen wurde, die Vielfältigkeit des „Gemeinschaftslebens“ zu ordnen, was indes häufig nur durch Dissens überdeckende, konkretisierungsbedürftige Formelkompro-

31 So in signifikanter Weise ders., Verteidigung der Demokratie, in: Blätter der Staatspartei 2 (1932), S. 90–98 (wiederabgedruckt u.a. in: Demokratie und Sozialismus, Hg. Norbert Leser, Wien 1967, S. 60–68, bes. S. 68). 32 Manfred Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AöR 1977, S. 161–209. 33 So nachdrücklich, gegen den älteren staatsrechtlichen Positivismus des Kaiserreichs gewandt, Richard Thoma im Einleitungskapitel des Handbuchs des Deutschen Staatsrechts, Hg. Gerhard Anschütz/Richard Thoma, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 4. 34 Vgl. Klaus Rennert, „Die geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, Berlin 1987. Das Zitat im Text bei Hermann Heller, Europa und der Fascismus (1929/31), in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leiden 1971, S. 463– 609 (dort S. 609).

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misse gelang.35 Geprägt von dieser Ambivalenz war auch der organisatorische erste Teil mit seiner unentschiedenen Verknüpfung parlamentarischer, präsidialer und direktdemokratischer Elemente.36 Noch deutlicher spiegelte sich die Offenheit der Situation in jener Regelung des Art. 76 und ihrer Interpretation wider, wonach jedwede Änderung der Verfassung erlaubt war, so dass aus der Republik wieder eine Monarchie, aus Demokratie Diktatur werden konnte, wenn es nur einer qualifizierten Mehrheit so gefiel.37 Wir sehen heute darin einen kardinalen Fehler; der damit gegebenen Gefahr eines legalen Abgleitens in ein Unrechtsregime hat das Grundgesetz daher mit der die Grundprinzipien der Verfassung für unabänderlich erklärenden „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 einen Riegel vorgeschoben. Doch für die damalige Zeit war gerade die Veränderbarkeit auch im Grundlegenden Zeichen eines fortschrittlichen Bewusstseins, Ausdruck der Zukunftsoffenheit:38 Kein Beharren auf dem Status quo, sondern Öffnung gegenüber allen erdenklichen Möglichkeiten, wenn nur ihre Realisierung im vorgeschriebenen Verfahren erfolgte, kurz: ‚Legitimation durch Verfahren‘. 35 Zu diesem Kompromisscharakter der Verfassung vgl. meinen Beitrag: Die Weimarer Reichsverfassung, in: Karl Dietrich Bracher u. a. (wie Fn. 8), S. 44–62 sowie Detlev Peukert (wie Fn. 24), S. 46 ff. Grundlegende Darstellung 1928 von Carl Schmitt: Verfassungslehre (ND Berlin 1954), S. 28 ff., der von den „dilatorischen Formelkompromissen“ der Verfassung sprach. 36 Unklar und aus unterschiedlichen Überlegungen gemixt war vor allem die Position des Reichspräsidenten, den deshalb einer der ersten Kommentatoren der Verfassung als „das seltsamste politische Lebewesen, das je die deutsche Erde getreten hat“ bezeichnet hat (vgl. Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922, S. 355 f.). 37 So entsprechend der herrschenden Meinung Gerhard Anschütz, der in seinem Kommentar (o. Fn. 2) zu Art. 76 die verfassungsändernde Gewalt ausdrücklich als „gegenständlich unbeschränkt“ bezeichnete und der u.a. von Triepel, Bilfinger, Schmitt und Bühler vertretenen Gegenmeinung vorhielt, dass sie „im geltenden Recht keinen Anhalt“ finde, wenn sie auch „eine beachtliche politische Forderung“ darstelle. Pointierter noch bezeichnete Richard Thoma die Ansicht der genannten Autoren im Handbuch des Deutschen Staatsrechts (wie Fn. 33), Bd. 2, 1932, S. 153 f., als „wunschrechtlich“. 38 Besonders prägnant Richard Thoma, der in seinem Beitrag: Das Reich als Demokratie im Handbuch des Deutschen Staatsrechts (wie Fn. 33), Bd. 1, S. 193, der Gegenmeinung entgegenhält, dass sie „die vielleicht gewagte, aber in ihrer Folgerichtigkeit großartige Erfassung der Idee der freien demokratischen Selbstbestimmung“ verkenne. Die Äußerung erfolgte zur gleichen Zeit, zu der Hitler im Ulmer Reichswehrprozess bekundete: „Die Verfassung schreibt uns nur die Methoden vor, nicht aber das Ziel. Wir werden auf die­sem verfassungsmäßigen Wege die ausschlaggebende Mehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften zu erlangen suchen, um in dem Augenblick, wo uns das gelingt, den Staat in die Form zu gießen, die unserer Idee entspricht.“ Zitat nach Gessner (wie Fn. 24), S. 101.

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War der nachmals so viel geschmähte staatsrechtliche Positivismus somit vielleicht gar nicht überholt, sondern Ausdruck des modernen Bewusstseins, das alle auf inhaltlichen Gerechtigkeitsvorstellungen basierenden Gegenbewegungen, auch die scheinbar neuen, hinter sich gelassen hatte? Die These lässt sich kulturhistorisch untermauern, vergegenwärtigt man sich, dass die Zeit damals nicht von einer „es ist erreicht“-Stimmung erfüllt war, wie sie eher für das vorangegangene Kaiserreich oder die Bundesrepublik im Glück des Wirtschaftswunders kennzeichnend gewesen ist. Ganz anders als heute lebte man in der Erwartung einer heraufziehenden Zukunft, so disparat die Vorstellungen von ihr auch gewesen sein mögen. Utopien aller Art wurden aufgestellt, ein ‚utopisches Bewusstsein‘ dem modernen Menschen überhaupt attestiert.39 Utopien erfüllten bereits zu Beginn der Republik und davor die politische Vorstellungswelt von Anarchisten wie Gustav Landauer; Ernst Bloch konzipierte damals seine ersten utopischen Entwürfe; sozialistische Utopien standen gegen faschistische und technische beflügelten sogar das konservative Denken.40 Es ist diese Zeitstimmung gewesen, die ersichtlich auch in den Bestimmungen der Weimarer Verfassung ihren Ausdruck gefunden hat. Insoweit ist die These von ihrer Unzeitgemäßheit dann doch zu revidieren. Gerade in dem, was heute Unbehagen einflößt, in den Ambivalenzen ihres Grundrechtskatalogs, den dilatorischen Kompromissen, der Veränderbarkeit aller ihrer Teile bis hin zur Selbstabschaffbarkeit scheint die Verfassung sehr zeitgemäß gewesen zu sein. Dass Verfassungen nichts Starres, auf Dauer Fixiertes sind, dass es so etwas wie einen Verfassungswandel gibt, war der Staatsrechtslehre bereits im Kaiserreich angesichts vieler Abweichungen der Verfassungswirklichkeit vom Text der alten Reichsverfassung bewusst geworden.41 „Verfassungswandlung“ nannte man das damals. Den damit befassten Juristen ging es freilich in erster Linie darum, die rechtliche Zulässigkeit dieses Geschehens und der damit einhergehenden Uminterpretation der betroffenen Verfassungsnormen zu prüfen und den faktischen Verfassungswandel von der vorschriftsmäßigen Verfassungsänderung sowie der temporären Verfassungsdurchbrechung zu unterscheiden.42 Das hatte zur Folge, dass das eigentli39 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929. 40 S. dazu Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003. 41 So zuerst Paul Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, Dresden 1896; allgemeiner daraufhin Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Berlin 1906. 42 Einen Überblick über die anhaltende Diskussion gab am Ende der Weimarer Republik Hsü Dau Lin, Die Verfassungswandlung, Berlin 1932.

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che Problem, wie der Zusammenhang von Verfassungswandel und den ihn hervorrufenden gesellschaftlichen Veränderungen, von Modernisierung und nicht einfach nur durch gesetzliche Neuerungen steuerbarer Rechtsentwicklung, zu verstehen und zu meistern sei, in diesem Kontext unerörtert blieb. Davon klang nur etwas bei Rudolf Smend an, der 1928 in seiner berühmten Abhandlung über Verfassung und Verfassungsrecht von der „fließenden Geltungsfortbildung“ der Verfassung sprach; aber was damit gemeint war, blieb verfassungsrechtlich schwer fassbar und war gesellschaftstheoretisch wenig durchdacht.43 Indessen, diesen über seine juristische Erfassung hinausgehenden Wandel gab es, und seine Konsequenzen wurden gerade in der Weimarer Republik fühlbar. Allerdings blieb es offen, in welche Richtung er ging. Warum, so kann man fragen, nicht in Richtung auf eine Stabilisierung der Verfassung? Geht man von der Offenheit der Situation aus, wie sie das Konzept der klassischen Moderne postuliert, wäre ja auch das eine Möglichkeit gewesen. Warum wurden die Programmsätze der Weimarer Verfassung, ihre offenen Kompromisse nicht konkretisiert, warum blieben die Beziehungen zwischen Parlament und Präsident in der Schwebe und wurden die parlamentarischen Verhältnisse nicht stabilisiert? In diese Richtung gehende Tendenzen und Vorschläge gab es ja.44 Warum hat die Weimarer Reichsverfassung, wenn schon nicht von Anfang an, so doch nicht wenigstens mit der Zeit Legitimation erworben? Für uns liegt es nahe, diese Frage zu stellen, weil wir am Grundgesetz gerade diese Entwicklung beobachten können: Aus der Verfassung eines den Deutschen oktroyierten Staates, als Provisorium gedacht, von zweifelhafter Legitimität, ist es allmählich zu einer festen und allgemein bejahten Grundlage unseres Gemeinwesens geworden, die sich selbst bei der Wiedervereinigung 1990 bewährt hat. Warum ist das in Weimar nicht gelungen?

43 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. Berlin 1994, S. 119–276 (S. 187 ff.). Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: Bernd Guggenberger/ Thomas Würtenberger (Hg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, Baden-Baden 1998, S. 44–56. 44 Zur Integrationswirkung der parlamentarischen Praxis, bes. am Beispiel der DNVP (S. 323 ff.), vgl. Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik, Düsseldorf 2002. Zu den Vorschlägen für eine Änderung des parlamentarischen Misstrauensvotums zwecks Stabilisierung des Systems s. die Darstellung des „Kampfes um Art. 54“ in meinem Beitrag bei Kolb/Mühlhausen (wie Fn. 7), S. 38 ff.

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4. War das Scheitern Weimars und die NS-Machtübernahme unvermeidlich? Eine gängige Erklärung hierfür bietet zunächst die spezifische deutsche Situation in der Nachkriegszeit mit den Belastungen durch den „Diktatfrieden“, durch Reparationen, Inflation usw. bis hin zur exorbitanten Wirtschaftskrise anfangs der dreißiger Jahre; sie ist allerdings in den USA noch gravierender gewesen, ohne dass es dort zu einem Zusammenbruch der Demokratie kam. Unterstützt wird diese auf deutsche Besonderheiten abhebende Deutung durch die bekannte, weit ausgreifende These vom deutschen „Sonderweg“, die die Nichtbewältigung der Krisensituation in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren und den Übergang zur NS-Diktatur auf Eigentümlichkeiten der Nation und ihrer Geschichte, auf langfristige Prägungen von Einstellungen und eine Reihe damit zusammenhängender fataler Ereignisse zurückführt – auf eine spezifische lutheranische Obrigkeitshörigkeit in der lang andauernden Kleinstaaterei oder auf den Umstand, dass die Bismarcksche Reichsgründung den Deutschen die „Einheit“ anstatt der zur Selbstbestimmung befähigenden „Freiheit“ beschert habe.45 Diesen älteren Erklärungsversuchen des Scheiterns Weimars wird heute indessen mit dem Konzept der klassischen Moderne ein neuerer entgegengestellt; denn dieses Konzept wendet sich nicht nur gegen die einfachen Annahmen einer Modernisierungstheorie, für die „Modernisierung“ zugleich auch Durchsetzung der Demokratie im westlichen Sinne bedeutet, sondern es zieht auch die Ansicht, dass ein deutscher Sonderweg zum Untergang der Republik und zu Hitler geführt habe, in Zweifel.46 Dies geschieht im Zuge einer sich von der nationalen zu einer europäischen Sichtweise hinwendenden Geschichtsbetrachtung. Thematisiert werden jetzt allgemeine europäische Problemlagen und Trends in den zwanziger Jahren, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Staaten die Errichtung autoritä-

45 Dazu Plessner (wie Fn. 1 – Luthertum) und zuletzt noch, auf Bismarck bezogen, Heinrich August Winkler, Die deutsche Abweichung vom Westen. Der Untergang der Weimarer Republik im Licht der „Sonderwegsthese“, in: Gestaltungskraft des Politischen. FS für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 127–137. Zur Kritik an der Sonderwegstheorie s. Helga Grebing, Der „deutsche Sonderweg“ in Europa 1806–1945, Stuttgart 1986. Weitere Hinweise bei Stefan Immerfall, Politische Kultur als historische Makrovariable. Zur vergleichenden Entwicklungsanalyse geschichtlicher Kontextbedingungen, in: Lehnert/Megerle (wie Fn. 6), S. 26–42 (33 ff.). 46 S. Andreas Wirsching, Krisenzeit der „Klassischen Moderne“ oder „deutscher Sonderweg“?, in: 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte (wie Fn. 24).

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rer Regime und Diktaturen zur Folge hatten; als exzeptionell erscheint dann nur noch die Radikalität des sich in Deutschland durchsetzenden Regimes.47 In der Tat wird man kaum leugnen können, dass die Nachkriegszeit Europa eine Fülle von Problemen bescherte, mit denen sich alle Staaten konfrontiert sahen, und dass es gegenseitige Beeinflussungen gab, etwa ausgehend vom italienischen Faschismus (der wiederum auch französische Wurzeln hatte), die den Übergang zu Autoritarismus und Diktatur förderten. Frappierend ist in der Tat die Ähnlichkeit der Probleme, vergleicht man eingehende Analysen der Weimarer Situation mit ebensolchen der gesamteuropäischen Ebene.48 Irritierend zugleich ist aber auch ihre Ähnlichkeit mit der bundesrepublikanischen Gegenwart, ob es sich nun um demographische Entwicklungen handelt, um die Ersetzung der Bevölkerungspyramide durch einen ‚Bevölkerungspilz‘, um hohe Arbeitslosigkeit, um Druck der internationalen Konkurrenz im Wirtschaftsleben, Rationalisierungszwänge und Abbau des Sozialstaats oder die Verengung der Verteilungsspielräume – alles das finden wir schon in Weimar, nicht erst in der Bundesrepublik. Augenscheinlich müssen solche Belastungen nicht unbedingt zum Zusammenbruch einer Demokratie führen; sie taten es ja auch nicht in allen europäischen Staaten der Zwischenkriegszeit. Muss man die Ursachen dafür deshalb auf der politischen Ebene suchen, im Parteiensystem, das oft eine Bildung klarer Mehrheiten und fester Koalitionen verhinderte? Im daraus resultierenden Nichtfunktionieren des Parlamentarismus, das eine Gewöhnung an dessen Spielregeln und deren allmähliche Akzeptierung nicht zuließ? Die desaströsen Folgen, der Zusammenbruch der liberalen Mitte und der Aufstieg des Rechtsund Linksextremismus legen diese Vermutung nahe. Aber Probleme mit dem Parteiensystem und dem Parlamentarismus gab es europaweit, nicht nur in Deutschland, und nicht in allen europäischen Staaten führten sie zum Untergang der liberalen Demokratie. An einzelnen Ursachen kann es nicht gelegen haben, eine ausschlaggebende lässt sich nicht ausmachen, eher ist von einem Syndrom von Bedingungen auszugehen, die aus dem Krieg und der Nachkriegszeit sowie aus langfristigen Entwicklungen resultierten. Dabei spielten die kulturelle Ambiance, das Vorhandensein oder Fehlen liberaler und parlamentarischer Traditionen eine bedeutsame Rolle, und nationale Eigenheiten waren mit gesamteuropäischen Entwicklungen auf eine schwer analysierbare Weise miteinander verquickt.49 47 Das ist die These von Mai (wie Fn. 14), S. 252. 48 S. einerseits Peukert (wie Fn. 24), S. 87 ff., andererseits Mai (wie Fn. 14), S. 52 ff. und passim. 49 Von einer „dauerhaften Forschungsaufgabe“ spricht Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik, München 2000, S. 51. Einerseits gehörte das Deutsche Reich zu den euro-

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Was auch immer dazu beigetragen haben mag, die Verlockung, das fehlgeschlagene Experiment mit dem Parteienstaat durch eine autoritäre Führung zu ersetzen, war allenthalben groß. Das musste in Deutschland nicht unbedingt zu Hitler und in die Diktatur führen, es hätte auch Papens ‚neuer Staat‘ sein können.50 Hitler war vermeidbar, die Republik sogar zu erhalten, wie die Pläne des Reichskanzlers Schleicher zeigen.51 Es kam auf den Reichspräsidenten an, alles konzentrierte sich auf ihn.52 Carl Schmitts Ruf nach dem ‚Hüter der Verfassung‘ gibt dafür ein beredtes Zeugnis ab: Ausgehend vom Verfassungswandel, der sich ihm als ein in die Aporie führender Funktionswandel des Parlamentarismus darstellte, durchmustert er in seiner berühmten Abhandlung 1931 die verschiedensten Vorschläge zur Krisenüberwindung, verwirft sie und verweist auf den Reichspräsidenten als einzig möglichen Retter aus der Not, optiert – ohne es direkt auszusprechen – für ein autoritäres, auf der demokratischen Legitimation der Führungsfigur basierendes System, dessen Installierung über den Art. 48 der Reichsverfassung jedoch unklar bleibt.53 Unklar bleiben musste; denn dieser Artikel beinhaltete ja keineswegs eine den Parlamentarismus ersetzende präsidiale „Reserveverfassung“. Vielmehr war er in das präsidial-gouvernemental-parlamentarische Balancesystem der Verfassung derart eingebaut, dass er zwar dem Reichspräsidenten den Erlass von der Reichsregierung gewünschter Notverordnungen ermöglichte, aber diese wiederum einer parlamentarischen Kontrolle unterwarf.

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päischen Staaten, die aufgrund der aus dem Krieg (und der Kriegsniederlage) resultierenden Belastungen den Weg in die Diktatur einschlugen, andererseits stellte es als einziges hochindustrialisiertes Land, das diesen Weg ging, einen Sonderfall dar. Vgl. dagegen etwa die Tschechoslowakei. S. Walter Schotte, Der neue Staat, Berlin 1932. Zum Ganzen vgl. Hans Mommsen, Die Illusion einer Regierung ohne Parteien und der Aufstieg der NSDAP, in: Kolb/Mühlhausen (wie Fn. 7), S. 113–139. S. Eberhard Kolb/Wolfram Pyta, Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930–1933, München 1992, S. 155–182; Wolfram Pyta, Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur Fernhaltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 bis Januar 1933, in: Gestaltungskraft des Politischen (wie Fn. 45), S. 173–197, und ders., Konstitutionelle Demokratie statt monarchischer Restauration, Die verfassungspolitische Konzeption Schleichers in der Weimarer Staatskrise, in: VfZ 47 (1999), S. 417–441, sowie den Tagungsbericht von Andreas Rödder, Reflexionen über das Ende der Weimarer Republik. Die Präsidialkabinette 1930–1932/33. Krisenmanagement oder Restaurationsstrategie?, in: Ebd., S. 87–101. S. auch die ausführliche Darstellung der Ereignisse von Ernst Rudolf Huber in seiner Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, Stuttgart 1984, S. 1205 ff. Dazu nun Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931), 3. Aufl. Berlin 1985.

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So konnte die Reichstagsmehrheit aufgrund Abs. 3 des Artikels jederzeit die Aufhebung der ergangenen Verordnungen verlangen, vermöge des Art. 54 eine renitente Regierung sogar per Misstrauensvotum stürzen. Dagegen hätte eine vom Reichspräsidenten gestützte Regierung nach Art. 25 die Auflösung des Reichstags verfügen können – „jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß“ (Abs. 1) und mit der Verpflichtung, binnen sechzig Tagen Neuwahlen anzuordnen (Abs. 2), was damals, 1933, einen voraussehbaren, die Situation eher verschlimmernden Ausgang genommen hätte. Nicht immer führen Wahlen, wir wissen das inzwischen wieder, zum Ausweg aus einer Krise. Vermutlich hätte man wieder auflösen müssen und dies, um Zeit zum Erlass von stabilisierenden Maßnahmen zu gewinnen, möglicherweise mehrmals – auch dafür gab es Stimmen.54 Die Regierung überlegte ihrerseits, ob sie es zum Verfassungsbruch, zur Parlamentsauflösung ohne Ausschreibung von Neuwahlen für eine bestimmte Zeit, kommen lassen sollte, interpretatorische Hilfe leistete die Staatsrechtslehre.55 Ein interessanter Fall: In Situationen, in denen eine krisenhafte Entwicklung auf die Spitze getrieben erscheint, kann, so scheint es, eine Verfassung gerade von denen, die sie bewahren wollen, nicht ohne ihre Verletzung gerettet werden, weil die Verfassung selbst in ihren Bestimmungen sich dieser Rettung verweigert. Der Befreiungsschlag aus der Selbstverstrickung gelingt dann nur über eine zweifelhafte Interpretation ihrer Regelungen: ein Szenario, das uns gegenwärtig nicht ganz unbekannt erscheint, wenn dabei auch nicht immer gleich die Existenz des ganzen Verfassungsstaats auf dem Spiel steht. Damals in Weimar ging es aber eben darum, und es war nicht ganz klar, was man zu opfern bereit war, was man opfern konnte, ohne aus der Republik einen anderen Staat zu machen, ohne die Verfassung in ihrem Kern preiszugeben. Nicht Delegitimation, sondern Rettung der Verfassung durch Verfassungswandel?

54 Vgl. Friedrich Meinecke, Von Schleicher zu Hitler (Berliner Volkszeitung vom 22. Februar 1933), in: Politische Schriften (wie Fn. 3), S. 479–482, hier S. 480. 55 So Johannes Heckel mit seiner Theorie vom Verfassungsnotstand, s. Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand mit besonderer Rücksicht auf das Budgetrecht, in: AöR 1932, S. 257–338.

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Perspektiven und Grenzen des „deutschen Konstitutionalismus“ Der Ausgangspunkt meiner Befassung mit dem Thema reicht ungefähr 25 Jahre zurück. Damals beschäftigte mich die Frage, wie einer langlebigen und für viele Zeitgenossen des Kaiserreichs offenbar attraktiven oder zumindest akzeptablen Staats- und Verfassungsordnung letztlich eine so katastrofische und pejorative Würdigung durch die Geschichtswissenschaft zuteil werden konnte. Als angehender Historiker, der gelernt hatte, nach der Methode des kritischen und verstehenden Nachvollzugs von Geschichte zu arbeiten und deterministischen Sichtweisen zu widerstehen, sah ich hier das Gegenteil am Werk: die Ex-Post-Verurteilung einer Epoche, die von der Mehrheit meiner künftigen Kollegen offenbar als zeitwidrig, instabil und untergangsgeweiht angesehen wurde.1

1. Deutungsmuster und Fragestellungen Hinzu kam, dass auch die verfassungstheoretischen Begründungen nicht zufrieden stellten – und zwar weder die der vielen Gegner noch der wenigen Verteidiger des „deutschen Konstitutionalismus“. Als Hauptkontrahenten galten Ernst-Wolfgang Böckenförde und Ernst-Rudolf Huber, die in ihrer Argumentation vor allem auf die Souveränitätsfrage abhoben: Böckenförde auf eine im Kaiserreich zu schwach ausgebildete parlamentarisch-demokratische Souveränität, Huber auf eine unzureichend ausgestaltete monarchische Souveränität. Unverkennbar war bei beiden die Orientierung an Carl Schmitt, der bereits in 1 Vgl. z.B. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, 4. Aufl. Göttingen 1980, S. 63 u. 195; spätere Beispiele: Wolfgang J. Mommsen, Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 als dilatorischer Herrschaftskompromiß, in: Ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.M. 1990, S. 39–65; ders., Das deutsche Kaiserr­eich als System umgangener Entscheidungen, in: Ebd., S. 11–38; Hartwig Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998, S. 88 u. 157; Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, Frankfurt a.M. 1988, S. 141 u. 115; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 430.

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den 1920er Jahren die Letztentscheidungskompetenz zum obersten Beurteilungskriterium staatlicher Ordnung erhoben hatte und echte Souveränität nur dort anerkennen wollte, wo „Auctoritas“ und „Potestas“ zusammenfielen.2 Unbeachtet blieb indes der Umstand, dass das Kaiserreich de facto unter Umgehung der Souveränitätsfrage gegründet worden war, indem die Bundessouveränität zwar als oberste Instanz firmierte, diese Stellung aber im Rahmen der Reichsverfassung nicht zu behaupten vermochte. Dem entsprach im Übrigen der Vereinbarungscharakter der Staatsgründung, die im Zuge eines mehrmonatigen Ratifizierungsprozesses zwischen Norddeutschem Bund und süddeutschen Einzelstaaten (Regierungen und Parlamenten) sowie durch einvernehmlichen Beschluss von Bundesrat und Reichstag zu Stande kam und im Proklamationsereignis des 18. Januar 1871 nur ganz unzureichend abgebildet wurde.3 Mit Blick auf das Souveränitätsproblem wurden zudem falsche Vergleiche gezogen. Böckenförde und die meisten der ihm folgenden Autoren orientierten sich in ihrem Konstitutionalismus-Verständnis am Modell der belgischen Verfassung von 1831, die freilich, ganz anders als die Reichsverfassung, als letzte Halteposition vor der Parlamentarisierung verstanden werden muss und bekanntlich schon auf dem Boden der Volkssouveränität stand.4 Huber wiederum betrachtete das Kaiserreich als Ableger preußischer Staatlichkeit, die er vor allem durch Königtum, Militär und Beamtenschaft repräsentiert sah. Nach seiner Einschätzung trat das liberale Bürgertum 1866/71 dem preußischen Staatsmodell bei, um das höhere Ziel des Nationalstaats zu erreichen und es nicht wieder, wie 1848, aufs Spiel zu setzen.5 Es spielte für Hubers Argument offenbar keine Rolle, dass zentrale Elemente preußischer Verfassungsstaatlichkeit im Reich fehlten bzw. deutlich anders gelagert waren – man denke hier an das Wahlrecht, das Notverordnungsrecht oder die Position des Reichskanzlers. Dies alles wusste Huber und legte es im dritten Band seiner Deutschen Verfassungsgeschichte durchaus differenziert dar. Da er sich aber 2

Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 2. Aufl. München 1934, S. 1 u. 22; ders., Der Hüter der Verfassung (1931), 2. Aufl. Berlin 1969, S. 135; ders., Verfassungslehre (1928), 8. Aufl. Berlin 1993, S. 23. 3 Vgl. Christian Senkel, Einleitung zu: Ders. u.a. (Hg.), Reichsgründung 1871. Ereignis, Beschreibung, Inszenierung, Münster 2010, S. 7–14. Senkel spricht in Bezug auf die Inszenierung von Versailles recht treffend von einer „Poetik der Reichsgründung“ (ebd., S. 7). 4 Vgl. Artikel 25 der Verfassung vom 7.2.1831: „Alle Gewalten gehen von der Nation aus.“ 5 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich (1963), Stuttgart 1970, S. 10 f. Ähnlich äußerte sich Huber in seinem Werk Heer und Staat in der deutschen Geschichte (Hamburg 1938) sowie in dem Beitrag Positionen und Begriffe. Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 101 (1941), S. 1–44, hier S. 18–21.

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letztlich nicht vom Souveränitätspostulat zu lösen vermochte, blieb ihm nichts anderes übrig, als die These der Eigenständigkeit des „deutschen Typs der konstitutionellen Monarchie“ über den Umweg des preußischen „monarchischen Prinzips“ zu konstruieren.6 Einleuchtender als die geschilderten Positionen der Juristen, denen weite Teile der bundesdeutschen Historikerschaft – oftmals in Verbindung mit dem Theorem des „deutschen Sonderwegs“ – folgten, erschien mir damals die politikwissenschaftliche Deutung des Kaiserreichs. Ihr wichtigster Vertreter war Hans Boldt, der dessen Steuerungs- und Integrationsfähigkeit erkannte und auch den Unterschied zu den frühkonstitutionellen Verfassungen herausarbeitete. Während jene noch dem „patrimonialen“, dem „Rechtswahrungs- und Mißbrauchsverhütungs-“ oder dem „Appellationsmodell“ verpflichtet gewesen waren, hatte sich nach Auffassung Boldts im Kaiserreich die Ablösung der Regierung vom Monarchen vollzogen. Dennoch ging auch Boldt davon aus, dass der Übergang zum Parlamentarismus letztlich alternativlos gewesen sei und man es folglich mit einer Zwischenform zu tun habe.7 Auf diesen Vorüberlegungen aufbauend möchte ich mich im Folgenden auf die Genese des monarchischen Konstitutionalismus in Deutschland sowie auf sein theoretisches Fundament und seine Funktionalität konzentrieren. Die teils ähnliche, teils anders gelagerte Entwicklung der konstitutionellen Monarchie im Habsburgerreich soll kontrastierend einbezogen werden, ferner die Vergleichsfolie des europäischen Verfassungsverlaufs des 19. Jahrhunderts Berücksichtigung finden. Abschließend wird auf aktuelle Ansätze zu einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung des verfassungsgeschichtlichen Themenfelds eingegangen.

2. Theorie und Funktionalität Mit dem Rechtspositivismus verfügte das Kaiserreich über ein tragfähiges rechtstheoretisches Fundament, das namentlich durch Georg Jellinek eine sinnvolle und nachhaltig wirksame Erweiterung um die Dimension des „unge6 Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass er dem deutschen Konstitutionalismus damit „die Qualität eines staatsrechtlich wie politisch geschlosse­nen und sich kraft eigener Rechtslogik selbst stabilisierenden Verfassungssystems“ entzogen hat. Günther Grünthal, Konstitutionalismus und konservative Politik. Ein verfassungspolitischer Beitrag zur Ära Manteuffel, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1974, S. 145–164, hier S. 146. 7 Vgl. Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975, S. 284 ff.; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl. München 1993, S. 201 ff.

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schriebenen Verfassungsrechts“ erfuhr. Dank Jellineks „Allgemeiner Staatslehre“ (Berlin 1900) konnte die zwischenzeitlich abgerissene Verbindung zwischen dem dogmatischen Staatsrechtspositivismus der Gerber/Laband-Schule einerseits, der philosophisch und historisch bestimmten Staatslehre der ersten Jahrhunderthälfte andererseits wieder hergestellt und auf anschlussfähige Traditionsbestände wie der „Historischen Rechtsschule“, den gemäßigten Liberalismus, der „vermittelnden Staatslehre“ und den „konservativen Konstitutionalismus“ zurückgegriffen werden.8 Mit dem ebenfalls durch Jellinek weiter entwickelten Staatspersönlichkeitskonzept existierte zudem eine ebenso pragmatische wie entwicklungsfähige Denkfigur, die sämtliche Staatsorgane verfassungsrechtlich einband und folglich die Staatssouveränität endgültig über die monarchische Souveränität stellte. Von einem gravierenden Theoriedefizit des „deutschen Konstitutionalismus“ kann mithin nicht ausgegangen werden, auch wenn Kritiker des Staatssouveränitätsmodells – wie Mohl, Gierke oder Preuß – zu Recht auf die mit ihm verbundene Gefahr einer überbordenden Staatsallmacht sowie auf die fehlende Normenhierarchie zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht bzw. den mangelnden Grundrechtsschutz aufmerksam machten.9 Unser Eindruck einer insgesamt befriedigenden rechtstheoretischen Grundierung des Kaiserreichs schärft sich im Vergleich mit dem Habsburgerreich, wo 1867 im westlichen, so genannten cisleithanischen Reichsteil ein der norddeutschen Bundesverfassung nicht unähnliches Verfassungsgebilde entstanden war, dessen theoretische Grundlegung aber deutlich problematischer blieb. Historismus und Positivismus vermochten im Staat der „im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ nur bedingt für Legitimation zu sorgen bzw. erwiesen sich teilweise sogar als kontraproduktiv – andere Theoriemodelle, wie etwa Steins „soziales Königtum“, vermochten sich nicht zu etablieren, ein profiliertes und konsensfähiges Theorieangebot zur weiteren Entwicklung der konstitutionellen Monarchie in Österreich entstand nicht.10 Neben den Alles überwölbenden und Vieles blockierenden Nationalitätenkonflikten hing das österreichische Theorieproblem mit der mangelnden Funktionalität der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilungsstruktur der Dezemberverfassung zusammen, die für eine konstruktive Kommentierung 8 Vgl. dazu meine ausführliche Darstellung in: Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2009, Kap. 2 (S. 57– 96). 9 Vgl. Henning Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person. Dogmengeschichtliche Untersuchung zu einem Grundbegriff der deutschen Staatsrechtslehre, Berlin 2000, S. 78. 10 Vgl. Schlegelmilch, Die Alternative, S. 88 ff.

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und Fortschreibung auf dem Boden des Rechtspositivismus schlechte Ausgangsbedingungen bot. Eine weitere erhebliche Belastung bildete der k. u. k.Dualismus. So entspannte der „Ausgleich“ von 1867 zwar einerseits das Verhältnis zwischen Wien und Budapest, forcierte andererseits bei den größeren Nationen des Reiches aber auch das Verlangen nach ähnlicher Privilegierung. Dies wiederum rief die um ihre Vorrangstellung fürchtende deutsche Minderheit Cisleithaniens auf den Plan, während die kleinen Nationalitäten Assimilation und Unterdrückung befürchteten. Unter diesen fatalen Bedingungen gelang es weder, den Dualismus zu einem Trialismus oder Quadralismus weiterzubauen, noch ein ausgewogenes bundesstaatliches System zu entwickeln. Ferner bestanden auf der Ebene der horizontalen Gewaltenteilung gravierende Strukturprobleme. Diese betrafen zuallererst das unselige Zusammenwirken von Parlamentsauflösung und Notverordnungsregierung, von der zeitweilig exzessiver Gebrauch zum Schaden der Verfassung gemacht wurde. Wie ein Akt der Verzweiflung mutet es an, wenn schließlich sogar daran gedacht wurde, die defizitäre staatliche Gesetzgebung durch eine koordinierte gemeinsame Gesetzgebung der Länder zu ersetzen.11

3. ‚Good Governance‘ im konstitutionell-monarchischen System Wir befinden uns hier an dem für die Beurteilung konstitutioneller Systeme und namentlich des monarchischen Konstitutionalismus entscheidenden Problem des Funktionszusammenhangs zwischen den Verfassungsorganen als Repräsentanten und Trägern von Souveränität und Herrschaft. Im Unterschied zum eben skizzierten österreichischen Beispiel scheint es mir im deutschen Fall gelungen zu sein, Verfassungsblockaden als Folge übermäßiger Gewaltentrennung zu vermeiden und das für Österreich zeitweilig zu beobachtende Abrutschen der Repräsentativkörperschaft in Bedeutungslosigkeit und Paralyse zu verhindern. Dies dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die Stellung des Reichskanzlers im Verfassungsgefüge anders als diejenige des österreichischen Ministerpräsidenten darstellte und vor allem geeignet 11 Zum zuletzt genannten Aspekt vgl. Hans Peter Hye, Die Länder im Gefüge der Habsburgermonarchie, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII.: Verfassung und Parla­mentarismus, Tlbd. 2: Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 2427–2464, hier S. 2462; zur Gesamteinschätzung des Verhältnisses von Verfassungsstruktur und Verfassungswirklichkeit vgl. Arthur Schlegelmilch, Belastungen und Chancen der konstitutionellen Repräsentationsformen im späten Habsburgerreich, in: Detlef Lehnert (Hg.), Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2011, S. 227–242.

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war, eine Mittel- und Scharnierfunktion zwischen Monarch und Parlament als wichtigster Voraussetzung der Regierungsweise des „doppelten Vertrauens“ zu ermöglichen.12 Das verfassungspolitische Fundament hierzu hatte Bismarck gelegt, als er 1866 mit der Indemnitätsvorlage zunächst implizit signalisierte, auf die „Lückentheorie“ als antiparlamentarisches Machtinstrument verzichten zu wollen, und sich wenig später bereit erklärte, im Rahmen einer künftigen Bundesverfassung als politisch verantwortlicher Regierungschef zu firmieren. Dies freilich mit der nicht unwichtigen Einschränkung, formal nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können, denn bekanntlich endete die politische Haftung des Kanzlers beim Interpellationsrecht des Parlaments und bestand keine Möglichkeit einer juristischen Anklage. Von Bismarck selbst gibt es zahlreiche Kommentierungen seiner Stellung als Reichskanzler, die im Kern darauf hinauslaufen, dass es darum gegangen sei, aus der „höheren Abhängigkeit ... zugleich eine höhere Unabhängigkeit” des Regierungsamtes zu machen und sich der Schwierigkeit, „gehorsamer und verantwortlicher Minister“ zu sein, gewachsen gezeigt zu haben.13 Aufgrund der Selbstherrschafts-Ambitionen Wilhelms II. war es für Bismarcks Nachfolger wesentlich schwieriger, konstitutionell im Sinne des „doppelten Vertrauens“ zu regieren. Erst im letzten Drittel der Amtszeit von Bülows konnte im Rahmen des „Bülow-Blocks“ wieder stärker auf die Machtressourcen der Kanzlerposition gesetzt und eine gewisse Einhegung des – freilich stets unberechenbaren – Kaisers erreicht werden.14 Daily-Telegraph- und Zabern-Affäre brachten diese Notwendigkeit auf den Punkt. Von manchem Abgeordneten wurde das Missbilligungsvotum des Reichstags ge12 Als Voraussetzung für die Regierung des doppelten Vertrauens galt die Geltung des Satzes „le roi règne et ne gouverne pas“ bzw. zumindest: „Le roi ne gouverne pas, mais il influe sur le gouvernement“. Dazu: Fritz Hartung, Die Entwicklung der konstitutionellen Monarchie in Europa, in: Ders., Volk und Staat, Leipzig 1940, S. 197 ff. Die Position des leitenden Ministers Guizot beschreibt Hartung „als Vertrauensmann des Königs, der für die Politik des Königs eine Mehrheit im Parlament sucht“ (ebd., S. 199). 13 Otto von Bismarck, Erinnerung und Gedanke [Die gesammelten Werke, Bd. 15], Berlin 1932, S. 64 f. 14 Vgl. Bernhard von Bülow, Denkwürdigkeiten in vier Bänden, Bd. 2: Von der Marokkokrise bis zum Abschied, Berlin 1930, S. 264 f. Die Distanzierung erfolgte im Rahmen einer Parlamentsrede Bülows vom 14.11.1906, insbesondere durch folgende Passagen: „Ich kann mir sehr wohl denken, daß ein Minister finden kann, daß ein übertriebenes persönliches Hervortreten des Regenten, daß ein zu weit getriebe­ner monarchischer Subjektivismus, ein zu häufiges Erscheinen des Monarchen ohne die ministeriellen Bekleidungsstücke, von denen die Weisheit des Fürsten Bismarck sprach, dem monarchischen Interesse nicht zuträglich ist und daß er dafür die Verantwortung vor Land und Geschichte nicht übernehmen kann“ (zit. n. ebd., S. 265).

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gen Reichskanzler Bethmann Hollweg Ende 1913 durchaus als Signal der Stärkung des Kanzlers gegenüber Kaiser und Militärführung gesehen und mit der Erwartung einer selbstbewussten und selbstverantwortlichen Regierungsweise verbunden.15 Die große Mehrheit des Reichstags zeigte sich darin einig, dass die bloße Zurückweisung der Einmischungen von Kaiser und Militär in das Staats- und Rechtsleben nicht ausreichen würde, sondern eine neue Qualität des Konstitutionalismus an der Tagesordnung war. Mit Forderungen nach einer Parlamentarisierung hielt man sich dagegen zurück.16 Für die konstitutionelle Funktionalität der Kanzlerposition spielten die Kompetenzausstattung und das Amts- bzw. Mandatsverständnis der beteiligten Akteure eine entscheidende Rolle. So unterstreicht der Vergleich mit Österreich, aber auch mit anderen Ländern, dass sich die klassischen Machtmittel der Regierungsseite: Parlamentsauflösung, Notverordnung und Lückenbehauptung, letztlich gegen sie selbst richteten. In der letzten Vorkriegsphase des Habsburgerreichs wurde deshalb sehr zu Recht die Forderung nach Abschaffung des Notverordnungsparagraphen 14 laut, der sich statt zu einer Stütze zu einer Bürde und Bedrohung des Staatslebens entwickelt hatte.17 Parlamentsauflösungen, wie sie ja auch in Deutschland verschiedentlich vorgekommen waren, mochten kurzfristige Erfolge für die Regierung bringen, schadeten aber letztlich der institutionellen Zusammenarbeit im Sinne des „doppelten Vertrauens“. In Bezug auf das deutsche Kaiserreich hat sich in der Forschung mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, dass die These eines „deutschen Sonderwegs“ als überholt anzusehen ist und das der klassischen Modernisierungstheorie entlehnte Modell von Pionier- und Nachzügler-Gesellschaften der Komplexität des europäischen und damit auch deutschen Modernisierungsprozesses nicht gerecht wird. Bestehen bleibt vor diesem Hintergrund hingegen die Ausgangsprämisse der britischen Kaiserreich-Forschung in der Tradition Geoff Eleys, David Blackbourns und Richard Evans’, derzufolge die Entstehung und Stabilisierung staatlicher Ordnungen im Modernisierungsprozess nicht zwingend an die Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie gebun15 Vgl. Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 291, 187. Sitzung v. 11.12.1913, hier S. 6381 (Abg. Haußmann). Siehe auch ebd., S. 6344 f. (Reichskanzler Bethmann Hollweg). 16 Vgl. das diesbezüglich kritische Fazit des sozialdemokratischen Abgeordneten Ledebour, in: Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, 174. Sitzung v. 2.12.1908, S. 5916. 17 Vgl. Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Österreichischen Reichsrates, 114. Sitzung der XXI. Session, 31.10.1912, S. 5650 (Abg. Pollauf; ferner als frühes Beispiel: Ebd., 79. Sitzung d. III. Session v. 16. Juni 1865, Frhr. von Tinti).

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den sein mussten. Zahlreiche Einzelstudien haben seitdem gezeigt, dass die ausgebliebene Parlamentarisierung des Kaiserreichs nicht in erster Linie als Resultat manipulativer Herrschaftsstrategien („Sozialimperialismus“, „Bona­ partismus“, „Königsmechanismus“) oder als Ausdruck polykratischer Unordnung zu sehen ist.18 Vielmehr zeigt sich das Bild einer komplexen Legitimationsordnung, die in weiten Teilen der gesellschaftlichen und politischen Elite bis hinein in die Führung der Sozialdemokratie Anerkennung gefunden hat und allenfalls evolutionär und reformerisch weiter geführt, nicht jedoch plötzlich und allumfassend überwunden werden sollte. Hierauf verweist zum Beispiel Lothar Machtans aktuelle Biographie über Max von Baden, derzufolge noch die Ernennung des letzten Kanzlers am 3. Oktober 1918 und dessen Regierungserklärung im Reichstag zwei Tage später keinen eindeutigen Parlamentarisierungsvorsatz beinhaltete. Der Leitgedanke des Prinzen scheint vielmehr darin bestanden zu haben, die Reichsverfassungsverhältnisse nach dem Vorbild des badischen Konstitutionalismus, der bereits auf eine längere Tradition des konstruktiven Miteinanders der Landtagskammern mit der monarchischen Regierung zurückblicken konnte, weiterzubilden. Die Notwendigkeit vertrauensbildender Maßnahmen, wie die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen oder die Beseitigung der Inkompatibilitätsbestimmungen der Reichsverfassung, war ihm bewusst – stets indes verbunden mit der Vorstellung, als Regierungschef das Heft des Handelns in der Hand behalten zu können und damit allenfalls einen gezähmten Halbparlamentarismus zuzulassen bzw. die Vollparlamentarisierung verhindern zu können.19 Merkwürdig zurückhaltend agierte in diesem Kontext Friedrich Ebert als Vorsitzender der stärksten Partei, der sich noch in der Reichstagssitzung vom 5. Oktober 1918 gegen eine ausführliche Debatte zur Regierungserklärung des Prinzen Max aussprach, statt die Chance zu nutzen, dem parlamentarischen Verantwortlichkeitsprinzip Nachdruck zu verleihen.20 Aber auch schon vorher mangelte es in entscheidenden Situationen immer wieder an parlamentarischem Durchsetzungswillen: Neben den oben bereits erwähnten „Affären“ um Wilhelms II. Daily-Telegraph-Interview bzw. um das illegale Vorgehen 18 Vgl. den Überblick bei Ewald Frie, Das deutsche Kaiserreich, 2. Aufl. Darmstadt 2013, S. 31 ff., 74 ff., 96 ff. u. S. 108 ff. 19 Vgl. Winfried Schumacher, Die innen- und außenpolitischen Vorstellungen des Prinzen Max v. Baden und ihre Umsetzung in seiner Zeit als Reichskanzler (3.10.–9.11.1918), in: Harm Klueting (Hg.), Nation, Nationalismus, Postnation. Beiträge zur Identitätsfindung der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1992, S. 71–91. 20 Vgl. Lothar Machtan, Prinz Max von Baden. Der letzte Kanzler des Kaisers. Eine Biographie, Berlin 2013, S. 373 f. u. 378 f.

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des Militärs im elsässischen Zabern ist hier generell an den 1912 gewählten Reichstag zu denken, dessen Mehrheitsverhältnisse nicht zur Verfassungsreform und anderen progressiven Bündnissen genutzt wurden. Das gilt sogar für den diesbezüglich ebenfalls zögerlich agierenden Interfraktionellen Ausschuss, der sich noch Ende Oktober 1917 bereit fand, mit dem Grafen von Hertling den Kandidaten des Herrscherhauses als künftigen Reichskanzler zu unterstützen und durchzusetzen.21 Tief verwurzelt war die Vorstellung vom monarchischen Konstitutionalismus als einzig stilgerechter bzw. einstweilen praktikabler Antwort auf die Strukturprobleme des ersten deutschen Nationalstaats.22

4. Entwicklungspotenziale des „deutschen Konstitutionalismus“ im nationalen und internationalen Vergleich Zur Ermittlung des Entwicklungspotenzials der konstitutionellen Monarchie bieten sich unter den deutschen Einzelstaaten diverse Vergleichsmöglichkeiten an – am prägnantesten das Großherzogtum Baden mit markant unterschiedlichen verfassungspolitischen Tendenzen vor und nach 1866.23 Zwischen 1860 und 1866 kann für Baden von einer Regierungsform an der Schwelle des Parlamentarismus, aber nicht von Parlamentarisierung gesprochen werden.24 Danach erfolgte die Rückführung auf den Boden eines konservativliberalen Verfassungsdualismus, wobei seitens der Regierung auf aggressive Maßnahmen gegen die Kammer verzichtet und eine Politik des teilweisen Entgegenkommens gegenüber der liberalen Abgeordnetenmehrheit verfolgt 21 Vgl. Gerd Fesser, Zur Reformpolitik im deutschen Kaiserreich 1890 bis 1914, in: Helmut Bleiber (Hg.), Revolution und Reform in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 181–191, hier S. 187 f. Zum Interfraktionellen Ausschuss vgl. Christoph Regulski, Die Reichskanzlerschaft von Georg Michaelis 1917. Deutschlands Entwicklung zur parlamentarisch-demokratischen Monarchie im Ersten Weltkrieg, Marburg 2003, S. 143 f. 22 Vgl. Otto Hintze, Machtpolitik und Regierungsverfassung, in: Ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hrsgg. u. eingel. von Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1982, S. 424–456, hier S. 453 ff.; ders., Das monarchische Prinzip, S. 377. Weitere Beispiele für die breite Ablehnungsfront gegenüber einer Parlamentarisierung des Kaiserreichs bei Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt a.M. 1997, S. 184, 287 f. u. 298. 23 Dazu auch der Beitrag von Lothar Machtan in diesem Band. 24 In formaler Hinsicht fehlten v.a. die jährliche Budgetbewilligung sowie das parlamentarische Misstrauensvotum.

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wurde. Badens Verfassungsstaatlichkeit baute damit weiterhin auf dem dualistischen Gewaltenteilungsmodell auf, das 1860 fast schon aufgegeben, dann aber mit Erfolg restituiert worden war – und erwies sich im Folgenden, auch im Hinblick auf die Integration der Sozialdemokratie, als entwicklungsfähiges Modell.25 Im internationalen Vergleichsmaßstab26 zeigen sich mehrere Beispiele für die Überwindung des monarchischen Konstitutionalismus durch den Parlamentarismus: der friedliche Wandel Englands im Gefolge der Great Reform, als sich die Krone verbindlich darauf festlegen ließ, das Amt des Premierministers an die Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus zu binden, der revolutionäre Zerfall der französischen Charten 1830 und 1848, Norwegens und Dänemarks Parlamentarisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ferner ist davon auszugehen, dass die deutsche Paulskirchenverfassung mit ihrer demokratischen und rechtsstaatlichen Grundstrukturierung sowie der weit vorgeschobenen Kompetenzausstattung des Parlaments eher über kurz als über lang zum Parlamentarismus geführt hätte. Ähnliches wird man für das österreichische Pendant, die Wien/Kremsierer Verfassung von 1849, annehmen dürfen. Andererseits ist festzustellen, dass sich der Parlamentarismus noch keineswegs als unwiderstehliches Erfolgs- und Zukunftsmodell darstellte. In einigen Ländern war er nach anfänglichen Erfolgen gescheitert oder hatte scheinkonstitutionelle Strukturen herausgebildet, die zuweilen den Wunsch nach einer Rückkehr zum monarchischen Konstitutionalismus als dem kleineren Übel laut werden ließen. Zudem: Das im 19. Jahrhundert klar überwiegende Verfassungsmodell war die konstitutionelle Monarchie, und sie zeigte sich keineswegs nur als statische Verfassungsform. Beispielsweise stellte das „Estatuto Real“ von 1834 in Spanien ein Verständigungsangebot an den ge­mäßigten Teil des spanischen Liberalismus („Moderados“) dar, indem es u.a. die Ernennung von Regierungsmitgliedern aus den Reihen der Cortes sowie einen Steuerzensus und damit ein explizit bürgerliches Qualitätskriterium für die Wahl zum Abgeordnetenhaus umfasste. 1837 erfolgte eine Wahlrechtserweiterung in Richtung städtischer Mittelschichten, wurde die Souveränitätsfrage als Kombination von Gottesgnadentum und Volkssouveränität beantwortet und durch ein pragmatisches Inkraftsetzungsverfahren mit Vereinbarungscharakter ergänzt. Hinzu kamen Verschränkungsmechanismen, wie die gemeinsame Gesetzgebung und Gesetzesinitiative, das suspensive Veto und eine funktionsfähige Ministerverantwortlichkeitsregelung unter Beteiligung beider Häuser des Parlaments. 1845 schloss sich wiederum eine Nachjustierung in die 25 Vgl. Schlegelmilch, Die Alternative, S. 153 ff. 26 Für das Folgende: Ebd., S. 175–195.

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entgegengesetzte Richtung durch Wahlrechtseinschränkung und Stärkung der Position der Regierung und des Militärs als Ordnungsfaktor an. Dieses System hielt dann bis 1868. Die zerstörerische Kraft einer dauerhaften Regierungsweise gegen das Prinzip des „doppelten Vertrauens“ unterstreicht das dänische Beispiel, wo Ministerpräsident Jacob Estrup einen nahezu zwanzigjährigen Konfrontationskurs gegen das Parlament führte, indem er stetig von der „Lückentheorie“ Gebrauch machte und auf dem Verordnungsweg so genannte „provisorische Haushalte“ – in Verbindung mit Einschränkungen der Pressefreiheit und anderen Restriktionen – durchsetzte. Das konstitutionell-monarchische System verlor damit immer weiter an Glaubwürdigkeit und musste wohl auch deswegen sang- und klanglos ab 1901 dem Parlamentarismus weichen. Estrups Charakterisierung als „dänischer Bismarck“ trifft mithin allenfalls auf den Vergleich mit dem preußischen Ministerpräsidenten der Konfliktzeit, nicht jedoch auf den deutschen Reichskanzler Bismarck zu.

5. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Kaiserreich-Forschung Neue Impulse hat die Kaiserreich-Forschung vor allem durch Studien erhalten, die mit einem kulturgeschichtlich erweiterten Verständnis von Politik im Sinne des Programms einer „Kulturgeschichte des Politischen“ operieren. Die hierzu bislang vorliegenden Untersuchungsbefunde vermitteln tendenziell den Eindruck eines jedenfalls in der Bismarckära integrierten und stabilen Verfassungs­zustands. Hierauf verweist zum Beispiel der von Josef Matzerath geführte Vergleich der Monumentalgemälde Anton von Werners zur Reichsgründung 1871 bzw. zur kaiserlichen Reichstagseröffnung von 1888.27 Während im ersten Fall allein die Fürsten des Reichs und das Militär als Adressaten und als Beglaubigungsinstanz des Proklamationsakts erscheinen, sind es im Jahr 1888 vornehmlich die Reichstagsabgeordneten, die diese Rolle übernehmen. Zwar relativiert sich der Vergleich dadurch, dass neben der Versailler Inszenierung vom Januar 1871 wenig später auch eine feierliche Eröffnung des ersten Reichstags im Stadtschloss in Anwesenheit Wilhelms I. und Bismarcks stattgefunden hat; doch ist es wiederum bezeichnend, 27 Vgl. Josef Matzerath, Parlamentseröffnungen im Reich und in den Bundesstaaten, in: Andreas Biefang u.a. (Hg.), Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, Düsseldorf 2009, S. 207–232. – Nachweis der Abbildung S. 252: http://www.zeno.org/nid/20004365097.

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Eröffnung des Deutschen Reichstags 1888 (Maler: Anton von Werner)

dass keine Anstrengungen unternommen wurden, dieses Ereignis im kulturellen Gedächtnis zu verankern. Dies genau war wiederum das Hauptziel des Reichstagseröffnungsbilds von 1888, auf dessen endgültige Gestaltung der Kaiser intensiv Einfluss nahm. Für die Mehrheit der Abgeordneten stellte es im Übrigen eine Auszeichnung dar, auf dem Bild persönlich erkennbar zu sein, so dass man annehmen kann: Es wurde die politische Aussage des Bildes, die Loyalität des Reichstags gegenüber einem vornehmlich durch den Kaiser repräsentierten Staat, weithin geteilt.28 Geht man davon aus, dass beide Bilder der Darstellung der Staatsform aus monarchischer Perspektive dienten, ist für 1888 nicht nur eine signifikante Aufwertung des Reichstags zu konstatieren, sondern auch der Durchbruch eines konstitutionellen Staatsverständnisses, dem sich selbst das Herrscherhaus bei aller monarchischen Hypertrophie nicht zu entziehen vermochte. Dies gilt mit noch größerer Selbstverständlichkeit für den altpreußischen Konservatismus, der im Rahmen der „zweiten Reichsgründung“ seinen Frieden mit Bismarck gemacht und sich, wie das Gemälde zur Reichstags28 Vgl. Matzerath, S. 217. Zur Proklamationsdarstellung und ihrer Popularisierung vgl. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im ‚System Bismarck‘ 1871–1890, Düsseldorf 2012, S. 10 ff.

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eröffnung zeigt, mittlerweile auch mit dem Reichstag und der ihn tragenden Verfassungsstruktur arrangiert hatte.29 Eine eindrucksvolle Bestätigung des obigen Bildvergleichs liefert Andreas Biefangs Studie über „Reichstag und Öffentlichkeit im ‚System Bismarck‘ 1871–1890“. Auf breiter empirischer Grundlage kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass „es dem Reichstag gelang, öffentliche Geltung zu erlangen und zum Symbol der politischen Nation zu werden“. Nicht zuletzt auf Grund seiner gewachsenen „symbolischen Macht“ habe der Reichstag die Exekutive gezwungen, „die Auffassungen der jeweiligen Parlamentsmehrheit als Ausdruck des Willens der Bevölkerung zu begreifen und als politischen Faktor in ihr Kalkül einzubeziehen“. Biefang sieht darin – völlig zu Recht – keinen Beleg für Parlamentarisierung, wohl aber für die Stärkung des konstitutionellen Charakters des Kaiserreichs: „Für die Fähigkeit des Reichstags, symbolische Macht zu erwerben und zu bewahren, war das konstitutionelle System vermutlich kein Hindernis.“30 In ähnlichem Sinne sind Biefangs kulturgeschichtliche Untersuchungen zu den „Reichstagswahlen als demokratisches Zeremoniell“ zu interpretieren.31 Wenig spricht dafür, die rechtliche und prozessuale Kultivierung des Wählens sowie die stetige Zunahme der Wähler bis auf weit über 80 % als Niedergangsphänomen des monarchischen Konstitutionalismus zu begreifen. Im Gegenteil handelt es sich hier zuallererst um eine Stärkung des parlamentarischen Elements im Rahmen der konstitutionellen Monarchie, nicht um das Vorzeichen ihrer Überwindung. Unter anderem hier knüpft Armin Owzars Studie über „Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen Obrigkeitsstaats“ an, die auf Überwachungsberichten, Anstands- und Benimmbüchern sowie Selbstzeugnissen der Hamburger Bürger- und Arbeiterschaft aufbaut.32 Der auch in Hamburg immer weiter ansteigenden Wahlbeteiligung entsprechend, findet sich beispielsweise auf der Ebene des Kommunikationsraums „Kneipe“ ein „relativ hoher Grad an Politisierung“. Dieser sei „kaum niedriger zu veranschlagen als im britischen ‚Worktown‘ der 1930er Jahre oder einer westdeutschen Stadt der 29 Dies bestätigt Frank Becker, Verfassungskultur und politische Identität im deutschen Kaiserreich 1871–1918, in: Werner Daum u.a. (Hg.), Kommunikation und Konfliktaustragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Berlin 2010, S. 159–179, hier S. 173 f. 30 Vgl. Biefang, Die andere Seite der Macht, S. 313 f. 31 Vgl. ders., Die Reichstagswahlen als demokratisches Zeremoniell, in: Ders. u.a. (Hg.), Das politische Zeremoniell, S. 233–270. 32 Armin Owzar, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen Obrigkeitsstaats, Konstanz 2006.

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1980er Jahre“. Einer Deutung der wilhelminischen Gesellschaft „als eine vom Befehlen und Gehorchen imprägnierte Untertanengesellschaft“ könne deshalb nicht gefolgt werden.33 Allerdings bestätigt Owzars Studie auch die seit langem bekannte starke Fragmentierung der Kaiserreich-Gesellschaft in relativ abgeschlossene „sozialmoralische Milieus“. Während innerhalb der Milieus politisch kommuniziert wurde, wurde der politische Dialog mit anderen Gesellschaftsgruppen verweigert bzw. wurde „taktisch geschwiegen“.34 Die Gründe hierfür waren vielfältig und sind nicht nur auf obrigkeitliche Repression zurückzuführen, bilden aber zweifellos einen starken Hinweis darauf, dass das wilhelminische Deutschland durch starke Fragmentierung im gesellschaftlichen und politisch-kulturellen Bereich gekennzeichnet war. Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung dieses Phänomens ist schwer zu erfassen, doch ist es nicht zwangsläufig als gegen die bestehende Staatsform gerichtet zu interpretieren. Dieser Vorbehalt gilt jedenfalls sicher für das protestantischnationale, das konservativ-preußische und das katholische Milieu, die nach anfänglichen Vorbehalten sukzessive in das Reich hineingewachsen waren, gewiss weniger für das sozialdemokratische. Dessen plakative Zusammenfassung unter dem Begriff der „negativen Integration“ lässt andererseits vielleicht aber doch zu wenig Raum, um beispielsweise die positiven Auswirkungen der sich im Laufe der Zeit zu einer echten Daseinsvorsorge verbessernden Sozialversicherung angemessen zu erfassen.35

6. Abschließende Überlegungen Die historische Kaiserreich-Forschung steht vor der Aufgabe, die vorhandenen kulturwissenschaftlichen Untersuchungsansätze weiter zu führen. Es ist zu erwarten, dass auf diesem Weg vertiefte Einsichten zu den Möglichkeiten und Grenzen der Integrationsfähigkeit und realen Funktionalität des monarchisch-konstitutionellen Systems gewonnen werden können. Dass sich die Zeitgenossen einer politischen Moderni­sierung des Landes nach westeuropäisch-atlantischem Vorbild mehrheitlich verweigerten und bis zum Untergang auf verfassungspolitische Eigenständigkeit beharrten, bleibt indes ein Tatbestand, dem sich die Kaiserreich-Historiographie nicht entziehen kann. Schon allein deshalb erscheint es mir nicht angebracht, die „System33 Vgl. ebd., S. 410 f. 34 Vgl. ebd., S. 416 ff. 35 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849–1914, München 1995, S. 914 f.

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frage“ einerseits für irrelevant und unergiebig zu erklären und andererseits auf geschichtsdeterministische Charakterisie­rungen wie die des „Systems umgangener Entscheidungen“ zurückzugreifen, die unverkennbar dem unhistorischen Verfassungsdezisionismus Carl Schmitts entnommen sind und den realen Verfassungsverhältnissen nicht gerecht werden können.36

36 So z.B. das Resümee von Winfrid Halder, Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914, 3. Aufl. Darmstadt 2011, S. 148.

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Star-Monarch oder Muster-Monarchie? Zum politischen Herrschaftssystem des Großherzogtums Baden im langen 19. Jahrhundert

Bei Studien zur Biographie über den Prinzen Max von Baden (1867–1929) – des deutschen Kaisers letzten Kanzler – hatte ich mich mit ihm auch als Prätendenten auf den großherzoglich-badischen Thron in Karlsruhe auseinanderzusetzen.1 Dabei ergaben sich Erkenntnisse zum Charakter der Monarchie in Baden, die noch einer analytischen Zusammenschau harren. Sie ist lohnend, weil die Frage nach der Modernisierungsfähigkeit des monarchischen Konstitutionalismus in Deutschland immer wieder unter besonderer Berücksichtigung des Staatswesens in jenem Großherzogtum diskutiert wird. Dessen vermeintlich bürgerlich-liberale Konfiguration gilt als das Indiz für die Zukunftstauglichkeit des deutschen Monarchie-Modells schlechthin.2 Doch hält diese Zuschreibung überhaupt einer Überprüfung seiner historischen Echtzeit stand? Mir geht es bei den nachfolgenden Betrachtungen vor allem darum, den archimedischen Punkt des großherzoglich-badischen Herrschaftssystems zu fokussieren, die Dynastie. Ich will den politikgeschichtlichen Blick damit zugleich um eine Dimension erweitern, die für ein tieferes Verständnis ihrer Wesensart und für ihre Verortung in der Gemengelage der politischen Kultur des Deutschen Reichs unverzichtbar ist: die familieninterne Agenda, die Sphären des Informellen, das Innenleben des regierenden Herrscherhauses. Wir sehen hier nämlich Bestimmungsfaktoren am Werk, die geschichtsmächtiger wurden, als es die Betrachtung von außen erkennen lässt: genealogische Verwurzelungen, anthropologische Konstanten, kontingente Beschaffenheiten. Wissenschaftlich erschließen lässt sich dieser Zusammenhang nur, wenn das Making dieser Herrscherdynastie und ihr Image, aber auch das politische Selbstverständnis ihres wichtigsten Dynasten im 19. Jahrhundert abgehandelt 1 Vgl. Lothar Machtan, Prinz Max von Baden. Der letzte Kanzler des Kaisers. Eine Biographie, Berlin 2013. 2 In der jüngsten Literatur wird diese besonders nachdrücklich betont bei Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2013. Kroll spricht ebd. S. 112 sogar von einer „demokratischen Alternative“ in Baden im Vergleich zu Preußen.

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werden; und nicht zum wenigsten die politisch-moralischen Hypotheken, die in das Grundbuch des Hauses Zähringen eingetragen waren. Die Monarchie war im 19. Jahrhundert die in Europa vorherrschende Staatsform. In Deutschland hatte sie darüber hinaus eine eigene Kultur ausgeprägt, die ein Prinzip zusammenhielt, das besagte, dass die souveräne Macht der Fürsten eine gottgewollte politische Ordnung sei, an die Menschenhand nicht rühren dürfe. Die Rückführung der monarchischen Machtausübung auf Gottes Gnade und die Betonung ihrer Unantastbarkeit selbst durch Staatsorgane sowie das fürstliche Eigenrecht der Herrscherfamilie waren die politisch-ideologischen Tragpfeiler des Systems.3 Dieser Anspruch auf eine grundsätzliche und fortdauernde Verfügungsberechtigung des fürstlichen Souveräns über Staat und Recht war seit dem Wiener Kongress von 1815 reales Staatsrecht – und blieb es in Deutschland bis 1918. Unter den Dächern der Fürstenhäuser formierten sich die Schicksalsgemeinschaften der Dynastien. Deren Oberhaupt regierte die Angehörigen seiner Familie nebst zugehörigen Hofstaaten, während er zugleich über das politische Schicksal seines Volkes in der durch ihn verkörperten Monarchie gebot. Daraus erwuchs ihm die doppelte Verpflichtung, seinen Staat auf der Höhe der Zeit zu führen und die Herrschaftsfähigkeit seiner Dynastie außer Zweifel zu halten. Meine Frage lautet demnach nicht, inwieweit die konstitutionelle Monarchie in Baden eine – auch im überzeitlichen Sinne – stabile und zeitgemäße Staatsform darstellt; hier soll vielmehr untersucht werden, wie entwicklungsfähig und zukunftsoffen sie als politische Herrschaftsform über den besonderen historischen Kontext ihrer konkreten Entstehungsbedingungen hinaus erscheint. Es geht mir also weniger um eine typologische Betrachtung des „monarchischen Konstitutionalismus“ in dem Großherzogtum als darum, die politischen Perspektiven dieses Regimes auszuloten, indem ich seine Genese verfolge.4 Da die deutschen Monarchien primär personale und nicht bürokratische Herrschaft beinhalteten, geht es im Folgenden auch vor allem um das 3 Vgl. grundsätzlich hierzu Lothar Machtan, Deutschlands gekrönter Herrscherstand am Vorabend des Ersten Weltkriegs – Ein Inspektionsbericht zur Funktionstüchtigkeit des deutschen Monarchie-Modells, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), S. 222–242; außerdem Dorothee Gottwald, Fürstenrecht und Staatsrecht im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2009, sowie Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert, Heidelberg 2013. Eher unergiebig Volker Sellin, Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011. 4 Dies in Abgrenzung gegenüber dem fachwissenschaftlichen Diskurs über das Buch von Arthur Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus. Eine Neuinterpretation der deutschen und österreichischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bonn 2009.

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monarchische Personal – genauer: um das politische Potential und um die Autorität dieser von der Verfassung geheiligten Staatenlenker.

1. Am Anfang war Napoleon – und Kaspar Hauser Das Großherzogtum Baden war kein allmählich gewachsener Staat; es war ein Konglomerat, zusammengefügt aus den unterschiedlichsten Territorien des zerfallenden Heiligen Römischen Reiches. Einigendes Band konnten hier weder landsmannschaftliche Gemeinschaft noch gleiche Stammeszugehörigkeit sein, so dass die Herrscherdynastie in die Bresche treten musste. Von deren Schicksal getrennt lässt sich die Geschichte des Landes nicht betrachten, allerdings auch nicht im Sinn einer Einbahnstraße. Allzu gern vergaßen die deutschen Bundesstaaten des 19. Jahrhunderts, dass die meisten von ihnen unmittelbar oder mittelbar (durch den Wiener Kongress) von Napoleons Gnaden entstanden waren.5 Das galt auch für das – seit 1806 – Großherzogtum Baden.6 Der Gebietszuwachs, den das Haus Baden durch die Gunst Napoleons errang, besaß nicht einmal den Schein von Legitimität. Es verfügte nun aber über ein geschlossenes Herrschaftsterrain, das vom Main bis an den Bodensee reichte. Dessen Bewohner hatten bisher unter höchst unterschiedlichen Gewalten gelebt, durch nichts waren sie miteinander verbunden, nicht einmal durch einen gemeinsamen Dialekt. Zwei Drittel der Einwohner des neuen Staates waren Katholiken, die herrschende Dynastie und die hohe Bürokratie jedoch protestantisch. Napoleon wollte das badische Haus auch verwandtschaftlich fest an sich binden. So überredete er 1806 den ersten Großherzog Karl Friedrich, den badischen Thronerben Karl mit Stéphanie de Beauharnais7, einer Nichte seiner Frau Josephine, zu verheiraten. Sein Großvater Karl Friedrich hatte aus seiner ersten Ehe drei Söhne; sein Ältester, Karl Ludwig, zeugte nur einen Sohn (Karl) – ein für die Dynastie bedenklicher Zustand, den er dadurch zu kompensieren suchte, dass die drei Töchter gut 5 „Am Anfang war Napoleon“: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1806–1866, München 1983, S. 11. 6 Zum folgenden Volker Rödel, Badens Aufstieg zum Großherzogtum, in: Ders. (Hg.), 1806 – Baden wird Großherzogtum, Karlsruhe 2006, S. 34 ff.; Marion Wierichs, Die Entstehung der Großherzogswürde in Baden, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), S. 181–200; Annette Borchardt-Wenzel, Karl Friedrich von Baden. Mensch und Legende, Gernsbach 2006; Uwe A. Oster, Die Großherzöge von Baden 1806–1918, Regensburg 2007, S. 9–63. 7 Vgl. Rudolf Haas, Stephanie Napoleon, 2. Aufl. Mannheim 1978.

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verheiratet wurden. Das große Los zog die Drittgeborene, die Zarin von Russland wurde.8 Die beiden anderen Söhne Karl Friedrichs hatten keine ebenbürtigen Nachkommen. Somit war der Enkel Karl, so schien es jedenfalls zunächst, der einzige Stammhalter des Hauses. Indessen hatte der Großherzog sich nach dem Tod seiner Gemahlin wieder vermählt, indem er eine ihm unebenbürtige Hofdame9 heiratete. Sie erhielt den Titel einer Freifrau, später einer Gräfin von Hochberg, und diesen Titel führten auch ihre vier Kinder aus der Ehe mit Karl Friedrich, darunter drei Söhne. Bei der prekären Lage hinsichtlich der männlichen Deszendenz wurde die Versuchung immer größer, die Hochberg-Linie als dynastischen Reservepool für die Gesamtdynastie zu nutzen. Doch ließ sich dies nicht so einfach bewerkstelligen. Eine Eventualsukzession der Hochberger per Hausgesetz festzulegen, wie dies Karl Friedrich tat, war relativ einfach, die internationale Bestätigung hierfür zu erhalten, freilich eine ganz andere Sache. So befand sich das Haus Baden jahrelang in einer schwierigen Lage. Erst 1812 kam der (schon erwähnte) lang ersehnte Sohn des Thronerben Karl zur Welt. Dieser starb jedoch schon im Alter von drei Wochen. Der zweite Sohn starb ebenfalls früh. Als dann auch Großherzog Karl im Dezember 1818 das Zeitliche segnete, gab es keinen männlichen Nachkommen in der badischen Hauptlinie mehr außer seinem Onkel Ludwig. Noch in die Regierungszeit Ludwigs fiel das Auftauchen Kaspar Hausers und damit der Be­ginn der folgenschwersten Affäre für das Haus Baden.10 Gerüchte besagten schon bald, der verwahrloste Junge sei in Wahrheit der erstgeborene Sohn des Großherzogspaares Karl und Stephanie, der durch ein totes Kind ersetzt worden sei. Dies sei auf Veranlassung der Gräfin von Hochberg geschehen, die damit die Erbfolge ihrer Kinder habe durchsetzen wollen. Diese Anschuldigungen drangen allerdings erst nach und nach in die Öffentlichkeit, und zwar erst nachdem die Frage der Sukzessionsberechtigung der Hochberg-Linie zum Abschluss gekommen war. Schon 1817 hatte noch Großherzog Karl ein Hausgesetz erlassen, mit welchem die Hochberger als 8 Vgl. Annette Borchardt-Wenzel, Die Frauen am badischen Hof, 4. Aufl. München 2008, S. 71 ff.; Hans Leopold Zollner, Greif und Zarenadler. Aus zwei Jahrhunderten badisch-russischer Beziehungen, Karlsruhe 1981, S. 13 ff. 9 Zu ihrer Person jetzt Martin Furtwängler, Luise Caroline Reichsgräfin von Hochberg, in: Gerhard Taddey/Rainer Brüning (Hg.), Lebensbilder aus Baden-Württemberg, Bd. 22, Stuttgart 2007, S. 108–133. 10 Die Literatur über Hauser ist unübersehbar. Zuletzt Anna Schiener, Der Fall Kaspar Hauser, Regensburg 2010. In Bezug auf die psychologischen Auswirkungen auf das Haus Baden besonders aufschlussreich: Walther Peter Fuchs, Das Kaspar-Hauser-Problem, in: Ders., Studien zu Großherzog Friedrich I. von Baden, Stuttgart 1995, S. 9–35.

Star-Monarch oder Muster-Monarchie?

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großherzogliche Prinzen und Markgrafen von Baden und somit endgültig als erbberechtigt anerkannt wurden.11 Auf dem Aachener Kongress 1818 wurde es auch von den europäischen Mächten mitsamt der territorialen Integrität Badens völkerrechtlich anerkannt. Treibende Kraft dabei war der russische Kaiser, im Hintergrund jedoch vor allem die Zarin aus dem Hause Zähringen, die sich um die Zukunft ihrer Dynastie sorgte. Damit hatten die Kinder der unebenbürtigen Hofdame eine außerordentliche Standeserhöhung erfahren, namentlich der älteste Sohn Leopold. Dieser avancierte vom schlichten Baron zum – seit 1830 – regierenden Großherzog.

2. Verfassung und politische Wirklichkeiten12 Schon 1818, früher als die meisten anderen Bundesstaaten und ebenfalls noch zu Lebzeiten von Großherzog Karl, löste Baden das eher vage Versprechen aus der Wiener Bundesakte ein, dem Land eine Verfassung zu geben.13 Ihre Väter sahen darin vor allem eine dringend benötigte zusätzliche Integrationsklammer für das unfertige Staatsgebilde. Der andere Aspekt war die desolate Lage der Staatsfinanzen. Napoleons Kriege hatten Baden nicht nur einen hohen Blutzoll auferlegt, sondern auch finanziell ruiniert. In dieser Lage musste es geraten erscheinen, Vertreter des Volkes an den Anstrengungen zur Finanzsanierung zu beteiligen. Schließlich galt es, die Integrität des badischen Staatsgebietes gegen die Ansprüche anderer Staaten (insbesondere Bayerns) auch verfassungsrechtlich abzusichern.14 Die Verfassung enthielt 11 § 4 der Badischen Verfassung bestimmte den Inhalt des Hausgesetzes zum „wesentlichen Bestandtheil der Verfassung“. 12 Grundlegend zu diesem Komplex ist die materialreiche und detaillierte Studie von Hans-Peter Becht, Badischer Parlamentarismus 1819 bis 1870. Ein deutsches Parlament zwischen Reform und Revolution, Düsseldorf 2009. Allerdings ist die Perspektive des Autors auf die Kammer und ihre Abgeordneten gerichtet, so dass das hier primär interessierende Verhältnis des Monarchen zu den Stände-Vertretungen weitgehend aus dem Blick gerät. – Zum gesamtdeutschen Kontext vgl. auch Hartwig Brandt, Die deutschen Staaten der ersten Konstitutionalisierungswelle, und Ewald Grothe, Die deutschen Staaten der zweiten Konstitutionalisierungswelle, in: Werner Daum (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Bonn 2012, S. 823–926. 13 Vgl. zum Folgenden Hans Fenske, Die badische Verfassung vom 22. August 1818. Entstehung und Bedeutung, in: Paul-Ludwig Weinacht (Hg.), Baden – 200 Jahre Großherzogtum: vom Fürstenstaat zur Demokratie, Freiburg 2008, S. 79 ff. 14 Hierzu die interessante Studie von Reinhard Heydenreuter, König Ludwig I. und der Fall Kaspar Hauser, in: Konrad Ackermann/Alois Schmid (Hg.), Staat und Verwaltung in Bayern, München 2003, S. 465–476, hier S. 468.

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einen Katalog der Staatsbürgerrechte und das aktive indirekte Wahlrecht für etwa 2/3 der erwachsenen männlichen Einwohner für die Zweite Kammer. Die in der Gesetzgebung ihr gleichberechtigte Erste Kammer wurde dagegen nicht gewählt, in ihr saßen die Prinzen des großherzoglichen Hauses, die Mediatisierten, Mitglieder des grundherrlichen Adels, Vertreter der Kirchen, der Universitäten sowie vom Großherzog ernannte Personen. Die Regelung der badischen Thronfolge fand dagegen keine Aufnahme in die Verfassung, sondern wurde ganz dem fürstlichen Eigenrecht überlassen. Damit war die Dynastie in einer Frage von hohem staatspolitischem Rang vor jeder Einflussnahme durch das Parlament sicher. Auch in anderen Bereichen blieb die autoritäre Entscheidungsgewalt des Monarchen nach wie vor unangetastet, vor allem bei der Ernennung der Minister und sonstigen höchsten Staatsbeamten. Der übergesetzliche Status des Herrscherhauses und somit das monarchische Prinzip blieben ungefährdet. Mit parlamentarischer oder gar demokratischer Monarchie hatte diese Verfassung nichts zu tun. Großherzog Leopold war zur Macht freilich weder geboren noch erzogen worden. Ein in seiner Familiengeschichte wurzelndes existenzielles Unsicherheitsgefühl hat ihn offenbar zeitlebens nicht verlassen. Im Jahre 1819, also bereits anerkannt als Prinz, hatte er Prinzessin Sophie Wilhelmine von Schweden geheiratet, die Tochter König Gustav IV. Adolfs und der badischen Prinzessin Friederike, Enkelin von Karl Friedrich aus erster Ehe. Zwar war diese Heirat dynastiepolitisch keine Sternstunde – schließlich war Gustav IV. Adolf 1809 abgesetzt worden –, immerhin verband sie jedoch die Hochberger mit einem königlichen Haus. Unter der trügerischen politischen Ruhe des Vormärz wuchsen derweil existentielle Gefahren für Leopold und die Hochberger. Um sie zu verstehen, müssen wir ins Jahr 1833 zurückkehren, nämlich zum rätselhaften Tod des rätselhaften Kaspar Hauser. Bis heute ist zwar nicht erwiesen, dass der Findling im Dezember 1833 tatsächlich ermordet wurde. Nach einem am badischen Hof bald feststehenden Gerücht war es jedoch niemand Anderes als Großherzogin Sophie selbst gewesen, die Hausers Ermordung veranlasst hatte. Was auch immer die Realität hinter diesem Gerücht gewesen sein mag: Die Affäre bot von nun an immer wieder Material zu publizistischen Angriffen auf die Hochberger. Die Verschwörungstheorie um Kaspar Hauser beschäftigte die Öffentlichkeit in ganz Deutschland und stellte die Legitimität des herrschenden Hauses in Baden so massiv in Frage, dass sie auch dessen Bewohner erheblich verunsicherte. Ihre Reputation war Ende der 1840er-Jahre an einem Nullpunkt angekommen. Im Herbst 1847 begannen sich in Baden die Unterschiede zwischen liberalen und radikal-demokratischen Politikzielen stärker zu akzentuieren. Die

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Revolution, die am 21. Februar 1848 in Paris ausgebrochen war und innerhalb von drei Tagen zum Sturz der französischen Julimonarchie führte, griff auf Baden so schnell über, dass man von einem erwarteten Signal sprechen kann. Bereits wenige Tage später fand in Mannheim eine Volksversammlung statt – ein Vorbild wiederum für gleichartige Zusammenkünfte in anderen deutschen Ländern. Die dabei aufgestellten Forderungen umfassten Volksbewaffnung, unbedingte Pressefreiheit, Schwurgerichte und ein deutsches Parlament mit weitgehenden Vollmachten. Vier Tage später versammelte sich vor dem Ständehaus in Karlsruhe eine Demonstration von einigen tausend Menschen zur Übergabe der Petition mit den Forderungen; dabei drangen die Demonstranten in den Landtag ein. Die großherzogliche Regierung hatte schon im Vorfeld Konzessionen angekündigt, doch ging der badische Revolutionsführer Friedrich Hecker15 noch weiter: Er forderte nun auch die Vereidigung des Militärs auf die Verfassung, das Verfassungsrecht der Ministeranklage und die Beseitigung der Reste des Feudalismus. Dem wollten die Regierung und der wieder einmal notorisch unsichere und leicht einzuschüchternde Großherzog entsprechen – doch aus der Leichtigkeit, mit der sie ihre Forderungen durchzusetzen vermochten, zogen die radikalen Demokraten den Schluss, dass da politisch noch sehr viel mehr möglich sei. Der sog. Heckerzug16 scheiterte dann zwar kläglich, markierte aber die endgültige Trennung der radikalen Demokraten von den Liberalen. Hatte schon die Wahl zur Nationalversammlung gezeigt, dass die Liberalen bei demokratischen Wahlen in Baden keine Mehrheit mehr besaßen, so erschienen im Lichte der Paulskirchenverfassung viele Errungenschaften des badischen Liberalismus als kleinmütig, ja obsolet. Die Verabschiedung des Grundrechtskatalogs gab den Demokraten Rückenwind für ihre Forderung einer verfassunggebenden Versammlung auch in Baden. Die in die Defensive gedrängten Liberalen wurden dann endgültig durch die Ereignisse überrollt. Nachdem König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen am 3. April 1849 die Kaiserkrone abgelehnt hatte und die preußische Nationalversammlung aufgelöst worden war, agitierten die Demokraten für die Anerkennung der Reichsverfassung durch alle Bundesstaaten. Diese Kampagne erfasste auch Baden, obwohl es die Verfassung bereits anerkannt hatte. Am 11. Mai meuterten die badischen Soldaten der Bundesfestung Rastatt. Unter diesem Eindruck agitierten die Demokraten an den beiden folgenden Tagen für die Durchsetzung der Paulskirchenverfassung gegenüber renitenten Bundesfürsten durch Einsatz u.a. der 15 Vgl. Sabine Freitag, Friedrich Hecker. Biografie eines Republikaners, Stuttgart 1998. 16 Vgl. zusammenfassend Frank Engehausen, Kleine Geschichte des Großherzogtums Baden 1806–1918, Leinfelden-Echterdingen 2006, S. 91 ff.

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badischen Armee. Die Soldatenaufstände breiteten sich zeitgleich in ganz Baden aus, die Hauptstadt nicht ausgenommen.17 Es kam zu heftigen Kämpfen um das Zeughaus in unmittelbarer Nähe des Schlosses. Leopold entschied sich zu fliehen. Nicht nur die Flucht selbst, sondern auch die Begleitumstände waren blamabel. Unter Begleitschutz einer Handvoll Dragoner und einer berittenen Batterie floh die großherzogliche Familie. Der Großherzog und seine Söhne mussten dabei rittlings auf einem sog. Protzkasten sitzen, d.h. auf einem Munitionswagen der Artillerie – schwer vereinbar mit der majestätischen Würde eines Herrschers von Gottes Gnaden. Leopold begab sich unter Umgehung der ebenfalls aufständischen Pfalz in die preußische Rheinprovinz nach Koblenz. Die Wahl von Koblenz war keineswegs zufällig. In Koblenz befand sich das Hauptquartier eines preußischen Armeekorps, das vom Bruder des preußischen Königs, Prinz Wilhelm, kommandiert wurde. Von dort aus bat Leopold den König von Preußen, mit der preußischen Armee in Baden einzumarschieren und das Land mit Waffengewalt zurück zu erobern. Am 3. Juni 1849 gab der preußische König seinem Bruder den Marschbefehl. Seine Truppen vernichteten bis Ende Juni die badische Revolutionsarmee. Mit Hilfe von Standgerichten wurde das monarchische Prinzip wiederhergestellt. Die Revolution endete in Baden mit Massenerschießungen. Bis November 1850 blieben preußische Truppen als Besatzer in Baden. Durch ihr rigides Auftreten machten sie sich wenig Freunde. Auch der Kriegszustand dauerte bis zum 1. November 1852. So herrschte in Baden mehr als drei Jahre lang reaktionärster Ausnahmezustand. Die Kammern des Landtags, die ab Frühjahr 1850 wieder tagen durften, gerieten fast vollständig unter die Kontrolle der nun hochkonservativen Staatsregierung. Nicht nur die Paulskirchenverfassung, auch die in Jahrzehnten von den Liberalen erkämpften Zugeständnisse des monarchischen Obrigkeitsstaates wurden einkassiert. Im Gegensatz zu den Demokraten erreichten die Liberalen aber immerhin, wenigstens als politische Gruppierung weiterhin geduldet zu sein.

3. Erst Flickschusterei, dann Neuerfindung der badischen Monarchie Großherzog Leopold starb bereits am 24. April 1852. Seine Regierungsgeschäfte hatte schon in den letzten Lebensmonaten sein zweitältester Sohn Friedrich kommissarisch führen müssen, denn der eigentliche Thronerbe 17 Vgl. Wolfgang von Hippel, Revolution im deutschen Südwesten, Stuttgart 1998, S. 317.

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Ludwig war seit einigen Jahren schwer erkrankt. Das Fazit von Leopolds glücklosem Erdenwallen war jedenfalls ein Menetekel des monarchischen Systems des 19. Jahrhunderts. Leopold hatte in der Stunde der Not sein Heil darin gesucht, sich einem Stärkeren in die Arme zu werfen und von ihm retten zu lassen. Doch der Preis dafür war inflationär gestiegen: Wer würde den Retter retten, wenn die nächste Runde des Machtkampfes erreicht sein würde? Die Fortführung der Herrschaft der Hochberger bedurfte jedenfalls einer ganz neuen Legitimation. Zeitgleich musste darüber hinaus das heikle Problem der Thronfolge in Angriff genommen werden. Friedrich übernahm nun zwar die Regentschaft. Sein Griff nach der Krone unterblieb freilich – vorerst. Nicht die vielleicht mangelnde Akzeptanz eines solchen Schrittes im eigenen Volk bereitete ihm dabei Kopfzerbrechen, sondern dessen ganz unsichere Bestätigung durch die anderen Herrscherhäuser. Nach dem Desaster der schmählichen Flucht und der nur durch nackte militärische Gewalt erzwungenen Wiedereinsetzung durch die preußische Armee war das ohnehin nie besonders hohe Ansehen der Hochberger im europäischen Dynastiekartell verbraucht. Nur die feste Absicherung einer neuen Sukzessionsordnung nach außen, gegenüber den fürstlichen Kollegen mithin, hätte aber die Unverbrüchlichkeit einer Eskamotierung des legitimen Thronerben garantiert. Friedrichs Herrscherkarriere musste vorerst offen bleiben – es sei denn, das Drehbuch dafür wurde umgeschrieben. So, wie die Dinge damals lagen, war das aber nur möglich durch die Aufnahme neuer Ideen. Dies erschien für einen angehenden Monarchen nach zwei Richtungen hin ganz besonders erfolgversprechend: erstens vermehrte dynastiepolitische Anstrengungen mit dem Ziel einer einflussreicheren verwandtschaftlichen Vernetzung in der erbfürstlichen Herrscherwelt; und zweitens Aufstellung und Umsetzung von regierungsprogrammatischen Richtlinien, mittels derer sich endlich wieder Meriten für die badische Monarchie erringen ließen. Die Idee war nun, den badischen Liberalen die Akzeptanz einer unantastbaren Prärogative des Großherzogs schmackhaft zu machen, indem ihnen die konsequente Unterstützung einer monarchischen Initiative zur Gewinnung der nationalen Einheit Deutschlands zugewiesen wurde – oder besser: der Vereinigung Klein-Deutschlands unter preußischer Führung. Die Übernahme einer solchen aktiven Führungsrolle der Monarchen bei der Lösung der nationalen Kernfrage damaliger Politik sollte die Herrschaft der Krone dauerhaft sichern, damit ebenso allen liberalen Parlamentarisierungsbestrebungen die Spitze abbrechen und ein Wiederaufleben des demokratischen Potentials im Keim ersticken. So entstand bis Mitte der 1850er Jahre das politische Programm, das den jungen Regenten befähigen sollte, aus den – nach eigenen Worten –

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„Trümmern des zerrütteten Staates“18 etwas Neues zu erschaffen. Was noch fehlte, war der politische Wille zur Tat. Am 5. September 1856 hing überall in Baden eine Proklamation aus. Sie stammte vom bisherigen Prinzregenten Friedrich. Doch diesmal begann der Text in großen Lettern mit der Titulatur „Wir Friedrich, von Gottes Gnaden Großherzog von Baden, Herzog von Zähringen”. Was er kund tun wollte, war dieses: Am 24. April 1852 hätten „Wir, durch Gottes Gnade und das Recht Unseres Hauses dazu berufen“ zwar die Regierung des Großherzogtums angetreten, „jedoch, von brüderlichen Gefühlen geleitet, die Großherzogliche Würde anzunehmen, damals unterlassen“. Dieser Würde bedürfe es aber „zur Wahrung Aller Interessen Unseres geliebten Landes, sowie zur vollen Ausübung Unserer Rechte und Pflichten“. Deshalb könne er dieses „Uns hausgesetzlich zustehende Recht“ nunmehr nicht länger „ruhen lassen“. Schließlich ginge es um „die Zukunft Unserer eigenen Familie und Unseres Landes“. In Übereinstimmung mit seinen Agnaten sei er daher entschlossen, „durch die Annahme der Großherzoglichen Würde alle mit ihrem früheren Ausspruche hausgesetzlich verbundenen Folgen zur Anwendung zu bringen“. Umso mehr, als es sich hier ja um die schon 1852 „mit dem Thronfalle Uns überkommene Großherzogliche Würde nebst allen ihren Rechten und Vorzügen“ handele.19 Der machtpolitische Zweck der Aktion war unverkennbar: Der bisherige Regent sollte endlich von Rechtswegen in die Lage versetzt werden, seine eigene Politik zu machen – nach außen wie nach innen. Friedrich wollte jetzt nach eigener Schule reiten, die Geschicke von Staat und Dynastie aus unantastbarer fürstlicher Eigenmacht heraus lenken. So, wie die 1818 erlassene Verfassung Badens konstruiert war, konnte er das eben nur aus der Position eines vollgültigen Monarchen heraus, denn nur dieser besaß die Macht und das Recht, selbst zu regieren. Großherzog von Baden und Chef der Dynastie war aber bis dato sein älterer Bruder Ludwig II. – und Friedrich als Regent von ihm abhängig. Von dieser Abhängigkeit wollte er sich nun befreien. Fast gleichzeitig wurde der Landtag 1856 mit einem bemerkenswerten Gesetz befasst: der Trennung von Justiz und Verwaltung durch die Einführung selbständiger Amtsgerichte20. Das war in der Tat eine weit reichende Reform, Grundlage des modernen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit und seit Jahrzehnten eine politische Kernforderung des Liberalismus. Mit diesem Reformgesetz 18 Zit. nach Alfred Dove, Großherzog Friedrich von Baden als Landesherr und deutscher Fürst, Heidelberg 1902, S. 33. 19 Nach dem Originalplakat der Proklamation, in: Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) 233/31676. Abdruck auch in: Großherzog Friedrich I. von Baden. Reden und Kundgebungen 1852–1896, Freiburg 1901, S. 22 f. 20 Vgl. Oster, Großherzöge, S. 173.

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wurden die seit Jahren politisch marginalisierten Liberalen vom Regenten für sie ganz unverhofft beschenkt. Nach der blutigen Niederschlagung der Revolution und den damit verbundenen traumatischen Erfahrungen massiver Gewaltanwendung war von ihren märzrevolutionären Aspirationen auf eine dem Parlament verantwortliche Regierung nichts mehr zu spüren. Stattdessen setzten viele Liberale nun ihre Hoffnungen auf einen „modernen“ jungen Monarchen, der zumindest die schlimmsten Auswüchse der nachmärzlichen Konterrevolution überwinden helfen sollte. Unter diesen Voraussetzungen stellte der Gesetzentwurf einen geschickten Schachzug dar. Friedrich schien bereit zu sein, diese Rolle zu spielen, von der der badische Liberalismus träumte. Und noch etwas Wichtiges gilt es bei der Beurteilung von Friedrichs voluntaristischer Thronbesteigung am 5. September 1856 zu berücksichtigen, nämlich dass er genau zwei Wochen später heiratete – als regierender Monarch von Gottes Gnaden und eben nicht mehr als Prinzregent. Diese Rangerhöhung schien schon mit Blick auf den königlichen Status der Braut geboten: der damals achtzehnjährigen Prinzessin Luise von Preußen, der einzigen Tochter des preußischen Thronfolgers und militärischen Retters der Hochberger, Prinz Wilhelm. Friedrich hatte seine Heirat seit Jahren sorgfältig vorbereitet und geradezu strategisch in die Wege geleitet.21 Dass die Tochter des in der preußischen Thronfolge an erster Stelle stehenden Prinzen Wilhelm besser einen vollwertigen fürstlichen Souverän heiratete als einen Prinz-Regenten, war dabei schon aus prestige-politischen Erwägungen in beiderseitigem Interesse. Für Friedrich von Baden war der familiale Anschluss an die preußische Dynastie also eine zentrale Maßnahme zur Absicherung seiner Machtstellung. Der wichtigste politische Grund, warum umgekehrt der Brautvater Prinz Wilhelm von Preußen so schnell und umstandslos in diese Heirat willigte, war ebensolcher Natur: in unmittelbaren familiären Kontakt mit einem der süddeutschen Monarchen zu gelangen, die traditionell eher dem preußischen Antipoden Österreich zuneigten. In dem monarchisch dominierten Kosmos europäischer Politik in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Preußen – und das Haus Hohenzollern – mit dieser Heirat dauerhaft einen Fuß in der Tür Süddeutschlands; zuverlässiger als mit einer angefeindeten Besatzungsarmee. 21 Siehe hierzu die veröffentlichte Korrespondenz bei Hermann Oncken (Hg.), Großherzog Friedrich I. von Baden und die deutsche Politik von 1854–1871. Briefwechsel – Denkschriften – Tagebücher, Bd. 1, Berlin 1927, S. 12 ff.; Heinrich Otto Meisner, Kaiser Friedrich III. Tagebücher von 1848–1866, Leipzig 1929, S. 47 ff.; Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, Aus meinem Leben und meiner Zeit, Bd. 2, Berlin 1888, S. 336 ff. – Zur hofstaatlich-diplomatischen Implementierung des Vorhabens vgl. detailliert Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA) Berlin-Dahlem III. HA MdA I Nr. 2383 sowie BPH Rep 113 Nr. 211.

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Durch die zeitgleiche Verlobung von Luises Bruder Friedrich mit der ältesten Tochter der britischen Queen Victoria ergab sich außerdem sogar noch die Chance, ein weiteres Königshaus einer europäischen Großmacht in das Protektions-Konzept der Hochberger einzubinden. Ein Übriges konnte sich Friedrich von seinem Schwager Ernst, dem Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha versprechen, dessen Bruder Albert die Queen geheiratet hatte. Zwischen Friedrich und seinem anglophilen Schwager Ernst bestand politischer Konsens22. Beide betrachteten das protestantische Preußen als Ausgangspunkt einer kleindeutschen Nationalstaatsgründung auf monarchischer Basis, und sie favorisierten zur Absicherung gegen demokratische Usancen eine konstitutionelle Unterfütterung des monarchischen Prinzips. In einer Denkschrift für den Eigengebrauch brachte im Sommer 1857 der nunmehrige Großherzog Friedrich diese Überlegungen eigenhändig zu Papier, mit denen er glaubte, der badischen Monarchie einen Neustart zu ermöglichen.23 Er propagierte darin das Ideal einer „Koalition deutscher Fürsten und Regierungen”, deren Leitstern das „Wohl des Gesamtvaterlandes” sein sollte. Deren Politik müsse vorzugsweise „auf den wahrhaft gebildeten Teil der Gesellschaft berechnet sein”. Inhaltlich auszurichten sei sie darauf, „dass Preußen doch immerhin am berufensten erscheint zur obersten Führung Deutschlands, da Preußens Interesse mit dem des übrigen Deutschland so eng verbunden ist, dass wohl eigentlich beide nur vereint bestehen können“. Daher täte man gut daran, „für das künftige Gedeihen dieses Staates und seine naturgemäße Entwicklung nach Kräften zu arbeiten“.

4. Aufstieg und Krise des badischen Monarchie-Modells Im Nachmärz hatten alle Regierungen des Deutschen Bundes einen möglichst engen Schulterschluss mit der einflussreichsten konservativen gesellschaftlichen Kraft, den beiden großen Kirchen, gesucht. Das war in Baden zunächst nicht anders als in Preußen oder in Österreich. Nur nutzte dies in Baden der Freiburger Erzbischof, um Forderungen nach einem Ende des tradierten Staatskirchentums zu stellen, die schließlich am Ende der 1850er Jahre zu Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl in Rom über eine Konvention führten – faktisch über ein Konkordat, das den badischen Staat und die katholische Kirche als gleichberechtigte Mächte erscheinen ließ. 1859 lag schließlich ein 22 Vgl. Frank Lorenz Müller, Der 99-Tage-Kaiser Friedrich III. von Preußen, München 2013, hier S. 89 ff. 23 Abgedruckt bei Oncken (Hg.), Großherzog Friedrich, S. 45 ff.

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unterschriftsreifes Abkommen vor.24 Großherzog Friedrich trug dies zunächst durchaus mit. Doch dann vollzog er in einer dramatischen politischen Aktion eine völlige Kehrtwende in der badischen Kirchenpolitik. In einer Proklamation, die passend zum Osterfest am 7. April 1860 erschien, machte er unmissverständlich deutlich, dass fortan der Staat – und zwar allein der Staat – alles Weitere bestimmen werde. In einer bis dahin beispiellosen Art desavouierte er damit seine eigenen bisherigen Minister, entließ sie aus ihren Ämtern und berief stattdessen einen der liberalen Wortführer des Landtags zum neuen Leiter der Regierung. Nur wenige Wochen später legte die neue Regierung den Kammern ein Gesetz vor, das die Kirche unter eine strenge staatliche Aufsicht stellte. Es fand nicht nur die begeisterte Zustimmung der liberalen Mehrheit des Landtags, es blieb auch bis zum Ende der Monarchie im Jahre 1918 in Kraft. Diesem Gesetz folgten dann in den nächsten vier Jahren weitere, die insgesamt ein umfangreiches liberales Reformprogramm umsetzten. Dieses Reformwerk einschließlich der noch weiter geführten Kulturkampfgesetzgebung gegen die katholische Kirche verschaffte dem Großherzogtum Baden fortan den Ruf, das liberale Musterland in und für Deutschland schlechthin zu sein.25 Blickt man freilich etwas genauer hin, so wird schnell deutlich, dass es Friedrich um alles andere ging als darum, dem deutschen Liberalismus in seinem Fürstenstaat zum Rang einer „regierenden Partei“26 zu verhelfen. 1860 und in den folgenden Jahren fiel den Liberalen vielmehr die Beteiligung einiger ihrer führenden Repräsentanten an der Regierung und die Vorlage von Gesetzen, die ihren politischen Vorstellungen entsprachen, genauso „von oben“ zu wie 1856.27 Diese politischen Geschenke entsprachen der erklärten Absicht des Monarchen, die Unentbehrlichkeit der autoritären Monarchie auch nach den Maßstäben einer bürgerlichen Gesellschaft unter Beweis zu stellen und dabei den Liberalismus als Instrument zu benutzen. Das wichtigste politische Ziel dieser monarchischen Strategie war und blieb es, eine Parlamentarisierung und Demokratisierung des Systems und mithin auch den Liberalismus als regierende Partei zu verhindern. Ein herrscherliches Kalkül, in das sich die 24 Dazu ausführlich Oster, Großherzöge, S. 164 ff.; außerdem Bernd Ottnad, Politische Geschichte von 1850 bis 1918, in: Badische Geschichte. Vom Großherzogtum bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 69 ff. 25 Vgl. Harm-Hinrich Brandt, Badens Beitrag zur Bismarck’schen Reichsgründung, in: Weinacht (Hg.), Baden, S. 168 ff. 26 Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968. 27 Darauf hat Hermann Einhaus zu Recht hingewiesen: Franz von Roggenbach: ein badischer Staatsmann zwischen Whigs und liberaler Kamarilla, Frankfurt a.M. 1991, S. 75.

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Liberalen in den badischen Ministerämtern ohne weiteres einbinden ließen. Das gilt auch mit Blick auf die obrigkeitlichen Bestrebungen, die nationalstaatliche Einigung Deutschlands voranzubringen. Dabei sollte dem Fürstenwillen ganz unbedingt der Vortritt vor allen Kundgebungen des Volkswillens gelassen werden. So konnte sich die Monarchie durch den Nachweis ihrer Unentbehrlichkeit für die Lösung der nationalen Frage auch nach dieser Richtung hin neu legitimieren. Bis zum Sieg Preußens über den Rivalen Österreich im Jahre 1866 blieb Badens Deutschland-Politik allerdings ohne Fortune, zumal Bismarck den prätentiösen Großherzog immer wieder auflaufen ließ und dessen Einflussbemühungen auf seinen Schwiegervater, den nunmehrigen König von Preußen, enge Grenzen setzte. Entsprechend schwer fiel es Friedrich, sich wie der preußische Monarch einfach nur der Führung Bismarcks anzuvertrauen. In seinen Augen war der Ministerpräsident in Berlin ein altpreußischer Partikularist und antinationaler Politiker. Noch 1868 hatte er ihn im Verdacht, die Nationalbewegung nur zur Vergrößerung Preußens benutzt zu haben und mehr als das Erreichte – also den Norddeutschen Bund – gar nicht zu wollen.28 Nachdem Friedrich sein Land 1866 erfolgreich um einen Krieg gegen Preußen herum gemogelt hatte, ging er sofort daran, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Der von Preußen neu gegründete Norddeutsche Bund schloss schon bald nach Kriegsende mit den vier süddeutschen Staaten Schutz- und Trutzbündnisse ab, die Friedrich zum Anlass nahm, in Baden das preußische Militärsystem einzuführen. Zum badischen Kriegsminister berief er einen preußischen General, der dem Land sozial tief einschneidende Reformen verordnete: Einführung der allgemeinen dreijährigen Wehrpflicht, Verdoppelung des Heeresbudgets und eine massive Aufstockung der Präsenzstärke der badischen Armee. Friedrich selbst stellte sich mit großem Nachdruck öffentlich hinter diese Reformen, die der militärischen Sicherung von Thron und Land als potenziellen Bundesgenossen Preußens dienten. An den Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum der badischen Verfassung, die am 22. August 1868 überall im Lande zelebriert wurden, beteiligte sich das badische Staatsoberhaupt dagegen nicht.29 Währenddessen entwickelte sich bei seinen Untertanen eine breite Protestbewegung gegen die preußenfreundliche Politik der großherzoglichen Regierung, die 1869 in der Gründung der dezidiert oppositionellen Katholischen Volkspartei mündete. Bei den – demokratischen – Wahlen zum Zollparlament

28 Vgl. die entsprechenden Zeugnisse bei Oncken (Hg.), Großherzog Friedrich, S. 36 ff. 29 Vgl. die ausführliche Berichterstattung über diese Feierlichkeiten in der Karlsruher Zeitung Nr. 200, 201 u. 202 vom 25., 26. u. 27. August 1868.

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1868 errang sie einen Erdrutschsieg.30 Der Großherzog ließ diese Entwicklung durch kompensatorische Politik bekämpfen, die angesichts der immer noch ausbleibenden Gründung des sehnlich erwarteten kleindeutschen Reiches vor allem die kulturkämpferischen Aspirationen des Liberalismus bediente. Sie setzte eine dramatische Verschärfung der antikatholischen Repression in Gang. Zeitweilig saß ein Großteil des gesamten katholischen Klerus Badens im Gefängnis.31 Erst durch die Reichsgründung im Gefolge des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 fanden die risikoreichen Unwägbarkeiten dieser großherzoglichen Innenpolitik ihr Ende, und der Großherzog fand abermals sein Glück. Noch während der militärischen Auseinandersetzungen begannen im Herbst 1870 die von Bismarck geführten diplomatischen Verhandlungen. Der kleindeutsche „Überzeugungstäter” Friedrich machte bei diesen massive Zugeständnisse. Doch nicht Friedrichs ganz und gar unpartikularistische Haltung am Verhandlungstisch und seine Anklammerung an Preußen sollten ihn in die Gründungsmythologie des ersten deutschen Nationalstaates eingehen lassen. Es war vielmehr sein legendärer Auftritt am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses, bei dem er auf Bismarcks Geheiß seinen Schwiegervater als „Kaiser Wilhelm“ hochleben ließ. Genauer gesagt: Es war die malerische Verewigung dieses Momentes durch Anton von Werner, die ihm diesen Rang im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verschaffte. Diese aufwendige Stilisierung hat er sich bzw. genauer gesagt den badischen Staat viel Geld kosten lassen.32 Die primär dynastischen Interessen, die hinter der großzügigen Förderung des bis heute populären Kunstwerkes standen, waren unverkennbar: hier ließ sich Prestige erwerben, das nicht weniger Wert versprach als Ruhm auf dem Schlachtfeld. Imagepolitik sollte in den kommenden Jahren überhaupt einen immer höheren Stellenwert für Großherzog Friedrich ausmachen. Friedrich, der Künder des neuen Deutschen Reiches, der uneigennützige Patriot, der Bürgerfreund und Schöpfer des liberalen Musterstaates – das waren die Attribute, auf die er zunehmenden Wert legte. Denn wie sich schon bald herausstellte: Sein großer Auftritt am 18. Januar 1871 stellte nicht nur den Höhepunkt seiner öffentlichen Laufbahn dar, son30 Vgl. Ottnad, Politische Geschichte, S. 75 ff. 31 Dazu ausführlich Josef Becker, Der badische Kulturkampf und die Problematik des Liberalismus, in: Badische Geschichte, S. 86–102. 32 Vgl. GLA KA, Rep. 56/128. Zum Kontext dieser Kultbild-Produktion vgl. Dominik Bartmann (Hg.), Anton von Werner. Geschichte in Bildern, München 1993, S. 332 ff. Nachweis des hier abgedruckten Gemälde-Ausschnitts: h ttp://de.wikipedia.org/wiki/ Darstellungsweisen_der_Kaiserproklamation_in_Versailles#mediaviewer/Datei: Anton _von_Werner-Kaiserproklamation,_zweite_Fassung_1882-2-detail.jpg.

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Wilhelm I. und Großherzog Friedrich I. von Baden (rechts)

dern auch ihren Zenit. Immer wieder versuchte Friedrich in den 1870er Jahren, durch seine zwischendynastischen Beziehungen unmittelbar Einfluss auf die Politik in der Machtzentrale Berlin zu nehmen. Immer wieder musste er aber mit zunehmender Verbitterung zur Kenntnis nehmen, dass seine eigenen Vorstöße in der Reichspolitik nichts auszurichten vermochten, vor allem nichts gegen Bismarck. Mit den entscheidenden Fragen des Politikmachens im Reich hatte er denn auch bald nur mehr am Rande etwas zu tun. So nahm das öffentliche Bild des Reichs-Mitgründers zusehends denkmalhafte Züge an, während das praktisch-politische Profil verblasste. Schon in den 1880er Jahren vermittelt sein konkretes politisches Handeln nur mehr den Eindruck eines kleinfürstlichen Durchregierens – nicht besser und nicht schlechter, als das andere deutsche Bundesfürsten damals auch getan haben. Aus der latenten Krise wurde 1888 schließlich eine akute, als innerhalb weniger Monate zwei kaiserliche Todesfälle die bewährte dynastische Machtbasis des Badeners ins Wanken brachten. Erst verstarb mit Kaiser Wilhelm I. Friedrichs treuer Schwiegervater – und der wichtigste politische Protektor der Hochberger seit vier Jahrzehnten. Dann sein Schwager, der Hundert-Tage-Kaiser Friedrich III.33 Das mag 33 Hierzu jetzt sehr einleuchtend Monika Wienfort, Family and Nationality. Letters from Queen Victoria and Crown Princess Victoria 1858–1918, in: Karina Urbach (Hg.),

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dem badischen Großherzog den Gedanken an eine inszenatorische Neuauflage der legendären Kaiserproklamation von 1871 eingegeben haben. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Die hohen Eingeladenen kamen fast alle nach Berlin und vermehrten fraglos den äußeren Glanz der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. Wie die Kaiserproklamation von Versailles wurde auch dieses Déjà-vu vom Historienmaler Anton von Werner in einem monumentalen Bild verewigt, auf dem Friedrich wiederum eine ausgesprochen gute Figur macht – imposant, gütig und prominent.34 Er war in seine alte Rolle als engster Verbündeter des neuen Reichsmonarchen zurückgekehrt – jedenfalls optisch. Bei dem extrem geltungsbedürftigen jungen Kaiser konnte solch ein Szenario nicht ohne tiefe Wirkung bleiben, und es musste in ihm Gefühle von Dankbarkeit und Verpflichtung erzeugen. So ließ denn die Belohnung des Großherzogs ebenfalls nicht lange auf sich warten: Noch am gleichen Tag unterzeichnete er einen lobpreisenden Brief an den badischen Onkel, den man kurz darauf schon in der Karlsruher Zeitung nachlesen konnte.35 Friedrich von Baden hatte einen solchen Aufputz seiner Aureole damals offenbar nötig, um sein Lebenswerk zu retten. Wollte er seine Marginalisierung als politische Kraft ersten Ranges nicht passiv hinnehmen, so musste er jetzt laut und vernehmlich mit dem neuen Berliner Leitwolf heulen – und sei es um den Preis eines politischen Gesinnungswandels. Den unterstellte ihm jedenfalls seine maßlos enttäuschte Schwägerin, die verwitwete Kaiserin Friedrich, die sich schon seit Beginn des Dreikaiserjahres von ihren badischen Verwandten desavouiert fühlte.36 Damit hatte sie allerdings Unrecht. Die Wahrheit ist, dass Friedrich von Baden 1888 nicht anders gehandelt hat als immer schon und genauso wie seine Vorgänger auf dem badischen Großherzogsthron. Nämlich dort Legitimation, Sicherheit, Anerkennung und mythische Zuschreibungen einzuwerben, wo diese am ehesten zu erlangen waren. Zwei Jahre später half er Wilhelm II. dann konsequenterweise, Bismarck zu stürzen. Damit schien der politische Kredit des Hauses Baden-Hochberg beim preußischen Reichsmonarchen gesichert und Friedrich selbst wieder in der ersten Reihe der deutschen Fürsten zu stehen. Wenn der menschliche Faktor nicht gewesen wäre.

Royal Kinship in Anglo-German Family Networks 1815–1918, München 2008, hier S. 122 f. 34 Hierzu ausführlich Bartmann (Hg.), Anton von Werner, S. 407 ff. 35 Zum Folgenden vgl. die Dokumente bei Fuchs, Großherzog Friedrich, S. 559 bzw. 565. 36 Vgl. Hannah Pakula, Victoria. Tochter Queen Victorias, Gemahlin des preußischen Kronprinzen, Mutter Wilhelms II., München 1999, S. 458 f. sowie S. 546 (dort auch das nachfolgende Zitat).

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5. Unter keinem guten Stern: Der Herrscher als Chef des Hauses Mit dem Tag seiner Thronergreifung im Jahre 1856 war Friedrich nicht allein offizieller Nachfolger seines Bruders in den öffentlichen Ämtern des Souveräns geworden; er wurde auch Oberhaupt der Herrscherfamilie. Seine Verfügungsgewalt über das Leben seiner Angehörigen reichte nun sehr weit. Aber auch seine Verantwortung für das Erscheinungsbild der Monarchie war enorm. Denn er trug die Hauptlast der zentralen Aufgabe: Tradition, Ehre, Ansehen und Einfluss der badischen Dynastie zu wahren, worin ihn seine rührige Gattin tatkräftig unterstützte. Für die Optik des Hauses Baden nahmen die beiden sämtliche Familienangehörigen insofern in strenge Mithaftung, als sie ihnen immer wieder als oberste Pflicht die loyale Unterstützung des großherzoglichen Paares und seiner Ambitionen ins Gewissen schrieben. Das hieß: fleißige Mitarbeit am Mythos des Herrscherhauses, am Image des Souveräns und an der Fassade der Dynastie. Auf Dauer gesichert werden konnte die dynastische Herrschaft freilich nur dann, wenn die Familie über ausreichenden und gesunden Nachwuchs verfügte.37 Das stellte zuallererst den Dynasten selbst vor die unabdingbare Aufgabe, für Nachkommen männlichen Geschlechts zu sorgen. Dafür hatte das großherzogliche Paar in Gestalt seiner drei Kinder scheinbar Sorge getragen. Auch die Ehe des großherzoglichen Paares galt als mustergültig. Niemals verlor Großherzogin Luise die politische Zweckbestimmung ihrer Ehe aus den Augen. Wenn es um das Prestige und die Geltung des großherzoglichen Hauses ging, brachte sie neben ihrer Reputation als Tochter des ersten deutschen Kaisers ihre ganz konkrete Persönlichkeit als sehr hohes moralisches Kapital ein – sei es mit ihrer rigiden, orthodox protestantischen Frömmigkeit, sei es mit ihrer über jeden Zweifel erhabenen Tugendhaftigkeit als Gattin und Mutter oder sei es mit ihrer ebenso sorgfältigen wie unermüdlichen Regie bei der Inszenierung eines vorbildlichen Fürstenfamilienlebens. Erst durch Luises konzentrierten Einsatz an allen innerdynastischen Fronten des badischen Herrscherlebens wurden Friedrich von Baden und sein Haus auf der persönlichen Ebene praktisch unangreifbar – ein veritabler Reputationsgewinn sondergleichen. Dabei wusste sie auch ihre Religiosität ertragreich einzubringen – eine Religiosität freilich, die sich bei kritischer Betrachtung auf zwei Kernelemente reduzierte: auf eine rigide Moral und Gottvertrauen. Sie hat damit immerhin erreicht, dass die moralische Integrität der großherzoglichen Eheleute keinen Zweifel duldete. Insofern war die öffentlich sicht37 Hierzu jetzt grundlegend Daniel Schönpflug, Die Heiraten der Hohenzollern. Verwandtschaft, Politik und Ritual im europäischen Kontext 1640–1918, Göttingen 2013.

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bare Harmonie der Ehepartner keine Heuchelei, sondern moralische Politik. Bezeichnenderweise resultierte sie gerade aus dem Mangel an genuinen Emotionen füreinander mit dem ihnen eigenen latenten Konfliktpotential. Dass diese so umsichtig wie energisch dirigierte Welt dann doch nicht heil blieb, ja zusehends erodierte, lag nicht an fehlendem guten Willen und entschiedenen Bemühungen des Herrscherpaares. Es lag an inneren Strukturdefekten des hochadeligen Komments überhaupt. Die erste große Herausforderung, mit der sich Friedrich I. in seiner Eigenschaft als Oberhaupt der Herrscherfamilie konfrontiert sah, waren die nicht standesgemäßen Heiratspläne seines jüngsten Bruders Karl im Frühjahr 1871. Der Prinz wollte mit einer dreizehn Jahre jüngeren Frau aus niederem Adel den Bund fürs Leben eingehen. Der Großherzog genehmigte das und erhob die neue Schwägerin sogar in den Grafenstand, so dass sie fortan den Namen Gräfin Rhena tragen durfte. Dilemmatische Züge nahm die Causa Rhena erst an, als diese Ehe am 29. Januar 1877 mit einem Sohn gesegnet wurde. Denn fortan ging das ganze Bestreben der Eltern dahin, den kleinen Grafen Rhena in einen echten Prinzen von Baden zu verwandeln. Doch all ihren unermüdlichen Anstrengungen gegenüber verhielt sich das badische Herrscherpaar nun strikt ablehnend. Wahrscheinlich befürchtete Friedrich, mit einem solchen Akt der Standeserhöhung eine nicht mehr kontrollierbare öffentliche Diskussion über die Legitimität badischer Prinzen los zu treten. Einer solchen Gefahr wollte sich der Dynast auf gar keinen Fall aussetzen. Für seine Entschlossenheit, das Prinzip der Legitimität nunmehr in allen seinen Konsequenzen durchzusetzen, hatte der Chef des badischen Herrscherhauses freilich einen hohen Preis zu zahlen, und das waren extreme Verwerfungen in seinem Binnenraum – Verwerfungen vor allem psychologischer Art. Denn die Eltern des Grafen Rhena empfanden dessen dauerhafte dynastische Zurücksetzung als ein schweres Unrecht. Dass dieses familieninterne Drama erst einmal nicht nach außen drang, verhinderten die Loyalitätszwänge der gemeinsamen Dynastie. Aber im Binnenraum des Herrscherhauses war viel böses Blut erzeugt worden. Fortan zogen seine Angehörigen nicht mehr an einem Strang. Dagegen versprach die Verheiratung der großherzoglichen Tochter Viktoria an Kronprinz Gustav von Schweden38 im Jahre 1881 eine ausgesprochen gute Partie für das Haus Baden-Hochberg zu werden. Zwar war auch das schwedische Königshaus der Bernadottes eine (nicht blaublütige) Stiftung Napoleons.39 Aber ihr Herrschaftsgebiet erstreckte sich zum Zeitpunkt 38 Vgl. Stig Hadenius, Gustaf V. En Biografi, Lund 2007, S. 35 ff. 39 Die Dynastiegeschichte der Bernadottes ist anschaulich dokumentiert bei Ursula Sjöberg/Kerstin Hagsgard, Two Centuries of Bernadotte Portraits, Stockholm 2008. Den Anteil des schwedischen Reichstags am Zustandekommen dieses Herrscherwechsels

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der Verlobung über die in Personalunion vereinigten Staaten Norwegen und Schweden, die im europäischen Mächtekonzert ein nicht zu unterschätzendes Gewicht besaßen. Eine Heirat von Viktoria von Baden und Gustaf Bernadotte bedeutete dreierlei: Zum einen die Rehabilitierung der gestürzten WasaDynastie, mit der die Braut über ihre Großmutter väterlicherseits verwandt war. Dann die weitere Aufwertung der Bernadottes durch die Verbindung mit dem preußisch-deutschen Kaiserhaus, das durch die Brautmutter repräsentiert wurde. Schließlich vernetzte sie das großherzoglich-badische Haus mit einer veritablen europäischen Macht. Doch auch hier ließen die Probleme nach der Eheschließung nicht lange auf sich warten. Zwar bescherte „Vicky“ dem schwedischen Herrscherhaus schon in den ersten Ehejahren vorschriftsmäßig zwei gesunde Stammhalter. Aber sie zeigte sich weder willens noch in der Lage, sich in dem Milieu ihres Mannes heimisch zu machen. Die höfische und politische Kultur Schwedens blieben ihr wesensfremd. Das skandinavische Klima machte sie krank. Bereits im Frühjahr 1883 berichtete Roggenbach über „bedenkliche Familienmißklänge in Schweden“.40 Vicky vermochte die in sie gesetzten Erwartungen an eine primär schwedische Kronprinzessin in keiner Weise zu erfüllen. In dieser verfahrenen Situation trat Viktoria spätestens 1890 die Flucht in die Krankheit an, die fortan zu ihrer Überlebensstrategie werden sollte. Diese Dauerkrankheit der Tochter sollte sich wie ein Alp auf die Seele des badischen Dynasten legen. In seiner hochadligen Welt war einfach nicht vorgesehen, dass Menschen nicht im vorgesehenen Sinne „funktionierten“. Friedrich wurde hier mit einem unlösbaren Problem konfrontiert, das sich gleichzeitig zu einem enormen Image-Schaden für sein Haus auszuwachsen drohte und deshalb in der Öffentlichkeit mühsam camoufliert werden musste.41 Die „richtige“ Verheiratung des Thronerben Friedrich dürfte zeitgleich die wohl wichtigste familienpolitische Aufgabe des Großherzogs gewesen sein. Denn hier ging es schließlich darum, den Fortbestand der Dynastie in einer neuen Generation zu sichern. Ihre Lösung zog sich bis 1885 hin. Da hatte der Erbgroßherzog sein 28. Lebensjahr schon überschritten. Nun hatten die badischen Herrschaften – nachweisbar seit 1881 – den royalen Heiratsmarkt in Europa durchaus aufmerksam sondiert. In ihr Blickfeld war dabei beleuchtet Stig Hadenius, The Riksdag in Focus. Swedish History in a Parliamentary Perspective, Arlöv 1997, S. 127 ff. Zum Minderwertigkeitskomplex der Dynastie Bernadotte vgl. jetzt mit reichem Quellenmaterial Birgitta Eimer, Eine Königin macht Politik: Sophie zu Nassau 1836–1913, Königin von Schweden und Norwegen, Sehlen/ Rügen 2003, S. 75 ff. 40 Tagebuch Gelzer vom 15.4.1883, in: Fuchs (Hg.), Friedrich I., Bd. 2, S. 206. 41 Hierzu desweiteren Machtan, Prinz Max von Baden, S. 41 ff. bzw. 117 ff.

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zunächst die Tochter des verwitweten Großherzogs von Hessen geraten. Doch diese Partie mit „Ella“, einer sehr selbstbewussten Enkelin der einflussreichen Queen Victoria von Großbritannien, kam trotz mehrmonatigen Bemühens nicht zustande. Die Prinzessin gab dem Erbgroßherzog von Baden im März 1883 einen Korb: Sie wollte ihn einfach nicht zum Mann.42 Vielleicht hätte er sich Ella gegenüber nicht „liebenswürdig“ genug gemacht, mutmaßte die englische Königin.43 Womit sie wohl nicht so ganz falsch lag. Denn das, was über das menschliche Format und die charakterlichen Wesenszüge des badischen Thronfolgers überliefert ist, lässt ihn nicht gerade als besonders attraktiv erscheinen.44 Es stellte sich als überaus schwierig heraus, für einen so unselbständigen, verklemmten und auch nicht mehr ganz jungen Mann eine ebenbürtige Gemahlin zu finden. Selbst mit der Aussicht der Heiratskandidatin, dereinst Großherzogin von Baden zu werden. Nach dem Fiasko ihrer Brautwerbung im Hause Hessen wurden die großherzoglichen Eltern erst im Sommer 1884 heiratspolitisch wieder aktiv.45 In diesem Jahr wurde ein gewisses Interesse des badischen Thronerben an der damals nicht ganz zwanzigjährigen Prinzessin Hilda von Nassau publik gemacht – eine nicht stromlinienförmige Verbindung insofern, als deren Vater Herzog Adolf von Nassau zu den fürstlichen Verlierern des deutschen Krieges von 1866 zählte, seinen Thron eingebüßt hatte und im bayerischen Exil lebte.46 Dass der Chef des Hauses Baden sich überhaupt mit dieser Angelegenheit abgab, ja auf den Ex-Monarchenkollegen zuging, zeigt, dass er die Hoffnungen auf eine wirklich erstklassige Partie, d.h. auf eine Braut aus einem der in Europa führenden 42 Vgl. zu diesem Verheiratungsprojekt die Quellenzeugnisse bei Fuchs, Friedrich I., Bd. 2, S. 164, 199 u. bes. S. 202 f. 43 Brief an ihre älteste Tochter und Kronprinzessin von Preußen Victoria vom 14.3.1883, in: Roger Fulford (Hg.), Beloved Mama. Private correspondence of Queen Victoria and the crown princess of Prussia (1878–1885), London 1981, S. 135; vgl. auch ihre Briefe an ihre Enkelin Prinzessin Victoria von Hessen vom 1.1. bzw. vom 7.3.1883, in: Richard Hough (Hg.), Advice to a Grand-daughter. Letters from Queen Victoria to Princess Victoria of Hesse, London 1975, S. 41 bzw. 44. Außerdem John C.G. Röhl, Wilhelm II., Die Jugend des Kaisers, München 1993, S. 305. 44 Vgl. Leonhard Müller, Friedrich II. als Erbgroßherzog von Baden (1857–1907), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 145 (1997), S. 323–347; ders., Friedrich II. Großherzog von Baden 1857–1928, in: Lebensbilder aus Baden-Württemberg, Bd. 20, Stuttgart 2001, S. 341–366; Oster, Die Großherzöge, S. 209–220. Außerdem trotz hagiographischer Einfärbung Eugen Fehrle (Hg.), Die Großherzöge Friedrich I. und Friedrich II. und das badische Volk, Karlsruhe 1930 (mit aufschlussreichem Bildmaterial). 45 Zum folgenden vgl. die bei Fuchs, Friedrich I., Bd. 2 dokumentierte Korrespondenz zwischen Herzog Adolf und Großherzog Friedrich von Juli 1884 bis Februar 1885. 46 Vgl. zu diesem Komplex den Ausstellungskatalog: Adolph Herzog zu Nassau Großherzog von Luxemburg 1817–1905, Wiesbaden 1992.

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Herrscherhäuser inzwischen begraben hatte. Dafür stand nicht zu befürchten, dass Prinzessin Hilda und ihre Eltern hohe Erwartungen an das menschliche Format des Bewerbers hatten, zumal der Erfolg dieses Heiratsprojektes ihnen in Aussicht stellte, das Haus Nassau wieder in den Kreis der anerkannten europäischen Dynastien zurückzuführen. An der Ebenbürtigkeit gab es ohnehin nie einen Zweifel: Preußen hatte dem Herzog zwar sein Land nehmen können, aber nicht seine Legitimität; der Verjagte war nach wie vor ein Monarch von Gottes Gnaden. Was noch einmal die Unabhängigkeit theoretischer Legitimität von tatsächlicher Herrschaft unterstreicht. Nach dem Wenigen zu urteilen, was man aus den bisher zugänglichen Quellen weiß, scheint Hilda in der Folgezeit für den mit persönlichen Gaben nicht gerade gesegneten Erbgroßherzog zwar tatsächlich ein Glücksfall gewesen zu sein. Schon allein dadurch, dass sie alles andere als prätentiös war. Zurückhaltend, bescheiden, duldsam und anpassungsfähig, hat sie ihrem Mann sein ohnehin schon mühevolles Thronfolgerleben nicht durch zusätzliche Avancen erschwert.47 Aber sie hat auch keinen royalen Glanz, keine neuen Beziehungen zu den führenden europäischen Fürstenhäusern und – was mit Abstand am schwersten wog – auch keinen Thronerben an den badischen Hof gebracht. Die Kinderlosigkeit der Ehe, die darauf hinauslief, dass diese Heirat ihren dynastischen Hauptzweck verfehlt hatte, geht allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Insuffizienz ihres Gatten zurück. So bot auch diese Heirat faktisch eher ein Bild des Jammers, als dass es dem Hause hoffnungsfrohe Zukunftsaussichten erschloss. Die heile Welt fürstlichen Glücks, die die Hofberichterstattung nicht müde wurde, der Öffentlichkeit vorzumachen, war jedenfalls im Innenraum der badischen Monarchie am Ende der 1880er Jahre schon längst zerbrochen. Eben dieser Ordnung dräute aber noch weiteres schweres Unheil, als zu Beginn des Jahres 1888 ein tragischer Todesfall die Herrscherfamilie abermals erschütterte – dieses Mal in ihren Grundfesten, weil er ihre Zukunftshoffnung nun gänzlich zu begraben drohte.48 Am 23. Februar 1888 starb Prinz Ludwig von Baden, der 22-jährige jüngere Sohn des Großherzogs. Die politische Tragweite seines Todes brachte der preußische Gesandte in Karlsruhe noch vor der Beerdigung des Verstorbenen zu Papier: „Für den Fall, dass S.K.H. der Erbgroßherzog ohne männliche Nachkommen bliebe, wären mit dem Tod des Prinzen die Hoffnungen auf eine direkte Thronfolge vernichtet. 47 Vgl. Max von Baden an Ernst von Hohenlohe-Langenburg vom 10.11.1886, in: Hohenlohe Zentralarchiv Neuenstein, LA 142 Nr. 736. 48 Zum folgenden vgl. vor allem die Dokumente bei Fuchs, Friedrich I., Bd. 2, S. 510 ff.; außerdem Schiel, Kraus Tagebücher, S. 533 ff.; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem III. HA MdA I Nr. 2376.

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Der jetzt 20-jährige einzige Sohn des Prinzen Wilhelm, Prinz Maximilian Alexander, wäre alsdann der letzte erbberechtigte Prinz des badischen Hauses.“ Die Zukunft des Hauses Baden durch eigene Kinder zu sichern, war dem Großherzogspaar nun unmöglich geworden. Mehr noch: Die Existenz der Dynastie stand auf dem Spiel. Der Bestand des dynastischen Staates in Baden musste auf anderem Weg gesichert werden. Der menschliche Faktor hatte sich wieder einmal als eine unberechenbare Größe im dynastischen Kalkül erwiesen. Viel zu steuern gab es bei den noch vorhandenen personalen Ressourcen nicht mehr – nur noch zu hoffen. Als Großherzog Friedrich I. von Baden nach einer Herrschaft von über einem halben Jahrhundert am 28. September 1907 schließlich verstarb, war sein öffentliches Image als Paradebeispiel nachhaltig erfolgreicher Fürstenherrschaft zwar ungebrochen. Sein indolenter Nachfolger trat freilich ein Erbe an, das im innerdynastischen Raum bereits ausgehöhlt und zudem politisch unzeitgemäß geworden war, da es sich in der Abgrenzung zu zeitgemäßen demokratischen Reformen definierte.

6. Friedrich I. und seine (politische) Welt Das Bild des säkularen Großherzogs Friedrich von Baden ist von liberalen Historikern immer wieder absichtsvoll überzeichnet worden. Nur zu gerne wollte man in diesem Monarchen das (überall sonst in Deutschland kaum anzutreffende) Ideal eines tatkräftigen, von freiheitlicher Gesinnung durchdrungenen vornehmen deutschen Staatsmannes sehen.49 Seit den bislang wohl quellenintensivsten biografischen Studien von Walther Peter Fuchs wissen wir aber, dass auch dieser Fürst sich wie seine Kollegen im Reich niemals in seiner monarchisch-autokratischen Grundüberzeugung hat irre machen lassen – in der Auffassung nämlich, dass selbst in einem konstitutionellen System ausschließlich der Landesfürst „aktiver Träger der Herrschaft“ und insbesondere „Inhaber der Staatsautorität“ sein müsse. Das heißt: Friedrichs politisches Lebensziel blieb immer unverändert auf die ungeschmälerte Erhaltung von monarchisch gestalteter Autorität und Macht gerichtet: die zwar verfassungsmäßig verankerte, wesensmäßig aber „selbständige, eigenwüchsige, unabhän49 Intellektueller Urheber war Hermann Oncken mit seiner Quellenedition: Großherzog Friedrich I. von Baden und die deutsche Politik von 1854–1871. Zur Interpretation vgl. das umfangreiche Vorwort, in: Bd. 1, S. 1–87. Mutatis mutandis hat dann Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei, vierzig Jahre später diese Legende fortgeschrieben (freilich bietet Galls Untersuchung auf vielen Gebieten weit mehr als nur Affirmation der Oncken’schen Meistererzählung). – Auch Becht, Badischer Parlamentarismus, S. 698 ff., hat dieses Paradigma kaum hinterfragt.

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gige Herrschergewalt“.50 Als Monarch fühlte er sich vor allem für diese überkommene politische Ordnung verantwortlich; sie wollte er verstetigen und gegen konkurrierende Machtansprüche – demokratische gar – verteidigen.51 Als oberster Beauftragter der badischen Verfassung hat er sich niemals begriffen, dagegen umso mehr an der Identität des badischen Staates mit der Krone und seiner großherzoglichen Regierung festgehalten. Als deren oberste Pflicht sah er an, die vermeintlichen Staatsnotwendigkeiten erforderlichenfalls auch gegen den Willen der Volksvertretung und der Mehrheit seiner Untertanen zu sichern. Schon von daher fällt es schwer, Großherzog Friedrich als herausragendes Vorbild für einen fest in der Moderne wurzelnden, liberal denkenden und fortschrittlich handelnden Fürsten hinzustellen. Nur im Vergleich zu den meisten seiner Vorgänger auf dem badischen Thron und vor allem zu seinem (einzigen) Nachfolger ragt seine zu seinen Lebzeiten vielfach goutierte und insofern erfolgreiche Regentschaft heraus. Richtig ist allerdings, dass er anders als manche seiner damaligen fürstlichen Kollegen weitgehend frei von partikularistischer Selbstsucht und namentlich von Neid auf die Großmacht Preußen war – sein musste, um überhaupt Erfolg zu haben. Preußen war für ihn kein übermächtiger Konkurrent, im Gegenteil: Preußen war für ihn die wichtigste Legitimationsressource seines Hauses. In die Vermehrung von Preußens Ansehen zu investieren, schien somit die beste Vorsorgemaßnahme für das Großherzogtum selbst und seinen Thron zu sein. Insofern hatte Friedrich mit der großpreußischen Reichsgründung kein (Akzeptanz-)Problem wie mancher seiner süddeutschen Standesgenossen. Auch hat er sich der Tatsache nicht verweigert, dass die zunehmende Verbürgerlichung von Staat und Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten und es daher klug war, sie mit obrigkeitlichem Wohlwollen zu protegieren, ja zu promovieren, um nicht eines Tages von dieser Entwicklung überrollt zu werden. Das entspreche der Zeit, hatten ihm seine Mentoren immer wieder eingesagt – und er folgte ihnen, weil er darin die beste Gewähr für den Erhalt der bestehenden Ordnung und damit auch für seine Dynastie sah. Gerade das politische Aufgreifen von liberalen Projekten durch den Monarchen sollte helfen, den Willen der Krone als obersten Grundsatz politischen Handelns zu erhalten. Das tat er nicht ohne Erfolg, und für zwei Jahrzehnte auch durchaus im Einklang mit dem Geist der Zeit. Sein Kalkül, populär im Volk zu werden, ohne dabei reale Macht einzubüßen, 50 Walther Peter Fuchs, Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871– 1879, in: Ders., Nachdenken über Geschichte, Stuttgart 1980, S. 299. 51 Geradezu programmatisch dargelegt hat er diese Einstellung in seinem Schreiben an den Hausminister Arthur Brauer vom 12.7.1897, in: Fuchs (Hg.), Großherzog Friedrich I. und die Reichspolitik, Bd. 3, Stuttgart 1980, S. 676 f.

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ging auf. Man kann ihm da sogar eine geniale monarchische Intuition zusprechen. Die (politisch gezähmten) Liberalen bekamen das Gefühl, nicht mehr Opposition zu sein, obwohl der zentrale Part in der politischen Gestaltung des Landes weiterhin dem souveränen Fürsten und seiner Regierung zufiel. In Baden nicht minder als in den anderen deutschen Monarchien. Außerordentlich zugute kam Friedrich dabei, dass er sich stets von kompetenten Beratern hat leiten lassen, die ihm jenseits ihrer besonderen politischen Couleur persönlich verpflichtet blieben. Das Bewusstsein seines unbedingten Angewiesenseins auf solche Ratgeber hat ihn zeitlebens vor der Illusion eines persönlichen Regiments und damit vor spektakulärem politischem Schiffbruch bewahrt. In seinen Ministern sah er dabei die Personen, „die mit Mir die Sorgen und Pflichten der Regierung zu teilen berufen sind“.52 Von Rechten und Eigenverantwortung ist keine Rede. Diese ministerielle Equipe politisch zu instrumentalisieren und im Bedarfsfall auch ganz auszutauschen, hatte er wenig Skrupel. Bei solchem Wechsel seiner politischen Mannschaften trieben ihn aber weder Böswilligkeit noch diktatorische Gelüste, sondern seine feste Überzeugung, dass man gute monarchische Politik nicht in institutionellen, sondern in personellen Kategorien denken müsse. Verfassungshistoriker haben jüngst darauf hingewiesen, dass der monarchische Konstitutionalismus, wie ihn gerade das politische System im Großherzogtum Baden so mustergültig realisiert habe, eine historisch durchaus eigenständige Herrschaftsform verkörpert. Ein Typus, den ein politischer Dualismus kennzeichnete: Stände und Fürst, die aber stets durch gegenseitige Abhängigkeit und Interaktion miteinander verbunden gewesen seien. Ein solcher Typus strebte in der Tat noch keineswegs eigendynamisch auf eine parlamentarische Monarchie zu, sondern blieb allenfalls um die Ausbalancierung zwischen monarchischer Prärogative und parlamentarischer Einflussnahme auf die Staatsgeschäfte bemüht.53 Sicher wäre es eine Engführung, die auch in Baden letztlich ausgebliebene Modernisierung des politischen Systems ausschließlich dem verbissenen Herrscherwillen von Großherzog Friedrich I. anzulasten. Aber dass es innerhalb eines ganzen Jahrhunderts dort in machtpolitischer Hinsicht stets beim Status quo geblieben ist, geht eben doch primär auf dessen hartnäckiges Bestreben zurück, die Autorität des monarchischen 52 Nach seinem offenen Brief an den Staatsminister Turban vom 30.12.1888, abgedruckt in der Karlsruher Zeitung vom 3.1.1889. 53 Vgl. hier vor allem die einschlägigen Forschungen von Martin Kirsch, zuletzt: Die Funktionalisierung des Monarchen im 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich, in: Stefan Fischer u.a. (Hg.), Machtstrukturen im Staat in Deutschland und Frankreich, Stuttgart 2007, S. 81–97, sowie Schlegelmilch, Die Alternative des monarchischen Konstitutionalismus, S. 145 ff.

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Staatswesens vor demokratischen bzw. parlamentarischen Ansprüchen zu schützen. Dazu ist auch dieser Fürst bis ins 20. Jahrhundert hinein ein zu entschlossener Bannerträger des monarchischen Prinzips geblieben – wenn auch nicht seiner absolutistischen Spielart. Dass das Volk sich dereinst selbst regieren könne/dürfe, lag vollkommen außerhalb seiner Vorstellungswelt, weil er grundsätzlich an dessen politischer Urteilskraft zweifelte. Das allgemeine direkte Wahlrecht lehnte er daher ebenso ab wie Bestrebungen, „das monarchische Recht“ in irgendeiner Weise von Volksvertretungen „abhängig“ zu machen.54 Dahinter erkennt man das Verfassungsverständnis eines Mannes, der vom Parlamentarismus nichts wissen wollte und auch nichts wusste. Der tiefste Grund seiner Herrschergewalt war denn auch in seinem Selbstverständnis nicht die Verfassung, sondern seine Einsetzung durch Gott, den Allmächtigen, dem er sich allein verantwortlich fühlte. Die so legitimierte souveräne Herrschaft des Fürsten zu erhalten, war ihm nicht nur ein heiliger Grundsatz, sondern politische Lebensaufgabe. Dass ihm der badische Liberalismus dieses Terrain niemals streitig gemacht hat, sondern sich schon damit zufrieden gab, wenn in Baden wenigstens ordentlich monarchisch-konstitutionell regiert wurde, steht auf einem anderen Blatt. Eine wirkliche Kontrolle seiner fürstlichen Macht haben die badischen Liberalen jedenfalls nicht eingefordert, nicht angestrebt und auch nicht einmal indirekt erreichen können. So blieb die politische Teilhabe der Volksvertretung am großherzoglichen Regiment in Baden eine durchaus relative. Das verhinderte dennoch nicht, dass das monarchische System hier wie in anderen deutschen Staaten eine erstaunliche Integrationskraft entfalten konnte und Großherzog Friedrich in der Öffentlichkeit beliebt war. Abwegig bleibt gleichwohl die bis heute in der einschlägigen Literatur anzutreffende Vorstellung, Baden sei „einer bürgerlich-parlamentarischen Monarchie britischen Typs ähnlich“ gewesen.55 Nein, Baden war und blieb auch unter dem mehr als ein halbes Jahrhundert regierenden Großherzog Friedrich integraler Bestand des deutschen Monarchie-Modells. Und zwar in der systempolitischen Variante des von Hugo Preuß so trefflich charakterisierten „kleinstaatlichen Kammerkonstitutionalismus“. Denn auch in Baden waren die beiden Kammern stets nur „Vertreter des regierten Volkes, der Untertanen“, und sie „blieben im Grunde ein stilwidriger Anbau an den dynastischen Obrigkeitsstaat“, dem 54 Vgl. sein Schreiben an den Hausminister Arthur Brauer vom 12.7.1897, in: Fuchs, Großherzog Friedrich I., Bd. 3, S. 677; außerdem weitere Zeugnisse aus späterer Zeit, in: Ebd., Bd. 4, Stuttgart 1980, S. 199, 270 u. 547 f . 55 Leonard Müller, Friedrich II., Großherzog von Baden 1857–1928, in: Lebensbilder aus Baden-Württemberg, Bd. 20, Stuttgart 2001, S. 356.

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sie „dualistisch gegenüber[standen]“.56 Man kann Friedrich deshalb ebenso wenig einen Liberalen nennen, wie man Bismarck als einen Demokraten bezeichnen darf, nur weil er dem Deutschen Reichstag (wohlbemerkt nicht dem preußischen Abgeordnetenhaus) ein demokratisches Wahlrecht konzedierte.57 Ein demokratisches Konzept lag im Übrigen auch der Variante des badischen Konstitutionalismus niemals zugrunde. Stets war es auch Friedrichs Bestreben gewesen, die überkommene Welt höfischer Institutionen, Zeremonien und Symbole intakt zu halten und die königliche Herrschaftskultur mit höheren Weihen zu zelebrieren. Mit diesen Mitteln wollte er Zweiflern und Zweifeln an der Lehre vom fürstlichen Gottesgnadentum entgegentreten und zugleich den Glanz und die Überlegenheit einer gottgefälligen Obrigkeit demonstrieren, in die er sich selbst aktiv hinein kristallisiert hatte. Viel tat er aber auch für die Entfaltung seiner Serenitas. Sie sollte seinem Erscheinungsbild als landesherrlicher Übervater seines badischen Volkes Glaubwürdigkeit verleihen.58 Damit sind wir bei einem Kernelement dieser Fürstenherrschaft, wie sie sich im analytisch-kritischen Nachvollzug darstellt: Friedrichs Streben nach öffentlicher Akzeptanz, seine Sehnsucht nach einem Einvernehmen zwischen Monarch und Volk, wie es sich schon sein Vater erträumt hatte. Dieses stark ausgeprägte Konsensbedürfnis ging ganz auf seine traumatischen Erfahrungen in der Revolution von 1848/49 zurück, als die badische Dynastie an die Grenzen ihrer Legitimitätsreserven geraten war. Jene Menetekel, die ihm selbst noch tief in den Knochen saßen, suchte er mit allen verfügbaren Mitteln vergessen zu machen. Darin scheint er seine historische Mission empfunden zu haben. Natürlich wollte er auch ganz persönlich bewundert und über den ererbten (Etiketten-)Rang seiner hohen Geburt hinausgehoben werden. Da ihm solch ein Ruhm nicht automatisch folgte, so musste er ihn absichtsvoll erstreben. Aber mehr noch als um ihn selbst ging es Friedrich darum, die Halbwertszeit seines bei Regierungsantritt noch schwer angeschlagenen Herrschergeschlechts zu verlängern, indem er 56 Hugo Preuß, Der deutsche Nationalstaat (1924), zit. nach ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4: Politik und Verfassung in der Weimarer Republik, hrsgg. und eingel. von Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 465 f. 57 Mit Blick auf die höchst ambivalente Reform der badischen Verfassung im Jahre 1904 lässt sich diese Grundhaltung bis zum Lebensende dieses Monarchen verfolgen: Vgl. Frank Engehausen, Der badische Landtag von der Reichsgründung bis zur Verfassungsreform (1866/71–1904). Verfassungsrechtliche Grundlagen, Entwicklung des Parteiensystems und Verfassungspolitik, Habil.-Schrift Heidelberg 2002. 58 Dass und wie dies funktionierte, kann man nachlesen bei Heinrich Hansjakob, In der Residenz: Erinnerungen eines badischen Landtagsabgeordneten, 2. Aufl. Stuttgart 1911, S. 39 ff.

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unermüdlich Wiedergutmachung leistete für all das, was seinen Eltern politisch so missraten war, namentlich einen modus vivendi zu finden zwischen den Prinzipien des Ancien Régime und den liberalen Ideen des bürgerlichen Zeitalters. Darin war er gut, ja erfolgreich – wenn man auf die Zeichen öffentlicher Anerkennung blickt, die seinem Haus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entgegengebracht wurden. Der auch Großherzog Friedrich bewusste Makel seiner – an streng legitimistischen Maßstäben gemessen – nicht ganz einwandfreien fürstlichen Herkunft scheint ihn geradezu beflügelt zu haben, sich als ein besonders guter Landesvater in das kollektive Gedächtnis seiner Landeskinder einzuschreiben. Doch schon staatstragende Zeitzeugen haben realisiert, dass es sich um einen zwar „auch leutseligen, aber doch mehr herablassenden“ Monarchen gehandelt hat.59 Dieses Konzept einer – wenn man es auf einen systematischen Begriff bringen will – „akzeptanzorientierten“ Fürstenherrschaft60 war sein Markenzeichen. Friedrich war ein begnadeter Darsteller des jovialen Landesvaters, der sein Volk liebt; ein Gefühlspolitiker par excellence61, der es gut verstand, in seinem Staatsvolk monarchische Empfindungen zu erzeugen und in seinen speziellen Dienst zu nehmen. Aber niemals hat er sich bei seinen vielschichtigen Maßnahmen zur Imagepflege den demokratischen Anzug eines irgendwie parlamentarischen Monarchen anpassen lassen, nicht einmal dem schönen Schein zuliebe. Ganz im Gegenteil, ein solches modernes politisches Outfit blieb für ihn tabu. Was er war und unbedingt sein wollte – sein Leben lang – lautet: Wir, Friedrich von Gottes Gnaden Großherzog von Baden. Nichts war ihm in den Worten seines Hausministers so „hehr und heilig“ wie seine Kronrechte62 – also die überkommenen Privilegien der fürstlichen Herrscherhäuser und die damit verbundene erhabene, unantastbare Stellung des Monarchen. Alle, die ihm nahestanden, spürten zudem, „dass ihn das Gespenst der [1848er] Revolution nie verlässt“.63 Von daher wusste gerade dieser Herrscher dafür Sorge zu tragen, dass auch sein liberales Baden am Ende des 19. Jahrhunderts von der Ausprägung 59 John Gustav Weiß, Lebenserinnerungen eines badischen Kommunalpolitikers, Stuttgart 1981, S. 197. 60 Im Sinne von Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche, München 2009, S. 395–406. 61 Hier im Sinne von Ute Frevert, Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen?, Göttingen 2012, S. 16 ff. 62 Arthur von Brauer, Im Dienste Bismarcks: persönliche Erinnerungen, Berlin 1936, S. 379. 63 Zitat von 1891, nach Lore Schwarzmeier, Hof und Hofgesellschaft, in: Konrad Krimm/ Wilfried Rößling (Bearb.), Residenz im Kaiserreich. Karlsruhe um 1890, Karlsruhe 1990, S. 48.

Star-Monarch oder Muster-Monarchie?

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demokratischer politischer Strukturen nicht weniger weit entfernt blieb als die meisten anderen deutschen Bundesstaaten. Einen politischen Vorrang der Volksvertretung, gar des Volkswillens hat es dort ebenso wenig gegeben wie eine politische Abhängigkeit der Regierung von der Kammermehrheit. Auch hat die Ernennung von Liberalen zu Ministern in Baden aus diesen kaum jemals liberale Minister gemacht; sie haben sich stets als großherzogliche, d.h. obrigkeitliche verstanden. Das Vertrauen des Souveräns war ihnen unabdingbare Voraussetzung ihres politischen Wirkens, nicht das Vertrauen der Abgeordneten oder ihre persönliche politische Überzeugung. Wenn seiner Regentschaft ein staatspolitisches Verdienst zukommt, dann jenes, dass Friedrich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endlich die badische Verfassung von 1818 in ihr volles Recht treten ließ und sie damit politisch wesentlich ernster nahm als seine Vorgänger. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Folgt man dem gleichbleibenden Tenor seiner vielen Thronreden, so galt seine Anerkennung der Kammern vor allem deren Bereitschaft, ihn und seine Regierung („Mich und Meine Regierung“) beim unermüdlichen pflichtschuldigsten Wirken für Baden loyal zu unterstützen. Immer wieder schrieb er der Volksvertretung ins Gewissen, dass sie „erfolgreicher handelt, wenn sie, statt schroffe Gegensätze hervorzukehren, mit der durch Mein Vertrauen berufenen Regierung zusammen für das Wohl des Landes arbeitet“. Nur auf diesem Wege werde „es möglich sein, Bestrebungen, die Grundfesten des Staats zu erschüttern, mit Erfolg entgegenzutreten“ – womit vor allem demokratische Reformen gemeint waren. Mit anderen Worten, nicht einmal zum tendenziellen Mit-Souverän im Staate wollte dieser Monarch sein badisches Volk und dessen Parlament sich politisch entfalten lassen, es sollte Objekt seines Herrscherwillens bleiben. Im Übrigen lebte er in der „Erwartung, dass Mein getreues Volk Mir folgen wird“, und in der Zuversicht, dass es „der göttliche Wille [ist], der uns hilft, der uns trägt und der uns leitet“.64 Für politisch besonders fortschrittlich kann man das alles nicht ansehen. Schon König Ludwig XVI. von Frankreich hatte bei seiner Begrüßungsansprache an die Generalstände im Mai 1789 eine vergleichbare Rhetorik bemüht.65 Insofern unterschied sich Friedrichs politisches Konzept und sein fürstliches Selbstverständnis kaum von dem, was die meisten anderen Potentaten zeitgleich in Deutschland vertraten.66 Nur in 64 Vgl. die zahlreichen Zeugnisse in: Großherzog Friedrich I. von Baden, Reden und Kundgebungen 1852–1896, Freiburg 1901 (Zitate S. 89 f., 266 u. 353). 65 Vgl. Recueil de Documents relatif aux Séances de Etat Généraux (may-juin 1789), Bd. 1.1, Paris 1953, S. 281 f. 66 Vgl. etwa – um hier nur zwei ihm geistesverwandte Kollegen seiner Generation anzuführen – René Wiese, Friedrich Franz II., in: Biographisches Lexikon für Mecklenburg, Bd. 4, Rostock 2004, S. 57–65, sowie Reinhard Jonscher, Großherzog Carl Alexander

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seinem öffentlichen Auftreten war er etwas anders: bescheidener, konzilianter und erfolgreicher in seiner Imagepflege. Historisch-analytisch betrachtet, erweist sich das politische Profil von Badens Star-Monarchen somit als wesentlich problematischer, als dies seine Bewunderer bis heute zugeben wollen. Denn was war letztlich die Grundlage seiner Herrschaftspraxis? Es war die mehr oder weniger durchdachte Reaktion auf eine historisch einmalige Konstellation in der eigenen Dynastie, im Staate Baden und im sich gründenden Reich. Insofern ist vor der Vorstellung zu warnen, dass das von Friedrich verkörperte System von akzeptanzorientierter Fürstenherrschaft Modellcharakter habe. Tatsächlich verdankte es seinen zeitweiligen Erfolg einer politischen Kultur, die ganz und gar dem 19. Jahrhundert verhaftet blieb, genauer gesagt: seinem dritten Viertel. Er geht zurück auf die Tatsache, dass der Staat Baden bei Friedrichs Regierungsantritt in politischer wie in dynastischer Hinsicht ruiniert war – also nur mehr wieder auferstehen oder untergehen konnte. Dahinter stand die Singularität der badischen Revolutionskatastrophe von 1849 im innerdeutschen Vergleich, die vor allem im Verlust der eigenstaatlichen Machtmittel bestanden hatte. Außerdem verdankte er sich einer einmaligen Mächte-Konstellation, in der gerade die Symbiose Baden-Preußen eine ungeahnt prospektive Wirkung entfalten konnte. Dahinter wiederum hatte das großpreußisch-dynastische Machtkalkül der Hohenzollern gestanden, in Süddeutschland eine gezwungenermaßen hörige Verwandtschaft zu etablieren. Diese besondere historische Bedingtheit, ja Kontingenz relativiert jeden Anspruch auf Mustergültigkeit – erkennbar freilich nur für denjenigen, der keiner phänomenologischen Faszination erliegt.

von Sachsen-Weimar-Eisenach (1853–1901), in: Lothar Ehrlich/Justus H. Ulbricht (Hg.), Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach: Erbe. Mäzen, Politiker, Köln 2004, S. 15–31.

HANS-CHRISTOF KRAUS

Zwischen Parlament und Prärogative – Monarchie und Verfassung in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert Die englische Monarchie scheint im Rahmen der heute bestehenden britischen Verfassungsordnung spätestens um die Wende zum 21. Jahrhundert zu einem eher marginalen Phänomen geworden zu sein; ihre allgemeine Popularität ist zwar immer noch groß, und sie stellt fraglos, wie der Politikwissenschaftler Anthony King vor einiger Zeit angemerkt hat, gegenwärtig und wohl auch weiterhin das sichtbarste Symbol nationaler Einheit dar. Gleichwohl bewege sie sich, so King weiter, im alltäglichen Leben doch eher auf der Ebene des „popular entertainment“ und der Touristenattraktion. Die heutige britische Verfassung sei im Grunde nur noch im rein formalen Sinne eine Monarchie, faktisch gesehen jedoch bereits eine Republik.1 Aus der kontinentaleuropäischen, vor allem aus der deutschen Perspektive ist es seit langem üblich geworden, die britische Verfassungsordnung seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als „parlamentarische Monarchie“ zu bezeichnen2, doch gerade dieser Begriff birgt eine Reihe oft übersehener oder in ihrer Bedeutung unterschätzter Probleme. In der einen Perspektive wurde und wird er offensichtlich verstanden als positiver Gegenbegriff zum deutschen Sondertyp der „konstitutionellen Monarchie“ – gelegentlich sogar in der vermeintlichen Abfolge einer Verfassungstypologie, die einen von der absoluten über die konstitutionelle bis hin zur parlamentarischen Monarchie, damit auch zur Demokratie modernen Typs führenden Weg institutioneller Modernisierung nachzeichnen zu können glaubt.3 1 Anthony King, The British Constitution, Oxford 2007, S. 341: „The United Kingdom today, although still a monarchy in form, is all but a republic in fact, with the monarch as a sort of unelected non-executive president with the added luxury (or burden) of life tenure“. – Zur allerneuesten Verfassungsentwicklung in Großbritannien siehe auch Vernon Bogdanor, The New British Constitution, Oxford 2009, S. 53 ff. u. passim. 2 So etwa: Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2001, S. 246, und immer noch Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 12. Aufl. München 2013, S. 60. 3 Dies wird zumindest angedeutet von Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 406 ff.

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Aber auch die andere Sichtweise, etwa bei Martin Kirsch, der in seiner bahnbrechenden Untersuchung „Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert“ schlüssig und in vergleichender Perspektive nachgewiesen hat, dass es sich bei der konstitutionellen Monarchie nicht um eine deutsche Sonderentwicklung, sondern um so etwas wie den weit verbreiteten „Normaltyp“ des europäischen Verfassungslebens in diesem Jahrhundert handelt4, kommt ohne den idealtypischen Gegensatz von „konstitutioneller“ und „parlamentarischer“ Monarchie bzw. von monarchischem und parlamentarischem Konstitutionalismus letztlich nicht aus.5 Das ist nicht nur insofern problematisch, als hier eine aus den spezifischen Problemen der kontinentaleuropäischen Verfassungsentwicklung erwachsene Fragestellung pauschal auf die britische politische Ordnung übertragen wird, sondern noch aus einem anderen wichtigen Grund. Denn es ist nicht zu übersehen, dass der Begriff der „parlamentarischen Monarchie“ kein Pendant in der englischen Sprache hat; weder in der staatsund verfassungsrechtlichen, noch in der verfassungshistorischen und politikwissenschaftlichen Literatur Großbritanniens zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert kommt die Wortprägung „parliamentary monarchy“, jedenfalls bezogen auf die moderne britische Verfassung, vor; verwiesen sei – neben den bekannten älteren Darstellungen von William Searle Holdsworth6, John A. Hawgood7 und David Lindsay Keir8 – nur auf die neuesten Standardwerke von Ian Loveland9 zum britischen „Constitutional Law“, von Brian Harrison10, Anthony King11 und Philipp Harling12 zur Geschichte und Gegenwart des modernen Verfassungsstaats in Großbritannien oder auch auf das sehr bedeutende, grundlegende Standardwerk „The Monarchy and the Constitution“ von Vernon Bogdanor13. Der Begriff der „parliamentary monarchy“ findet 4 Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäische Verfassungsform – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; vgl. dazu auch Hans-Christof Kraus, Monarchischer Konstitutionalismus. Zu einer neuen Deutung der deutschen und europäischen Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Der Staat 43 (2004), S. 595–620. 5 Vgl. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert (wie Fn. 4), S. 54 ff. u.a. 6 William Searle Holdsworth, A History of English Law, Bde. 1–16, Ndr. London 1966; zum 19. Jahrhundert (ab 1832) bes. Bd. 13, S. 247 ff. 7 John A. Hawgood, Modern Constitutions since 1787, London 1939. 8 David Lindsay Keir, The Constitutional History of Modern Britain since 1485, 9. Aufl. New York 1969. 9 Ian Loveland, Constitutional Law. A Critical Introduction, London 1996. 10 Brian Harrison, The Transformation of British Politics 1860–1995, Oxford 1996. 11 King, The British Constitution (wie Fn. 1). 12 Philip Harling, The Modern British State. An Historical Introduction, Cambridge 2001. 13 Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford 1997.

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sich bezeichnenderweise fast ausschließlich in Übertragungen deutscher verfassungstheoretischer und verfassungshistorischer Werke, etwa in der englischen Übersetzung von Carl Schmitts „Verfassungslehre“14. Fragt man nach der Selbstdarstellung und Selbstdeutung der monarchischen Verfassung Großbritanniens in den letzten beiden Jahrhunderten, dann findet man als Zentralbegriff den der „constitutional monarchy“, der durchaus nicht mit dem deutschen Begriff der konstitutionellen Monarchie übersetzt werden darf, sondern eher als „verfassungsgemäße Monarchie“. Bogdanor, der diesen Begriff im Kontext der neueren britischen Verfassungsgeschichte ausführlich expliziert, definiert ihn unter Berufung auf eine Formulierung Macaulays (der sie seinerzeit offensichtlich von Constant übernommen hatte) als „a state which is headed by a sovereign who reigns but does not rule“15; der Monarch herrscht, aber er regiert nicht16. Andere Autoren, die sich um eine verfassungshistorische und verfassungstheoretische Charakterisierung der neueren britischen Monarchie bemühen, wie etwa John A. Hawgood, beschreiben sie als „limited monarchy“17. Diese Konzeption einer „verfassungsgemäßen“ (constitutional) oder „eingeschränkten“ (limited) nach-absolutistischen Monarchie entspricht jedoch recht genau demjenigen, was von Martin Kirsch als verfassungsmäßiger Dualismus, als „Balancesystem von Monarch und Parlament“ bezeichnet und analysiert wurde18 und damit als ein Grundkennzeichen der auf dem europäischen Kontinent spätestens seit 1814/15 vorherrschenden konstitutionellen Monarchie anzusehen ist. Diesem „Monarchischen Konstitutionalismus (im weiteren Sinne)“ stellt Kirsch nun als partielle Sonderentwicklung, als verfassungsmäßigen Sonderweg des 19. Jahrhunderts den „parlamentarischen Konstitutionalismus“ gegenüber, der sich im Gegensatz zur konstitutionellen Monarchie durch „alleinige Herrschaft des Parlaments“ auszeichne. Nun aber

14 Carl Schmitt, Constitutional Theory, translated and edited by Jeffrey Seitzer, Durham/ N.C. 2008, bes. S. 313 ff. u.a. 15 Bogdanor, The Monarchy and the Constitution (wie Fn. 13), S. 1; das von Bogdanor genannte Macaulay-Zitat bei: Thomas Babington Macaulay, The History of England since the Accession of James the Second, Bd. 4, London 1855, S. 10: „According to the pure idea of constitutional royalty, the prince reigns and does not govern; and constitutional royalty, as it now exists in England, comes nearer than in any other country to the pure idea“. 16 Siehe dazu auch Lothar Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963, S. 199. 17 Hawgood, Modern Constitutions (wie Fn. 7), S. 155. 18 Vgl. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert (wie Fn. 4), S. 49 f.

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wird Großbritannien ab 1835/41 eben diesem letztgenannten Typus zugeordnet – als eine so bezeichnete „parlamentarische“ Monarchie.19 So nützlich und sinnvoll eine idealtypische Betrachtungsweise auch ist, – gelegentlich empfiehlt es sich doch, mit Otto Hintze den jeweiligen Realtypus noch einmal näher in den Blick zu nehmen20, vor allem dann, wenn die mit sehr weit gefassten Kategorien operierende idealtypische Betrachtungsweise die konkrete historische Realität wenigstens partiell zu verfehlen droht, worauf bereits die Tatsache verweist, dass es im Englischen die Gegenbegriffe einer „constitutional“ und einer „parliamentary monarchy“ nicht gibt. Oder, um es im Anschluss an die bereits zitierte Bemerkung von Bogdanor etwas anders zu formulieren: Wenn der konstitutionelle, verfassungsgemäß regierende Monarch derjenige ist, „who reigns but does not rule“, dann muss im Rahmen einer realtypisch vorgehenden Untersuchung erst einmal nach der genaueren Bedeutung und dem konkreten Umfang dessen gefragt werden, was mit dem Begriff „reign“ eigentlich umschrieben wird.

1. Deutungskontroversen Begibt man sich auf die Ebene der unterschiedlichen Deutungsversuche der englischen Verfassung und vor allem der Monarchie seit dem frühen 19. Jahrhundert, dann landet man rasch inmitten der Parteikämpfe der Epoche, die sich immer auch als Streitigkeiten um Begriffe und Auseinandersetzungen um Deutungshoheiten manifestierten – vor allem zwischen explizit konservativen und entschieden liberalen Positionen. Einige charakteristische Beispiele: Im Jahr 1831 stellte die damalige Führungsgestalt der Tories, der Herzog von Wellington, den Monarchen konsequent an die Spitze der englischen Institutionen: „In this Government the King is the head of everything. All the Power is in his hands. He is the head of the Church, the head of the law. Justice is administered in his name. He is the protector of the peace of the country, the head of the political negociations, and of its armed force – not a shilling of public money can be extended without his order and signature“. Gleichwohl könne der König – und das wiederum sei

19 Die Zitate ebd., S. 412 f. 20 Vgl. Otto Hintze, Max Webers Soziologie (1926), in: Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2: Soziologie und Geschichte, Hg. Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1982, S. 135–147, hier S. 146 f.

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die andere Seite der Medaille – nichts tun, das dem Gesetz widerspreche; jede Handlung des Monarchen stehe zudem unter der Kontrolle des Parlaments.21 Ein anderes Extrem wiederum vertrat der Begründer des „Manchesterliberalismus“, Richard Cobden, der in der bestehenden englischen Verfassung seiner Zeit nur eine absurde Komödie aus abgestandenen Traditionen und bedenklichen bis lächerlichen Ritualen erkennen zu können meinte. Als positives Gegenstück empfahl Cobden im Jahr 1838 ausgerechnet – die preußische Verfassung! „Prussia possesses the best government in Europe. I would gladly give up my taste for talking politics to secure such a state of things in England. Had our people such a simple and economical government, so deeply imbued with justice to all, and aiming so constantly to elevate mentally and morally its population, how much better would it be for the twelve or fifteen millions in the British Empire, who, while they possess no electoral rights, are yet persuaded they are freemen, and who are mystified into the notion that they are not political bondmen, by that great juggle of the ‚English Constitution‘ – a thing of monopolies, and Church-craft, and sinecures, armorial hocus-pocus, primogeniture, and pageantry!“22 Bezeichnenderweise fielen kontinentale – zumal deutsche – Urteile nicht selten genau umgekehrt aus: So rühmte schon im Jahr 1815 ausgerechnet Ernst Moritz Arndt das britische politische System ausdrücklich als vorbildliches „demokratisches“ Königtum23, während einige Jahrzehnte später der Vordenker der preußischen Konservativen, Friedrich Julius Stahl, die bestehende englische Verfassung nicht einmal mehr als Monarchie bezeichnen wollte, sondern in ihr nur noch eine verkappte Republik erkennen zu können meinte; der König von Großbritannien sei nurmehr „die berühmte Firma, unter der das englische Geschäft fortgeführt wird, obwohl die Inhaber dessel21 Duke of Wellington, House of Lords, 4.10.1831, Teilabdruck in: Cecil S. Emden (Hg.), Selected Speeches on the Constitution, Bde. 1–2, Oxford 1939, hier Bd. 2, S. 148–151, das Zitat S. 149. 22 John Morley, The Life of Richard Cobden, London 1903, S. 130; vgl. auch Carl Brinkmann, Richard Cobden und das Manchestertum, Berlin 1924, S. 11 f. (Einleitung). 23 Ernst Moritz Arndt, Die Aristokratie (1815), in: Ders., Staat und Vaterland. Eine Auswahl aus seinen politischen Schriften, Hg. Erich Müsebeck, München 1921, S. 33–42, hier S. 40 f.: „In einem rechten Königtume wird Demokratie und Aristokratie immer gemischt sein; denn weil es ein Zustand der Freiheit und nicht ein Zustand der Tyrannei oder der Wildheit sein soll (wie Despotie, Oligarchie, erbliche Aristokratie und reine Demokratie oder Ochlokratie sind) so muß Leben und Kampf in ihm sein, d.h. die demokratischen Kräfte müssen miteinander kämpfen. Doch schließt ein rechtes Königtum weit mehr Demokratie als Aristokratie in sich: d.h. es ist unter dem Schirm und der Majestät des Königs und Gesetzes die Herrschaft des Volkes, so daß jedem Würdigsten, sei er der Sohn eines Herzogs oder Tagelöhners, jede höchste Ehre offen steht. Ein solches Königtum mit überwiegendem demokratischen Stoffe ist Großbritannien“.

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ben längst andere geworden sind“. Die Einheit des staatlichen Willens stelle sich hier „eben in der Weise dar, daß das Volk (die parlamentarische Majorität) dem König seinen Willen immer aufnöthigt, nie aber sich nach des Königs Willen bestimmen läßt“24. Immerhin sollte mit diesen Formulierungen, wie Stahl gleich anschließend feststellte, „nicht der geringste Tadel über die englische Verfassung ausgesprochen werden, die im Ganzen genommen die großartigste und befriedigendste in Europa ist, denn dort hat sich diese Stellung des Königs allmählig aus natürlichen Ursachen ergeben, und dieselben Elemente, welche dort die Königliche Gewalt zurückgedrängt haben, geben auch wieder einen Ersatz für dieselben. Warum sollte nicht auch eine Republik, insbesondere eine also monarchisch temperirte Republik, eine herrliche Einrichtung sein, wo sie der Uranlage und den späteren Schicksalen des Staats entspricht und unter einem der Republik fähigen Volke besteht!“25 Als ein solches „der Republik fähiges“ Volk wollte Stahl seine deutschen Landsleute freilich nicht sehen. Aus liberal-anglophiler Perspektive wurde dieser Stahlschen Auffassung wiederum, auch mit Blick auf die englische Verfassungswirklichkeit der Mitte des 19. Jahrhunderts, entschieden widersprochen – so etwa in der dritten Auflage des Rotteck-Welckerschen „Staats-Lexikons“: Gebe man einmal zu, heißt es dort in dem von einem Ungenannten (er zeichnet „G.“) verfassten Artikel „Parteien“26, „daß der Königsgewalt gesetzliche Schranken gezogen werden sollen, so kann man sich auch der Consequenz nicht entschlagen, daß er nöthigenfalls auch muß gezwungen werden können, innerhalb derselben zu verharren“. Diese Grenze sei in Großbritannien „seit langem so genau gezogen, daß sie weder übersehen oder aus Unkunde überschritten werden kann. Sollte in unserer Zeit ein König von England den unsinnigen Versuch machen, in die parlamentarischen Befugnisse einzugreifen, … so würde allerdings nicht ein bewaffneter Aufstand erfolgen, aus dem einfachen Grunde nämlich, weil kein Engländer es wagen würde, den Befehlen des Königs in solchem Falle zu gehorchen, und keine Hand sich erheben würde, um ihn bei einer versuchten 24 Die Zitate: Friedrich Julius Stahl, Was ist ein constitutioneller König?, in: Ders., Die Revolution und die constitutionelle Monarchie, eine Reihe ineinandergreifender Abhandlungen, Berlin 1848, S. 45–82, hier S. 55. 25 Ebd., S. 58. 26 G.: „Parteien (politische)“, in: Das Staats-Lexikon. Encyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. In Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands hg. v. Karl von Rotteck/Karl Welcker, 3. Aufl., Bd. 11, Leipzig 1864, S. 311–327; Verfasser des Artikels könnte – manches spricht dafür – Rudolf Gneist gewesen sein, wenn auch die einschlägige Forschung (etwa: Erich J. Hahn, Rudolf von Gneist 1816–1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit, Frankfurt a.M. 1995) hierüber derzeit nichts sagen kann.

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gewaltsamen Durchführung zu unterstützen“. Dem britischen Monarchen sei es daher „nicht blos rechtlich, sondern auch physisch unmöglich, einen derartigen gesetzwidrigen Willen zur Ausführung zu bringen“27. Schon diese sehr wenigen Beispiele – sie könnten beliebig vermehrt werden – zeigen, wie stark sehr viele und vielleicht die meisten zeitgenössischen Einschätzungen und Deutungen von bestimmten politischen Lagen und den sich hieraus ergebenden Gegenwartsinteressen der damaligen Epoche beeinflusst waren. Sie lassen deshalb kaum einen Rückschluss mehr zu auf die eigentlichen Funktionen und Mechanismen sowie vor allem auf die konkreten und seinerzeit noch real vorhandenen Machtpotentiale der britischen Monarchie im Rahmen der damals bestehenden Verfassungsordnung.

2. Verfassungsevolution Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass eine idealtypisch vorgehende Betrachtungsweise, die eine konstitutionelle Monarchie als Machtdualismus zwischen Parlament und Krone definiert, eine parlamentarische Monarchie dagegen als vermeintlich reine Parlamentsherrschaft, und die auf dieser Grundlage auch die neuere britische Verfassungsentwicklung seit etwa 1835 deuten und erklären möchte, wesentlich zu kurz greift. Deshalb empfiehlt es sich, noch einmal einige bis ins 20. Jahrhundert hinein gültige Grundelemente des britischen Souveränitäts- und Verfassungsverständnisses kurz in den Blick zu nehmen. Das wohl gravierendste Argument gegen die dualistische Betrachtungsweise, die der (deutschen) Unterscheidung zwischen konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie zugrunde liegt (also dem Dualismus zwischen Monarch und Volksvertretung), findet sich in einem Kernelement des traditionellen britischen Verfassungsrechts, nämlich im souveränen „King in Parliament“. Der amerikanische Verfassungs- und Rechtshistoriker Abbott Lawrence Lowell, einer der besten Kenner des britischen Verfassungsrechts um 1900, hat es in seinem Standardwerk zur englischen Verfassung von 190828 folgendermaßen formuliert: „Die ganze gesetzgebende Gewalt ruht bei dem ‚King in Parliament‘, d. h. bei dem König in Gemeinschaft mit den beiden Parlamentshäusern. Rechtlich erfordert jedes Gesetz königliche Zustimmung; 27 Die Zitate: G.: „Parteien (politische)“ (wie Fn. 26), S. 320; insofern sei, fährt der Verfasser fort, „Stahl’s Lehre von gesetzlichen und dauernden Schranken des Königthums und von der Unzulässigkeit des Widerstandes … in keiner Weise vereinbar“ (ebd., S. 321). 28 Abbott Lawrence Lowell, Die englische Verfassung, Bde. 1–2, Leipzig 1913.

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und in der Tat können die Häuser des Parlaments ihre Verhandlungen nur führen, solange es dem König gefällt, der sie zusammenruft und vertagt und zu jeder Zeit das Haus der Gemeinen auflösen kann“. Auch die „gesamte Exekutivgewalt“ werde, so Lowell, „ob sie nun auf Gesetz beruht oder ob sie einen Teil der Prärogative bildet, im Namen des Königs ausgeübt und kraft seiner Autorität“29. Schon diese knappe Vergegenwärtigung des „King in Parliament“ entspricht durchaus nicht demjenigen, was im allgemeinen unter einer modernen „parlamentarischen Monarchie“ verstanden wird. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die königliche „Prärogative“, womit die traditionellen, historisch verbürgten und überkommenen Kronrechte gemeint sind. Schon Walter Bagehot, der vermutlich einflussreichste Deuter der englischen Verfassung im 19. Jahrhundert30, bemerkte einmal – obwohl er die Krone bekanntlich gerade nicht zu den „efficient parts“ der Verfassung zählte – in der Vorrede zur 1872 erschienenen 2. Auflage seines Klassikers „The English Constitution“, viele Leute wären sehr überrascht, wenn sie erführen, was die Königin „rechtmäßig und ohne das Parlament zu fragen“ tun könnte. Von anderen Dingen abgesehen, könnte sie etwa das Heer auflösen und allen Offizieren den Abschied geben; sie könnte auch alle Matrosen aus dem Dienst entlassen, alle britischen Kriegsschiffe und Marinevorräte verkaufen; sie könnte Frieden schließen und „dafür Cornwall opfern und einen Krieg zur Eroberung der Bretagne beginnen“. Sie könnte jeden Bürger des Vereinigten Königreichs, Mann oder Frau, durch Verleihung der Peerswürde ins House of Lords berufen, in jeder Gemeinde des Vereinigten Königreichs eine Universität errichten; dazu könnte sie die meisten Beamten entlassen, schließlich auch alle Straffälligen begnadigen. Mit einem Wort könnte die Monarchin auf Grund ihrer Prärogativrechte, wenn sie wollte, „die gesamte Regierungstätigkeit zum Erliegen bringen“ – auch wenn dies faktisch kaum geschehen werde.31 29 Die Zitate ebd., Bd. 1, S. 19 f. 30 Siehe zur Bedeutung Bagehots für die Entwicklung der liberalen englischen Verfassungsdeutung etwa Franz Nuscheler, Walter Bagehot und die englische Verfassungstheorie, Meisenheim am Glan 1969, neuerdings auch Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. III/3: Die politischen Strömungen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2008, S. 90 ff.; zur Entstehung des Werkes immer noch Mrs. Russell Barrington [Emilie Isabel Barrington], Life of Walter Bagehot, London 1914, S. 377 ff., zur neueren Rezeption in Großbritannien vor allem Harrison, The Transformation of British Politics (wie Fn. 10), S. 13–53. 31 Walter Bagehot, The English Constitution, 4. Aufl. London 1885, S. vii-lxxiv („Introduction to the second edition”), hier S. xxxviii: „… this is nothing to what the Queen can by law do without consulting Parliament. Not to mention other things, she could disband the army …; she could dismiss all the officers, from the General Command-

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Diese Bemerkungen verweisen bereits auf die monarchische Prärogative, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vor allem deshalb eine so große Bedeutung hatte, weil eine die königlichen Machtbefugnisse genau festlegende und abgrenzende Verfassungsurkunde fehlt. Die wichtigsten Prärogativrechte oder Prärogativbefugnisse der britischen Krone, entstanden im Laufe der manchmal jahrhundertelang sich vollziehenden Herausbildung von Verfassungskonventionen32, waren um 1900 zuerst und vor allem33: 1. das Recht zur Vertretung des Staates nach außen im Sinne der Unterhaltung diplomatischer Beziehungen zu anderen Staaten, während hingegen die meisten Verträge mit anderen Mächten dem Parlament vorgelegt und von diesem genehmigt werden mussten. 2. die oberste Kommando- und Kriegsgewalt, d.h. das Recht zur Kriegserklärung, Kriegführung und zum Friedensschluss, ebenfalls das Recht zur Verhängung eines Embargos oder auch zur Proklamation außenpolitischer Neutralität des Landes im Rahmen eines internationalen Konflikts. 3. das Recht der Gerichtsorganisation und der Begnadigung; d.h. dem Monarchen stand es zu, neue Gerichte zu schaffen, allerdings nur insoweit den britischen Untertanen damit keine neuen Geldlasten auferlegt wurden und das bestehende Recht nicht abgeändert wurde (was um 1900 faktisch vor allem für die innere Organisation der Kolonien wichtig war; auch das Recht zur Begnadigung von Straftätern unterlag gewissen Beschränkungen). 4. gehörte zur königlichen Prärogative auch die Oberhoheit über die anglikanische Staatskirche, die u. a. ein „umfassendes Besetzungsrecht von kirch-

ing-in-Chief downwards; she could dismiss all the sailors too; she could sell off all our ships of war and all our naval stores; she could make a peace by the sacrifice of Cornwall, and begin a war for the conquest of Brittany. She could make every citizen in the United Kingdom, male or female, a peer; she could make every parish in the United Kingdom a ‚university‘; she could dismiss most of the civil servants; she could pardon all offenders. In a word, the Queen could by prerogative upset all the action of civil government within the government, could disgrace the nation by a bad war or peace, and could, by disbanding our forces, whether land or sea, leave us defenceless against foreign nations“. 32 Allgemein hierzu, aus der Fülle der Literatur: Karl-Ulrich Meyn, Die Verfassungskonventionalregeln im Verfassungssystem Großbritanniens, Göttingen 1975; Loveland, Constitutional Law (wie Fn. 9), S. 331 ff. 33 Das Folgende nach: Julius Hatschek, Das Staatsrecht des vereinigten Königreichs Grossbritannien-Irland, Tübingen 1914, S. 94 ff.; ausführlichere, überaus detaillierte Darstellung auch ders., Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bde. 1–2, Tübingen 1905–1906, hier Bd. 1, S. 621 ff.; sehr knapp dagegen: Lowell, Die englische Verfassung (wie Fn. 28), Bd. 1, S. 18 ff.

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lichen Pfründen und Aemtern“34 enthielt sowie ein teilweise vom Parlament völlig unabhängiges Verordnungs- und Gesetzgebungsrecht für die Kirche; zudem war der Monarch oberster Richter in kirchlichen Streitsachen.35 5. eröffnete, vertagte und schloss die Krone offiziell auf der Grundlage ihrer Prärogative das Parlament, das sie im gegebenen Fall auch auflösen konnte. 6. war die Krone an der Gesetzgebung unmittelbar wenigstens dadurch beteiligt, dass neue Gesetze erst durch „Royal assent“ in Kraft treten konnten. Das nach traditioneller Auffassung der Krone eigentlich zustehende Vetorecht, zum letzten Mal von Königin Anna im Jahr 1707 ausgeübt36, bestand um 1900 de facto und de jure nicht mehr; die Nichtausübung dieses Rechts durch die Krone seit fast zwei Jahrhunderten etablierte eine neue Verfassungskonvention, die in ihrer Konsequenz allerdings die Rechte der Krone erheblich einschränkte. 7. verfügte die Krone seit einem Gesetz Heinrichs VIII. aus dem Jahr 1539 über das Recht der „peerage“, d.h. der Versendung von „Einberufungsschreiben zum Oberhaus“, um britische Untertanen auf diesem Wege zur Peerwürde zu erheben – dies war um 1900 noch ein wesentliches und gegebenenfalls – durch die Möglichkeit eines „Peersschubes“ – auch unmittelbar politisch wichtiges Prärogativrecht.37 Weitere traditionell überkommene, in jener Zeit aber bereits weniger wichtige Prärogativrechte umfassten etwa die königliche Leitung der Handels- und Wirtschaftspolitik (d. h. das Recht, Häfen zu errichten oder die Abhaltung von Messen und Märkten zu genehmigen), das Recht des Monarchen, als parens patriae, d. h. als Obervormund über alle Waisen und Geisteskranken zu fungieren, oder auch das traditionelle Recht als Obereigentümer des gesamten Grund und Bodens in England (mit Ausnahme allerdings der öffentlichen Wege). Es versteht sich, dass diese Prärogativrechte im Verlauf des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts nur noch partiell oder allenfalls in symbolischer Form ausgeübt wurden und damit nur noch einige von ihnen faktische politische Bedeutung besaßen. Immerhin konnten diese Rechte als Machtresiduen der Krone angesehen werden, die – wenn sie bei passender Gelegenheit nur ge34 Hatschek, Das Staatsrecht des vereinigten Königreichs (wie Fn. 33), S. 98. 35 Hatschek betont (ebd., S. 97), dass der britische Monarch jedoch keineswegs als summus episcopus anzusehen sei, da er nach gegenwärtig herrschender Rechtsüberzeugung „keine spirituellen Funktionen auszuüben“ habe. 36 Vgl. Keir, The Constitutional History of Modern Britain (wie Fn. 8), S. 297; die Königin verweigerte damals einer „Scotch Militia bill“ des Parlaments ihre Zustimmung. 37 Vgl. Hatschek, Das Staatsrecht des vereinigten Königreichs (wie Fn. 33), S. 47 ff.

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schickt genug eingesetzt wurden – immer noch keineswegs unerhebliche Möglichkeiten einer diskreten Einflussnahme auf zentrale politische Entscheidungen boten.

3. Machtpotentiale Eine Deutung der britischen Verfassungsentwicklung, die im Verlust der Möglichkeit zur unmittelbaren Berufung des Premierministers durch die Krone zwischen 1835 und 1841 den Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie (und damit das Abweichen der englischen Entwicklung vom kontinentalen Weg) klar markieren zu können meint38, überschätzt einerseits die Bedeutung dieser traditionell zwar vorhandenen, politisch jedoch im Grund nicht mehr wirklich entscheidenden Befugnis, und sie übersieht andererseits die trotz allem immer noch und weiterhin bestehenden, keineswegs geringen Möglichkeiten königlichen Einflusses auf die Regierungsbildung und die politischen Entscheidungen. Endlich übersieht sie ebenfalls den von Kennern immer wieder betonten „fluiden“, d. h. sich ständig ändernden Charakter der eben nicht durch ein einheitliches Verfassungsgesetz oder eine Verfassungsurkunde nach kontinentaleuropäisch-nordamerikanischem Muster konstituierten Verfassungsordnung. Die britische Verfassung war und ist eine „constitution in flux“39. Das bedeutet, dass man im Rahmen einer Analyse der britischen Verfassungsordnung in historischer Perspektive deutlicher differenzieren und stärker am konkreten Fall orientiert argumentieren muss. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass die erste große Wahlreform von 1832, durch welche die Basis des aktiven und passiven Wahlrechts zum Unterhaus 38 Siehe neben Kurt Kluxen, Geschichte Englands, 4. Aufl. Stuttgart 1991, S. 561 f., vor allem Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert (wie Fn. 4), S. 54 f. 39 Philipp Norton, The Constitution in flux, 4. Aufl. Oxford 1988, S. 9: „An inflexible (or, in Bryce’s term, ‚rigid‘) constitution is one which stipulates extraordinary procedures for amendment. A flexible constitution is one that requires no special procedure for amendment; in other words it can be amended by the same procedures as for non-constitutional law. … Britain … has a flexible constitution. The provisions of the constitution are not entrenched. Statute law which merits the nomenclature of constitutional law can be amended (and, indeed, repealed) in the same way as all other statute law. Common law can be modified or replaced by statute law and there are no special provisions governing the determination or amending of conventions or, for the matter, assertions advanced by works of authority“; ähnlich auch Kingsley Martin, Britain in the Sixties. The Crown and the Establishment, Harmondsworth 1963, S. 67: „The British Constitution is fluid; the nominal powers of the Monarch are large and the zone of discretion undefined. In practice the powers of the King are limited by precedent and by the lessons of history – from Charles I downwards“.

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entschieden vergrößert wurde, eine Verlagerung der vorhandenen Machtpotentiale von der Krone hin zum House of Commons bzw. zum eigentlichen Cabinet Government40 zur Folge hatte. Die Anführer der jeweils stärksten Partei konnten für sich selbst nun mit deutlich größerem Gewicht als bisher das Anrecht auf die politische Führerschaft im Land geltend machen – und zwar weitgehend (aber eben auch noch nicht vollständig) unabhängig von den politischen Sympathien des jeweiligen Trägers der Krone. König Wilhelm IV. musste dies in den Jahren 1834/35 erfahren, als er nach dem Rücktritt Lord Melbournes eine Tory-Regierung unter Sir Robert Peel zu bilden versuchte; Peel jedoch verfügte über keine Mehrheit im Unterhaus, und die hierdurch notwendig gewordenen Neuwahlen im folgenden Jahr brachten den Torys keine Mehrheit; die Folge war, dass der auf Wunsch des Königs ernannte Peel zurücktreten musste.41 Victoria erging es schon in den ersten Jahren nach ihrer Thronbesteigung ähnlich: Sie versuchte 1839 den von ihr geschätzten Melbourne auch als Chef einer Minderheitsregierung gegen Peel im Amt zu halten, als Peel von der Monarchin verlangt hatte, einige einflussreiche, der Whig-Partei und Melbourne nahestehende Hofdamen zu entlassen (die sog. „Bedchamber Crisis“). Victoria weigerte sich erst, musste sich im Jahr 1841 jedoch – angesichts des Wandels der Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus zugunsten der Konservativen – den Wünschen Peels fügen, die liberalen Hofdamen entlassen und Peel ins Amt des Regierungschefs berufen.42 Gleichwohl blieb der Krone auch anschließend noch, worauf mit Recht hingewiesen worden ist43, ein erheblicher politischer Spielraum zur Einflussnahme auf politische Entscheidungen. „There is another powerful and most beneficial influence which is also exercised by the Crown”, betonte etwa Benjamin Disraeli 1872 in einer seiner berühmtesten Reden, in der er den – in seiner Sicht höchst notwendigen – indirekten, gleichwohl oft sehr wirkungsvollen monarchischen Einfluss auf das vorhandene britische „parliamentary government“ deutlich herausstrich. Vor allem wies er darauf hin, dass der Einfluss eines Königs oder einer Königin bei langdauernder Regentschaft und zugleich mit zunehmender Regierungserfahrung noch weiter ansteigen müsse, nicht zuletzt auch deshalb, weil er imstande sei, Kontinuität herzustellen.44 – Dazu 40 Wichtige Analyse noch immer: Ivor Jennings, Cabinet Government, Cambridge 1936. 41 Hierzu statt vieler: Llewellyn Woodward, The Age of Reform 1815–1870, 6. Aufl. Oxford 1985, S. 97 ff. 42 Vgl. ebd., S. 105 f.; Harold J. Hanham (Hg.), The Nineteenth-Century Constitution 1815–1914. Documents and Commentary, Cambridge 1969, S. 44 f. 43 Vgl. Bogdanor, The Monarchy and the Constitution (wie Fn. 13), S. 61 ff. 44 Benjamin Disraeli, Manchester Speech, 3.4.1872, in: Hanham (Hg.), The Nineteenth-Century Constitution (wie Fn. 42), S. 37–39 (Auszug), hier S. 38 f.: „I know

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machte sich der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weiterhin verbleibende Einfluss der Krone ebenfalls in der Ausübung der drei zentralen Rechte des Monarchen im Rahmen der britischen „constitutional monarchy“ geltend, auf die bereits Bagehot hingewiesen hatte: das Recht konsultiert zu werden, das Recht zu ermutigen und das Recht zu warnen.45 Diese drei Rechte konnten in der Tat auf sehr unterschiedliche Weise ausgeübt und zur Geltung gebracht werden. Dazu gehörte u.a. die königliche Einflussnahme auf das politische Geschehen in der Situation unklarer Mehrheitsverhältnisse und hieraus resultierender Probleme bei der Bildung eines „cabinet government“ im Unterhaus. In der Zeit gespaltener Parteien (etwa nach dem Auseinanderbrechen der Konservativen in der Kornzoll- und Freihandelsfrage der 1840er Jahre oder der Spaltung der Liberalen im Streit um die irische „Home rule“ in den 1880er Jahren) war der Einfluss der Krone auf die Versuche einer neuen Regierungsbildung erheblich, denn Königin Victoria konnte den Gang der Dinge nicht nur durch ihr Recht, eine Regierung zu entlassen, sondern ebenfalls durch die Reihenfolge lenken, in der sie die führenden Parteipolitiker zu Beratungen am Hof einbestellte, um alle Chancen für einen Ausweg aus der Regierungskrise zu nutzen. Manchmal gelang es bei diesen Gelegenheiten sogar, auch die Entlassung einzelner, der Krone missliebiger Minister durchzusetzen; so musste it will be said, gentlemen, that, however beautiful in theory, the personal influence of the Sovereign is now absorbed in the responsibility of the minister. I think you will find there is great fallacy in this view. The principles of the English Constitution do not contemplate the absence of personal influence on the part of the Sovereign; and if they did, the principles of human nature would prevent the fulfillment of such a theory … From the earliest moment of his accession that Sovereign is placed in constant communication with the most able statesmen of the period, and of all parties … Information and experience, gentlemen, whether they are possessed by a Sovereign or by the humblest of his subjects, are irresistible in life … The longer the reign, the influence of that Sovereign must proportionately increase. All the illustrious statesmen who served his youth disappear. A new generation of public servants rises up. There is a critical conjuncture in affairs – a moment of perplexity and peril. Then it is that the Sovereign can appeal to a similar state of affairs that occurred perhaps thirty years before. When all are in doubt among his servants he can quote the advice that was given by the illustrious men of his early years, and though he may maintain himself within the strictest limits of the Constitution, who can suppose when such information and such suggestions are made by the most exalted person in the country that they can be without effect? No gentlemen; a minister who could venture to treat such influence with indifference would not be a Constitutional minister, but an arrogant idiot“. Zur allgemeinen und politischen Bedeutung dieser Rede siehe auch die Bemerkungen bei Robert Blake, Disraeli, London 1966, S. 522 ff. 45 Bagehot, The English Constitution (wie Fn. 31), S. 75: „To state the matter shortly, the sovereign has, under a constitutional monarchy such as ours, three rights – the right to be consulted, the right to encourage, the right to warn. And a king of great sense and sagacity would want no others”.

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etwa der von der Königin und ihrem Prinzgemahl ausgesprochen kritisch beurteilte Palmerston im Rahmen der innenpolitischen Krise von 1851 sein Amt als Außenminister räumen.46 Letzten Endes gestaltete sich der Einfluss der Krone also umgekehrt proportional zur Stärke der jeweils regierenden Parteien und politischen Kräfte im Unterhaus, denn sobald stabile Mehrheitsverhältnisse herrschten, war das vermittelnde und regulierende Eingreifen der Krone weder gefragt noch überhaupt notwendig.47 Auch im Rahmen der äußerst heftigen Auseinandersetzungen um sehr umstrittene innen- und verfassungspolitische Veränderungen, etwa um die zweite Wahlreform von 186748, oder um die Durchsetzung der sog. „Irish Church Bill“ ein Jahr später49, konnte die Königin vermittelnd und moderierend – dabei stets ebenfalls in ihrem Sinne und im Interesse der Krone agierend – eingreifen und den Gang der Dinge wesentlich mitbestimmen; dies blieb übrigens auch im Ausland nicht unbemerkt.50 Auch außenpolitische Einflussnahmen waren wenigstens im Rahmen der äußerst aktiven und politisch in dieser Zeit noch keinesfalls bedeutungslosen innerfamiliären Kommunikationsnetze der europäischen Monarchien möglich; erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die deutliche briefliche Zurechtweisung des deutschen Kaisers Wilhelm II. durch seine Großmutter Victoria nach der Affäre um das sog. „Krüger-Telegramm“ im Jahr 1896.51 Im Grunde genommen hat eine der entscheidenden Prärogativen der britischen Krone, das Recht zur Ernennung neuer Peers, erst im Jahr 1911 seine Bedeutung verloren – und zwar paradoxerweise gerade dadurch, dass ihre Anwendung angedroht wurde. Politischer Hintergrund war die Blockade der sozialen und finanziellen Reformgesetzgebung der liberalen Regierung Asquith durch das Oberhaus, das immer noch über die Möglichkeit des Vetos in 46 Vgl. Frank Eyck, Prinzgemahl Albert von England. Eine politische Biographie, Erlenbach/Zürich 1961, S. 212 ff.; die wichtigsten Dokumente zur „cabinet crisis“ (Februar/ März 1851) in: English Historical Documents, Bd. IX: 1833–1874, Hg. G.M. Young/ W.D. Handcock, London 2002, S. 64 ff. 47 Vgl. Hanham (Hg.), The Nineteenth-Century Constitution (wie Fn. 42), S. 29. 48 Vgl. English Historical Documents, Bd. IX (wie Fn. 46), S. 85 ff. 49 Vgl. ebd., S. 88 ff. 50 Siehe dazu den aufschlussreichen, zuerst 1878 in den „Preußischen Jahrbüchern“ erschienenen Beitrag von Hans Delbrück, Die Monarchie in England, in: Ders., Historische und politische Aufsätze, Berlin 1887, S. 149–165, der eindringlich darauf hinweist, es habe sich „herausgestellt, daß der Einfluß der Krone in England von allen Autoritäten des englischen Staatsrechts, einheimischen und fremden, bisher merkwürdig unterschätzt worden ist“ (S. 158). 51 Vgl. English Historical Documents, Bd. X: 1874–1914, Hg. W.D. Handcock, London 2003, S. 40 (Victoria an Wilhelm II., 5.1.1896).

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der Legislative verfügte. Die hierdurch ausgelöste schwere Staats- und Verfassungskrise der Jahre 1909 bis 191152, die auch im Rahmen mehrerer Unterhausneuwahlen nicht bereinigt werden konnte, steuerte letzten Endes auf eine Entmachtung der immer noch vom konservativen Adel dominierten oberen Kammer des Parlaments hin. Denn die einzige sich in dieser Zeit bietende Möglichkeit, das widerstrebende Oberhaus zur Zustimmung zu bestimmten, hochumstrittenen Gesetzesvorlagen der Regierung zu bewegen, bestand in letzter Konsequenz darin, das absolute Veto dieser Kammer wenigstens in ein aufschiebendes Veto umzuwandeln, – jedoch auch diese Maßnahme musste in der Form eines Gesetzes, d.h. mit Zustimmung einer Mehrheit des Oberhauses beschlossen werden. Da das Oberhaus zum Beschluss seiner eigenen Entmachtung allerdings kaum zu bewegen war, blieb nur eines übrig: Der König – in diesem Fall Eduard VII. – musste die Aufgabe übernehmen, das Oberhaus hierzu zu zwingen. Nur er verfügte über das Recht zur Ernennung von Peers, und nur durch einen solchen „Pairsschub“ hätten die Mehrheiten im Oberhaus grundlegend – hier also im Sinn der liberalen Regierung – geändert werden können. Doch der König, obwohl von der Regierung und der Mehrheit des Unterhauses massiv bedrängt, zögerte mit einer solchen Entscheidung: Denn würde er das Oberhaus tatsächlich zwingen, sich selbst zu entmachten, indem es sein bisher absolutes Vetorecht in der Gesetzgebung gegen ein nur noch aufschiebendes eintauschte, verzichtete er auf einen bedeutenden Teil der ihm bisher noch verbliebenen Prärogativen der britischen Krone; im Grunde entmachtete er sich auf diese Weise zugleich selbst. Denn welche wirkliche politische Bedeutung sollte das Recht zur Ernennung neuer Peers dann noch besitzen, wenn das House of Lords selbst in seiner zentralen Befugnis entmachtet war? Auf dem Höhepunkt der Krise, im Mai 1910, starb Eduard VII.; ihm folgte sein junger, politisch unerfahrener Sohn als König Georg V. auf den Thron, und der neue Monarch konnte dem massiven Druck, der von allen Seiten, vor allem vom liberalen Premierminister Herbert Henry Asquith, auf ihn ausgeübt wurde, nicht mehr standhalten53: Auf Georgs Drohung mit einem Pairsschub gab das Oberhaus endlich nach und stimmte 1911 der „Parliament Bill“ zu. 52 Ausführlich hierzu Keir, The Constitutional History of Modern Britain (wie Fn. 8), S. 482 ff.; Robert C.K. Ensor, England 1870–1914, Oxford 1985, S. 414 ff.; als immer noch wichtige, auch literarisch brillante Gesamtdarstellung darf gelten: Roy Jenkins, Mr. Balfour’s Poodle. People v. Peers (1954), Basingstoke 1999; wichtige Quellen hierzu in: English Historical Documents, Bd. X (wie Fn. 51), S. 41 ff. 53 Dazu ausführlich und detailreich Harold Nicolson, Georg V., München 1954, S. 133 ff.; Jenkins, Mr. Balfour’s Poodle (wie Fn. 52), S. 173 ff.; Bogdanor, The Monarchy and the Constitution (wie Fn. 13), S. 113 ff.

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Damit aber war nicht nur die zentrale politische Befugnis des House of Lords faktisch ausgehebelt, indem seine wichtige Funktion im Rahmen der Gesetzgebung verlorengegangen war54, sondern der König hatte sich gleich selbst endgültig mit entmachtet, denn sein Prärogativrecht zur Ernennung von Peers musste logischerweise genau in dem Augenblick seine reale politische Bedeutung verlieren, in dem auch das Oberhaus seine wichtigste gesetzgeberische Befugnis – im gegebenen Fall eben auch einmal gegen ein Gesetz sein Veto einlegen zu können – aufgab. Seitdem hat sich auch der Charakter der britischen Monarchie gewandelt: Georg V. war der erste Monarch, der sein Amt fortan ausdrücklich überparteilich, d.h. nurmehr in der Form der Wahrnehmung fast ausschließlich repräsentativer Aufgaben versah; mit ihm rückte die symbolische Funktion der Monarchie in den Mittelpunkt, d.h. die Funktion, zuerst und vor allem das Symbol der Einheit von Volk, Königreich und Empire darzustellen. „Der einfache Bürger gewöhnte sich daran“, so formulierte es Harold Nicolson in seiner „offiziellen“ Biographie dieses Königs, „in König George den Vater seines Volkes und das idealisierte Spiegelbild seiner eigenen nationalen Tugenden zu sehen“55.

4. Eine „fluide“ Verfassung Werfen wir noch einen Blick zurück in das 19. Jahrhundert und fragen, auf welche Weise die von Bagehot hervorgehobenen drei wesentlichen in dieser Zeit noch verbliebenen Rechte der britischen Monarchie – also das Recht konsultiert zu werden, das Recht zu ermutigen und das Recht zu warnen56 – denn überhaupt in angemessener Form und mit Erfolg ausgeübt werden konnten. Immerhin muss in diesem Zusammenhang noch einmal die Tatsache hervorgehoben werden, dass gerade das Fehlen einer Verfassungsurkunde mit exakten Festlegungen und Eingrenzungen der Rechte der vorhandenen politischen Institutionen, also die „fluide“ Verfassung, die „constitution in flux“57, gelegentlich bemerkenswerte Handlungsspielräume eröffnen konnte. 54 Das nunmehr geltende „suspensive Veto“ des Oberhauses erforderte für eine regierungskritische Politik des House of Lords tatsächlich in noch stärkerem Maße als vorher ein strikt taktisches Vorgehen, d. h. „vorsichtiges Manövrieren, genaue Zeitkalkulation hinsichtlich der Parlamentstechnik und vor allem Beurteilung der Volksstimmung, um den Grad des Widerstands zu ermessen, den man riskieren kann“, so treffend Walter Kahnt, Oberhausreform und Referendum, Leipzig 1929, S. 37. 55 Nicolson, Georg V. (wie Fn. 53), S. 130; zum „offiziellen“ Charakter dieser Lebensdarstellung siehe die Bemerkung des Autors ebd., S. V–VIII (Vorwort). 56 Siehe oben, Fn. 45. 57 Siehe oben, Fn. 39.

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Nicht zuletzt hierin drückt sich die Veränderungs- und Anpassungsfähigkeit aus, „the monarchy’s flexibility as an institution“58, die sicher als eine besonders charakteristische Eigenschaft gerade der britischen Monarchie angesehen werden kann. Der Verfassungshistoriker Harold J. Hanham hat zutreffend hervorgehoben, dass die britischen Monarchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, um eben diese Handlungsspielräume für die Krone zu erhalten, gelegentlich bemerkenswerte Aktivitäten entfaltet haben: „... every monarch from George IV to Edward VII had policies of his own, and wished to play a distinctive part in the shaping of political decisions“59. Besonders drei Aspekte waren in diesem Zusammenhang – abgesehen von der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immens gestiegenen Bedeutung der Monarchie „as the chief symbol of the new cult of imperialism“60 – wichtig: 1. die Einbeziehung fähiger und vor allem gut informierter Berater mit möglichst exzellenten Verbindungen zu den wichtigsten politischen Entscheidungsträgern in den Prozess der monarchischen Orientierung über die Lage und die hieraus folgenden Versuche einer Einflussnahme des Monarchen auf die politische Entscheidungsfindung; 2. die möglichst gründliche Beseitigung informeller Hintertreppeneinflüsse („backstairs influence“) oder aus Sicht der Regierung und ebenfalls der Öffentlichkeit unerwünschter politischer Zuträger auf die politische Meinungsbildung bei Hofe, ebenfalls die Marginalisierung von Hofintrigen und Gesellschaftsklatsch, die sich andernfalls u. U. negativ auswirken können61; 3. endlich die möglichst umfassende und vor allem regelmäßige Nutzung aller wirklich zuverlässigen Informationsquellen über das politische Geschehen im In- und Ausland. Tatsächlich hat Königin Victoria durchsetzen können, dass ihr alle wichtigen Staatspapiere, auch diplomatische Berichte und ebenfalls alle wesentlichen Informationen über die Vorgänge im Kabinett und in den beiden Häusern des Parlaments möglichst zeitnah zugänglich gemacht wurden.62 Diese gezielte Informationspolitik der britischen Krone, wie man sie nennen könnte, zählte fraglos zu den wichtigsten Strategien und Formen des Erhalts einer wenigstens begrenzten Machtausübung, denn jene von Bagehot 58 59 60 61 62

Harrison, The Transformation of British Politics (wie Fn. 10), S. 347. Hanham (Hg.), The Nineteenth-Century Constitution (wie Fn. 42), S. 25. Ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 28 f. und die S. 46 f., 54 ff. abgedruckten Quellendokumente; zum historischen Zusammenhang ausführlich und immer noch grundlegend Bogdanor, The Monarchy and the Constitution (wie Fn. 13), S. 16 ff. u. passim.

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genannten wesentlichen Rechte der britischen Krone ließen und lassen sich nur auf der Grundlage sorgfältiger, genauer, umfassender und zuverlässiger Informationen über die gesamte Staatstätigkeit sowie den bestehenden Zustand des Landes ausüben; nur auf dieser Grundlage kann ein Monarch mit Erfolg seitens der politischen Funktionsträger konsultiert werden, nur auf dieser Grundlage kann er Rat geben oder gelegentlich auch warnen. Schon Victoria zählte daher zu den bestinformierten Persönlichkeiten des Königreichs, und dies hat sich auch später nicht geändert63 – bis hin zu Victorias heute auf dem Thron sitzender Ururenkelin, die regelmäßig den Premierminister zu einer Audienz empfängt (für gewöhnlich an jedem Dienstag, soweit sich beide in London aufhalten), um von ihm Informationen zu erhalten, aber eben auch, um gegebenenfalls zu raten und zu warnen.64

5. Aspekte politischer Symbolik In diesem Zusammenhang ist noch etwas genauer zu fragen nach den bereits erwähnten (im Rahmen einer traditionell angelegten politikgeschichtlichen Analyse gelegentlich vernachlässigten) Formen und Möglichkeiten symbolischer Machtausübung der Krone, die vor allem dann besonders wichtig werden können, wenn der direkte monarchische Einfluss auf die Gestaltung der Politik bereits verloren gegangen ist. Zu den unterschiedlichen Formen symbolischen Kapitals einer Krone gehören etwa ihre diversen Titel, die auch dann eine gewisse Wirkung auszuüben vermögen, wenn aus ihnen keine unmittelbaren Machtbefugnisse mehr abgeleitet werden können. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Titel eines Kaisers, „Emperor of the British and Hanoverian Dominions“, den Kö63 Ein deutscher Autor der Zwischenkriegszeit hat hierzu durchaus treffend angemerkt: Wilhelm Dibelius, England, Bd. 1 (zuerst 1923), 6. Aufl. Stuttgart 1931, S. 297: „… auch für die Alltagsfragen der Gegenwart ist der König nicht ohne Bedeutung. Er ist der einzige Engländer, der jederzeit Zutritt zu dem Staatsleiter, dem Ministerpräsidenten hat … und dessen Meinung für den leitenden Staatsmann von großer Bedeutung ist. Der König kann nichts befehlen. Aber die politische Meinung des Königs … dringt durch tausend Kanäle in die Hof- und Adelskreise und die politischen Klubs: Wie der König denkt – wenn eine Persönlichkeit wie Viktoria oder Eduard VII. auf dem Throne sitzt, die sich nicht mundtot machen läßt –, ist immer einer der Faktoren, mit denen der Ministerpräsident zu rechnen hat, denn in diesem urkonservativen, monarchischen Volk ist die Meinung des älteren, wenn auch nahezu entthronten Monarchen immer noch eine Kraft, die mit dazu beiträgt, öffentliche Meinung zu machen, und dann gerade, wenn der König sich mit seiner Person zurückhält“. 64 Vgl. Bogdanor, The Monarchy and the Constitution (wie Fn. 13), S. 72.

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nig Georg III. im Jahr 1800, nach der Union mit Irland, allerdings nicht annehmen wollte65, sowie an den Titel einer Kaiserin von Indien, den seine Enkelin Victoria im Jahr 1876 dagegen sehr gerne annahm, schon um den wichtigsten der übrigen gekrönten Häupter des damaligen Europas, dem russischen Zaren sowie den beiden Kaisern in Deutschland und Österreich, wenigstens formal (wenn auch durchaus nicht im Hinblick auf die direkten Machtbefugnisse) gleichgestellt zu sein.66 Sodann muss an die früher oft unterschätzte, neuerdings gelegentlich wohl überschätzte Rolle von öffentlichen Zeremonien und Inszenierungen monarchischer Prachtentfaltung erinnert werden67, sowohl an die seltener vorkommenden Königskrönungen und die Hochzeiten des königlichen Nachwuchses, vor allem aber auch an die regelmäßig sichtbar werdende Prachtentfaltung etwa bei Staatsbesuchen, offiziellen königlichen Geburtstagsfeiern oder auch der alljährlichen Parlamentseröffnung. Diese stellt bis heute die Wandlungen der britischen Verfassungskontinuität seit der Glorious Revolution sinnbildlich vor aller Augen dar, indem die auf dem Thron des Oberhauses sitzende Monarchin vor den Peers und ebenso in Gegenwart der hinter einer Schranke stehenden Unterhausabgeordneten eine Rede verliest, die der – sich mitten unter diesen befindende – Premierminister verfasst hat.68 Auf diese Weise sind jene „public ceremonials“, wie einmal treffend gesagt worden ist, zu einigen der „central features of British life“69 geworden – und sie sind dies bis heute noch immer. Nicht außer Acht gelassen werden darf ebenfalls die in mancher Hinsicht eigenartige Tatsache, dass sich die britischen Monarchen vor allem noch im 19. Jahrhundert auf einen ausgeprägten Unterschichten-Monarchismus sowie auf einen unterhalb der bürgerlichen Schichten verbreiteten und populären Konservatismus stützen konnten, der in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, vor allem deshalb, weil die diversen Formen öffentlicher monarchischer Repräsentation nicht zuletzt auch auf die Befriedigung spezifischer, 65 Vgl. English Historical Documents, Bd. VIII: 1783–1832, Hg. A. Aspinall/E. Anthony Smith, London 2001, S. 83. 66 Vgl. English Historical Documents, Bd. X (wie Fn. 51), S. 26 f.; Bogdanor, The Monarchy and the Constitution (wie Fn. 13), S. 32 u. 39. – Zum zeitgenössischen politischen Hintergrund der Annahme des (auf Betreiben Disraelis etablierten) Titels einer „Empress of India“ durch Victoria siehe auch die Bemerkungen bei Blake, Disraeli (wie Fn. 44), S. 562 f. 67 Eingehend hierzu Harrison, The Transformation of British Politics (wie Fn. 10), S. 317– 347. 68 Vgl. dazu auch die Bemerkungen ebd., S. 322; zur Bedeutung der symbolischen Vergegenwärtigung von Kontinuität siehe auch S. 329 f. 69 Hanham (Hg.), The Nineteenth-Century Constitution (wie Fn. 42), S. 26.

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gerade hier artikulierter Bedürfnisse gerichtet war. Dies hat die neuere Forschung erst kürzlich anschaulich herausgearbeitet70, indem sie die Kontinuität einer „konservativ-loyalistischen Tradition der Verehrung des Königshauses“ und einer „populären Tradition des Loyalismus“71 in den britischen Unterschichten nachgewiesen und auf diese Weise einen „Konservatismus von unten“ sichtbar gemacht hat, der durch die symbolischen Machtpotentiale der Monarchie gelegentlich aktiviert und in ihrem Sinne politisch nutzbar werden konnte. Vor genau diesem Hintergrund dürfte nun auch die viel erörterte Verfassungstheorie Bagehots besser verständlich werden, der bekanntlich bereits 1867 den „efficient parts“ der Verfassung (also Regierung und Unterhaus) die sog. „dignified parts“ gegenüberstellte (Krone und Oberhaus). Das waren genau diejenigen Institutionen, deren Hauptaufgabe gerade darin bestand, die Ehrerbietung der Bevölkerung zu wecken und zu bewahren72, also die, wie er ebenfalls sagt, in gewisser Weise mystischen, vor allem an die Sinne appellierenden „theatralischen Elemente“, die zugleich die größten Ideen der Menschen verkörpern wollen und die sich rühmen, „mehr als nur Menschenwerk“ zu sein.73 Die Funktion der Monarchie sollte also nicht zuletzt darin bestehen, eine auf die Sinne wirkende Inszenierung der Größe, Tradition und Macht der Nation zu sein, damit letzten Endes auch eine moralische Macht darzustellen, die den ihr verbliebenen Einfluss auf vielerlei Weise im Rahmen der gegebenen Verfassung symbolisch auszuspielen vermochte. So ist es denn vermutlich auch kein Zufall gewesen, dass seit Georg V. – also demjenigen Monarchen, der im Jahr 1911 mit der Entmachtung des Oberhauses auch die letzte politische Bastion der Monarchie schleifen musste –, alle britischen Monarchen (bis hin zum gegenwärtigen Prince of Wales) als junge Menschen über ihre künftige Rolle als Staatsoberhaupt durch Bagehots Buch informiert wurden.74 Aufschlussreich hierfür sind vor allem die Aufzeichnungen Georgs V. als ältester Sohn des Kronprinzen, die er – übrigens noch zu Lebzeiten seiner Großmutter Victoria – unter Anleitung seines Privatlehrers im Fach Verfas70 Hierzu neuerdings vor allem Jörg Neuheiser, Krone, Kirche und Verfassung. Konservatismus in den englischen Unterschichten 1815–1867, Göttingen 2010. 71 Die Zitate ebd., S. 57 f. 72 Bagehot, The English Constitution (wie Fn. 31), S. 4. 73 Ebd., S. 8: „The elements which excite the most easy reverence will be the theatrical elements – those which appeal to the senses, which claim to be embodiments of the greatest human ideas, which boast in some cases of far more than human origin”. 74 Das wird mitgeteilt von Bogdanor, The Monarchy and the Constitution (wie Fn. 13), S. 40 f.

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sungsgeschichte, des in Oxford lehrenden Joseph R. Tanner, verfasste. Die Krone habe die Bedeutung, notierte der künftige Kronprinz und König, „die Regierung für die Massen erkennbar“ zu machen, sie erleichtere den Massen „die Anteilnahme an der Regierung“, sie stärke die religiöse Tradition, sie wirke sozial ausgleichend und eben hierin zeige sich ihre spezielle politischmoralische Funktion. Und nicht zuletzt: „Mit Hilfe der Krone ist es möglich, politische Umwälzungen zu tarnen und ihnen die üblen Begleiterscheinungen von Revolutionen zu nehmen“75 – so die Aufzeichnung des jungen Prinzen aus dem Jahr 1894 in seiner Auseinandersetzung mit den Thesen Bagehots. Wie recht er gerade mit dieser letzten Bemerkung hatte, sollten die Ereignisse des Jahres 1911 zeigen, als der soeben auf den Thron gelangte König Georg V. mit der Entmachtung des Oberhauses tatsächlich im Mittelpunkt einer manifesten politischen Umwälzung mit weitreichenden verfassungspolitischen Folgen stand.

6. Abschließende Begriffsklärungen Die Auffassung, dass die britische Monarchie bis in die Zeit kurz nach der ersten großen Wahlreform, also bis 1835 bzw. 1841 eine konstitutionelle, seitdem aber eine parlamentarische Monarchie gewesen sei, wird sich folglich – so die Schlussthese dieser Ausführungen – jedenfalls in dieser Form, dieser apodiktischen Formulierung nicht halten lassen. Das betrifft zum einen bereits die verwendeten Begriffe, die aus der Analyse der kontinentalen Verfassungsgeschichte entnommen sind, in Großbritannien aber etwas anderes bedeuten. Die britische Monarchie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wird in der verfassungshistorischen und verfassungsrechtlichen englischen Literatur selbstverständlich als „constitutional monarchy“ bezeichnet.76 Damit ist aber gerade nicht jener verfassungspolitische Dualismus gemeint, den die kontinentale Entwicklung kennt und den der deutsche Begriff der „konstitutionellen Monarchie“ umschreibt, sondern im Gegenteil eine „verfassungskonforme“ Monarchie, die sich als Teil einer parlamentarischen Gesamtverfassung versteht, in deren Rahmen Krone, Lord und Commons eine verfassungsrechtlich untrennbare Einheit bilden. Nun wird auch klar, warum es den Begriff der „parliamentary monarchy“ im Zusammenhang der englischen Verfassungsgeschichte und -theorie nicht 75 Nach dem Abdruck in: Nicolson, Georg V. (wie Fn. 53), S. 64; siehe auch Hanham (Hg.), The Nineteenth-Century Constitution (wie Fn. 42), S. 39 f. 76 So u.a. von Hanham (Hg.), The Nineteenth-Century Constitution (wie Fn. 42), S. 31; Bogdanor, The Monarchy and the Constitution (wie Fn. 13), S. 1 ff.

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gibt und im Grunde auch gar nicht geben kann: eben weil er eine Tautologie darstellt. Die britische Monarchie ist bereits per definitionem „parlamentarisch“, nämlich in dem Sinne, dass der Monarch als solcher Teil desjenigen Staatskörpers ist, der die Souveränität des Landes verkörpert – eben des Parlaments. Und das wird bis heute durch den Akt der Parlamentseröffnung symbolisch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Monarchin bei dieser Gelegenheit im Parlament, als Teil des Parlaments, wenn auch immer noch sichtbar abgehoben, d.h. an der Spitze von Lords und Commons sich befindend, agiert; die heutige Monarchin, so hat es die gegenwärtige britische Verfassungsrechtswissenschaft formuliert, „is now largely just a figurehead, performing ceremonial and symbolic functions within the contemporary constitution“77. Die nach dem Zweiten Weltkrieg und erst recht in den vergangenen zwei Jahrzehnten partiell erneut stark veränderte Verfassung Großbritanniens fungiert denn auch in der entsprechenden verfassungsrechtlichen Literatur heute eher als „parliamentary democracy“78 oder auch „representative democracy“79. Zum anderen ist festzustellen, dass die verfassungspolitische Epoche etwa zwischen der ersten großen Wahlreform von 1832 und deren Folgen bis zur Verfassungskrise und der Entmachtung des Oberhauses im Jahr 1911 eine verfassungsgeschichtliche Übergangsperiode darstellt, in der die Monarchie sukzessive an politischer Macht verloren hat, in der die Träger der britischen Krone jedoch noch keineswegs nur einflusslose, lediglich auf repräsentative Aufgaben beschränkte Staatsoberhäupter im heutigen Sinne gewesen sind. Mit Victoria beginnt der Prozess einer langsamen Veränderung der konstitutionellen monarchischen Staatsordnung hin zu einer parlamentarisch-demokratischen Verfassung mit monarchischer Spitze; dieser Prozess endet im Jahr 1911 mit der doppelten Selbstentmachtung der von Bagehot als „dignified parts“ der „English Constitution“ beschriebenen Institutionen: des Oberhauses und mit ihm der Krone, die zugleich ihre politisch wichtigste Prärogative, die Entscheidung über den verfassungspolitischen Einfluss des House of Lords und seines Anteils an der Legislative, verliert.80 77 Loveland, Constitutional Law (wie Fn. 9), S. 109. 78 Keir, The Constitutional History of Modern Britain (wie Fn. 8), S. 456, verwendet diesen Begriff bereits für die britische Verfassung ab der zweiten Wahlreform (1867), ähnlich auch George Burton Adams/Robert L. Schuyler, Constitutional History of England, London 1948, S. 463 („Democratic England“); zur gegenwärtigen Verwendung dieser Bezeichnung vgl. etwa King, The British Constitution (wie Fn. 1), S. 251. 79 Bogdanor, The New British Constitution (wie Fn. 1), S. 140 u. 164. 80 Loveland, Constitutional Law (wie Fn. 9), S. 109, hat allerdings mit Recht darauf hingewiesen, die Annahme sei schlichtweg unzutreffend, „that the prerogative powers

Zwischen Parlament und Prärogative

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Bis dahin waren der Krone, ungeachtet ihrer im Vergleich zu den meisten kontinentalen Monarchien natürlich schwächeren Position, bedeutende Machtpotentiale, nicht zuletzt im Bereich der symbolischen Politik, verblieben, die im Rahmen bestimmter günstiger politischer Konstellationen aktiviert werden konnten und die natürlich ebenfalls besondere politische Fähigkeiten des jeweiligen Monarchen, nicht zuletzt zur Installierung und Nutzung politischer Informationskanäle, voraussetzten. Wilhelm IV., seine Nichte Victoria und deren Sohn Eduard VII. haben diese Möglichkeiten in begrenztem Umfang noch nutzen können; im Zeitalter der Weltkriege sind sie dann – wohl unwiderruflich – verloren gegangen, im Rahmen eines für britische Verhältnisse beschleunigten Verfassungswandels, dessen eigentliche Resultate bis heute freilich durch die vielfachen symbolischen Akte und „central features“81 der englischen Monarchie gelegentlich noch immer erfolgreich verdeckt werden.

have disappeared. For most practical purposes, prerogative powers are exercised on the monarch’s behalf by the government“. 81 Siehe oben, Fn. 68.

STEFAAN MARTEEL

Der verlorene Geist von 1830 Konstitutionalismus und Politik in Belgien im 19. Jahrhundert

Die belgische Verfassung von 1831, hervorgegangen aus der Revolution von 1830, wird oft als „die liberalste ihrer Zeit“ oder als der „größte Triumph“ des Konstitutionalismus charakterisiert.1 Daher ist es etwas irritierend, dass die Verfassungsgeschichte im akademischen Leben Belgiens keine starke Präsenz zeigt. Die Verfassung Belgiens ist bis jetzt fast ausschließlich als Forschungsgegenstand von Wissenschaftlern des Öffentlichen Rechts behandelt worden. Auch in internationalen Studien wurde die belgische Verfassung oft einfach ignoriert.2 Dennoch haben in den letzten Jahren der intellektuell-historische Hintergrund der Belgischen Revolution und die Grundideen, die die Gründungsväter der Belgischen Verfassung antrieben, erkennbar an Aufmerksamkeit gewonnen. Aus einer Synthese verschiedener Studien wird deutlich, dass der wichtigste intellektuelle Einfluss auf die politischen Ideen, die die belgischen Revolutionäre und die „Gründungsväter“ inspirierten, von den französischen liberalen Intellektuellen aus der Zeit nach der Französischen Revolution und der Ära Napoleons3 ausgeübt wurde – ein Spektrum von Ideen, dem 1 Für die Übersetzungshilfe zu diesem Text sei der Friedrich-Ebert-Stiftung nachdrücklich gedankt. 2 Z.B. Markus Prutsch, Making Sense of Constitutional Monarchism in post-Napoleonic France and Germany, Basingstoke 2012. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999. Belgien wird in dieser Arbeit, die sich auf die Beziehung zwischen dem Parlament und dem Monarchen im 19. Jahrhundert konzentriert, als ein wichtiges Beispiel für die Entwicklung eines monarchischen Typs des Konstitutionalismus beschrieben, der sich durch den dualen Charakter des monarchischen Systems auszeichnet (die Abhängigkeit der Minister von doppeltem Vertrauen). Siehe auch der Beitrag von Johannes Koll zu Belgien, in: Werner Daum u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 2: 1815–1847, Bonn 2011. 3 Annelien De Dijn, A Pragmatic Conservatism. Montesquieu and the Framing of the Belgian Constitution (1830–1831), in: History of European Ideas 28,4 (2002), S. 227– 245; Henk De Smaele, Eclectisch en toch mmieuw ninieuwnieuw. De uitvinding van het Belgisch parlement in 1830–1831, in: Bijdragen en mededelingen betreffende de deschiedenis der Nederlanden 120,3 (2005), S. 408–416; Stefaan Marteel, Polemieken over Natievorming in Het Verenigd Koninkrijk Der Nederlanden. Een blik op de in-

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im Verlauf der Jahre viel Beachtung gewidmet wurde.4 Diese Untersuchungen zur Belgischen Verfassung werden hoffentlich in den kommenden Jahren zu neuen Forschungsergebnissen und Interpretationen zur politischen Entwicklung Belgiens im 19. Jahrhundert führen. Aus dieser Perspektive möchte ich auch in diesem Beitrag argumentieren und zwei besondere Eigenheiten der politischen Landschaft Belgiens im 19. Jahrhundert im Blickwinkel der Verfassung von 1831 und des verfassungsrechtlichen Diskurses analysieren. Der erste Aspekt beschäftigt sich mit den lang anhaltenden Ungleichheiten im Bereich der politischen Rechte, die es in Belgien im Vergleich mit anderen europäischen Ländern gab. Zwar wurde in der Verfassung aufgeführt, dass „alle Gewalten von der Nation ausgehen“ (Art. 25) und die belgischen Parlamentsmitglieder die Nation (das Volk) und nicht ihre Provinz oder ihren Wahlkreis vertreten (Art. 32). Solche Bestimmungen stellten die Verfassung in die französische revolutionäre und republikanische Tradition (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 und die Französischen Verfassungen von 1791 und 1793). Aber auch in Belgien, so wie in etlichen anderen Verfassungsstaaten, war das Wahlrecht in Form des Zensussystems extrem beschränkt. Die Einschränkung der grundlegenden politischen Rechte sollte in den folgenden Jahren zu der sehr strengen Umsetzung der laisser faire-Doktrin passen, vor allem, was die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Volksmassen betraf. Das sich schrittweise vollziehende Anwachsen der Wählerschaft durch politische Maßnahmen, die auf eine Anhebung der Standards der ärmeren Teile der Bevölkerung abzielen sollten, war für die politische und soziale Elite kein Grund zur Besorgnis (die Schulpflicht für Grundschulen wurde erst 1914 eingeführt). Erst 1893 und 1920 wurde die Verfassung abgeändert, um zunächst das Pluralwahlrecht und dann das allgemeine Wahlrecht der Einzelpersonen (nur für Männer) einzuführen. Aber bis zu welchem Grad war die Verfassung von 1831 für die Entwicklung des politischen Systems in Belgien verantwortlich, das de facto wie eine plutokratische Oligarchie aussah? Eine zweite wichtige Eigenheit der Politik Belgiens im 19. Jahrhundert – ich hoffe, es wird deutlich, dass diese auch mit dem vorgenannten Aspekt zusammenhängt – war die immer größer werdende Kluft in der politischen Gesellschaft zwischen den ‚Liberalen‘ und den ‚Katholiken‘. Eine klassische historiographische Meinung besagt zu dieser Polarität der beiden Lager, dass die Gründungsväter selbst sie schon angebahnt hätten: Als sie beschlossen, dass die Organisation der Bildung, Religion, Sozialleistungen etc. der Initiatellectuele wortels van het Belgisch nationalisme, in: Rik Vosters/Janneke Weijermars (Hg.), Taal, cultuurbeleid en natievorming onder Willem I, Brussel 2001, S. 35–60. 4 Z.B. Raf Geenen/Helena Rosenblatt (Hg.), French Liberalism. From Montesquieu to the Present Day, Cambridge 2012.

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tive der Gesellschaft überlassen werden sollte, ebneten sie den Weg für eine Situation, in der Liberale und Katholiken sich gegenseitig mit den gleichen Waffen bekämpfen konnten. Ein Prozess der Versäulung und eine aus zwei Parteien bestehende politische Landschaft könne als das logische Ergebnis dieser Entwicklungen bezeichnet werden. Diese Sichtweise ist jedoch nicht der Auslöser für die verschiedenen Interpretationen, die rückwirkend für die Verfassung von 1831 angeführt wurden und die bis zu einem gewissen Ausmaß die katholisch-liberalen Auseinandersetzungen befeuerten, vor allem was das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und den Bereich der Bildung betraf. Wir werden die Ideen der Verfassungsgründer zur Religion und dem Verhältnis von Kirche und Staat untersuchen und dabei beleuchten, wie die polarisierte politische Landschaft und die polarisierten Erklärungen zur verfassungsrechtlichen Lage von diesen Ideen abwichen. Es wird dargelegt, dass genau darin die Erklärung für das streng elitäre politische System zu finden ist, das fast das ganze 19. Jahrhundert überlebte.

1. Gleichheit, die Gesellschaft und politische Repräsentation In den Debatten im verfassunggebenden Nationalkongresses, die zu einem repräsentativen System mit Zensuswahlrecht führten, zitierten die Gründungsväter häufig Montesquieu, um Wahlen als ein Instrument zu verteidigen, mit dem man die Macht in die Hände der „aristoi“, „der Besten“ in der Gesellschaft legen könne. Wahlen wurden somit paradoxerweise als ein Instrument der aristokratischen Regierung angesehen. Die Aufgabe der Repräsentanten bestand nicht darin, den Willen des Volkes auszudrücken, sondern Entscheidungen auf der Grundlage ihrer persönlichen Beurteilungen und Überzeugungen zu treffen. Henk de Smaele merkte an, dass die Mitglieder des Nationalkongresses die nationalen Repräsentanten als „professionelle Politiker“ ansahen.5 Sie sollten nicht das Volk vertreten, sondern sich durch Bildung, Überzeugung, Sinn für Realität, diplomatische Fähigkeiten etc. vom Volk unterscheiden. Das aristokratische Verständnis der Repräsentation stand offenbar nicht im Gegensatz zu dem Gedanken der nationalen oder vom Volke ausgehenden Souveränität. Seit der Amerikanischen und Französischen Revolution wurde Repräsentation als politisches Prinzip erachtet, das zu einer modernen (republikanischen) Verfassung passte. Im Gegensatz zu dem klassischen republikanischen 5 Henk de Smaele, De beroepspoliticus. Waarom de ‚aristocratie‘ onvermijdelijk is, in: Ders./Jo Tollebeek (Hg.), Politieke representatie, Leuven 2002, S. 109–122.

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Grundgedanken wurde Repräsentation als Mittel dazu angesehen, eine aufgeklärte, differenzierte und unabhängige nationale Gesetzgebung zu schaffen und aufrechtzuerhalten. In den Federalist Papers definierte James Madison „Demokratie“ und „Republik“ als klare Alternativen und setzte die Kategorie der „Republik“ als Unterbegriff der alten Kategorie der „Aristokratie“; dadurch wurde die Wahlaristokratie Montesquieus zu einem Eckpfeiler des modernen Konstitutionalismus auf der Grundlage der vom Volk ausgehenden Souveränität.6 Eine ähnliche Neudefinition des Prinzips der politischen Repräsentation fand auch in der frühen Phase der Französischen Revolution statt, was hauptsächlich Abbé Sieyes zu verdanken ist.7 Die belgischen Gründungsväter verarbeiteten diese Entwicklungen in politischen Theorien und hoben hervor, dass moderne Freiheit und gleiche politische Rechte unvereinbar seien: „Wir sind gegen ein allgemeines Wahlrecht, selbst wenn es dem Prinzip der Gleichheit am meisten entspricht, denn es ist fatal für die Freiheit.“8 Die Beschränkungen der politischen Rechte in der Verfassung wurden auch beeinflusst durch das, was Larry Siedentop den „soziologischen Ansatz in der politischen Theorie“ nannte.9 Unter den Mitgliedern des Nationalkongresses (1830/31) bestand eine starke Tendenz, ihre Arbeit als Gegensatz zur Arbeit politischer Philosophen zu betrachten, die sich mit abstrakten Problemen auseinandersetzen. Hingegen bestanden die Herausforderungen bei der Ausarbeitung einer Verfassung darin, politische Institutionen einzusetzen, die den historischen Gegebenheiten und dem Entwicklungsstand der Gesellschaft am besten entsprachen. Eine Idee, auf die man sich häufig berief, hat besagt, dass die Verfassung den „Sitten und Gebräuchen des belgischen Volkes“ entsprechen solle.10 Auf der einen Seite knüpfte dieses Argument an das Werk Montesquieus an, der in seiner berühmten Schrift De l’Esprit des lois (1748) die These vertreten hat, dass die Bestandsfähigkeit einer Verfassung davon abhängig ist, ob sie den Sitten und Gebräuchen einer bestimmten Nation entspricht. Auf der anderen Seite muss dieses Argument aber auch in den richtigen Kontext eingeordnet 6 Iain Hampsher-Monk, A History of Modern Political Thought. Major Thinkers from Hobbes to Marx, Oxford 1992, S. 227–231. 7 Keith Michael Baker, Inventing the French Revolution. Essays on French Political Culture in the Eighteenth Century, Cambridge 1990, S. 224–251. 8 Smaele, De beroepspoliticus, S. 113. Das Zitat stammt von dem führenden Liberalen Paul Devaux. 9 Larry Siedentop, Two Liberal Traditions, in: Alan Ryan (Hg.), The Idea of Freedom, Oxford 1979, S. 153–174, hier S. 157. 10 Annelien de Dijn, A pragmatic conservatism. Montesquieu and the framing of the Belgian constitution (1830–1831), in: History of European Ideas 28 (2002), S. 227–245.

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werden: In der Zeit vor der Revolution von 1830 bildete sich ein belgischer Nationalismus heraus. Darüber hinaus war man auch in dem Prozess der Ausarbeitung einer Verfassung nicht immun gegenüber der zeitgenössischen kulturellen Praxis der „Erfindung von Traditionen“; dabei ging es darum, sich Kontinuität in der nationalen Vergangenheit vorzustellen, um nationale Forderungen oder die Konstruktion von Nationalstaaten zu unterstützen.11 Das bedeutete zudem, dass die Gründungsväter versuchten, auch von der Revolution von Brabant aus dem Jahre 1789 Inspirationen zu empfangen.12 Die „erste belgische Revolution“ gegen die Herrschaft von Joseph II. über den Süden der Niederlande zielte hauptsächlich darauf ab, die institutionelle Kontinuität gegen die aufgeklärte Reformpolitik des Habsburger Kaisers zu verteidigen. Wenn es auch sicherlich nicht die Absicht der Gründungsväter war, alte Institutionen (oder „die alte Verfassung“) wieder aufzubauen, erachteten doch manche ihren „pragmatischen Konservativismus“ als eine zeitangepasste Version des institutionellen, „juristischen“ Konservativismus ihrer Vorgänger.13 Aber das Argument der Gründungsväter zu den nationalen Sitten und Gebräuche orientierte sich nicht immer an der nationalen Vergangenheit. Während eine Bezugnahme auf nationale Traditionen 1830 kein neues Phänomen war, hatte der Refrain bezüglich der „Sitten und Gebräuche“ Eingang in die Sprache des sozialen Fortschritts gefunden. Dies wurde erstmalig in den Debatten zur Verfassung in der Zeit deutlich, als die Vereinigung mit den nördlichen Niederlanden nach dem Sturz Napoleons erfolgte. Zu dieser Zeit machte eine Gruppe in den südlichen Niederlanden auf sich aufmerksam, die behauptete, das Ende der „Französischen Tyrannei“ bedeute, dass die „alten Verfassungen“ unbedingt wieder hergestellt werden sollten, da sie niemals legal abgeschafft worden wären. Die „Liberalen“, die die französischen administrativen Neuerungen und die bürgerlichen Gesetze beibehalten wollten, reagierten darauf, indem sie sich auf natürliche Gesetze und Freiheiten sowie die Gleichheit aller Menschen beriefen. Aber sie insistierten auch wiederholt darauf, dass die Grundlagen des Sozialvertrags auf langfristigen Entwicklungen in der Gesellschaft und der Zivilisation beruhten. Da dieser Grundgedanke des sozialen Fortschritts in der politischen Kultur der südlichen Niederlande in den Folgejahren noch weiter sehr stark präsent war, blieben die Begriffe der Moderne und des sozialen Fortschritts praktisch unangefochten in den Debatten des belgischen Nationalkongresses in der Zeit von 1830/31. 11 Remieg Aerts, Nationale beginselen? Een transnationale geschiedenis van politiek en grondwet in de negentiende eeuw, in: Bijdragen en mededelingen voor de geschiedenis der Nederlanden 124,4 (1999), S. 580–598, hier S. 583. 12 Dijn, A pragmatic conservatism, S. 229–231. 13 Ebd., S. 230 f. De Dijn bezieht sich auf den katholischen „abbé Louis“.

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Trotz des Beharrens auf einer erdachten nationalen Vergangenheit und Bezugnahme auf „nationale“ Sitten und Gebräuche waren sich die Mitglieder des Kongresses gleichzeitig stark der grundlegenden Veränderungen bewusst, die sich in der Gesellschaft vollzogen hatten. Weiter an den althergebrachten Institutionen festzuhalten, obwohl sich die soziale Wirklichkeit unumkehrbar verändert hatte, hätte zu einer Quelle zukünftiger politischer und verfassungsrechtlicher Instabilität werden können.14 Das Bewusstsein hinsichtlich der grundlegenden Unterscheide zwischen „le pays legal“ und „le pays réel“ in der modernen Zeit beeinflusste das Verständnis der Gründungsväter zu den Begrifflichkeiten der Demokratie und der Repräsentation. Dies wurde besonders in den Debatten über eine erste Kammer oder einen Senat deutlich. Eine erste Kammer wurde 1830 noch verstanden als entweder eine Versammlung, die aus Mitgliedern bestand, die der König auf Lebenszeit ernannte, oder aber aus Vertretern des Erbadels.15 In den Debatten des belgischen Nationalkongresses jedoch fand die Idee einer ersten Kammer keinen Zuspruch. Ein weitverbreitetes Argument besagte, dass Belgien eine „moderne Nation“ geworden sei, eine Nation, deren Gesellschaft kein ausgeprägtes Interesse an einer gesonderten Vertretung des Adels hatte, was somit auch nicht zu rechtfertigen sei.16 Argumente für eine erste Kammer bezogen sich darauf, dass es notwendig sei, die legislative Arbeit der zweiten Kammer noch einmal zu überprüfen. So sollte auch dem Risiko einer offenen Konfrontation zwischen der Nationalrepräsentation und dem König sowie der möglichen Gefahr, dass die Legislative mit nur einem Gremium der Exekutive unterliegen könne, entgegengewirkt werden.17 Als die Verfassungsväter sich dennoch entscheiden mussten, wie der Senat gewählt werden sollte, wurde deutlich, dass die Methode, die soziale Realität als Ausgangspunkt zu nehmen, auch angewendet werden konnte, um Ungleichheiten zu rechtfertigen. Die Wählbarkeit des Se14 Stefaan Marteel, Constitutional thought under the Union of the Netherlands: The ‚Fundamental Law‘ of 1814–15 in the political and intellectual context of the Restoration, in: Parliaments, Estates & Representation 27 (2007), S. 77–94, hier S. 86–92; Dijn, A pragmatic conservatism, S. 232–234. 15 Die wichtigste Quelle für die Unterstützung der „aristokratischen ersten Kammer“ war Montesquieu. In seinem Kommentar zur englischen Verfassung in The Spirit of the Laws verteidigte der französische Philosoph die Idee, dass der Adel eine eigene politische Vertretung im Staat benötigte. 16 Emile Huyttens, Discussions du Congrès National de Belgique 1830–1831, tome 1: 10 Novembre–31 Décembre 1830, Bruxelles 1844, S. 395–398 u. 435–440. 17 Fred Stevens, Een belangrijke fase in de wordingsgeschiedenis van de Belgische grondwet. De optie voor een tweekamerstelsel, in: Belgisch Tijdschrift voor Nieuwste Geschiedenis 12,3 (1981), S. 641–661; De Dijn, A pragmatic conservatism, S. 239– 244.

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nats wurde durch das Zensuswahlrecht so eingeschränkt, dass er weitestgehend zu einer Kammer für den Grundadel wurde, der in den ländlichen Regionen immer noch eine dominierende Präsenz hatte und die somit als „chambre terrienne“ bekannt wurde. Dies stand in gewisser Weise im Einklang mit der allgemeinen Überzeugung, dass der Senat eine Kammer der gründlichen Reflektion sein sollte; zum Beispiel argumentierte Felix de Mérode, dass er für „einen Senat angesehener Vermögender sei, nicht um Partikularinteressen zu vertreten, sondern weil von diesen Personen ein besonnener und kluger Pflichteifer im Interesse der Öffentlichkeit zu erwarten sei“.18 Die extrem eingeschränkte Wählbarkeit wurde auch damit begründet, dass „es immer zwei Klassen von Menschen geben wird, diejenigen, die Arbeit kaufen und diejenigen, die sie verkaufen“. „Deswegen“, so insistiert Jean-Baptiste Nothomb, „sollte man die natürliche Hierarchie in der Gesellschaft nicht ignorieren, solange man den Gedanken an Besitztum noch nicht vollständig aufgegeben hat“.19 Allgemein gesehen war die Ungleichheit in der Gesellschaft etwas, womit sich die politischen Institutionen auseinanderzusetzen hatten, unabhängig davon, ob man theoretisch eine demokratische oder aristokratische Verfassung favorisierte. Interessanterweise wurde die privilegierte Repräsentation des Grundadels manchmal auch von denen verteidigt, die an erster Stelle die Repräsentanz der Nation als Ganzes befürworteten, aber dann doch dachten, dass es klug sei, einen Kompromiss einzugehen, gerade weil soziale Gleichheit noch nicht verwirklicht war. In diesem Sinne merkte der Liberale Paul Devaux an, als er sich auf einen seiner Vorredner bezog, dass „man so getan hat, als suchte man nach einer Aristokratie, aber hätte sie nicht gefunden“, und ergänzte gleich, dass er, obwohl er „nicht danach gesucht hätte“, sie „dennoch gefunden hätte“.20 Devaux erklärt, indem man dem Grundadel indirekt eine privilegierte politische Rolle zukommen ließe, könne damit sein politischer Einfluss begrenzt und seine „Invasion“ in der zweiten Kammer vermieden werden. Die Sprache des sozialen Fortschritts und der sozialen Wirklichkeit wurde – im Gegensatz zu politischen Kunstgriffen gemeint – häufig verwendet, um die Position der Verfassungsväter zur politischen Gleichheit und Repräsentation zu erklären in einem Land, in dem schnelle industrielle Entwicklung zu neuen sozialen Spannungen führte. Aber weder diese Sichtweise noch das aristokratische Verständnis der Repräsentation können hinreichend erklären, warum die „plutokratische Homogenität der nationalen Repräsentation“, wie 18 Huyttens, Discussions, tome 1, S. 419. 19 Ebd., S. 425. 20 Ebd., S. 468.

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Vincent Viaene sie nannte21, sich so lange halten konnte im Vergleich zu den meisten anderen westeuropäischen Staaten. Um dieses Thema weiter zu untersuchen, kann es sinnvoll erscheinen, das Verständnis des Souveränitätsbegriffs der Verfassungsväter und in der Politik des 19. Jahrhunderts zu analysieren. Heute wird in den meisten Lehrbüchern zum Öffentlichen Recht festgehalten, dass sich die belgische Verfassung bewusst für die nationale Souveränität im Gegensatz zur Souveränität, die vom Volke ausgeht, entschieden habe. Dieser Auffassung zufolge haben die Verfassungsgründer nicht dem „Volk“ Souveränität zugestanden, als einer Gruppe (oder einer Untergruppe) aller zu einer bestimmten Zeit lebenden Bürger, sondern haben die Souveränität einer „Nation“ zugesprochen, einer fiktiven, transhistorischen Einheit, die nicht nur die jetzt lebenden Bürger umfasst, sondern auch ehemalige und zukünftige Generationen von Bürgern mit einschließt.22 Obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, dass im Jahre 1831 die Frage der Souveränität auf diese Art und Weise erörtert wurde23, ist doch behauptet worden, dass die liberalen belgischen Rechtsautoren schon bald nach 1830 mit der Unterscheidung zwischen der vom Volke ausgehenden und der nationalen Souveränität vertraut gemacht wurden durch ihre französischen liberalen Kollegen (die Doctrinaires) und sich diese Position auch aneigneten, um „die Souveränität des Volkes nach und nach aus der Verfassung zu streichen“.24 Diese Entscheidung konnte einige „elitäre“ Konsequenzen haben, aber dies zu klären erfordert weitere ideengeschichtliche Forschung.25 Allgemein gesehen macht der Einfluss diesbezüglichen französischen Gedankenguts auf die politische und konstitutionelle Debatte in Belgien deutlich: Die Doppeldeutigkeit der belgischen Verfassung in Bezug auf die Souveränität und Repräsentation ist vor dem Hintergrund der unterschiedlichen 21 Vincent Viaene, Belgium and the Holy Sea from Gregory XVI to Pius IX (1831–1859). Catholic Revival Society and Politics in 19th-Century Europe, Leuven 2001, S. 27. 22 Z.B. Pierre Wigny, Droit constitutionnel, Brüssel 1952; Johan Vande Lanotte/Geert Goedertier, Handboek Belgisch Publiekrecht, Brugge 2013. 23 Man ging erst lange davon aus, dass diese Unterscheidung bereits zur Zeit der ersten revolutionären Verfassung in Frankreich (1791) getroffen wurde. Aber neuere Studien haben gezeigt, dass die starke konzeptionelle Unterscheidung zwischen nationaler Souveränität und vom Volke ausgehender Souveränität erst Mitte des 19. Jahrhunderts vorgenommen und dann fälschlicherweise auf die Französische Revolution zurückprojiziert wurde. Bacot, Carré de Malberg et L’origine de la distinction entre souveraineté du peuple et souveraineté nationale, Paris 1985; Pierre Brunet, Vouloir pour la nation. Le concept de représentation dans la théorie de l’état, Rouen 2004. 24 Smaele, Eclectisch en toch nieuw, S. 413. 25 Ein Forschungsprojekt zur Souveränität in der Verfassung von 1831 wird von Raf Geenens und Stefan Sottiaux an der Universität von Leuven vorbereitet.

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Ansätze in der französischen liberalen Tradition zu bewerten. Französische Wissenschaftler haben hier eine Unterscheidung vorgenommen zwischen dem Liberalismus der Opposition und dem Liberalismus der Regierung, oder dem Liberalismus gegen den Staat und dem Liberalismus des Staates.26 Letzterer wird in Verbindung gebracht mit der bereits erwähnten Gruppe der Doctrinaires, die in erster Linie den Staat als oberste Quelle des Rechts aufrechterhalten wollten; aber sie fügten diesen Gedanken mit einer soziologischen Überlegung zusammen. Diese beschäftigte sich mit der Notwendigkeit, die Verbindung zwischen der Regierung und der Mittelklasse zu stärken (der bekannteste Vertreter dieser Theorie war François Guizot). Im Gegensatz zu den Doctrinaires gab es Liberale wie Benjamin Constant und Germaine de Staël, deren Version des Liberalismus der Individualismus war, verstanden als das Recht selbst zu urteilen und Gesetze und die Macht zu kontrollieren. Die Bedeutung, die der Urteilskraft und dem Geiste des Einzelnen zugestanden wurde, war die wichtigste Frage, die verschiedene Strömungen der Liberalen voneinander trennte.27 Damit kommen wir zu dem zweiten Bereich, der Polarisierung zwischen den Liberalen und den Katholiken.

2. „Die Einschränkung der Macht des Staates gegenüber der Gesellschaft“ Die vorherrschende historiographische Sicht ist weiterhin darauf fokussiert, wie die Verfassungsväter mit der Religion als Ergebnis einer „Politik der Transaktion“ zwischen zwei unterschiedlichen philosophischen Projektionen umgegangen sind: „Obwohl Katholiken und Liberale eine gemeinsame Einheit gegründet hatten, behielten sie ihre philosophische Identität, die sie beide der Gesellschaft auferlegen wollten“.28 Dies ist jedoch eine Interpretation des intellektuellen Kontexts der Verfassung vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen politischen Katholiken und den antiklerikalen Liberalen, die nach Verabschiedung der Verfassung hervortraten. Vincent Viaene hat gezeigt, dass die Verfassungsgründer ein originelles Rahmenwerk entwickelten, um die Beziehungen zwischen Kirche und Staat zu regeln. Dabei ging man von „einem optimistischen Enthusiasmus hinsichtlich des wohlwollen26 Pierre Manent, Histoire intellectuelle du libéralisme: dix leçons, Paris 1987; Lucien Jaume, The unity, diversity, and paradoxes of French liberalism, in: Geenens/Rosenblatt (Hg.), French liberalism, S. 36–54. 27 Jaume, Unity, diversity, and paradoxes of French liberalism, S. 47. 28 Els Witte, De constructie van België 1828–1847, Tielt 2006, S. 148.

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den Charakters der Religion und der Fähigkeiten der menschlichen Geistesgröße im Allgemeinen“ aus.29 Die Originalität der Gründungsväter bestand darin, dass sie den Begriff des „Kultes“, der konzeptionell die Brücke bildete zwischen Trennung und Überwachung, in einen „konzeptionellen Puffer zwischen Staat und den Kirchen“ verwandelten. Die belgische Verfassung garantierte „die Freiheit der Glaubensbekenntnisse, deren öffentliche Ausübung sowie auch das Recht auf freie Meinungsäußerung in jedem Bereich“ (Art. 14). Dadurch wurde deutlich, dass die freie Ausübung der Religion die Sphäre des Gewissens des Einzelnen überstieg (dies lag per definitionem außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes) und die Religion im öffentlichen Raum verfassungsmäßig voll garantiert werden müsse. Dies konnte dadurch sichergestellt werden, dass sie als eines der unveräußerlichen individuellen Rechte anerkannt wurde. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten, in denen auch heute noch Kirchen explizit als Gemeinschaften oder Korporationen organisiert sind, deren Rechte allgemein garantiert werden, bestand die Besonderheit der belgischen Verfassung darin, dass sie die Kirchen über das Gesetz stellte, „und deswegen sicherstellte, dass sie sich viel stärker als zuvor der Macht des Staates entziehen konnten“. Dieser positive Ansatz der Religion gegenüber ergab sich aus der Idee, die der „Union der katholischen und liberalen Oppositionen“ gegen die Regierung von Willem I. in den späten 1820er Jahren zugrunde lag, die sich dann zu einer nationalen Bewegung für die belgische Unabhängigkeit entwickelte. Die zeitgenössische liberale Interpretation dieser Union verdeutlicht, dass sie viel mehr war als nur ein strategisches Bündnis. In einem der ersten offenen Aufrufe für eine Union, in dem Journal Liège Mathieu Laensbergh, erklärt Paul Devaux, dass die Liberalen nicht mit der Regierung gegen die Kirchen gemeinsame Sache machen, sondern darauf hinarbeiten sollten, „die Nation über ihre Freiheiten aufzuklären“.30 Die Liberalen sollten sich auf „die Garantien der Freiheit, die man von der Regierung einfordern kann, und auf die Notwendigkeit, den öffentlichen Geist zu entwickeln“, konzentrieren. Verbleibende „Gefahren“, die die Liberalen mit bestimmten Formen der Religiosität in Verbindung brachten, würden so automatisch verschwinden, so lautete das Argument, da die Religion in einer freien Gesellschaft mit einem starken öffentlichen Geist nur zu mehr Freiheit führen könne. Eine ähnlich ideali29 Vincent Viaene, „La liberté comme en Belgique“. The semantic stakes of „separation“ between church and state in Belgium, in: Lucian Hölscher (Hg.), Baupläne der sichtbaren Kirche. Sprachliche Konzepte religiöser Vergemeinschaftung in Europa, Göttingen 2007, S. 117–135, hier S. 124–126. 30 Mathieu Laensbergh: gazette de Liège, Liège 1824–1828, 21.3.1827.

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stische Vision der Union wurde später von Louis de Potter vorgebracht in seinem bedeutenden Pamphlet Union des catholiques et des libéraux, das zu einem programmatischen Text für die Opposition wurde.31 Die Union bestand seiner Ansicht nach aus „aufrichtigen und selbstlosen Freunden der freien politischen Institutionen und öffentlichen Freiheiten, die unterschiedliche Meinungen in spekulativen und religiösen Angelegenheiten vertreten“. Mit dem Begriff der Union korrespondierte die Idee der „Befreiung aller Intelligenz, die Freiheit aller Meinungen“ in der Gesellschaft, die die Regierung dadurch zu unterbinden versuchte, dass sie unterschiedliche Gruppen gegeneinander aufbrachte, indem sie „je nach Zielgruppe entweder das gefürchtete Jesuitentum oder das Jakobinertum heraufbeschwört“. Die „Union der Oppositionen“ wurde deswegen nicht als zeitlich begrenztes Bündnis für das Erreichen bestimmter gemeinsamer politischer Ziele erachtet, sondern als Zwischenschritt in eine Gesellschaft, die es zuließ, dass religiöse und andere Gruppierungen sich ausbreiteten, um so auf die bestmögliche Art und Weise individuelle Freiheit zu garantieren. Die Union und ihre Rechtfertigungsgründe ebneten daher den Weg für verfassungsmäßige Rahmenbedingungen, bei denen die „Mauer der Trennung“ eher ein Schutzwall für die Religion war als ein Bauwerksteil der Überordnung des Staates. In den liberalen Vorstellungen der Union spiegelte sich das Gedankengut einer französischen Strömung des Liberalismus wider, der Liberalismus gegen den Staat, dabei vor allem die Gedanken von Benjamin Constant. Constant war schon lange bekannt als Verfechter des egoistischen Individualismus, der dafür kritisiert wurde, Ideen zu vertreten, die unvermeidbar zur „sozialen Auflösung“ oder „Atomisierung“ der Gesellschaft führen würden. Aber, wie neue Studien zu Constant zeigen (besonders die von Helena Rosenblatt), war Constant sehr damit beschäftigt, die Bedeutung der Moral des Einzelnen für das Gemeinwohl zu untersuchen.32 Das wichtigste Argument bei dem Ansatz Constants zur Moral war jedoch, dass der Staat sich aus diesem Bereich völlig zurückhalten solle. Erstens dachte er, dass die Urteilskraft der Regierung alles andere als fehlerfrei sei; er vertrat eher die Ansicht, dass „da etwas mit der Macht einhergeht, was zu einer mehr oder weniger verzerrten Urteilskraft führt“. Die Regierenden vertraten normalerweise „Ansichten, die weniger gerecht, weniger vernünftig und weniger unparteiisch sind als die 31 Louis de Potter, Union des catholiques et des libéraux, Bruxelles 1829. 32 George Armstrong Kelly, Constant Commotion: Avatars of a Pure Liberal, in: Journal of Modern History 54,3 (1982), S. 497–518; Helena Rosenblatt, Why Constant? A critical overwiew of the Constant Revival, in: Modern Intellectual History 1,3 (2004), S. 439–453; dies., Liberal Values. Benjamin Constant and the Politics of Religion, Cambridge 2008.

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Ansichten der Regierten.“ Ein zweites Argument besagte, dass in Constants Sicht Einzelpersonen die Möglichkeit gegeben werden sollte, selbst nach der Wahrheit zu streben, sie sollten danach streben, selbst herauszufinden, was wahr und gerecht ist. Dieses Argument basierte auf der Annahme, dass intellektueller und moralischer Fortschritt untrennbar miteinander verknüpft seien und das Streben nach Wissen, und damit auch die Freiheit, Fehler zu machen, ein essentieller Bestandteil der moralischen Entwicklung des Menschen sei.33 Der Glaube, dass moralische und ethische Fragen eine Angelegenheit jedes Einzelnen seien, aber deswegen nicht weniger wichtig für das allgemeine Wohlergehen, sagte auch etwas aus über die Sichtweise zu den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Nach Constant gab es bestimmte Angelegenheiten „im Interesse aller“, die aber nicht unbedingt den Repräsentanten des „allgemeinen Interesses“, das der Staat verkörperte, zu unterstellen seien. Das bedeutet, dass es einen Raum geben sollte, wie Lucien Jaume das definierte, „eine Zone für soziale Autonomie [zone d’autonomie sociale], losgelöst von der direkten Konfrontation zwischen dem allgemeinen Interesse, das durch den Staat ausgedrückt und vertreten wird, und den Partikularinteressen, die herabgestuft und als unterlegen oder verdächtig bezeichnet werden“.34 Die Rahmenbedingungen für die Religion, die von den belgischen Gründungsvätern 1831 ausgearbeitet wurden, waren größtenteils der Versuch, die Ideen Constants zu Staat und Gesellschaft mit Hilfe der Verfassung zu realisieren. Der Liberalismus Constants und der Liberalismus der belgischen Verfassungsväter waren eine Form des Liberalismus, der in den Worten Jaumes „eine konstitutionelle Ordnung schaffen wollte, die die Macht des Staates gegenüber der Gesellschaft einschränken sollte und sowohl Dezentralisierung als auch die Rechte des Einzelnen begünstigte“.35 Die liberalen Gedanken, die bei der Verfassunggebung in der Zeit von 1830/31 so entscheidend waren, gerieten aber im Laufe der Entwicklungen auf der politischen Ebene, die klar zwischen Liberalen und Katholiken getrennt war, in Vergessenheit – und vielleicht auch als Folge des immer wichtiger werdenden konservativen Gedankenguts in der Politik im allgemeinen. Als die ersten Regierungen der Union (ca. 1831–1846) Gesetzespakete verabschiedeten, die hauptsächlich die Katholische Kirche begünstigten (vornehmlich im Bereich der Bildung), wurden die Liberalen immer misstrauischer 33 Rosenblatt, Liberal Values, S. 125–129; Zitat aus: Benjamin Constant, Principles of Politics Applicable to All Governments (1806–1810), Hg. E. Hofmann, Indianapolis 2003. 34 Lucien Jaume, L’individu effacé ou le paradoxe du libéralisme français, Paris 1997, S. 80. 35 Jaume, Unity, diversity, and paradoxes of French liberalism, S. 38.

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sowie antiklerikaler und bemühten sich, den Einfluss der Kirche in der Gesellschaft einzudämmen. Liberale Autoren begannen nun, eine individualistische Interpretation der verfassungsrechtlichen Religionsfreiheiten vorzubringen, entgegen der Notwendigkeit, die Präsenz religiöser Vereinigungen im öffentlichen Bereich zu schützen. Vincent Viaene fasste diese antiklerikalen, liberalen Standpunkte wie folgt zusammen: „Der souveräne Staat, der einzige Wächter des ‚allgemeinen Interesses‘, garantiert ‚die Freiheit der Bürger‘, ihren ‚Kult‘ nach eigenem Belieben auszuleben … Als religiöse Körperschaften sind ‚Kulte‘ nur die Vertreter der ‚Partikularinteressen‘ und müssen wissen, wo ihr Platz ist.“36 In anderen Worten: Die Liberalen beschrieben den Staat als Vertreter des allgemeinen Interesses und als einzigen Hüter der Freiheiten des Einzelnen, im Gegensatz zu den „minderen“ Partikularinteressen, die durch die Religion zum Ausdruck gebracht wurden. Deswegen schlossen sie die „Zone der sozialen Autonomie“, die man vorher als unerlässlich für die echten Freiheiten des Individuums erachtet hatte. Die Katholiken reagierten daraufhin mit einer Maßnahme, die in die entgegengesetzte Richtung wies, indem sie behaupteten, dass „la liberté des cultes“ vor allem als verfassungsmäßige Garantie die historische Position der Katholischen Kirche in Belgien absichern sollte. Diese Positionen spiegelten die gegenseitige Abhängigkeit von zwei Mächten wider, die in ihren jeweiligen Bereichen souverän waren. Vor allem nach der Verurteilung der modernen Freiheiten durch den Papst (Syllabus Errorum, 1864) und dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870) entwickelten die Katholiken ihre eigene Interpretation der Verfassung von 1831. Nur die verfassungsmäßigen Freiheiten wurden als positive Gesetze betrachtet und als relatives Gut akzeptiert, aber sie wurden nie als grundlegende Rechte anerkannt. Die Katholiken sollten sich deswegen opportunistisch an der Politik beteiligen, um die Macht des Staates in den Dienst der Religion zu stellen.37

3. Politische Polarisierung und der Verlust des demokratischen Potentials von 1830 Wenn Liberale und Katholiken im Zusammenhang mit einer immer mehr in zwei Lager gespaltenen politischen Landschaft im 19. Jahrhundert unterschiedliche Interpretationen der Verfassung entwickelten, so hatten ihre jeweiligen „konstitutionellen Realitäten“ doch ein gemeinsames Element: „Der Staat“ 36 Viaene, „La liberté comme en Belgique“, S. 127. 37 Ebd., S. 127–130.

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stand im Zentrum des politischen Gedankens, entweder als oberste Quelle des Gesetzes oder als Vertreter einer weltlichen Macht, die wie in der Vergangenheit so weit wie möglich in den Dienst der Kirche gestellt worden war.38 Die Abkehr vom Gedankengut von 1830 erklärt in diesem Zusammenhang, warum das lange Überleben des plutokratischen politischen Systems und der Ausschluss der breiten Masse von der Beteiligung in der Politik möglich wurden. Um das zu erklären müssen wir zurückgehen auf die „Union der Oppositionen“ zu Beginn der Belgischen Revolution, deren Slogan lautete „liberté en tout et pour tous“ (Freiheit in allen und für alle). Abgesehen davon, dass sie einige essentielle bürgerliche Freiheiten einforderte (vor allem Sprache und Religion betreffend), konzentrierte sich die Opposition hauptsächlich auf Freiheiten, die darauf abzielten, das politische System zu liberalisieren (Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit, ein transparenteres Wahlsystem und vor allem ministerielle Verantwortung). Wir wissen, dass auch in diesem Bereich die Opposition hauptsächlich von Benjamin Constant beeinflusst wurde.39 Constants Schwerpunkt auf „der Beschränkung der Macht des Staates gegenüber der Gesellschaft“ führte dazu, dass man sich einsetzte für die Rechte des Einzelnen in einer modernen, kommerzialisierten und industriellen Gesellschaft, in der man nicht länger die Neigung verspürte, als Bürger politisch aktiv werden zu wollen wie in den Republiken der Antike. Auch wenn Constant die Möglichkeit der Rückkehr zu einer partizipatorischen Demokratie im klassischen Sinne verhindern wollte, so glaubte er nicht, dass sich die Rolle des modernen Bürgers in der Politik ausschließlich darauf beschränken sollte, Repräsentanten zu wählen. Genau aus diesem Grund ist auch zu verstehen, warum er der Pressefreiheit und der ministeriellen Verant38 Wie Vincent Viaene anführte, kann dies in weiten Teilen als Folge des starken Erbes des Napoleonischen Konkordats von 1801 erachtet werden. Die Philosophie, die dem zugrunde liegt, wird von einem ihrer Architekten beschrieben, Jean-Étienne-Marie Portalis. Das Wiedererstarken dieses Erbes nach 1830 war laut Viaene fast unvermeidbar: „Die obsessive Angst vor der ‚Anarchie‘ und dem rechtlichen Vakuum, das Gebot des Konsens und der Druck durch das Europäische Konzert [der Mächte] stellten sicher, dass die Mehrheit im Nationalkongress nicht dem ‚Geist von 1830‘ und seinen logischen Schlussfolgerungen folgen und einen klaren Bruch mit dem vorherrschenden Modell der kirchlich-staatlichen Beziehungen herbeiführen würden. Das revolutionäre Belgien war nicht Amerika oder Frankreich.“ Viaene, „La liberté comme en Belgique“, S. 130. 39 Peter Van Velzen, De ongekende ministeriële verantwoordelijkheid. Theorie en praktijk 1813–1840, Nijmegen 2005; Stefaan Marteel, Inventing the Belgian Revolution. Politics and Political Thought in the United Kingdom of the Netherlands (1814–1830), European University Institute 2009 (unveröffentl. Diss.); Bram Delbecke, De lange schaduw van de grondwetgever. Perswetgeving en persmisdrijven in België (1831– 1914), Gent 2012.

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wortung so viel Aufmerksamkeit schenkte. Diese beiden Aspekte sind seiner Ansicht nach sehr stark miteinander verbunden. Ministerielle Verantwortung beinhaltete nach Constant mehr als die Verantwortlichkeit für Maßnahmen, die illegal oder nicht verfassungskonform waren, sondern auch eine Verantwortlichkeit für die „mauvais usage“ (Missbrauch) der legalen Macht. Den Machtgebrauch zu bewerten sollte aber nicht ausschließlich den repräsentativen Institutionen überlassen werden, sondern der öffentliche Bereich sollte dabei mit einbezogen werden, denn dort konnte durch eine freie Presse eine aufgeklärte Debatte stattfinden. Ministerielle Verantwortung war dementsprechend eine Institution, mit der das bürgerliche Engagement des Volkes geweckt werden konnte. „Mir scheint“, schrieb Constant in seinem berühmten Werk zur politischen Theorie, „dass Verantwortung an erster Stelle zwei Ziele verfolgen muss: Schuldigen Ministern soll man ihre Macht entziehen können und im Volke soll – durch die Wachsamkeit der Repräsentanten, die Offenheit der Debatten und durch die Ausübung der Pressefreiheit auch bei der Bewertung der ministeriellen Aktivitäten – der Geist der Wachsamkeit, ständiges Interesse an der Aufrechterhaltung der staatlichen Verfassung, eine konstante Beteiligung bei öffentlichen Angelegenheiten, in einem Wort: ein lebendiger Geist für das politische Leben wachgehalten werden“.40 Mehr als nur der Moment der Wahl der repräsentativen Institutionen, war es doch eher der Moment der Diskussion über Gesetze und ihre Anwendung, der seine Ideen der res publica für ein lebendiges politisches Leben beeinflusste. Und in diesem Moment hing die Qualität des politischen Urteils von dem Bewusstsein der Bürger als unabhängige moralische Individuen ab. Das entsprach der Idee Constants von einer fruchtbaren Trennung zwischen Gesellschaft und Staat, sowie auch der Nicht-Einmischung des Staates in moralische und ethische Belange.41 Obwohl Constant das Zensuswahlrecht akzeptierte, gab es wegen seiner Bemühungen um ein lebendiges politisches Leben und eine wachsame öffentliche Meinung, die niemanden von vornherein ausschloss, definitiv eine demokratische und radikale Komponente in seinem Werk. Dieselbe Tendenz ist in dem politischen Gedankengut der belgischen Oppositionsführer zu Beginn

40 Benjamin Constant, Principles of Politics Applicable to All Representative Governments (1815), in: Biancamaria Fontana (Hg.), Benjamin Constant. Political Writings, Cambridge 1988, S. 169–305, hier S. 239. 41 Über die Bedeutung des Begriffs der positiven (republikanischen) Freiheit im Werk von Constant siehe: Jaume, L’individu effacé, S. 82–86; Andrew Jainchill, The importance of republican liberty in French liberalism, in: Geenens/Rosenblatt (Hg.), French liberalism, S. 73–89.

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Sockel der Monumentalsäule in Brüssel für den Nationalkongress 1830/31; die sitzenden Statuen symbolisieren die Grundfreiheiten

der Revolution von 1830 zu finden und in gewisser Weise auch bei den Mitgliedern des Nationalkongresses. Wenn die Artikel der belgischen Verfassung zur Souveränität, Repräsentation und zum Wahlrecht auch zweideutig waren, so war doch in den Artikeln zur Freiheit der Kulte sowie auch zur Meinungsfreiheit in allen Bereichen neben den Artikeln zur Pressefreiheit (Art. 18), der Vereinigungsfreiheit (Art. 19) und der ministeriellen Verantwortlichkeit (Art. 90) viel aus einem demokratischen Potential des liberalen Gedankenguts von Constant zu finden.42 Dennoch ist die darauf folgende Polarisierung zwischen Katholiken und Liberalen sicherlich einer der Hauptgründe dafür, warum es nur bei dem Potential blieb. Denn die rückwirkende Interpretation der Verfassung führte zu einer Austrocknung des Reservoirs von Ideen, die ursprünglich einmal die Debatten beflügelt hatten. In diesem polarisierten Klima wurde der Staat (wieder-)entdeckt als ein essentielles Instrument zur Umsetzung der säkularen und 42 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2d/Colonne_du_Congrès_Bxl.03. JPG ist die Quelle der Abbildung.

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religiösen „Weltanschauung“. Das Verständnis für eine Regierungsform, in der politische Urteile auf der Grundlage des Bewusstseins der Einzelnen getroffen wurden und aufgeklärte politische Debatten ganz besonders wichtig für den Prozess der Gesetzgebung waren, wurde vergessen. Zwei unterschiedliche Zeitungsgruppen spiegelten, isomorph zu den zwei existierenden Parteien, das Ideal der konservativen französischen Doctrinaires und nicht Constants Idee der freien öffentlichen Debatte durch die Verbreitung von Zeitungen. Die (geteilte) öffentliche Meinung wurde fortan von „oben nach unten“ und eher nicht „von unten nach oben“ durch zwei etablierte Parteien gebildet.43 Politisch motivierte Treffen mit der Regierung und ein Futterkrippensystem wurden bei den Versuchen der Mehrheit, ihren Willen durchzusetzen, als legitime Praxis erachtet.44 Die Pressefreiheit wurde einmal mehr allen möglichen Beschränkungen ausgesetzt, da sie als Bedrohung für die neue soziale Hierarchie erachtet wurde.45 Debatten zur Ausweitung des Wahlrechts oder jedwede andere Veränderung am politischen System wurden regelmäßig parteipolitischen Überlegungen untergeordnet.46 Wenn die belgische Verfassung von 1831 auch „die liberalste ihrer Zeit“ gewesen sein mag, haben sich ihre weitreichenden Freiheiten und Rechte im weiteren 19. Jahrhundert paradoxerweise eher nicht als förderlich, sondern als hinderlich für die Entwicklung einer Demokratie erwiesen.

43 Jaume, Unity, diversity, and paradoxes of French liberalism, S. 52. 44 Henk de Smaele, Omdat we uwe vrienden zijn: religie en partij-identificatie 1884– 1914, Leuven 2000, S. 34. 45 Delbecke, De lange schaduw van de grondwetgever, S. 478 f. 46 Romain Van Eenoo, De evolutie van de kieswetgeving in België van 1830 tot 1919, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 92 (1979), S. 333–349.

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Verfassungsgeschichte Italiens im langen 19. Jahrhundert Schlüsselkonzepte und neue Perspektiven

In diesem Beitrag möchte ich Schlüsselkonzepte zur Deutung der italienischen Verfassungsgeschichte im langen 19. Jahrhundert vorstellen, wie sie von unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen bis in das Italien der zweiten Nachkriegszeit hinein entwickelt wurden. Soweit nachweisbar, wird dabei auch ihr Ursprung in zeitgenössischen Deutungsmustern des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet. An die Darlegung der Kernthesen zur verfassungsgeschichtlichen Deutung Italiens in der ersten (1) und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (2) schließt sich deren methodische (3) und historische Bewertung (4) an. Ein kurzer Ausblick auf ihre methodische Integration zu einer gemeinsamen Verfassungswissenschaft bildet das Fazit (5).

1. Verfassungsgeschichte der italienischen Einzelstaaten 1815–1848 Die Deutung der italienischen Verfassungsgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird wesentlich dominiert von der Begriffstrilogie, die der Verfassungshistoriker Carlo Ghisalberti (geb. 1929) ab Beginn der 1960er Jahre mit seinem bis heute gültigen Standardwerk geschaffen hat. Seine erstmals 1974 erschienene „Verfassungsgeschichte Italiens“ erklärt seither die Verfassungsentwicklung der italienischen Einzelstaaten mithilfe eines stufenartigen Entwicklungsmodells. Erst im letzten Jahrzehnt stellen neuere Untersuchungen italienischer und deutscher Historiker die darin zugrunde gelegte idealtypische oder gar idealisierende Entwicklungsfolge zugunsten differenzierterer, auch auf die einzelstaatlichen Besonderheiten abhebender Erklärungsmodelle in Frage.

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1.1 Von der Verwaltungs- über die Konsultativ- zur Repräsentativmonarchie: das nationszentrierte progressive Entwicklungsmodell Carlo Ghisalbertis Œuvre bietet – neben älteren Werken 1 – zum Teil bis heute den anerkannten Zugang zur verfassungsgeschichtlichen Erforschung Italiens im 19. Jahrhundert. 2 Ghisalberti hat – unter Anknüpfung an die zeitgenössische Publizistik – eine im positiven Sinne3 fortschreitende Verfassungsentwicklung mit dem dreistufigen Entwicklungsmodell von der „monarchia amministrativa“ über die „monarchia consultiva“ bis hin zur „monarchia rappresentativa“ beschrieben4 und dabei die vorbereitende Wir1 Pionierarbeit im Sinne einer ersten, bis heute nützlichen Synthese der Verwaltungsrechtsgeschichte der italienischen Einzelstaaten leistete Carlo Schupfer, I precedenti storici del diritto amministrativo vigente in Italia, in: Vittorio Emanuele Orlando (Hg.), Primo trattato completo di diritto amministrativo italiano, Bd. 1, Milano 1900, S. 1087–1284. Als frühe, allgemein rechtsgeschichtliche Synthese siehe auch Federigo Sclopis, Storia della legislazione italiana dalle origini fino al 1847, 3 Bde., Torino 1840–1857. Für verfassungsgeschichtliche Darstellungen im engeren Sinne siehe erstmals Gaetano Arangio-Ruiz, Storia costituzionale del Regno d’Italia (1848–1898), Firenze 1898 (Ndr. Napoli 1985), der erst durch Ghisalbertis Standardwerk erneuert wurde. 2 Carlo Ghisalberti, Dalla monarchia amministrativa alla monarchia consultiva, in: Ders., Contributi alla storia delle amministrazioni preunitarie, Milano 1963, S. 147 ff.; ders., Dall’antico regime al 1848, 7. Aufl. Roma 2001 (Erstausg. 1974), bes. S. 124 ff.; ders., Storia costituzionale d’Italia. 1848–1994, 7. Aufl. der erw. Neuausg. Roma 2010 (Erstausg. u.d.T.: Storia costituzionale d’Italia 1848–1948, Roma 1974); ders., Unità nazionale e unificazione giuridica in Italia, 12. Aufl. Roma 2001 (Erstausg. 1979); ders., La codificazione del diritto in Italia 1865–1942, 10. Aufl. Roma 2010; ders., Istituzioni e società civile nell’età del Risorgimento, Roma 2005. Speziell zu den europäischen Rezeptions- und Transfervorgängen, die das italienische Verfassungsdenken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmten, siehe auch ders., Lo Statuto Albertino e il costituzionalismo europeo della prima metà dell’Ottocento, in: Ders., Stato, Nazione e Costituzione nell’Italia contemporanea, Napoli 1999, S. 25–49. 3 Zur Skepsis gegenüber diesem Entwicklungsmodell vgl. exemplarisch Umberto Allegretti, Profilo di storia costituzionale italiana, Bologna 1989. 4 Bei der „monarchia amministrativa“ handelt es sich um einen Begriff der Epoche, der zurückgeht auf Luigi Blanch, Luigi de’ Medici come uomo di Stato ed amministratore (1830), in: Ders., Scritti storici, Hg. Benedetto Croce, Bd. 2, Bari 1945, S. 1–126, hier: S. 5, 22, 65 u. 68 f.; vgl. hierzu auch Werner Daum, Italien, in: Peter Brandt u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 336–424, hier S. 390. Der Begriff wird dann aufgegriffen von Ghisalberti, Storia (wie Fn. 2), S. 8–11; ders., Regime (wie Fn. 2), S. 124–127 (3. Aufl. 1987). Auch bei der „monarchia consultiva“ (oder auch „monarchia consultativa“) handelt es sich um ein zeitgenössisches Konzept; ihre Einführung in den italienischen Staaten war eine von Metternich in Reaktion auf die Revolutionen von 1820/21 auf dem Laibacher Kongress von 1821 geforderte Maßnahme; Ghisalberti, Storia (wie Fn. 2), S. 14 f.; ders., Regime (wie Fn. 2), S. 127–141 (3. Aufl. 1987); ders., Le strutture

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kung der napoleonischen Rechtskodifikation für die spätere Einigung Italiens aufgezeigt.5 Die um 1814/15 restaurierten Dynastien Italiens besaßen einen zweideutigen, anti-revolutionären und anti-reaktionären Charakter, da sie auf eine Übereinkunft mit der Gesellschaft angewiesen waren, um die Funktionsfähigkeit des komplexen Staatsapparats zu gewährleisten. Als institutioneller Rahmen für diese Übereinkunft und als Ersatz für die fehlenden Verfassungen dienten zwei im staatsbürokratischen Sinne modernisierte Varianten des „Absolutismus“: die „administrative“ und die „konsultative Monarchie“. Mit „Absolutismus“ wird hier die monarchische Selbstherrschaft bezeichnet, die noch keiner konstitutionell fixierten Machtbeschränkung unterstand, wohl aber auf Kooperation und konsensuale Aushandelung gegenüber den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften angewiesen war.6 In der administrativen Monarchie wurde zunächst unter Verzicht auf jegliche konstitutionelle Zugeständnisse die notwendige Funktionalität und Effizienz des Staatslebens durch die rein fachliche Mitwirkung der ehemaligen napoleonischen, bürgerlich-adeligen Verwaltungseliten garantiert – auch wenn dies in den einzelnen Staaten in ganz unterschiedlichem Maß bzw. in zeitversetzter Folge geschah. Nach der diplomatisch durch die Kongresse in Troppau und Laibach abgesicherten österreichischen Niederschlagung der Verfassungserhebungen von 1820/21 (Neapel-Sizilien, Piemont) und infolge der Aufstände von 1831 (Kirchenstaat, Parma, Modena) betrieb Metternich dann die Erprobung des lombardo-venetianischen Modells einer konsultativen Monarchie auch in den übrigen italienischen Staaten – allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Bekanntlich bestanden im Königreich Lombardo-Venetien jeweils in Mailand und Venedig eine Zentralkongregation und in den Provinzhauptstädten eine Provinzialkongregation mit konsultativer Funktion insbesondere bei der politiche e amministrative della Restaurazione in Italia, in: La Restaurazione in Italia, Roma 1976, S. 65–93, hier S. 80 f. 5 Neben dem napoleonischen Modell wurde inzwischen auch die Bedeutung der österreichischen Zivilrechtskodifikation im nationalen Einigungsprozess Italiens erkannt; vgl. Maria Rosa Di Simone, Il codice civile austriaco nel dibattito per l’unificazione legislativa italiana, in: Marco Meriggi/Brigitte Mazohl-Wallnig (Hg.), Österreichisches Italien – Italienisches Österreich? Interkulturelle Gemeinsamkeiten und nationale Differenzen vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien 1999, S. 395–409. 6 Zur jüngeren Forschungsdebatte über den Begriff siehe Nicholas Henshall, The Myth of Absolutism, 2. Aufl. London 1993; Heinz Duchhardt, Absolutismus – Abschied von einem Epochenbegriff?, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 113–122; ders./ Ronald G. Asch, Der Absolutismus – ein Mythos?, Köln 1996; Reinhard Blänkner, Absolutismus. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur politischen Theorie und zur Geschichtswissenschaft in Deutschland 1830–1870, Frankfurt a.M. 2011.

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Steuererhebung und -verteilung sowie bezüglich der lokalen Haushalte. Somit wurde den grundbesitzenden Schichten auf regionaler Ebene eine gewisse Repräsentativität eingeräumt, während man die alten Gemeindeautonomien nicht wiederherstellte, die bereits in napoleonischer Epoche dem Verwaltungszentralismus gewichen waren.7 Dieses Modell beruhte auf einer pyramidal angeordneten Struktur von zum Teil wählbaren Konsultativorganen auf der kommunalen, provinzialen und zentralen Ebene der Zivilverwaltung und hatte an seiner Spitze einen Staatsrat. Dabei verfügten all diese Gremien lediglich über eine beratende Funktion (vor allem bezüglich der Aufteilung der Steuerlast, Genehmigung der kommunalen Haushalte etc.) und keinerlei bindende Entscheidungsgewalt (auch kein Recht zur Steuererhebung). Während in der administrativen Monarchie die peripheren Ratsorgane (z.B. die Provinz-, Distrikt- und Gemeinderäte im Königreich beider Sizilien) lediglich eine unterstützende Funktion gegenüber den ihnen zugeordneten Verwaltungsbehörden besaßen, zeichneten sich die Beratungsorgane der konsultativen Monarchie hingegen durch eine größere Eigenständigkeit, die zwischen ihnen bis hinauf zum Staatsrat hergestellte Kommunikation und eine gewisse Repräsentativität, d.h. gesellschaftliche Mitwirkung bei ihrer Bestellung aus.8 Nach der von Ghisalberti geprägten, nationalgeschichtlich orientierten Verfassungsgeschichtsschreibung versuchten also die monarchischen Staaten Italiens im Zeitraum 1815–1847 unter mehr oder weniger ausdrücklichem Rückgriff auf die französisch-napoleonischen Verwaltungs- und Rechtsreformen, aber in jedem Fall unter entschiedener Zurückweisung der Prinzipien der Volkssouveränität und der Bürgerrechte, ihren ausschließlichen Machtanspruch gegen die lokalen Kräfte und den auf Partizipation drängenden bürgerlich-adeligen Liberalismus im Rahmen der beiden beschriebenen Varianten eines reformierten Absolutismus durchzusetzen. Dessen Scheitern im Zuge eines revolutionären Übergangs zum Konstitutionalismus durch die – freilich oktroyierten – Verfassungen von 1848 wurde lange und wird zum Teil noch heute als zwangsläufiger Entwicklungspfad betrachtet. Allerdings hat neuerdings gerade die Auseinandersetzung der Risorgimento-Forschung mit der 7 Vgl. u.a. Marco Meriggi, Introduzione, in: Ders./Mazohl-Wallnig (Hg.), Italien – Österreich (wie Fn. 5), S. 13–16; Di Simone, Codice (wie Fn. 5); Eurigio Tonetti, Governo austriaco e notabili sudditi, Venezia 1997; ders., Dall’età napoleonica alla seconda dominazione asburgica nel Veneto, in: Filiberto Agostini (Hg.), Le amministrazioni comunali in Italia, Milano 2009, S. 321–331, hier bes. S. 321–323; Ghisalberti, Strutture (wie Fn. 4), S. 74 f.; Emanuele Pagano, Il contributo delle Province alla finanza pubblica nel primo Ottocento, in: Filiberto Agostino (Hg.), Le amministrazioni provinciali in Italia, Milano 2011, S. 16–37, hier S. 24–29. 8 Z.B. durch Vorschlag von Kandidatenlisten und durch Wahl im Königreich Lombardo-Venetien.

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Frage nach alternativen Optionen zur Konstitutionalisierung und Nationsbildung Italiens9 eine solche teleologische Perspektive durch zwei neue Ansätze deutlich aufgeweicht.

1.2 Modernisierter Absolutismus und Konsultativmonarchie als italienische Alternative zum europäischen Konstitutionalismus: das regional orientierte und europäisch vergleichende Erklärungsmodell Im Rahmen der kritischen Infragestellung des Risorgimento-Mythos, die seit Längerem Einzug in die neuere italienische Geschichtsschreibung gehalten hat10, beleuchtet die Forschung bekanntlich in stärkerem Maße die Widersprüche und Defizite im Prozess der Nationalstaats- und Nationsbildung, um insgesamt den Verlauf des Risorgimento kontrovers zu diskutieren.11 Dies hat auch ein größeres Interesse für die einzelstaatliche(n) Verfassungsgeschichte(n) vor 9 Vgl. zu dieser Frage Lucy Riall, Risorgimento. The History of Italy from Napoleon to Nation State, Basingstoke 2009, S. 51 f., 115 f., 122–146 u. 154–160. 10 Das Scheitern und Ende der Risorgimento-Ideologie wurde bereits eingeläutet von Sergio Romano, Declino e morte dell'ideologia risorgimentale (1994), in: Ders., Storia d'Italia dal Risorgimento ai nostri giorni, Milano 1999, S. 378–391; dt.: Niedergang und Ende der risorgimentalen Ideologie, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 75 (1995), S. 427–444. 11 Jüngere Bilanzen zur Geschichtsschreibung des (Post-)Risorgimento, verstanden als Prozess der Nations- und Nationalstaatsbildung Italiens 1796–1915, stammen von Giuseppe Talamo, Il Risorgimento italiano, in: Arnold Esch/Jens Petersen (Hg.), Deutsches Ottocento, Tübingen 2000, S. 19–29; Wolfgang Schieder (Hg.), Italien im 19. und 20. Jahrhundert – ein „Sonderweg“?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), H. 2, S. 201–306; Ester Capuzzo (Hg.), Cento anni di storiografia sul Risorgimento, Roma 2002; Patrick Ostermann, Neue Interpretationen des ‚risorgimento‘, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 14 (2002), S. 281–285; Werner Daum, Neue Perspektiven der Risorgimento-Forschung im Italien der „Zweiten Republik“ 1992–2002 (Erstanlage 15.08.2003), in: www.risorgimento.info/besprechungen2a.htm (letzte Änderung: 22.12.2008); Gabriele B. Clemens, Neuere Forschungen zum liberalen Italien (Teil I– II), in: Neue Politische Literatur 50 (2005), S. 69–83 u. 235–247; Giuseppe Talamo, Attraverso il Risorgimento e l’Italia unita, Roma 2007 (insbes. S. 107–132 mit einem Bericht über die historiographischen Polemiken hinsichtlich des Risorgimento); Riall, Risorgimento. The History (wie Fn. 9), S. 37–52 u. 117–122. – Speziell die diesbezügliche deutsche Forschungslandschaft dokumentieren: Andrea Ciampani/Lutz Klinkhammer (Hg.), La ricerca tedesca sul Risorgimento italiano, in: Rassegna Storica del Risorgimento 88 (2001), Supplemento al fascicolo IV (Sonderheft); Werner Daum u.a., Deutsche Geschichtsschreibung über Italien im „langen 19. Jahrhundert“ (1796–1915), in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 455–484; dies., Un decennio di storiografia tedesca sul „lungo Ottocento“ italiano (1796–1915), in: Rivista storica italiana 119 (2007), H. 1, S. 316–358.

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der nationalen Einigung Italiens hervorgerufen. Dabei steht zum einen die Geschichte der italienischen Einzelstaaten (vornehmlich in der Restaurationsepoche 1815–1859), die infolge der älteren Piemontisierungsthese vernachlässigt worden war, im Zentrum der Aufmerksamkeit;12 zum anderen wird das Risorgimento unter Anknüpfung an den kulturgeschichtlichen Paradigmenwechsel nun im Rahmen der „Neuen Politikgeschichte“ als Nationalbewegung neu erklärt und verstanden. Symptomatischer Ausdruck für den Nachvollzug der kulturgeschichtlichen Wende durch die Risorgimento-Forschung ist der betreffende Band der für die italienische Nationalgeschichtsschreibung traditionsreichen Überblicksreihe „Annali della Storia d’Italia“, mit dem die Herausgeber das Plädoyer „für eine neue Geschichte des Risorgimento“, das hier auch als Bewegung von Massen verstanden wird, verknüpfen: Banti und Ginsborg identifizieren grundlegende Topoi im nationalen Diskurs, welche die Geschlechterbeziehungen und das Verhältnis zum Anderen bzw. Fremden ordnen, wobei sie die diskursiv-imaginäre Ebene mit den sozialen und politischen Praktiken in Beziehung setzen.13 Vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlich motivierten Aufmerksamkeit für den nationalen Diskurs in der italienischen Staatenwelt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist sich die Forschung aber auch der Notwendigkeit bewusst, den konflikthaften Charakter der italienischen Nationsbildung und Nationalbewegung sowie die expliziten und impliziten Exklusionen und alternativen Vorstellungen, die mit dem

12 Als exemplarisch für vergleichende Synthesen der Geschichte der italienischen Einzelstaaten können gelten: Alfonso Scirocco, L'Italia del Risorgimento 1800–1871, Neuaufl. Bologna 1999 (Erstausg. 1990); Lucy Riall, The Italian Risorgimento: State, Society, and National Unification, London 1994 (ital.: Il Risorgimento. Storia e interpretazioni, Roma 1997); dies., Risorgimento. The History (wie Fn. 9), S. 53–116; Alfonso Scirocco, In difesa del Risorgimento, Bologna 1998; Marco Meriggi, Gli stati italiani prima dell’Unità, 2. Aufl. Bologna 2011 (Erstaufl. 2002); ders., Gli antichi stati crollano, in: Alberto M. Banti/Paul Ginsborg (Hg.), Il Risorgimento, Torino 2007, S. 541–566. – Anhand der Krise der italienischen Einzelstaaten 1848–1860 untersucht deren Funktionsweise und Formation der Tagungsband von Paolo Macry (Hg.), Quando crolla lo Stato, Napoli 2003. 13 Alberto M. Banti/Paul Ginsborg, Per una nuova storia del Risorgimento, in: Dies. (Hg.), Il Risorgimento, Torino 2007, S. XXIII–XLI. Grundlegend für diese Hinwendung zum risorgimentalen Diskurs war bereits Alberto M. Banti, La nazione del Risorgimento, Torino 2000. – Für die kulturalistische Interpretation des Risorgimento als Nationalbewegung siehe auch Riall, Risorgimento. The History (wie Fn. 9), S. 50–52 u. 122–146. – Zum Exil italienischer Emigranten im Zeitraum 1815–1835 als Faktor der nationalen Identitätsbildung, wobei dieser „diasporic nationalism“ (S. 1) im Rahmen von Transferprozessen und Reisebeziehungen als Teil einer liberalen Internationale verständlich wird, siehe Maurizio Isabella, Risorgimento in Exile, Oxford 2009.

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narrativen Kanon des nationalen Diskurses inkompatibel waren, nicht aus den Augen zu verlieren.14 Die institutionen- und verfassungsgeschichtliche Forschung im engeren Sinne hat den zweigleisigen Perspektivenwechsel der Risorgimento-Forschung – Hinwendung zur Geschichte der Einzelstaaten und kulturalistische Deutung – insofern nachvollzogen, als sie sich zum einen nun dem Staatsbildungsprozess in den italienischen Einzelstaaten und insbesondere dem dabei zutage tretenden dialektischen Verhältnis zwischen staatlicher Zentralisierung und dem lokalen, auf den munizipalen Eliten basierenden Verwaltungspluralismus widmet. Dabei versuchen interdisziplinär und europäisch vergleichend angelegte Untersuchungen an übergreifende Forschungszusammenhänge anzuknüpfen.15 Dies hat insgesamt zu einer Relativierung der piemontesischen Grundlagen der italienischen Einheit geführt, gegenüber denen nun sowohl die habsburgische Rechts- und Verwaltungstradition als auch die napoleonischen Neuerungen betont werden.16 Zum anderen lässt sich in der italienischen Verfassungsgeschichtsforschung nun auch ein deutliches Interesse für das Phänomen der Verfassungskultur konstatieren, wobei insbesondere die Ausbildung einer öffentlichen Meinung und die Formierung eines kritischen Publikums im Mittelpunkt stehen.17 Die regional orientierte und europäisch vergleichende Neuausrichtung der Verfassungsgeschichtsforschung lässt sich durch mehrere neuere Arbeiten belegen, von denen ich hier drei Ansätze näher vorstellen möchte. Die Kontinuität zwischen französisch-napoleonischer Epoche und Restauration: Im Zusammenhang mit der Periodisierung zwischen 18. und 19. Jahrhundert stehen die Kontinuität zwischen napoleonischer Herrschaft und Restaurationsepoche sowie die Be- und Aufwertung der Revolutionen von 1820/21 14 Gianluca Albergoni, Sulla „nuova storia” del Risorgimento, in: Società e storia, 2008, Nr. 120, S. 349–366. In diesem Sinne wurde bereits eine Geschichte der inneren und äußeren Konflikte des Risorgimento auf militärischem, politischen und sozialen Feld vorgelegt: Mario Isnenghi/Eva Cecchinato (Hg.), Fare l'Italia: unità e disunità nel Risorgimento, Torino 2008. 15 Zur deutsch-italienischen Parallelität in der regionalen Orientierung der modernen Staatsbildung siehe Rudolf Lill, Alcune considerazioni su federalismo e regionalismo come elementi di continuità nella storia tedesca, in: Ester Capuzzo/Ennio Maserati (Hg.), Per Carlo Ghisalberti, Napoli 2003, S. 709–716, hier insbes. S. 709 f. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Bilanz aus rechtsgeschichtlicher Perspektive von Bernardo Sordi, Recent Studies of Public Law History in Italy (1992–2005), in: Zeitschrift für Neue Rechtsgeschichte 29 (2007), H. 3–4, S. 260–276. 16 Marco Meriggi, Introduzione, in: Ders./Mazohl-Wallnig (Hg.), Italien–Österreich (wie Fn. 5), S. 13–16; Di Simone, Codice (wie Fn. 5). 17 Fernanda Mazzanti Pepe (Hg.), Culture costituzionali a confronto, Genova 2005; Opinione pubblica, in: Giornale di storia costituzionale 6 (2003), H. 2 (Themenheft).

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und 1848 im Zentrum. Den Aspekt einer modernisierend wirkenden Kontinuität zwischen napoleonischer Epoche und Restauration18 betonen vor allem auch angelsächsische Forschungsansätze, die sich der Verfassungsgeschichte italienischer Einzelstaaten im langen 19. Jahrhundert aus übergreifender europäischer Perspektive nähern: So hat Michael Broers für Piemont-Sardinien herausgearbeitet, dass die Erfahrung der französisch-napoleonischen Herrschaft und der damit verbundenen Reformen, nämlich des Aufbaus eines einheitlichen und zentralisierten Justiz- und Verwaltungssystems, durch das der Staat auf lokaler Ebene für die aufsteigenden Eliten der Provinzial- und Munizipalverwaltungen unmittelbar erfahrbar wurde, von entscheidender Bedeutung für den Ausbau des savoyischen Staates durch Karl Albert ab den 1830er Jahren und somit auch für die Entwicklung des späteren italienischen Staates war.19 Für Süditalien hat John A. Davis eine besonders tiefe Krise des bourbonischen Ancien Régime als Ursache für den im französischen Herrschaftsjahrzehnt im Königreich Neapel begonnenen und dann während der Restauration in „beiden Sizilien“ fortgesetzten Modernisierungsprozess aufgezeigt.20 In den italienischen Restaurationsstaaten insgesamt entdeckt Marco Meriggi eine „hidden Napoleonic legacy“, da dort die gemäßigt-liberale, aristokratisch dominierte Bewegung insofern eine Oppositionshaltung zum napoleonischen Erbe einnahm, als sie Napoleons Lösung für den durch die Französische Revolution provozierten Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit – nämlich die prinzipielle Rechtsgleichheit und den absoluten Machtanspruch des Staates – ablehnte.21 Doch auch die an den republikanischen Jakobinismus von 1796–1799 anknüpfende demokratische Alternative hat vor allem hinsichtlich der beiden italienischen Verfassungsrevolutionen von 1820/21 dank der europäisch übergreifenden Bedeutung der darin diskutierten Verfassungsmodelle (der sizilianischen und der spanischen Konstitution von 1812) und deren dezentralen Ausrichtung, die angesichts der späteren Durchsetzung des zentra-

18 Speziell für Süditalien: Angelantonio Spagnoletti, Storia del Regno delle Due Sicilie, Bologna 1997, bes. S. 7 u. 123–133; Emilio Gin, L’aquila, il giglio e il compasso, Mercato S. Severino 2007, bes. S. 155–167. 19 Michael Broers, Napoleonic Imperialism and the Savoyard Monarchy 1773–1821, Lewiston-Queenston 1997, bes. S. 37–49. 20 John A. Davis, Naples and Napoleon, Oxford 2006. Zur Forschungsdebatte über den Grad der Modernisierung im Königreich Neapel in napoleonischer Epoche siehe zuletzt Anna Maria Rao, Il „Decennio francese”, in: Dies. u.a. (Hg.), Due francesi a Napoli, Napoli 2008, S. 117–194. 21 Marco Meriggi, State and Society in Post-Napoleonic Italy, in: David Laven/Lucy Riall (Hg.), Napoleon’s Legacy, Oxford 2000, S. 49–63, hier S. 50.

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listischen Modells des Statuto Albertino (1848) lange vernachlässigt worden war, neuerdings ein größeres Forschungsinteresse gefunden.22 Das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie: Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, die bis heute die Verfassungsreformdebatte in Italien beherrscht, berührt auch die Frage nach der lokalen Trägerschaft der Verfassungs- und Nationalbewegung (ob im Adel, im Bürgertum oder in beiden). So hat Marco Meriggi aus der Geschichte der italienischen Einzelstaaten eine italienische Form des Liberalismus isoliert, die gegen das Individualprinzip des übrigen europäischen Liberalismus ihren besonderen Ausdruck in der korporativ-lokalistischen Ausrichtung eines „munizipalen Konstitutionalismus“ und in der diesem entsprechenden „konsultativen Monarchie“ fand.23 Ausgehend vom frühneuzeitlichen Herrschaftssystem der Medici hat Luca Mannori das dialektische Verhältnis zwischen der Zentralisierung der Macht und dem fortbestehenden institutionellen Pluralismus aufgezeigt, das dem Verfassungssystem der Toskana zugrunde lag.24 Ein weiteres Beispiel ist eine Untersuchung ebenfalls zur Toskana von Thomas Kroll, 22 Antonino De Francesco, Rivoluzione e costituzioni, Napoli 1996; Andrea Romano (Hg.), Il modello costituzionale inglese e la sua recezione nell’area mediterranea tra la fine del 700 e la prima metà dell’800, Milano 1998; Maria Sofia Corciulo, La circolazione del modello spagnolo in Italia (1820–1821), in: Mazzanti Pepe (Hg.), Culture (wie Fn. 17), S. 129–147; Maria Sofia Corciulo, Una rivoluzione per la costituzione, Pescara 2009; Werner Daum, Oszillationen des Gemeingeistes, Köln 2005; Giuseppe Galasso, Il Regno di Napoli, Torino 2007, S. 229–235; Andreas Timmermann, Die „gemäßigte Monarchie“ in der Verfassung von Cádiz (1812) und das frühe liberale Verfassungsdenken in Spanien, Münster 2007; Jens Späth, Revolution in Europa 1820–1823, Köln 2012. – Demgegenüber bleibt das zweite verfassungsgeschichtlich relevante Ereignis der Epoche, die liberalen mittelitalienischen Aufstände von 1830/31, bisher unterbelichtet. Vgl. jedoch Michael Strauß, „Bologna Nazione!“, Magisterarb. Univ. Freiburg 2005; und in europäischer Perspektive: Julia A. Schmidt-Funke, Revolution als europäisches Ereignis, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 10 (2009), S. 149–194. 23 Meriggi, Stati italiani (wie Fn. 12), bes. S. 176 f. (Erstaufl. 2002); ders., Antichi stati (wie Fn. 12), bes. S. 551 f. u. 554–557. Vgl. auch die Identifizierung der historischen Wurzeln des italienischen Lokalismus mit dem auf Besitz begründeten städtischen Partikularismus der traditionellen lokalen Notabeln, der auch im Nationalstaat als urbaner Polizentrismus fortbesteht, durch Raffaele Romanelli, Le radici storiche del localismo italiano, in: Il Mulino 40 (1991), Nr. 336, H. 4, S. 711–720. 24 Luca Mannori, L’amministrazione del territorio nella Toscana granducale, Firenze 1988; ders./Bernardo Sordi, Storia del diritto amministrativo, 4. Aufl. Roma 2006 (Erstausg. 2001); ders., L’età di Pietro Leopoldo, in: Il territorio pistoiese nel Granducato di Toscana, Pistoia 2006, S. 49–98; ders., Effetto domino, in: Mario Ascheri/ Alessandra Contini (Hg.), La Toscana in età moderna (secoli XVI–XVIII), Firenze 2006, S. 59–90; ders., Un‘ „istessa legge“ per un‘ „istessa sovranità“, in: Italo Birocchi/ Antonello Mattone (Hg.), Il diritto patrio tra diritto comune e codificazione (secoli XVI–XIX), Roma 2006, S. 355–386.

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die die Entfremdung zwischen lokalem Adel und moderner Staatsbürokratie, die nicht zuletzt auch vom aufsteigenden Bürgertum usurpiert wurde, für die Gegnerschaft des Patriziats gegenüber dem spätabsolutistischen Großherzogtum verantwortlich macht, die geradezu unbeabsichtigt in der Unterstützung der piemontesisch-italienischen Einigung gemündet sei.25 Die vergleichende Analyse der Entstehungsgeschichte der bisher vernachlässigten italienischen Verfassungen von 1848 veranlasst schließlich Kerstin Singer zur Feststellung unterschiedlicher Konzeptionen und Umsetzungen der konsultativen Monarchie im Rahmen eines munizipal-ständischen Verfassungsverständnisses im Italien der Restaurationsepoche.26 Dort identifiziert sie einen vormärzlichen „Paläokonstitutionalismus“, in dem das Verfassungsmodell der konsultativen Monarchie nicht nur als Übergangsphase zum Repräsentativsystem konfiguriert wurde; vielmehr schien das Modell der konsultativen Monarchie bis zum oktroyierten Konstitutionalismus von 1848 zeitweise auch als eine italienische Antwort auf den europäischen Konstitutionalismus auf. Die gesamteuropäische Einordnung: Inwieweit fand aber die diskursgeschichtlich so zentrale Konsultativmonarchie auch in der historischen Empirie ihren Ausdruck? Die systematisch vergleichende, an der gesamteuropäischen Verfassungsgeschichte orientierte Analyse der italienischen Verfassungsentwicklung im Zeitraum 1815–1847 hat ergeben27, dass das von der jüngeren Forschung so stark gemachte System der konsultativen Monarchie nur in wenigen europäischen Ländern (Dänemark ab 1834, Preußen), in Italien lediglich im habsburgischen Lombardo-Venetien voll ausgebildet war. So nominierte bei der Bestellung der 1834 in Dänemark eingeführten vier Ständeversammlungen der König einige Mitglieder nach ständischer (jedoch nicht adeliger) Zugehörigkeit und Besitzzensus, während die Mehrheit der Repräsentanten aber durch eine ausschließlich auf Grund(pacht)besitz gegründete Zensuswahl bestimmt wurde. Preußen bildete auf zentraler staatlicher Ebene eine sogar noch stärker ständisch geprägte Form der konsultativen Monarchie aus, deren periphere Mitwirkungsorgane (Provinziallandtage) im Gegensatz zum zentralstaatlichen Staatsrat eine ständische Repräsentationsbasis aufwie25 Vgl. Thomas Kroll, Die Revolte des Patriziats, Tübingen 1999. Demgegenüber ist die Auffassung vertreten worden, dass vielmehr die Spannungen und Kommunikationsstörungen zwischen Zentrum und Peripherie die – bürgerliche und adelige Kräfte gleichermaßen umfassende – Elite in Opposition zum Großherzogtum gebracht habe: Antonio Chiavistelli, Dallo Stato alla nazione, Roma 2006. 26 Kerstin Singer, Konstitutionalismus auf Italienisch, Tübingen 2008, bes. S. 72–142; das nachfolgende Begriffszitat auf S. 132. 27 Werner Daum, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2: 1815–1847, Bonn 2012, S. 66–94.

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sen, in den 1840er Jahren durch die Öffentlichkeit ihrer Verhandlungen aber dennoch zur Ausbildung breiterer regionaler politischer Kulturen beitrugen.28 Neben der geringen Präsenz der konsultativen Monarchie lässt sich aber auch die administrative Monarchie nicht immer in eindeutiger Ausprägung feststellen. So oszillierte das monarchische Verfassungssystem der süditalienischen Bourbonen im Zeitraum 1815–1847 eher zwischen absolutistischer Selbstbehauptung und administrativer Monarchie. Demgegenüber generierte der 1831 geschaffene sardinische Staatsrat, obgleich seine ursprüngliche Anlage auf die Realisierung einer „konsultativen Monarchie“ hinzudeuten schien, in seiner praktischen Anwendung und Funktionsweise ein Verfassungsgefüge, das der „administrativen Monarchie“ zuzurechnen ist. In noch entschiedenerer Weise bewegten sich die meisten mittelitalienischen Fürstentümer29 zwischen autoritärem und reformiertem Absolutismus mit ihren zum Teil an das Ancien Régime erinnernden Lokalverwaltungen (bspw. der Magistrat in MassaCarrara), gegenüber denen sich der Zentralstaat im Interesse einer besseren fiskalischen Durchdringung der Territorien allmählich als Kontrollinstanz durchsetzte (Staatsrat in Parma-Piacenza, Gemeindeaufsichtsbehörde in der Toskana). Dies trifft auch auf den Kirchenstaat zu, da dort die Ansätze zur Stärkung der Lokalverwaltung und zur Einführung eines Konsultativsystems nach 1831 schnell wieder verpufften, das System also noch nicht den dauerhaften Übergang zum reformierten Absolutismus vollzog. Vor dem Hintergrund dieses Befunds einer relativ schwachen institutionellen Ausprägung der Konsultativmonarchie im Italien der Restaurationsepoche ist es nicht überraschend, dass dieses auch als „munizipaler Konstitutionalismus“ (Marco Meriggi) mehrfach angesprochene System sich gerade durch die Erfahrungen von 1848 als ungeeigneter Weg zur Konstitutionalisierung Italiens erwies.30 Dies deckt sich mit der explizit verfassungsgeschichtlichen Deutung des Risorgimento, mit der Luca Mannori die italienische Nationalstaatsbildung von 1861 als – vor dem Hintergrund des internationalen, Habsburgs Interessen untergeordneten Mächtesystems – einzig möglichen Weg zur Konstitutionalisierung verständlich gemacht hat; einer Konstitutionalisierung wohlgemerkt, die die regionalen Eliten Italiens ursprünglich eigentlich nur für

28 Zu den preußischen Provinzialständen vgl. die Pilotstudie von Roland Gehrke, Landtag und Öffentlichkeit, Köln 2009 (zugl. Habil. Stuttgart 2009). 29 Diese hier nur knapp skizzierte Schlussfolgerung verdanke ich der ausführlichen Darstellung von Francesca Sofia, Die mittelitalienischen Fürstentümer und der Kirchenstaat, in: Daum (Hg.), Handbuch Bd. 2 (wie Fn. 27), S. 395–432. 30 Singer, Konstitutionalismus (wie Fn. 26); zum Konstitutionalismus von 1848 siehe auch Meriggi, Stati italiani (wie Fn. 12), S. 181–198 (Erstaufl. 2002).

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ihre jeweiligen Einzelstaaten angestrebt hatten, mit der sie dort – PiemontSardinien ausgenommen – aber gescheitert waren.31

2. Verfassungsgeschichte des liberalen Italien 1861–1922 Für die Deutung der italienischen Verfassungsentwicklung von der Nationalstaatsgründung 1861 bis zum Aufkommen des Faschismus 1922 hat sich bereits im zeitgenössischen Kontext das Schlüsselkonzept der parlamentarischen Regierung herausgebildet. Das liberale Italien, also der junge italienische Nationalstaat im Zeitraum 1861–192232, galt lange Zeit und gilt zum Teil noch bis heute als frühzeitig parlamentarisiertes System. Diese Auffassung rekurriert noch auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen Cavours, die sich dann in der Staatsrechtslehre des liberalen Italien verfestigt hat.

2.1 Methodischer Ansatz und politischer Erfolg der Parlamentarisierungsthese im späten 19. Jahrhundert Erst vor einigen Jahren hat u.a. die italienische Verfassungshistorikerin Anna Gianna Manca dieses Verdikt in Frage gestellt und zugleich seine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte begriffskritisch reflektiert.33 Demnach wurde die Feststellung eines „governo parlamentare“ bereits in den 1880er Jahren von den beiden maßgeblichen Staatsrechtlern des liberalen Italien, Vittorio Emanuele Orlando (1860–1952) und Giorgio Arcoleo (1850–1914), vertreten. Unter Anwendung eines rechtspositivistischen Ansatzes34 untersuchte Orlando 31 Luca Mannori, Il Risorgimento tra „nuova“ e „vecchia“ storia, in: Società e storia, 2008, Nr. 120, S. 367–379; ders., Alla periferia dell’Impero, in: Marco Bellabarba u.a. (Hg.), Gli Imperi dopo l’Impero nell’Europa del XIX secolo, Bologna 2008, S. 309– 346. 32 Die Verfassungsgeschichte des Königreichs Italien wird aufgrund ihrer institutionellen und normativen Nähe zum vorangegangenen Königreich Piemont-Sardinien immer einschließlich ihrer piemontesischen Vorgeschichte ab 1848 betrachtet. 33 Anna Gianna Manca, Die neueste italienische Verfassungsgeschichte und die ‚parlamentarische Regierung‘ im Königreich Italien (1861–1922), in: Helmut Neuhaus (Hg.), Verfassungsgeschichte in Europa, Berlin 2010, S. 71–84; dies., Staatsrechtliche Diskurse als Verfassungsfaktor?, in: Peter Brandt u.a. (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit, Bonn 2005, S. 331–352. 34 Wie Paul Laband in Deutschland spielte Orlando in Italien eine maßgebliche Rolle bei der Einführung der so genannten juristischen Methode in den Bereich des Öffentlichen Rechts, wo sie den bisherigen politisch-historischen und philosophischen Ansätzen Konkurrenz bot.

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allerdings nicht die theoretisch mögliche, faktisch aber nicht ausgebildete parlamentarische Regierung, sondern die tatsächlich vorhandene Kabinettsregierung mit ihrem als Vermittler zwischen Krone und Parlament fungierenden Ministerrat, die er freilich als „governo parlamentare“ bezeichnete.35 Die Einrichtung einer Kabinettsregierung sah der Statuto Albertino, das 1848 in Piemont-Sardinien erlassene und 1861 für ganz Italien übernommene monarchisch-konstitutionelle Statut, aber gar nicht vor. In der Tat erwähnte die Verfassung die Exekutive kaum, sondern verfügte lediglich, dass „die Minister verantwortlich“ seien (Statuto Albertino, Art. 67). Das piemontesisch-italienische Verfassungsstatut unterstellte den Staat einer monarchischrepräsentativen Regierung (Art. 2), übertrug die Legislative dem König und Parlament (Art. 3), die Exekutive dem in seiner Person unverletzlichen König (Art. 4–5), während die vom König zu nominierenden und abzusetzenden Minister (Art. 6, 65), die auch Parlamentsabgeordnete sein konnten (Art. 66), allein die Verantwortung für die von ihnen zu unterzeichnenden Gesetze und Verordnungen trugen (Art. 67). Die juristische Tragweite dieser Verantwortlichkeit konnte in Form einer auf Initiative der Deputiertenkammer zu erfolgenden Ministeranklage (Art. 47) vor dem durch die Erste Kammer (Senat) gebildeten Obersten Gerichtshof (Art. 36) umgesetzt werden. Darüber hinaus enthält die Verfassung keine weiteren Bestimmungen bezüglich der Regierung und Minister.36 Bei der von Orlando untersuchten Kabinettsregierung unter Führung eines Ministerpräsidenten handelte es sich also um eine in Italien verfassungsmäßig gar nicht vorgesehene Institution, die sich erst mittels bestimmter Dekrete der Ministerpräsidenten Urbano Rattazzi (1867), Agostino Depretis (1876) und Giuseppe Zanardelli (1901) herausbildete.37 Während Orlando unter „governo parlamentare“ noch ein vom Kabinett des Ministerpräsidenten dominiertes eigenständiges Verfassungsorgan verstand, geriet die „parlamentarische Regierung“ bei Giorgio Arcoleo völlig zum Spielball der monarchischen Prärogative, da er auch am Parlament vorbei eingesetzte Regierungen noch un-

35 Vittorio Emanuele Orlando, Studi giuridici sul governo parlamentare, zuerst in: Archivio giuridico 36 (1886), S. 521–586; dann in: Ders., Diritto pubblico generale, Ndr. Milano 1954, S. 345–415. 36 Verfassung des Königreichs Sardinien (4.3.1848), in: Werner Daum/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Teil 3: 1848–1870, Bonn 2014, Dok.-Nr. 4.2.3. 37 Zum zunächst gescheiterten Dekret Rattazzis von 1867 und den umgesetzten Dekreten Depretis‘ vom 25.8.1876 und Zanardellis vom 14.11.1901 siehe Ghisalberti, Storia (wie Fn. 2), resp. S. 133, 167 f. u. 276 f.

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ter dem Begriff des „governo parlamentare“ subsumierte.38 Obwohl Arcoleo im Gegensatz zu Orlando mit seinem verfassungsgeschichtlichen Ansatz den Funktionswandel der Verfassungsorgane (in erster Linie der Regierung und des Staatsoberhaupts, in zweiter Linie aber auch von Parlament und Parteien) mitberücksichtigte, blieb der „Parlamentarismus“, den er seit 1870 in Italien verwirklicht sah, begrifflich ebenso unscharf wie bei seinem rechtspositivistischen Kollegen. Zum hauptsächlichen Unterscheidungskriterium zwischen konstitutioneller und parlamentarischer Regierung erklärte auch Arcoleo die Herausbildung der Kabinettsregierung, die den Dualismus von Krone und Parlament nur zum Teil vermittelnd aufheben sollte. Denn Arcoleo ließ sich vom Misstrauen gegenüber der erstarkenden Macht der Parteien zur bedingungslosen Anerkennung der monarchischen Prärogative und damit einer Vormachtstellung des Staatsoberhaupts verleiten. Betrachten wir die methodische Herangehensweise, so wird deutlich, dass nach Auffassung des Rechtspositivisten Orlando der antiparlamentarische Unmut seiner Epoche als auf die Praxis des Staats bezogener Gegenstand dem Untersuchungsfeld der Politikwissenschaft vorbehalten bleiben sollte, während das Öffentliche Recht sich allein mit der Organisation und Ordnung des Staats zu befassen habe. Innerhalb dieser Arbeitsteilung ging es Orlando um eine juristische Klärung des Begriffs „governo parlamentare“, der von der Politik seiner Zeit so häufig an die Wand gemalt wurde, aber seiner Auffassung nach rechtlich völlig inhaltslos war. In der Tat führte Orlandos begriffskritische Untersuchung, aus der er die Aktion von Parlament und Parteien weitgehend ausklammerte, in letzter unausgesprochener Konsequenz zu einer Widerlegung des Begriffs „governo parlamentare“ zugunsten des von ihm favorisierten „governo di gabinetto“, den er als zwischen Krone und Parlament vermittelnde Instanz zum Modell eines prinzipiell noch dual gedachten Verfassungssystems erhob. Und auch Arcoleo führte seine juristische Klärung des „governo parlamentare“ zur Kabinettsregierung, wobei hier die gedankliche Erweiterung um die verfassungsgeschichtliche Entwicklung und den Funktionswandel der Parteien keine systematische, sondern eine empirische, gewissermaßen realpolitische Begriffsschärfung zur Folge hatte: Arcoleo unterstellte die Vermittlungsautonomie der Kabinettsregierung dem Vorbehalt der in der italienischen Verfassungsentwicklung in der Tat so langlebigen monarchischen Prärogative. Trotz der Erfolge der rechtspositivistischen Schule im liberalen Italien blieb eine systematische Reflexion über die wesentlichen Struktur- und Funktionselemente eines parlamentarischen Regierungssystems 38 Giorgio Arcoleo, Il Gabinetto nei governi parlamentari, Napoli 1881; ders., Diritto costituzionale, Napoli 1903.

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(etwa im Gegensatz zum System des monarchischen Konstitutionalismus) aus. Mehr noch, die vermeintlichen Parlamentarisierungsthesen Orlandos und Arcoleos wurden inmitten der tiefen Verfassungskrise des liberalen Systems um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit besonderer Vehemenz von politischer Seite aufgegriffen. Sie trafen auf eine politische Kultur, die von einem zunehmenden Unmut gegenüber der politischen Bedeutung von Parlament und Parteien getragen wurde. Somit trug die These einer Parlamentarisierung, auch wenn sie durch Orlando gar nicht für möglich gehalten, wohl aber von der politischen Kultur kritisch thematisiert wurde, eher indirekt und unbeabsichtigt zur Legitimierung der antiparlamentarischen Kritik an der bisherigen Verfassungsentwicklung, zur Bekräftigung des Vorwurfs der Übermacht des Parlaments und zur Unterstützung der tagespolitischen Forderung nach einer „Rückkehr zum Verfassungsstatut“ im Sinne einer monarchistischen Auslegung des Verfassungstextes bei.39

2.2 Wirkungsgeschichte der Parlamentarisierungsthese im 20. Jahrhundert: Kontinuität und Widerlegung Eine gewisse Verquickung von Rechtslehre und Politik kennzeichnete somit auch die Wirkungsgeschichte der These einer frühzeitigen Parlamentarisierung des liberalen Italien. Diese machten sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Staats- und Verfassungsrechtler wie auch Historiker zu eigen, die zum Teil als Minister und/oder Parlamentarier selbst in das politische Geschäft eingebunden waren.40 So stellte in Anlehnung an Orlando der 39 Manca, Diskurse (wie Fn. 33). Zur Verfassungskrise im Italien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der rechtsliberale Kreise um Sidney Sonnino mit dessen Losung „Torniamo allo Statuto!“ („Kehren wir zur Verfassung zurück!“) begegneten, siehe Sidney Sonnino, Torniamo allo Statuto (1897), in: Ders., Scritti e discorsi extraparlamentari 1870–1902, Bd. 1, Bari 1972, S. 575–597; Alberto Maria Banti, Retoriche e idiomi, in: Storica, 1995, H. 3, S. 7–41; G. Guazzaloca, Fine secolo, Bologna 2004; Luigi Lacchè, La lotta per il regolamento, in: Eduardo Gianfrancesco/Nicola Lupo (Hg.), I regolamenti parlamentari nei momenti di „svolta“ della storia costituzionale italiana, in: Giornale di Storia costituzionale 15 (2008), I semestre, S. 33–52. 40 Zur letztgenannten Kategorie sind neben den bereits genannten Staatsrechtlern Vittorio Emanuele Orlando und Giorgio Arcoleo z.B. der Rechtswissenschaftler Enrico Pessina (1828–1916) und der Rechts- und Politikwissenschaftler Gaetano Mosca (1858–1941) zu zählen. Weitere Vertreter waren der Staatsrechtler und Historiker Gaetano ArangioRuiz (1857–1936) sowie die Verfassungsrechtler Gaspare Ambrosini, Francesco Racioppi und Ignazio Brunelli. Näheres, auch zum bibliographischen Niederschlag, bei Manca, Diskurse (wie Fn. 33).

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Verfassungsrechtler Gaspare Ambrosini (1886–1985) zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest, dass erst die Herausbildung und Festigung der Kabinettsregierung der parlamentarischen Regierung zur Durchsetzung verholfen habe. Nach Ambrosini unterstützte das vom Ministerpräsidenten geleitete Kabinett jedoch nur bis zum unmittelbaren Ende des Ersten Weltkriegs die Herausbildung eines „governo parlamentare“; als die Einführung des (fast) allgemeinen Wahlrechts (1918) und der Verhältniswahl (1919) sowie einer neuen Geschäftsordnung für die Abgeordnetenkammer (1920)41 die Funktion der neu entstehenden Massenparteien (neben der bereits 1892 gegründeten Sozialistischen Partei [Partito socialista italiano] entstanden 1919 die christliche Volkspartei [Partito popolare italiano], 1921 die Kommunistische Partei und die Faschistische Partei) bzw. Fraktionen im politischen System maßgeblich stärkte, geriet das liberale Herrschaftssystem der Kabinettsregierung eher in Kontrast zu den neuen Parteiorganisationen. In der unmittelbaren zweiten Nachkriegszeit wurde die Parlamentarisierungsthese durch den Verwaltungsrechtler Massimo Severo Giannini wieder aufgegriffen42, der allerdings keineswegs für eine einseitige Ausrichtung auf die juristische Methode bekannt war, sondern diese durch historische, politologische und soziologische Elemente zu bereichern pflegte.43 Sie wurde dann von maßgeblichen (Verfassungs-)Historikern des republikanischen Italien, wie dem bereits angesprochenen Carlo Ghisalberti44, Ettore Rotelli45 und Giuseppe Galasso46, fortgeschrieben und wird noch heute etwa vom Rechtswissenschaftler Giovanni Bognetti vertreten.47 Ghisalberti sah in der faktischen 41 Zur Entwicklung der Parlamentsreglements, die 1920 jeden Abgeordneten zur Fraktionszugehörigkeit verpflichteten, siehe das Schwerpunktheft von Gianfrancesco/Lupo (Hg.), Regolamenti (wie Fn. 39). 42 Massimo Severo Giannini, Lo Statuto albertino e la costituzione italiana, in: Carlo Arturo Jemolo/Massimo Severo Giannini (Hg.), Lo Statuto albertino, Firenze 1946, S. 43–78. 43 In seiner Interdisziplinarität habe er den Stellenwert der Theorie zugunsten empirischer Fakten reduziert; Marcello Pera, Massimo Severo Giannini, Roma, Senato della Repubblica, 2002, S. 3 (auch online: www.senato.it/documenti/repository/presidente/ discorsi/Giannini.pdf). 44 Ghisalberti, Storia (wie Fn. 2), bes. Kap. I, S. 38 f., Anm. 38 u. 42; Kap. II, S. 49–51; Kap. III, S. 87; Kap. IV, S. 136 (Parlamentarisierungsthese und -debatte). 45 Ettore Rotelli, La Presidenza del Consiglio dei ministri, Milano 1972. Die unmittelbar nachfolgende Arbeit Rotellis hat allerdings erstmals diese frühere Interpretation revidiert; siehe Fn. 52. 46 Giuseppe Galasso, Potere e istituzioni in Italia, Torino 1974, S. 200. 47 Auch die Herausgeber des dem Parlamentsrecht gewidmeten Schwerpunktheftes einer einschlägigen Fachzeitschrift für Verfassungsgeschichte gingen 2008 davon aus, dass „la storia del diritto costituzionale italiano è storia innanzi tutto dell’istituzione parla-

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Abspaltung der Regierung von der Krone den entscheidenden Schritt für einen Übergang zur parlamentarischen Regierung vollzogen, räumte als Konsequenz des unaufhörlichen Autonomiegewinns der Kabinettsregierung neben der sukzessiven Schwächung der Krone aber auch eine allmähliche Beschränkung der parlamentarischen Macht ein, wie sie besonders in der Epoche Giolittis deutlich geworden sei.48 Diesen Schritt lokalisierte er in der parlamentarischen Übertragung der Sondervollmachten auf die Regierung und nicht auf den an die Front gezogenen König anlässlich des Ersten Unabhängigkeitskrieges von 1848.49 Noch 1989 betrachtete indes der Verwaltungsrechtler Umberto Allegretti den frühen Übergang Italiens zum Parlamentarismus als positiven Hauptunterschied zur Verfassungsentwicklung im deutschen Kaiserreich50, wobei er allerdings in Anlehnung an Costantino Mortati (1891–1985) für Italien einen sog. dualistischen Parlamentarismus einräumte. Mortatis Verfassungslehre ging bekanntlich vom Dualismus zwischen formaler und materieller Verfassung aus, wobei er unter Ersterer die Gesamtheit der Verfassungsnormen, unter Letzterer die tatsächliche institutionelle Ausgestaltung der Rechtsordnung, d.h. die Gesamtheit der von den politischen und gesellschaftlichen Kräften (Parteien, Verbände, Gewerkschaften, Rechtsprechung, Verfassungsorgane) getroffenen Entscheidungen, verstand.51 Die Typisierung des liberalen Italien als dualistischer Parlamentarismus ermöglicht es Allegretti, einerseits ein für die Minister geltendes doppeltes Vertrauen (des Königs, des Parlaments) festzustellen und andererseits weiterhin von einer parlamentarischen Regierung zu sprechen. Demgegenüber sind unter Anknüpfung an erste Anregungen Ettore Rotellis52 einige von dessen Historikerkollegen um die Jahrtausendwende dazu übergegangen, die Funktionsweise von Regierung und Parlament näher zu betrachten.53 Gerade in der Verhinderung einer echten Parlamentarisierung

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mentare“. Eduardo Gianfrancesco/Nicola Lupo, Introduzione, in: Dies. (Hg.), Regolamenti (wie Fn. 39), S. 5–9, hier S. 5. Ghisalberti, Storia (wie Fn. 2), S. 167 f. u. 277. Für die noch ganz von Cavour geprägte Frühphase des piemontesischen Konstitutionalismus in den 1850er Jahren negiert Ghisalberti sogar einen Übergang zum Parlamentarismus; vgl. ders., L’unificazione italiana nei suoi riflessi istituzionali, in: Clio 47 (2011), H. 3, S. 381–391, bes. S. 387–390. Ders., Storia (wie Fn. 2), S. 40. Umberto Allegretti, Profilo di storia costituzionale italiana, Bologna 1989. Vgl. Costantino Mortati, La costituzione in senso materiale, Ndr. Milano 1998 (Erstausg. Milano 1940); ders., Le forme di governo, Padova 1973. Ettore Rotelli, L'organizzazione costituzionale nella storiografia del secondo dopoguerra (1978), in: Nicola Tranfaglia (Hg.), L’Italia unita, Milano 1981, S. 79–102. Giorgio Rebuffa, La costituzione impossibile, Bologna 1995; Roberto Martucci, Storia costituzionale italiana, Roma 2002.

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wird nun die Überlebensstrategie der liberalen Elite erkannt, die sich in einem parlamentarischen System keineswegs 60 Jahre lang ohne Parteiorganisation hätte halten können.54 Diese Nahsicht auf die historische Verfassungswirklichkeit hat ebenso zu einer Relativierung der Parlamentarisierungsthese geführt wie der zuletzt von Anna Gianna Manca verfolgte Ansatz einer begriffsund kulturgeschichtlich orientierten Diskursanalyse die konkrete historische Anwendung dieser These im liberalen Italien enthüllt hat.55 Über diese diskursgeschichtliche Erkenntnis hinaus betont Manca in realhistorischer Hinsicht den dualistischen, typisch monarchisch-konstitutionellen Charakter des Verfassungssystems für die gesamte Epoche des liberalen Italien, indem sie auf die starke Vormachtstellung der Exekutive gegenüber dem Parlament bei allen maßgeblichen innen- und außenpolitischen Entscheidungen verweist.56 Dies tut auch Martin Kirsch, mit dem man für das liberale Italien tendenziell von einem monarchischen Konstitutionalismus mit politischem Vorrang des Parlaments sprechen kann, der sich nur zeitweise zu einem parlamentarischen Konstitutionalismus wandelte, aber selbst dann noch durch die regelmäßige Anwendung der monarchischen Prärogative in bestimmten Politikbereichen (insbesondere Militärwesen und Außenpolitik) ausgehöhlt wurde.57

3. Bewertung der regional, national und europäisch orientierten Entwicklungs- und Erklärungsmodelle Die jüngere Forschung hat das Entwicklungsmodell Ghisalbertis in zweierlei Hinsicht bereichert: So hat sie seine angenommene zielgerichtete Dynamik deutlich gebremst, indem sie sowohl die Modernisierungsleistung der napoleonischen Reformen (insbesondere in Form der „administrativen Monarchie“) betonte als auch die sich daran anschließende „Zwischenform“ der Konsultativmonarchie als eigenständigen Verfassungstyp stärkte. Zugleich 54 Giovanni Orsina, Il „luogo” storico della riforma regolamentare del 1920 nella vicenda politica italiana, in: Gianfrancesco/Lupo (Hg.), Regolamenti (wie Fn. 39), S. 53–67, hier bes. S. 56. Der Verzicht auf eine Parteiorganisation sei demnach durch den Willen zur Integration aller systemtragenden Kräfte des neuen Nationalstaats motiviert gewesen, die bei einer präziseren parteilichen Formierung und Abgrenzung nicht in dem Maße gelungen wäre, wie sie für sechs Jahrzehnte im liberalen Italien erfolgreich war. 55 Manca, Diskurse (wie Fn. 33). 56 Dies., Verfassungsgeschichte (wie Fn. 33). 57 Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 171, 182–188 u. 198–200; siehe auch die bibliografischen Belege zu den unterschiedlichen Positionen in der Parlamentarisierungsdebatte (Befürwortung einer Parlamentarisierung ab 1848 bzw. ab 1852 sowie Ablehnung einer solchen These) ebd., S. 187/Anm. 124.

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hat sie sowohl das Modell der Konsultativmonarchie (oder des munizipalen Konstitutionalismus) als auch das der Verwaltungsmonarchie mithilfe des europäischen Vergleichs auf die empirische Ebene herabgebrochen und damit aufgezeigt, dass die Entwicklung von der administrativen zur konsultativen Monarchie nicht sehr geradlinig und nirgendwo mit eindeutiger Ausprägung verlief. In der Synthese ist Ghisalbertis Entwicklungsmodell somit hinsichtlich der Verfassungswirklichkeit, der „materiellen Verfassung“ im Italien des 19. Jahrhunderts deutlich revidiert, in ideengeschichtlicher Hinsicht aber ebenso gestärkt worden. Denn es wurde auch die hohe ideelle Ausstrahlungskraft aufgezeigt, die das Modell der Konsultativmonarchie zeitweise auf den öffentlichen Verfassungsdiskurs vor 1848 ausübte. In der Verfassungswirklichkeit hing aber die Funktionsfähigkeit der administrativen und konsultativen Monarchie von der Bereitschaft der lokalen adelig-bürgerlichen Eliten zur Mitwirkung und zur Unterordnung gegenüber dem Zentralstaat ab. Bereits ab 1847 wurde deutlich, dass diese Bereitschaft nachließ, und bekanntlich wurde sie im toskanischen Fall schließlich im Rahmen einer „Revolte des Patriziats”58 sogar offen aufgekündigt.

4. Bewertung der Parlamentarisierungsthese: methodische Hintergründe und historischer Kontext In methodischer Hinsicht lässt sich für die rund 150jährige Deutungsgeschichte einer „parlamentarischen Regierung“ des liberalen Italien vor dem Hintergrund des heutigen Kenntnisstandes vergleichender europäischer Verfassungsgeschichte für alle beteiligten Disziplinen eine deutliche begriffliche Unsicherheit als gemeinsames methodisches Defizit feststellen. Insbesondere scheint die große Aufmerksamkeit der italienischen Verfassungsforschung für die Phänomene jenseits der normativ-formellen Sphäre, also zum Beispiel für die Herausbildung einer von der Verfassung nicht vorgesehenen Kabinettsregierung, nicht unbedingt von einer empirisch-funktionalen Schärfung ihrer analytischen Instrumente begleitet worden zu sein. Dies gilt sowohl für rein rechtspositivistische Ansätze wie für die kombinierte Anwendung der juristischen und historischen Methode. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, dass unser heutiges, an der vergleichenden und typisierenden Betrachtung der europäischen Verfassungsentwicklung geschärftes Verständnis des „governo parlamentare“ von einer präzisen, auf den Funktionswandel des Parlaments im Übergang zum Parlamentarismus abhebenden Differenzierung ausgeht: 58 Kroll, Revolte (wie Fn. 25).

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Demnach wollen wir erst dann von einer „parlamentarischen Regierung“ sprechen, wenn das monarchische Staatsoberhaupt dauerhaft keine Regierung mehr am Willen der Parlamentsmehrheit vorbei einsetzen kann.59 Bezüglich Italiens fokussierte die auf die Rechtskultur des späten 19. Jahrhunderts zurückgehende Verfassungsforschung jedoch lange Zeit auf die dort entwickelte besondere Form der Kabinettsregierung, die Teil einer doppelköpfigen Exekutive (Monarch und Regierung) war und in der der Ministerpräsident neben dem Vertrauen des Parlaments vor allem des Vertrauens des Staatsoberhaupts bedurfte. Dieses Verständnis der parlamentarischen Regierung als Kabinettsregierung überhöhte ein besonderes Kennzeichen regulärer parlamentarischer Regierungsformen, nämlich die veränderte, gestärkte Rolle des Ministerpräsidenten gegenüber dem Staatsoberhaupt und den Ministern, um gleichzeitig das Hauptkennzeichen des Parlamentarismus, nämlich die veränderte Funktion des Parlaments, völlig zu ignorieren. In der Tat wurde in der Führerschaft des Ministerpräsidenten gegenüber der Parlamentsmehrheit ein Kennzeichen der parlamentarischen Regierung gesehen, ohne dabei dem Parlament das Recht und die Autonomie zur Aufkündigung der Gefolgschaft einzuräumen.60 Gegenüber unserem heutigen, verfassungsgeschichtlich und typologisch begründeten funktionalen Parlamentarismusverständnis entsprang der Begriff in Italien dem rechtspositivistischen Blick auf die empirischen Verfassungsverhältnisse in der liberalen Epoche, dem ein ziemlich nachhaltiger Einfluss auf die nachfolgende Verfassungsforschung beschieden war. In Hinsicht auf die materielle Verfassung lässt sich dieses ausschnitthafte Verständnis von Parlamentarismus mit der schwachen oder fast gar nicht ausgebildeten Funktion der Parteien im Verfassungssystem des liberalen Italien und der daraus resultierenden besonderen Technik der parlamentarischen Mehrheitsbildung erklären.61 Diese wurden begünstigt von einem exklusiven Wahlrecht: Bis zur Wahlrechtserweiterung von 1882 waren nach dem Zensuswahlrecht (Wahlrecht ab dem 25. Lebensjahr bei Erfüllung eines Zensus von 40 Lire jährlicher direkter Steuerleistung und der Lese- und Schreibfähigkeit) nur 2 % der Gesamtbevölkerung (8 % der männlichen Bevölkerung im wahlfähigen Alter) wahlberechtigt. Nach der Reform von 1882 (halbierter Zensus, Mindestalter von 21 Jahren, Volksschulbesuch) waren 6,9 % der Gesamtbevölkerung (24,3 % der männlichen Bevölkerung im wahlfähigen Alter) 59 Martin Kirsch, Verfassungsstruktur der zentralen staatlichen Ebene, in: Brandt u.a. (Hg.), Handbuch Bd. 1 (wie Fn. 4), S. 39–51, bes. S. 41 f. 60 Diese Sichtweise findet sich noch bei Ghisalberti, Storia (wie Fn. 2), S. 167 f. 61 Vgl. hierzu auch Kirsch, Monarch (wie Fn. 57), S. 184; Markus Schacht, Das Experiment Giolitti, in: Otto Büsch/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels, Hamburg 1995, S. 309–345.

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zu den Wahlen zugelassen.62 Neben dieser starken Wahlrechtsbeschränkung behinderten das päpstliche „Non expedit“ (1874) den Parteienbildungsprozess ebenso nachhaltig wie der Verzicht der staatstragenden Liberalen auf die Gründung einer eigenen Partei. Letzterer generierte – neben einer klientelaren Bindung des Abgeordneten an seine Wähler – die besondere Taktik des „trasformismo“, womit es den jeweiligen Regierungen regelmäßig gelang, ehemalige Gegner für ihr staatstragendes Bündnis zu gewinnen. Gegner wurden also zu Anhängern „transformiert“, und damit jedwede Opposition, ein Kennzeichen parlamentarischer Systeme, innerhalb des staatstragenden liberalen Spektrums verhindert, während man konsequentere politische Gegner in der parlamentarischen Praxis als extremistischer Flügel marginalisierte und neutralisierte. Die transformistische Strategie der parlamentarischen Mehrheitsbeschaffung beruhte wesentlich auf einer starken persönlichen, sich vom Vertrauen des Parlaments tendenziell abkoppelnden Position des Ministerpräsidenten, der verschiedenen politischen Gruppen als Integrationsfigur diente, und erreichte im Giolittismo (1901–1915) seine höchste und erfolgreichste Anwendung. In Kombination mit seiner liberalen Reformpolitik trug Ministerpräsident Giovanni Giolitti zu Beginn des 20. Jahrhunderts nochmals zur Überwindung der Systemkrise und zu einem letzten Höhepunkt des liberalen Systems in Italien bei. Im Ausblick auf die faschistische Epoche boten erst die im Vorfeld des Kriegseintritts über den Konflikt zwischen Neutralisten und Interventionisten bewirkte Schwächung der liberalen Systemkräfte und die damit verbundene erneute Systemkrise die Gelegenheit, mit dem Neutralismus auch die „parlamentarische Diktatur“ Giolittis zu beseitigen.63 Unmittelbar am Ende des Ersten Weltkriegs leitete das mit der Wahlrechtserweiterung und der Änderung der parlamentarischen Geschäftsordnung verbundene Erstarken der Parteien bzw. Fraktionen die Krise der liberalen Kabinettsregierung ein, die nun angesichts der sozialistischen bzw. katholischen Parteienbindung großer parlamentarischer Gruppen (Partito socialista, Partito comunista, Partito popolare) nicht mehr auf die bisher üblichen Strategien der Mehrheitsbeschaffung zurückgreifen konnte. Angesichts des Fehlens systemtragender liberaler Parteien, die für das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition geeignet gewesen wären, leitete diese Krise nun aber nicht zu einer wirklichen parteigebundenen Parlamentarisierung über, welche im Übrigen die liberalen Kräfte zu blockieren wussten, sondern führte im Zuge außerparlamentarischer

62 Daten nach Schacht, Experiment (wie Fn. 61), S. 318 f. 63 Ebd., S. 337.

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Konfliktaustragung zwischen Kommunisten und Sozialisten einerseits und Faschisten andererseits schließlich zum Faschismus.

5. Fazit In der Deutung der Verfassungsgeschichte Italiens im langen 19. Jahrhundert durch die ältere und jüngere Forschung beruhen sowohl die neuere Überhöhung der Konsultativmonarchie als auch die langfristig wirksame Parlamentarisierungsthese auf einer – womöglich durch die Hinwendung zuerst zur Ideen-, dann zur Politischen Kulturgeschichte bedingten – starken Berücksichtigung des Feldes des Verfassungsdenkens durch alle beteiligten Disziplinen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse verlieren jedoch durch ihren Abgleich mit der materiellen Verfassungsebene, der Verfassungswirklichkeit, an Aussagekraft. Die skizzierten Positionen zur Verfassungsgeschichte Italiens im 19. Jahrhundert veranschaulichen daher beispielhaft eine grundsätzliche Problematik der Verfassungswissenschaften: Diese bezieht sich auf die Frage nach dem Stellenwert bzw. der Gewichtung von diskurs- oder ideengeschichtlichen Erkenntnissen und der Rekonstruktion formaler und materieller Verfassungsentwicklungen wie auch nach deren wechselseitigen Bezug- oder Einflussnahme. Im Interesse einer integrativen Verfassungswissenschaft wird sich diese Frage nur im Sinne eines empirischen Abgleichs zwischen diskursiver und normativ-politischer Ebene lösen lassen.

Autorenverzeichnis Dr. Reinhard Blänkner, Professor für Neuere Geschichte und Kulturgeschichte an der Europa-Universität Frankfurt (Oder) Dr. Hans Boldt, Professor (i.R.) für Politikwissenschaft an der Universität Düsseldorf Dr. Hartwig Brandt, Professor (i.R.) für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wuppertal Dr. Peter Brandt, Professor (i.R.) für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der FernUniversität Hagen, Direktor des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften Dr. Werner Daum, Leiter des Regionalzentrums Karlsruhe der FernUniversität Hagen, Projektkoordinator am Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften Dr. Kathrin Groh, Professorin für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität der Bundeswehr München Dr. Ewald Grothe, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wuppertal, Leiter des Archivs des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Dr. Peter Häberle, Professor (i.R.) für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Kirchenrecht sowie Leiter der Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht an der Universität Bayreuth Dr. Hans-Christof Kraus, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau Dr. Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung Dr. Lothar Machtan, Professor (i.R.) für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bremen

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Autorenverzeichnis

Dr. Stefaan Marteel, Lecturer and Researcher at the Radboud University Nijmegen (NL) Dr. Dian Schefold, Professor (i.R.) für Öffentliches Recht, einschl. allgemeine Staatslehre und neuere Verfassungsgeschichte mit dem Schwerpunkt Verwaltungsrecht an der Universität Bremen Dr. Peter Schiffauer, Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FernUniversität Hagen, Vorstandsmitglied des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften Dr. Arthur Schlegelmilch, Professor für Neuere Geschichte an der FernUniversität Hagen, Geschäftsführender Direktor des Instituts „Geschichte und Biographie“ in Lüdenscheid Dr. Hans Vorländer, Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung

JENS SPÄTH

REVOLUTION IN EUROPA 1820–23 VERFASSUNG UND VERFASSUNGSKULTUR IN DEN KÖNIGREICHEN SPANIEN, BEIDER SIZILIEN UND SARDINIENPIEMONT (ITALIEN IN DER MODERNE, BAND 19)

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